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La Princesse de Clèves, revisited

Re-Interpretationen eines Klassikers zwischen Literatur, Film und Politik

1029
2018
978-3-8233-9187-6
978-3-8233-8187-7
Gunter Narr Verlag 
Martina Stemberger

Seit bald dreieinhalb Jahrhunderten inspiriert Lafayettes La Princesse de Clèves (1678) immer wieder neue kritische Lesarten, aber auch kreative Variationen. Heute scheint dieser erste moderne französische Roman, der Anfang des 21. Jahrhunderts im Rahmen einer neuen Querelle auch zum Politikum wird, aktueller denn je: Davon zeugt das in diesem Band gebotene umfassende Panorama zeitgenössischer Re-Interpretationen zwischen Literatur, Film und politischem Diskurs. In Auseinandersetzung mit dem Werk einer Reihe bedeutender, hier zum Teil erstmals ausführlich vorgestellter Autorinnen und Filmkünstler der Gegenwart eröffnen sich vielfältige Perspektiven auf die Dynamik der produktiven Klassikerrezeption und den Status von Literatur im gesellschaftlichen Kontext.

<?page no="1"?> La Princesse de Clèves , revisited <?page no="2"?> edition lendemains 45 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel), Andreas Gelz (Freiburg) und Christian Papilloud (Halle) <?page no="3"?> Martina Stemberger La Princesse de Clèves, revisited Re-Interpretationen eines Klassikers zwischen Literatur, Film und Politik <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Sergej Amin Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit Förderung des Rosita Schjerve-Rindler-Gedächtnisfonds. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-8187-7 <?page no="5"?> Für S. <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis Danksagung ...................................................................................................... 15 La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker .................................................................. 17 Text und Kontext: Zur Aktualität der Princesse de Clèves ............................................................... 17 Klassiker, Hypertext, réécriture, Variation, Adaption: Theoretische und terminologische Präliminarien .......................................... 22 „… une œuvre trop classique“? Zur Rezeptionsdynamik der Princesse de Clèves .............................................. 31 Text und Theorie (I): Plagiat, Palimpsest und Einflusslust .................................................................. 37 Text und Theorie (II): Kritische Passionen ................................................................................................ 49 „Clèves générale! “: Die Prinzessin auf den Barrikaden .................................................................. 65 „Je lis La Princesse de Clèves“: Zur Genese eines Protestdiskurses .................................................................... 65 Die Princesse als Bestseller und als Waffe: Ambivalenzen eines politischen Hypes ............................................................ 70 Die Princesse als National-Allegorie: Patriotische Rekuperation und ikonoklastische Reaktion ............................ 76 Princesse-Protestkunst: Performances und Parodien ................................................................................. 82 La Princesse de Clèves à travers les siècles: Panorama einer produktiven Rezeptionsgeschichte ....................................... 89 „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“: Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel .............................................. 107 Aristokratie als Performance: Vom Hof der Valois zur Society der années folles ......................................... 111 Ehe, Liebe, devoir und galanteries: Ethik und/ als Ästhetik ........................................................................................ 114 Zwischen Jansenismus und Psychoanalyse: Mythos und Metaisierung der Passion ............................................................ 117 Gender trouble, Homoerotik und ein Hauch von Inzest: Figurationen der Transgression ........................................................................ 119 „Un roman créole“: Exotik, Historie, Alterität ................................................................................... 123 <?page no="8"?> 8 Inhaltsverzeichnis Die Kunst der Maxime und des aveu: Zum narrativen Spiel mit dem klassischen Modell ...................................... 126 „… copier pour être original“: Paradoxa einer Poetik der ‚Originalität‘ .......................................................... 130 „… une arrière-petite cousine de La Princesse de Clèves“: Louise de Vilmorins Madame de ................................................................... 135 Vom 16. Jahrhundert in die Belle Époque: Zur Re-Interpretation eines mondänen Mikrokosmos ................................ 136 Brillantherzen zu verkaufen: Liebe und Literatur in Zeiten des Kapitalismus ............................................ 142 „J’étais, au départ, terriblement classique…“: Jacqueline Harpmans Brève Arcadie ............................................................. 155 Literatur und Psychoanalyse: Aspekte einer doppelten Karriere ..................................................................... 156 Wider die Melancholie des postmodernen Dichters: Vom Klassizismus zum Karneval ...................................................................... 158 Debüt mit Lafayette: Brève Arcadie als (meta-)klassischer Roman .................................................. 173 Zwischen Anachronismus und Transgression: Lob des mariage de raison ................................................................................... 176 Coup de foudre auf Umwegen: Zur Psycho-Analyse der Passion ...................................................................... 183 Liebesbrief, „aveu à rebours“ und Farbenspiel: Auf den Spuren der Princesse de Clèves (I) ...................................................... 189 „L’amour heureux porte sa propre condamnation“: Die Selbstdemontage des amour-passion ........................................................ 201 „Avez-vous lu Tristan et Yseult? “: Der Mythos zwischen Dekonstruktion und Rehabilitation ........................ 204 Die réécriture der Passion: Literatur als Liebesakt ......................................................................................... 214 „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ Marie Darrieussecqs Clèves .......................................................................... 217 Marie Darrieussecq und La Princesse de Clèves: Fragmente einer literarischen Liebesgeschichte ........................................... 219 „Les livres m’invitaient à continuer les livres“: Eine Poetik transauktorialer Hypertextualität? ............................................. 221 „Une sorte de réécriture“: Clèves im inter- und intratextuellen Kontext ................................................. 230 ‚Trash‘, Tabu und Transtextualität: Zur Rezeption von Clèves ................................................................................... 235 Von der Princesse bis Clèves: Zur Genese eines Hypertexts ............................................................................ 238 <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis 9 Vom Königshof ins Niemandsland: Zur Rekonfiguration von Zeit und Raum ....................................................... 241 „Un roman de classes“: Zwischen Klassik und Klassenkampf .............................................................. 246 „… ma Princesse, elle couchera“: Zur Re-Interpretation des amourösen Triangels ........................................... 252 Hofball, Brief, Bekenntnis, Farbencode: Auf den Spuren der Princesse de Clèves (II) .................................................... 258 Körperwelten, Geschlechterwelten: Zur Sinnlichkeit des Romans ............................................................................. 261 „… un beau roman féministe“? Patriarchat, Poetik, Psychoanalyse .................................................................. 264 Sex und Text oder Liebe, Lektüre, Lexikon: Die (Selbst-)Erfindung des Subjekts ................................................................. 274 „Toute écriture vraie se joue contre les clichés“: Phänomenologie und Palimpsest ...................................................................... 284 „… une écriture queer“? Klassik, Gender-Sprachkritik, kulturelle Alterität ........................................ 287 Die Melancholie der Autorin oder Die suite zur réécriture: Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes ............................. 293 „De Clèves au Congo“: Il faut beaucoup les hommes als Crossover zwischen Conrad und Lafayette .............................................. 295 „Universal Pictures présente“: Lafayette in Hollywood ...................................................................................... 299 Coup de foudre, reloaded: Zur Psychopathologie der Passion ................................................................... 306 „D’étranger à étrangère“: Namenszauber, Sprachspiel, Liebescode ......................................................... 317 Klassik, Kino, SMS: Il faut beaucoup aimer les hommes als metamedialer Roman ..................... 321 Jenseits von Afrika: Il faut beaucoup aimer les hommes als ‚postkolonialer‘ Roman ................. 328 Afrikanisches Scrabble: Il faut beaucoup aimer les hommes als metaliterarischer Roman ............... 337 „Tout le monde est innocent, et tout le monde est coupable“: Konfigurationen von Gender und Postkolonialität ...................................... 343 „Les Basques sont les Africains de l’Europe“: Variationen postkolonialer Alterität ................................................................ 356 Queering La Princesse de (Clèves): Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam .................................. 361 Zitationelle (ré-)écriture und Poeto-Genese des Subjekts: Si tout n’a pas péri avec mon innocence ............................................................ 365 <?page no="10"?> 10 Inhaltsverzeichnis La Princesse de. … de? Transgender trouble und multiple Hypertextualität ...................................... 372 Transformationen, Transgressionen: Karneval der Geschlechter und gesellschaftliche Gegenwelt ..................... 375 „… ma princesse polak“: ‚Barbarische‘ Metamorphosen der Princesse de Clèves .............................. 378 Zwischen „véritable amour“ und „vérité inavouable“: La Princesse de. als Initiations- und (Anti-)Liebesroman ............................. 386 „… cette vision de moi en amoureuse sublime“: Passion und Performance der Weiblichkeit ................................................... 390 Liebe, Tod und Auferstehung: Transfiktionale Verwirrspiele bei Emmanuelle Bayamack-Tam ............... 393 „Suis-je un fou d’avoir cru que ma mère était une princesse […]? “ Die Entzauberung des Mythos .......................................................................... 401 Aufbruch nach Utopia? Klassischer Prätext und post-identitäre Ethik ............................................... 403 „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“: Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb .................................................. 407 Zwischen „lecture carnassière“ und „influence mosaïque“: Amélie Nothombs Poetik der réécriture ........................................................... 411 Prinzessinnen, Prinzessinnen oder Grand Siècle und 1001 Nacht: Passion und Parodie ............................................................................................. 414 Coup de foudre à la Lafayette: Zur Dynamik der Hypertextualität .................................................................. 418 Die Ermordung des Autors: Prä-Textualität, Lafayette-Digest und Geschlechterkampf ......................... 421 „… le pouvoir libérateur de la littérature“: Mercure als Metaroman ....................................................................................... 428 Farbenrausch, Princesse-Couture und Gender-Clash: Zum Roman Barbe Bleue ..................................................................................... 432 „Une sorte de Princesse de Clèves moderne“? Françoise Hardys L’Amour fou ...................................................................... 449 „… l’amour est une cause perdue“: Klassische Passion in einer Simulakrenwelt .................................................. 451 Fragmente einer Sprache der Liebe: Zur interdiskursiven Konstitution des Subjekts ............................................ 456 Das Leben ein Film, der Film ein (Alp-)Traum: La Princesse de Clèves by Nightmare Productions Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes .............................................................. 461 Kulturgeschichte als Palimpsest: Das Princesse-Konklave von Merlin ................................................................. 461 <?page no="11"?> Inhaltsverzeichnis 11 Zwischen Kunst und Kommerz: Zur Konzeption einer Kino-Princesse ............................................................... 463 Von Shakespeare bis Spielberg: Zur Aushandlung literarisch-filmischer Autorität ....................................... 466 Making of: Poetik und Parodie der postmodernen Klassiker-Adaption ........................................................... 470 Realität als Fiktion, Fiktion als Realität: Princesse-Metalepsen und multiples Rollenspiel ........................................... 473 „On ne retrouve jamais la première fois“: Amnesie und Ästhetik des Remake ................................................................. 480 Der Roman als Möbiusschleife: Auf der Suche nach dem Autor ......................................................................... 482 La Princesse de Clèves in Theater, Musik, Malerei und Film: Aspekte einer intermedialen Rezeptionsgeschichte ..................................... 489 La Princesse de Clèves auf der Theaterbühne ................................................. 490 La Princesse de Clèves in Musik und Malerei .................................................. 494 La Princesse de Clèves im Kino: Perspektiven und Paradoxa filmischer Adaption .......................................... 495 Die Princesse als Kinostar: Ästhetik und Ideologie des historischen Kostümfilms Jean Delannoys La Princesse de Clèves ......................................................... 509 Cocteau & Co.: Die Kreation eines kinematografischen Archetyps ...................................... 509 Marionettentheater und Märchenwelt: Zur Konstruktion einer Phantasievergangenheit ......................................... 513 „… une très belle histoire d’amour“: Filmische (Un-)Treue, Kunst und Moral ......................................................... 517 Schöne (weibliche) Leiche und patriarchalisches Kino: Die Zähmung der widerspenstigen Princesse? ............................................. 522 Literatur auf der Leinwand und théâtre filmé: Manoel de Oliveiras La Lettre ........................................................................ 527 Zwischen Modernisierung und Anachronismus: Zur Rekontextualisierung der Princesse .......................................................... 527 Die Princesse und der Popstar: Passion als Non-Kommunikation ..................................................................... 532 Allerlei Lettres: Metatextualität und Metamedialität ................................................................ 537 Retour à Port-Royal: Jansenismus und postmoderne Ethik .............................................................. 544 Subjekt als/ im Text: Die Dematerialisierung der Princesse ............................................................. 548 <?page no="12"?> 12 Inhaltsverzeichnis La Princesse en abyme: Blick, Begehren, Macht und Medien in Andrzej Żuławskis La Fidélité ............ 551 Hochkultur vs. ‚barbarisches‘ Kino: Zur Dynamik der (Anti-)Żuławski-Kritik ....................................................... 551 Vom Königshof zum Medienimperium: Das schauderhafte Reich des MacRoi .............................................................. 555 Clélia, Clève, Nemo: Figurenkonstellation und Namenscode ........................................................... 558 „Je pense que tout est de la merde et j’ai envie de coucher avec vous“: Galanterie und Moral à rebours ......................................................................... 561 Kino „en poupée russe“: Metamedialität und Gender-Transgression .................................................... 565 La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? Christophe Honorés La Belle Personne ......................................................... 573 „… une réponse au dénigrement présidentiel“: Zum Produktions- und Rezeptionskontext ..................................................... 574 „… tant de belles personnes“: Vom klassischen Roman zum Teenager-Drama ............................................ 578 Von Hof zu Hof (I): La Princesse de Clèves als narrative Matrix ..................................................... 582 Junie de Chartres, Nemours & Co.: Namensspiele und multiple Intertextualität ................................................... 586 Lafayette, ver-queert: Galante Konfusionen ........................................................................................... 590 Digression und Didaktik: Lektionen in Liebesskepsis ................................................................................. 592 Close-up, Schaulust, Meta-Kino: Zur (Gender-)Ökonomie des Blicks .................................................................. 595 „Il n’y a pas d’amour éternel“: Passion in einer postreligiösen Welt ................................................................ 597 „… une aventure collective“: Die Prinzessinnen aus der Marseiller Banlieue Régis Sauders Nous, princesses de Clèves ................................................... 601 „… une réponse au débat sur l’identité nationale“: Nous, princesses de Clèves im politischen Kontext ......................................... 603 Von Hof zu Hof (II): La Princesse de Clèves als Modell und Matrix ................................................. 605 „… le roman d’une classe à propos d’un roman“: Nous, princesses de Clèves als Initiationsnarrativ en abyme ........................ 611 Nous, princesses de Clèves, princes de Clèves, ducs de Nemours: Klassischer Roman und kreatives Rollenspiel ................................................ 614 „… des exemples […] inimitables“? Perspektiven ‚klassischer‘ Literaturdidaktik in der Gegenwart ................ 621 <?page no="13"?> Inhaltsverzeichnis 13 La Princesse de Clèves meets D.Gray-man: Zur populärkulturellen produktiven Rezeption eines klassischen Textes ....... 625 Reise durch einen digitalen Kontinent: Online-Abenteuer der Princesse de Clèves ....................................................... 628 Ein „roman français d’un ennui profond“? Princesse-Fanfiction oder Lafayette in der Manga-Welt .............................. 634 La Princesse de Clèves, 1678-2018: Provisorische Conclusio ........................... 639 Quellenverzeichnis .......................................................................................... 649 <?page no="15"?> Danksagung Bei diesem Buch handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner im November 2016 an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien eingereichten und im Juni 2017 für das Fach ‚Romanische und Vergleichende Literaturwissenschaft‘ angenommenen Habilitationsschrift. Anlässlich dieser Publikation möchte ich Mechthild Albert (Universität Bonn), Andrea Grewe (Universität Osnabrück) und Dietrich Scholler (Universität Mainz) für die Begutachtung der Arbeit und etliche wertvolle Hinweise, den Mitgliedern der Habilitationskommission, insbesondere meiner langjährigen Mentorin Birgit Wagner und dem Vorsitzenden Jörg Türschmann, für ihr Engagement und ihre Unterstützung danken. Wolfgang Asholt danke ich für die Aufnahme meiner Studie in die Reihe der Edition Lendemains, den Mitarbeiterinnen des Narr-Verlages für die erfreuliche Kooperation, dem Rosita Schjerve-Rindler-Gedächtnisfonds für die Förderung der Drucklegung. Allen voran jedoch gilt mein Dank Sergej Amin, der dieses Projekt vom ersten Konzept bis zum fertigen Buch begleitet und auf vielfältigste Weise ideell wie materiell unterstützt hat; ihm ist meine Princesse gewidmet. <?page no="17"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker Mon Dieu! mon Dieu! qu’il existe donc peu de livres qu’on puisse relire […] 1 Lire ou relire La Princesse de Clèves, c’est, avant même d’engager une démarche critique, se rendre attentif à ce que ce roman a d’exceptionnel aujourd’hui. 2 […] i classici servono a capire chi siamo e dove siamo arrivati […] 3 Un classico è un’opera che provoca incessantemente un pulviscolo di discorsi critici su di sé, ma continuamente se li scrolla di dosso. 4 Text und Kontext: Zur Aktualität der Princesse de Clèves La Princesse de Clèves, „une sorte de mythe littéraire“, 5 zählt zu jenen im doppelten Wortsinn klassischen Texten, die im Lauf der Jahrhunderte gewaltige kritische ‚Staubwolken‘ aufgewirbelt und immer wieder erfolgreich abgeschüttelt haben. Warum wird hier am Rand der massiven Textgebirge rund um den Gipfel der Princesse noch ein weiterer kleiner Steinbruch zur Produktion diskursiven Staubs eröffnet? Es ist müßig, mit der Aktualität eines Werkes zu argumentieren, das diese seit seiner anonymen Erstpublikation im März 1678 - in den Augen der Zeitgenossen „un événement“, nach wie vor „un moment-clé de l’histoire de la littérature“ 6 - in keinem Moment seiner Rezeptionsgeschichte eingebüßt hat. Seit mittlerweile fast dreieinhalb Jahrhunderten fungiert La Princesse de Clèves - längst sanktionierter „premier roman moderne“ 7 der französischen Literatur, historischer „nouveau roman“, 8 aber 1 Huysmans 1995: 315. 2 Levillain 1995: 11. 3 Calvino 1991: 19. 4 Ibid.: 14. 5 Francillon 1973: 9. 6 Moreau 2010: 10. 7 Vgl. etwa Lecompte 2009b: 302; zur kritischen literarhistorischen Perspektivierung Francillon 1973: 227ff., 283ff. Als „a commonplace“ hinterfragt besagtes Etikett auch Kamuf, die „the novel’s gradual evolution rather than its sudden apotheosis“ betont (1987: 67). Es ist hier nicht der Ort, die Genre-Debatte rund um die Princesse wieder aufzurollen oder auch nur in ihrer ganzen Komplexität zu resümieren: Lafayette selbst spricht bekanntlich nirgends von einem „Roman“; der Avis des „Libraire au lecteur“ kündigt eine „Histoire“ an (Lafayette 2014c: 329), als solche bezeichnet Lafayette ihr Werk auch in der späten Korrespondenz mit Gilles Ménage im November 1691 (Lafayette 2014: 1079f.). In einem Brief an Lescheraine vom 13. April 1678 weist die anonyme Autorin den Begriff „Roman“ ausdrücklich zurück und rekurriert vielmehr auf jenen der „Mémoires“ (ibid.: 988-989, hier 989). Zur gattungsgeschichtlichen Einordnung des Textes, dem heutigen Usus nach meist als ‚Roman‘, gelegentlich auch als ‚Novelle‘ qualifiziert, vgl. Niderst 1973: 140ff.; Delhez-Sarlet 1968a und 1968b; Steinbrügge 2001; Esmein-Sarrazin 2014c: 1303ff. Ebenso wenig neu erörtert werden soll die Problematik der lange Zeit kontrovers diskutierten bzw. auch - so besonders radikal bei Mouligneau (1980) - in Frage gestellten Autorschaft Lafayettes; vgl. dazu Laugaa (1971: 121ff.), der die insistente Suche nach dem „auteur unique“ diverser „romans en litige“ als Manifestation einer regelrechten „théologie littéraire“ reflektiert (ibid.: 126) und dafür plädiert, „le double auteur (ou l’auteur pluriel)“ (ibid.: 16) als solche(n) stehen zu lassen: „[…] l’effacement, la substitution, la fragmentation de l’auteur sont des signes qui n’appellent pas nécessairement un <?page no="18"?> 18 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien auch bereits im Vorfeld professionell vermarkteter „ best seller “ 9 - als besonders potente „macchina per generare interpretazioni“, 10 diskursbegründende 11 wie narrative Matrix. Geradezu paradigmatisch illustriert Lafayettes Werk die starke Präsenz des 17. Jahrhunderts, jenes „siècle vedette de notre littérature“, 12 im literarischen und künstlerischen Schaffen späterer Epochen, 13 die „générosité“ und - kritische wie kreative - „fécondité“ des klassischen Textes: 14 „Le livre suscite […] d’autres paroles, textes et livres. À court terme il allume une gerbe immédiate, et plus tard une longue queue de comète de romans. Il est présent aussi, d’une façon plus partielle, dans ceux qu’il n’inspire pas de front […]. Par sa présence, le livre révèle des possibilités de toutes sortes […]; il ouvre à l’activité littéraire un monde de carrières possibles.“ 15 Nach jener „gerbe immédiate“, die die Princesse bei den Zeitgenossen Lafayettes déchiffrement; ils sont à lire ‚à la lettre‘“ (ibid.: 7). Siehe auch Esmein-Sarrazin 2014a: XVff. und 2014c: 1292ff.; sowie DeJean (1991: 94ff.), die am Beispiel Lafayette „the complex dynamics of literary collaboration“ (ibid.: 101) und den Status im Sinne der Epoche ‚anonymer‘ Publikationen analysiert (ibid.: 95ff., 242). Wenn im Folgenden von ‚Lafayette‘ (dieser Schreibweise wird hier der Vorzug gegeben) die Rede ist - nicht zu Unrecht kritisiert DeJean den impliziten Chauvinismus der Formel ‚Madame de‘ (1991: 1ff., 223f.) -, so sei ein für alle Mal festgehalten, dass dieser Name gemäß dem etablierten Konsens eine auktoriale Konstellation meint, in der neben Marie-Madeleine Pioche de La Vergne, Comtesse de Lafayette, auch andere Akteure einer kollektiven écriture salonnière (vor allem La Rochefoucauld, Huet, Segrais) ihren Beitrag zur Genese des ‚Lafayette‘ attribuierten Œuvres leisten. 8 Vgl. etwa Werlen 2012: 20; Levillain 1995: 38, 102f.; Dufour-Maître/ Milhit 2004: 89. „The novel is revolutionary, not in the modern sense, but in the same way that the retreat of certain of the solitaires of Port Royal was revolutionary“, erklärt Kuizenga (1992: 81). Eine kritische Meta-Analyse des Diskurses über den „aspect ‚révolutionnaire‘“ der Princesse, zugleich doch auch „la fine fleur de l’esprit précieux“, unternimmt Campbell 2007 (hier zit. 65, 68). 9 Rambaud 2006: 25. „Jamais ouvrage ne m’a donné plus de curiosité. On l’avait annoncé longtemps avant sa naissance; des personnes très éclairées […] l’avaient loué comme un chef-d’œuvre en ce genre-là […]“ (Valincour 2001: 33): Das Erscheinen der Princesse wird durch eine intensive „prepublication publicity“ (Henry 1992b: 1) vorbereitet; zu dieser „campagne publicitaire“ vgl. auch Laugaa 1971: 14ff., 25. Im März 1678 kündigt der Ordinaire des Mercure galant die Princesse (bzw. ‚Duchesse‘) de Clèves an (vgl. ibid.: 21); schon vorweg fungiert der Roman als „the object of a kind of literary newsbreak“ (Racevskis 2003: 143) und als „a virtual intertext for an annunciatory story“ (ibid.: 149). Mit besagter „story“ - der im Jänner 1678 abgedruckten Novelle La Vertu malheureuse (vgl. Lafayette 2014: 507ff.) - wird bereits das kontroverse Motiv des aveu eingeführt. Im Anschluss lanciert der Mercure seine diesbezügliche ‚galante‘ Umfrage, „premier exemple de sondage d’opinion littéraire“ (Pingaud 1959: 144), und stimuliert damit weiter - „presumably with Lafayette’s authorization, and even at her suggestion“ (DeJean 1991: 117) - das Interesse einer zur aktiven Meinungsäußerung eingeladenen Leserschaft. Kurz: Auch hinsichtlich der „creation of modern techniques of book promotion“ stellt diese strategisch orchestrierte Publikation eine literarhistorische Innovation dar (DeJean 1992: 47; vgl. auch DeJean 1991: 116, 248; Labio 1998). 10 So Ecos (1990a: 507) Definition des Genres Roman. 11 Zu Lafayettes Rolle „as a founder of discursivity, in the Foucauldian sense, because her texts make possible new ways of knowing and signification“, und insbesondere zu La Princesse de Clèves als „a founder of novelistic discursivity“ vgl. Andersen 1998: zit. XII, 45f., vgl. auch 34ff., 270ff. 12 Barthes 1979: 142. 13 „Glorifié, décrié, déconstruit, reconstitué, le XVII e siècle français n’a pour ainsi dire jamais cessé d’être présent dans le paysage intellectuel et dans l’imaginaire des siècles qui ont suivi“: Guellouz betont die frappierende „présence du XVII e siècle dans la culture du XX e siècle“ (2000: 7), ebenso Coste (2000: 381). Auch in der neueren Filmgeschichte illustriert eine Reihe von Neu-Adaptionen klassischer Texte (darunter La Princesse de Clèves) und im Zeitalter der Klassik angesiedelter Historienfilme „la fascination qui émane du siècle classique aussi bien en France qu’à l’étranger“ (Böhm/ Grewe/ Zimmermann 2009: 7). 14 Schlanger 2008: 91, 107. 15 Ibid.: 58. <?page no="19"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 19 in Form der berühmten Querelle de l’aveu provoziert, 16 inspiriert sie in literarischer Prosa, doch auch in Theater, Musik, Malerei und schließlich im Medium Film eine lange Reihe weiterer Kunstwerke: „L’ensemble de ces exemples artistiques montre assez combien La Princesse de Clèves intéresse encore notre modernité […]“, konstatiert Isabelle Rambaud. 17 Bei aller Sensibilität für den dezenten Charme der Princesse und ihre „langue […] délicieuse“ betont Sainte-Beuve im Jahr 1845 ihre „couleur un peu passée“; 18 André Gide listet sie 1913 zwar „somewhat apologetically“ unter den zehn besten Romanen Frankreichs auf, 19 erklärt jedoch, es gäbe eigentlich nichts Neues mehr darüber zu sagen: „Rien de neuf à en dire, ni qui n’ait été fort bien dit.“ 20 La Princesse de Clèves möge „démodée“, ja als Relikt einer „civilisation antédiluvienne“ erscheinen, räumt Marie-Jeanne Durry 1962 ein 21 - und spekuliert zugleich über Perspektiven einer eventuellen neuen réécriture: „[…] mais s’il venait à paraître 16 „Je demande si une Femme de vertu, qui a toute l’estime possible pour un Mari parfaitement honnête Homme, et qui ne laisse pas d’être combattue pour un Amant d’une très forte passion qu’elle tâche d’étouffer par toute sorte de moyens; je demande, dis-je, si cette Femme voulant se retirer dans un lieu où elle ne soit point exposée à la vue de cet Amant qu’elle sait qui l’aime sans qu’il sache qu’il soit aimé d’elle, et ne pouvant obliger son Mari de consentir à cette retraite sans lui découvrir ce qu’elle sent pour l’Amant qu’elle cherche à fuir, fait mieux de faire confidence de sa passion à ce Mari, que de la taire au péril des combats qu’elle sera continuellement obligée de rendre par les indispensables occasions de voir cet Amant, dont elle n’a aucun autre moyen de s’éloigner que celui de la confidence dont il s’agit“, lautet die „Question galante“, die der Mercure galant im Extraordinaire von April 1678 an seine Leser richtet (zit. nach dem Dossier „Un débat dans ‚Le Mercure galant‘. Avril-octobre 1678“, in Lafayette 2014: 517ff., hier 517). Die Debatte rund um die scène de l’aveu, „peut-être la scène la plus glosée de la littérature française“ (Levillain 1995: 73), wird in den folgenden Nummern (Extraordinaire von Juli 1678, Ordinaire und Extraordinaire von Oktober 1678) publiziert (vgl. Esmein-Sarrazin 2014c: 1324ff.). Zum Status dieser Korrespondenz - authentische Dokumente oder redaktionelle „fiction“? - vgl. DeJean, die den sämtliche Reaktionen prägenden „sense of […] novelty“ und „sense of irresolution“ hervorhebt (1991: 117f.). „[…] l’aveu de Mme de Clèves à son mari est extravagant, et ne se peut dire que dans une histoire véritable; mais quand on en fait une à plaisir, il est ridicule de donner à son héroïne un sentiment si extraordinaire […]“, erklärt Bussy-Rabutin („Lettre à la marquise de Sévigné“ [26. Juni 1678], in Lafayette 2014: 516-517, hier 516): „[…] l’extravagance est un privilège du réel“, wie Genette (1968: 7) diese Poeto-Logik resümiert. Fontenelle dagegen verteidigt in der Maske des „Géomètre“ aus Guyenne diesen „trait admirable et très bien préparé“ („Lettre sur ‚La Princesse de Clèves‘“ [Le Mercure galant, Mai 1678], zit. nach Lafayette 2014: 513-516, hier 515). Die Geschichte der Princesse ist untrennbar mit diesem ebenso lebhaft wie kontrovers geführten paratextuellen Diskurs verstrickt. Im September 1678 erscheinen Valincours - zunächst Bouhours zugeschriebene - anonyme Lettres; im Februar 1679 folgen die Conversations sur la critique de La Princesse de Clèves, verfasst vom Abbé de Charnes, „familier du salon de Mme de Lafayette“ (Esmein-Sarrazin 2014c: 1326ff.; vgl. auch Laugaa 1971: 40ff.). Das Echo des Disputs Valincour/ Charnes ist noch in der Princesse-Rezeption der Gegenwart zu vernehmen: Setzt Manoel de Oliveira in seiner freien Adaption La Lettre (1999) einige der von Valincour vorgeschlagenen ‚Verbesserungen‘ des Textes um, so ergreift Racevskis Partei für Charnes, der die innovativen Züge der Princesse zu würdigen wisse, während Valincours Kritik deren eigentlich ‚moderne‘ Aspekte verfehle (2003: 161f.). „[…] l’usage veut qu’on oppose à la finesse des remarques de Valincour la rudesse sommaire du panégyriste. L’usage semble sévère“, merkt Laugaa an (1971: 41); mit spöttischer Nachsicht kommentiert dagegen Fabre (1979: 28) die Argumentation Charnes’, „maladroit champion de Madame de Lafayette“, der „plus de zèle que de raison“ an den Tag lege. 17 Rambaud 2006: 24. 18 Sainte-Beuve: Portraits de femmes (1845), zit. nach Laugaa 1971: 174. 19 Kaps 2001: IX. 20 Gide 1913, zit. nach Laugaa 1971: 233. 21 Durry 1962: 10, 28. <?page no="20"?> 20 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien demain quelque Bal du comte d’Orgel, ne pousserait-on pas de nouveau, pour les ressemblances avec la lointaine Princesse, des cris admiratifs? “ 22 Tatsächlich ist die Princesse - Produkt und Reflex einer „époque de transition“, eines „univers en mutation, écartelé entre l’encore et le déjà plus“ 23 - in unserer heutigen Umbruchszeit, einer als „Gesellschafts- und Kulturzustand“ voller Widersprüche aufgefassten Postmoderne 24 womöglich aktueller denn je. Es ist signifikant, dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine Phase re-intensivierter Rezeption dieses „roman impossible“ 25 einsetzt, die vermeintliche „belle au bois dormant“ zu frischer „activité polymorphe“ quer durch die Medien erwacht. 26 In seinem parodistischen Roman Chambres d’hôtes (1999) imaginiert Stéphane Denis eine neue Filmversion der Princesse de Clèves; 1999-2000 werden mit Manoel de Oliveiras La Lettre und Andrzej Żuławskis La Fidélité innerhalb eines knappen Jahres - und fast vier Jahrzehnte nach Jean Delannoys historisierender Erstverfilmung - gleich zwei Adaptionen realisiert. In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts taucht im ‚Kometenschweif‘ 27 der Princesse eine ganze Konstellation weiterer literarischer und kinematografischer Variationen auf. 2001 wird Jacqueline Harpmans neo-klassischer ‚Lafayette-Roman‘ Brève Arcadie aus dem Jahr 1959 in einer von der Autorin überarbeiteten Fassung neu aufgelegt. La Princesse de. titelt Emmanuelle Bayamack-Tam 2010; ebenfalls bei P.O.L erscheint nur ein Jahr später Marie Darrieussecqs Clèves, womit bereits der Verlagskatalog zur intertextuellen Montage sui generis gerät. Als „[u]ne sorte de Princesse de Clèves moderne“ wird vor dem Hintergrund einer regelrechten Princesse-Vogue auch Françoise Hardys L’Amour fou vermarktet, 28 literarischer Flügel eines 2012 publizierten Diptychons aus Roman und Chanson-Album. Im selben Jahr inszeniert Amélie Nothomb, deklarierte Lafayette-Liebhaberin, durch deren Werk die Princesse seit ihrem Erstling Hygiène de l’assassin (1992) spukt, eine neue Heldin, „pas si différente […] de la princesse de Clèves“. 29 Schon 2008 präsentiert Christophe Honoré mit La Belle Personne noch eine Spielfilm-Adaption der Princesse (die Honoré selbst weniger als „adaptation“ denn als „une proposition de lecture du roman“ verstanden wissen will 30 ); es folgt 2011 Régis Sauders künstlerischer Dokumentarfilm Nous, princesses de Clèves. Wie Honoré („cette histoire […] semble écrite depuis toute éternité à l’usage des nouveaux prétendants“ 31 ) betont Marie Darrieussecq die ungebrochene Produktivität dieses „livre hyper contemporain“: „je l’ai lu et relu, et il reste toujours quelque chose à en dire, quelque chose à en écrire“. 32 Mit diesem Statement reagiert sie nicht nur - in zweifellos intendierter 22 Ibid.: 10. 23 Coste/ Castells-Faucher 2000: 341. 24 Huyssen 1997: 26. 25 Vgl. Niderst (1973: 187ff.), der seine Charakteristik der Princesse schließlich auf „le roman du roman impossible. Ou le roman du ratage du roman“ erweitert (ibid.: 191). 26 Grande 2010: 61. In Bezug auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Text konstatiert Lyons bereits 1992 (235), „that the study of Lafayette’s masterpiece […] is as animated as ever“. 27 Vgl. Schlanger 2008: 58. 28 Vgl. die quatrième de couverture der Taschenbuchedition: Hardy 2014. 29 Nothomb 2012: 111. 30 Honoré 2008a. 31 Ibid. 32 Darrieussecq 2009b: IX. <?page no="21"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 21 Transparenz - auf das zitierte Diktum André Gides („Rien de neuf à en dire […]“), 33 sondern auch auf eine politische Aktualität, in der jene der Princesse zur kontroversen öffentlichen Diskussion steht: Nachdem Nicolas Sarkozy als Präsidentschaftskandidat und dann als polarisierender Präsident sich wiederholt despektierlich über La Princesse de Clèves - Inbegriff einer ob ihrer vermeintlichen Non-Rentabilität überflüssigen klassischen Bildung - geäußert hatte, wurde der Roman bzw. seine Protagonistin zum „porte-drapeau de l’anti-sarkozysme“. 34 Im ersten Abschnitt dieser Studie werden knapp die Hintergründe dieser hoch politisierten Renaissance - nicht zu vernachlässigender Rezeptions- und teilweise Produktionskontext der hier analysierten zeitgenössischen literarischen und filmischen Re-Interpretationen - erläutert, literaturkritische wie politische Bruch- und Konfliktlinien dieser neuen Querelle skizziert; zu reflektieren gilt es auch die Ambivalenz dieses Hypes um einen Klassiker, zwischen gesellschaftlicher Revalorisierung der Literatur (der Sarkozy indirekt zu „une actualité et une puissance parfaitement inespérées“ verhilft 35 ) und ideologischer Vereinnahmung als „arme de combat“ 36 samt reduktiven Lektüren „dans l’ordre de l’allégorie politique“. 37 Im Gefolge der ‚Affäre‘ ist Lafayettes Text in einer breiteren Öffentlichkeit jedenfalls präsenter als je. Abgesehen von einem ästhetisch heterogenen Corpus unmittelbar politisch motivierter Pro-Princesse-Agitprop - einige derartige Protestkunstwerke werden exemplarisch vorgestellt - hat jene auch mehrere künstlerisch anspruchsvollere „réponses esthétiques“ inspiriert, 38 darunter Honorés erwähnte freie Lafayette-Adaption La Belle Personne. Auch bereits zuvor initiierte Projekte (Darrieussecqs Roman Clèves ebenso wie Sauders Dokumentarfilm) erfahren eine zusätzliche ideologische Aufladung, zu der sich die involvierten Künstler durchaus bekennen. „La littérature, pour quoi faire? “: 39 Die Literaturwissenschaft sieht sich mit der gleich mehrfachen Herausforderung konfrontiert, die Aktualität der Princesse in einem non-trivialen Sinne und die gesellschaftliche Relevanz der eigenen Disziplin über den protestpolitischen Impetus hinaus zu argumentieren. 40 Nicht umsonst wurde dem Roman im Kielwasser der ‚Affäre‘ auch intensivierte akademische Aufmerksamkeit zuteil: Unter der Devise Princesse de Clèves 2014. Anatomie d’une fascination beschäftigt sich ein Sorbonne-Kolloquium nicht zuletzt mit den Nachwehen der von Sarkozy ausgelösten Debatte. 41 33 In diesem Sinne betont auch Grande, dass die Princesse, „sur laquelle on peut avoir le sentiment que tout a été dit“, immer noch neue „prises à l’interprétation“ biete (2010: 66). 34 Assouline 2009. 35 Duval 2009. „Rarely is literature taken so seriously“: Diese Feststellung Henrys (1992b: 1) zur Querelle des 17. gilt auch für diese neue Princesse-Kontroverse des 21. Jahrhunderts. 36 Duval 2009; vgl. auch Merlin-Kajman 2010: 64. 37 Ibid. 38 Fabre 2011. 39 Vgl. Compagnon 2007. 40 Dubois (2013b) konstatiert in diesem Zusammenhang „la double dimension du malaise […] mis en évidence par les propos de Nicolas Sarkozy: malaise, à la fois, de l’actualité du texte, mais malaise, également, de l’opportunité d’une herméneutique textuelle. […] ces propos mettent les lettrés en demeure de prouver deux choses: que la Princesse de Clèves est toujours une œuvre actuelle, d’une part, et d’autre part que, quand même elle le serait, son interprétation et son étude présentent une quelconque utilité“. 41 URL: http: / / www.fabula.org/ actualites/ princesse-de-cleves-2014-anatomie-d-une-fascination_61181.php. <?page no="22"?> 22 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien Ein Meilenstein der Lafayette-Rezeption war im gleichen Jahr 2014 aber vor allem auch die von Camille Esmein-Sarrazin betreute Pléiade-Edition der Œuvres complètes, 42 potentieller Paradigmenwechsel insofern, als hier auch das ‚restliche‘ Œuvre Lafayettes - zumindest bei einem breiteren Publikum lange Zeit im Wesentlichen als Autorin eines einzigen Werkes, eben der Princesse de Clèves, wahrgenommen 43 - samt ausführlichem kritischem Apparat neu präsentiert wird: die ihrerseits unter der Regie Bertrand Taverniers 2010 filmisch adaptierte Princesse de Montpensier ebenso wie die Novelle La Comtesse de Tende, deren überaus modernen Charakter Durry bereits 1962 betont; 44 die noch in der Tradition des preziösen Romans stehende Zayde, aber auch die Histoire de la mort d’Henriette d’Angleterre und die kulturhistorisch wie poetologisch aufschlussreiche Korrespondenz. 45 Klassiker, Hypertext, réécriture, Variation, Adaption: Theoretische und terminologische Präliminarien Il faut qu’il vienne après moi quelque autre Mme de La Fayette qui fasse ce que je n’ai pu faire, elle ne fera pas mal pourvu qu’elle en fasse autant que moi. 46 In dieser Studie freilich liegt der Fokus auf der berühmtesten der Lafayette’schen Princesses, präziser auf deren produktiver Rezeption in der zweiten Hälfte des 20. und vor allem Anfang des 21. Jahrhunderts; nach einem Überblick über das Schicksal der Princesse de Clèves im früheren 20. Jahrhundert sollen einige ausgewählte literarische und filmische Variationen auf ihre Verfahren hypertextueller bzw. intermedialer Transformation, aber auch auf ihre ideologischen Strategien im Umgang mit dem klassischen Prätext aus dem 17. Jahrhundert hin befragt werden. Was die Forschungslage betrifft, sieht sich die Interpretin hier mit einer etwas widersprüchlichen, aber durchaus reizvollen Ausgangssituation konfrontiert - auf der einen Seite mit einer Überfülle von Sekundärliteratur rund um Lafayette und ihr mit Abstand bekann- 42 Es handelt sich bei dieser Publikation freilich nicht um das Debüt Lafayettes auf der prominenten Bühne der Pléiade: La Princesse de Clèves ist bereits in einer den Romanciers du XVII e siècle gewidmeten Anthologie (1958) enthalten; die Histoire de la princesse de Montpensier und die Histoire de la comtesse de Tende finden sich im Band Nouvelles du XVII e siècle (1997: 361-387, 388-400). 43 Werlen 2012: 21. 44 Durry 1962: 9f. 45 Erscheinen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrere bis dahin unveröffentlichte Texte Lafayettes - die Histoire de Madame Henriette d’Angleterre (1720), La Comtesse de Tende (anonym 1718 in Le Nouveau Mercure, 1724 im Mercure de France mit dem Untertitel „Nouvelle historique, par Mme de La Fayette“), die Mémoires de la Cour de France pour les années 1688 et 1689 (1731) (vgl. Laugaa 1971: 116 sowie die „Chronologie“ in Lafayette 2014: XXXVII-LII, hier LI) -, so ist Lafayette schon in den Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts „généralement comme l’auteur d’une seule œuvre, La Princesse de Clèves“ präsent (Esmein-Sarrazin 2014a: XXXIII): „[…] à partir du milieu du XX e siècle l’œuvre-phare de la romancière occulte définitivement le reste de ses productions, qui tombent dans l’oubli tandis que se multiplient les reprises, adaptations, mentions et études critiques de La Princesse de Clèves“ (ibid.: XXXIV). Letztere überlagert zusehends „non seulement les autres œuvres de son auteur, mais la quasi-totalité des ouvrages de fiction narrative de son siècle“ (Esmein-Sarrazin 2014c: 1324). 46 Lafayette (in Bezug auf ihre Recherchen zur „Généalogie de mes enfants“) in einem Brief an Gilles Ménage vom 1. November 1691, zit. nach Lafayette 2014: 1074-1075, hier 1074. <?page no="23"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 23 testes Werk, das seit seiner Erstpublikation „infinite theorizing“ generiert hat: 47 „When one turns to criticism devoted exclusively to La Princesse de Clèves, one discovers that almost every sentence has provoked some commentary“, bemerken Faith Beasley und Katharine Jensen, die in ihrem Leitfaden durch „the maze of Lafayette criticism“ bzw. bei ihrem Versuch, dessen „tidal wave“ einigermaßen zu kanalisieren, auf eine recht signifikante Metaphorik rekurrieren. 48 Auch für Constant Venesoen beginnt die Auseinandersetzung mit Lafayette und vor allem der Princesse unweigerlich mit „le malaise d’une bibliographie pléthorique“. 49 Eine nicht unstrapaziöse, wenngleich faszinierende Reise „up the long winding river of criticism“, quer durch ausufernde „critical seas“ rekapituliert John Campbell. 50 Dem gegenüber steht ein überschaubares Corpus an kritischen Studien zu zeitgenössischen Lafayette- Adaptionen und -réécritures; die Untersuchung nicht nur der „inscription de Madame de Lafayette dans le champ littéraire de son temps“, sondern auch der „rapports et […] proximités de son œuvre majeure avec les fictions contemporaines“ formuliert in diesem Sinne auch Nathalie Grande als Forschungsdesiderat. 51 Die hier fokussierten postmodernen Re-Interpretationen eines Klassikers werfen eine ganze Reihe prinzipieller literaturtheoretischer Fragen auf, zunächst jene nach der spätestens auf den zweiten Blick alles andere als evidenten Definition eines ebensolchen. „La catégorie du ‚classicisme‘ n’est pas contemporaine de Mme de La Fayette, et qualifier La Princesse de Clèves de ‚roman classique‘ est un geste critique qui n’a rien d’anodin“, betonen Myriam Dufour- Maître und Jacqueline Milhit - und problematisieren den Zirkelschluss der üblichen Charakteristik der Princesse als eines paradigmatischen ‚klassischen‘ Werkes: „La Princesse de Clèves, parmi d’autres œuvres du XVII e siècle, est à la fois la source qui va servir à définir le classicisme et l’exemple qui va permettre de l’illustrer.“ 52 Über diese Tautologie hinaus inspirierende Denkanstöße auch zu Lafayettes Roman bietet etwa T. S. Eliots Bestimmung des ‚Klassikers‘ über textimmanente wie kontextuelle Merkmale: Das klassische Werk im starken Sinne zeichnet sich, so Eliot in What is a Classic? (1944), durch seine ‚Reife‘ wie seine ‚Universalität‘ aus; 53 insofern eignet den Klassikern diverser Epochen - von Athen zur Zeit des Perikles über das Römische Reich des Augustus 54 bis zum Elisabethanischen Zeitalter und jenem Louis’ XIV (und der Princesse de Clèves) - auch eine gewisse „dimension politique“. 55 Frank Kermode (The Classic, 1973) setzt den Akzent primär auf die Rezeptionshaltung, „notre relation au chef-d’œuvre, qui est la clé de notre relation lettrée au passé“, und differenziert dabei zwischen ‚hermeneutischer‘ Methode - die das jeweilige Werk „à travers une restitution érudite“ im historischen wie philologischen Kontext 47 Chang 2012: 15. 48 Beasley/ Jensen 1998: 17ff. 49 Venesoen 1990: 95. 50 Campbell 1996: 223f. 51 Grande 2010: 66f. 52 Dufour-Maître/ Milhit 2004: 85f. 53 Vgl. Schlanger 2008: 111ff. 54 Als paradigmatisches Beispiel für seine Theorie des ‚Klassikers‘ nennt Eliot Vergil - nur dieser erfüllt vollständig „des critères politico-spirituels qui sont, en fait, des critères d’épiphanie“ (ibid.: 113). Vgl. zu Eliots Klassiker-Konzept und seiner Überhöhung Vergils zum „Originalklassiker“ der okzidentalen Zivilisation auch Coetzee 2006: 11ff. (hier zit. 15). 55 Schlanger 2008: 98. <?page no="24"?> 24 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien zu situieren bestrebt ist - und einem ‚akkommodatorischen‘ Zugang: „Par accommodation nous rapprochons le chef-d’œuvre de nous, de notre temps, de nos intérêts, de notre écoute. Immergé dans nos intérêts du moment, le chef-d’œuvre se transforme et se rénove. Ainsi il reste souple, vivant et toujours opérant, d’une fécondité continuée.“ 56 „I classici sono quei libri di cui si sente dire di solito: ‚Sto rileggendo…‘ e mai ‚Sto leggendo…‘“, lautet der erste der spielerischen Definitionsversuche Italo Calvinos in seinem Argumentarium Perché leggere i classici 57 (samt ironischer finaler Selbstdemontage). „Qu’est-ce qu’un classique […]? Un texte que l’on relit et qui nous semble toujours nouveau. […] Une œuvre que l’on n’a jamais fini d’interroger“, schließt Cécile Ladjali sich an. 58 Zur Re-Lektüre ihres zukünftigen Klassikers fordert bereits Lafayette als gut getarnte Autorin - und ihrerseits zunächst eifrige Leserin 59 - auf: In ihrem Brief an Lescheraine vom 13. April 1678 befindet sie den kürzlich erschienenen Princesse-Text für „très agréable, bien écrit sans être extrêmement châtié, plein de choses d’une délicatesse admirable et qu’il faut même relire plus d’une fois“. 60 „Comme on ne se contente pas de lire pour une fois les pièces excellentes, j’ai relu celle-ci […]“, betont Valincour einleitend in seinen Lettres; 61 als Wieder-Leser der Princesse outet sich gegenüber dem Mercure galant auch Fontenelle: „Je sors présentement […] d’une quatrième lecture de La Princesse de Clèves, et c’est le seul Ouvrage de cette nature que j’aie pu lire quatre fois.“ 62 Warum (s)einen Klassiker („Il ‚tuo‘ classico è quello che non può esserti indifferente e che ti serve per definire te stesso in rapporto e magari in contrasto con lui“, notiert Italo Calvino 63 ) aber nicht nur (wieder-)lesen, sondern auch neu schreiben (bzw. verfilmen)? Und wie Klassiker neu schreiben? Ausgehend von ausgewählten Princesse-Variationen sollen auch einige Bausteine zu einer Poetik der polysemischen réécriture zusammengetragen werden, dies über die ebenso zutreffende wie per se nicht allzu ergiebige Feststellung hinaus, dass Schreiben - auch abseits des intendierten hypertextuellen Experiments - immer schon Wieder-Schreiben (und Wider-Schreiben) ist: „Écrire c’est récrire“, bringt Tiphaine Samoyault eine in der poetologischen Selbstreflexion der hier analysierten Autorinnen mehrfach artikulierte Einsicht auf den Punkt. 64 56 Ibid.: 106. 57 Calvino 1991: 11. 58 Zit. nach Manon 2013. 59 Vgl. Chapiro 2009: 7f. 60 Zit. nach Lafayette 2014: 989f. 61 Valincour 2001: 33. 62 Fontenelle: „Lettre sur ‚La Princesse de Clèves‘“, zit. nach Lafayette 2014: 513. 63 Calvino 1991: 16. „[…] quels sont les textes qu’écrivant je désirerais récrire? “, formuliert Compagnon die zentrale Frage nicht nur des postmodernen Schriftstellers (1979: 35). Seine Reflexionen über „le travail de la citation, l’appropriation ou la reprise“ (ibid.: 9) fasst er konsequent in eine amouröse, ja erotische Metaphorik, angefangen mit jenem „petit coup de foudre parfaitement arbitraire“ zwischen Autor und Prätext (ibid.: 24), von der ersten „solli-citation“ und „ex-citation“ bis hin zur vollendeten „citation“ (ibid.: 26), genüssliche „friction“ (ibid.: 42f.) bzw. wiederum höchst sinnlicher Liebesakt: „La citation est contact, frottement, corps à corps […]“ (ibid.: 31). 64 Vgl. Samoyault 2013: 54ff. „Écrire, car c’est toujours récrire, ne diffère pas de citer“, erweitert Compagnon die Formel um sein Schlüsselkonzept der „citation“, stets zugleich „lecture et écriture“ (1979: 34). Seine großzügige Auffassung der „récriture“ setzt diese mit literarischer Textarbeit quasi synonym (ibid.: 32). Zur Begriffsgeschichte der réécriture bzw. „récriture“ (so auch Victor Hugos Terminus in „Ceci tuera cela“ aus Notre-Dame de Paris) vgl. Fraisse/ Mouralis 2001: 250ff. („Lire, réécrire“): Jede réécriture, hier allgemein bestimmt als „toute lecture objectivée et stable donnant lieu à une œuvre ou à un texte <?page no="25"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 25 In diesem Princesse-Corpus haben wir es mit unterschiedlichen Erscheinungsformen und auch Graden von Hypertextualität zu tun: Neben Texten wie Harpmans Brève Arcadie oder Darrieussecqs Clèves, deklarierte „réécriture à l’envers“, 65 stehen Nothombs explizite, doch partielle Referenznahmen oder Bayamack-Tams La Princesse de., die mit dem Titel bereits einen transparenten, aber nicht exklusiven Lafayette-Bezug herstellt und sich mit ihrem raffiniert ver-queerten Plot zugleich in das intratextuelle 66 und transfiktionale 67 Netzwerk einer nouveaux“, stellt per se „une évidente reconnaissance de l’importance d’une œuvre“ dar, „qu’elle soit traduite, imitée, plagiée, adaptée, prolongée, parodiée“ (ibid.: 250). Fraisse und Mouralis, die auch die polysemische „version“ für „l’ensemble des réécritures“ (ibid.: 254) gebrauchen, betonen die Schwierigkeit einer präzisen Definition der réécriture („ses formes et ses hybridations sont pour ainsi dire infinies“) wie des damit eng verstrickten Originalitäts- und Einfluss-Begriffs (ibid.: 250f.). Bewegt sich jeder Versuch einer tragfähigen Differenzierung zwischen Plagiat und den vielfältigen Phänomenen „des hommages, des similitudes, des ressemblances, des échos et des réminiscences“ oder auch der „imitation inconsciente“ in einer juristischen wie poetologischen Grauzone, so grenzen sie doch jedenfalls die Kategorie „des opérations de lecture (et de réécriture) explicitement revendiquées“ vom „flou de l’influence“ ab (ibid.: 251). Für Rabau figuriert die réécriture „comme un synonyme d’hypertextualité“; der Ausdruck sei „toutefois ambigu car il renvoie à l’action de réécrire un texte pour en améliorer la forme“. Mit diesem normativen Ansatz kontrastiert Rabau „un autre sens du verbe réécrire […]: ‚répondre‘: une belle définition de l’écriture au second degré“ (2002a: 244f.). Als „métapoésie, au double sens du terme“ charakterisiert die lyrische „réécriture“ Henri Béhar (vgl. „De la réécriture comme critique littéraire“, in Rabau 2002a: 170-174, hier 174). Eine „défense et illustration du phénomène de la réécriture au féminin“ unternimmt Oberhuber (2004), die ebenfalls auf eine relativ weit gefasste Definition rekurriert („toute pratique palimpseste qui consiste en la reprise […] d’un texte antérieur […] en vue d’une opération transformatrice dont le degré d’affranchissement, d’explicitation ou de subversion est variable“) und drei nicht immer strikt zu trennende Typen unterscheidet: die „autoréécriture“ als Gegenstand textgenetischer Forschung, die „réécriture par un tiers“ und - vor allem dieser Aspekt ist hier relevant - „la réécriture en tant que praxis poétique“ (ibid.: 112f.). Im Anschluss an Genette und Rétif (2002) reflektiert Oberhuber die réécriture als polyvalentes Verfahren zwischen „révérence aux prédécesseurs“, „rite initiatique littéraire“ einerseits und potentiell subversiver „prise de distance“ gegenüber dem jeweiligen „modèle générateur-‚géniteur‘“ andererseits - und wirft die angesichts unseres Corpus in ihrer großen Mehrheit ‚weiblich‘ autorisierter Lafayette-réécritures besonders interessante Frage nach genderspezifischen Facetten und Präferenzen bei der Wahl der Hypotexte wie der hypertextuellen Strategien auf: „C’est une question d’auteure, d’époque, de culture, de mode… et de sexe. Car, non seulement les femmes lisent autrement, elles lisent et relisent visiblement aussi d’autres textes“ (2004: 113, 126). 65 Vgl. Leyris 2011. 66 Zur ‚Intratextualität‘ als Sonderform der Intertextualität, „orientée vers la textualité préexistante d’un même écrivain“, vgl. Limat-Letellier 1998 (hier zit. 26), die auf eine frühe verwandte - jedoch nicht deckungsgleiche - Begriffsprägung bei Jean Verrier verweist: „Le jeu des reflets et des répétitions ne s’établit pas entre le texte du roman et un référent, mais à l’intérieur du texte même. Il est le fruit du travail de l’écriture et particulièrement de ce que l’on pourrait appeler ‚l’intratextualité‘“ (1976: 338f.). Ricardou (1975) unterscheidet zwischen „intertextualité générale“ („rapports entre textes d’auteurs différents“) und „intertextualité restreinte“ („rapports entre textes du même auteur“). Fitchs (1982) Konzept der „intra-intertextualité“ situiert sich „au point d’intersection de l’intertextuel et de l’intratextuel“, Frank Wagner (2002) spricht in letzterem Fall von „auto-intertextualité“; vgl. die Übersicht bei Limat-Letellier (1998: 26) sowie Saint-Gelais 2011: 8f. 67 Vgl. Saint-Gelais’ Definition der Transfiktionalität als „le phénomène par lequel au moins deux textes, du même auteur ou non, se rapportent conjointement à une même fiction“ (ibid.: 7). Bei aller Heterogenität der involvierten Textstrategien - als Beispiele für derartige transfiktionale „textures“ (ibid.: 13; vgl. Doležel 1998) nennt Saint-Gelais „le retour de personnages“, „les cycles et les séries“, aber auch die „réécritures postmodernes“ - stellt die Transfiktionalität jedenfalls „les catégories majeures à partir desquelles nous pensons les textes, leur production et leur réception“ in Frage (2011: 8f.). Saint-Gelais verortet sein Konzept der „transfictionnalité“ präzise gegenüber Genettes „notion voisine“ der Hyper- <?page no="26"?> 26 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien idiosynkratischen Romanwelt - (Trans-)Text im Sinne Roland Barthes’: „stereophony of echoes, citations, references“ 68 - einschreibt. „Les réécritures modernes de La Princesse de Clèves multiplient les entre-deux, campent entre deux époques“, bemerken Claude Coste und Michèle Castells-Faucher; 69 auch in unserem Corpus sind etliche Fälle komplexer, hybrider (Patchwork-)Hypertextualität zu beobachten, in denen der Lafayette-Hypotext mit anderen literarischen oder filmischen Referenzen verflochten wird. Wie die romanesken réécritures zeichnen sich die kinematografischen Adaptionen, die sich ihrerseits nicht nur mit der Princesse, sondern auch mit deren kritischer wie künstlerischer Rezeptionsgeschichte und mit den jeweils vorangegangenen Verfilmungen - wiederum zugleich Hyper- und Hypo-‚Texte‘ - auseinandersetzen, durch ihre prononcierte Selbstreflexivität aus. Als ebenso praktikabel wie inspirierend erscheint gerade dort, wo nicht unbedingt von einem Hypertext im strikten Sinne (gemäß der Definition Gérard Genettes) zu sprechen ist, auch Milan Kunderas Konzept der ‚Variation‘: In einem politisch in mancher Hinsicht diskutablen bzw. kontextualisierungsbedürftigen, poetologisch aber aufschlussreichen Vorwort zu Jacques et son maître (1981), „Variation-Hommage“ an Denis Diderot - Variation en abyme, ist Jacques le Fataliste doch bereits eine „Variation zu einem Thema von Sterne“ - charakterisiert Kundera die Variation als Resultat eines Aktes schöpferischer Aneignung abseits eines naiven Begriffs ästhetischer Originalität und „unantastbare[r] Jungfräulichkeit von Kunstwerken“, kongeniales Produkt und „vielfältige Begegnung: die zweier Schriftsteller, aber auch die zweier Jahrhunderte“, im Fall seines eigenen Diderot-Textes - wie mehrfach im Lauf der Princesse-Rezeptionshistorie - auch „die des Romans und des Theaters“. 70 Ob nun réécriture, Hypertext im engeren oder Variation im weiteren Sinne: Die analysierten Werke werfen mit besonderer Virulenz auch die heikle Frage nach der Bedeutungskonstitution eines literarischen Textes im Spannungsfeld der von Umberto Eco skizzierten intentiones - auctoris, lectoris, operis - auf. 71 Sämtliche behandelten Autorinnen beziehen sich in ihrem paratextuellen Diskurs in der einen oder anderen Form auf Lafayettes Princesse; jedoch: Ist es die auktoriale Intention, die allein über Sein oder Nichtsein von Hypertextualität entscheidet? 72 Gérard Genette erklärt Hypertextualität zwar prinzipiell zum „aspect universel (au degré près) de la littérarité“ („il n’est pas d’œuvre littéraire qui, à quelque degré et selon les textualität: Ergibt sich zwischen hypertextuellen und transfiktionalen Werken eine beträchtliche Schnittmenge (so sind „les suites et continuations […] à la fois des hypertextes et des transfictions“), so bleibt auch ein nicht zu vernachlässigendes Corpus an „hypertextes non transfictionnels“ (dies betrifft die Textsorten des Pastiches und der Parodie) und umgekehrt „transfictions non hypertextuelles“ bestehen (Saint-Gelais verweist auf das Phänomen der „‚univers partagés‘, ces fictions développées conjointement par plusieurs écrivains“). Kurz: „Si transfictionnalité et hypertextualité ne couvrent pas exactement les mêmes domaines, c’est qu’elles s’attachent à des propriétés, phénomènes et problèmes différents. […] Lire ‚transfictionnellement‘ un ensemble de textes, c’est donc poser à leur sujet une série de questions fort différentes de celles qu’appelle leur considération sous l’angle de l’intertextualité ou de l’hypertextualité“ (ibid.: 10f.). 68 Hutcheon 2006: 6. 69 Coste/ Castells-Faucher 2000: 339. 70 Kundera 2003: 17ff. 71 Vgl. Eco 1990b. 72 „Et pourtant, si l’œuvre était précisément ce que l’auteur ne connaît pas, ce qu’il ne vit pas? “, gibt Barthes zu bedenken (1979: 153f.). <?page no="27"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 27 lectures, n’en évoque quelque autre et, en ce sens, toutes les œuvres sont hypertextuelles“), 73 beschränkt sich in seiner - im Interesse der Operabilität restriktiven - Definition aber auf jene Fälle, „où la dérivation de l’hypotexte en hypertexte est à la fois massive (toute une œuvre B dérivant de toute une œuvre A) et déclarée, d’une manière plus ou moins officielle“; ausgeschlossen werden Phänomene ‚schwächerer‘ Hypertextualität, die einer gewissen interpretatorischen Beliebigkeit Tür und Tor öffnen und - so Genettes Argument - dem Leser disproportionales Gewicht einräumen: Moins l’hypertextualité d’une œuvre est massive et déclarée, plus son analyse dépend d’un jugement constitutif, voire d’une décision interprétative du lecteur: je puis décider que les Confessions de Rousseau sont un remake actualisé de celles de saint Augustin, et que leur titre en est l’indice contractuel - après quoi les confirmations de détail ne manqueront pas, simple affaire d’ingéniosité critique. Je puis également traquer dans n’importe quelle œuvre les échos partiels, localisés et fugitifs de n’importe quelle autre, antérieure ou postérieure. Une telle attitude aurait pour effet de verser la totalité de la littérature universelle dans le champ de l’hypertextualité, ce qui en rendrait l’étude peu maîtrisable; mais surtout, elle fait un crédit, et accorde un rôle, pour moi peu supportable, à l’activité herméneutique du lecteur - ou de l’archilecteur. 74 Auch der Autor - und der Literaturwissenschaftler - ist freilich zunächst ein ebensolcher Leser, der seine persönliche, ihrerseits epochen-, milieu-, ideologiespezifische ‚Antwort‘ auf den Text formuliert 75 und mit dessen u. U. überdurchschnittlicher theoretischer Expertise nicht unbedingt ein Interpretationsprivileg oder gar -monopol auf Kosten ‚einfacher‘ Rezipienten einhergeht (gerade der Princesse-Diskurs des letzten Jahrzehnts zeugt eindrücklich genug von der Durchlässigkeit der Grenzen zwischen professioneller und amateuristischer 73 Diese radikale Position bezieht Kristeva mit ihrer „‚Panintertextualitätsthese‘“ (Müller-Zettelmann 2000: 221); ähnlich Barthes mit seinen Reflexionen über Intertextualität als „condition de tout texte, quel qu’il soit“: „[…] tout texte est un intertexte; d’autres textes sont présents en lui, à des niveaux variables, sous des formes plus ou moins reconnaissables […] tout texte est un tissu nouveau de citations révolues“ (vgl. „Théorie du texte et intertextualité“, in Rabau 2002a: 57-59, hier 59 [Auszug aus Barthes 1973]). 74 Genette 2003: 18f. Genette formuliert seinen Intertextualitätsbegriff ausdrücklich in Abgrenzung gegenüber Riffaterres Definition, „beaucoup plus vaste“ und leser-fokussiert: „L’intertexte […] est la perception, par le lecteur, de rapports entre une œuvre et d’autres qui l’ont précédée ou suivie“ (Riffaterre 1980, zit. bei Genette 2003: 9). Vgl. Piégay-Gros 1996: 93ff. und Rabau, die im Anschluss an Riffaterres „utilisation opératoire plus que définitoire de l’intertextualité“ (2002b: 22) letztere als „le résultat d’une interprétation, la construction d’un lecteur“ bzw. „l’œuvre non seulement d’un auteur, mais aussi d’un interprète“ fasst (ibid.: 34f.); siehe dazu den Abschnitt „Un lecteur parle à des lecteurs. L’intertextualité comme effet de lecture“ (Rabau 2002a: 159ff.) und insbes. das Riffaterre-Kapitel „Pas d’intertextualité sans lecteur“ (ibid.: 161-165 [Auszug aus Riffaterre 1983: 205-207]). In seiner „Réponse à Eisenzweig“ (1983) reagiert Riffaterre auf den Vorwurf, Rolle und Kompetenz des „lecteur ordinaire“ zu überschätzen, und präzisiert sein Verständnis der ‚Arbeitsteilung‘ zwischen Laien- und akademisch spezialisierter, deshalb freilich nicht fundamental anders gearteter Leserschaft: „Je crois que le lecteur est toujours capable de trouver l’intertexte. […] Le lecteur lit selon l’intertexte, mais il n’a ni le loisir ni le savoir nécessaires à vérifier le bien-fondé de sa lecture. C’est au professeur qu’il appartient de le faire, mais en revanche sa lecture de départ ne diffère en rien de la démarche commune“ (Rabau 2002a: 165). 75 „Écrire, c’est ébranler le sens du monde, y disposer une interrogation indirecte, à laquelle l’écrivain, par un dernier suspens, s’abstient de répondre. La réponse, c’est chacun de nous qui la donne, y apportant son histoire, son langage, sa liberté; mais comme histoire, langage et liberté changent infiniment, la réponse du monde à l’écrivain est infinie: on ne cesse jamais de répondre à ce qui a été écrit hors de toute réponse: affirmés, puis mis en rivalité, puis remplacés, les sens passent, la question demeure“ (Barthes 1979: 7). <?page no="28"?> 28 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien Kritik, die dank neuer medientechnischer Möglichkeiten mittlerweile breite öffentliche Präsenz und nicht zu unterschätzende Wirkmächtigkeit besitzt). Signifikanterweise beanspruchen die Schriftstellerinnen, die hier zu Wort kommen, keine exklusive Deutungshoheit über ihren Text, sondern treten von vornherein einen Teil ihrer ‚Autorität‘ an die Leserin ab. 76 Zur Aktivierung im Text angelegter Hypertextualität bedarf es jedenfalls der Leserin, von deren Kompetenz und Rezeptivität es abhängt, welche Referenzen überhaupt wahrgenommen werden (können). Die Schlüsselrolle des Rezipienten betont auch Linda Hutcheon, deren Konzept der Adaption (als „both a product and a process of creation and reception“ 77 und präziser als „an extended, deliberate, announced revisitation of a particular work of art“ definiert 78 ) nicht notwendig einen Medienwechsel impliziert („not every adaptation is necessarily a remediation“ 79 ) und als „a form of intertextuality“ 80 bzw. „a kind of intertextuality“ 81 auch für die hier untersuchten Phänomene literarischer Hypertextualität von Interesse ist. Stellen Adaptionen immer schon, wie Hutcheon unter Verweis auf Michael Alexander bemerkt, „inherently ‚palimpsestuous‘ works“ 82 dar, so setzt die Entfaltung der „‚palimpsestuousness‘ of the experience“ 83 im Zuge eines „ongoing dialogical process“ im Sinne Michail Bachtins 84 entsprechendes Wissen und Disponibilität auf Empfängerseite voraus. 85 La Princesse de Clèves selbst - mit ihrer bei Valincour als „too elliptical“ kritisierten Sprache, ihrer „poetics of lack“ 86 - fordert ihre Leserschaft über die Jahrhunderte hinweg zur aktiven Interpretationsarbeit heraus („le narrateur de La Princesse de Clèves n’oublie jamais […] de solliciter le lecteur à prendre une part active dans l’interprétation du récit“ 87 ); auch diverse (post-)moderne Princesse-Variationen verschaffen der Rezipientin „the palimpsestic pleasures of doubled experience“ 88 und testen zugleich „our own fitness as readers“ (um eine Formulierung Virginia Woolfs aufzugreifen). 89 Als Fitness-Coach kommt hier neben der für ein breiteres Publikum eingeschränkt relevanten Literaturwissenschaft vor allem die Kritik ins Spiel, die in Interaktion mit dem auktorialen/ editorialen Paratext - im Rahmen der Institution Literatur, 76 „[…] le sujet n’est plus dépositaire du sens de son énoncé: le sens circule d’un texte à l’autre, il n’est plus ce qu’a voulu dire l’auteur du texte premier […]“, wie Rabau diese Poetik einer großzügig definierten Intertextualität resümiert (2002b: 33). Die Dynamik der „associazioni mentali tra testi diversi“ zwischen auktorialer und lektoraler Intention, jene verschlungenen Wege, auf denen „un testo nella nostra mente viene assimilato o affiancato a un altro“, thematisiert auch Calvino (2010: VI) in Bezug auf seinen Metaroman Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979). 77 Hutcheon 2006: XIV. 78 Ibid.: 170. 79 Ibid. 80 Ibid.: 8. 81 Ibid.: 21. 82 Ibid.: 6. 83 Ibid.: 172. 84 Ibid.: 21. 85 Ibid.: XV. 86 DeJean 1992: 52f. „[…] by the standards of her time, Lafayette was saying (too) little and shifting enormous responsibility onto her reader“, erklärt DeJean (ibid.: 52) unter Verweis auf Lyons 1981: 386 et passim. 87 Levillain 1995: 107. Vgl. zu Lafayettes „poetics of absence“, ihrem „surrender of discursive power to the reader“, dem beträchtliche „narrative responsibility“ übertragen wird, auch Muratore 2001: 250ff. und 2003: 166ff. 88 Hutcheon 2006: 173. 89 Woolf 1994. <?page no="29"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 29 literarischer Kommunikations- und Transmissionspraxis seinerseits als „partie intégrante de l’œuvre“ zu betrachten 90 - eine zentrale rezeptionssteuernde Wirkung ausübt. Auch diese Dynamik paratextuell vorgegebener Interpretationsprismen, die eventuelle hypertextuelle Relationen stellvertretend für die Leser prä-fokussieren, okkultieren oder auch künstlich forcieren, findet sich in unserem Princesse-Corpus plastisch illustriert: Darrieussecqs Clèves, deklariertes „‚remake‘ de La Princesse de Clèves“, 91 das eine durchschnittlich gebildete - französische - Leserin vermutlich auch ohne literaturkritische Schützenhilfe dem entsprechenden Hypotext zuzuordnen vermöchte, wurde primär als Lafayette-réécriture rezipiert (wobei die Autorin die prinzipielle Möglichkeit einer Lektüre auch abseits des Princesse-Bezugs einräumt und sogar einen ‚obligatorischen Intertext‘ derart optionalisiert 92 ); in den Rezensionen zum Folgeroman Il faut beaucoup aimer les hommes wurde diese Referenz zugunsten eines anderen Interpretationsparadigmas (nämlich jenes des ‚afrikanischen‘ Romans: Alain Mabanckou ernennt Darrieussecq kurzerhand zur „écrivaine africaine“ honoris causa 93 ) fast völlig ignoriert, dies unter Vernachlässigung der Tatsache, dass der ‚Clou‘ dieser suite nicht zuletzt in der Fort- und Einschreibung der Princesse, Monumentalwerk der ‚weißen‘ franko-französischen Tradition, in einen postkolonialen Kontext liegt. Konträr dazu der Fall von Françoise Hardys L’Amour fou, im editorialen Paratext als „[u]ne sorte de Princesse de Clèves moderne“ (s. o.) - in diversen Präsentationen bereitwillig übernommenes Label - etikettiert: Auch wenn die Lektüre des Romans vor der Vergleichs-/ Kontrastfolie des klassischen Prätexts sich nachträglich - quasi unweigerlich - als durchaus produktiv erweist, bleibt die Frage, ob eine Leserin im hypothetischen Zustand prä-kritischer Unschuld diese Relation in diesem Ausmaß privilegiert hätte. Noch komplexer wird die interpretatorische Sache dort, wo eine Art ‚unbewusste‘ Hypertextualität schon auf Seiten des Autors postuliert wird; so etwa, wenn Coste und Castells- Faucher Marguerite Yourcenars Anna, soror… (1981) 94 ebenso wie Pascal Quignards La Frontière (1992) - „drame amoureux“ vor dem Hintergrund des portugiesischen 17. Jahrhunderts - „dans le sillage, peut-être inconscient, du chef-d’œuvre de M me de La Fayette“ verorten. 95 Pierre Cahné wiederum liest L’Éternité n’est pas de trop (2002) - nach Le Dit de Tianyi (1998) der zweite Roman des franko-chinesischen interkulturellen Grenzgängers François Cheng 96 - als „réécriture de La Princesse de Clèves“, und zwar unter expliziter Ausblendung der Frage nach der auktorialen Intention („Rien en effet ne me paraît plus vaniteux, insipide et finalement mal séant que de tenter d’expliquer à un écrivain vivant ce qu’il a voulu dire“ 97 ). Cahné beruft sich vielmehr auf „mon expérience de lecteur […] resté sous le charme 90 Fraisse/ Mouralis 2001: 14f. 91 Darrieussecq/ V 2011. Zur Definition des „remake“ als (Sub-)Kategorie der Adaption vgl. Hutcheon 2006: 170. 92 Zum Konzept der „intertextes obligatoires“ vgl. Riffaterre 1980 und 1990 (beide zit. bei Vuaille-Barcan/ Rolls 2006). 93 Mabanckou 2013. 94 Dieser im Jahr 1925 verfasste Text, als Abschnitt „D’après Gréco“ in den Band La mort conduit l’attelage (1934) integriert und in der Folge mehrfach überarbeitet, erscheint 1981 erstmals als autonome Publikation. 95 Coste/ Castells-Faucher 2000: 320f. 96 Vgl. zum Werk François Chengs etwa Taylor 2008; Yerlès 2014. 97 Cahné 2007: hier zit. Abs. 1. <?page no="30"?> 30 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien de La Princesse de Clèves“, der auch Chengs Roman „naturellement […] dans cette lignée“ einordnet. 98 Die Assoziation zwischen der Princesse und L’Éternité n’est pas de trop, einer in gleich mehreren Rezensionen recycelten Formel zufolge „superbe Princesse de Clèves en palanquin“, 99 Roman einer platonischen, schließlich mystisch überhöhten Passion im historischen China der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, „époque de bouillonnement sur le plan de la pensée, et de bouleversement qui se traduisit par l’effondrement de la dynastie [Ming, MS]“, 100 mit seiner Protagonistin Lan-ying, „véritable sainte“ 101 und ätherisches Text-Wesen, dessen Antlitz krankheitsbedingt „blanc comme du papier“ erscheint, 102 ist in vieler Hinsicht tragfähig, aber nicht zwingend; von einer gewissen künstlichen Bemühtheit zeugen diverse Versuche, diesen „superbe roman que d’aucuns ont comparé à La Princesse de Clèves“ 103 um jeden Preis in der konkreten Traditionslinie Lafayettes und generell in der möglichst ‚großen‘ französischen Literaturgeschichte zu positionieren. 104 Nun ließe sich - aus rezeptionsästhetisch fokussierter Perspektive und unter Anerkennung der Deutungssouveränität auch der Leserin - argumentieren, dass dieser oder jener Text in dem Moment, in dem er in einem hypertextuellen Spannungsfeld situiert wird, in gewissem Sinn tatsächlich Teil des jeweiligen Corpus wird. Aber auch wenn die so etablierten Relationen im Einzelnen aufschlussreich sein mögen, gerät die Analyse hier zur theoretisch prekären Gratwanderung. 105 Pointiert formuliert: Wer auf der Suche nach bzw. durch das Prisma bestimmter hypertextueller Referenzen liest, wird diese finden („simple affaire d’ingéniosité critique“, wie Genette - s. o. - treffend bemerkt), ist im Prinzip doch quasi jeder 98 Ibid.: Abs. 2. 99 Vgl. etwa Landel 2012. 100 François Cheng: „Avant-propos“, in Cheng 2004: 7-14, hier 12. 101 Ibid.: 34. 102 Ibid.: 53. 103 Yerlès 2014: 136. Der Autor selbst verweist hinsichtlich des in seinem Roman reflektierten „désir d’une passion absolue“, philosophisch valorisiert als „possibilité d’ouverture vers l’infini“, auf „Tristan et Yseult, les troubadours, Héloïse et Abélard, Dante et Béatrice, La Princesse de Clèves, […] les pièces de Racine et les écrivains romantiques“, betreffend seine Vorbilder in der Kunst der „analyse“ wiederum insbesondere auf „Proust, Stendhal, Flaubert et Madame de La Fayette“; diesen Konnex bestätigt der Interviewer, der die Princesse noch einmal in etwas überraschender Nachbarschaft ins Spiel bringt: „L’Éternité n’est pas de trop s’inscrit dans la lignée des plus grandes histoires d’amour jamais couchées sur papier comme La Princesse de Clèves ou L’Amant de Lady Chatterley“ (Tanguay 2004). 104 „[…] Lan-ying et Dao-sheng évoquent un couple mythique dans la tradition de celui de Tristan et Yseult ou de La Princesse de Clèves. Le cadre même des jardins a pu être mis en résonance avec l’univers végétal du catleya et du bois de Boulogne chez Proust“, heißt es auf dem Backcover von L’Écriture singulière de François Cheng. Un dialogue fécond (Hanus/ Herly/ Scheidhauer 2011). Dussault (2002) schickt Chengs Roman, auch hier in illustrer literarhistorischer Genealogie verortet, in weniger hypertextualitätstheoretischer denn moralischer Mission ins Rennen: „Seuls quelques récits médiévaux ou des écrits comme La Princesse de Clèves peuvent se rapprocher de cette belle histoire tragique et exaltante qui fait heureusement contrepoids aux débordements de sexualité brute qui déferlent depuis quelque temps sur la littérature française.“ Eine komparatistische Analyse unternimmt Parizet (2007), die ihrerseits vor allem die Relation zur antiken Mythologie (Orpheus und Eurydike) sowie zum Tristan und Isolde-Mythos betont und auch die Differenz zwischen der Princesse und Chengs Text - Roman des „renoncement au renoncement“ (ibid.: Abs. 31) - kommentiert. Unter dessen „références possibles“ figuriert die Princesse - unter Rekurs auf Cahné (2007) - auch bei Bisinger, deren Interesse freilich primär der „universalité du sujet de l’amour inabouti“ gilt (2016: 103). Einen Bezug zwischen La Princesse de Clèves und der chinesischen Literatur stellt in anderem Kontext Collins Hamilton (2008) her. 105 Vgl. zu dieser Problematik allgemein Eco 2002. <?page no="31"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 31 Text als Hypertext, ja - so die noch radikalere These Marie Darrieussecqs - bei entsprechend ‚paranoidem‘ Blick sogar als Plagiat (fast) jedes anderen Textes lesbar; 106 dieser Gefahr - dies sei vorweg präzisiert - ist sich die Interpretin an dieser Stelle bewusst. „… une œuvre trop classique“? Zur Rezeptionsdynamik der Princesse de Clèves Die Frage nach der hypertextuellen Kompetenz der Leserin ist im Fall eines ‚nationalen‘ Klassikers 107 wie der Princesse de Clèves nicht zuletzt von interkultureller Relevanz. Kann bei einem mit diesen réécritures primär adressierten französischen Publikum eine gewisse Kenntnis oder zumindest vage Vorstellung des Prätextes - Pflichtlektüre für Generationen französischer Schülerinnen und Schüler, eines jener ausgewählten Werke, die der Staat im UNESCO-Jahr des Buches 1972 seinen frischvermählten Bürgern in die „corbeille de mariage“ legt 108 (wie die zum gleichen Anlass gespendete Madame Bovary der Pikanterie nicht entbehrendes Hochzeitsgeschenk), aufs Neue regelrechter Bestseller vor dem Hintergrund der ‚Affäre‘ Sarkozy - vorausgesetzt werden, 109 so gilt dies für sekundäre Rezeptionskontexte, in denen die Princesse nicht Teil des traditionell schulisch vermittelten Kanons ist, nur sehr eingeschränkt. Nicht zufällig erscheint Marie Darrieussecqs Clèves in deutscher Übersetzung unter dem Titel Prinzessinnen (2013), der - symptomatische Re-Akzentuierung - von editorialen Zweifeln an der Funktionsfähigkeit des hypertextuellen Signal- und Trigger-Wortes Clèves bei einer deutschsprachigen Leserschaft zeugt; wie zu zeigen sein wird, sind die Unterschiede zwischen der Aufnahme in Frankreich und anderswo auch hinsichtlich der kinematografischen Adaptionen - bzw. hier erst recht, richtet sich das Medium Film ja nicht nur an ein literaturaffines Publikum - frappant. Doch auch in seinem primären kulturellen Kontext generiert ein zum Symbol der francité stilisiertes Monument wie die Princesse de Clèves eine sehr spezifische Dynamik der réécriture: Bei ihrer produktiven Auseinandersetzung mit dem klassischen Text sehen sich moderne und postmoderne Autoren niemals ‚nur‘ mit dem Werk tel quel, sondern stets auch mit dem Status eines literarischen „talisman“, 110 einer „œuvre patrimoniale s’il en est“, 111 kurz: einer „œuvre trop classique“ 112 konfrontiert - und derart mit der heiklen Aufgabe, „l’effet 106 „J’affirme que deux livres totalement étrangers l’un à l’autre présenteront toujours des ressemblances troublantes. […] J’affirme que deux livres, n’importe lesquels, lus parallèlement dans une optique malveillante ou paranoïaque, pourront toujours passer pour plagiat l’un de l’autre“ (Darrieussecq 2011a: 183). 107 Vgl. Schlanger 2008: 102ff. 108 Vgl. Soriano 1975: 17. 109 Dieses Wissen um Spezifik oder zumindest Existenz des literarischen Prätexts beruht nicht unbedingt auf konkreter Vertrautheit mit dem jeweiligen Werk; dies betrifft insbesondere jene ‚Klassiker‘, deren kulturelle Reputation fast immer der individuellen Lektüre vorausgeht (Calvino 1991: 13f.). Als „un livre dont l’aura est antérieure à la lecture“ definiert den Klassiker auch Finkielkraut (2013: 193). 110 Malandain 1989: 112. 111 Langlade 2013: 17. 112 Dubois 2013a. <?page no="32"?> 32 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien inhibant de l’immobilité muséale dans laquelle l’œuvre est souvent maintenue“, 113 die paralysierende Wirkung einer gewissen „immortalité scolastique“ 114 zu überwinden. In so mancher von konservativ pro-kanonischem Impetus getragenen Kritik wird die Princesse mit teils beträchtlicher Aggressivität gegen von vornherein als ‚blasphemisch‘ verworfene Experimente zeitgenössischer Autoren verteidigt. 115 Umgekehrt provoziert freilich der „iconic status“ 116 eines zum sakrosankten Nationalklassiker erhobenen Werkes verlässlich die eine oder andere lustvoll ikonoklastische Gegenreaktion: Auch diese „‚Joconde‘ des lettres françaises“ 117 verlangt nach ihrem Schnurrbart. Berühmt-berüchtigt ist der Fall des belgischen Surrealisten Louis Scutenaire, der 1963 mit dem Aphorismus „Relu, hier, quelques pages de La Princesse de Clèves. / Avec mon cul“ 118 für einen Skandal in der Welt der lettres sorgt (da der Verfasser sich jene zwei Zeilen des Anstoßes zu eliminieren weigert, lehnt Gallimard die Publikation insgesamt ab; der zweite Band der Inscriptions erscheint erst 1976 in Brüssel). Unter den literarischen Zeitgenossen charakterisiert - dies noch vor der ‚Affäre‘ Sarkozy - Charles Dantzig die Princesse in seinem Dictionnaire égoïste de la littérature française (2005) als „chef-d’œuvre médiocre que la postérité admire, le croyant élégant“; Lafayettes Protagonisten, „à peu près tous les mêmes et de genre hyperbolique“, finden ebenso wenig Gnade vor seinen Augen wie die Dialoge, „eux aussi faits de la façon la plus conventionnelle“, der Schluss („un disque rayé où les mêmes actions se répètent“) und allgemein die Ästhetik eines Romans, der jeglicher „logique intérieure“ entbehre und dessen Autorin dem Geschmack des Kommentators nach viel zu stark auf telling statt showing setzt: „Elle ne montre pas, elle décrit.“ 119 Überflüssig zu bemerken, dass dieses Urteil über Lafayettes paradox ‚mittelmäßiges Meisterwerk‘ dem Schriftsteller - „bien seul“ in seiner Denunziation der Princesse, wie Rambaud eifrig betont 120 - manch empörte Konter-Attacke einbringt. Angesichts der ‚Affäre‘ ergibt sich hier eine komplexe Gemengelage, sorgten die 113 Langlade 2013: 18. „[…] il est juste et urgent de sortir La Princesse de Clèves du musée où une admiration plus éblouie qu’éclairée l’a reléguée“, erklärt bereits 1985 Malandain (1989: 112). 114 Laugaa 1971: 120. 115 „La lecture de La Princesse de Clèves implique un désaveu de la littérature moderne: ainsi se confirme une tendance active tout au long du siècle: le plaisir de lire se double d’un plaisir d’exclure“, bemerkt Laugaa zur Rezeptionsgeschichte der Princesse im 19. Jahrhundert, da Lafayettes Roman nicht zuletzt als „le livre du refus, entendons par là le refus du roman naturaliste“ instrumentalisiert wird (1971: 201). Diese Dynamik ist auch dem 21. Jahrhundert nicht fremd: „Marie Darrieussecq nous avait habitués à ses monuments de sottise; voilà qu’elle franchit une étape supplémentaire en ajoutant l’arrogance à l’incapacité. Prétendre s’inscrire dans la continuité de Mme de Lafayette: quelle vanité! “, schimpft ein User im Forum des Buzz littéraire („Marie Darrieussecq prépare un livre sur la Princesse de Clèves“ [25.08.2009]; ‚Iskandar‘, 10.08.2011); eine ähnliche Haltung kommt - in gewählteren Worten - auch bei einem Teil der autorisierten Kritik deutlich genug zum Ausdruck. 116 Campbell 2011. 117 Esmein-Sarrazin 2014a: XXXIIff., unter Rekurs auf eine Formulierung Laugaas, der seinerseits die Ambivalenz der „gloire mythique de La Princesse de Clèves (parfois réduite, dans le musée littéraire, à devenir - modèle ou repoussoir - une Joconde à l’usage des classes)“ reflektiert (1971: 6). 118 Scutenaire 1976: 190. 119 Dantzig 2005: 694-695 („Princesse de Clèves (La)“), hier 694. Auf den Spuren Valincours skizziert auch der postmoderne Kommentator einen konkreten Vorschlag zur korrektiven réécriture einer Schlüsselszene des Romans: „La scène de la lettre serait la meilleure si l’auteur la résumait à cinq lignes puis en décrivait les conséquences dans l’esprit des personnages“ (ibid.). 120 Rambaud 2006: 7. <?page no="33"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 33 Invektiven Sarkozys doch zugleich für tagespolitische Aktualisierung des Romans und reaktive Hypertrophie seines kanonischen Status inklusive Quasi-Obligation zur ‚politisch korrekten‘ Wertschätzung: eine Ambivalenz, die auf unterschiedlichen diskursiven Levels - von offiziellen Rezensionen bis zu Amateur-Diskussionen in Online-Blogs und -Foren - zu beobachten ist (bzw. auch auf der Meta-Ebene reflektiert wird 121 ) und vom klassischen Prätext auf neue filmische Adaptionen ausstrahlt. Der eben zitierte Charles Dantzig jedenfalls leistet sogar in diesem Kontext noch Widerstand gegen einen generalisierten Princesse-Hype und kritisiert im Rahmen der Sendung La Grande Librairie den Stil Lafayettes wiederum als „trop précieux et hyperbolique“, die Autorin selbst sinngemäß als bloße preziöse Salondame („C’est une femme du monde, elle reste polie […] mais quand on écrit un roman, on est pas poli“); für interessanter als die Princesse selbst (aus seiner Sicht „pas un roman mais un objet de préciosité ou une fable“) befindet er deren literarische „descendance“ und konkret - vielleicht nicht ganz zufällig - die Werke zweier männlicher Autoren, nämlich Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel (1924) und Jean Genets Le Miracle de la rose (1946). 122 Unübersehbar wird hier auch die Problematik Autorität und Gender verhandelt; der postmoderne Schriftsteller greift einige Topoi bzw. Klischees auf, die die kritische Rezeptionsgeschichte Lafayettes - besonders massiv im 19. Jahrhundert - prägen. Nicht umsonst wirft Nathalie Grande, die anderweitig ausführlich einen mehr oder minder manifest chauvinistischen literarhistorischen Diskurs über Lafayette und andere Romancières ihrer Epoche analysiert, 123 121 „Mon Dieu, a-t-on encore le droit de s’ennuyer en lisant La princesse de Clèves sans être accusé de fascisme? “ - so gezielt provokant User ‚Balouza‘ (11.12.2006) im vielfrequentierten Forum zu Pierre Assoulines Le Monde-Literaturblog (2006). 122 „La princesse de Clèves vue par M. Darrieussecq, R. Jauffret, F. Beigbeder, A. Nothomb, C. Dantzig“ (Buzz littéraire, 27.03.2009). „L’humeur ambitieuse de la reine lui faisait trouver une grande douceur à régner […]“: Mit diesem kontextuell nicht ganz unschuldig gewählten - und einzigen - Zitat aus der Princesse beschließt Dantzig seine Reflexionen über Lafayette, deren Werk seinen Ruhm nicht zuletzt den „relations“ der Autorin verdanke und hier unter Rekurs auf eine unter dem Gender-Aspekt symptomatische Handarbeitsbzw. auch kulinarische Metaphorik devalorisiert wird: „La reine Mathilde a fait, croit-on, la tapisserie de Bayeux; Madame de La Fayette a fait quelques romans. […] elle tricote du dialogue […] De temps à autre, la tricoteuse s’interrompt pour raconter une anecdote historique […]. Trois étoiles dans les Michelin littéraires, moins regardants que le Michelin de cuisine“ (2005: 694f.). 123 Ausgehend von einem u. a. Texte Victor Cousins, Hippolyte Taines, Sainte-Beuves umfassenden Corpus analysiert Grande die Darstellung der „écriture romanesque féminine du XVII e siècle“ im literarhistorischen Diskurs des 19. Jahrhunderts (2000a: hier zit. 223). Sentimentalisierung, Moralisierung, Neutralisierung - so resümiert sie die Domestikationsstrategien, die auch bzw. gerade gegenüber Lafayette und der Princesse de Clèves zum Einsatz kommen: „En édulcorant ce que pouvait avoir d’âpre le parcours de la romancière, en moralisant ce que sa vie pouvait laisser transparaître de trivial, les critiques en arrivèrent à neutraliser les acidités d’une œuvre à plus d’un titre caustique“ (ibid.: 229f.). Im Vergleich zu Zeitgenossinnen wie Scudéry und vor allem Villedieu wird Lafayette, „la romancière dont l’œuvre a été la moins méconnue“ (Taine würdigt La Princesse de Clèves als „le plus beau roman du siècle“; zit. ibid.: 225), relativ gnädig, jedoch nicht ohne Herablassung - und sei es in Form eines idealisierenden „angélisme interprétatif“ - behandelt; immerhin wird ihr Werk derart in einer Epoche, da der Roman sich nach wie vor einem gewissen Immoralitätsverdacht ausgesetzt sieht, aufgrund seiner ad nauseam betonten „valeur édifiante“ für unbedenklich befunden (ibid.: 226f.). Ein „conformisme à faire pleurer“ prägt auch die biografische Präsentation Lafayettes, so bei Haussonville, der ein klischeehaftes Porträt der zukünftigen Autorin als „jolie fille désargentée“ (dies in Umkehrung der realen Verhältnisse) und wahrer „parangon de vertus domestiques“ zeichnet (ibid.: 227f.). Lafayettes mit diesem idyllischen Bild nicht recht kompatible literarische Ambitionen erklärt er kurz und bündig mit „La Rochefoucauld! “. <?page no="34"?> 34 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien die Frage nach den Gender-Implikationen auch der ‚Affäre‘ und der Wahl der Princesse - emblematischer klassischer, aber eben auch mehrfach ‚weiblicher‘ Text - zur Zielscheibe (prä-)präsidentieller Aversion auf: […] le candidat ne s’est sans doute pas attaqué par hasard à La Princesse de Clèves. Aurait-il d’ailleurs osé le même coup avec une comédie de Molière, une fable de La Fontaine? 124 Peut-être, sait-on jamais… Il n’empêche que La Princesse de Clèves, parce que l’histoire qu’elle raconte va contre l’impératif de la consommation sans réflexion, parce qu’elle relève d’une discipline, la littérature, dont l’enseignement est tombé en déshérence, et parce qu’elle appartient à une dimension de la société, la culture, dont les valeurs prétendent échapper aux soi-disant lois économiques, a sans doute pu apparaître comme une cible facile à l’esprit de ceux qui écrivaient les discours du candidat. Sans compter que La Princesse de Clèves a été écrite par Madame de Lafayette, une des rares femmes à appartenir au panthéon littéraire, et qu’elle raconte l’histoire d’une femme, ses doutes, ses combats, ses convictions. De là à penser qu’on pouvait se moquer impunément d’un „ouvrage de dames“… 125 Auch bei einem modernen Interpreten wird Lafayette noch mit dem zumindest ambivalenten Etikett eines „romancier du dimanche“ versehen; 126 die wahrhafte Konsekration ihres Œuvres verlangt nach dem gleichfalls alles andere als unschuldigen Maskulinum des „grand romancier“. 127 Im Zusammenhang mit der Pléiade-Edition der Œuvres complètes, gewürdigt als Akt Dieser wird vorsichtig als „le point délicat de la vie de M me de Lafayette“ eingeführt (zit. ibid.: 228); von diversen Spekulationen über die Ehe der Lafayettes samt mysteriösem „drame intime“ und De-facto- Trennung sowie den folgenden „mariage moral“ mit La Rochefoucauld (zit. ibid.: 229) ist es nur mehr ein kleiner Schritt zur autobiografisierenden Lektüre auch der Princesse de Clèves (ibid.). Vgl. auch die gleichfalls höchst sentimentale Version der amitié amoureuse und der Kooperation Lafayette/ La Rochefoucauld in Sainte-Beuves Portraits de femmes (1845): „[…] Mme de Clèves […] maladive et légèrement attristée, à côté de M. de Nemours vieilli et auteur des Maximes: telle est la vie de Mme de La Fayette et le rapport exact de sa personne à son roman. […] Il est touchant de penser dans quelle situation particulière naquirent ces êtres si charmants, si purs, ces personnages nobles et sans tache, ces sentiments si frais, si accomplis, si tendres […]. Ainsi ces deux amis vieillis remontaient par l’imagination à cette première beauté de l’âge où ils ne s’étaient pas connus, et où ils n’avaient pu s’aimer“ (zit. nach Laugaa 1971: 171ff.). „Sainte-Beuve a ceci de rassurant qu’il ruine lui-même la problématique qu’il prétend défendre“, merkt Laugaa trocken an (ibid.: 169); vgl. zu Sainte-Beuves Princesse-Interpretation auch den kritischen Kommentar Malandains (1989: 116). 124 „Had Sarkozy chosen to go after Racine or Molière, the country might practically have shut down“, ironisiert Zerofsky (2012) im New Yorker, ihrerseits einigermaßen abschätzig gegenüber Lafayette: „but even the response to his attack on this mildly important French literary accomplishment was impressive“. 125 Grande 2010: 63f. Nicht zufällig, vermutet auch Cixous (2011), richtet sich Sarkozys „blind, vengeful fury“ bzw. „impotent rage“ ausgerechnet gegen „the most discreet, distinguished figure of French language and literature“ und einen in mehrfacher Hinsicht ‚weiblichen‘ Text: „The Princess of Cleves is the first novel in literature. Worse, it’s written by a woman […]. Worse, it immortalises a woman.“ Die Gender-Dimension der ‚Affäre‘, die neben der ursprünglichen „Querelle au sujet de la politique d’éducation“ an die „Querelle des femmes“ anknüpft (Kulessa 2013: 124f.), betont denn auch die Société Internationale pour l’Étude des Femmes de l’Ancien Régime, die unter dem Motto „Touche pas à ma princesse! “ zur Verteidigung der Heldin Lafayettes und zugleich der „place des femmes dans la création et dans les instances de savoir“ gegen Sarkozy und die von ihm reaktivierten „vieux discours misogynes sur fond de querelle des sexes“ schreitet („La Princesse de Clèves“, 11.01.2009). 126 Vgl. Pingaud 2011: 15. Pingauds Anmerkungen zu Lafayettes „côté ‚romancière du dimanche‘“ kommentiert auch Laugaa (1971: 337). 127 Auf die Frage „Mais qu’est-ce que c’est, un grand romancier? “ antwortet Jean-Luc Godard im Interview mit Pierre Assouline in Lire (Mai 1997): „C’est M me de La Fayette“, deren Princesse de Clèves er gerade für „un projet de film sur l’amour et l’Occident“ wiederlese. Erst nach Lafayette als paradigmatischem <?page no="35"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 35 später literarhistorischer Geschlechter-Gerechtigkeit samt Rekonfiguration des klassischen Kanons, 128 wird wiederum die Gender-Frage aufgeworfen: In höchsten Tönen beschwört ein Rezensent anlässlich dieser „belle nouvelle pour les Lettres françaises et en particulier pour les femmes de lettres françaises“ Lafayettes „incroyable modernité“ („une véritable révolution littéraire“) sowie ihren in der wissenschaftlichen Literatur kontrovers diskutierten „‚féminisme‘“. 129 Ob grand romancier oder grande romancière: Der Fall der Princesse illustriert quasi paradigmatisch die komplexe Dynamik einer produktiven Klassikerrezeption, jenen Zirkel der reziproken Re-Legitimation, in dem die Autorin einer réécriture ihr eigenes Werk an der Aura des Prätexts partizipieren lässt und diesem zugleich ihre Hommage erweist - und sei es in parodistischer Form: En effet, en réécrivant le texte d’un prédécesseur, l’écrivain accrédite son œuvre d’une part de légitimité et lui confère une certaine autorité - celle du modèle. Cependant, le nouveau texte […] renforce inversement la légitimité du modèle réécrit. Mais il arrive tout aussi bien qu’en réinvestissant un texte existant, l’auteur du texte nouveau cherche à le caricaturer ou à le tourner en dérision, adoptant ainsi une attitude subversive et une démarche parodique fondée sur l’imitation burlesque d’un texte a priori sérieux. 130 In der Tat ist die Parodie - bei Linda Hutcheon als „an ironic subset of adaptation“ in ihren transmedialen Adaptions-Begriff inkludiert 131 - als „un des indicateurs de la vitalité de l’œuvre source“ nicht zu vernachlässigen. „Un texte mort ne saurait être parodié et un texte parodié a valeur de classique“, erklären Emmanuel Fraisse und Bernard Mouralis; 132 dies gilt auch für La Princesse de Clèves, gemeinhin als überaus ‚seriöses‘ Werk von nobler Melancholie betrachtet. Schon Valincour insistiert freilich in seiner Kritik der Princesse auf deren gar nicht so latenter Verwandtschaft mit der zeitgenössischen comédie. Die Protagonistin in ihrer „simplicité extraordinaire“ 133 charakterisiert er als „innocente“, die in der amourösen ‚Schule der Frauen‘ eine beinahe zu abrupte Entwicklung mitmacht („Il faut avouer qu’un peu d’amour fait grand bien à certaines personnes qui n’ont pas l’esprit tout à fait ouvert. Madame „grand romancier“ finden sich auf den Rängen „Balzac, Stendhal, Flaubert, Tolstoï, Dostoïevski, Dickens, Thomas Hardy, Meredith, Virginia Woolf, les grands Américains… Voilà des écrivains, il y en a vingt à tout casser“ (zit. nach Rambaud 2006: 6f.). 128 Vgl. Guégan 2014. 129 Levy 2014. Die Inthronisierung Lafayettes, traditionell „as the only first-class female citizen of the republic of letters“ akzeptiert (DeJean 1991: 162), als Pléiade-Autorin mit ihren eigenen Œuvres complètes aktualisiert die Ambivalenzen eines Kanonisierungsprozesses, dessen literarhistorische „conditions“ DeJean wie folgt resümiert: „first, the political content of her fiction was dismissed from critical discussion; second, her bond with a female tradition was severed. Her oeuvre thus recontoured, Lafayette was enshrined as the unique woman novelist of her age. Lafayette’s nom d’auteur was acquired at a high price, the effacement of the politics of female authorship“ (ibid.: 97). Auch und vor allem der Princesse de Clèves als „Lafayette’s masterpiece“ und „the only work of French women’s writing ever to receive true canonic status“ widerfährt eine derartige ‚Neutralisierung‘ um den Preis der Elimination ihrer subversiven Dimension (ibid.: 14). Vgl. zu dieser Problematik allgemein auch DeJean 1994. 130 Rebai/ Rebai 2015. 131 Hutcheon 2006: 170f. 132 Fraisse/ Mouralis 2001: 255. 133 Valincour 2001: 76. <?page no="36"?> 36 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien de Clèves n’a pas si tôt vu Monsieur de Nemours, qu’elle raffine sur la tendresse“ 134 ); unter Berufung auf „un des plus agréables et des plus polis esprits de son siècle“ stellt er schließlich den expliziten Bezug zu Molières Agnès („comparaison extrêmement juste“) her: „[…] il semble que la princesse de Clèves ne soit qu’un portrait plus sérieux de cette innocente de la comédie.“ 135 Im postmodernen literaturwissenschaftlichen Diskurs weisen Dufour-Maître und Milhit auf die Präsenz („discrète, mais indéniable“) auch des satirischen Registers und auf den durchaus als ironisch zu bezeichnenden „traitement ambigu“ einer Reihe romanesker Topoi 136 - nach Ernst Robert Curtius bereits „à leur manière des précurseurs de l’intertextualité“ 137 - hin. „The opening hyperbolic account is punctuated by touches of ironic commentary. […] From its very first pages, La Princesse de Clèves carries insidious traces of an ironic subtext that underlies the glittering surface of the court“, konstatiert auch Donna Kuizenga. 138 Nathalie Grande betont ihrerseits die semi-latente ironische Komponente des Lafayette’schen Œuvres und skizziert in ihrem Plädoyer für einen literaturtheoretischen „renouvellement des approches“ eine potentielle „lecture décalée“ der Princesse 139 unter Berücksichtigung jenes „sous-texte ironique“: „Ne peut-on en effet envisager de lire ce récit sur le mode caustique, comme la dénonciation des sottises où peuvent entraîner les grands principes, comme une farce burlesque qui a la mauvaise grâce de mal se terminer et qui aurait pu s’intituler La Princesse de Clèves ou le mari amoureux de sa femme, comédie? “ 140 Diese komplementäre Lesart unter Akzentuierung einer im Text ebenfalls angelegten „tonalité ironique“ - die vor dem Hintergrund der Lafayette-Doxa wohl „comme une gageure, voire un contre-sens“ anmute, wie die Autorin selbst prophylaktisch anmerkt - sieht Grande nicht im Widerspruch zum traditionellen Fokus auf der „tonalité tragique“ des Romans, produktiv uneindeutiges Kunstwerk voller „signes qui, faute de se voir assigner un sens univoque dans le récit, abandonnent une large place à l’implicite“. 141 Ausgehend von der möglichen Interpretation des Romans „as a parody“ wirft John Lyons die prinzipielle Frage nach „the relationship between the Princesse de Clèves and La Princesse de Clèves“ auf: 134 Ibid.: 37f. 135 Ibid.: 76, vgl. auch 102. Wie Valincours Kontrahent Charnes (2014: 654ff.) weist auch Malandain diesen Molière-Bezug explizit zurück: „C’est […] une innocence, qui n’a rien à voir avec celle d’Agnès“ (1989: 71). Lançon (2009b) interpretiert Les Précieuses ridicules als „un reflet défiguré et sarcastique des caractéristiques de la princesse de Clèves“. 136 Dufour-Maître/ Milhit 2004: 49. 137 Rabau 2002b: 24; vgl. dazu den Curtius-Abschnitt „Le topos à travers les textes“ in Rabau 2002a: 93-96. 138 Kuizenga 1992: 72. „[…] le réalisme, voire la satire, équilibrent l’éloge. […] Aucun aveuglement, malgré les apparences, dans les beaux portraits des premières pages“, hält auch Niderst fest (1973: 24f.). 139 Grande 2010: 67. 140 Grande 1999: 178. 141 Grande 2010: 67. „Et la causticité ironique finit d’ailleurs souvent par rejoindre l’interprétation augustinienne dans la nouvelle de Madame de Lafayette, car l’ironie, comprise comme point de vue qui engage une vision du monde, met en évidence les absurdités du cœur, les ridicules du monde, les vanités de l’intelligence. Ainsi, loin de désacraliser un chef d’œuvre en ramenant par une lecture décapante l’énigme de cette œuvre unique à une farce plus ou moins tragique ou plus ou moins grotesque, je n’ai fait qu’essayer de rajouter une couche, peut-être plus croustillante que d’autres, au feuilleté du sens“, wie Grande hinzufügt (ibid.: 67f.; vgl. auch Grande 2011). Vor allem in den Monologen Nemours’ vernimmt bereits Francillon (1973: 156) eine potentiell parodistische Note: „[…] nulle part ailleurs dans le roman, Mme de La Fayette ne recourt comme ici à la rhétorique amoureuse des Précieux, au point même que l’on peut se demander si l’on ne peut pas y déceler une pointe de parodie.“ <?page no="37"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 37 „To what extent do the thoughts, acts, and words of the Princesse de Clèves reflect the ideas of the text’s narrator and/ or of its author? “ 142 Auf diese in einem konventionell-sakralisierenden Diskurs tendenziell ausgeblendete parodistische Dimension der Princesse - an die bereits Lafayettes englischer Zeitgenosse Nathaniel Lee mit seiner komödiantischen Adaption The Princess of Cleve und Jules Lemaître mit seiner Belle Époque-Komödie La Princesse de Clèves anknüpfen - werfen auch einige der hier vorgestellten postmodernen Re-Interpretationen ein aufschlussreiches neues Licht. Text und Theorie (I): Plagiat, Palimpsest und Einflusslust La meilleure critique littéraire, c’est la littérature. 143 Die Metaliteratur ist der Anfang der Literaturwissenschaft durch die Literatur selbst. 144 La Princesse de Clèves, eleganter „piège à critiques“, 145 erteilt auch und gerade der Literaturwissenschaftlerin eine Lektion in Bescheidenheit, besitzt Lafayettes Text - dessen Figuren nicht zuletzt als Kommentatoren ihrer selbst auftreten (in diesem Sinne interpretiert Joan DeJean die Heldin als „a representative of Lafayette’s critical or metadiscursive view of narrative fiction within the seventeenth-century publishing context“ 146 ) - doch bereits eine nicht zu vernachlässigende metatextuelle Komponente: Auf diegetischer Ebene und aus unterschiedlicher Perspektive 147 werden nicht nur die zentralen ethischen Dilemmata der Protagonisten 148 und „[t]he mimetic nature […] of love“ 149 reflektiert, sondern auch „le grand débat sur la vraisemblance“ 150 - Schlüsselbegriff zwischen klassischer Poetik und gesellschaftlicher Doxa, 151 „a question both of authority and of epistemology“ 152 - und die Grundlinien der Argumentation in der Querelle de l’aveu vorweggenommen. 153 Die berühmte Maxime, die Mme de Chartres 142 Lyons 1992: 247f. 143 Dantzig 2005: 226-228 („Critique littéraire dans la création“), hier 226. 144 Duhamel 2001: 7. 145 Lyons 1992: 255. 146 Vgl. ibid.: 246. 147 Vgl. MacArthurs Analyse diverser „Interpretive Communities within the Novel“ (1998: 176ff.). 148 Vgl. Rendall 1992: 130. 149 Henry 1992c: 178. 150 Dufour-Maître/ Milhit 2004: 52. 151 Vgl. Genette 1968. „Dans l’esthétique classique […], la vraisemblance consiste précisément à n’admettre pour vrai que ce qui est conforme à l’opinion commune“, präzisiert Francillon (1973: 141f.). Zum Konflikt zwischen „vraisemblance diégétique“ und „invraisemblance empirique“ im Roman Lafayettes und zu dem daraus resultierenden „choc des perspectives“ vgl. auch Mercier 2009. 152 Andersen 1998: 54. 153 Die Protagonistin selbst reflektiert die Exzeptionalität ihres Handelns, „[l]a singularité d’un pareil aveu dont elle ne trouvait point d’exemple“ (Lafayette 2014c: 422) auf der Meta-Ebene: „Eh bien, monsieur, […] je vais vous faire un aveu que l’on n’a jamais fait à son mari […]“ (ibid.: 419); „Ah, monsieur, […] il n’y a pas dans le monde une autre aventure pareille à la mienne […]“ (ibid.: 434) etc. Die Indiskretion Nemours’ setzt einen fatalen Informationskreislauf in Gang, integriert den aveu „into the communicational dynamics of the very social setting whose scheduling pressures had motivated the avowal in the first place“ (Racevskis 2003: 177) und liefert damit auch den diegetischen Anlass zur Erörterung seiner (Un-)Wahrscheinlichkeit: Die Princesse, in den Gemächern der Dauphine mit jener neuesten ‚Anekdote‘ <?page no="38"?> 38 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien ihrer Tochter bei deren Debüt am Hof als kleinen sozio-philosophischen mode d’emploi mit auf den Weg gibt („Si vous jugez sur les apparences en ce lieu-ci, […] vous serez souvent trompée: ce qui paraît n’est presque jamais la vérité“ 154 ), darf auch als - subtil paradoxe 155 - Lektüre-Anleitung für den Text selbst gelten; 156 nicht nur die Heldin, sondern auch die Leserin erhält mit diesem Satz „a certain key to the relationship between language and reality […], between reality and conduct, between conduct and language“. 157 Auf poetologischer Meta-Ebene lesbar ist auch die Episode der verlorenen lettre galante (samt folgender Rekonstruktion): Diese diegetische „scene of writerly production“, zugleich „a mise-en-abyme that mirrors the historical situation of the seventeenth-century woman writer“, 158 wurde nicht nur extensiv kritisch kommentiert, 159 sondern auch in modernen und postmodernen Re-Interpretationen der Princesse mannigfach variiert. Eben der Brief - erst recht der verlorene Brief - fungiert zwar als „un thème romanesque par excellence“ 160 und zur Zeit Lafayettes bereits als verlässlicher Fiktionalitäts-Indikator; 161 der Brief der konfrontiert, verwirft ihre eigene Geschichte als „guère vraisemblable“ (Lafayette 2014c: 430); auch Nemours’ rhetorische Defensive („Croyez-vous […] qu’une personne qui aurait une véritable passion, pût la découvrir à son mari? “; ibid.: 432) nimmt die Meinung bzw. den „désaveu de l’aveu“ (Laugaa 1971: 31) der meisten Leserbriefschreiber des Mercure galant vorweg. 154 Lafayette 2014c: 354. Pointiert weist Campbell darauf hin, dass „the agents most corrosive of certainty“ in dieser „acidic formula“ die relativierenden Modalisatoren „souvent“ und „presque jamais“ sind (2006: 452): Die schillernde Dichotomie vérité/ apparences entzieht sich auch dem simplen Verfahren des routiniert demaskierenden Umkehrschlusses. 155 „But the dictum of false appearances must be applied to the mother’s method of instruction as well“, wie Stone betont (1988: 251). 156 Vgl. Oster 2009: 129. Levillain zufolge fungiert der gesamte Roman quasi als „laboratoire expérimental“ dieser Maxime (1995: 70); siehe dazu bereits Kreiter 1977. Die Parallelen zwischen höfischem Milieu und Struktur des Textes selbst arbeitet auch Merrim heraus: „both court and text revolve around appearances versus reality, deceptions versus disillusionments“ (1999: 97, zit. nach Peterson 2012: 245). 157 Lyons 1981: 392, zit. nach Coropceanu 2010: 9f. 158 Lyons 1992: 249; vgl. auch Hodgson 1988. DeJean etabliert die direkte Assoziation zwischen der Romanheldin als improvisierter ‚Schriftstellerin‘ und Lafayette selbst bzw. dem konkreten Produktionskontext der Princesse (1992: 61f.). 159 Die Brief-Episode steht in Horowitz’ Lesart emblematisch für „[t]he constant tension between creation and reproduction, source and imitation“ in Lafayettes Text. Unter dem Titel „Truly Inimitable? Repetition in La Princesse de Clèves“ (1998: hier zit. 123) reflektiert Horowitz, wie sich ausgehend von Coulommiers als romanesker Matrix bzw. „preeminent novelistic locus of creation and curtailment“ die Princesse als raffinierte „imitation“ entfaltet (der von Lafayette selbst in jenem Brief an Lescheraine gebrauchte Begriff wird entsprechend umgedeutet). Auch bei den im Text zirkulierenden Bildern handelt es sich sämtlich um Kopien; ‚unoriginell‘ wie ihre Konterfeis sind die Figuren selbst: Die Interpretin unterstreicht „the unremitting lack of individuation among the courtiers“ - nicht umsonst ist die Fehl- Identifikation des Adressaten jenes verlorenen Briefes ohne Weiteres möglich, sind doch die beiden involvierten Höflinge „virtually interchangeable“ (ibid.: 122f.). 160 Bussy-Rabutin 2007: 271 (Notes). „La lettre […] se décline de multiples manières au fil des romans: lettre de déclaration, lettre d’aveu, billet de rendez-vous, lettre perdue, volée, détournée, retrouvée, copiée et manipulée, elle est à la fois le lieu de la révélation et de l’erreur“, erklärt Grande (1999: 322). Die Version der „lettre perdue“ spielt auch in der ersten von Segrais’ Nouvelles françaises eine Rolle (vgl. Bussy-Rabutin 2007: 271); siehe zu diesem Motiv im literarhistorischen Kontext auch Meding 2003. 161 So integriert auch Bussy-Rabutin eine derartige Episode in seine Histoire amoureuse des Gaules - die freilich keine weiteren Konsequenzen für die Intrige mit sich bringt: In einem Schlüsselroman, der in parodistischem Spiel „le vrai, qui est le domaine de l’histoire“ und „le vraisemblable, qui est le propre du roman“ verbindet, fungiert besagter Brief vielmehr als metadiskursives „signe“ des Erzählers „au <?page no="39"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 39 Mme de Thémines wird freilich nicht nur verloren, entwendet, gelesen (wiedergelesen 162 ) und fehlgedeutet, sondern auch kopiert - und zwar schlecht, lassen Mme de Clèves und Nemours, ihrerseits in einen Akt der „intimate forgery“ und damit „an act of aesthetic transgression“ involvierte „fraudulent authors“, 163 sich in diesem seltenen „instant de connivence parfaite et singulière“, 164 für Alain Niderst quasi „un adultère voilé“, 165 doch nur allzu leicht von ihrer Aufgabe ablenken: Das Produkt ihrer schlampigen réécriture - bzw. „ersatz écriture féminine“ 166 - vermag die misstrauische Königin denn auch nicht zu täuschen. 167 Mit ihrer Konfusion um falsch attribuierte, dann gezielt gefälschte Autorschaft und Adressierung, mit ihrer Motivik der stilistisch wie kalligrafisch misslingenden Imitation, aber auch der - etwa in der filmischen Erstadaption Jean Delannoys stark akzentuierten - indirekten amourösen Kommunikation, des stellvertretenden Liebesbekenntnisses auf Umwegen wird diese Episode, bei Pierre Malandain als „centre exact du livre“, „le creux du roman, dont il inverse, en son centre, les lignes de force“ identifiziert, 168 gleichsam zur hypotextuellen ‚Urszene‘ der réécriture, die etliche der hier analysierten Princesse-Variationen auf ihre Weise fortspinnen. Auch an den poetologischen „meta-subtext“ 169 des Prätexts knüpfen diese literarischen (wie auch filmischen) Re-Interpretationen also vielfach und vielfältig an, wobei diverse diegetische Lese- und Schreibakte in Relation zur Princesse teils noch weit größeren Raum ein- und als „une sorte de mise en abyme du processus romanesque“ metaliterarisch-selbstreflexive Qualität annehmen (dies bereits bei Raymond Radiguet auch als „signes d’une liberté gagnée contre l’oral“); 170 im Gegensatz zur Heldin Lafayettes werden die postmodernen Neo-Princesses de Clèves schließlich auch zu Leserinnen - und auf dem Höhepunkt des metaleptischen Verwirrspiels zu Leserinnen ihrer selbst. 171 lecteur qu’il ne faut pas toujours le croire comme un historien, mais adhérer à son récit en lecteur de roman“ (2007: 271). 162 „Mme de Clèves lut cette lettre et la relut plusieurs fois, sans savoir néanmoins ce qu’elle avait lu: […] Elle passa la nuit sans faire autre chose que s’affliger et relire la Lettre qu’elle avait entre les mains“ (Lafayette 2014c: 397f.). „Oui, Madame, […] je m’en souviens, et l’ai relue plus d’une fois“, antwortet sie auf Nachfrage der Dauphine - und provoziert damit die Idee der réécriture „d’une main inconnue“ (ibid.: 413). 163 Muratore 2001: 254. Wie Muratore betont, illustriert die Episode nicht nur „the superiority of imagination over historical example“, sondern platziert vor allem auch „the entire love affair in meta-textual relief“ und skizziert insofern ein implizites poetologisches Programm in einem Text, den die Kommentatorin als „an apology for the liberating creativity of the fictional enterprise“ liest (ibid.: 253ff.); vgl. auch Muratore 2003: 171. 164 Levillain 1995: 81. 165 Niderst 1973: 150. 166 DeJean 1992: 62. 167 „[…] enfin à peine à 4 heures la Lettre était-elle achevée, et elle était si mal, et l’écriture dont on la fit copier, ressemblait si peu à celle que l’on avait eu dessein d’imiter qu’il eût fallu que la Reine n’eût guère pris de soin d’éclaircir la vérité pour ne la pas connaître. Aussi n’y fut-elle pas trompée […]“ (Lafayette 2014c: 414). 168 Malandain 1989: 110f. 169 Muratore 2001: 245 und 2003: 157. 170 Coste/ Castells-Faucher 2000: 332. 171 Zwar werden die contes der Marguerite de Navarre knapp erwähnt (Lafayette 2014c: 387; vgl. zu dieser Relation Rezvani 2005); doch literarische Lektüren spielen auf diegetischer Ebene keine Rolle: „[…] il n’y a pas de roman dans le roman, et d’ailleurs pas de livre en général dans la fiction représentée“, konstatiert Grande in Bezug auf ihr neben Lafayette auch andere Romancières des 17. Jahrhunderts <?page no="40"?> 40 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien In diesem Sinne geht es nicht darum, den hier ‚behandelten‘ Werken ohne Rücksicht auf Verluste das eine oder andere fertige Modell überzustülpen, sondern vielmehr darum, die Texte resp. Filme selbst auf ihre implizite und explizite Poetik hin zu befragen und dem metaliterarischen/ -filmischen Diskurs der Autorinnen und Regisseure entsprechendes Gewicht einzuräumen; letzteres umso mehr, als sich unter den zeitgenössischen Princesse-Re- Interpretinnen mehrere Schriftstellerinnen mit ausgeprägter literaturtheoretischer und in einigen Fällen auch psychoanalytischer Kompetenz befinden: Dies gilt für Jacqueline Harpman, die ihre Karriere als Romancière mit der Princesse de Clèves-Variation Brève Arcadie beginnt, nachträglich selbstironisch ihre ‚schrecklich klassischen‘ literarischen Anfänge kommentiert („J’étais, au départ, terriblement classique […]“ 172 ) - und nach langer Schaffenspause, während deren sie unter anderem ihre Lehranalyse absolviert, zur parodistischen réécriture auch noch anderer Werke des französischen Kanons schreitet. Dies gilt auch für Marie Darrieussecq, promovierte Literaturwissenschaftlerin und ebenfalls Psychoanalytikerin, deren Roman Clèves auch als theoretisches Statement zu lesen ist, 173 Fortschreibung und fiktionale Illustration einer programmatisch zitationellen Poetik abseits des Plagiats (mit dessen Vorwurf sich schon Lafayette bzw. der anonyme ‚auteur‘ der Princesse (Scudéry, Villedieu etc.) umfassendes Corpus (1999: 319). Lafayette situiert ihre Intrige freilich generell - frappierender Anachronismus - in einem bei aller materiellen Prachtentfaltung sehr wenig kulturaffinen höfischen Milieu: „La Reine sa belle-mère, et Madame sœur du Roi, aimaient aussi les Vers, la Comédie, et la Musique: le goût que le roi François premier avait eu pour la Poésie et pour les Lettres, régnait encore en France […]“, heißt es zwar in der hyperbolischen Einleitung der Princesse (Lafayette 2014c: 332), allein: „on ne trouve nulle trace de ce goût dans tout le roman“ (Francillon 1973: 132). Bei aller „abondance de sa documentation“ habe Lafayette insofern doch nicht den „esprit de la Renaissance“ einzufangen vermocht: „[…] le goût des lettres, l’enthousiasme de la redécouverte de l’antiquité, les préoccupations religieuses des premiers temps de la Réforme française, les prémices des guerres de religion, rien de tout cela n’apparaît dans la Princesse de Clèves“ (ibid.: 129). Auch Esmein-Sarrazin verzeichnet neben den imminenten „troubles religieux“ eben „le goût des arts et des lettres à la Cour“ unter den im Text ausgeblendeten historischen Aspekten (2014c: 1303). Diese Literatur-Abstinenz hat jedenfalls gute poetologische Gründe - unweigerlich bringt der ‚Roman im Roman‘ das Risiko der „parodie involontaire“ mit sich: „Imagine-t-on Clélie se gargarisant de quelque lecture héroïque? Elle perdrait toute crédibilité et tout prestige, deviendrait une sorte de Don Quichotte au féminin. De la même façon, une princesse de Clèves nourrie de Clélie deviendrait une précieuse ridicule, si ce n’est quelque Emma Bovary avant la lettre“ (Grande 1999: 319f.). Nicht umsonst vermeidet Lafayette wie ihre Zeitgenossinnen sorgfältig jegliche Assoziation mit den in der Literatur der Epoche ridiculisierten Typen des „pédant“ oder der „femme savante“ („connotation tout autant désastreuse pour les romancières […] que pour leurs lectrices“); sie rekurriert in der Princesse aber sehr wohl auf narrative Ersatzstrategien, die jenes romaneske Tabu zu umgehen erlauben: Es sind die berühmten Digressionen, die hier, „autant de romans déguisés sous le masque de l’oralité“, die Funktion moralischer ‚Lektionen‘ (Grande 1999: 320; vgl. auch Gordon 1998: 92) und zugleich „counter-narratives“ (Muratore 2001: 252) erfüllen. In der Konfrontation mit diesen ‚getarnten‘ intradiegetischen Romanen wird die Princesse auch zur „lectrice de son propre récit“ (Coropceanu 2010: 30) und schließlich - in einer konstanten, Elemente des Foucault’schen „souci de soi“ antizipierenden „pratique d’autoformation“ - auch zur metaphorischen Autorin ihrer selbst bzw. in Personalunion „l’auteur, l’héroïne, la lectrice et l’interprète de La Princesse de Clèves“ (ibid.: 19f.). Und auch wenn Lafayette ihre Protagonistin niemals in flagranti bei eventueller Romanlektüre in Szene setzt, handelt Mme de Clèves doch quasi als kompetente ‚Leserin‘ der Liebesliteratur ihrer Zeit (Grande 1999: 59). 172 Andrianne 1992. 173 Vgl. Rolla 2012: Abs. 29ff. <?page no="41"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 41 konfrontiert sieht 174 ). Aber auch Emmanuelle Bayamack-Tam, deren hypertextuelle Experimente sich auf konkrete literaturwissenschaftliche Expertise (und literaturdidaktische Praxis) stützen, skizziert ihre eigene Ästhetik der (ré-)écriture-lecture; der Text wird zum Resonanzkörper, in dem die Autorin allerlei Klassiker der okzidentalen Literaturgeschichte - von Ovid über Lafayette bis Nerval und Baudelaire - in einem kreativen Polylog mit- und durcheinandersprechen lässt: „Pour ce qui est du rapport avec les classiques, je suis avant tout une lectrice, nécessairement mon œuvre va être traversée par d’autres textes anciens.“ 175 174 Mit der im Mercure galant anonym veröffentlichten Vertu malheureuse - für Esmein-Sarrazin eher ein „résumé“ denn eine eigentliche „nouvelle“ - geht der Publikation des Romans bereits ein Quasi-Plagiat bzw. „récit écrit à des fins de publicité et de justification“ voraus (2014c: 1325). In Bezug auf die Princesse suggeriert Valincour den Plagiatsvorwurf - nach einer ersten Anspielung auf die potentiellen literarischen Ursprünge des aveu („pour cette aventure, il peut l’avoir apprise en quelque livre où il me semble l’avoir déjà lue“; 2001: 73) - im Rahmen einer seiner inszenierten Konversationen. Als sein Gegenüber das Bekenntnis und das Verhalten des Prince de Clèves mit der „aventure toute pareille“ des Marquis de Thermes vergleicht, stellt ‚Valincour‘ - Ko-Akteur seiner eigenen theatralisierten Kritik - sich naiv: „Quel Marquis de Thermes voulez-vous dire […] et de quelle aventure entendez-vous parler? Se trouve-t-il souvent des femmes qui fassent à leurs maris des confidences de cette nature? En avait-on jamais ouï parler avant La Princesse de Clèves? J’avais cru que cette aventure était originale, et l’on m’avait dit que l’auteur de cette histoire se donnait la gloire de l’invention.“ Davon gibt wiederum ‚Valincours‘ Gesprächspartner nichts zu wissen vor; in aller Unschuld verweist er auf jenen ähnlichen Plot „dans le second tome d’un certain livre que l’on appelle, si je ne me trompe, Les Désordres de l’amour“ (ibid.: 103). In Villedieus Text fungiert der aveu im Gegensatz zur Princesse allerdings als „un moyen pour réunir des amants“ (Esmein-Sarrazin 2014c: 1325). Die privilegierte Rolle von Madame de Villedieu (Une chroniqueuse aux origines de La Princesse de Clèves) betont freilich auch noch Letexier in seiner gleichnamigen Studie (2002); bemerkenswerterweise gilt dem Interpreten eben der Konnex zum Werk Villedieus als Argument für die Autorschaft Lafayettes, „for he cannot fathom that La Rochefoucauld would ever have read Villedieu carefully enough to have authored that work“ (Horowitz 2005: 410). Zur Problematik dieses vermeintlichen ‚Plagiats‘ und allgemein zur Relation zwischen der Princesse und dem Text Villedieus (i. e. Marie-Catherine-Hortense Desjardins), von DeJean als „one of the most talented women novelists of the day“ gewürdigt (1992: 45), dennoch „largely […] eliminated from French literary history“ (1991: 241), vgl. Laugaa 1971: 91ff. („La querelle du plagiat“); Venesoen 1990; Grande 2000b; Fournier 2006. Francillon (1973: 263ff.) etabliert bereits eine Parallele zwischen einer Passage aus Villedieus Journal amoureux und der Einführung der Mlle de Chartres bei Hof (ibid.: 267); „plus qu’un air de famille“ attestiert Lafayette und Villedieu auch Lever (1981: 210, zit. nach Andersen 1998: 216). Zu Villedieus im Vorwort zu den Annales galantes dargelegter ‚pädagogischer‘ Mission („Former les jeunes à la belle galanterie, les préserver ainsi des embûches des amours dévoyées […]“) vgl. Viala 2008: 262ff., hier zit. 263; zur Rezeptionsgeschichte der Autorin vgl. das Standardwerk Cuénins (1979), weiters Flannigan 1982 und 1983; DeJean 1991: 127ff. sowie - ebenso unter spezieller Berücksichtigung des Gender-Aspekts - Grande: Im Fall Villedieus, von der die Literarhistoriker des 19. Jahrhunderts „une caricature particulièrement déplaisante“ zeichnen, kommt die misogyne „face cachée“ des Diskurses über die ‚weibliche‘ Literatur des 17. Jahrhunderts besonders deutlich zum Vorschein (2000a: 234). Die ‚skandalöse‘ Erfolgsautorin wird u. a. als „monstre féminin“, „fille perdue irresponsable“ und „prostituée extraordinaire“ etikettiert (zit. ibid.: 235) und verdächtigt, lediglich das Talent ihrer „amants-collaborateurs“ ausgenutzt bzw. als „prête-nom“ gedient zu haben. Hier zeigt sich drastisch „l’image inavouée qu’on avait au XIX e siècle de la femme-écrivain“; gerade der Mangel an verlässlicher biografischer Information erlaubt es den Kritikern, „le portrait inconscient qu’on avait de la romancière“ quasi nach Belieben auf Leben und Werk Villedieus zu projizieren: „Ce portrait est clair: la femme qui publie est une femme publique“ (ibid.: 235f.). 175 Bayamack-Tam 2010b. <?page no="42"?> 42 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien „Pourquoi commencer en redisant, et ouvrir un livre par le souvenir d’un autre? “, fragt Michel Schneider in seiner Meditation über die professionellen Voleurs de mots. 176 „Ce qu’il importe, ce n’est pas de dire, c’est de redire et, dans cette redite, de dire chaque fois encore une première fois“, ‚antwortet‘ bereits sechzehn Jahre zuvor Maurice Blanchot in L’Entretien infini. 177 Der von Harold Bloom in einem primär männlich-ödipalen Kontext reflektierten ‚Einflussangst‘, dem Phantasma drohender melancholischer Sterilität in einer womöglich ‚ausgeschriebenen‘ Welt 178 - seinerseits längst etablierter, alles andere als origineller Topos 179 - setzen die Autorinnen und Autoren dieses Corpus eine Poetik der Einflussfreude, ja der Einflusslust, der paradoxen ‚Originalität‘ auf Umwegen entgegen, ein Schaffen, das sich aus einer Attitüde der kritisch-kreativen „admiration“ entfaltet („[…] au cœur des lettres se trouve l’admiration“, bemerkt Judith Schlanger 180 ), durchaus kompatibel mit jenem „sentiment d’envie fortifiante“, das Charles Baudelaire zufolge ein zentrales künstlerisches Inspirationsmoment konstituiert. 181 An die Stelle der drohenden Resignation angesichts des schon bei Gottfried Wilhelm Leibniz beschworenen „horrible amoncellement des livres“ 182 tritt das Spiel mit der eigenen literarischen Vorgeschichte, das auch die klassische Bibliothek aufs Neue in einen „champ actif“ verwandelt und derart poetisch wie poetologisch am Leben hält 183 - sich aber freilich zugleich an den Antipoden einer Ästhetik positioniert, die von vornherein eine klar hierarchische Relation zwischen per se superiorem ‚Original‘ und mehr oder minder manifest devalorisierter réécriture konstruiert. „Mögen all die umkommen, die sich erlauben, Geschriebenes neu zu schreiben! Mögen sie kastriert werden, und mögen ihnen die Ohren abgeschnitten werden! “, zitiert Milan Kundera zustimmend Jacques’ Herrn aus Jacques le Fataliste - und erhebt im Rahmen seines eigenen Mini-Feldzugs gegen die réécriture das Attribut „unrewritable“ zur höchsten literarischen Distinktion, die er neben Diderots Roman nur noch Laurence Sternes Tristram Shandy zugesteht. 184 Diese prinzipielle Skepsis hinterlässt - in weniger drastischer Form - ihre Spuren auch im zeitgenössischen literaturwissenschaftlichen Diskurs. So eröffnen Coste und Castells- Faucher ihre Reflexionen über die produktive Rezeption der Princesse de Clèves im 20. Jahr- 176 Schneider 2011: 7. 177 Blanchot 1995: 459. 178 „C’était sans issue: il aurait fallu n’avoir jamais rien lu“, reflektiert auch Compagnon (1979: 407) das heikle Schicksal des Schriftstellers in einer durch und durch ‚textualisierten‘ Welt - und verweist dazu auf Borges’ „La biblioteca de Babel“ (1941): „La certidumbre de que todo está escrito nos anula o nos afantasma“ (Borges 2008a: 113; vgl. Compagnon 1979: 366). 179 „Nous ne faisons que nous entregloser“, bemerkt bereits Montaigne, den Compagnons (1979) quatrième de couverture zitiert. 180 Schlanger 2008: 88. 181 Zit. ibid.: 56. 182 Zit. ibid.: 24. 183 „[…] les lettres ne sont pas avant tout une bibliothèque et un heritage […]. Elles sont d’abord un champ actif […] L’activité poétique, en ce sens actif plutôt qu’esthétique du terme, est au cœur des lettres comme sa respiration indispensable“: Jene bei Schlanger (ibid.: 15) skizzierte Poetik der kreativen „respiration“ auch und erst recht inmitten kanonisch-kritischer ‚Staubwolken‘ findet sich in diesem Corpus von Lafayette-réécritures plastisch illustriert. 184 Kundera 2003: 18. Der positiv konnotierte Begriff der Variation wird bei Kundera neben dem „rewriting“ auch mit den gleichfalls massiv devalorisierten, mit bloßen „Vereinfachungen“ synonym gesetzten „Adaptationen“ kontrastiert (ibid.: 17f.) - ein seinerseits simplifikatorischer Zugang, den man sich bei aller Fruchtbarkeit des Variations-Konzepts nicht zu eigen machen muss. <?page no="43"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 43 hundert mit der suggestiven Frage: „Mais qu’est-ce qui peut bien pousser certains romanciers contemporains à se réfugier dans l’ombre de La Princesse de Clèves? “ 185 (diese symptomatische Metapher entlehnen sie ihrerseits bei Claude-Edmonde Magny, die am Beispiel der Lafayetteréécriture Radiguets die fatalen Konsequenzen einer „admiration trop passive“ 186 und die sich daraus ergebende „infériorité par rapport au modèle“ argumentiert 187 ). Eine kritische Gegenposition sowohl zu einer zwar literar-/ kulturhistorisch betrachtet relativ rezenten, 188 aber auch nach Jahrzehnten postmoderner Theoriebildung noch bemerkenswert resistenten originalitäts-zentrierten Ästhetik (bei Sylvain Auroux prägnant resümiert als „le ‚système UGO 2 ‘“, Kürzel seiner „éléments constitutifs: Unicité, Génie, Originalité, Œuvre“ 189 ), die Adaptionen generell „as secondary and inferior“, „as minor and subsidiary and certainly never as good as the ‚original‘“ disqualifiziert, 190 als auch zu einer Tradition des „fidelity criticism“ (der die Qualität von Adaptionen aller Art an ihrer „proximity or fidelity“ dem ‚Original‘ gegenüber misst und damit in einem klassischen double bind festschreibt, stellen doch allzu große ‚Treue‘ resp. ‚Untreue‘ gleichermaßen ein literatur- und filmkritisches Verdammungsurteil dar) bezieht die bereits zitierte Linda Hutcheon. 191 Vor dem Hintergrund einer Epoche, die - nur scheinbar paradox - eine Überfülle von Adaptionen in allen künstlerischen Bereichen („Adaptation has run amok“, wie Hutcheon ironisch konstatiert) mit der „constant critical denigration“ des Phänomens verbindet, reflektiert sie diesen Widerspruch zwischen „popularity and yet consistent scorning“ und formuliert die Konter-These, „that to be second is not to be secondary or inferior; likewise, to be first is not to be originary or authoritative“: 192 Dieses poetologische Postulat findet sich im paratextuellen Diskurs der hier analysierten Autorinnen und Autoren (sowie Regisseure) vielfach variiert. 185 Coste/ Castells-Faucher 2000: 319. 186 „Le meilleur exemple du mal que peut faire une admiration trop passive, est sans doute Le Bal du comte d’Orgel, ou plutôt la différence qui [le] sépare de ce chef-d’œuvre qu’est Le Diable au corps“ (Magny 1950, zit. nach Laugaa 1971: 232). 187 Vgl. Oliver/ Odouard 1993: XCIf. Symptomatisch auch die Wortwahl von Fraisse und Mouralis in ihren Reflexionen rund um die réécriture: „Rares sont les grands textes qui ont échappé à la réécriture et à l’adaptation“ (2001: 254). 188 Vgl. Mortier 1982. „[…] la valorisation, sinon la pratique, de l’originalité est récente“ bzw. sogar „très récente dans l’histoire de la culture et de l’esthétique européenne“, betont unter Verweis auf Mortier auch Rabau (2002b: 29f.). 189 Auroux 2015: 1031f. 190 Hutcheon 2006: XII. 191 Ibid.: XIff., 6. 192 Ibid.: XIff. <?page no="44"?> 44 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien *** I classici sono quei libri che ci arrivano portando su di sé la traccia delle letture che hanno preceduto la nostra e dietro di sé la traccia che hanno lasciato nella cultura o nelle culture che hanno attraversato (o più semplicemente nel linguaggio o nel costume). 193 „Multiple versions exist laterally, not vertically“, betont Linda Hutcheon; 194 auch in unserem Corpus funktioniert die hypertextuelle Dynamik nicht unidimensional und -direktional. Liest Marie Darrieussecq La Princesse de Clèves als regelrechtes Palimpsest, das immer neue Interpretationsperspektiven eröffnet, seine Leser durch unterschiedliche Lebensalter, aber auch historische Epochen begleitet, 195 so haben moderne und postmoderne Lafayette- Lektüren und kreative Variationen ihrerseits den Prätext angereichert bzw. dazu beigetragen, daran neue Bedeutungsfacetten freizulegen: „Durch ihre Geschichtlichkeit wächst den Texten etwas zu, das mit ihnen unablöslich verbunden bleibt. Jede Epoche entdeckt an einem Text Schichten, die bisher nicht zu sehen waren“, erklärt Klaus Reichert. 196 „Die Tatsache, daß wir literarische Werke immer bis zu einem gewissen Grad im Lichte unserer eigenen Interessen interpretieren […] könnte einer der Gründe sein, weshalb bestimmte literarische Werke ihren Wert über Jahrhunderte hinweg behalten haben“, unterstreicht auch Terry Eagleton in seinen Reflexionen über einen Leseprozess, der immer schon zur zumindest metaphorischen réécriture gerät: „,Unser‘ Homer ist weder identisch mit dem Homer des Mittelalters, noch ist ,unser‘ Shakespeare der seiner Zeitgenossen […]. Mit anderen Worten werden alle literarischen Werke, sei es auch unbewußt, von den Gesellschaften, die sie lesen, ‚neu geschrieben‘: tatsächlich gibt es keine Lektüre eines Werkes, die nicht auch ein ‚Neu-Schreiben‘ wäre.“ 197 Wie ‚unser‘ Homer und ‚unser‘ Shakespeare ist auch ‚unsere‘ Princesse de Clèves unweigerlich eine andere als jene der Zeitgenossen Lafayettes, palimpsestartiges Produkt auch von mittlerweile bald dreieinhalb Jahrhunderten kritischer und kreativer Rezeptionsgeschichte, einer Vielfalt von Lectures de Mme de Lafayette, die jeweils - wie Maurice Laugaa in seinem gleichnamigen Referenzwerk betont - ihr eigenes ‚Original‘ hervorbringen, den Prätext ästhetisch wie ideologisch rekonfigurieren, manche Aspekte auf Kosten anderer akzentuieren bzw. - gerade in diesem Punkt manifestiert sich bis heute stark der Einfluss der ersten Leser und Kommentatoren Lafayettes - den Text zu Analysezwecken überhaupt erst in klar definierten, bequem fassbaren Sequenzen und Szenen (so die berühmte scène de l’aveu) strukturieren. 198 193 Calvino 1991: 13f. 194 Hutcheon 2006: XIII. 195 Vgl. Darrieussecq 2009b: IIff. 196 Reichert 2010: 31. 197 Eagleton 1997: 13f. 198 Vgl. Laugaa 1971: 62ff. Relativ selbstverständlich rekurrieren auch die Autorinnen zeitgenössischer Princesse-Variationen - im literarischen Werk selbst wie im paratextuellen Diskurs - auf die bereits mit der Kontroverse Valincour-Charnes inaugurierte Tradition der Segmentation des Textes in einzelne scènes und aventures (die Einteilung in vier große Abschnitte ist dagegen wohl auf eine Intervention des Herausgebers zurückzuführen, vgl. Esmein-Sarrazin 2014c: 1307). So wird schon bei Valincour „[l]’aventure du bal“ als „assurément fort galante et fort bien imaginée“ honoriert (2001: 38); auch wenn der aveu ob seiner ‚Unwahrscheinlichkeit‘ nicht uneingeschränkt positiv kommentiert wird, so stelle doch die „conversation du pavillon“ in den Augen zahlreicher Leser „le plus bel endroit de l’histoire“ dar (ibid.: 99). Erleichtert diese etablierte Sequenzenbildung die Verständigung über den <?page no="45"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 45 In anderer Hinsicht ist die Princesse freilich längst auch über jene ‚Original‘-Bedeutung, die Michael Riffaterre - in Abgrenzung gegenüber dem traditionellen Fokus auf der auktorialen Intention - mit der (ihrerseits nicht unbedingt homogenen) Interpretation der ersten Leser eines Textes gleichsetzt, 199 hinausgewachsen; seit langem befindet sich Lafayettes Werk in jenem Stadium der freien Signifikations-Zirkulation, die nach Jack Kermode mit „la mort de l’auteur, puis la mort successive des lecteurs“ beginnt. 200 „Au cours du temps, selon les contextes, on en vient à lire dans le classique bien des choses qu’il n’a pas dites, et c’est absolument légitime, car d’une certaine façon l’écrivain, comme le prophète, en dit plus qu’il ne sait. Sa parole dépasse sa conception, et la portée de ce qu’il dit dépasse ce qu’il comprend“: 201 Diese Reflexionen Judith Schlangers über jene „pluralité de lectures dans le temps“, die auch und gerade der klassische Text - nicht weniger als der ‚moderne‘ Text im Sinne Roland Barthes’ „ouvert et virtuellement plurisignifiant“ - eröffnet, 202 illustriert plastisch die Rezeptionsgeschichte der Princesse, in deren Verlauf so manche „choses qu’il n’a pas dites“ in den Prätext hineinbzw. - im präferablen Fall - durch neue theoretische Prismen unter Erschließung einer im Roman angelegten Dimension aus diesem herausgelesen wurden und werden. Auch wenn es die Notwendigkeit historischer Kontextualisierung einerseits, die Gefahr der Überinterpretation andererseits stets präsent zu halten, eventuelle Widerstände des Werkes gegen diese oder jene Bedeutungszuschreibung jederzeit ernstzunehmen gilt, 203 erweisen sich etliche dieser anachronistischen Lektüren - unter der Voraussetzung kritischer Selbstreflexivität 204 - als überaus erhellend. 205 Text, gilt es dennoch ihre gewisse Arbitrarität im Blick zu behalten; gerade die modernen und postmodernen réécritures rücken mit ihren Strategien narrativer Reorganisation - etwa der Dezentralisierung und Multiplikation der scène de l’aveu (vgl. Coste/ Castells-Faucher 2000: 327f.) - auch die Struktur des klassischen Prätexts in ein neues Licht. 199 „De mon point de vue, la vraie, la seule signification originelle d’un texte est celle que lui donnaient ses premiers lecteurs (qu’elle coïncide ou non avec l’intention de l’auteur)“ (Riffaterre 1979: 105). 200 Vgl. Schlanger 2008: 166. Humorvoll schlägt Eco die brachiale Beschleunigung dieses ‚Befreiungsprozesses‘ vor: „L’autore dovrebbe morire dopo aver scritto. Per non disturbare il cammino del testo“ (1990a: 509). Eventuell doch großzügig am Leben gelassen, möge der Autor sich wenigstens jeglicher Einmischung in das Spiel der Interpretationen enthalten: „L’autore non deve interpretare“ (ibid.). 201 Schlanger 2008: 107. 202 Ibid. 203 „Man kann nicht jedem Text jede mögliche Bedeutung andichten; er leistet Widerstand […]“, bemerkt Culler (2008: 96). 204 „Per poter leggere i classici si deve pur stabilire ‚da dove‘ li stai leggendo, altrimenti sia il libro che il lettore si perdono in una nuvola senza tempo“, präzisiert Calvino (1991: 17). 205 Köhler problematisiert „enthistorisiert[e]“ Lektüren der Princesse de Clèves abseits der „konkreten Lebensverhältnisse[] am absolutistischen Hof“ (2006: 83). Exemplarisch illustriert den Konflikt zwischen historisierenden und mehr oder minder reflektiert anachronistischen Interpretationen die kontroverse Diskussion um eine der meistkommentierten Passagen des Romans: jene nächtliche Szene von Coulommiers, in der Nemours Mme de Clèves heimlich beim Spiel mit der berüchtigten „canne des Indes“ beobachtet (Lafayette 2014c: 451f.; vgl. dazu die lexikalisch-kulturhistorischen Erklärungen bei Mesnard 2009: 51f. und Esmein-Sarrazin 2014d: 1357) und die, „the most dramatic portrayal of female desire in French classical literature“ (DeJean 2006: 440), vor dem Hintergrund eines insgesamt in Sachen Körperlichkeit und Sexualität überaus zurückhaltenden Textes „une sensualité d’autant plus forte“ entfaltet (Coste/ Castells-Faucher 2000: 338). Entgegen früheren Lesarten (so identifiziert Taine als charakteristisches Merkmal der Princesse ihre „froideur“ [1904: 255, zit. nach Kaps 2001: IX]) betrachtet Butor den Roman als „livre brûlant“ mit unleugbarem, wenngleich dezentem „contenu sexuel“ (1960: 74f.); im Anschluss an seine Ausführungen zur Pavillon-Szene („Il n’est, certes, pas besoin <?page no="46"?> 46 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien Dies betrifft Analysen der Princesse im Licht der feministischen Theorie, später der Gender und der Queer Studies, die angesichts der zentralen Rolle der Thematik in mehreren zeitgenössischen literarischen und filmischen Variationen für diese Untersuchung so manchen wichtigen Impuls geliefert haben. „Le seul domaine où la virulence des propos ranime quelque peu ce très ancien débat est celui du féminisme. […] On ne rencontre pas parmi les champions et les championnes de la femme un grand intérêt pour la figure de Mme de Lafayette“, konstatiert Laugaa noch 1971; 206 mittlerweile stellt das umfangreiche Corpus feministisch inspirierter Studien zu Lafayette „sans doute l’une des traditions les plus importantes […] au sein des études lafayettiennes“ dar. 207 Besondere Aufmerksamkeit wurde aus feministischer wie psychod’un diplôme de psychanaliste [sic] pour percer et goûter le symbolisme de toute cette scène“; ibid.: 76) entwickelt sich eine Interpretationstradition, die unter Akzentuierung des involvierten „sexual symbolism“ (Gordon 1998: 101) jene canne als transparentes Phallus-Surrogat, das Spiel der Princesse als „autoerotic fantasy“ (vgl. Lyons 1992: 243) liest. Francillon (1973: 168) attestiert besagter Passage einen „érotisme indéniable“, Levillain (1995: 110) „un coefficient érotique très élevé“; Nancy Miller sieht Mme de Clèves’ Rückzug nach Coulommiers „not as a flight from sexuality but as a movement into it“ (1992: 30), ebenso Van Der Schueren (1999: 118, zit. bei Léopold 2009: 124). Das Moment gewisser „harmonies phalliques“ befindet auch Sellier für „quasi certain“: „Mais il est appauvrissant de réduire la surdétermination des images à une allégorie aussi simplette“ (2005: 238, 243). Zu Butors Princesse-Interpretation vgl. auch Laugaas „Digression sur la canne des Indes“ (1971: 296ff.) sowie seine Reflexionen über psychoanalytische Exegesen Lafayettes, „entaille isomorphe à la théorie inscrite dans la fiction“ (ibid.: 299). In diesem Kontext signalisiert Laugaa (ibid.: 297) auch eine Princesse de Clèves-Okkurrenz in Lacans „Intervention sur le transfert“ (1999: 221). Kritisch setzt sich Sweetser mit dergleichen Lektüren als Teil einer „twentieth-century mentality“ auseinander (1992: 220); unter Verweis auf Didier (1981: 81f., 90) situiert sie die Coulommiers-Szene vielmehr „in the context of archaic but still widely held beliefs in the magical power of objects“, „interpretation […] convincing in seventeenthcentury terms“ (Sweetser 1992: 219f.). Gegen Butor und spätere psychoanalytische Deutungen (vgl. auch Niderst 1973: 123; Malandain 1989: 93) argumentiert Kotin (1979, zit. bei Esmein-Sarrazin 2014d: 1357); „fort réticent“ zeigt sich auch Rousset (1976: 27). Noch im Jahr 2010 verteidigt Pommier (21f., auch 27) leidenschaftlich die Tugend der Princesse gegen eventuelle ‚phallische‘ Zumutungen und Butors „interprétation […] tout à fait incongrue“. Racevskis wiederum bestätigt zwar die Legitimität eines „Freudian reading“, betont aber seinerseits dessen potentiell reduktiven Charakter, stellen die nächtlichen Freuden der Princesse in seinen Augen doch „at the same time a masturbation, a meditation and a signifying act of creative combination“ dar (1996: 27); die poetologische Dimension dieser „scène hautement autoérotique“ unterstreicht auch McGuire (1993: 384). 206 Laugaa 1971: 225f. In einem Artikel in der Revue bleue, wieder abgedruckt im Band Les Féministes avant le féminisme (1935), unternimmt Théodore Joran, Autor eines preisgekrönten Mensonge du féminisme (1905), eine Abrechnung mit Lafayettes Roman, Elaborat einer „femme malmariée“ bzw. „Bovary aristocratique“, ihrer Heldin („née pour être […] la concubine d’un seigneur turc dans un sérail, sous la garde d’un eunuque. Elle a une âme d’esclave, esclave de ses instincts“) und deren aveu („Délicieuse rouerie féminine! “); zit. nach Laugaa 1971: 226ff. 207 Dubois 2013d. Als „article fondateur“ dieser Interpretationslinie (Dubois 2012) ist neben den frühen Studien Genuists (1978, 1986) zunächst DeJeans „Lafayette’s Ellipses. The Privileges of Anonymity“ (1984) zu nennen, dessen Titel auf Virginia Woolfs Essay „Anon“ anspielt („Anonymity was a great possession […]. Anon had great privileges“; zit. DeJean 1992: 42). DeJean deutet Lafayettes Anonymität, im Unterschied zu jener anderer Schriftstellerinnen der Epoche „neither transparent nor total“ (ibid.: 47), und konkret die anonyme Publikation der Princesse, „the text’s original ellipsis“, als genderspezifische Geste (ibid.: 54f.; vgl. auch DeJean 1991: 126). Lafayettes „denegations“ ihrer Autorschaft („true denials in the psychoanalytic sense of the term“) partizipieren in ihrer Lesart ebenso wie jene „elliptical structures“ (1992: 57) symptomatisch am Produktionskontext des Romans als Narrativ eines weiblichen „conquest of language“ (ibid.: 65), in dessen Verlauf die Protagonistin die Kontrolle über ihre eigene Lebensgeschichte erringt - und sei es um den Preis der (Selbst-)Elimination (ibid.: 66; vgl. <?page no="47"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 47 analytischer Perspektive der komplexen Relation zwischen der eponymen Heldin und einer hoch ambivalenten Mutterfigur zuteil. 208 Gewiss lässt La Princesse de Clèves feministische Lesarten zu, ja lädt sie in mancher Hinsicht geradezu ein; 209 und gewiss hat die entsprechende Interpretationstradition in den letzten Jahrzehnten wesentlich dazu beigetragen, neue Facetten an einem vielschichtigen Text zu erschließen. Die anachronistische Etikettiezu diesem finalen „movement outside of narration“ auch DeJean 1991: 123). An DeJean sowie an Millers Konzept des „coming to writing“ (1988: 126) knüpft McGuire in seiner Interpretation der Princesse als „discours préalable à la possibilité d’une vraie ‚écriture féminine‘“ an (1993: 381ff.). Kuizenga liest den Text als paradoxe, da un-repräsentierbare „story of a woman who has wrested control of her own life from the hands of patriarchy“ (1992: 83), Todd als „the story of a woman’s rebellion“ (1992: 225). Ebenso betrachtet Paulson die finale Entscheidung der Princesse als „assertion of the feminine self“ (1998: 9) und die Autorin selbst in proto-feministischem Licht (ibid.: 123); vgl. auch Léopold 2009: 14; Varney Kennedy 2014. Für Jensen (1998) verwandelt sich Lafayettes Heldin, die die Rolle als „an object in the service of male self-aggrandizement“ ablehnt, schließlich erfolgreich in „a subject for herself“ (ibid.: 71ff.). Wie DeJean geht Jensen davon aus, dass bereits Valincour und Bussy-Rabutin trotz (bzw. wegen) der Anonymität der Publikation auf jenen gewissen gender trouble reagieren, den die Princesse ausstrahlt, und reflektiert auch die Frage nach der Relation zwischen Gender- und Genre-Problematik (ibid.: 75) bei Lafayette, die fiktionalen und historischen Diskurs, so Beasley (1990), zu einer „feminocentric H/ histoire“ verflicht (zit. nach Goldsmith 1998: 36). 208 Vgl. insbesondere die grundlegenden Studien Hirschs (1981), Kamufs (1987) und Stones (1988); weiters Jensen 2011a und 2011b. Ungeachtet relativ geringer konkreter Präsenz im Text stellt Mme de Chartres - weibliche moralische Autorität und Vermittlerin patriarchalischer Normen, Advokatin einer „mystique of uniqueness“ (Goode 1972: 402, zit. nach Albanese 1992: 94) - eine Schlüsselfigur der Princesse dar. Vgl. zur Funktion dieser Mutter, die zugleich „le rôle du maître“ spielt, auch Coropceanu 2010 (hier zit. 39); Forestier 1980; Campbell 1998. Phillips (2008) schreitet zur Abrechnung mit Mme de Chartres, die „both as a social and as a moral guide“ versagt. Wie das pädagogische Programm der Mutter bleibt der Status der Protagonistin - „une ‚rebelle‘ à la société ou une victime de la morale maternelle? “ (Rambaud 2006: 6) - ambivalent; auch psychoanalytisch orientierte Kommentatorinnen gelangen hier zu Einsichten, die zur feministischen Interpretation des Romans als Narrativ der Selbstermächtigung und Selbst-Autorisierung in signifikantem Gegensatz stehen. Longino arbeitet auch die Gender-Ambiguität einer Mutterfigur heraus, die in Abwesenheit des Vaters - jenes großen Unbekannten der Princesse - „not only the maternal element but also the continuing paternal one“ repräsentiert (1998: 78), ebenso jene des M. de Clèves, der nach Mme de Chartres’ Tod deren Rolle als Mentor und didaktischer „storyteller“ übernimmt (ibid.: 83); vgl. zu Clèves’ substitutiver Mutterfunktion auch schon Francillon (1973: 106, 147, 161) und vor allem Kamuf, die ihrerseits zeigt, wie der Prince als (noch) „living substitute for the dead mother“ seinem Tod, „prescribed by this structure of repetition“, entgegengeht (1987: 84, 94). Auch Todd betont die latent gender-transgressive Assoziation von Mutter und Ehemann in einem Text, in dem „specular, maternal love“ als Idealmodell für „monogamous, heterosexual love“ dient (1992: 230). Zur Mutter/ Tochter-Thematik in der Princesse de Clèves - eine prägnante Zusammenfassung diverser Positionen bietet Lyons 1992: 236ff. - im literarhistorischen Kontext und speziell zur literarisch reflektierten Problematik weiblicher Komplizenschaft in einem „univers des pères“ (Biet 1990: 38) siehe auch Grande 1999: 53ff. („Mères et filles, la non-alliance“). 209 Als ‚feministisch‘ findet sich Lafayettes Text auch aus tendenziell ‚maskulinistischer‘ Perspektive etikettiert: So meditiert Niderst über „[l]e féminisme de M me de Lafayette […] équilibré par son pessimisme: ce sont toujours des femmes qui dominent, mais elles ne le méritent pas, et leur puissance les dégrade souvent“ (1973: 31). „[…] le roman est féministe“, hält der Kommentator kategorisch fest - und liefert sogleich seine Definition des „féminisme […] revendicatif“ der Princesse mit: „M me de Chartres et sa fille, et M me de Lafayette, semblent avoir le même mépris pour les hommes […]“ (ibid.: 190). Venesoen spricht Lafayette zwar die „couleurs féministes“ ab, ortet im „dernier réquisitoire“ der Heldin aber doch deutliche Spuren jener „glaciale hostilité propre à quelque discours féministe“, kurz: „[…] le ‚féminisme‘ de ce roman est suicidaire et va jusqu’au bout de son propre anéantissement“ (1990: 8, 104f.). <?page no="48"?> 48 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien rung der Princesse als „un texte féministe avant l’heure“ 210 bleibt freilich reduktiv, ist der Roman doch, wie François-Ronan Dubois resümiert, zugleich „féministe et antiféministe“. 211 Stehen in einem voluminösen Corpus feministischer Lafayette-Lektüren lange Zeit Parcours und Dilemmata der weiblichen Hauptfigur im Vordergrund, so werden in neueren gendertheoretisch orientierten Studien auch die Männlichkeits-Konstruktionen der Princesse, der im Text gebotene „extensive commentary on masculinity“ in den Blick genommen. 212 Kurz: Im Sinne jener von Marc Escola skizzierten „théorie des textes possibles qui invite à aimer dans les grands textes littéraires non seulement le passé dont ils viennent mais aussi le futur qu’ils recèlent en puissance“ 213 wird es hier nicht nur darum gehen, diverse postmoderne réécritures vor der hypotextuellen Kontrastfolie des klassischen Werkes zu analysieren, sondern auch darum, die Princesse de Clèves selbst durch die unterschiedlichen Prismen dieser literarischen und filmischen Variationen neu zu betrachten - mit gebührender Bescheidenheit auf den Spuren Roland Barthes’, der in „Plaisir aux classiques“ die Empfehlung ausspricht, das 17. Jahrhundert in raffinierter Kombination mit Texten und Autoren der Moderne zu lesen: „Sévigné et Proust, les jansénistes et Montherlant… Bossuet est encore plus beau 210 Leroy 2013. 211 Dubois 2013a. Der Autor unternimmt eine Meta-Analyse der feministischen Lafayette-Kritik bzw. der Konstruktion eines „mythe du féminisme littéraire avant l’heure“ (ibid.) am Beispiel Lafayette; bei aller Anerkennung für „une interprétation stimulante […] qui présente tout l’intérêt d’une lecture actualisante“ (Dubois 2013d; vgl. dazu Citton 2007) verweist Dubois (2012) - dies freilich unter gelegentlicher simplifizierender Überzeichnung der inkriminierten Positionen - auch auf einige theoretische Bruchstellen des entsprechenden Diskurses (die Tendenz zur Amalgamierung von Biografie und Werk ebenso wie einen teils nicht unproblematisch selektiven Umgang mit literarhistorischem Material). Skepsis gegenüber dem nachträglich postulierten ‚Feminismus‘ Lafayettes äußert auch Levillain (1995: 50); ähnlich Rambaud (2006: 38). Green zieht ihrerseits die Deutung der Princesse als „a strongly feminist statement“ in Zweifel und liest aus dem Text auch in diesem Punkt keine „unambiguous message“ heraus (1996: 75f.). In einer „critical impasse“ sehen die feministisch orientierte Lafayette-Forschung Cartmill und Colborne (1999: 31, zit. bei Campbell 2006: 451). Eine Gratwanderung zwischen Reproduktion und Demontage misogyner Diskurse beobachtet Grande - wie bei anderen Autorinnen der Epoche - auch bei Lafayette (1999: 129ff. [„La misogynie féminine“], hier insbes. 132); die diesbezügliche Ambivalenz der Princesse illustrieren auch die vier großen Digressionen, die sämtlich (gender-) transgressive und schließlich sanktionierte Heldinnen in Szene setzen (ibid.: 41). 212 So arbeitet Seifert (1998: hier zit. 60) den mehr oder minder manifest gender-subversiven Charakter sämtlicher Protagonisten des zentralen amourösen Dreiecks heraus: Sowohl M. de Clèves - „a historical anomaly […] for he is passionately in love with his wife“ (Beasley 1998: 131) - als auch Nemours stellen in mancher Hinsicht „eccentric exceptions to the norms of masculinity at court“ dar. Die Princesse fungiert als „both a participant and a detractor in the homosocial construction of masculinity“; die vor allem aus psychoanalytischer Perspektive höchst kritisch betrachtete mütterliche Erziehung der Heldin wird in Seiferts Lesart auch zur „basis from which she performs a profound critique of masculinity“. Im Gegensatz zu Mme de Clèves, die in ihrer finalen Konfrontation mit Nemours zu ihrer „most definitive deconstruction of masculinity“ schreitet und sich zumindest teilweise von ihrer vorgeschriebenen Genderrolle zu emanzipieren vermag, bleiben die Protagonisten Gefangene und Opfer des in Milieu wie Epoche dominanten Männlichkeitsbegriffs (1998: 63ff.). Zur Ambiguität männlicher Identitäten in Lafayettes Text vgl. auch Brink 2015: 105ff. 213 Escola 2012. Vgl. dazu Charles’ (1995) Konzept des ‚möglichen Textes‘ (Saint-Gelais 2011: 126ff., 500ff.). Im Gefolge Charles’ meditiert Rabau über eine „poétique de l’intertextualité possible“, die literarische Werke auch in ihrer potentiellen „future intertextualité“ reflektiert: „Le texte présent réinvente son passé, mais le texte passé, inversement, n’inventerait-il pas son futur? “ (2002b: 40ff.). Zu Charles’ Version der „textes possibles“ bzw. „textes fantômes“ vgl. auch den Abschnitt „Les textes fantômes du cardinal de Retz ou comment ‚calculer la réécriture‘? “ in Rabau 2002a: 218-223 (Auszug aus Charles 1995: 361-367). <?page no="49"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 49 quand il est lu et cité par Gide.“ 214 Könnte dies auch für Lafayette lue et citée (resp. réécrite) par Harpman, Darrieussecq & Cie gelten? Diese Frage wird in den folgenden Detailstudien zu reflektieren sein. Text und Theorie (II): Kritische Passionen Entfalten die analysierten Re-Interpretationen, die bei allen ästhetischen und ideologischen Differenzen ihre Selbstreflexivität verbindet, im jeweiligen Medium ihren eigenen poetologischen Metadiskurs, so stellt umgekehrt auch der kritische Diskurs zu Lafayettes Werk nicht nur eine literarhistorische und literaturtheoretische Informationsquelle, sondern in mancher Hinsicht auch selbst einen lohnenden Untersuchungsgegenstand dar. Von der ersten Lesergeneration bis in unsere Gegenwart erscheint die enge Interaktion (bis hin zur punktuellen Fusion) von Kritik und kreativer réécriture als überaus charakteristisch für die Rezeptionsgeschichte der Princesse de Clèves: Über die Jahrhunderte hinweg wird hier von beiden Seiten die Grenze zwischen Literatur und Theorie regelmäßig überschritten - und damit immer wieder aufs Neue eine artifiziell konstruierte und perpetuierte Dichotomie hinterfragt. Mit der Querelle rund um die Princesse - „Querelle-clé“ unter den „nombreuses Querelles du Grand Siècle“ 215 - datiert Jean-Luc Moreau „la véritable naissance de la critique littéraire“; 216 diese Kritik trägt von Anfang an ausgesprochen schöpferische Züge. Besagter „chassécroisé“ 217 setzt noch im Jahr der Erstpublikation mit den Lettres Valincours ein, der, „[p]réoulipien dans le geste“, 218 seine Analyse, wiederholt von einem regelrechten „rapt de fiction“ samt „métalepses implicites“ erfasst, 219 bereits zum Anlass und Rahmen für seine eigene réécriture nimmt. Valincours polyvalenter Kommentar, „texte pluriel, démultipliable“, „tour à tour un mini-roman épistolaire, un ouvrage d’herméneutique […], un traité théorique“, 220 214 Zit. nach Coste 2000: 385. 215 So Kulessa (2013: 125) unter Verweis auf DeJean 1997. 216 Moreau 2010: 10. Vgl. auch Dufour-Maître/ Milhit 2004: 83f. sowie v. a. Esmein-Sarrazin 2014c: 1324; Esmein-Sarrazin 2011 und 2015. Zur Originalität der von Lafayettes Text provozierten Debatte - nicht zuletzt „[u]n épisode de plus dans la querelle des Anciens et des Modernes“, in deren Rahmen sich hier Valincour, vom Jesuiten Bouhours ermutigter „jeune débutant“, dabei Angehöriger des „réseau des Anciens“, und Charnes wie Fontenelle als Repräsentanten der Partei der „Modernes“ gegenüberstehen (Viala 2008: 272; vgl. auch Esmein-Sarrazin 2014a: XXII) - vor dem Hintergrund anderer literarischer Querelles der Epoche (etwa jener um den Cid in den späten 1630ern) sowie zur Rolle des involvierten Publikums vgl. Merlin 1994; Goldsmith 1998. Wie die Autorin der Princesse äußern sich auch die Akteure besagter Querelle „behind a veil of anonymity that enables them to make of their discussion a collective representation of ideal conversation, of new ways of reading and interpreting literature that emerge from the culture of sociability“ (ibid.: 36); sowohl Valincour als auch Charnes imitieren in ihrer Textgestaltung - symptomatisch bereits die Titel: Lettres und Conversations - „la mise en scène de la mise en commun“ des literaturkritischen Diskurses (Viala 2008: 272). Bemerkenswert auch der durch die anonyme Publikation begünstigte Fokus auf den Text als solchen, abseits der „issue of identity“ und eventueller biografistischer Lesarten: DeJean würdigt die Kommentare Valincours und Charnes’ als „the first important readings of an individual literary work to focus almost exclusively on the text“ (1992: 47). 217 Saint-Gelais 2011: 477. 218 Montalbetti 2001: 20. 219 Saint-Gelais 2011: 476f.; „la poussée de la fiction dans le réel“ beobachtet auch Laugaa (1971: 50) schon bei Valincour. 220 Montalbetti 2001: 15f. <?page no="50"?> 50 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien fungiert zugleich als „a kind of reading manual“, das eine bis heute aktiv rezipierte „lesson in close reading and in the value of including different voices in the project of collective interpretation“ erteilt 221 und die (doppelte) Adressatin - von vornherein und „malgré son absence“ als „co-productrice du texte“ betrachtet 222 - zur Fortführung des Diskurses einlädt. 223 Unter dem Deckmantel der epistolären Fiktion 224 werden hier ‚verbesserte‘ Versionen dieser oder jener Szene, alternative Handlungsverläufe und Figurenzeichnungen, kurz: immer neue - im Unterschied zu den in dieser Studie erörterten postmodernen Texten freilich auf einem normativen Literaturverständnis beruhende - „propositions de réécriture“ entworfen. 225 Nicht umsonst reicht die produktive Rezeptionsgeschichte der Lettres - nur unwesentlich kürzer als jene der Princesse selbst - bis in die Gegenwart. Gérard Genette erweist Lafayettes kreativem Kritiker mit seinem „théorème de Valincour“ - bündige Formel zur ‚Berechnung‘ der valeur literarischer Elemente - seine Hommage; 226 Richard Saint-Gelais analysiert unter 221 Goldsmith 1998: 34. Auch Saint-Gelais betont die spezifische „pédagogie lecturale“ (2011: 477) der Lettres, die bereits wenige Monate nach dem Erscheinen der Princesse neben der „fécondité critique“ auch die „fécondité pédagogique“ des zukünftigen Klassikers illustrieren (vgl. Schlanger 2008: 109). 222 Laugaa 1971: 46. 223 „[…] et je prétends bien, qu’après vous avoir dit mes sentiments sur La Princesse de Clèves, vous me direz votre avis sur mes sentiments“ (Valincour 2001: 34). Als Anregung zur kreativen Fortsetzung liest die Princesse, regelrechte „machine à se reproduire“ (Laugaa 1971: 31), aber auch Bussy-Rabutin: „J’attends votre sentiment sur le jugement que j’ai fait de La Princesse de Clèves: si nous nous mêlions, vous et moi, de composer ou de corriger une petite histoire, je suis assuré que nous ferions penser et dire aux principaux personnages des choses plus naturelles que n’en pensent et disent ceux de La Princesse de Clèves“, schreibt er am 23. Juli 1678 an Mme de Sévigné (zit. ibid.: 19). 224 Valincour ruft der Leserin - seiner textintern konstruierten Adressatin, aber indirekt auch der textexternen Rezipientin - immer wieder die epistoläre Rahmen-Fiktion in Erinnerung und bemerkt gegen Ende: „[…] car de bonne foi je ne sais pour qui j’ai fait toutes ces réflexions. […] Cependant, cette lettre n’est que pour vous“ (2001: 155). Charnes rekurriert auf eine entsprechende Gegen-Fiktion: In seinen Conversations wird die Figur einer weiteren Marquise eingeführt, der der Autor ebenfalls als angeblich einziger Adressatin seine Briefe habe zukommen lassen; damit ist die mondäne wie moralische Bahn für die Publikation frei (2014: 706). Bereits mit diesen beiden Gründungsdokumenten des Princesse-Diskurses entfaltet sich derart ein Spiegelverhältnis zwischen kritisiertem literarischem Werk und ihrerseits höchst literarischer Kritik: Valincour - so unterstellt Charnes - ist ‚seiner‘ Marquise genauso untreu wie die höfischen Routiniers der Galanterie bei Lafayette, allen voran der Vidame de Chartres. Wiederholt projiziert Charnes Valincours Einwände gegen die Princesse auf dessen eigenen Text; beanstandet Valincour etwa den allzu konzertierten Charakter einzelner Szenen bei Lafayette, so reicht Charnes diesen Vorwurf weiter: Missbraucht nicht Valincour selbst einen artifiziell orchestrierten Zufall, wenn er im dritten Brief sein Alter Ego mit perfektem Timing in den Tuilerien jenem ‚grammairien‘ begegnen lässt, der in der Folge sämtliche Verstöße des anonymen Autors der Princesse „contre la netteté ou contre la pureté du langage“ (2001: 133) penibel registriert? Kurz - schon hier funktioniert La Princesse de Clèves als Text-Generator ad infinitum: „[…] pour marquer toutes les fautes du Critique, il faudrait faire un Livre beaucoup plus gros que le sien“, erklärt Charnes’ Cléante (2014: 706, vgl. auch 703). 225 Saint-Gelais 2011: 475. „[…] sa propension à ‚réécrire‘ La Princesse de Clèves montre bien que l’identification des ‚failles‘ du récit sert de tremplin à l’ingéniosité“, wie Saint-Gelais (ibid.: 481) die Dynamik dieser klassischen réécriture angesichts eines prinzipiell als „mécanisme narratif perfectible“ betrachteten Prätexts (ibid.: 483) resümiert. Zu Valincours Lettres als palimpsestuöser „réécriture“ der Princesse, „discours critique […] saisi entre deux fictions“, vgl. auch Kremer 2006. 226 „V = F - M“ (d. h. die „valeur“ einer narrativen Einheit berechnet sich „par la soustraction: fonction moins motivation“): In diese ironisch mathematische Formel fasst Genette die Poetik bzw. „le théorème de Valincour“ (1968: 20), der zu dieser oder jener Szene der Princesse eine klare Kosten-Nutzen- Kalkulation aufstellt und die klassische vraisemblance als auch textökonomisch vorteilhafte Kategorie favorisiert: „[…] car je vous avoue qu’en matière d’histoire, le vraisemblable me touche plus que tout <?page no="51"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 51 dem Titel „Valincour et les textes possibles“ die Lettres als „un exemple remarquable de critique transfictionnelle classique“, 227 das den Status des literarischen Textes in der Epoche der Klassik - weniger definitiv fertig- und festgeschriebenes Werk denn dynamischer, stets neue Lesarten und réécritures generierender „moment dans un processus“ im Sinne Michel Charles’ - illustriert. 228 Aus anderer theoretischer Perspektive knüpft aber auch Pierre Zoberman in seiner ‚queeren‘ Lektüre der Princesse an Valincours Lettres an, in denen sich bereits ein dezenter gender trouble (avant la lettre) verrät: „Les Lettres […] montrent bien que l’enjeu est le renversement des rôles masculin/ féminin.“ 229 Zobermans Interpretation der Lafayette’schen Heldin als „aussi une figure queer“, die ihr Leben und ihre Geschichte abseits der patriarchalischen Ordnung des Hofes in einer „résidence queer“ beendet - das Attribut bezieht sich hier nicht auf eine manifeste „identité (homo)sexuelle“, sondern vielmehr auf die auch in der Princesse zumindest als Potentialität angelegte „subversion de l’ordre hétéronormatif“ -, stellt ein inspirierendes Beispiel für eine radikal (und reflektiert) anachronistische Lesart dar, die am Prätext selbst wie im Diskurs der für Lafayette zeitgenössischen Kritik manch relevante Facette zum Vorschein bringt; 230 nicht zufällig wird ebendieser ‚queere‘ le reste, et cela coûte souvent moins à l’historien“ (Valincour 2001: 48). In diesem Sinne wird die Begegnung der Princesse und Nemours’ in den Gemächern der Dauphine zwar als „une aventure aussi agréable et aussi surprenante que l’on en puisse imaginer“ gewürdigt, insgesamt jedoch, da „aux dépens du vraisemblable“ konstruiert, für etwas zu ‚kostspielig‘ befunden (ibid.: 50); ähnlich die reizvolle, aber gleichfalls zu ‚teure‘ aveu-Szene (ibid.: 48). 227 Saint-Gelais 2011: 471ff., hier zit. 472. 228 Ibid.: 483, unter Rekurs auf Charles (1995: 49) und Reggiani, die ihrerseits die klassische Praxis einer kreativ ‚respektlosen‘, von vornherein auf (Re-)Produktion angelegten Lektüre als „une pratique fortement socialisée“ reflektiert (1999: 214, zit. bei Saint-Gelais 2011: 471f.). 229 Vgl. Zoberman 2008: 31. Zu den Kritiken Valincours und Charnes, die beide „not only as editors but also as censors“ nicht zuletzt in Sachen Gender agieren, und ihrer Rolle für die Editionsgeschichte der Princesse vgl. auch DeJean 2006 (hier zit. 438). 230 Zoberman 2008: 32; vgl. auch Zoberman 2007. Anknüpfungspunkte zum Thema Homosexualität bietet zwar nicht La Princesse de Clèves, sehr wohl aber ein anderer Text Lafayettes, in dem diese ihre Qualitäten als „virtuose de l’euphémisme“ (Fabre 1979: 59) an politisch delikatem Material und in „a highrisk environment for those who sought a literary career“ (DeJean 1991: 96) unter Beweis stellt: In ihrer Histoire de la mort d’Henriette d’Angleterre (1720) - Levillain betont deren Schlüsselposition im Werk der Autorin: es ist ebendiese „œuvre méconnue“, die „le passage de la nouvelle galante au roman de passion“ ermöglicht (1995: 58) - tritt mit ‚Monsieur‘, Bruder des Königs und Henriettes Gatte, eine historische Figur auf, deren homosexuelle Neigungen Lafayette - hier selbst namentlich im Text präsent (2014e: 731) - dezent, aber unmissverständlich präzisiert: „[…] le miracle d’enflammer le cœur de ce Prince, n’était réservé à aucune femme du monde“ (ibid.: 729, vgl. auch 720, 738). In einem verqueerten amourösen Triangel finden sich die Eheleute als Konkurrenten um die Gunst des schönen Duc de Guiche wieder, der „quelquefois à plein jour déguisé en femme qui dit la bonne aventure“ Madames Gesellschaft aufsucht (ibid.: 741). Vgl. zur Relation zwischen der Histoire und der Princesse Esmein-Sarrazin (2014e) sowie Couturier (2014: v. a. 110ff., 121ff.), die freilich gelegentlich in einen etwas naiv moralisierenden Ton verfällt (so in ihrer Charakteristik des Milieus „de femmes tarées“ [ibid.: 111], in dem sich beide Protagonistinnen bewegen). Aus der Sicht einer gewissen Kritik wird auch Lafayette selbst - dies noch im 20. Jahrhundert - zur diskret gender-transgressiven Figur, die mit ihrem „[v]isage viril“ (Viollis 1926: 211, zit. nach Schneider 1983: 128) und ihrem Temperament eines „homme d’État manqué“ (Pingaud 2011: 14) in ihrer Ehe die Rolle des „ministre des affaires étrangères“ (Pingaud 1959: 11) bzw. - so Duchêne - überhaupt „dans la vie un rôle d’homme“ gespielt habe (1988: 492, zit. nach Green 1996: 82); derselbe Biograf äußert auf der Basis von Lafayettes Freundschaft mit „la frigide Madame de Sévigné“ und ihrer wenig enthusiastischen Bemerkungen über die Liebe Zweifel am „attrait que le genre masculin pouvait exercer sur la Comtesse“ (vgl. Dubois 2012). <?page no="52"?> 52 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien Aspekt der Princesse 231 auch in mehreren künstlerischen Variationen aus dem 21. Jahrhundert speziell akzentuiert. Was Valincour betrifft, so beanstandet dieser nicht nur die Vermessenheit, mit der Lafayettes diskret gender-transgressive, hier gezielt auf ihren Geschlechtscharakter zurückverwiesene Protagonistin - „une femme incompréhensible […] la prude la plus coquette et la coquette la plus prude que l’on ait jamais vue“ 232 - sich von einer Standard-‚Weiblichkeit‘ abzuheben bestrebt ist, 233 sondern vor allem auch ihr Verhalten in der finalen Konversation mit Nemours - Inversion einer bewährten Tradition patriarchalischen Ventriloquismus, die Valincour in seinem eigenen kleinen Karneval der Geschlechter ein weibliches Sprachrohr kritisieren lässt: „Il me semble, disait-elle, que Madame de Clèves dit ici tout ce que devrait dire Monsieur de Nemours. […] L’on dirait qu’elle n’est venue là que pour parler, et Monsieur de Nemours pour écouter, au lieu que ce devrait être tout le contraire.“ 234 Dem wiederholt als Kronzeugen zitierten ‚grammairien‘ missfällt nicht nur die Bezeichnung Nemours’ als „chefd’œuvre de la nature“ („Le mot […] m’a paru un peu vieux; et je crois que j’aurais de la peine à m’en servir, surtout en parlant d’un prince“: 235 „[…] il veut dire, qu’on pourrait plutôt parler ainsi d’une Princesse, que d’un Prince“, präzisiert dazu Charnes 236 ); er fordert auch vehement die Norm des generischen Maskulinums ein: „Dès que l’on parle en général, il faut toujours se servir du masculin, encore que ce que l’on dit se rapporte à une femme, ou même à plusieurs.“ 237 „Les œuvres sur les lettres sont aussi dans les lettres et sont des œuvres aussi“, betont Judith Schlanger. 238 Dies gilt nicht nur für Valincours ferne - und zugleich so aktuelle - Lettres mit Aus anderer ideologischer Perspektive spekuliert auch Herrmann (1979: 14ff.) über Lafayette als „the lover of Madame de Sévigné“ (vgl. Green 1996: 82) - und akzentuiert wiederum die gender-subversive Dimension der Princesse: „[…] la princesse de Clèves éveille l’admiration beaucoup plus parce qu’elle est ‚honnête homme‘ que parce qu’elle est ‚honnête femme‘“; komplementär dazu erscheint der Prince als „un homme féminisé“, „ou plutôt, l’un de ces rares individus qui possèdent en eux les deux mondes“: „Si Mme de Clèves est ‚honnête homme‘, on peut dire aussi justement que son mari est ‚honnête femme‘, ces deux êtres dépassent chacun leur sexe […]“ (Herrmann 1976: 25, 46; vgl. auch Moriarty 1999: hier 62f.). Eben Mme de Sévigné identifiziert Cordelier (1967) als potentielles „modèle […] pour le personnage de Mme de Clèves“ (zit. nach Francillon 1973: 184). 231 Vgl. dazu auch Dubois 2013c. 232 Valincour 2001: 120. 233 „[…] cette femme qui se trouve comme les autres, étant si éloignée de leur ressembler, m’embarrasse beaucoup; et si j’osais juger d’une pensée que je n’entends point, je croirais que cela contiendrait quelque chose d’injurieux à votre sexe, et de trop fier pour Madame de Clèves, qui, à mon sens, n’était pas au-dessus des autres femmes autant qu’elle paraît se l’imaginer en cet endroit“ (ibid.: 109f.). 234 Ibid.: 119f. Vgl. zu dieser doppelten „scène d’aveu et scène d’adieu“, in der die Princesse zum ersten und letzten Mal eine regelrechte „jouissance à s’épancher“ zu empfinden scheint, auch den Kommentar Dufour-Maîtres/ Milhits (2004: hier zit. 119, 122). 235 Valincour 2001: 126f. 236 Charnes 2014: 684. 237 Valincour 2001: 130f. Ein gewisser Queer-Faktor manifestiert sich nicht nur in den diskursiven Rollenspielen, die Valincour mit seinen diversen Sprachrohren inszeniert - „[…] ma vertu ne m’aurait garantie de rien après un pareil compliment, si j’eusse été la femme d’un homme aussi extraordinaire que Monsieur de Clèves“, erklärt einer seiner männlichen Zeugen (ibid.: 101) -, sondern auch in seiner Kritik an allerlei grammatikalischen ‚Ungenauigkeiten‘ Lafayettes, etwa dem Satz „Le Roi d’Espagne n’a voulu passer aucun article, qu’à condition d’épouser cette princesse, au lieu du Prince Don Carlos“. „Ne semble-t-il pas que le Roi d’Espagne devait épouser le Prince Don Carlos? “, scherzt ‚Valincours‘ Konversationspartner: „Voilà une plaisante obscurité, lui dis-je, en m’éclatant de rire“ (ibid.: 139). 238 Schlanger 2008: 110. <?page no="53"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 53 ihrem „curieux enchevêtrement de l’écriture et de la fiction“: 239 Im Fall der Princesse haben wir es auch in der neueren Literaturwissenschaft des Öfteren mit überaus ‚literarischen‘ und passionierten, persönlich-polemischen œuvres zu tun. Die Verführungen der referentiellen Illusion, der so mancher Kommentator früherer Epochen huldigt - so schreitet Jacques Chardonne zur Psycho-Analyse der Protagonistin („Elle croit l’aimer [M. de Clèves, MS]. Mais elle l’aime moins qu’elle ne le croit. Et pourtant elle l’aime beaucoup plus qu’elle ne le sait“ 240 ) -, sind auch der Kritik des späten 20. und des 21. Jahrhunderts nicht fremd, symptomatischerweise vor allem dort, wo eine gewisse Gender- und auch sexuelle Dimension ins Spiel kommt. 241 Auch in unserer postmodernen Gegenwart erscheint La Princesse de Clèves - womöglich sogar noch mehr als zum Zeitpunkt der Erstpublikation - als produktiv irritierendes Werk: „the twentieth century, perhaps more than the seventeenth, is puzzled by the Princesse de Clèves“, bemerkt Helen Kaps; 242 auch Claude Vigée reflektiert „le malaise qui nous saisit à la lecture de ce livre ambigu“. 243 Auf jeden Fall haben kritische wie künstlerische (Re-)Lektüren des 20. und des 21. Jahrhunderts wesentlich dazu beigetragen, besagte ‚Ambiguität‘ des Textes (weiter) freizulegen: „The perception of a certain ambiguity in the novel is in itself a contribution of the twentieth century“, wie Kaps konstatiert. 244 Die Rezeptionshistorie der Princesse konstituiert ihre eigene Passions-Geschichte von einer Intensität, die im literaturkritischen und -wissenschaftlichen Diskurs nicht allzu oft ihresgleichen findet, eine Geschichte leidenschaftlicher Projektionen und Parteinahmen (pro und contra Princesse/ Prince/ Nemours, pro und contra aveu, repos, retraite etc.) unter oft sehr beträchtlichem subjektiven Engagement der jeweiligen Interpreten. So macht sich Patrick Henry, der „in the diverse mass of post-1950 critical commentary […] the tendency to denigrate the heroine“ beklagt, an eine explizite ‚Verteidigung‘ der Princesse, allzu oft „either ridiculed or attacked“; 245 entgegen einer ganzen Tradition der „egoism critique of the princess“ 246 oder des „‚marionette-of-her-mother‘ criticism“ formuliert der Herausgeber des programmatisch betitelten Bandes An Inimitable Example. The Case for the Princesse de Clèves seine eigene Mission, nämlich „to defend her against many of the charges made over the centuries, to rehabilitate her reputation […] and to depict her authenticity as a fictional character“. 247 239 Saint-Gelais 2011: 476f. 240 Jacques Chardonne in Tableau de la littérature française (1939), zit. nach Genette 1968: 14. 241 Während Valincour den Text der Princesse nach der Devise „Voici ce qui aurait dû se passer, pour que la vraisemblance soit plus assurée“ pragmatisch zu ‚korrigieren‘ versucht, dabei freilich auf jegliche Mutmaßung „sur ce que le récit ne dit pas“ verzichtet (Saint-Gelais 2011: 478f.), kommentiert Delacomptée ohne weitere literaturtheoretische Skrupel den ‚realen‘ Hergang dieser oder jener bei Lafayette nicht geschilderten - insofern nicht existenten - Szene; so weiß der Interpret auch über den Verlauf der Hochzeitsnacht der Clèves Bescheid, über die der Roman völliges Stillschweigen bewahrt (2012: 25). Weniger brachial, aber doch spekuliert auch Racevskis (1996: 27) über die Aktivitäten einer fiktiven Figur jenseits der Grenzen des Textes: „It is doubtful that the Princess spends her time gazing dreamily at ribbons and paintings in her convent cell, but it is likely that the activities in which she engages during her time spent in the Pyrenees will resemble what we see her doing when left to her own devices in Coulommiers“ (etc.). 242 Kaps 2001: X. 243 Vigée 1960: 725, zit. nach Kaps 2001: X. 244 Ibid. 245 Henry 1992b: 11f. 246 Henry 1992c: 172. 247 Henry 1992b: 12. <?page no="54"?> 54 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien Zahlreiche andere männliche Leser identifizieren sich freilich - über die Jahrhunderte hinweg - empathisch vor allem mit der Figur des Nemours, angefangen mit Valincour und Bussy-Rabutin, die als kritische Advokaten primär „the virile Nemours’s interests“ gegenüber der Protagonistin und dem „fragile Prince de Clèves“ zu vertreten scheinen. 248 Unübersehbar ist dieses Moment der Solidarisierung bei Valincour, der - signifikante Geste - Nemours ohne Weiteres sein eigenes Alter zuschreibt 249 (ein im Text Lafayettes bekanntlich nicht präzisiertes Detail), den schönen Duc in seinen amourösen Ambitionen nachträglich ‚anfeuert‘ 250 und hinsichtlich seiner allzu schüchternen Zurückhaltung gegenüber dem Objekt seiner Begierde mit dem historischen Vorbild kontrastiert. „En effet, il n’est rien qui ressemble moins au Duc de Nemours qui vivait sous Henri II, que le Duc de Nemours amoureux de Madame de Clèves. Ce dernier est sage jusqu’à l’excès, modéré, doux, timide jusqu’à n’oser se justifier, amoureux sans déclarer sa passion.“ 251 Den ganzen Text hindurch bleibt Valincour - selbst bei punktuellen Einwänden 252 - dieser Position prinzipieller Sympathie mit Nemours treu; unumwunden gesteht er zugleich eine gewisse Aversion gegenüber dem Prince („En vérité, je ne puis m’empêcher de le haïr un peu de sa folie, malgré toute son infortune […]“ 253 ), der sich, tragikomischer Antiheld, „une des grandes figures de mal aimé de la littérature“, 254 schon nach der ersten Begegnung mit Mlle de Chartres „comme cet étourdi du comique“ benimmt 255 und hier für seinen Charakter („un peu trop facile à persuader“ 256 ), aber auch für seinen gelegentlichen Verstoß gegen den Ehrencodex des honnête homme (konkret den Trick, mit dem er seiner Frau das Geheimnis der Identität seines Rivalen entlockt 257 ), für seine „chagrins aussi bizarres et aussi violents“ und insbesondere für seinen ‚stupiden‘ Tod kritisiert wird: „Je n’ai presque vu personne qui l’ait plaint: […]. Et de bonne foi, quelle compassion pour un homme qui meurt, parce qu’il veut mourir; qui meurt comme un sot, sans vouloir être éclairci; qui s’afflige et qui se désespère, sans savoir de quoi? “ 258 In diesem Sinne imaginiert Valincour eine kleine sado-metaleptische Intervention im Text Lafayettes: 248 Jensen 1998: 75. 249 „Je ne prétends pas qu’en faisant l’histoire d’un prince de vingt-cinq ans on en fasse un demi-dieu et un homme infaillible […]“ (Valincour 2001: 50f.). 250 In diesem Sinne formuliert Valincour den - spielerisch als „une folie que j’entendis l’autre jour en un lieu où j’étais“ präsentierten - Wunsch, den Helden rascher von der ihm doch längst bekannten Passion der Princesse ‚profitieren‘ zu sehen: „Il semble, disait-on, que ce soit la faute de ce prince, d’être demeuré si longtemps en mêmes termes avec Madame de Clèves. Attendait-il qu’elle lui fît une déclaration? […] ne devait-il pas mieux profiter des sentiments qu’il connaissait qu’elle avait pour lui, et mieux faire valoir les siens […]? “ (ibid.: 89). Ähnlich auch bezüglich des klärenden Gesprächs nach den Turbulenzen rund um den verlorenen Brief (ibid.: 96). 251 Ibid. 252 So kritisiert Valincour - auch hier unter Berufung auf ein kollektives Urteil - Nemours’ exzessive „hardiesse“ nach dem Diebstahl des Porträts (ibid.: 88). 253 Ibid.: 59. 254 Garapon 1988: 28. 255 Valincour 2001: 37. 256 Ibid.: 118. 257 Vgl. ibid.: 105. 258 Ibid.: 58. <?page no="55"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 55 „[…] si j’eusse fait l’histoire d’un homme aussi fantasque que le Duc de Clèves, 259 je ne l’eusse pas fait mourir, car je n’aime pas à tuer personne; mais, ma foi, je ne vous réponds pas du reste.“ 260 Fast ausschließlich ex negativo wird parallel dazu ein normatives Ideal aristokratischer Weiblichkeit skizziert: Ist die Princesse - abgesehen von jener finalen Aussprache mit Nemours - zu schweigsam, so ist die Dauphine zu geschwätzig; 261 ist erstere zu simpel im Geiste, so zeigt sich Mme de Thémines zu künstlich geistreich auf Kosten der ‚authentischen‘ Emotion („les sentiments ne sont pas naturels; cela sent une femme qui veut avoir de l’esprit mal à propos, et qui a en effet plus d’esprit que de passion“ 262 ). Der Protagonistin wirft Valincour nicht nur ihre Misandrie („Il fallait donc que Mademoiselle de Chartres eût une furieuse répugnance pour tous les hommes en général, puisqu’elle en trouvait à épouser un homme de grand mérite et de grande qualité, à qui elle avait obligation, qui était passionnément amoureux d’elle; et que tout ce qu’elle peut faire en sa faveur, c’est de l’épouser avec moins de répugnance qu’un autre“), sondern auch ihre ‚Kälte‘ und ‚Gleichgültigkeit‘ (gegenüber dem Prince) bzw. ihre ‚Grausamkeit‘ (gegenüber Nemours) vor: „[…] Madame de Clèves oppose à tous ces sentiments une certaine indolence, et un air de froideur propre à éteindre en un moment la passion la plus violente.“ 263 Nur konsequent wird die - ansonsten als allzu unwahrscheinlich und damit narrativ ‚kostspielig‘ kritisierte - verpasste Begegnung in jenem Park vor der Stadt mit einiger Schadenfreude als eventuelle Rache Nemours’ an der ihn so sträflich vernachlässigenden Princesse interpretiert: „[…] il me semble que, dans cette rencontre, Monsieur de Nemours n’a pas mal sa revanche […] il serait plaisant que l’auteur n’eût fait cette aventure que pour venger son héros; elle est si inutile à tout le reste, qu’il ne s’en faut rien que je ne croie que ç’a été son dessein.“ 264 Es wäre freilich verfehlt, derlei als bloße literarhistorische Kuriosität amüsiert zur Kenntnis zu nehmen. Nahtlos knüpft ein postmoderner Literaturwissenschaftler wie Jean-Michel Delacomptée an den Gender Bias der Lettres an, die er im Übrigen, wenngleich nicht „sans défauts“, als „une critique d’honnête homme“, als Modell einer ebenso präzisen wie auch gesellschaftspolitisch relevanten Kritik würdigt: „[…] la méthode a du bon: elle apprend à commenter avec précision, finesse, ordre et clarté. Elle exerce l’acuité réflexive, et transforme les lecteurs en acteurs d’un procès. Ainsi se fabriquent les citoyens.“ 265 Delacomptées 259 Wiederholt ist bei Valincour vom „Duc de Clèves“ die Rede (vgl. auch ibid.: 77, 104). „Vous trouverez la Duchesse [sic] de Clèves dans mon paquet“, lautet die Ankündigung des Mercure galant im März 1678 (vgl. Laugaa 1971: 21). 260 Valincour 2001: 59f. Noch größere Mißbilligung wird freilich dem im Zusammenhang mit jenem Plagiatsverdacht ins Spiel gebrachten Marquis de Thermes aus Villedieus Désordres de l’amour zuteil (dieser sucht nach dem aveu seiner Frau aktiv den Tod, bestimmt zuvor aber noch testamentarisch seinen Neffen und amourösen Rivalen zum Universalerben, unter der Bedingung, dass er die in ihn verliebte Witwe heiratet): „Je vous assure […] que le Marquis de Thermes me paraît bien fou, et que j’aime encore mieux le Duc de Clèves avec tous ses chagrins“, erklärt der textinterne Valincour; sein Gesprächspartner gibt ihm recht - doch auch zu bedenken: „peut-être que l’on vivait d’une manière plus héroïque du temps du Marquis de Thermes, et que cela était d’usage“ (ibid.: 104). 261 Vgl. ibid.: 77. 262 Ibid.: 91. 263 Ibid.: 77f. 264 Ibid.: 61. 265 Delacomptée 2012: 17. <?page no="56"?> 56 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien eigener Essay Passions. La Princesse de Clèves (2012) gerät passagenweise zur regelrechten défense et illustration des Duc de Nemours, zum ‚zeitlos‘ männlich-solidarischen, aus der Perspektive eines maskulinen nous gegenüber einer potentiell feindlichen Front der elles formulierten Plädoyer. 266 Im Gegensatz zu einem mittlerweile beträchtlichen Corpus genderkritischer Lektüren der Princesse wird hier nicht etwa die auf ihren Platz unter „les autres femmes“ 267 verwiesene Protagonistin („[…] M me de Clèves agit à la ressemblance des femmes de la cour, ni plus ni moins“ 268 ), sondern der perfekte Höfling Nemours zum Pionier moderner Subjektivität stilisiert: 269 „Il est trop vivant pour elle. 270 […] M. de Nemours est indéfinissable. C’est un personnage en devenir. […] individu déjà moderne par l’espace interne qu’on voit naître en lui […], M. de Nemours est un point d’interrogation, une question ouverte: un bonheur conjugal possible.“ 271 Mit der implizit entmündigten Princesse, die im Bann eines 266 Empathisch identifiziert sich der Kritiker mit der heiklen Position des Nemours: „De l’inconvénient d’être incomparable: toutes les femmes vous courtisent et, à vous courtiser, vous privent de l’unique d’entre elles dont la possession hante vos rêves“ (ibid.: 76). 267 Vgl. Lafayette 2014c: 436. 268 Delacomptée 2012: 95. 269 Nemours fungiert als „a primus inter pares at court […] and a powerful model for other courtiers, who become, more or less, ‚des Nemours ratés‘“ (Albanese 1992: 100f.), paradigmatischer Repräsentant eines Mikrokosmos der apparences. Eben das hyperbolische Porträt Nemours’ - bei allem Lob für seine Attraktivität und Brillanz bietet die Erzählinstanz keinerlei „indication sur son mérite ou sur ses vertus“ (Grande 1999: 91) - enthält auch eine vorsichtig kritische Komponente: Als perfekter courtisan wird der schöne Duc mit der weiblichen Hauptfigur kontrastiert, die - im Kontext der Epoche nicht selbstverständlich - hier als eigentliche Inkarnation der „valeurs aristocratiques“ erscheint (ibid.: 110), dabei aber auch bereits als „‚tiefes‘ Subjekt“ (Sanders 1987: 61; vgl. dazu Brink 2015: 92) bzw. als „an intriguing representative of the early modern subject“ (Racevskis 2003: 183); zum Status der Princesse als „an inaugural modern protagonist“ vgl. auch Racevskis 1996 (hier zit. 31). Im Gegensatz zur Heldin mit ihrer sich im Lauf der Handlung ausdifferenzierenden, den „Bannkreis des höfischen Lebens“ (Matzat 1985: 232) zusehends transzendierenden Innerlichkeit folgt Nemours allzeit und allerorts einem höfischen Wertecodex. Besonders offenkundig wird diese Kollision in Coulommiers, gegenüber dem Hof als „lieu mobile et ambigu“ Symbol jenes „autre lieu mobile, la Retraite“ (Sellier 2005: 238), weiblich konnotierter Rückzugsraum der Konfiguration einer modernen Subjektivität, in den Nemours damit inkompatible Verhaltensweisen des mondänen „espionnage“ importiert (Grande 1999: 133, 144), womit er das Refugium der Princesse zur virtuell öffentlichen Sphäre macht. Weit mehr noch als ihr Ehemann, durchaus geschickter Akteur des höfischen Intrigenspiels (vgl. Racevskis 2003: 170f.), verkörpert in der Existenz der jungen Mme de Clèves Nemours jene ambivalente Welt der cour, gegen die sie sich schließlich entscheidet: Eine konsequente Entwicklungslinie führt von der ersten Begegnung - Tanz und coup de foudre unter aller Augen auf der ‚Bühne‘ jenes Balls - bis zu dem Moment, da die Heldin aus einem „scénario en spirale“ (Sellier 2005: 238) aussteigt, auf Nemours und zugleich auf das ganze Hofleben verzichtet (vgl. Grande 1999: 110). Auch für Dufour-Maître und Milhit steht „[l]a transparence du duc“ gegen „[l]’opacité de la princesse“ (2004: 106). Vgl. dagegen die hinsichtlich der respektiven Modernität der Protagonisten konträre Lesart Gregorios (2007), der eine „Ancient Princess“ mit einem „Modern Nemours“ konfrontiert; zur philosophischen „opposition between the Princesse’s doubly Platonic idealism and her suitor’s Aristotelian, neoclassical code of ethics“ siehe auch Gregorio 2004. 270 In diesem Sinne deutet schon Malandain die Figur des Nemours als des einzigen überlebenden Helden: „comme si, après la dernière ligne, devait rester vivant et vibrant, en face des ‚exemples de vertu inimitables‘ d’une femme quasi pétrifiée, le témoignage d’un homme qui […] a fait de la passion le grand symbole du renouvellement, de la vérité et de la vie“ (1989: 97). 271 Delacomptée 2012: 122f. Während Valincour die Distanz zwischen Romanfigur und historischem Modell betont, idealisiert Delacomptée auch den realen Nemours und insistiert auf dessen langjähriger treuer Liebe zu Anne d’Este (ibid.: 127). Brantôme, dessen Werk eine der konkreten Quellen Lafayettes darstellt, freilich schildert den „séduisant duc de Nemours“ (Solnon 1987: 26) zwar als „un très beau prince et de très <?page no="57"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 57 inkorporierten mütterlichen Über-Ich das dem Geliebten „légitimement“ zustehende Glück 272 (wie ihr eigenes) einer Chimäre der Tugend, des repos und der eigenen Einzigartigkeit opfert, 273 deren vielschichtige, in feministischen Lesarten als „a defiance of the patriarchal order“ 274 interpretierte retraite zur neurotischen Flucht vor sich selbst trivialisiert wird, 275 kontrastiert Delacomptée als positives Beispiel einer gelungenen Existenz nicht nur Nemours als Repräsentanten der ‚wahren Liebe‘ („M. de Nemours […] préfère […] l’amour authentique aux plaisirs de la vanité et aux séductions du pouvoir“ 276 ), ja einer „générosité proche de l’altruisme“, 277 sondern auch den Vidame de Chartres, viriles role model der Lebens- und Liebesfreude: „[…] le vidame […] choisit l’amour vrai et ce qui le conditionne, la liberté. […] le vidame indique la voie: contrairement à M me de Clèves, il fait le choix de vivre heureux. Au lieu de renoncer à la félicité d’une passion partagée, il se dégage de l’enfermement qu’exerce l’attrait des fausses valeurs.“ 278 Auch den anderen männlichen Figuren wird ein empathischer, manchmal sogar sentimentaler Blick zuteil; dies gilt für den unglücklichen Clèves - „un honnête homme“ bei all seiner „relative platitude“ und „faiblesse congénitale“ 279 -, für Sancerre („cocu magnifique“ 280 ), aber auch für König Henri (der, wenn auch schwacher, von seiner Favoritin beherrschter „roi de substitution“, symbolisch „le don et le pardon“ inkarniere 281 ). Mit Skepsis bis Antipathie wird dagegen das gesamte weibliche Personal betrachtet, die Protagonistin selbst - „un couperet aux cheveux blonds“, unterworfen einer „loi morale qui l’aliène, et dont la cruauté, par ricochet, châtie le duc“ 282 - ebenso wie Mme de Chartres, der Delacomptée nicht nur ihren „regard aussi myope“ in höfischen Agenden und ihre Obsession einer oberflächlichen „réputation“, sondern auch ihren „conservatisme obstiné“ 283 und ihren „orgueil maternel, arbitraire, despotique“ vorhält; 284 gemeinsam mit Diane de Poitiers und Catherine, „reine tyrannique“, 285 dann „veuve vindicative […] souveraine du ressentiment“, bildet Mme de bonne grâce, brave, vaillant, agréable, aimable et accostable, bien disant, bien écrivant […], s’habillant des mieux“ (zit. ibid., nach Ruble 1883: 16f.), aber auch als erotischen Draufgänger; über die Affäre Françoise de Rohan gleitet Delacomptée mit der nonchalanten Formel „si, semblable au duc de Nemours, Jacques de Savoie aimait les femmes, il les aimait trop lestement parfois […]“ hinweg (2012: 129). Auf Basis dieser seiner Re-Interpretation des geschichtlichen Kontexts lädt er zur empathischen Solidarisierung auch mit dem Protagonisten Lafayettes ein (ibid.: 127). 272 Ibid.: 124. 273 Vgl. ibid.: 92f. 274 Lyons 1992: 246. 275 Vgl. Delacomptée 2012: 148. 276 Ibid.: 121. Dieses überaus positive Bild des Nemours und seiner „abnégation […] marque du véritable amour“ entwirft wiederum bereits Malandain (1989: 96). 277 Delacomptée 2012: 133. 278 Ibid.: 118f. 279 Ibid.: 108f. 280 Ibid.: 21. 281 Ibid.: 89, 134. 282 Ibid.: 136. 283 Ibid.: 63f. 284 Ibid.: 141. 285 Ibid.: 118. <?page no="58"?> 58 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien Chartres den fatalen, allzu mächtigen „triptyque de veuves“ des Romans. 286 Aber auch Mme de Tournon, „la veuve duplice“, 287 die kalt manipulative Mme de Thémines 288 und die Reine Dauphine, „sorte de gazette vivante“, 289 entgehen dem strengen Urteil des Kritikers nicht; „toutes sont redoutables“ 290 - und sämtlich „[a]ssujetties au désir de dominer“: „[…] plus que la passion de l’amour, les femmes ont celle du pouvoir. Aux hommes la libido sentiendi […], à elles la libido dominandi […] Si bien que la cour se caractérise par la soumission du roi, et plus généralement des hommes, à leur pouvoir.“ 291 Derart gerät der höfische Mikrokosmos, „monde soumis aux pouvoirs féminins“, 292 in Delacomptées Lesart zum Quasi- Matriarchat („Flotte sur la cour un air de matriarcat“ 293 ) und die Passion zur primär männlichen Angelegenheit („[…] ce sont les hommes qui, dans le roman, font preuve d’un amour absolu, pas les femmes“ 294 ). Offenkundig irritiert den zeitgenössischen Interpreten die - angebliche - Geschlechter-Asymmetrie der amourösen Ökonomie Lafayettes: „[…] on ne voit que des amants discrets par déférence, écrasés par le poids de leur passion, et qui s’adressent à leurs 286 Ibid.: 83. Die Parallele zwischen der Machtpolitik der Königin und dem unerbittlichen mütterlichen Tugendgebot, das die Protagonistin - aus der Sicht des Autors jedenfalls - ins Unglück führt, wird explizit hergestellt (ibid.). 287 Ibid.: 21. 288 Vgl. ibid.: 134. 289 Ibid.: 67. 290 Ibid.: 73. 291 Ibid.: 77f. 292 Ibid.: 94. 293 Ibid.: 84. „Quand serons-nous à la cour, n’appelant la cour là où était le roi, mais où étaient la reine et les dames“, heißt es bei Brantôme (zit. nach Solnon 1987: 15). Historisch ist die (relative) ‚Feminisierung‘ des französischen Königshofes in der Epoche der Handlung der Princesse noch ein ziemlich junges Phänomen: Erst Anfang des 16. Jahrhunderts beginnen Frauen hier eine größere Rolle zu spielen. Erscheint der Hof in Delacomptées Interpretation als Quasi-Matriarchat, so hinterfragt auch Paulson „the seemingly subservient role of women in the novel“ (1998: 1) und gelangt in seiner Analyse von „Madame de La Fayette’s narrative of the game of gender, power and politics“ (1991: 71ff., hier zit. 79) zu dem Schluss, dass das Frankreich des Romans nur oberflächlich betrachtet „a man’s country“ sei (ibid.: 72f.). Freilich macht seine eigene Argumentation - so die Kontrastierung der royalen Mätresse und der Königin selbst (ibid.: 75) - die Ambivalenzen und Grenzen dieser weiblichen Macht sehr deutlich. „In the long run […] power resides in the king, and any power that Diane, the queen, or the Reine Dauphine might exercise is held only by proxy“, unterstreicht Kuizenga (1992: 77), die „the haremlike atmosphere of the court“ (ibid.: 81), die Funktion von Frauen als „currency“ (ibid.: 79) auf dem Heirats- und Beziehungsmarkt, aber auch die sozioökonomische Gender-Ambiguität der männlichen Höflinge herausarbeitet; „vying for the king’s favor as do the women“, verfügen diese allerdings immer noch über „privileges that women lack“ (ibid.: 81). In diesem Sinne untersucht Seifert die Verstrickungen von „sexual knowledge“ und „political interest“ in einem Dispositiv, in dem Frauen auf den ersten Blick „an unusual amount of power“ auszuüben und „the gendered positions of male and female characters“ derart „somewhat blurred“ scheinen (1998: 61). Auf den zweiten Blick tritt jedoch die fundamentale Asymmetrie dieser Geschlechterordnung hervor: Bei aller oberflächlichen Macht dienen Frauen im Wesentlichen als „intermediaries through whom men establish and maintain the homosocial bonds necessary for their hegemony“; nicht umsonst werden die - auch in puncto „sexual intrigue“ mit größerer Freiheit ausgestatteten - männlichen courtisans im eröffnenden Panorama viel ausführlicher vorgestellt (ibid.: 61f.). Ähnlich betont auch Danahy bezüglich diverser „Social, Sexual and Human Spaces in La Princesse de Clèves“ (1981: 220) das Moment männlicher Dominanz bzw. patriarchalischer Gewalt (vgl. Beasley/ Jensen 1998: 20). 294 Delacomptée 2012: 132. <?page no="59"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 59 dames d’un ton soumis, tremblants de les offusquer“; 295 die Tatsache, dass Nemours’ Passion nach Jahren dann doch erlischt, „ne démontre pas sa futilité (il fait preuve au contraire d’une rare constance), mais témoigne de l’incapacité des hommes à renverser la domination des femmes“. 296 Nicht nur in diesem Essay - hier kurz analysiert als paradigmatisches Exempel einer maskulinistischen (Über-)Interpretation der Princesse samt heterosexuell-männlich codierter Perspektive, die die Rezipientin per se gegen den Strich lesen lässt - ist die bemerkenswerte gender-spezifische Dynamik der Princesse-Rezeption bis in die Gegenwart zu beobachten. Pierre Assouline gefällt sich - freilich in einem Blog-Eintrag ohne akademischen Anspruch - in der selbstironischen Attitüde des weißen Ritters der Literaturkritik, der angesichts der Bedrohung durch Sarkozy mit fliegenden Fahnen zur Rettung der schönen Princesse de Clèves - bevorzugt in Gestalt Marina Vladys, deren Porträt den Text schmückt - herbeieilt: „[…] je suis volontaire pour être le chevalier blanc de la Clèves à défaut d’être son Nemours, surtout lorsqu’elle s’incarne sous les traits de Marina Vlady […].“ 297 Marcel Bozonnet kommentiert seine seit mittlerweile zwei Jahrzehnten andauernde theatralische ‚Affäre‘ mit der bzw. seiner Princesse („‚ma‘ Princesse de Clèves“): „Je me suis dit que je ne m’en lasserais jamais. […] Elle m’a permis de rester un acteur“. 298 Auch die Rezensentenschaft greift diese Metapher der theatralischen ‚Liaison‘ begeistert auf: „Dix-huit ans qu’ils ne se quittent plus. L’acteur Marcel Bozonnet et La Princesse de Clèves […].“ 299 In auffallendem Gegensatz zu dieser Grundhaltung männlicher Solidarität mit dem galanten Duc, jenem „strahlende[n] Don Juan des Hofes“, 300 und/ oder complaisant-chauvinistischer Ritterlichkeit gegenüber der schönen Princesse sympathisiert so manche Interpretin nicht weniger offensichtlich mit der Figur des - von Valincour bis Delacomptée wenig populären bzw. subtil ridiculisierten - Ehemanns. „Cet être noble et délicat, tout en nuances, […] homme de retenue, de constance, et d’affection“, „le parfait ‚honnête homme‘ du XVII e siècle“, über dessen „si bel amour, si pur et si profond“, „[b]el exemple d’amour inconditionnel et absolu“, sich etwa Denise Werlen - dies in einem literaturwissenschaftlichen Einführungsband - kaum genug entzücken kann, 301 wird in dieser alternativen Lesart - nicht minder leidenschaftlich-parteiisch als der männliche Pro-Nemours-Diskurs - seinerseits rückhaltlos idealisiert, seiner Ambiguität und damit seiner Tiefe beraubt. Auch bei Henriette Levillain wird - unter Verweis auf den zunächst per privilège gesicherten Titel Le Prince de Clèves 302 - M. de Clèves, „premier type du mari sympathique“, 303 zum wahren Helden von 295 Ibid.: 98. 296 Ibid.: 94. 297 Assouline 2006. 298 Solis 2014. 299 Thibaudat 2014a. 300 Köhler 2006: 74-78 („Mme de Lafayettes Roman ‚La Princesse de Clèves‘ als Tragödie des Verzichts“), hier zit. 77. 301 Werlen 2012: 44, 79, 88. 302 Bereits 1671 erwirbt Barbin einen königlichen privilège für den Titel Le Prince de Clèves (Levillain 1995: 29ff.); vgl. auch Malandain 1979: 19; Mesnard 1980; Esmein-Sarrazin 2014c: 1292. Levillain geht von einer auf Veranlassung des Herausgebers vorgenommenen Änderung des Titels auf die Erwartungshorizont und Interessen des Publikums besser entsprechende Princesse aus, die unweigerlich eine Verschiebung des interpretatorischen Fokus mit sich bringt: „Laissons-nous aller à imaginer quelques minutes ce que serait notre approche de Madame Bovary si l’œuvre avait été intitulée par Flaubert <?page no="60"?> 60 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien Lafayettes „roman du mari“. 304 Die Autorin attestiert diesem Repräsentanten des „absolu de la passion“ - unverkennbar ihr persönlicher ‚Favorit‘ im Text - „une consistance psychologique et morale égale à celle de la princesse et supérieure à celle de son rival, le duc de Nemours“; 305 die eigentliche „originalité“ Lafayettes verortet sie nicht in der Szene des aveu, „un thème à la mode“, sondern in der zugunsten des Ehemannes veränderten „distribution des rôles propre au trio traditionnel de l’adultère“ und in der Darstellung von „tous les degrés de la désillusion de l’amour chez un homme qui, à la différence des séducteurs qui aiment pour la gloire de conquérir, ‚aimait d’une passion véritable et légitime‘ […]“. 306 Komplementär dazu manifestiert sich eine ausgeprägte Ambivalenz bis Aversion gegenüber dem ‚Casanova‘ Nemours, „être d’apparences“, 307 „séducteur indifférent à toute morale“, 308 „qui raisonne davantage en termes de stratégie que de sentiments“, 309 „un Don Juan, un collectionneur“, 310 bei dem „l’absence de scrupules, la vanité, le calcul“ 311 (fast wortgleich tadelt auch eine andere Kommentatorin Nemours’ „absence de scrupules et […] manque de délicatesse“ 312 ) in letzter Instanz doch über „l’intensité de sa passion“ triumphieren 313 - auch dies eine moralisierende Überinterpretation, die Lafayettes vielschichtiger Text ebenso Charles Bovary, ce qui après tout eût été légitime vu la place qu’il tient dans l’économie du roman: c’et lui qui l’ouvre et le ferme“ (1995: 29). (Eine gender-re-akzentuierte réécriture dieses Romans legt 1978 Jean Améry unter dem Titel Charles Bovary, Landarzt. Porträt eines einfachen Mannes vor.) 303 Haussonville 1891, zit. nach Laugaa 1971: 202. 304 Ibid.: 184, unter Verweis auf Saint-Marc Girardin. 305 Levillain 1995: 29f. 306 Ibid.: 32f. 307 Werlen 2012: 81. 308 Rambaud 2006: 33. Als „un être d’apparence […] qui fait fi de toute morale“, als „séducteur“ mit den dominanten Attributen „amour-propre“, „égoïsme“, „cruauté“ erscheint Nemours auch bei Léopold (2009: hier zit. 28, 32). 309 Levillain 1995: 85. Aus prononciert antipathischer Perspektive betrachtet Levillain auch Brantômes Schriften, Quelle u. a. für Lafayettes Nemours-Porträt: Zwar sei gewiss, dass Lafayette Brantôme, hier als „soldat de métier et bon vivant“ charakterisiert, gelesen habe, „[m]ais il subsiste de cette lecture si peu de traces […] que l’on serait enclin à penser que ces histoires d’alcôve à connotation machiste lui ont plutôt servi de repoussoir“ (ibid.: 136). Chamard und Rudler kommentieren bereits die „rencontre assez piquante“ zwischen „Mme de la Fayette et Brantôme! “, der „comtesse, mi-classique et mi-précieuse“ und „le plus dru, le plus gaillard, le plus grossier souvent, et aussi le plus prolixe des chroniqueurs du XVI e siècle“ (zit. nach Laugaa 1971: 212). Eine differenzierte Analyse der Memorialistik Brantômes (i. e. Pierre de Bourdeille, Seigneur de Brantôme), der „möglicherweise ohne es zu wollen, als einer der ersten einen Beitrag zur weiblichen Geschichtsschreibung geleistet hat“ und auch „ein glühendes Plädoyer […] für die Aufhebung der Lex salica“ formuliert, bietet Grewe 2005 (zit. 193, 204). Setzt Brantôme mit seinem idealisierten Bild der französischen Königinnen der Vergangenheit einen Kontrapunkt zum gegenwärtigen „Niedergang der aristokratischen Welt“ (ibid.: 207), so treten seine hier „als ein Beispiel der Frauengeschichtsschreibung“ untersuchten Dames illustres im Zuge der weiteren Rezeptionshistorie nicht zufällig gegenüber den Dames galantes in den Hintergrund (ibid.: 194f.). 310 Dufour-Maître/ Milhit 2004: 108. 311 Ibid.: 17. 312 Grande 1999: 91. Exakt konträr wiederum Malandain, der vielmehr Nemours’ „délicatesse exquise“ gegenüber der geliebten Frau würdigt (1989: 96) und ihn gegen „les conclusions les plus négatives“ der Princesse, denen „toute la critique“ sich angeschlossen habe, verteidigt: „Et de répéter à l’envi qu’il est un homme comme les autres ou, pire, un Don Juan […]“ (etc.) (ibid.: 94). 313 Dufour-Maître/ Milhit 2004: 17. <?page no="61"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 61 wenig rechtfertigt wie die einseitige Idealisierung der Figur bei Delacomptée. 314 Vor diesem Hintergrund ist es umso frappierender, dass auch die untersuchten literarischen réécritures zeitgenössischer Autorinnen quasi sämtlich überaus problematische, egoistische bis psychopathische Nemours-Rollenträger inszenieren (dies gilt für Marie Darrieussecqs profund antipathisch konstruierten ‚Arnaud‘ wie für ‚Armand‘ bei Emmanuelle Bayamack-Tam) und parallel dazu die Passion als weibliche ‚Pathologie‘ reflektieren; freilich wird auch der jeweilige Wiedergänger des Ehemannes zur etwas lächerlichen und/ oder moralisch ambivalenten Figur (Darrieussecqs Bihotz wie Andrzej Żuławskis Clève [sic]). Kurz: Die hier exemplarisch zitierten Passagen mit ihrem gelegentlich geradezu amüsanten Gender-Gap in Interpretation und ethischer Bewertung der Protagonisten Lafayettes machen die - gewiss nicht illegitime, aber (selbst-)kritisch auf der Meta-Ebene zu hinterfragende - subjektive Dimension, die auch geschlechtsspezifische ‚Situiertheit‘ 315 dieses literaturwissenschaftlichen Diskurses deutlich - ebenso wie die Tatsache, dass La Princesse de Clèves, bei aller klassischen Diskretion ganz und gar bemerkenswerter Querelle-Generator, auch lange vor und abseits der ‚Affäre‘ allerlei passionierte Kontroversen provoziert. Dies illustriert auch die teils hoch ideologisierte Debatte um die religiöse Komponente des Romans; abhängig von den eigenen weltanschaulichen Prämissen kommen unterschiedliche Kommentatoren über die Jahrhunderte zu konträren Schlussfolgerungen. Mit seiner dezenten Spiritualität, seiner „sorte de religiosité sans théologie et de morale sans Dieu“ 316 - der klassischen Poetik gemäß bleiben religiöse Referenzen in einem fiktionalen Werk „implicit rather than explicit“ 317 - lässt Lafayettes Text hier beträchtlichen Deutungsspielraum offen. Wenig überraschend erklärt so mancher positivistische Exeget des 19. Jahrhunderts (Auguste Comte wie Haussonville) kategorisch, Religion sei in der Princesse völlig irrelevant, werde doch ‚Gott‘ im Roman nicht einmal erwähnt (de facto taucht das Lexem ‚Dieu‘ im Text vier Mal in der Figurenrede auf, 318 wobei man sich vor der Überinterpretation besagter Okkurrenzen hüten sollte). Quasi diametral entgegengesetzte Positionen finden sich gerade in puncto Religion bis in die Lafayette-Kritik des 20. Jahrhunderts (wobei auch die Diskrepanz zwischen französischer und US-amerikanischer Forschungstradition zu reflektieren wäre): Im Kontrast zu tendenziell säkularisierenden bzw. die Princesse in einem Spannungsfeld verschiedener philosophischer und theologischer Einflüsse verortenden Lesarten 319 steht die - 314 Eine nuancierte Interpretation des Nemours unternimmt bereits Brody 1969; siehe dazu auch Sweetser 1972 (hier 491). Vgl. auch Fabres kritische Sicht auf den geschichtlichen Nemours („sous des dehors brillants […] un assez triste personnage“) wie die Figur Lafayettes: „[…] le lecteur attentif ne se fera guère d’illusions sur la médiocrité du personnage et ses indélicatesses ne le prendront pas au dépourvu“ (1979: 21). Für „pas si différent du Nemours historique“ befindet auch Francillon (1973: 151) Lafayettes Helden mit seinem „égocentrisme étonnant“ und seinem „tempérament de mondain superficiel“ (ibid.: 155), selbst wenn er unter dem Einfluss seiner Passion eine gewisse Transformation durchmacht (vgl. ibid.: 152ff.). 315 Vgl. Haraway 1988. 316 Dubois 2012. 317 Sweetser 1992: 211. Vgl. auch Delacomptée 2012: 41; Esmein-Sarrazin 2014a: XXXIf. 318 Vgl. Lafayette 2014c: 401 (Vidame de Chartres), 425, 427 (Mme de Clèves), 460 (M. de Clèves). 319 „[…] le roman n’appelle explicitement aucune interprétation religieuse“, erklärt Levillain (1995: 75), die im moralischen Programm der Mme de Chartres allenfalls „des principes inspirés par un humanisme laïc teinté de jansénisme“ (ibid.: 65) identifiziert; ähnlich Rambaud (2006: 42), Dens (1988: 434) oder Malandain (1989: 86). Delacomptée charakterisiert die Princesse als „un roman presque entièrement <?page no="62"?> 62 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien auch in der zeitgenössischen Literaturwissenschaft stark vertretene - religiöse und speziell katholische Lafayette-Exegetik, deren theologisch inspirierte Lektüren, wenngleich teilweise durchaus erhellend, nicht selten auf Kosten der Vieldeutigkeit des Textes gehen und diesem bei Bedarf auch mit Hilfe rhetorischer und ideologischer Kunstgriffe die gewünschte christliche Conclusio abgewinnen. 320 profane“ (2012: 42), wenngleich „religieux […] dans son fond“ (ibid.: 51). Die Absenz konkreter „références religieuses“ (ibid.) konstatiert auch Francillon (1973: 144), der in Abgrenzung gegenüber Doubrovskys Negation jeglicher „transcendance vers le Divin“ im Roman (1959: 50) an dessen Ende dennoch eine implizite „conversion“ verortet (Francillon 1973: 177ff.). „[…] on a trop dit que Dieu est absent de ce livre“, notiert auch Durry (1962: 54), die die Moral der Heldin Lafayettes, für Dufour-Maître und Milhit „[u]ne princesse augustinienne“ (2004: 33), mit jener des Traité des passions assoziiert und auch den Schlüsselbegriff des repos unter cartesianischem Aspekt interpretiert (Durry 1962: 59, 72f.). Zu diesem vielschichtigen Konzept vgl. Fraisse (1961) und vor allem Stanton (1975), die gegen eine reduktive exklusiv ‚christliche‘ Auslegung des repos argumentiert (vgl. ibid.: 84); zu dessen „ambiguïté“ siehe auch Venesoen 1990: 114ff.; Campbell 1996: 197ff. Zum Überblick über unterschiedliche Positionen zur (Non-)Religiosität Lafayettes - Laudy (1969) prägt die Formel eines „jansénisme athée“ - und speziell der Princesse vgl. etwa Guers 1988 und insbesondere Esmein-Sarrazin, die der Princesse „[u]n augustinisme en demi-teinte, simple suggestion de l’œuvre“ attestiert (2014a: XXXff., hier zit. XXXI; 2014c: 1321ff.); zu diversen Formen der „conciliation entre fiction et religion“ im Gesamtwerk Lafayettes siehe auch Esmein-Sarrazin 2012. Zur jansenistischen resp. cartesianischen Dimension der Princesse vgl. Violato 1981; Cacciavillani 2006; Jackson 2010; Gilbert-Tremblay 2012; sowie die Übersicht über „Madame de La Fayette et les penseurs de son temps“ bei Francillon (1973: 186ff.), der abschließend „l’influence prépondérante de Pascal sur la romancière“ (ibid.: 205) betont; im Licht der Philosophie Pascals liest den Roman auch Camarero Arribas (2000). 320 Vgl. etwa den Abschnitt „Ethical and Religious Readings“ in Henry 1992a: Leiner räumt zwar ein, dass religiöse Praxis in Lafayettes Roman kein Thema sei (1992: 139), charakterisiert die Heldin aber dennoch als „Kontrastfigur proposed as an example to all women who fall into temptation“ (ibid.: 149); auch Mme de Chartres wird ohne Rücksicht auf literaturtheoretische Kollateralschäden aus moralisierender Perspektive als „a sincere Christian“ gewürdigt (ibid.: 141). Auf der „religious nature“ der Princesse insistiert auch Herausgeber Henry (1992c: 157). Die ‚Tugendlehre‘ der Mme de Chartres verortet er „clearly in the Catholic tradition“ (ibid.: 159), dies nicht ohne Sophismus: So zitiert er Alain Nidersts Feststellung, dass jene nirgendwo auf eine religiöse Argumentation („la vertu est récompensée par Dieu“ etc.) rekurriert (vgl. Niderst 1977: 117) - und lenkt seine Interpretation sogleich auf den rechten christlichen Weg zurück: „While it is true that we never hear her say this, we never hear her say the contrary […]“ (Henry 1992c: 159). In der Folge gerät der Text zusehends zur Konter-Kampagne gegen „those critics who seem to delight in extinguishing any spark of religion in La Princesse de Clèves“ (explizit beklagt Henry „a veritable campaign, ever since Auguste Comte, to negate the presence of God in Mme de Lafayette’s masterpiece“; ibid.: 168). Seiner Methode des negativen (Gottes-)Beweises bleibt der Autor bis zu seiner theologischen Conclusio treu, der der klassische prétexte tatsächlich nur mehr als solcher zu dienen scheint (ibid.: 168). Wie Marceaus Studie zu „The Christianity of Madame de Lafayette“ - „a Christian writer has produced a Christian novel“, hält der Autor kategorisch fest (1990, zit. nach Campbell 2006: 439; vgl. dazu Henry 1990) - illustriert auch Goss (2012) exemplarisch die Tendenz zur ideologischen Rekuperation der Princesse de Clèves für eine religiöse Agenda. Eine nuanciertere ‚christliche‘ Lesart bietet MacKenzie, der den Roman - unter Referenz auf Goldmanns Le Dieu caché (1955) - im Kontext des „revival of Augustinian theology“ situiert (1998: 38) und auch bei Lafayette die jansenistischen Schlüsselthemen und teils -termini ausmacht: So vernimmt er im Diskurs der sterbenden Mme de Chartres - „vous êtes sur le bord du précipice“ etc. (Lafayette 2014c: 366) - ein Echo des „abîme“ aus Pascals Pensées und damit Indiz der „Jansenist sensibility circulating in the novel“ (MacKenzie 1998: 41f.). MacKenzie stellt auch den Konnex zwischen ‚theologischen‘ und ‚feministischen‘ Lektüren der Princesse her: Wurde die retraite der Protagonistin in letzteren als Widerstands- und Evasionsstrategie angesichts einer patriarchalischen Gesellschaft gedeutet, so skizziert der Autor eine Interpretation des Endes als „a more fundamental(ist) refusal“, verweigere die Heldin <?page no="63"?> La Princesse de Clèves: Annäherungen an einen Klassiker 63 An dieser Stelle ist freilich keine theologische Diskussion der Princesse de Clèves intendiert, eines auch in ideologischer Hinsicht polyvalenten Textes, der sich - mit seiner diskreten Erzählinstanz, „hesitant interpreter of appearances and possibilities“ und „faithful recorder of unspoken feelings and intimate, often contradictory, thought processes“ - reduktiven Festschreibungen auf die eine oder andere ‚Botschaft‘ entzieht: „The absence of any privileged source of truth only intensifies the apparently unassailable ambiguity attaching to major questions of interpretation“, wie John Campbell bemerkt. 321 „L’œuvre n’est évidemment pas destinée à transmettre un message philosophique“, konstatiert Alain Niderst zu Lafayettes Roman, in seinen Augen „bien plus janséniste que les tragédies raciniennes“, aber auch von einem „‚cartésianisme triste‘“ geprägt. 322 Von Interesse ist hier vielmehr die poetologische Frage nach Erscheinungsformen und narrativen Funktionen diverser ideenhistorischer Versatzstücke in einem fiktionalen Text (so präsentiert sich im philosophisch-theologischen Kontext, wie François-Ronan Dubois argumentiert, 323 etwa die vraisemblance-Debatte in nuancierterem Licht), dessen auch ideologische Vielschichtigkeit durch das Prisma moderner und postmoderner Princesse-Variationen aufs Neue sichtbar wird. Eine beliebte Referenz stellt La Princesse de Clèves - weiterer Indikator für die künstlerische wie kritische Produktivität des Textes - aber nach wie vor auch für akademische Diskurse abseits der Literaturwissenschaft dar. So rekurrieren gleich mehrere Beiträger eines im Jahr 2013 publizierten Bandes zur Liebessoziologie und -philosophie auf Lafayettes „Roman des Liebesverzichts“, 324 der - wenn auch in L’Amour et l’Occident nur knapp erwähnt 325 - Denis de Rougemonts Theorie des amourösen obstacle ebenso plastisch illustriert wie René Girards Thesen zur mimetischen Dynamik des Begehrens; 326 auch Niklas Luhmann setzt doch „not just a patriarchal order but also the entire tangle and turmoil of human values“; in diesem Sinne meditiert er über die philosophische „radicalization“ des repos (ibid.: 45f.). 321 Campbell 2006: 438. Campbell arbeitet in seinem ideologischen Panorama der Princesse deren Ambivalenzen und Widersprüche - so zwischen jansenistischer und stoischer Perspektive auf die Problematik der Willensfreiheit (ibid.: 443f.) - heraus; auch am Konzept des repos zeigt der Autor, „how difficult it is to find an ideological cap that comfortably fits La Princesse de Clèves“ (ibid.: 445), die sich hartnäckig der Eingliederung in „the comfort zone of ideological coherence“ entzieht (ibid.: 450). 322 Niderst 1973: 188, 137, 189. 323 „Il importe peu, à vrai dire, que La Princesse de Clèves soit marquée par l’augustinisme, le cartésianisme ou un curieux mélange des deux influences: il suffit ici de remarquer que deux courants philosophiques majeurs de l’époque permettent de rendre compte du parcours existentiel de l’héroïne, de sorte qu’il est faux de dire que la subjectivité qui s’y met en œuvre est parfaitement inédite […]“ (Dubois 2011). 324 Köhler 1959: 9. Vgl. die Princesse de Clèves-Bezüge in Birnbaum 2013, konkret bei Laurens (2013: 154f.), Cannone (2013: 213), Finkielkraut (2013b: 269f.). Als liebesliterarische Referenz par excellence taucht die Princesse auch in anderen Kontexten unvermutet auf, so in Maris’ Reflexionen über Houellebecq économiste (2016: 21): „Personne ne parlera […] de l’amour comme Mme de La Fayette avec La Princesse de Clèves […].“ 325 Vgl. Rougemont 1979: 215. 326 Vgl. Girard 1961. „[…] aucun amour n’est originel“ (Barthes 1977: 163): Dies gilt auch für die Passion der Princesse für Nemours (und vice versa). Indem sie sich in den vollkommensten aller Höflinge verliebt (nicht umsonst errät der eifersüchtige Ehemann das plausibelste Objekt ihrer Leidenschaft: „M. de Nemours lui vint d’abord dans l’esprit, comme ce qu’il y avait de plus aimable à la Cour: […]“; Lafayette 2014c: 424), gehorcht die auf ihre Singularität so erpichte Princesse ihrerseits dem mimetischen Gesetz der Liebe (vgl. auch ibid.: 352), dessen temporär erfolgreich geschlossenen Zirkel der Prince de Navarre in der Histoire de Madame la comtesse de Tende (1718/ 1724) resümiert: „Je suis amoureux et aimé de la plus aimable personne de la Cour […]“ (Lafayette 2014d: 68). Auch die Passion Nemours’ nährt sich <?page no="64"?> 64 Text und Kontext: Theoretische und terminologische Präliminarien sich in Liebe als Passion im Zusammenhang mit der klassischen „Ausdifferenzierung“ einer „Semantik der Passion“ ausführlich mit der Princesse auseinander. 327 *** Bevor nun aus der synthetischen Perspektive eines reflektierten Methodenpluralismus, der literatur-, kultur- und medienwissenschaftliche Ansätze verbindet, unterschiedliche Facetten der produktiven Rezeption der Princesse de Clèves im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausgehend von einem intermedialen künstlerischen - literarischen und filmischen - Corpus analysiert werden, scheint zunächst eine kurze Darstellung der bereits angesprochenen politisch motivierten Princesse-Renaissance der letzten Dekade am Platze - ist dies doch jener Kontext, in dem Lafayettes Roman (nicht nur) in Frankreich bis auf Weiteres quasi unweigerlich auch wahrgenommen wird. aus der Tatsache, dass Mme de Clèves die schönste Frau des Hofes - und die Frau eines anderen - ist. Was ihren mittlerweile an seiner unglücklichen Liebe zugrunde gegangenen Ehemann betrifft, kommentiert die Princesse selbst - in Vorwegnahme quasi der Theoriebildung Rougemonts - die Rolle des ‚Hindernisses‘ als Liebesgenerator und -garant; eine Erkenntnis, die sie zugleich vor Nemours fliehen lässt: „M. de Clèves était peut-être l’unique homme du monde capable de conserver de l’amour dans le mariage. […] peut-être aussi que sa passion n’avait subsisté que parce qu’il n’en aurait pas trouvé en moi; mais je n’aurais pas le même moyen de conserver la vôtre: je crois même que les obstacles ont fait votre constance“ (Lafayette 2014c: 471). Derart erscheinen sämtliche Akteure des zentralen Dreiecks „driven by the obstacles to their desire, rather than by some personal sentiment of love that is theirs alone without reference to others“ (Koppisch 1992: 203). 327 Luhmann 1994: 73. Vgl. vor allem die Abschnitte „Evolution der Liebessemantik“ (49ff.), „Freiheit zur Liebe. Vom Ideal zum Paradox“ (57ff.) und „Passion. Rhetorik des Exzesses und Erfahrung der Instabilität“ (71ff.). <?page no="65"?> „Clèves générale! “: Die Prinzessin auf den Barrikaden È classico ciò che tende a relegare l’attualità al rango di rumore di fondo, ma nello stesso tempo di questo rumore di fondo non può fare a meno. È classico ciò che persiste come rumore di fondo anche là dove l’attualità più incompatibile fa da padrona. 1 La Princesse de Clèves fait partie d’un petit nombre de romans français qui, pour quelque raison, sont toujours d’actualité. 2 „L’on parla ensuite de La Princesse de Clèves, car le moyen de n’en pas parler? “ 3 So konstatiert Valincour, zeitgenössischer Kritiker der wenige Monate zuvor anonym erschienenen Princesse, deren Omnipräsenz in den Pariser (und Provinz-)Salons des Jahres 1678. Fast dreieinhalb Jahrhunderte später findet sich der Roman, „point de crispation sensible dans une société qui excède largement celle des lettrés ou des universitaires“, 4 erneut in aller Munde wieder: Setzt schon um die Jahrtausendwende eine Phase intensivierter produktiver - literarischer, theatralischer, kinematografischer - Rezeption ein, so wird das ehrwürdige Monument der französischen Literaturgeschichte zur Zeit der Minister- und vor allem der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys auch zum Politikum. „Je lis La Princesse de Clèves“: Zur Genese eines Protestdiskurses „Sarkozy, l’homme qui sauva la princesse de Clèves“, titelt ironisch Olivier Beuvelet. 5 In der Tat kann es dem Prestige überaus zuträglich sein, die richtigen Feinde zu haben, so auch in diesem Fall: Es ist Nicolas Sarkozy höchstpersönlich, der als Minister, Präsidentschaftskandidat und kontroverser Präsident der Princesse zu einem regelrechten neuen Hype verhilft, indem er wiederholt öffentlich seine Antipathie gegen das Werk Lafayettes bekundet. Bereits bei einer Wahlveranstaltung am 23. Februar 2006 äußert Sarkozy sich abfällig über die Princesse, wobei sein anti-literarischer Brachialhumor auch im Kontext einer bestimmten gesellschaftspolitischen Positionierung zu sehen ist: 6 „L’autre jour, je m’amusais, on s’amuse comme on 1 Calvino 1991: 18. 2 So das programmatische Statement der Organisatoren des Kolloquiums Princesse de Clèves 2014. Anatomie d’une fascination (Paris, 05.-07.03.2014). URL: http: / / www.fabula.org/ actualites/ princessede-cleves-2014-anatomie-d-une-fascination_61181.php. 3 Valincour 2001: 154. 4 Princesse de Clèves 2014. Anatomie d’une fascination, loc. cit. 5 Beuvelet 2009. 6 Vgl. Citton 2007: 223: „Il est toutefois significatif et triste de voir un Président considérer un monde où l’on demanderait à la guichetière ce qu’elle pense de La Princesse de Clèves comme un repoussoir absurde et kafkaïen - alors que cela pourrait au contraire constituer la visée inspiratrice d’un monde possible éminemment désirable.“ Die insistenten Anti-Princesse-Äußerungen Sarkozys, die sich in den Gesamtkontext eines affichierten akademischen Utilitarismus einfügen und von einem „manifestly vexed relationship with the humanities“ zeugen, können auf mehreren Ebenen interpretiert werden: „as a dismissal of literature as irrelevant; as a reductive vision of the study of literature […]; as a kind <?page no="66"?> 66 Ideologie und Protestkunst: Ambivalenzen eines politischen Hypes peut, à regarder le programme du concours d’attaché d’administration. Un sadique ou un imbécile, choisissez, avait mis dans le programme d’interroger les concurrents sur la Princesse de Clèves. Je ne sais pas si cela vous est souvent arrivé de demander à la guichetière ce qu’elle pensait de la Princesse de Clèves? Imaginez un peu le spectacle.“ 7 In leicht modifizierter Form greift er das Thema im Rahmen einer Versammlung neuer UMP-Mitglieder am 10. Juni 2006 in Paris auf: Je regardais l’autre jour quelque chose de passionnant: le programme pour passer de rédacteur à attaché principal. Figurez-vous qu’il y a un sadique qui avait mis une question dans le programme demandant si le candidat avait lu la Princesse de Clèves… Je ne sais pas si vous êtes souvent allés au guichet d’une administration pour demander à la guichetière si elle avait lu la Princesse de Clèves… En tout cas, je l’ai lu il y a tellement longtemps qu’il y a de fortes chances que j’aie raté l’examen! 8 Im Jahr 2008 setzt der nunmehrige Präsident, „qui déteste autant le subjonctif passé que Madame de Lafayette“ 9 (s. o.) und der bei Gelegenheit selbst ein stolzes Bekenntnis zur eigenen Non-, ja Anti-Intellektualität ablegt, 10 seine „croisade […] contre La Princesse de Clèves“ 11 fort, dies zunächst im Namen der „qualité de vie d’un fonctionnaire“, der „possibilité pour quelqu’un d’assumer sa promotion professionnelle sans passer un concours ou faire réciter par cœur la Princesse de Clèves! “. 12 Die Princesse wird damit zusehends zum „lieu commun du discours présidentiel“, „toute allusion […] enchérissant sur la précédente dans un geste délibéré d’autocitation et de complicité avec le public“. 13 Wenige Monate später (am 24. Juli) of know-nothing critique of deeply ingrained features of the French educational system; as a populist posture aimed at connecting with all those who did not enjoy school; as a patronizing dismissal of civil servants as paper-processing automatons […]; and as a revealing glimpse at the president’s gendered vision of the lower civil service […]“ (Cohen 2011). William Marx geht in seinen Reflexionen über La Haine de la littérature (2015), über Rhetorik und Ideologie der „antilittérature“ (charakterisiert als „tout discours qui s’oppose à la littérature et la définit en s’y opposant“; ibid.: 58f.) ausführlich auf die ‚Affäre‘ Sarkozy ein, die in seinem Schema der „quatre procès principaux intentés à la littérature“, nämlich „au nom de l’autorité […] au nom de la vérité […] au nom de la moralité […] au nom de la société“ (ibid.: 114ff.) letztere Kategorie illustriert. Vgl. zur Geschichte antiliterarischer Diskurse auch bereits Marx 2005. 7 Sarkozy 2006a. Das gleiche - leicht ergänzte - Statement, „version ‚presse‘“, findet sich erneut in einem Interview mit 20 minutes vom 20. April 2007; vgl. „La Princesse de Clèves“ (SIEFAR), art. cit. Der mittlerweile geflügelte Satz über die mit unreflektiertem Snobismus prototypisierte guichetière zieht eine lange Spur durch den protestpolitischen Diskurs im Zuge der ‚Affäre‘; eine „fable expresse“ mit dem Titel La princesse et la guichetière wird bei einer Veranstaltung zum Thema Sarkozy et la Princesse. De quoi la Princesse de Clèves est-elle le NON? geboten (Université Stendhal Grenoble 3, 12.02.2009). Merlin-Kajman kommentiert ebenso wie Cohen (2011) und Feibelman (2012) die gender-spezifischen Implikationen dieser Aussage betreffend „le crime de vouloir faire étudier La Princesse de Clèves à une guichetière - risquant de donner à cette dernière, par hypothèse, la conscience d’une supériorité féminine civilisatrice“ (2010: 60). 8 Sarkozy 2006b. 9 „La Princesse de Clèves, femme de l’année, grâce à Nicolas Sarkozy“ (Blog: Culture Critique, 04.01.2007). 10 „Oh, je ne suis pas un intellectuel! Je suis quelqu’un de concret“, erklärt Sarkozy im Juni 2007 auf TF1 (zit. nach Istrati 2009). 11 Maré 2010: 52. 12 Sarkozy 2008. 13 Marx 2015: 3448ff. Im Rahmen des Protestdiskurses gegen Sarkozy wird das zitathafte Spiel rund um diesen ‚Gemeinplatz‘ strategisch - und nicht immer ganz redlich - fortgesetzt: „Pfff, La Princesse de Clèves! Voilà ce que donne l’Éducation nationale pour épreuve d’examen! Étonnez-vous que cela aille si mal <?page no="67"?> „Clèves générale! “: Die Prinzessin auf den Barrikaden 67 verbindet Sarkozy beim Besuch in einem Ferienzentrum in Batz-sur-Mer (Loire-Atlantique) die Forderung nach Anerkennung der Freiwilligenarbeit vor Ort bei den administrativen concours wiederum mit einem Seitenhieb auf die Princesse („[Ç]a vaut autant… que de savoir par cœur La Princesse de Clèves“) und fügt ein persönliches Geständnis literarischen Leidens hinzu: „Enfin, j’ai rien contre… enfin, bon, enfin… C’est parce que j’avais beaucoup souffert sur elle…“. 14 Im Verein mit seinem Sprecher André Santini, „fossoyeur de la littérature dans la fonction publique“, 15 sagt er einem „académisme ridicule“ den Kampf an; 16 nicht ohne eine gehörige Dosis mauvaise foi beruft Santini sich ausgerechnet auf Pierre Bourdieu, würden doch durch die concours-Anforderungen in puncto akademischer Bildung - „des questions lamentables, des questions de pure connaissance élitiste“ 17 - Kandidaten aus nichtbildungsbürgerlichen Familien diskriminiert, kurz: „Whatever social and ethnic inequalities plagued the French civil service, c’est la faute à Madame de Lafayette.“ 18 si c’est ce qu’on enseigne à nos enfants! “, wird aus den oben zitierten Passagen unter gezielt polemischer Variation und Rekontextualisierung im Comic La Face karchée de Sarkozy (Cohen/ Malka 2006: 122). Diese Version der Lyonnaiser Rede Sarkozys zitiert in einem (orthografisch höchst defizitären) Schreiben an seine Parteigänger auch Paul-Marie Coûteaux, politischer Opponent souveränistischer Orientierung (wobei nachträglich schwierig zu eruieren ist, „si les auteurs de la bande dessinée ont repris la citation de P. M. Couteaux ou si c’est l’inverse“); u. a. an diesem Exempel analysiert Grinshpun (2011) die Dynamik der „discours-relais“ in der „affaire de ‚La Princesse de Clèves‘“. 14 Zit. nach „La Princesse de Clèves“ (SIEFAR), art. cit. Wenig überraschend provoziert Sarkozys Statement zu seinen Leiden an bzw. auf der Princesse eine Reihe spöttischer ‚psychoanalytischer‘ Kommentare: „‚Sur elle‘, quelle bonne blague! Eh bien non, Monsieur le Président, pas ‚sur elle‘, car justement, ‚La Princesse de Clèves‘ est une femme imprenable. Vous pouvez être ‚sur‘ les médias, ‚sur‘ le Parlement, ‚sur‘ les grandes entreprises, mais sur elle, vous ne pouvez pas“ (Riché 2008). Auch Cohen (2011) verweist auf dieses „autobiographical detail that screams for psychoanalytical explanation“; über die paradoxe „passion“ Sarkozys für die Princesse meditiert Lançon (2009a). Ebendiese Formulierung favorisiert auch die (in diversen Zitations-Kontexten typografisch zu verfolgende) Oszillation zwischen der Princesse und der Princesse bzw. den diskursiven „glissement du roman au personnage“: „À partir de là, le dialogisme interdiscursif peut se déployer à l’infini, selon la façon dont on interprète le roman La Princesse de Clèves et son personnage principal comme métonymie et/ ou métaphore: de la culture, des humanités, de l’époque classique, de l’université, etc.“ (Grinshpun 2011: Abs. 36, 33). 15 Jourde 2010: 74. 16 Zit. bei Gabizon 2008. Vgl. die Interviews mit André Santini auf LCI am 20.11.2007 (URL: http: / / discours.vie-publique.fr/ notices/ 073003600.html) und am 10.06.2008 (URL: http: / / discours.viepublique.fr/ notices/ 083001876.html), auf Radio Classique am 05.06.2008 (URL: http: / / discours.viepublique.fr/ notices/ 083001791.html), sowie seinen Auftritt in 20 minutes am 19.02.2008 (URL: http: / / discours.vie-publique.fr/ notices/ 083000618.html). Wie Santini dem Figaro gegenüber einräumt, war die Sekretärin Sarkozys bei einem derartigen concours ausgerechnet an der Frage nach der Autorschaft der Princesse gescheitert (Gabizon 2008; Gallix 2009). 17 Santini im Interview mit Radio Classique (05.06.2008). 18 Cohen 2011. „En gros, André Santini et Pierre Bourdieu, même combat“, spottet Jourde (2011a: 80) in seiner Analyse dieser para-präsidialen Argumentation, die ihr Programm der Utilitarisierung des Bildungswesens mit einer vermeintlich anti-diskriminatorischen Rhetorik verbrämt. Jourde (vgl. vor allem den Abschnitt „Littérature et fonction publique“; ibid.: 126ff.) zeichnet die ideologischen Bruch- und Konfliktlinien einer öffentlichen Debatte nach, in deren Rahmen Santinis pseudo-Bourdieu’sches Plädoyer u. a. vom Conseil représentatif des associations noires de France unterstützt wurde: „Faut-il comprendre que la littérature, ce n’est pas pour les Noirs? On a l’impression parfois que la défense de la diversité atteint des sommets d’aberration qui la font rejoindre les pires préjugés racistes. […] Pourquoi le CRAN ne militerait-il pas, plutôt, pour que tout le monde puisse lire et comprendre La Princesse de Clèves […]? “ (ibid.: 127f.). Eine kritische Auseinandersetzung mit der Instrumentalisierung Bourdieus im Kontext der ‚Affäre‘, aber auch mit dem Diskurs des Soziologen selbst - der, wenngleich <?page no="68"?> 68 Ideologie und Protestkunst: Ambivalenzen eines politischen Hypes Die (prä-)präsidiale Anti-Princesse-Kampagne gerät zum sensationellen Erfolg - freilich anders als erwartet: Im Handumdrehen wird der Roman Lafayettes zum „étendard de la révolte“, 19 seine Heldin, literarische „femme de l’année“ 2006, 20 zum „porte-drapeau de l’antisarkozysme“ 21 bzw. zur „première opposante de France“, 22 Symbolfigur der Protestbewegung gegen die Bildungs- und Hochschulpolitik der Regierung Sarkozy. Libération beobachtet gespannt das Duell „Une Princesse contre le Président“, 23 „Clèves générale! “ titelt der Nouvel Observateur; 24 Agnès Varda wird der Schlachtruf „Marche ou Clèves! “ zugeschrieben. 25 Nicht nur Charlie Hebdo fällt über Sarkozy her; 26 „Sarkozy va en bouffer, de la Princesse de Clèves“, konstatiert schadenfroh auch Marianne („la Princesse de Clèves survivra à Sarko 1er“). 27 Die „affaire ‚Princesse de Clèves‘“, 28 die auch für internationales Aufsehen sorgt, 29 liefert vor dem Hintergrund des laufenden Konflikts um die berüchtigte ‚loi LRU‘ (Loi relative aux libertés et responsabilités des universités) alias ‚loi Pécresse‘ 30 den Anlass für eine ganze Reihe parodistischer Protest-Aktionen. Unter dem Motto „Le Sarkothon 2009“ ruft der BibliObs im Jänner 2009 seine Leserschaft zum postalischen Literaturbombardement in Richtung Élysée auf - großzügige Spender hätten neben Michel Foucaults Surveiller et punir, Henri Bergsons Le Rire oder auch einem Opus mit dem vielversprechenden Titel La Culture générale pour les nuls bereits - Reaktion auf Sarkozys anti-altphilologische Statements - Platons Politeia sowie Caesars De bello Gallico in Aussicht gestellt. 31 Nicht fehlen darf im präsidentiellen „[à] strictement parler […] pas antilittéraire“, doch „de terribles armes aux adversaires de la littérature“ geliefert habe - unternimmt Marx (2015: hier zit. 3854ff.). 19 Duval 2009. 20 „La Princesse de Clèves, femme de l’année…“, art. cit.: „La femme de l’année 2006, sur le plan politique, vous la connaissez. […] Mais la femme littéraire […]? Sans hésitation, la Princesse de Clèves, ou plutôt la romancière, c’est à dire Mme de Lafayette.“ 21 Assouline 2009. 22 Pineau 2009. 23 Merlin-Kajman 2009. 24 Leménager 2009b. 25 Vgl. ibid.; Pineau 2009. 26 Vgl. Val 2008. 27 Roels 2009. „Sarko 1 er “: Besagten ‚royalen‘ Spitz- und Spottnamen für den vielverachteten Präsidenten popularisiert nicht zuletzt die Comic-Fortsetzung Sarko 1 er . La Face karchée de Sarkozy. La suite (Cohen/ Malka 2007). 28 Vgl. Henri 2009. 29 Vgl. zur internationalen Rezeption des „Princesse de Clèves-incident dat Nicolas Sarkozy in verlegenheid bracht“ etwa Herman (2013), der die Princesse-Vogue auch als Medienphänomen thematisiert (ibid.). 30 Einen Überblick über die geplanten Reformen bietet Noille (2009) im Namen des Vereins Sauvons l’Université, dies nicht ohne parodistischen Impetus: „Je ne sais pas si cela vous est souvent arrivé de demander à la Princesse de Clèves ce qu’elle pensait du texte des décrets portant modification des décrets de 1972 relatifs aux statuts des enseignants… Imaginez un peu le spectacle! “ Vgl. auch die „Lettre ouverte de 130 Enseignants-chercheurs de l’Université Paris-Ouest Nanterre à Valérie Pécresse et à Xavier Darcos“ (12.06.2009) mit kollektivem Protest gegen „le viol en réunion de la Princesse de Clèves et de l’École de la République“. Ein Jahr nach der großen Streik- und Protestbewegung zieht Baron (2010) die Bilanz „de 14 semaines de grèves, de luttes de protestations inentendues“. 31 „Vous avez le droit de faire littérature ancienne, mais le contribuable n’a pas forcément à payer vos études de littérature ancienne […]“, erklärt Sarkozy (2007a). „Français, encore un effort pour devenir cons. Nous y sommes presque“, mokiert sich Jourde (2010: 72) über jene anti-humanistische Obsession der ‚professionnalisation‘. Vor dem Hintergrund der internationalen Finanzkrise parodiert der Nouvel Observateur einen obsoleten bildungspolitischen Utilitarismus, der Universitäten als Produktionsstätten <?page no="69"?> „Clèves générale! “: Die Prinzessin auf den Barrikaden 69 Bücher-Geschenkkorb natürlich auch die Princesse, zumindest in Form eines selbst dem bekennenden Lafayette-Phobiker zumutbaren Einführungsbändchens: Que votre volonté soit faite, Monsieur le Président. […] Kärchérisons toutes les fables qui façonnent notre grand récit national. […] Et disons à Mme de La Fayette, cette sœur spirituelle de Corneille: „Casse-toi, pauvre c…“ La Princesse de Clèves? „J’ai beaucoup souffert par elle“, avez-vous déclaré […]. Dans la peur d’être accusés de torture par Amnesty International, nous vous en adressons, non le texte intégral, mais le „Profil d’une œuvre“ . En vous souhaitant une prompte résilience. 32 Auch Régis Jauffret appelliert in der Sendung La Grande Librairie auf France 5 an seine Landsleute, en masse Exemplare des Romans an den Élysée-Palast zu schicken, „pour protester contre cette espèce d’éloge de l’inculture“. 33 Im Februar 2009 folgen im Rahmen des Universitätsstreiks Marathon-Lesungen der Princesse - „geste politique“, 34 polyphone Performances mit „des dizaines de voix et d’accents contrastés“ 35 - vor dem Pariser Panthéon 36 und in mehreren anderen französischen Städten. 37 Beim Salon du livre 2009 werden türkisblau-weiße Badges mit der Aufschrift „Je lis La Princesse de Clèves“ ausgegeben, 38 die - Symbol eines leidenschaftlichen aveu anderer Art - bei Literaturfreunden und/ oder Anti-Sarkozy-Protestwilligen reißenden Absatz finden und „en un temps record“ auch schon wieder vergriffen sind. 39 vermeintlich unmittelbar rentablen Wissens versteht: „Vous n’aimez pas, n’est-ce pas, le latin et le grec? Cela coûte cher, cela ne sert à rien […] ‚L’État n’est pas obligé de financer les filières qui conduisent au chômage‘, disiez-vous […]. Vous avez bien raison: les 20 millions de chômeurs supplémentaires que Juan Somavia, directeur général du Bureau international du Travail, prévoit pour 2009 ont manifestement gâché leur belle jeunesse à traduire Juvénal et Euripide. Même les hellénistes et les latinistes de chez Lehman Brothers n’ont plus de job. Bien fait pour ces bénédictins“ (Drillon/ Pliskin 2009). 32 Ibid. 33 „La Princesse de Clèves, l’autre star du Salon du Livre“ (Le Nouvel Observateur, 18.03.2009). 34 Merlin-Kajman 2010: 59. 35 „La Princesse de Clèves en marathon contre Sarkozy“ (Les Inrockuptibles, 17.02.2009). 36 Video-Aufnahmen der Pariser Marathon-Lesung vom 16. Februar 2009, eröffnet durch Princesse- Akteur Marcel Bozonnet und Louis Garrel, Darsteller des Nemours in Christophe Honorés La Belle Personne, finden sich auf URL: http: / / www.dailymotion.com/ video/ xsy16v_la-princesse-de-cleves-ausecours-des-enseignants-chercheurs_news („La Princesse de Clèves au secours des enseignantschercheurs“; Le Parisien, 17.02.2009). 37 So wird auch in Aix-en-Provence für den 18. Februar zum Princesse-Marathon - Protest sowohl gegen die geplante Universitätsreform als auch allgemein gegen den „mépris de l’omni-président pour la culture“ - aufgerufen (URL: http: / / www.fabula.org/ actualites/ comite-lafayette-du-pays-d-aix-lecturemarathon_28926.php). Poitiers („Marathon littéraire de La Princesse de Clèves“) ist ebenso dabei wie einen Tag später Montpellier („La Princesse de Clèves“ [SIEFAR], art. cit.); auch Nancy liest Lafayette auf der Place Stanislas, samt ausführlicher Begründung „Pourquoi lire La Princesse de Clèves? “ (Rémy 2009). 38 „I classici sono quei libri di cui si sente dire di solito: ‚Sto rileggendo…‘ e mai ‚Sto leggendo…‘“: Getreu dieser Maxime Italo Calvinos (1991: 11) fordert Raphaël Sorin eine persönliche Alternativ-Version des Badges mit der Aufschrift „Je relis la Princesse de Clèves“ ein (Leménager 2009c). Detail am Rande: Waren diese Badges nicht in den Farben der Princesse gehalten (möglicherweise aufgrund nicht ganz unproblematischer anderweitiger Konnotationen), so erweisen sich etliche Leser als diesbezüglich durchaus sensibilisiert; unübersehbar die teils explizit als Hommage an Lafayettes Heldin deklarierte Präsenz von allerlei gelben Blumen, Schals etc. anlässlich des Pariser Lektüre-Marathons, auch wenn, wie ein „gréviste“ verschmitzt erklärt, Gelb ja normalerweise die Farbe der Streikbrecher sei („La Princesse de Clèves au secours des enseignants-chercheurs“, loc. cit.). 39 Pineau 2009; Leménager 2009c. Zu dieser höchst erfolgreichen „campagne de marketing viral“ vgl. auch Solym 2009a und 2009b. <?page no="70"?> 70 Ideologie und Protestkunst: Ambivalenzen eines politischen Hypes Bald bilden sich anlässlich dieser in neuem medialen Kontext ausgetragenen Querelle diverse Facebook-Gruppen pro (oder auch contra) Princesse; parallel vollzieht sich die „irruption de la nouvelle, devenue point de focalisation d’une réflexion tous azimuts, dans les blogs“. 40 Nicht nur die „population des lettres“, 41 sondern auch Politikerinnen und Politiker, 42 Schauspielerinnen (so Isabelle Adjani) und Philosophinnen (wie Élisabeth Badinter) solidarisieren sich mit Lafayette und ihrer Heldin. 43 Bei einer Télérama-Rundfrage unter hundert Schriftstellern, die jeweils ihre zehn Lieblingsbücher anführen sollten, landet die Princesse auf dem dritten Platz (hinter Prousts Recherche und Joyces Ulysses). 44 In Grenoble wird bei einem universitären „Cours ouvert à tous“ unter der Devise Sarkozy et la Princesse. De quoi la Princesse de Clèves est-elle le NON? literatur-politisiert; 45 nicht zufällig wird dieses „symbole du mouvement de résistance contre la destruction de l’université“ 46 wieder aufs Programm des concours der École normale supérieure (Lettres et sciences humaines) von Lyon gesetzt. 47 Im Pariser University of Chicago Center findet am 27. April 2009 ein kurzfristig organisiertes Kolloquium unter dem Titel La Princesse de Clèves fait de la politique statt; 48 der (rhetorischen) Frage „Faut-il encore lire La Princesse de Clèves? “ geht auf Initiative des Théâtre 95 eine andere Tagung in Cergy-Pontoise am 5. Juni 2010 nach. 49 Die Princesse als Bestseller und als Waffe: Ambivalenzen eines politischen Hypes Bei diesem kleinen - gewiss nicht erschöpfenden - Überblick über den zeithistorischen Kontext der ‚Affäre‘ wollen wir es an dieser Stelle bewenden lassen; die Ambivalenzen dieses hoch politischen Princesse-Hypes sind zweifellos bereits deutlich geworden. Ein hyperbolischpanegyrischer Protestdiskurs, der die Aktualität der Princesse de Clèves entgegen Sarkozys Denunziation einer vermeintlichen „œuvre surannée, inutile“ 50 zu verteidigen sucht, trägt para- 40 Grande 2010: 64. 41 Schlanger 2008: 163. 42 Nicht ohne Raffinesse konter-attackiert bereits 2006 Jean-Pierre Sueur, Senator des Loiret, den damaligen Innenminister Sarkozy in Sachen Lafayette: „M. Jean-Pierre Sueur s’étonne auprès de M. le ministre d’État […] des propos qu’il a tenus à Lyon le 23 février 2006 […] Il lui demande […] si la lecture attentive de la description de la cour du roi Henri II que propose Mme de La Fayette dans son ouvrage La Princesse de Clèves ne confère pas à ce livre une singulière actualité qui pourrait, tout au contraire, l’inciter à en recommander [l]a lecture‘“ (Sueur 2006); in der Folge melden sich u. a. Ségolène Royal und François Bayrou zu Wort (vgl. Gallix 2009). Noch im Mai 2015 verweist Bildungsministerin Najat Vallaud- Belkacem, in parlamentarische Bedrängnis geraten, ihre UMP-Gegnerschaft empört auf Sarkozy bzw. „celui qui parmi vous vouait aux gémonies La Princesse de Clèves […]“ (BFMTV, 05.05.2015. URL: https: / / www.youtube.com/ watch? v=bz3jZYzww3U). 43 Vgl. Pineau 2009; Pliskin 2009. 44 Pineau 2009. 45 Vgl. URL: http: / / www.fabula.org/ actualites/ sarkozy-et-la-princesse-de-quoi-la-princesse-de-cleves-estelle-le-non-lecture-commentaire-a-_28931.php. 46 So das Motto eines „cours alternatif“, den Pierre Zoberman am 17. Februar 2009 im Rahmen der Pariser Protest- und Streik-Aktionen hält; vgl. „La Princesse de Clèves“ (SIEFAR), art. cit. 47 Vgl. Leménager 2009b. 48 Vgl. URL: http: / / www.fabula.org/ actualites/ la-princesse-de-cleves-fait-de-la-politique_30808.php. 49 Vgl. „La Princesse de Clèves“ (SIEFAR), art. cit. 50 Vgl. Moreau 2010: 8. <?page no="71"?> „Clèves générale! “: Die Prinzessin auf den Barrikaden 71 doxerweise dazu bei, den Roman erst recht als Gegenstand einer stereotypen Bewunderung „par convention“ 51 zu positionieren, 52 zugleich mit dem Werk selbst auch jenen „processus de sacralisation“ 53 zu aktualisieren bzw. sogar zu forcieren, der der kreativen Auseinandersetzung mit einem implizit in den „domaine de l’édification“ 54 verbannten Text nicht eben förderlich ist. „[…] les éloges du roman tendent à l’hyperbole“, 55 bemerkt Margot Brink allgemein über den literarhistorischen Status der Princesse; gerade im Rahmen der ‚Affäre‘ sticht der inflationäre Gebrauch trivialer Topoi über die ‚ewige Schönheit‘ von Lafayettes ‚unsterblichem Werk‘ (etc.) ins Auge - dies auch im Diskurs autorisierter Kommentatoren, Schriftsteller ebenso wie Kritiker und Literaturwissenschaftler. 56 Selbst Pierre Assouline verfällt hier in den Ton eines betulichen Pflicht-Enthusiasmus („Est-il besoin de rappeler que La Princesse de Clèves, modèle d’intelligence et de finesse dans l’analyse, est la matrice de la littérature moderne? À ce titre, ce livre fait partie du bagage culturel de tout honnête homme de notre temps […]“ 57 ), den Jean-Michel Delacomptée mit seiner pathetischen Verdammung der ‚blasphemischen‘ Attacke Sarkozys auf die zum Nationalheiligtum erklärte Princesse freilich spielend noch überbietet: „J’y vois un objet saint, ou presque. […] Astre où s’inaugure le roman moderne, il trône au firmament. Dès lors, gare aux profanations: le vili- 51 Schlanger 2008: 165 (hier konkret zu zeitgenössischen Lesarten Pascals und Rousseaus). 52 Wie Herman (2013) betont, fungiert die Princesse in diesem Kontext „als symbool van nationale identiteit en trots, als speerpunt van intellectueel verzets tegen cultuurbarbarisme“; in der Debatte geht es weniger um „de intrinsieke waarde van La Princesse de Clèves als wel de functie van het werk in een ruimer debat“. Provokant, aber treffend fasst der Autor aus non-französischer Außenperspektive die Dynamik oberflächlicher Monumentalisierung eines zum nationalen Kultobjekt erklärten Werkes zusammen: „Is La Princesse de Clèves met andere woorden iets anders dan Manneke-Pis, een symbool van nationale identiteit, dat men niet ongestraft uit het straatbeeld kan verwijderen? “ 53 Soriano 1975: 122. „Le sens commun et l’expérience courante nous apprennent qu’un classique […] est un ouvrage si beau et si célèbre qu’on finit par l’expliquer dans les classes. On l’édite dans des éditions scolaires et, à moins d’imprévu (sauf, par exemple[,] si un réalisateur de cinéma ou de télévision l’introduit dans un autre circuit que le circuit lettré et lui donne du même coup un autre public), il meurt alors de sa belle mort, protégé contre les indiscrets par sa haute réputation et entièrement livré aux érudits qui, seuls, savent ce qu’il a pu signifier à son époque et comment il faut le lire“, fasst Soriano (ibid.: 121f.) das ‚typische‘ Schicksal so manchen Klassikers zusammen. 54 Schlanger 2008: 128. 55 Brink 2009: 113. 56 „Proclamer que de toute évidence, La Princesse de Clèves était une part importante de la culture commune, c’était s’exposer à ne pas résoudre le problème politique au cœur de la polémique, qui n’était pas celui de la valeur objective de l’œuvre, mais au contraire celui de son accessibilité et de son partage“, betont Dubois (2013a); auch er konstatiert die relative Trivialität eines Großteils dieser protestdiskursiven Produktion, die sich im Wesentlichen auf das Recycling konventioneller Topoi rund um „le statut incontournable de l’œuvre, de sorte qu’il serait possible de lui substituer n’importe quelle autre œuvre classique“ beschränkt (ibid.). Moreau (2010: 9) weist freilich auch auf den - vor dem Hintergrund eines sich bereits zuvor abzeichnenden Princesse-Revivals - symptomatischen Charakter von Sarkozys Fehlgriff bei der Wahl seines literarischen Anti-Exempels hin: „On s’étonne qu’un Président de la République, ou l’un ou l’autre de ses conseillers, soit si ignorant d’une telle fascination, à la charnière du vingtième et du vingt et unième siècle, pour ce classique de la littérature française, ne s’interroge pas sur sa signification, n’y voie pas le symptôme d’une profonde remise en cause de certaines ‚valeurs‘ de notre société, ne s’imagine pas un instant qu’elle puisse être une partie de la réponse tant cherchée, à la question posée par lui en vain de l’identité française.“ 57 Assouline 2006. <?page no="72"?> 72 Ideologie und Protestkunst: Ambivalenzen eines politischen Hypes pender, c’est perdre son âme. L’ancien président de la République s’y est fracassé. On ne plaisante pas avec une œuvre qui caractérise notre littérature […].“ 58 Das Programm für eine organisierte „résistance à la démagogie anticléviste“ nimmt unübersehbar selbst einigermaßen demagogische Formen an. 59 Häme und Empörung über den „président cancre“ 60 - Sarkozys schulische Vorgeschichte („Ce chef d’œuvre du XVII ème siècle est-il à l’origine de son redoublement au lycée Chaptal de Neuilly? M. Sarkozy de Nagy- Bocsa a-t-il un compte personnel à régler avec Mme de Lafayette? “ 61 ) bleibt ebenso wenig aus dem Spiel wie sein öffentlich inszeniertes Beziehungsleben - gehen einher mit nostalgischer Verklärung früherer Präsidenten (so wird „la culture qu’avait François Mitterrand, qui conversait avec Marguerite Duras, ou même Jacques Chirac dans certains domaines“ beschworen 62 ). Gegenüber dem gemeinsamen Feindbild Sarkozy - „notre Ubu Président“, 63 „Ubu-Sarko“, 64 „Ubu Re-roi“, 65 als „Petit Nicolas“, 66 als „Nabot Hongrois“ 67 (etc.) verspottet - formiert sich in gelegentlich doch etwas billig anmutender bildungsbürgerlicher Solidarisierung die Front der Princesse-Verteidiger, von denen manch einer mindestens ebenso sehr Sarkozy-Gegner wie Lafayette-Liebhaber scheint. 68 58 Delacomptée 2012: 13. Ex negativo bestätigen Sarkozys Attacken den Sonderstatus dieses „livre […] emblématique des lettres françaises“ (Levy 2014); die Princesse wird hier nicht als konkreter Text „pour elle-même“ rezipiert, sondern spielt „un rôle emblématique, pour l’ensemble de la littérature“: „Que cette littérature soit valorisée ou dévalorisée est, de ce point de vue, indifférent“ (Dubois 2014). 59 Assouline 2006. Nicht zu Unrecht wirft ein offenbar literatur-affiner User (‚Boulgakov‘) Assouline im Anschluss an dessen Blog-Eintrag seinerseits einen regelrechten „assaut de démagogie“ vor (13.12.2006). 60 „La Princesse de Clèves en marathon contre Sarkozy“, art. cit. 61 Assouline 2006. 62 Vgl. Pineau 2009. Den passenden Kommentar zu dieser Verklärung wie stets besserer früherer Zeiten, da unter literaturliebenden Präsidenten angeblich noch die Poesie im Élysée herrschte, liefert Duras (2012: 129) selbst: „Chirac disant à l’inauguration du Salon du Livre en 84 qu’il lisait de la poésie parce que la poésie c’est court et que c’est donc le mieux indiqué pour quelqu’un qui prend souvent l’avion […].“ 63 Vgl. die entsprechende Karikatur im Blog Les Plumes asthmatiques („Les classiques meurent aussi“, 30.05.2011). 64 Forum zu Assouline 2009 (‚Gérard‘, 16.02.2009). 65 Vgl. „Ubu Re-roi, pièce d’actualité, en attente de mise en scène“ (Fabula, 10.02.2009). 66 Assouline 2006. 67 Forum ibid. (‚montaigneàcheval‘, 15.12.2006). 68 Von bildungsbürgerlicher Selbstzufriedenheit trieft die „contre-proposition“ des emeritierten Literaturprofessors René Pommier, der als Reaktion auf Sarkozys Ausfälle vorschlägt: „Qu’on interdise à tous les admirateurs de Johnny Hallyday (Sarkozy, Chirac, Raffarin…) de postuler à de hautes fonctions publiques car nous sommes, semble-t-il, en droit d’attendre que ceux qui nous gouvernent aient dans tous les domaines un minimum de culture“ (zit. bei Assouline 2006). Treffend entlarvt Jourde einen allzu simplistischen Anti-Sarkozysmus in einem parodistischen Experiment unter dem Titel „De la culture en Sarkoland“ (2011a: 141ff.): Auf einen Pastiche des Protestdiskurses gegen Sarkozy folgt dessen raffiniert inszenierte Implosion samt Hinterfragung jenes „anti-sarkozysme obligatoire“, gleich doppelt konformistische Pose einer „fausse révolte“, die alle etwas nuancierteren Positionen abseits des Sarkozy- Bashings und des affichierten Princesse-Enthusiasmus mit dem Etikett „réac“ versieht und ins Ausgedinge des intellektuellen Feldes verbannt (ibid.: 144ff.). „Et si, en fait, Nicolas Sarkozy avait raison? “, wagt Marsollat (2011) vorsichtig „une hypothèse sacrilège“ samt kritischem Blick auf den Präsidenten, aber auch auf die „coalition bigarrée“ der „sarkophobes de toutes les obédiences“; dies wohlgemerkt nicht im Sinne einer prinzipiellen Abwertung der Princesse, sondern in Bezug auf ihre mehr oder mittlerweile womöglich weniger legitime „place au programme d’un concours administratif“. „La Princesse de Clèves, héroïne des bobos? “: In seiner ebenso betitelten „Chronique“ problematisiert auch Couturier (2012) den Opportunismus jener, deren politisches Empörungspotential sich als kontextuell überaus <?page no="73"?> „Clèves générale! “: Die Prinzessin auf den Barrikaden 73 Es gehört zu den Paradoxa dieses Protestdiskurses, dass er den verachteten „président cancre“ bis auf Weiteres fest neben der edlen Princesse etabliert hat. „La petite phrase a continué de coller à Nicolas Sarkozy, quoi qu’il fasse“; 69 umgekehrt scheint auch Lafayettes Heldin „notre storyteller de président“, 70 nunmehr ihrer paratextuellen Gefolgschaft inkorporiert, nicht mehr so einfach abschütteln zu können: „La princesse de Clèves […] forme désormais avec Nicolas Sarkozy un couple aussi inattendu qu’emblématique.“ 71 Von der Hartnäckigkeit dieser ‚parasitären‘ Assoziation zeugt die Tatsache, dass inzwischen kaum einer der internationalen Einträge zur Princesse auf Wikipedia - bei aller akademischen Zurückhaltung als aktuelle Zentral-Instanz populärer Wissensvermittlung nicht zu unterschätzen - ohne den obligaten Verweis auf Sarkozy auskommt. 72 Doch nicht nur in den Niederungen der Wikipedia-Welt weicht Sarkozy der Princesse nicht mehr von der Seite. Auch im literaturkritischen bzw. allgemein journalistischen Diskurs wird diese extravagante „Love Story contemporaine“ 73 eifrig fortgeschrieben; davon legt die Rezeption der 2014 publizierten Pléiade- Edition der Œuvres complètes Lafayettes - auch dieses schon vor der ‚Affäre‘ konzipierte Projekt entgeht nicht einer nachträglichen politischen Aufladung - eloquentes Zeugnis ab. Verzichtet variabel erweist. „J’avais été agréablement surpris de voir tant d’excellents esprits courir au secours de la Princesse de Clèves, prise à partie par Nicolas Sarkozy“, eröffnet er seine als Hommage getarnte Abrechnung - und verleiht darauf seiner strategischen Verwunderung Ausdruck, dass ebenjene im Protest gegen Sarkozy an vorderster Front engagierten „excellents esprits“ sich wenige Jahre später so nobel zurückhalten, als Sciences Po-Chef Richard Descoings im Dezember 2011 zur „suppression pure et simple de l’épreuve de culture générale“ in seinem Etablissement schreitet (Hervorhebungen im Original). Vor dem Hintergrund der „affaire Modiano“ im Herbst 2015 (mehr als zwei Wochen nach der Verleihung des Literaturnobelpreises an Patrick Modiano gesteht Kulturministerin Fleur Pellerin öffentlich ihre völlige Ignoranz seines Werkes ein) prangert Lapaque (2015) die „asymétrie“ der Reaktionen des intellektuellen Frankreich an, dessen Protestbereitschaft angesichts eines „César inculte venu de la droite“ sehr viel ausgeprägter scheint als gegenüber der Regierung seines PS-Pendants: „Ce qui est étonnant, c’est d’observer, aujourd’hui, qu’aucun des champions de La Princesse de Clèves, gardiens de l’honneur des belles lettres et du statut littéraire de la chère et vieille nation, ne se scandalise de la voir présentement tombée sous le joug d’un César inculte venu de la gauche […]. Une inculture serait-elle à ce point préférable à une autre? “ 69 Fabre 2011. 70 „Sarko et la culture ne font pas bon ménage“ (Charlie enchaîné, 24.04.2009). Vgl. zur Storytelling- Kultur der Ära Sarkozy auch Salmon 2010, insbesondere die Abschnitte „Henri Guaino, une mythologie de la France“ (200ff.) und „Les ‚histoires‘ de Nicolas et Ségolène“ (204ff.). 71 Debril/ Mandonnet 2009. 72 So geht die schwedische Version nach einer Kurzinformation zu Autorin, ursprünglich anonymer Publikation und Erscheinungsdatum des Romans („Prinsessan de Clèves är en roman av Madame de La Fayette som publicerades anonymt 1678“) und einer minimalistischen Inhaltsangabe („Berättelsen äger rum mellan oktober 1558 och november 1559 vid kung Henrik II av Frankrikes hov“) auf die ‚Affäre‘ Sarkozy viel ausführlicher ein als auf die Princesse selbst. Aber auch die spanische Fassung widmet Sarkozys „comentarios negativos sobre el libro“ und der folgenden Protestwelle eine im Vergleich zur Gesamtlänge des Artikels wiederum etwas disproportional anmutende Erörterung (und schließt mit einer Kurzpräsentation der ebenfalls in diesem politischen Kontext verorteten neueren filmischen Adaptionen). Und auch der insgesamt deutlich längere russische Eintrag thematisiert neben der Filmgeschichte der Princesse (das Interesse vor allem für Jean Delannoys Erstadaption erklärt sich hier nicht zuletzt durch den spezifischen Bezug zur in Russland nach wie vor sehr bekannten Hauptdarstellerin Marina Vlady) die ‚Affäre‘. Vgl. URL: https: / / sv.wikipedia.org/ wiki/ Prinsessan_de_Cl%C3%A8ves, http: / / es.wikipedia.org/ wiki/ La_Princesa_de_Cl%C3%A9veris, https: / / ru.wikipedia.org/ wiki/ Принцесса_ Клевская [26.09.2016]. 73 Vgl. Lançon 2009c. <?page no="74"?> 74 Ideologie und Protestkunst: Ambivalenzen eines politischen Hypes Herausgeberin Camille Esmein-Sarrazin betont auf jegliche namentliche Nennung - unweigerlich zugleich ‚Verewigung‘, wenn auch ex negativo - jenes ominösen „homme politique“, der aus der Attacke gegen die Princesse, vermeintliches „symbole d’une classe dirigeante élitiste et exclusive“, tagespolitisches Kapital schlagen zu können glaubte, 74 so illustriert ein kurzer Blick auf diverse Meldungen zum Thema - angefangen mit einer AFP-Depesche unter dem symptomatischen Titel „La Princesse de Clèves, moquée par Sarkozy, entre dans La Pléiade“ 75 - die Omnipräsenz des längst fest etablierten Klischees. 76 Hat die Protestkultur, der diese stereotypisierte - und auch an dieser Stelle, wenngleich in kritisch-analytischer Intention, reproduzierte: dieser Aporie ist sich die Interpretin bewusst - Assoziation zu verdanken ist, der Princesse damit einen literarhistorischen Bären- oder vielmehr Präsidentendienst erwiesen? Wäre die ganze Debatte per se also bereits ein Sieg Sarkozys bzw. ‚Sarkozys‘, der pejorativ pluralisierten „sarkozys“ 77 oder „de ce qu’on appelle aujourd’hui ‚Sarkozy‘“? 78 Überflüssig hinzuzufügen, dass es weniger um die konkrete Person denn um ‚S.‘ als Symbol einer bestimmten politischen (Un-)Kultur geht: De quoi Sarkozy estil le nom? titelt Alain Badiou. 79 „Laissons donc ‚Sarkozy‘ à la porte […]“: 80 Lafayette-Expertin Hélène Merlin-Kajman, die 2009 selbst einen politischen Beitrag zur Debatte in Libération beisteuert, 81 kontextualisiert nachträglich kritisch ihre eigene strategisch motivierte Intervention und plädiert für die Rückkehr auf eine andere Ebene des Princesse-Diskurses: Lorsque, l’an dernier, des enseignants ont choisi de répondre à la phrase de Nicolas Sarkozy en allant lire le roman sur la place publique, c’est-à-dire en faisant de La Princesse de Clèves un argument, un drapeau, un discours, j’ai eu le sentiment d’un geste interdisant ce type de lecture. À nouveau, il s’agissait de traduire une œuvre littéraire en outil de combat, en argument rhétorique. Le roman court désormais le risque d’être présenté aux lecteurs, aux élèves, fatalement accompagné de ce 74 Esmein-Sarrazin 2014a: XXXV. 75 L’Express/ AFP, 09.04.2014. Das neue Attribut „moquée par Sarkozy“, „dénigré[e] par Nicolas Sarkozy“ begleitet die Princesse weiter durch den Text. Auch Thibaudat (2014b) variiert bereits im Titel ein längst geflügeltes Sarkozy-Zitat: „Imbéciles et sadiques, réjouissez-vous. Mme de Lafayette entre dans la Pléiade“. Auf die gleiche Phrase rekurriert ActuaLitté (Mallié 2014). Den Konnex zwischen Sarkozys Attacken und der nun umso dringenderen „consécration“ von Lafayettes Werk stellt auch Télérama her (Macassar 2014); bei aller Euphorie angesichts besagter „consécration“ („une sorte de Graal“) referiert der Figaro die ‚Affäre‘ mindestens ebenso ausführlich wie die literarische und filmische Rezeptionsgeschichte der Princesse (Aissaoui 2014). 76 Auch abseits des spezifisch literaturkritischen Diskurses wird der Topos Sarkozy/ Princesse de Clèves mannigfach fortgeschrieben; so bei Halimi in einem Le Monde diplomatique-Leitartikel aus dem Jahr 2013. Leroy (2013) erinnert im Kontext einer anderen ‚Affäre‘ rund um Sarkozy - nämlich L’Oréal/ Bettencourt - an jene präsidiale Initiative zur „chasse à l’intelligence“, zu deren „principales victimes“ die Princesse zählte, und lässt Lafayette selbst mit einem spöttischen Kommentar zu einem literarisch inkompetenten politischen Würdenträger zu Wort kommen. 77 So Lapostolle (2006) in ihrer Verteidigung der schulischen Vermittlung klassischer Literatur, „truc inutile en termes sarkoziens“, sowie der Princesse und anderer liebgewordener Lebensbegleiter, „venus de la même sphère littéraire si inutile aux yeux des sarkozys“. 78 Merlin-Kajman 2010: 64. 79 Badiou 2007. 80 Merlin-Kajman 2010: 65. 81 Vgl. Merlin-Kajman 2009. <?page no="75"?> „Clèves générale! “: Die Prinzessin auf den Barrikaden 75 bruit médiatique, de cette indignation qui pousse les enseignants à faire jouer le texte dans l’ordre de l’allégorie politique. Si tel devait être le cas, quelque chose de ce qu’on appelle aujourd’hui ‚Sarkozy‘ aurait gagné […]. 82 Bereits auf dem Höhepunkt der protestpolitischen Empörungswelle wird auch anderweitig die Vereinnahmung des klassischen Textes, seine Instrumentalisierung als diskursive ‚Waffe‘ 83 um den Preis reduktiver Lektüren 84 kritisiert: „Une fois encore on assiste aux méfaits de la convergence entre politique et littérature, s’assimilant ici à une récupération militante. […] c’est fort dommage de réduire ainsi ce chef d’œuvre à un simple badge politique…“. 85 Gewiss erlebt die Princesse - 2009 „le best-seller le plus inattendu du Salon du livre“ 86 - eine ungeahnte editoriale Renaissance en gros und en détail (eine Buchhändlerin vor Ort berichtet von einem „petit ‚rush‘“ auf Lafayettes Werk, 87 die Rekord-Verkaufszahlen mehrerer großer Verlage bestätigen diesen Trend 88 ). Allzu oft wird La Princesse de Clèves in diesem Rezeptionskontext freilich primär gegen ‚Sarkozy‘ gelobt und (eventuell) gelesen. 89 Und doch ist bei allen Ambivalenzen dieser ideologischen Rekuperation eines vielschichtigen Kunstwerkes Amélie Nothomb recht zu geben, wenn sie feststellt, die Princesse sei nun präsenter als je („la déclaration de Sarkozy a été le plus grand service qu’il pouvait rendre à La Princesse de Clèves“), 90 dies auch bei einem an und für sich nicht unbedingt allzu literatur- und klassiker-affinen Publikum. „Difficile de ne pas se réjouir, en somme, de la belle initiative de l’Elysée pour relancer la lecture […]. Au Président, la Princesse reconnaissante“, 91 ironisiert der Nouvel Observateur. „[…] Sarkozy’s populist diatribes were the best thing that could have happened to Madame de Lafayette’s current literary fortunes. […] Thanks to Sarko, the novel is no longer a faded monument of the French literary canon, but has been transformed into a living, incandescent political symbol and cultural icon“, konstatiert auch Cohen. 92 82 Merlin-Kajman 2010: 64. 83 Pineau 2009. 84 Reduktiv nicht nur in Bezug auf das konkrete Werk, sondern auch hinsichtlich des zugrunde liegenden Literaturverständnisses; wie Fraisse und Mouralis anmerken, erscheint die - schon vor Sarkozy, der hier allenfalls als Katalysator fungiert, Anfang des 21. Jahrhunderts mit neuer Virulenz geführte - öffentliche Debatte um den Status der Literatur und der „études littéraires“ im französischen Bildungswesen allgemein charakterisiert durch „une certaine absence de réflexion sur le littéraire en tant que tel“; auch auf dieses Reflexionsdefizit reagieren die Autoren mit ihren hier zitierten Questions générales de littérature, „parce que nous considérons que la littérature ne ‚va pas de soi‘“ (2001: 9ff.). 85 Galakof 2009. 86 Ibid. 87 Pineau 2009. 88 Hatier verzeichnet 2008 eine Absatzsteigerung um 40 %, Le Livre de Poche eine Verdoppelung; Folio meldet für das erste Trimester 2009 „un chiffre deux fois supérieur à celui de l’an passé“; auch Flammarion konstatiert in diversen Kollektionen (GF, Étonnants Classiques, Librio) eine „hausse constante“ und insgesamt eine Verdoppelung des Absatzes seit 2007 (vgl. Leménager 2009b; Fabre 2011). 89 „Il faudrait vraiment que je lise ‚La Princesse de Clèves‘, tant décrié par notre petit héros de président - je suis sûre que ça me plaira“, erklärt ‚Magda‘ (30.09.2008) in einer Diskussion zu „Une belle et ennuyeuse jeune personne“ - nämlich jener Christophe Honorés (Blog: Ce que tu lis, 29.09.2008). 90 Nothomb/ V 2012. 91 Leménager 2009b. 92 Cohen 2011. Vgl. auch das ironische Rollenspiel einer Leserin alias ‚Madame de Lafayette‘, die sich bei „le Sieur Sarkozy de Nagy-Bocsa“ für die unverhoffte „immense publicité“ bedankt: „Mme de Clèves et Monsieur de Nemours se joignent à moi pour souhaiter à Monsieur Sarkozy de comme nous traverser les siècles en aussi bonne santé“ (Forum zu Riché 2008; ‚Emma T.‘, 26.07.2008). <?page no="76"?> 76 Ideologie und Protestkunst: Ambivalenzen eines politischen Hypes Die Princesse als National-Allegorie: Patriotische Rekuperation und ikonoklastische Reaktion Auch in anderer Hinsicht ist diese politisch motivierte Princesse-Vogue zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlich aufgeschlossenen Literaturwissenschaft nicht nur unter negativen Vorzeichen zu sehen - und der kontroversen Rezeptionsgeschichte des klassischen Werkes, seit der Querelle de l’aveu, mit der die Literatur zum „creuset d’une opinion publique“ wird, 93 wiederholt Anlass öffentlicher Polemiken bzw. Prä-Text der Debatte gesellschaftlicher Problematiken, im Übrigen vielleicht gar nicht so inadäquat („Cette Princesse de Clèves […] a apparemment le pouvoir de cristalliser les débats idéologiques“, bemerkt Florence Chapiro 94 ). Als Kontrapunkt zu jenem „angélisme interprétatif“, der ein gewisses traditionelles Lafayette-Bild prägt, 95 hat die ‚Affäre‘ immerhin auch das paradoxe Verdienst, das produktive Irritationspotential eines literarhistorisch domestizierten Klassikers wieder verstärkt in den Blick gerückt zu haben; 96 auch im Rahmen dieser neuen Querelle motiviert die Princesse so manche prinzipielle kultur- und gesellschaftsphilosophische Reflexion über die unmittelbare politische Aktualität hinaus. 97 93 Viala 2008: 270. 94 Chapiro 2009: 3. Bereits im Mercure galant liefert die Princesse den Anlass zur Diskussion eines „cas de morale pratique“ (Esmein-Sarrazin 2014c: 1362). 95 Grande 2000a: 226f. (konkret in Bezug auf Hippolyte Taines Lesart). 96 Schon Valincour situiert den Text aus der Perspektive einer noch nicht zu literarhistorischer Ehrfurcht verpflichteten Zeitgenossenschaft auch im politischen Kontext seiner Zeit. So wird das eröffnende Panorama durchaus als Politikum wahrgenommen und in seiner potentiell subversiven Dimension kommentiert; Valincour äußert seine ‚Verwunderung‘ über die bereits in den ersten Zeilen enthaltene implizite Relativierung der magnificence des sonnenköniglichen Hofes bei einem noch anonymen (hier in der maskulinen Form adressierten) „auteur“, dessen Expertise doch anderweitig so überzeugend scheint: „Un homme qui connaît aussi bien la Cour d’aujourd’hui que l’auteur paraît la connaître, peut-il dire que […]? Sans doute il ne s’est pas souvenu qu’il vivait sous le règne de Louis XIV.“ Konkret beanstandet Valincour die Formulierung „la magnificence et la galanterie n’ont jamais paru en France avec tant d’éclat“ - und schlägt gleich selbst eine politisch korrektere Version vor: „la galanterie et la magnificence n’avaient encore jamais paru en France avec tant d’éclat, etc. Par ce moyen, il eût rendu au règne de Henri II toute la justice qu’il s’est cru obligé de lui rendre, et n’aurait point fait d’injure au règne sous lequel nous vivons“ (ibid.: 34f.). Vgl. auch die Gegen-Kritik Charnes’, der nicht nur zur historisch-politischen Defensive schreitet („Si on voulait chicaner à son exemple, comment prouverait-il que l’Auteur est plutôt de ce siècle, que du siècle passé? Qui lui a dit qu’il n’est pas aussitôt du Règne de Louis XIII, de Henri IV, et de Henri III. Il se peut faire même […] que l’Auteur ait été du Règne de Henri II“), sondern an Valincours réécriture auch stilistisch mindestens „deux défauts insupportables“ auszusetzen hat (2014: 622f.). „[…] tout lecteur un peu attentif comprend le camouflet infligé à Louis XIV […]“, bemerkt Grande zu Lafayettes „incipit indirectement critique“ sowie Valincours Reaktion - und weist darauf hin, dass der Evokation eines aristokratischen „mythique passé disparu“ per se bereits ein Moment subtiler politischer Kritik innewohnt, kann sich die aktuelle Herrschaft nach vollzogenem Dynastiewechsel doch nicht mehr auf jenes historische Erbe berufen (1999: 372). In diesem Sinne argumentiert wie zitiert auch DeJean, dass die Kanonisierung der Princesse erst nach und um den Preis der Okkultation ihrer „subversiveness“ erfolgte (1991: 14); sie selbst stellt die Verbindung zwischen der Fronde, „[l]a venue à l’écriture des femmes du dix-septième siècle et la naissance du roman“ her, „figurativement un prolongement de la révolte politique dans laquelle elles avaient aussi été impliquées“ (vgl. Denis 1998: 285). 97 Im Gegensatz zum bloßen „scandale“ mit seinem „effet de simplification“ trägt auch diese der klassischen Bezeichnung nicht unwürdige „Querelle“ mit ihren „multiples dimensions“ unter manchem Aspekt zu einem „accroissement de la complexité“ bei (Kulessa 2013: 134). <?page no="77"?> „Clèves générale! “: Die Prinzessin auf den Barrikaden 77 So wird in diesem Kontext die (De-)Konstruktion einer nicht zuletzt literarisch konstituierten francité neu verhandelt. 98 „Cracher sur la Princesse de Clèves c’est cracher sur la France“, verkündet Régis Jauffret (und weist - Sarkozys ökonomisch-utilitaristischen Diskurs karikierend - darauf hin, dass gerade Lafayettes Roman doch ein höchst erfolgreiches „produit d’exportation“ gewesen sei). 99 Alain Finkielkraut wirft die Grundsatzfrage nach der Identität Frankreichs als nunmehr gefährdeter „nation littéraire“ 100 bzw. „patrie littéraire“ 101 auf, dies unter Berufung unter anderem auf Ernst Robert Curtius’ Essai sur la France (Die französische Kultur, 1930) 102 und den auch bei Curtius mit seinen Beobachtungen zum Sonderstatus der Literatur in Frankreich zitierten Paul Claudel: „La France a été longtemps un peuple littéraire, qui connaissait ses classiques. Encore faudrait-il qu’elle puisse le demeurer.“ 103 Ähnlich variiert auch Pierre Jourde das Motiv dieser für eine traditionelle französische Identität kokonstitutiven Literarizität: „La France a été, elle est encore, un pays de grande culture, un pays où la littérature occupe une place plus importante peut-être que dans n’importe quel autre pays du monde […]. Cela ne durera pas forcément toujours.“ 104 ‚Nationale‘ Auto/ Hetero-Imagines in (nach wie vor aktueller) Interaktion: 105 Immer wieder wird auch in zeit- 98 Auch Fraisse/ Mouralis reflektieren die spezifische Ausprägung der Debatte rund um „la crise de l’éducation“ und „la crise de la culture“ eben in Frankreich, „vieux pays fasciné par le prestige de l’écrivain […] [qui] avait fait de la littérature son mode d’accès à l’universel“ (2001: 9f.). 99 „La princesse de Clèves vue par…“, art. cit. Ähnlich die Argumentation Compagnons (2013), der angesichts des „projet de loi Fioraso“ (betreffend die von Hochschulministerin Geneviève Fioraso projektierte Freigabe bzw. Förderung „des langues étrangères“ - konkret also vor allem des Englischen - als Universitätssprache in Frankreich) der „fatwa de l’ancien président de la République contre la Princesse de Clèves“ gedenkt und die ministerielle Argumentation („Si nous n’autorisons pas les cours en anglais, […] nous n’attirerons pas les étudiants de pays émergents comme la Corée du Sud et l’Inde. Et nous nous retrouverons à cinq à discuter de Proust autour d’une table, même si j’aime Proust…“) in ihren eigenen Kategorien kontert: „Que M me Fioraso se renseigne et se rassure! À Séoul et ailleurs, Proust - il n’est pas le seul - est un puissant article d’exportation de la culture et de l’industrie françaises, et nous ne sommes pas près de nous retrouver à cinq ou six autour d’une table pour conspirer autour de lui.“ 100 Desportes/ Lacroix 2011. 101 Finkielkraut 2013a: 150, 167. 102 Vgl. ibid.: 147f. Auf Curtius beruft sich auch William Marx in seinen Reflexionen über die Literatur als „le moyen d’expression privilégié de la nation française“ (2015: 3527ff., hier zit. 3580). „[…] la présence de Querelles littéraires dans une société est révélatrice de la place de la littérature dans cette société, et cette position de la littérature est certainement plus importante en France que dans d’autres cultures“, konstatiert auf den Spuren Curtius’ auch eine zeitgenössische deutsche Romanistin (Kulessa 2013: 134). 103 Desportes/ Lacroix 2011; vgl. auch Finkielkraut 2013a: 164. Nostalgisch beschwört Finkielkraut die Vision eines Frankreich, das sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als „patrie littéraire“ zu behaupten vermochte (ibid.: 150). Das in apokalyptischem Ton beklagte Verschwinden dieses ‚literarischen‘ Volkes von einst (ibid.: 156) bzw. des kollektiven französischen „surmoi littéraire“ (ibid.: 153f.) verortet er konkret im zeithistorischen Kontext; geführt wird hier freilich ein Mehrfrontenkrieg nicht nur gegen die Hochschulpolitik der Regierung Sarkozy, sondern auch gegen allgemeine Trends der okzidentalen Academia, so das Programm einer ideologisch motivierten Re-Kanonisierung mit dem Ziel, „l’humiliant monopole des DWEMS (Dead White European Males)“ zu durchbrechen (ibid.: 211). 104 Jourde 2011a: 18. 105 Dieses Motiv der ‚Literaturnation‘ stellt eine Konstante französischer Auto- und Hetero-Imagines dar - dies aus sehr unterschiedlichen ideologischen Perspektiven: So betont auch Il’ja Ėrenburg die Literarizität Frankreichs bzw. die besonders enge Verstrickung zwischen französischer Literatur- und Gesellschaftsgeschichte (2012: 36). Vgl. dazu allgemein Parkhurst Ferguson 1987; Casanova 2008. Ebenso bezeichnenderwie pikanterweise schließt sich der Protagonist der ‚Affäre‘ - im Hinblick auf seine Wiederwahl-Ambitionen um Rekonstruktion einer überzeugenden „stature présidentielle“ <?page no="78"?> 78 Ideologie und Protestkunst: Ambivalenzen eines politischen Hypes genössischen internationalen Kommentaren der eminent ‚französische‘ Charakter einer Polit- Affäre betont, „that could never be imagined anywhere else on the planet“. 106 Im protestpolitischen wie im begleitenden literaturkritischen Diskurs werden derart en masse diverse griffige (und abgegriffene) panegyrisch-patriotische Topoi rund um die Princesse, „notre premier roman“, 107 „le symbole d’une certaine conception de la culture française“, 108 in die rhetorische Schlacht geworfen; ausgerechnet die Heldin Lafayettes, in den Augen ihrer Schöpferin „un personnage impensable, déplacé, venu d’ailleurs“, 109 in ihrer polyvalenten Alterität 110 nicht zuletzt „une figure queer“, 111 wird zur National-Allegorie und bemüht (Marx 2015: 3549f.) - selbst nachträglich diesem Diskurs an. In einem complaisanten Exklusiv- Interview unter dem Titel „La face cachée de Nicolas Sarkozy“ - Kontrapunkt zur Comic-Version der Face karchée - assoziiert Rouart (2014) den unmittelbar vor seiner Einvernahme in der Bestechungsaffäre Gilbert Azibert stehenden Ex-Präsidenten einleitend mit Napoleon „[l]a veille d’Austerlitz“; wenige Tage später darf der mittlerweile aus temporärem Polizeigewahrsam entlassene Politiker seine Qualitäten als „un lecteur passionné et atypique“ unter Beweis stellen. Bei dieser Gelegenheit ‚gesteht‘ er nicht nur seine „vraie fascination pour Balzac“ (ibid.) und für die Biografien Stefan Zweigs („‚Marie-Antoinette‘ est le livre le plus bouleversant que j’aie lu“), sondern legt auch „son mea culpa“ (Marx 2015: 3550) in Sachen Lafayette ab: Sarkozy beteuert, La Princesse de Clèves sogar „plusieurs fois“ gelesen, bedauert, diese seine „boutade“ nicht rechtzeitig berichtigt zu haben und beschwört eifrig die Bedeutung der Literatur („La littérature, c’est si important! “) und das Bild einer zutiefst literarischen Nation: „Nos chefs-d’œuvre sont, chez nous, l’objet d’un culte quasi religieux. […] C’est ça aussi, la France.“ Dieser doppelte Rehabilitionsversuch bleibt allerdings brüchig, wird die comme il faut sakralisierte Literatur doch sogleich wieder auf ihren Platz als belangloses ‚Hobby‘ verwiesen: „Le président, aujourd’hui, a mieux à faire, lorsqu’il est en fonction, que de commenter le football ou de parler de ses lectures“ (Rouart 2014). „M. Macron, soyez un président littéraire“, appelliert dagegen Éric-Emmanuel Schmitt im Mai 2017 an das frisch gewählte neue Staatsoberhaupt, in der Hoffnung, Macron nach den diesbezüglich desillusionierenden, nicht zufällig wohl, so Schmitt, auch generell „autorité“ und „prestige“ des Amtes devalorisierenden Ären seiner drei Vorgänger („Non que Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy, François Hollande, soient dépourvus de culture, mais nous constatons de manière euphémique que, de la littérature, ils ont une curiosité ponctuelle […]“) endlich wieder an die „tradition littéraire“ Frankreichs im Allgemeinen und der politischen Elite im Besonderen anknüpfen zu sehen - und unter explizitem Verweis auch auf Lafayette: „Aimer la littérature, c’est s’intéresser autant aux ouvriers que décrit Zola qu’à la Princesse de Clèves, autant aux paysans de Sand qu’aux aristocrates de Proust […].“ 106 Dutton 2009. „[…] it remains awe-inspiring to an American that political protest can center on a work of classic literature“, ironisiert Feibelman (2012) angesichts dieses „minor-but-telling culture war event“; in den Augen einer kritischen Landsfrau erscheint die Princesse samt Affäre als „certainly an instructive guide“ zur französischen Kultur, „though the level of acrimony aroused by its denigration might seem to us absurd“ (Zerofsky 2012). Die „curiosa […] ‚forma di resistenza‘ scelta dai francesi“ kommentiert auch Battista (2009). 107 Bataille 2008. 108 Pineau 2009. „La chance de La Princesse de Clèves, c’est d’être toujours là quand il s’agit d’en appeler au ‚vrai goût de la France‘“, merkt Laugaa (1971: 201) schon zur Lafayette-Rezeption des 19. Jahrhunderts an; bereits im Rahmen der „affaire Perrero“, da die Publikation neuer Dokumente ein idealisiertes Bild Lafayettes - auch „Une intrigante“ (vgl. Arvède Barine 1880 in der Revue des Deux Mondes, zit. bei Laugaa 1971: 193), wie sich erweist - ins Wanken bringt, gerät die „fibre patriotique“ in Aufruhr, gilt es doch ein literarisches Nationalheiligtum zu verteidigen (vgl. ibid.: 191ff.: „L’affaire Perrero et ses suites (un krach littéraire)“). 109 Virmaux 1981: 49, zit. nach Oster 2009: 135. 110 Vgl. die Reflexion zum Thema „Les classiques meurent aussi“ (2011) im Blog Les Plumes asthmatiques: „En ces temps de débat national sur l’identité française, et en filigrane sur la question de l’Altérité, La Princesse de Clèves nous délivre une leçon précieuse […] La Princesse de Clèves est l’exemple de l’Altérité. Ce n’est pas l’altérité de celui qui vient d’un autre pays, c’est l’altérité de celui qui vient d’un autre temps, d’un temps où l’on écrivait, où l’on pensait et où l’on agissait différemment.“ <?page no="79"?> „Clèves générale! “: Die Prinzessin auf den Barrikaden 79 in nostalgischer Heteronormativität auch zur Inkarnation optisch wie moralisch idealer Weiblichkeit trivialisiert. 112 Wenig überraschend hat dieses inflationäre Klischee-Recycling wiederum polemische Gegen-Reaktionen inspiriert. „Du renoncement de la princesse de Clèves au wagon de Rethondes, sujet pour un petit conte national“: 113 Unter dem Titel „La nièce de la Princesse de Clèves“ publiziert Sarah Vajda eine bemerkenswerte ‚Abrechnung‘ mit dem politisch motivierten Princesse-Hype. Im Rahmen eines provokanten Rollenspiels bekennt sich Vajdas Erzähler - vor dem Hintergrund der allgemeinen Anti-Sarkozy-Mobilmachung doppelte und dreifache Blasphemie - zu seiner profunden Antipathie gegenüber der Princesse de Clèves, „peut-être le seul roman culte de la littérature occidentale que je ne goûte pas“. 114 Als konversationelle Sparring- Partnerin des männlichen Protagonisten, Repräsentant einigermaßen klischeehafter französischer Lebenslust, fungiert in diesem über weite Strecken dialogisch konstruierten Text - Mosaik aus klassischer Literatur und postmoderner Theorie (Guy Debord et al. 115 ) - die eponyme ‚Nichte‘ der Princesse (Lafayettes Figur hinterlässt bekanntlich keine ‚biologische‘ - dafür eine umso umfangreichere intertextuelle - Nachkommenschaft), ihrerseits „toute blonde“, „une si belle personne“, doch auch sie der asketischen (Pseudo-? )Moral ihrer Vorfahrin verpflichtet. 116 Verlässlich reagiert die tugendhafte Nichte auf jeden rhetorischen Ausritt ihres Opponenten mit kalkulierter Empörung und feuert diesen derart zu immer neuen Attacken gegen den hyper-kanonisierten „fichu roman“ mit seinem „dolorisme chrétien“ und seine (Anti-)Heldin an, angeklagt nicht nur eines hypokriten „platonisme de surface“, sondern auch des „[v]ertige de la toute puissance“ und der „[i]vresse de la domination“. 117 Der Princesse als literarischer „autopsie d’une hystérie“ (auch hier lässt Vajda ihren Erzähler mit einem patriarchalischen Klischee spielen) stellt der enragierte Ankläger die lebensfrohbarocke Ästhetik Shakespeares, Cervantes’, Dantes oder auch D’Urfés entgegen („Je préfère 111 Zoberman 2008: 32. 112 Bemerkenswert ist in der Tat die Gender-Spezifik auch dieser Princesse-Verteidigungsdiskurse, in denen Konstruktionen nationaler, sozialer und geschlechtlicher Identitäten in symptomatischer Weise interagieren. In seinem Abgesang auf die französische „patrie littéraire“ trauert Finkielkraut zugleich einer einigermaßen chauvinistisch konzipierten „patrie féminine“ (2013: 167), den Zeiten des Mercure galant und einer ganzen klassischen Kultur stereotyp ‚französischer‘ Galanterie nach (ibid.: 64f.). Auch dieses zumindest aus maskulinistischer Sicht schmeichelhafte Autostereotyp wird durch internationale Referenzen gestützt (so Thornton Wilders Beobachtungen zu jenem „undertone of respectful flirtation“, der die Kommunikation „between every man and woman in France“ präge; zit. ibid.: 176). Aus USamerikanischer Perspektive veranstaltet Marantz Cohen in einem quasi-imagologischen Essay zur ‚Affäre‘ („[…] if we read The Princess of Clèves through Sarkozy - and Sarkozy through the novel - we can learn a lot about French culture […]“) unter Hinwegsetzung über ihr eigenes Caveat („It is a risky business making generalizations about a society […]“) ein Feuerwerk von Heterostereotypen rund um die Princesse als durch und durch ‚französisches‘ Werk - erscheine doch auch hier „desire as the driving force for all action and meaning“ („And this […] is what makes the novel so distinctively French“) -, aber auch generell die französische Gesellschaft, „deeply devoted to pleasure“, sowie „Sarkozy’s naive romanticism“ im Gegensatz zu seinem Nachfolger, „very French“ im relativ diskreten Management seines Liebeslebens: „Hollande could well be a courtier in The Princess of Clèves“ (2013: 68ff.). 113 Vajda 2010: 40. 114 Ibid.: 36. 115 Vgl. ibid.: 44. 116 Ibid.: 40ff. 117 Ibid.: 37f. <?page no="80"?> 80 Ideologie und Protestkunst: Ambivalenzen eines politischen Hypes l’Astrée, hé hé…“), dem tristen Club der Protagonistinnen Lafayettes - mit ihrem Hang zum allseits fatalen aveu - Molières Elmire (weise rät diese ihren Geschlechtsgenossinnen davon ab, „d’alarmer inutilement les maris“) wie die Heroinen Corneilles als positive Modelle klassischer Weiblichkeit. Die preziöse Nichte dagegen missbilligt nicht nur die Corneille’schen „viragos“, sondern - absehbarerweise - auch Flauberts berühmteste Heldin: „Se faire Bovary, de corps en corps, jusqu’au dégoût de soi-même? Vous êtes une brute.“ - „Moi? Une madeleine plutôt“, erwidert ihr schlagfertiger Gegner und denunziert aufs Neue „[v]otre princesse, toute noble qu’elle soit née“, als die eigentliche Spießbürgerin („une bourgeoise en mal de contrat d’assurances“) in diesem literarhistorischen Spiel. 118 Aber auch Lafayette selbst - schreibende Komplizin des monarchischen Regimes („Madame de Lafayette vaut bien Elsa Triolet. Écrivain du Roi, elle prostitua sa plume pour des raisons qu’il ne m’appartient pas de juger“ 119 ) - entgeht nicht dem Furor dieses Anti-Princesse-Ikonoklasten, der sich bei der Gelegenheit selbst im Recycling klassischer Maximen übt („Il ne fait pas bon écrire contre qui peut proscrire“). 120 Bei aller polemischen Überspitzung wirft auch dieser Text eine Reihe von Fragen auf, die in der wissenschaftlichen Lafayette-Kritik wie in postmodernen literarischen Variationen immer wieder neu verhandelt werden; dies betrifft die Autorschaft der Princesse („‚Aucun amour n’est original.‘ Sur cette maxime de La Rochefoucauld, 121 son amie a brodé ce canevas trop parfait. Il s’agit moins d’amour que de narcissisme“, erklärt Vajdas Protagonist unter Rekurs auf eine signifikante Metapher, die weibliche Kreation ein weiteres Mal zur perfektionistischen ‚Handarbeit‘ banalisiert 122 ), aber auch den Liebes- und Lebensverzicht der Heldin, deren als faktische „soumission à l’ordre mâle“ interpretierten Rückzug vom Hof in der vollen Pracht ihrer Jugend und Schönheit („Que deviendra Madame de Clèves quand elle aura cessé d’être belle? “): Über die Jahrhunderte hinweg erweisen sich die Princesse, „Sissi de Bavière“ - historischer Prototyp eines masochistisch-narzisstischen Schönheitskultes - und „vos grandes sœurs et vos mères bogdanovettes, botoxées“ als nur allzu willige Komplizinnen der gleichen patriarchalen Logik. 123 Vajdas Advocatus Diaboli attackiert Lafayettes Roman als von Anfang an in seiner Konsensualität verdächtiges Kompromissprodukt („Un seul livre parut qui ne se heurta à aucune cabale des dévots ou des prudes, qui plut également aux Célimènes et aux Arsinoés, aux prêtres et aux cavaliers, aux Dames comme aux Messieurs… Ce fut La Princesse de Clèves“ 124 ), allzu verführerischen Spiegel, in dem sich ein auch hier weiblich allegorisiertes Frankreich, nicht minder naiv als das von Fausts mephistophelischen Geschenken verführte Gretchen, im Schmuck falscher Tugenden bewundert („Je vous parle de la France et de son obstination 118 Ibid.: 38ff. 119 Ibid.: 42. 120 Ibid.: 44. Die entsprechende Äußerung des Gaius Asinius Pollio zitiert Montaigne (1965b) in seinen Reflexionen „De l’Incommodité de la Grandeur“: „Auguste escrivit des vers contre Asinius Pollio: Et moy, dict Pollio, je me tais; ce n’est pas sagesse d’escrire à l’envy de celui qui peut proscrire.“ 121 „[…] aucun amour n’est originel“: De facto findet sich diese Formulierung in Barthes’ Fragments d’un discours amoureux (1977: 163), unter Verweis auf La Rochefoucauld (vgl. insbes. 2005: Nr. 136). 122 Vajda 2010: 42. 123 Ibid.: 38ff. 124 Ibid.: 44. <?page no="81"?> „Clèves générale! “: Die Prinzessin auf den Barrikaden 81 à se voir si belle au miroir de la princesse de Clèves“ 125 ) - und treibt den Frontalangriff gegen das Monument der französischen Literaturgeschichte auf seinen politischen Höhepunkt, indem er von Lafayettes Heldin eine direkte Traditionslinie bis nach Vichy zieht: La démence française, hystérie serait plus juste, à l’œuvre dans ce roman trop vanté, atteignit son point de non-retour en 1940. Ce fut à Vichy sur Allier, paisible ville d’eau où d’ordinaire se nouent des amourettes défendues. […] Le renoncement, une passion française. Vichy demeure l’admirable moment où la névropathie nationale se donne à voir […]. Un certain goût de la souffrance, au miroir de l’aimé. Vichy ne se vit jamais ailleurs. Un hapax. Franco-français, ce goût de mort dans le sourire de la Princesse de Clèves. 126 (Rasch ist die Lafayette-treue Nichte denn mit dem Vorwurf der „francophobie“ zur Hand: „La France, aimez-la ou quittez là! “) Aber auch die zeitgenössischen Kavaliere der Princesse im Kampf gegen „Monsieur Nicolas - piéton de l’Élysée“ werden in diesem polemischen Rundumschlag nicht verschont: „La race des petits marquis survécut aux révolutions comme à l’Empire. Aujourd’hui, on les dit ‚germanopratins.‘ Leurs badges: ‚Je lis la Princesse de Clèves‘ contre l’Usurpateur m’ont fort donné à rire.“ 127 Überflüssig zu betonen, dass Vajdas Erzähler mit seiner furiosen Diatribe dem Roman Lafayettes keinesfalls gerecht wird; doch gerade die Virulenz des sich hier manifestierenden ikonoklastischen Impetus zeugt eindrücklich von der spezifischen diskursiven Dynamik rund um einen im Kontext der ‚Affäre‘ nochmals reaktiv hyper-sakralisierten Klassiker. Es sei die These gewagt, dass eine derartige strategisch provokante Hommage ex negativo - erfrischend ‚respektlos‘ wie einst die Lettres eines Valincour - der Princesse womöglich einen besseren Dienst erweist als das Corpus hyperbolischer Ehrfurchtsbekundungen gegenüber dem Werk Lafayettes, eben nicht nur patriotisch vereinnahmter „livre immortel“, 128 sondern auch und vor allem multipel anschlussfähige, nach wie vor überaus fruchtbare hypertextuelle Matrix: Auch diesen Aspekt illustriert die kreative Produktion, die sich in dieser postmodernen Querelle auf unterschiedlichen Diskurs-Ebenen und in verschiedenen Medien ausgehend von der Princesse entfaltet. 129 125 Ibid.: 39. 126 Ibid.: 43. 127 Ibid.: 43f. 128 Haussonville 1890. 129 „Das Klassische definiert sich dadurch, dass es überlebt“, erklärt J. M. Coetzee. „Deshalb gehört das Infragestellen des Klassischen, wie feindselig auch immer, notwendig zur Geschichte des Klassischen und muss sogar begrüßt werden. Denn solange das Klassische vor Angriffen geschützt werden muss, kann es sich nicht als klassisch beweisen. […] Damit kann die Befürchtung, der Klassiker werde Kritik, die ihn zu entthronen versucht, nicht überstehen, ins Gegenteil verkehrt werden: Statt der Feind des Klassischen zu sein ist Kritik, ja, Kritik der schärfsten Art, vielleicht das, was das Klassische braucht, um sich selbst zu definieren und sein Überleben zu sichern“ (2006: 29f.). <?page no="82"?> 82 Ideologie und Protestkunst: Ambivalenzen eines politischen Hypes Princesse-Protestkunst: Performances und Parodien „S’il n’y a pas d’évaluation, il n’y a pas de performance“, erklärt Nicolas Sarkozy in seiner kontrovers diskutierten Ansprache „À l’occasion du lancement de la réflexion pour une stratégie nationale de recherche et d’innovation“ vom 22. Jänner 2009; 130 so manche Aktivisten nehmen den Präsidenten beim Wort und schreiten ihrerseits zur protestpolitischen Gegen-Performance. Als unfreiwilliger „puissant artisan“ der satirischen Mobilisation bestätigt Sarkozy den Status der Literatur als „valeur de résistance“ und provoziert eine neue Hochblüte der Satire, ja sogar der „satire au second degré“. 131 Am 29. Jänner 2009 veranstaltet eine Gruppe von Juristen, Schriftstellern und Schauspielern unter dem Vorsitz Alexandre Duval-Stallas einen „tribunal révolutionnaire“ bzw. „procès littéraire“ gegen die Princesse. 132 Alexandra Roos und Arnaud Viviant widmen ihr eine ironische Ode („Je lis La Princesse de Clèves, le président a dit que c’était chiant… il faut que je m’élève“). 133 Diverse „jeux littéraires“ knüpfen an rekontextualisierte „pratiques littéraires très en vogue au XVII e siècle“ an: 134 So bietet eine parodistische Satire 135 von Jean-Philippe Grosperrin unter dem Titel „Mme de Pecqueresse et M. de Sarquise“ eine politische Aktualisierung 130 Sarkozy 2009. Sarkozy nimmt eine Hommage an den Physiker und Nobelpreisträger Albert Fert zum Anlass für eine Attacke gegen das Gros der französischen akademischen Community, vor dem Hintergrund der laufenden Debatte strategisch platzierte (und auch auf der offiziellen Website des Élysée publizierte) Provokation: Dem französischen Wissenschaftssektor wird nicht nur quantitativ defizitärer ‚Output‘ vorgehalten, sondern - in verräterisch biologisierender Metaphorik - auch mangelnde Wirtschafts-Affinität und -relevanz: „Nous n’avons pas en France cette culture qui fait que pour un chef d’entreprise américain ou allemand, la recherche est une source de création de richesse et de croissance. […] Nous devons changer cela. Les entreprises grandes et petites doivent puiser dans le vivier formidable de la recherche publique […].“ Das Kalkül des Divide et impera geht in diesem Fall nicht auf: Fert selbst meldet sich wenige Tage später mit einem kritischen Kommentar zu den geplanten Universitäts- und Wissenschaftsreformen zu Wort (Huet 2009a). Es folgt der Aufruf zum Streik, dem sich am 2. Februar die Präsidenten von acht Universitäten anschließen; Georges Molinié, Rektor der Sorbonne (Paris IV), bezeichnet die bildungspolitischen Projekte der Ära Sarkozy in drastischen Worten als „le plus grand coup porté à l’école de la république depuis Vichy“ (zit. nach Huet 2009b). 131 Ibid. „La première singularité de la situation satirique actuelle, c’est que la satire a d’abord été maniée par le Chef de l’État pour commencer par disqualifier les chercheurs et l’Université. La satire des mobilisés a donc la particularité d’être une riposte“, konstatiert Duval (2009). Unter Rekurs auf die Theoriebildung Vladimir Jankélévitchs (der die Ironie als „circonvolution du sérieux“ definiert) und Northrop Fryes (der die Satire als „ironie militante“ charakterisiert) analysiert sie die Dynamik einer metasatirischen Konstellation, in der Sarkozy sich - ebenso wie Xavier Darcos - auf den Spuren von Molières Alceste in der Position des „satiriste satirisé“ wiederfindet (ibid.). 132 Vgl. Leménager 2009a. 133 URL: http: / / www.myspace.com/ viviantroos/ music/ songs/ la-princesse-de-cl-ves-43828121. 134 Kulessa 2013: 124. 135 Zur genre-theoretischen Einordnung dieses und einiger ähnlicher Texte, die das hypertextuelle Verfahren der per se nicht notwendig satirischen Parodie mit dem extratextuell-politischen Impetus der Satire verbinden und teils direkt einen satirischen Hypotext variieren, schlägt Duval (2009) den Terminus der „satire parodique“ vor. Am Beispiel der dramatisierten „soutenance de Valérie Pécresse“ untersucht sie auch die Spezifik eines anderen, gleichfalls protestpolitisch instrumentalisierten Typus der „parodie […] plus large“, die nicht ein einzelnes literarisches Genre, sondern „un genre social, un rite académique“ imitiert. Vgl. „Valérie Pécresse soutient sa thèse: ‚Du bricolage de l’université à l’Université du bricolage. La formation à prix entrepôt‘“ (Fabula, 07.02.2009); der Text der Performance (09.02.2009) findet sich samt Video auf URL: https: / / coordsuprech38.wordpress.com/ 2009/ 02/ 10/ soutenance-de-v-pecresse-la-video. <?page no="83"?> „Clèves générale! “: Die Prinzessin auf den Barrikaden 83 ausgewählter Schlüsselpassagen aus der Princesse, dies unter dem nicht ungiftigen Motto „Illiteratus rex quasi asinus coronatus est“ (Johannes von Salisbury) 136 und unter Rekurs auch auf das Register der Satire Molières. 137 Grosperrin beginnt mit einer parodistischen réécriture des Lafayette’schen Incipits: „La magnificence et l’économie n’ont jamais paru en France avec tant d’éclat que dans les dernières années du règne de Nicolas premier. Ce prince était galant, mobile et amoureux; quoique sa passion pour la vitesse eût commencé il y avait plus de vingt ans, elle n’en était pas moins violente, et il n’en donnait pas des témoignages moins éclatants.“ 138 In der Folge werden die Protagonisten Lafayettes durch allegorische Polit- Akteure ersetzt; anstatt jener jungen Schönheit, die bei Hofe allgemeine Bewunderung auf sich zieht („Il parut alors une beauté à la Cour […]“ 139 ), erscheint eine unter der Ägide von Sarkozy/ Pécresse großgezogene „Réforme“ mit zweifelhafter Attitüde: Il parut alors une réforme à l’université, qui attira les yeux de tout le monde, et l’on doit croire que c’était une réforme hasardeuse, puisqu’elle donna de l’indignation dans un lieu où l’on était si accoutumé à en voir de belles. Elle était de la même maison que l’ocde et une des plus grandes aventurières de France. Son père était introuvable, et l’avait laissée sous la conduite de Mme de Pecqueresse, dont le bien, la vertu et le mérite étaient extraordinaires. 140 Auch in „Cyrano avec nous et vive les mirlitons! “ wird die Princesse als Symbolfigur einer freien, nicht dem Regime universeller Rentabilität unterworfenen Wissenschafts- und Kulturlandschaft gegen die aktuellen politischen Attacken verteidigt: En variant le ton, par exemple tenez: Agressif: Moi, Madame, j’aurais fait ces décrets, Il faudrait sur le champ que je les retirasse! Pratique: votre réforme en loterie, Assurément, Madame, ce n’est pas le gros lot. […] Humaniste: professionnaliser certes! Pourtant civiliser n’est pas mauvais non plus! Culturel: La princesse de Clèves n’est pas Une danseuse pas plus qu’une hôtesse bling-bling. 141 136 Bzw. „rex illiteratus est quasi asinus coronatus“: So die exakte Formulierung in Salisburys Policraticus (IV), dem zufolge dieses Apophthegma, bei Wilhelm von Malmesbury dem englischen König Henry I in den Mund gelegt, vielmehr einer der ersten Stauferkaiser an Louis VII gerichtet habe (Moos 1988: 226). 137 Grosperrin 2009a. Duval (2009) weist darauf hin, dass diese Parodie zugleich Elemente der „satire moliéresque“ aufgreift, insbesondere in den Wortspielereien rund um die Eigennamen der involvierten Akteure: Figuriert ‚M. de Sarquise‘ - Hybrid zwischen ‚Sarkozy‘ und ‚M. de Guise‘ - als „une sorte de bourgeois gentilhomme“, so setzt Grosperrin mit ‚Mme de Pecqueresse‘ unter Ausnützung eines satirisch vulnerablen Namens auf die Kombination der pejorativ konnotierten Endung -esse (vgl. auch seinen Pastiche „Phédresse, tragédie“ [2009b]) mit einer weiteren Molière-Referenz (die Antiheldinnen der Précieuses ridicules werden u. a. als „deux pecques provinciales“ ridiculisiert). Das Verfahren illustriert Duval (2009) auch an einer weiteren „parodie pécressisée“ unter dem Titel „Tartuffe à l’Université, ou le décret hypocrite“ (o. D.). 138 Grosperrin 2009a. 139 Lafayette 2014c: 337. 140 Grosperrin 2009a. 141 „Cyrano avec nous et vive les mirlitons! “ (Fabula, 10.02.2009). <?page no="84"?> 84 Ideologie und Protestkunst: Ambivalenzen eines politischen Hypes Unter dem Titel „Hypertrichose palmaire“ richtet eine anonyme Hochschuldozentin alias „la grosse feignasse“ einen offenen Brief an „Madame la Ministre“ - entgegen entsprechenden Insinuationen wird hier ein universitärer Alltag geschildert, der nicht eben von jenem seitens des Ministeriums unterstellten dolce far niente auf Staatskosten geprägt erscheint. 142 Besagte „grosse feignasse“ zeichnet auch für „Une aventure inédite du Petit Nicolas“ verantwortlich, spöttische ‚Psychoanalyse‘ der Princesse-Phobie Sarkozys: Als pubertierender Schüler wird der kleine Nicolas von einer liebreizenden und Lafayette zitierenden „Cécile Deuklev“ (die Allusion auf Sarkozys matrimoniale mésaventures ist evident), Wiedergängerin der Princesse („Avec ses cheveux d’or, on aurait dit une princesse“), zugunsten des intellektuellen „Agnan“ verschmäht. Trotzig schwört „le petit Nicolas“ Rache: „[…] et je ne reviendrai que dans un tas d’années, je serai riche et président, et je me vengerai d’Agnan et de la princesse Deuklev.“ 143 An diesem Punkt eines aus ideengeschichtlicher und diskursanalytischer Perspektive höchst bemerkenswerten Parcours, der von „Clèves salope“ - im Zuge der Revolte 1968 im Centre Censier zu lesen 144 - zu Slogans wie „La Pécresse, libérez / la Princesse enfermée“ 145 führt, begibt sich der universitäre Diskurs - und das universitäre Personal - aber auch konkret hinaus ‚auf die Straße‘ (bzw. in die Videoclip-Welt von Youtube & Co.). Princess of Clèves nennt sich eine von einigen Lehrenden der Sorbonne gegründete Protest-Band, die unter vielsagenden Titeln wie FAC OFF und Paroles, Paroles Cover-Versionen bekannter Songs unter parodistischer mise en scène der politischen und literarischen Protagonisten der aktuellen Kontroverse bietet. In FAC OFF liefern sich zu den Klängen von Donna Summers unter strategischer Verwendung diverser Anti-Sarkozy-Schlagwörter - von ‚bling-bling‘ bis ‚Kärcher‘ - neu betextetem Hit Hot Stuff ein proletoid-arroganter ‚Nick S.‘ (mit den obligaten Attributen Rolex, Ray-Ban, Mobiltelefon), ‚Valoche‘ und ‚Xav D.‘ eine Freiluft-Schlacht gegen die Repräsentanten des gegenwärtigen und zukünftigen intellektuellen Frankreich: Nous on veut des bling facs qui nous rapportent On veut des bling profs qui nous adorent On veut des bling mômes pour servir le boss En avant la réforme Au karcher cette bande de gauchots Je veux ma réforme Je veux cette réforme Je veux ma réfooooorme […] 146 Dezent im Hintergrund hält sich eine historisch kostümierte ‚Princesse de Clèves‘, metaleptische Leserin ihrer selbst - symbolischerweise in einer gänzlich unaristokratischen Folio-Edition. 147 In Paroles, Paroles widersteht zum Dalida-Soundtrack eine ätherische Princesse 142 „Hypertrichose palmaire“ (Fabula, 10.02.2009). 143 „Une aventure inédite du Petit Nicolas“ (Fabula, 10.02.2009). 144 Laugaa 1971: 237. 145 „Pécresse: libérez la princesse de Clève[s]“, 28.04.2009. URL: http: / / www.youtube.com/ watch? v= 2vikW_FuqyM. 146 URL: http: / / sorbonneengreve.revolublog.com/ clip-de-fac-off-princess-of-cleves-p11867. 147 Nicht zuletzt unter dem Gender-Aspekt ist dieser Video-Clip von Interesse: Wenn auch in parodistischer Intention, so wird doch ein weiteres Mal der hyper-konventionelle Topos der Princesse als weiblicher ‚Schutzheiliger‘ (unter der Devise „La Princesse de Clèves au secours des enseignants-chercheurs“ <?page no="85"?> „Clèves générale! “: Die Prinzessin auf den Barrikaden 85 - die als Clocharde inmitten ihrer Kartons das drohende Schicksal des akademischen Prekariats teilt - dem primitiven Liebeswerben eines wiederum in Gesellschaft von ‚Valoche‘ und ‚Xav D.‘ hektisch heranjoggenden, mit Schirmmütze, Sonnenbrille, Shorts und portable adjustierten ‚Nick S.‘, der sich in unedler Selbsterkenntnis zu „[m]on inculture et ma vaste ignorance“ bekennt, „cette princesse que je ne comprends toujours pas“ mit konsumfetischistischen Atouts à la „Montblanc, Rolex, Dolce et Gabana [sic]“ vergeblich zu verführen versucht („Tu es belle comme une paire de Ray ban / Allez, viens, on s’casse à la Havanne“) und schließlich, über die Nicht-Korrumpierbarkeit des anachronistisch noblen Objekts seiner Begierde empört („Si je pouvais t’acheter, tu serais à moi“), unter tatkräftiger Assistenz von ‚Valoche‘ und ‚Xav D.‘ zum brachialen Angriff auf die widerspenstige Princesse samt Gefolgschaft schreitet. (Im Nachspann drangsaliert ‚Nick S.‘ erneut die in die Lektüre Lafayettes vertiefte Princesse, reißt ihr das Buch aus den Händen und schleudert es beiseite, um in exhibitionistischer Manier seinen Mantel aufzureißen - worauf die junge Dame, nach einem kurzen Blick auf die zur Schau gestellten Attraktionen, in schallendes Gelächter ausbricht. 148 ) Über die autorisierten Stimmen aus Academia und professioneller Literaturkritik hinaus provoziert die ‚Affäre‘ einen quantitativ und teilweise in seiner Selbstreflexivität und hypertextuellen Kreativität auch qualitativ bemerkenswerten amateuristischen Diskurs, der sich bevorzugt in diversen - oft hoch frequentierten - Blogs und Webforen entfaltet. So - ein Beispiel unter vielen - im Rahmen eines parodistischen „Courrier de l’au-delà“, mit dem sich die Princesse, erzürnt angesichts der „goujaterie“ seiner Auslassungen über ihre Person, aus dem literarhistorischen Jenseits höchstpersönlich an Sarkozy wendet: „‚J’ai beaucoup souffert sur elle‘, avez-vous ainsi déclaré, ponctuant votre malsaine déclaration d’un rire gras. Sur moi? Mon dieu, quelle indécence hors-de-propos… […] Sur moi? Savez-vous au moins à qui vous vous adressez, frustre malandrin? “ Nachdem sie dem „rustre impénitent“ ihren „mépris […] dévorant, incandescent“ ausgesprochen hat, tritt Lafayettes Heldin auch hier als Leserin ‚ihres‘ Romans („Je l’affirmais en mon temps, je le pense toujours: ‚Les passions peuvent me conduire, mais elles ne sauraient m’aveugler‘“) und Exegetin ihrer Rezeptionsgeschichte in Erscheinung: „Je songe à l’instant, à ces paroles du si admirable Stendhal (encore wird auch die Pariser Marathon-Lesung angekündigt), als allegorischer Inkarnation eines besseren Frankreich aufgegriffen. Zugleich demontiert FAC OFF dieses Klischeebild: Die in ihrer Verzweiflung offenbar dem Tabak- und Alkohol-Abusus verfallene Video-Princesse zerstört schließlich selbst die Inszenierung gefällig-dekorativer Weiblichkeit, indem sie ihren Lippenstift zweckentfremdet; statt einer adrett gestylten jungen Dame starrt der Zuschauerin plötzlich ein Gespenst mit blutrot verschmiertem Mund und wild ‚beschriftetem‘ Gesicht entgegen. 148 URL: http: / / sorbonneengreve.revolublog.com/ clip-de-paroles-paroles-princess-of-cleves-p12073. Mit seiner Interpretation der Princesse als auch sozial deklassierter paradigmatischer Figur der Verweigerung knüpft dieses Protest-Video über den politischen Kontext hinaus an eine lange Rezeptionsgeschichte an, in der neben der Bekenntnisszene vor allem das Ende des Romans - samt Liebesverzicht und Rückzug der Heldin - für kontroverse Diskussionen sorgt. Wird die Princesse in der kritischen Sekundärliteratur in ihrer Doppelrolle als Mitglied der cour und heimliche Außenseiterin, die nach anderen Regeln als jenen des Hofes und der höfischen Liebe zu spielen versucht, reflektiert, so stellen diese Protestkunstwerke mit ihrer clochardesken Anti-Princesse - paradoxe Verkörperung wahrer Noblesse - eine historische Ordnung auf den Kopf. Zugleich besitzt der Clip eine parodistische Märchen- Dimension: Seine Protagonistin figuriert auch als postmodernes Aschenputtel, das sich der ‚Erlösung‘ durch einen recht zweifelhaften Prinzen bzw. Präsidenten konsequent entzieht. <?page no="86"?> 86 Ideologie und Protestkunst: Ambivalenzen eines politischen Hypes un dont vous ne devez point goûter les sub[t]ilités), évoquant ma confession amoureuse au Duc de Nemours […].“ Dieses Schreiben, in dem die Princesse ihren Brief-Feind - Wiedergänger des „ruffian Napoléon“ oder auch, über noch größere historische Distanzen hinweg, „Néron post-moderne“ - mit eisiger Höflichkeit auf seinen Platz verweist („Vous ne goûtez point ma compagnie? Pour tout vous dire j’en suis fort aise“), animiert sogleich etliche Leserinnen und Leser des Blogs, die metaleptische Korrespondenz mit Lafayettes Protagonistin fortzusetzen: „Excellent! Bravo Princesse! “, gratuliert ‚Françoise‘ Mme de Clèves, während der ‚Marquis de Chompitiarve‘ zu einer preziös-archaisierenden und dabei mit allerlei ganz und gar un-klassischen Smileys dekorierten epistolarischen Hommage anhebt. „Une meuf m’envoit [sic] un truc pareil je crois que je vais aller me pendre : )“, kommentiert ‚Chritias‘; Bloggerin ‚Lémi‘ stimmt ihm spöttisch zu: „C’est bien le but de cette missive. Ils sont solides, les lustres de l’Elysée? “, wohingegen ein/ e abgeklärte/ r ‚wuwei‘ den Sarkozy-Suizid-Phantasien der Ko- Diskutanten einen Dämpfer verpasst, der Princesse aber dennoch Glückwünsche „pour ce bel exercice de style“ ausrichten lässt. Über Seiten hinweg entwickelt sich hier ein - trotz teils etwas defizitärer Orthografie - raffiniertes hyper- und metatextuelles Rollenspiel; auch in diesem amateuristischen Kontext werden die Schlüsselfragen des autorisierten literaturkritischen und -wissenschaftlichen Diskurses reflektiert, so die Ambivalenz des aktuellen Lafayette-Hypes („Dingue ce que la princesse peut inspirer en ce moment…“, meditiert ‚ubifaciunt‘), gegen den sich die Princesse selbst verwehrt („Je préfère ne pas être lue que l’être pour de mauvaises raisons“), unter Protest gegen den verachtenswerten Sarkozy’schen ‚Paratext‘, der ihre Rezeption nunmehr begleitet („On m’ouvrirait en pensant à lui, préface orale maudite? Je préfère à ce sacrilège le doux silence dans lequel je gis“) - woraufhin ‚Chomp’ la Roture‘ ihr zu bedenken gibt: „Ces raisons pourraient être bonnes, attisant la curiosité de la jeunesse en lui faisant réviser son préjugé commun que les choses anciennes sont vides d’intérêt […] Enfin bon, c’est vous qui savez, hein… D’la bise.“ Die Prinzessin revanchiert sich mit spielerischem Snobismus („Je ne parle pas avec des roturiers, grande andouille“), entwirft jedoch ihrerseits ein parodistisches Re-Editionsprojekt: „Avec une préface […] (‚pourquoi que je kiffe la princesse de Clève‘) ce serait parfait…“. Aber auch der Text Lafayettes selbst wird hier aufs Neue in unterschiedlichen Facetten erörtert (etwa ausgehend von einem Statement des Users ‚paulovaz‘, der neben Sarkozy auch gleich den Duc de Nemours für der Princesse im Grunde ‚unwürdig‘ befindet). 149 149 „Courrier de l’au-dela. La Princesse de Cleves nous écrit à propos de la ‚vilenie sans grâce d’un homme de haut-rang‘“ (Article 11, 26.02.2009; zitierte Kommentare: 26.-28.02.2009, 14.04.2009). <?page no="87"?> „Clèves générale! “: Die Prinzessin auf den Barrikaden 87 *** Innerhalb kurzer Zeit entsteht derart ein ganzes multimediales Corpus fröhlich eklektischer Protestkunst zwischen Hoch- und Populärkultur, autorisiertem Diskurs und amateuristischem Spiel, das, wenngleich nicht für die Ewigkeit konzipiert, doch einen ideologisch aufschlussreichen und teilweise auch ästhetisch nicht uninteressanten Beitrag zur kreativen Neu- Rezeption eines erfolgreich gegen sakrale Bedeutungsstarre verteidigten Klassikers darstellt - und insofern auf Umwegen an die klassische literarische Kultur im Allgemeinen und an die Aufnahme der Princesse de Clèves bei den Zeitgenossen Lafayettes im Speziellen anknüpft. Im Gefolge der ‚Affäre‘ tritt der Roman - im Rahmen jener mäandernden „odyssée des valorisations“, die das kulturelle Gedächtnis unaufhörlich rekonfiguriert - in einen neuen „circuit de visibilité“ ein; die Dynamik dieser Rezeption eines revitalisierten Klassikers illustriert besonders plastisch „la nouveauté culturelle relative de la reprise et du recentrage“, die, wenn auch „[m]oins spectaculaire que la nouveauté radicale d’introduction“, nach Judith Schlanger dennoch als „peut-être la plus importante“ gelten darf: „[…] c’est par elle que des œuvres et des traces (noms ou notions) renouvellent leur valeur, leur prix, leur pertinence.“ 150 Mehrere Jahre später ist dieser Effekt einer auch populärkulturellen Aktualisierung bzw. Visibilisierung der Princesse noch deutlich wahrzunehmen - dies quer durch die Medien: 2012 formiert sich eine Rockband namens Princesse de Clèves (nicht zu verwechseln mit der Sorbonne-Band Princess of Clèves). Das gleichnamige Debüt-Album nimmt direkt Bezug auf den politischen Kontext: Neben den anagrammatischen Nummern Principe de base und Esab ed epicnirp, dem Baudrillard-inspirierten La société de consommation est un faux-self findet sich auch ein rockmusikalisches Statement zum Thema Former des guichetiers. 151 Soviel an dieser Stelle zu ideologischen Facetten und (populär-)kulturellen Konsequenzen der neuen Querelle rund um La Princesse de Clèves, mit der eine bereits um die Jahrtausendwende intensivierte Neu-Rezeption des Romans eine beträchtliche gesellschaftliche Dynamik gewinnt; es ist dieser politische Background, vor dem heute nicht nur, aber vor allem in Frankreich die kritische, künstlerische, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Lafayettes Roman samt literarischen Re-Interpretationen und filmischen Adaptionen bis auf Weiteres quasi unweigerlich auch erfolgt und den es hier insofern vorweg kurz zu skizzieren galt. 150 Schlanger 2008: 167, 171f. 151 Vgl. URL: http: / / princessedecleves.bandcamp.com. <?page no="89"?> La Princesse de Clèves à travers les siècles: Panorama einer produktiven Rezeptionsgeschichte La postérité littéraire de Mme de La Fayette est innombrable. 1 Zurück denn also von den kultur- und bildungspolitischen Turbulenzen im Frankreich des frühen 21. Jahrhunderts zur produktiven literarischen Rezeptionsgeschichte der Princesse de Clèves. Bereits in den ersten Jahren nach deren anonymer Publikation erscheinen allerlei Variationen, seriöse oder parodistische Imitationen, „réimpressions et contrefaçons“. 2 Auch der Roman selbst wird durch den Paratext re-interpretiert: So bringt der holländische Verleger Wolters 1693 eine ‚galante‘ Edition unter dem Titel Amourettes du Duc de Nemours et de la Princesse de Clèves mit entsprechendem Frontispiz heraus. 3 Schon 1682 veröffentlicht Du Plaisir - in dessen Sentiments sur les lettres et sur l’histoire, avec des scrupules sur le style (1683) La Princesse de Clèves, wenn auch nicht explizit genannt, als Modell einer Poetik der „romans nouveaux“ bzw. regelrechte „grammaire du genre“ fungiert 4 - mit La Duchesse d’Estramène eine zugleich historisch adaptierte und kulturell leicht verfremdete, im Milieu der englischen Aristokratie der Jahre 1672-1678 angesiedelte „réécriture manifeste de La Princesse de Clèves“ mit alternativem, zumindest partiell ‚glücklichem‘ Ende; auch dieser Text, in dem zeitgenössische Leser „le schéma inversé“ der Princesse samt finalem „retournement“ erkennen, provoziert eine kleine Querelle, zu der wiederum der Mercure galant mit einer anlassbezogenen „question aux lecteurs“ beiträgt. 5 Auch außerhalb Frankreichs setzt die kreative Princesse- Rezeption bald nach der Erstpublikation ein: 6 1679 liegt bereits eine englische Version vor, 7 Anfang der 1680er Jahre 8 wird in London Nathaniel Lees Adaption The Princess of Cleve uraufgeführt. In Frankreich selbst wird die mit der Princesse de Clèves begründete Form des „roman à ‚histoire‘, celle des crises sentimentales, des amours contrariées“ auch im 18. 1 Pingaud 1959: 141. Vgl. auch Levillain 1995: 150; Versini 2001; Esmein-Sarrazin 2014a: XXXIV. 2 Esmein-Sarrazin 2014c: 1330. Vgl. auch Santa Bañeres 1988; Gevrey 1989 und 2005. 3 Vgl. Dufour-Maître/ Milhit 2004: 86. 4 Esmein-Sarrazin 2014c: 1306, 1328ff. (unter Verweis auf eine Formulierung Jean Fabres); vgl. auch Esmein 2004: hier insbes. 763f. 5 Viala 2008: 272f. Auch Du Plaisir inszeniert eine verheiratete, jedoch in einen anderen Mann verliebte Protagonistin; hier ist es allerdings der Geliebte, der aus Verzweiflung stirbt, während das Ehepaar abseits der Wirren der Passion zu einer harmonischen, auf „amitié“ und „estime“ basierenden Koexistenz findet, Illustration dessen, „que la raison et la vertu peuvent former des nœuds aussi forts que ceux qui sont formés par l’inclination la plus violente et la plus naturelle“ (zit. ibid.: 272); vgl. auch Esmein- Sarrazin 2014c: 1313. Wie in der Duchesse d’Estramène wird der Schluss Lafayettes in Catherine Bernards Éléonore d’Yvrée (1687) umgekehrt aufgegriffen (vgl. ibid.: 1329). 6 Zur komparatistischen Kontextualisierung der Princesse - auch bei Dubois (2011) formuliertes Forschungsdesiderat - vgl. etwa die bei Dubois zitierte Studie Fosalbas (2006) sowie Kramer 2015. 7 Dies unter dem falscher Bescheidenheit unverdächtigen Titel The Princess of Cleves. The Most Famed Romance. Written in French by the Greatest Wits of France. Rendred into English by a Person of Quality, at the Request of some Friends (zit. nach Esmein-Sarrazin 2014c: 1295). 8 Collington/ Collington (2002) datieren Lees Princess auf das Jahr 1681; laut Campbell (2005: 59) wurde das Stück jedenfalls „sometime between 1680 and 1682“ erstaufgeführt. <?page no="90"?> 90 Panorama einer produktiven Rezeptionsgeschichte Jahrhundert fortgeschrieben. 9 Ausdrücklich lobt Voltaire die Princesse wie Zayde - im Gegensatz zur Tradition des „d’un style ampoulé des choses peu vraisemblables“ erzählenden preziösen Romans - für ihre „aventures naturelles décrites avec grâce“; 10 Les Égarements du cœur et de l’esprit von Crébillon fils (1736-1738) können die Inspiration du côté de chez Lafayette ebenso wenig verleugnen wie Marivaux’ La Vie de Marianne (1731-1742) und Prévosts Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut (1731), in der ersten Hälfte des Jahrhunderts „la seule œuvre où résonne l’accent désespéré de La Princesse de Clèves“, 11 die Anecdotes de la cour et du règne d’Édouard II, roi d’Angleterre (1776) von Claudine-Alexandrine de Tencin und Anne-Louise de Beaumont 12 oder auch schon La Morlières Motifs de retraite, ou Histoire de la marquise de Verville (1769), weniger bekannte „Princesse de Clèves prévostienne“. 13 Es 9 Rambaud 2006: 15. Vgl. auch Garapon 1988: 68f.; Lecompte 2009b; zur produktiven Rezeption des Romans im 18. Jahrhundert siehe auch Fauchery 1972: 60ff. 10 Voltaire: Le Siècle de Louis XIV (1751), zit. nach Pingaud 1959: 147f.; vgl. auch Esmein-Sarrazin 2014a: XXXIII. Siehe dazu auch den (von Jaucourt verfassten) Artikel „Roman“ der Encyclopédie: „Mme la comtesse de Lafayette dégoûta le public des fadaises ridicules dont nous venons de parler. L’on vit dans sa Zaïde et dans sa Princesse de Clèves des peintures véritables, et des aventures naturelles décrites avec grâce“ (zit. nach Esmein 2005). Auch der Abbé Sabatier de Castres honoriert Lafayettes Innovation gegenüber der Tradition heroisch-preziöser Romane, stets nur „l’ouvrage de l’imagination & jamais celui du sentiment“: „elle en a banni la premiére [sic] un héroïsme chimérique, & en a réduit la fiction à la peinture des mœurs, des caractères & des usages de la Société“ (zit. nach Grieder 1977: 10). 11 Pingaud 1959: 151. 12 Diesen nach dem Tod Tencins von Beaumont vollendeten, zwischen misogyner „moral orthodoxy“ und non-konformistischer Vision einer „female autonomy“ schillernden Roman in all seiner „ambiguity and obliquity“ liest Hall als réécriture der Princesse de Clèves unter Verwendung historischen Materials aus der englischen Geschichte (1999: zit. 157f.). Auch hier steht eine junge Heldin, bei deren Gestaltung Tencin „some of the most distinctive features of the Princesse de Clèves“ übernimmt und akzentuiert, zwischen zwei Männern, Edwards Favorit Gaveston, „almost a caricature of Nemours“, und Graf Pembrocke als „a stylized copy of Clèves“. Dieses Kontrastpaar aus dem etablierten Repertoire der „feminocentric fiction of the ‚galant‘ historical novel“ stellt per se noch kein Indiz für direkte Inspiration dar; wie ihre Lafayette’sche Vorgängerin erlebt freilich auch Mlle de Glocester „love as a disturbing journey towards self-discovery“ (ibid.: 149f.). Unter bemerkenswertem Rollen-Switching heiratet sie die hier moralisch wie sozial inferiore Nemours-Figur und erfährt in dieser Ehe eine herbe Lektion des „désamour“ (ibid.: 152). „L’amour ne dure pas toujours […]“ (zit. ibid.: 154): Zu dieser Einsicht gelangt, gewährt die Witwe in der „climactic scene“ des Romans, die ihre intertextuellen Wurzeln nicht verleugnen kann, dem sie nach wie vor liebenden Pembrocke eine Aussprache, bekennt ihrerseits gewisse „sentimens“ - und lehnt seinen Antrag ab (ibid.: 148). Ohne wieder zu heiraten (dies in frappierender, für das Genre untypischer Abweichung gegenüber der matrimonialen Biografie des historischen Vorbilds; vgl. ibid.: 151), doch auch ohne mit der Gesellschaft und dem Gefährten völlig zu brechen, verbringt diese spätere ‚Princesse‘ fortan einen Großteil des Jahres im „private béguinage“ eines Klosters. Dort lebt sie zufrieden „into an old age free of woe and guilt“; der Text klingt mit „one of the most emphatic celebrations of old age“ in der französischen Romanliteratur der Epoche aus (ibid.: 155ff.). 13 Dieser Kurzroman Jacques Rochette de La Morlières, vor allem für seinen „roman libertin“ Angola. Histoire indienne (1746) bekannter „minor man of letters“, ist als Beispiel einer epochentypischen réécriture der Princesse in mancher Hinsicht aufschlussreich. Sorgfältig wird, wie Grieder (1977: 10ff.) zeigt, der klassische Prätext der Poetik der „late eighteenth-century sentimental fiction“ und dem Erwartungshorizont des zeitgenössischen Publikums angepasst. In diesem Sinne verbinden die Motifs de retraite „a less idealized presentation of love“ mit „a more overt demonstration of morality“. Im Gegensatz zu Lafayettes auf ihrer eigenen Singularität und ‚Unwahrscheinlichkeit‘ insistierender Ausnahmeheldin - „une Héroïne, qui ne sera peut estre jamais imitée de personne“, erklärt Donneau de Visé im Mercure galant (zit. nach Laugaa 1971: 38) - lädt La Morlières weniger erhabene Protago- <?page no="91"?> La Princesse de Clèves à travers les siècles 91 zeugt von der produktiven Ambiguität des Ausgangstextes, dass sowohl Liebesskeptiker als auch „apologistes du sentiment“ sich auf „le patronage de Mme de La Fayette“ berufen. 14 Jean-Jacques Rousseau verfasst seine Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) deklarierterweise auf den Spuren der Princesse 15 („Je mets sans crainte la quatrième partie de La Nouvelle Héloïse à côté de La Princesse de Clèves“, erklärt der Autor 16 ); mit Les Liaisons dangereuses (1782) kreiert Choderlos de Laclos eine im 20. Jahrhundert gleichfalls mehrfach verfilmte „Princesse de Clèves pervertie“. 17 Mit der Re-Edition der Princesse (samt der Novelle La Comtesse de Tende und Valincours Lettres) im Jahr 1807 beginnt eine neue Rezeptionsphase bzw. „nouvelle carrière“ des zusehends mit einer „valeur mythique“ ausgestatteten Textes. 18 Die Romantik, aber auch der realistische nistin eine sentimentale weibliche Leserschaft von vornherein zur projektiven Identifikation ein: „On peut aisément se peindre mon état, il est commun à toutes les femmes qui, solidement vertueuses, ont à essuyer des combats perpétuels contre un tirannique amour“ (zit. nach Grieder 1977: 13). Indem er „the elevated and austere morality of the seventeenth century“ in „the more sentimental, pragmatic tolerance of the eighteenth“ verwandelt (ibid.: 14), nimmt La Morlière bereits das in Marmontels Essai sur les Romans, considérés du côté moral (1787) skizzierte Programm einer sentimentalen Princesse samt weniger heroischer und gerade insofern moralisch exemplarischer Hauptfigur vorweg: „La princesse de Clèves, après bien des combats et une longue résistance, devenue coupable et malheureuse par la seule témérité de sa confiance en elle-même et en ses propres résolutions, eût été d’un exemple moins honorable pour son sexe, peut-être moins intéressant, mais certainement plus moral“ (Marmontel 1819: 312; vgl. dazu Grieder 1977: 13). Siehe zu La Morlières Text auch Pelckmans 2009 und 2013. 14 Pingaud 1959: 150. 15 „Lorsque Rousseau écrit sa Julie, il croit refaire La Princesse de Clèves, et il la refait dans une certaine mesure, puisqu’il en donne une interprétation qui est celle de tous ses contemporains: […]“, bemerkt Pingaud (ibid.). 16 Zit. ibid.: 150f.; vgl. auch Laugaa 1971: 150. 17 Pingaud 1959: 153. „Avec le faux couple Nemours-Mme la dauphine, on a déjà comme en germe le couple diabolique des Liaisons dangereuses Valmont-Merteuil“, konstatiert auch Levillain (1995: 84). Lafayettes „raffinement de l’analyse ravit ce siècle de la ‚philosophie‘ et, de Manon Lescaut aux Liaisons dangereuses, en passant par toute la littérature libertine, sert de modèle aux romanciers qui en épousent la forme tout en en inversant le sens“, hält Malandain fest (1989: 115). Es ist ausgerechnet Sade, der - unter Rekurs auf das ambivalente Argument weiblicher ‚Delikatesse‘ - Lafayettes Autorschaft verteidigt: „On a dit parce qu’elle était femme (comme si ce sexe, naturellement plus délicat, plus fait pour écrire le roman; ne pouvait, en ce genre, prétendre à bien plus de lauriers que nous), on a prétendu, dis-je, qu’infiniment aidée, La Fayette n’avait fait ses romans qu’avec le secours de La Rochefoucauld pour les pensées et de Segrais pour le style. Quoi qu’il en soit, rien d’intéressant comme Zaïde, ni d’écrit agréablement comme la Princesse de Clèves. Aimable et charmante femme, si les Grâces tenaient ton pinceau, n’était-il donc pas permis à l’amour de le diriger quelquefois? “ (Idée sur les romans [erschienen als Vorwort zu Les Crimes de l’amour, 1800], zit. nach Laugaa 1971: 154). In der ersten Novelle der Crimes („Juliette et Raunai ou la Conspiration d’Amboise“) setzt Sade als Nebenfigur neben Sancerre, Castelnau und den Guises auch Jacques de Savoie, Duc de Nemours, in Szene (vgl. ibid.: 152f.). Eine gewisse literarische Filiation Lafayette-Sade arbeitet auch Kamuf heraus, wenn sie „[t]he Sadian father“ als „perhaps the most direct heir of Mme de Chartres’s educational philosophy“ interpretiert (1987: 157). 18 Pingaud 1959: 156. Zur Editionsgeschichte der Princesse de Clèves im 19. Jahrhundert vgl. Laugaa 1971: 156ff. Der Status der Princesse bleibt freilich speziell: So betont Paige (2010), dass der Roman nicht geradlinig als „a harbinger of the future, an ancestor of the nineteenth-century novel“ betrachtet werden könne; vgl. auch Paige 2011. „[…] La Princesse de Clèves demeure une œuvre isolée en son époque, isolée même par rapport à la postérité d’un genre dont elle a pourtant fourni le modèle“, fasst Mesnard dieses Paradoxon zusammen (2009: 68). Zum Einfluss der Princesse, zugleich Modell zahlreicher réécritures und literarhistorischer „hapax“, „dans la théorisation et la pratique du roman“ siehe Esmein 2005; Esmein-Sarrazin 2014c: 1306. <?page no="92"?> 92 Panorama einer produktiven Rezeptionsgeschichte Roman des 19. Jahrhunderts variieren weiter „la situation et les émotions ébauchées par La Princesse de Clèves“; „le thème du renoncement“ wird zum literarischen Topos, ja „cliché littéraire“. 19 In der Traditionslinie der Princesse zu verorten sind sowohl Benjamin Constants Adolphe (1816) als auch das Werk George Sands, vor allem freilich Honoré de Balzac - der mit La Duchesse de Langeais (1834) einen weiteren „roman du refus, du renoncement, des interdits“ vorlegt, in Le Lys dans la vallée (1835/ 1836) erneut „le thème du désir et de la vertu confronté à celui de la femme mariée“ aufgreift 20 - und Eugène Fromentin: Auch im Zentrum des Romans Dominique (1862) steht eine tugendhafte Heldin, die ihrer außerehelichen Passion nicht nachgibt und daran stirbt, wobei Fromentin gegenüber Lafayette nicht nur eine historische Aktualisierung des Sujets, sondern auch einige aufschlussreiche roman-chronologische Modifikationen vornimmt. 21 Einen dichten hyperwie metatextuellen Knotenpunkt in dieser produktiven Rezeptionsgeschichte stellt das Œuvre Stendhals dar, der aus seiner „admiration sans borne“ für Lafayette und insbesondere die Princesse kein Geheimnis macht. 22 Neben seinem fiktionalen Werk - La Chartreuse de Parme (1839) ebenso wie schon Armance (1827): die eponyme Heldin dieses Textes, vom Autor für „délicat comme La Princesse de Clèves“ befunden, 23 reflektiert auf diegetischer Ebene „la tentation de la retraite“ 24 - bezieht Stendhal sich auch in seinem Essay De l’amour (1822), seinem Anspruch zufolge „point un roman, et surtout […] pas amusant comme un roman“, sondern an einen aktiven, sich seiner Rolle als Ko-Autor bewussten Leser adressierte „description exacte et scientifique d’une sorte de folie très rare en France“, 25 wiederholt auf Lafayette. Seine Theorie der amourösen „cristallisation“ (samt Modell der ‚vier 19 Rambaud 2006: 16. 20 Ibid. 21 So begegnet Fromentins eponymer Protagonist Madeleine d’Orsel bereits vor ihrer Heirat, wagt sich, verliebter Noch-collégien, allerdings nicht zu erklären; erst durch die Hochzeit der Angebeteten mit dem Comte de Nièvres verwandelt sich diese Passion aus einem „amour impossible“ in einen „amour coupable“ (ibid.: 17) - dies nicht aufgrund eines vagen ‚Schicksals‘, sondern als Folge einer Sequenz fataler (Nicht-)Entscheidungen der Figuren, die selbst ihrem potentiellen Glück im Wege stehen. Zu Dominique als romaneskem „point d’aboutissement d’une lignée issue de La Princesse de Clèves“, aber auch zu signifikanten Unterschieden gegenüber dem klassischen Text Lafayettes vgl. Labarthe 2009 (hier zit. 183). 22 Werlen 2012: 108ff. „[…] avec une insistance singulière, Stendhal a constitué La Princesse de Clèves comme espace scripturaire où viennent se prendre ses désirs de fiction, ses rêveries érotiques et romanesques; il y a une lecture stendhalienne de ce roman, telle qu’on pourrait sans paradoxe intituler cette brève étude: De l’Influence de Stendhal sur Mme de Lafayette“, merkt Laugaa an (1971: 177), der am Beispiel Stendhal-Lafayette die komplexe Relation zwischen Prä- und Posttext, die scheinbar paradoxe Re- Kreation literarischer ‚Vorgängerschaft‘ im Lauf der Rezeptionsgeschichte reflektiert: „D’une part, le livre écrit retient dans ses filets le souvenir allusif du livre lu, d’autre part, il transforme invinciblement la lecture antérieure. […] on peut lire La Princesse de Clèves sous Armance; mais on peut lire Armance sous La Princesse de Clèves“ (ibid.: 178f.). Vgl. zu dieser privilegierten intertextuellen Beziehung auch Alciatore 1958 sowie Meier 1993: 106ff.; zur Princesse als möglicher Quelle der Chartreuse de Parme Gundersen 1999. 23 Zit. nach Pingaud 1959: 160; vgl. auch Laugaa 1971: 178. 24 Rambaud 2006: 16. 25 Stendhal 1959: 321. ,„Il n’y a qu’à prendre un crayon et écrire entre [les] lignes les cinq ou six mots qui manquent“, erklärt Stendhal in Vorwegnahme einer Kritik, die ihm - wie schon Valincour dem Text Lafayettes - „plusieurs ellipses trop hardies“ vorzuwerfen versucht sein könnte (ibid.: 14). <?page no="93"?> La Princesse de Clèves à travers les siècles 93 Typen‘ bzw. auch ‚sieben Stufen‘ der Liebe) 26 entfaltet sich „en ligne directe de La Princesse de Clèves“ und illustriert eindrücklich deren „empire […] sur Stendhal“. 27 „En cinquante ans, le mythe naît, s’affirme, s’effondre“, 28 resümiert Bernard Pingaud die Entwicklung von Adolphe über Armance - „le mythe à l’état pur“ 29 - bis Dominique. Aber auch nach der Demontage des ‚Mythos‘ bleibt die Princesse als Hypotext im 20. Jahrhundert 26 Vgl. ibid.: 5ff. zu den „quatres amours différents“, 8ff. („De la naissance de l’amour“) et passim zum Prozess der „première cristallisation“ und der „seconde cristallisation“. 27 Werlen 2012: 111. Wenngleich skeptisch gegenüber dem Unterfangen, „l’amour par les romans“ erkunden zu wollen, thematisiert Stendhal (1959: 325) sehr wohl die Konditionierung vor allem des weiblichen Liebeslebens durch die Literatur: „Depuis le premier roman qu’une femme a ouvert, en cachette à quinze ans, elle attend en secret la venue de l’amour-passion“ (ibid.: 294). Wie Mme de Chartres ist auch er der Meinung, „qu’on doit parler de l’amour à des jeunes filles bien élevées“ (ibid.: 212), wobei er in seinem Essay auch sonst mancherlei Überlegungen zur Ordnung der Geschlechter - deren vermeintliche ‚Natürlichkeit‘ hier bereits als soziokulturelles Konstrukt entlarvt wird („On appelle naturel ce qui ne s’écarte pas de la manière habituelle d’agir“; ibid.: 98) -, zur Ehevermittlung als „prostitution légale“ (ibid.: 50) etc. anstellt. Seine Ausführungen über die Liebe als ‚Krankheit‘ bzw. „fièvre“ (ibid.: 16) - seit der Antike etablierter Topos - oder über die mimetische Dynamik der Passion (vgl. ibid.: 27) laden ebenso sehr zum Rückbezug auf die Princesse ein wie seine Analyse der Liebe generierenden oder verhindernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Auch wenn „[l]e grand monde, avec ses fêtes brillantes“ den „premier pas“ erleichtert, so ist der „vrai grand monde tel qu’on le trouvait à la cour de France“ doch der Liebe ungünstig, „comme rendant presque impossibles la solitude et le loisir, indispensables pour le travail des cristallisations“ (ibid.: 33f.). Unter dem Titel „Des nations par rapport à l’amour“ (ibid.: 138ff.) kommentiert Stendhal nicht nur kritisch die (anti-) amouröse Kultur Frankreichs, „le pays du monde où il y a le moins de mariages d’inclination“ (ibid.: 147), sondern geht auch auf die Darstellung der Passion in der Literatur des 17. Jahrhunderts und speziell den coup de foudre ein, „un mouvement de l’âme qui, pour avoir été gâté par un nombre infini de barbouilleurs, n’en existe pas moins dans la nature“ (ibid.: 10). Am Beispiel Nemours’ erläutert er die Superiorität des Liebesglücks gegenüber politischen Ehren und militärischen Erfolgen - und erst recht gegenüber den schalen Freuden der „vanité“ eines Don Juan: „Le bonheur de don Juan n’est que de la vanité basée, il est vrai, sur des circonstances amenées par beaucoup d’esprit et d’activité; mais il doit sentir que le moindre général qui gagne une bataille, que le moindre préfet qui contient un département, a une jouissance plus remarquable que la sienne; tandis que le bonheur du duc de Nemours quand M me de Clèves lui dit qu’elle l’aime est, je crois, au-dessus du bonheur de Napoléon à Marengo“ (ibid.: 236). Lafayettes eponyme Protagonistin wiederum illustriert nicht nur jenen „courage moral, si supérieur à l’autre, la fermeté d’une femme qui résiste à son amour […] la chose la plus admirable qui puisse exister sur la terre“, sondern auch das damit verbundene Unglück: „Un malheur des femmes, c’est que les preuves de ce courage restent toujours secrètes, et soient presque indivulgables. Un malheur plus grand, c’est qu’il soit toujours employé contre leur bonheur: la princesse de Clèves devait ne rien dire à son mari, et se donner à M. de Nemours“ (ibid.: 83). „Mais c’est le mâle, c’est le chasseur qui parle“, bemerkt dazu Durry (1962: 51); dasselbe Motiv einer nicht un-aggressiven Liebes-‚Jagd‘ problematisiert Trzebiatowski 1998; vgl. dazu Francillon 1973: 163, 219. Konstatiert Stendhal trocken, im Rahmen der aktuellen gesellschaftlichen Ordnung wäre es „un bonheur pour nos femmes […] de mourir à cinquante ans“ (1959: 216), so spekuliert er dennoch über den hypothetischen Sinneswandel einer gealterten und abgeklärten Mme de Clèves: „Je crois que si M me de Clèves fût arrivée à la vieillesse, […] elle se fût repentie. Elle aurait voulu avoir vécu comme M me de La Fayette“ (ibid.: 83), deren „amitié parfaite“ mit La Rochefoucauld - auch hier als wahrscheinlicher Ko-Autor der Princesse angeführt - ihm als ebenso exemplarisch gilt („C’est exactement l’amour à l’italienne“; ibid.) wie die editoriale Diskretion Lafayettes: „Je dirai qu’une femme ne doit jamais écrire que […] des œuvres posthumes à publier après sa mort. […] Hors de là, une femme doit imprimer comme le baron d’Holbach ou M me de La Fayette; leurs meilleurs amis l’ignoraient“ (ibid.: 210). 28 Pingaud 1959: 157. 29 Ibid.: 160. <?page no="94"?> 94 Panorama einer produktiven Rezeptionsgeschichte höchst produktiv; nicht zuletzt aus dieser narrativen Matrix gehen André Gides La Porte étroite (1909) - Isabelle Rambaud identifiziert auch hier Lafayettes „figures sentimentales“ 30 -, François Mauriacs Le Baiser au lépreux (1922) 31 oder Paul Claudels Le Soulier de satin (1929) 32 hervor. Die literarische Nachkommenschaft der Princesse umfasst nicht nur Jean Cocteau, Raymond Radiguet und Jean Genet (Le Miracle de la rose, 1946), sondern auch Paul Morand oder Pierre Drieu La Rochelle 33 (der Lafayettes Roman als „une des plus exquises choses qui soient sorties des mains françaises“ bezeichnet 34 ), Marguerite Duras oder Françoise Sagan. 35 Walburga Hülk unternimmt eine parallele Lektüre der Princesse und der Proust’schen Prisonnière; 36 Claude Coste und Michèle Castells-Faucher verorten Marguerite Yourcenars Anna, soror… (1981, erste Version 1925) in der Tradition der Princesse. 37 Aber auch abseits der Höhenkammliteratur beruft sich im 20. Jahrhundert eine Reihe von selbstdeklarierten Lafayette- (und Radiguet-)Epigonen auf deren illustres Vorbild. Wie Pingaud im Jahr 1959 ironisch bemerkt, fungiere „le roman à la manière de Mme de La Fayette“ in den Augen aufstrebender junger Schriftsteller mittlerweile als „l’indispensable baccalauréat qui ouvre la voie aux études supérieures“: „Tout un secteur de la littérature actuelle vient en droite ligne de Radiguet. […] après une période où le roman ‚engagé‘ a connu une grande vogue, on a vu le roman ‚psychologique‘ revenir à la charge, et un critique contemporain - romancier lui-même - parler de ces ‚deux ou trois mille romanciers qui publient chaque année un roman “limpide et glacé” dans la tradition de La Princesse de Clèves.‘“ 38 Zur besseren ästhetischen wie ideologischen Kontextualisierung zeitgenössischer Princesse de Clèves-Re-Interpretationen - die vor der Vergleichsbzw. Kontrastfolie nicht nur des klassischen Prätextes, vielmehr einer ganzen langen kritischen wie kreativen Rezeptionsgeschichte zu betrachten sind - sollen nun vorweg zwei besonders signifikante Princesse- Hypertexte des früheren bis mittleren 20. Jahrhunderts reflektiert werden: Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel (1924) - in einer (nicht nur) literarischen Umbruchszeit verfasster Schlüssel- und quasi ‚Scharnier‘-Text, der zum ersten Mal einige in den späteren réécritures vielfach fortgeschriebene moderne Akzente setzt - und Louise de Vilmorins Madame 30 Rambaud 2006: 17; vgl. auch Laugaa 1971: 231. 31 Vgl. Rambaud 2006: 17. 32 Vgl. Chapiro 2009: 54. 33 Vgl. Guégan 2014. 34 Zit. nach Rambaud 2006: 32. 35 Vgl. Levy 2014. 36 Vgl. Hülk 1995. „[…] comment ne pas évoquer Proust à propos de Mme de La Fayette? “, fragt bereits Francillon (1973: 303), stehe doch - über die soziale „analogie“ zwischen Lafayette und „le snob qui hante les salons du Faubourg Saint-Germain“ hinaus - bei beiden am Ende ihres jeweiligen Meisterwerks „un refus radical de la société et […] une totale remise en question des valeurs mondaines“ (ibid.). Diese intertextuelle Relation etabliert unter Einbeziehung Balzacs auch Chambers (1986). 37 Coste/ Castells-Faucher 2000: 320ff. 38 Pingaud 1959: 174ff. Butor prangert in seiner Meditation über die Princesse, jenes so oft verkannte „livre brûlant“ (1960: 74), zugleich den häufigen hypertextuellen ‚Betrug‘ rund um Lafayettes Werk an, all jene Autoren, die „une parenté souvent usurpée, fondée sur l’impressionisme d’une lecture réductrice“ (Coste/ Castells-Faucher 2000: 319) für sich reklamieren und vermeintlich „dans la tradition de M me de La Fayette“ allerlei „pâles petits récits d’amourette“ produzieren (Butor 1960: 74). Bei aller anderweitigen Ambivalenz ist dem politisch motivierten Lafayette-Hype Anfang des 21. Jahrhunderts jenes indirekte Verdienst nicht abzusprechen, die Princesse aus dieser Pastell-Parallelwelt geholt und symbolisch auf die Barrikaden geschickt zu haben. <?page no="95"?> La Princesse de Clèves à travers les siècles 95 de (1951), in ihrem relativen Konservativismus - gerade in puncto Gender - symptomatische Nachkriegs-Version. Mit Jacqueline Harpmans 1959 erstpubliziertem, 2001 in überarbeiteter Form neu aufgelegtem Roman Brève Arcadie wird daraufhin die Brücke zu unserer literarischen Gegenwart geschlagen. Vor dem skizzierten Hintergrund gilt es in der Folge die Spezifik der postmodernen produktiven Rezeption der Princesse de Clèves Anfang des 21. Jahrhunderts zu analysieren - in einem ersten Schritt in literarischen Texten, in einem zweiten in der Filmkunst. Besonderes Augenmerk wird zunächst auf die Re-Interpretation der zentralen Personenkonstellation und des soziohistorischen Kontexts der Princesse zu richten sein; in seiner „temporalité mixte, à cheval sur deux mondes“, 39 in seiner komplexen Historizität - seinem Mix von Fakten und Fiktion, historischer und rein fiktiver Figuren, seiner Assoziation zweier Epochen der französischen Geschichte 40 - repräsentiert Lafayettes Werk, „roman historique 39 Malandain 1989: 106. 40 Lafayette, die den allzu freien Umgang Scudérys mit ihrem geschichtlichen Material kritisiert, rekurriert in ihrer literarischen Rekonstruktion der Epoche Henris II und François’ II auf eine Reihe konkreter Quellen (vgl. Niderst 1973: 26f.), neben den bereits zitierten Schriften Brantômes - Vies des dames illustres de France (posthum 1665), Vies des dames galantes (1666) und Vies des hommes illustres et grands capitaines français (1666) - auch Pierre Matthieus Histoire de France (1631), François-Eudes de Mézerays sechsbändige Histoire de France depuis Faramond jusqu’à maintenant (1643-1651) und sein Abrégé chronologique ou Extrait de l’histoire de France (1667-1668), Le Laboureurs Additions aux „Mémoires“ de messire Michel de Castelnau, seigneur de Mauvissière (1659) sowie die Schriften des P. Anselme de Sainte- Marie (Le Palais de l’honneur, 1663); vgl. dazu Esmein-Sarrazins Dossier in Lafayette 2014: 479ff.; Esmein-Sarrazin 2014c: 1296ff., 1300ff. Spricht Esmein-Sarrazin angesichts diverser Abweichungen zwischen Geschichte und Roman-Zeit in der Princesse von einem „temps de l’histoire rendu élastique“ (ibid.: 1301), so zeichnet Lafayettes literarisierte Historie nach Niderst ihre bemerkenswerte Kombination einer „méticulosité presque maniaque“ und einer „hardiesse singulière“ aus (1973: 28); ähnlich schon Chamard und Rudler, denen zufolge Lafayette einen „travail très sérieux, très heureux […] pour se documenter“ mit einer „indifférence à peu près entière à l’esprit et à la couleur du siècle où elle a placé son roman“ verbindet (zit. nach Laugaa 1971: 213). Diese Dokumentation verleiht dem Roman einen durchaus intendierten „air d’authenticité historique, d’exactitude“ (Rambaud 2006: 35). Bei all dem bleibt der historische Stoff freilich funktionelles „alibi du roman“ (Levillain 1995: 40ff.); diverse Elemente und Figuren werden in jener „sweeping generalization that places the story in a historical context“ (Tiefenbrun 1976: 74) in Zirkulation versetzt, auf dem Schachbrett der Romancière hin und her verschoben - eine Strategie, die zum Zeitpunkt der Erstpublikation für einen noch stärkeren Verfremdungs- und Irritationseffekt gesorgt haben dürfte, als dies heute der Fall ist (Rambaud 2006: 45). Davon zeugt bereits die Reaktion Valincours: „[…] il n’y a rien de véritable, dans tout l’ouvrage, que quelques endroits de l’histoire de France, qui, à mon sens, devraient n’y être point“ (2001: 62). Zu den subtilen Verwerfungen zwischen „Temps historique et durée romanesque“ vgl. insbes. auch Francillon 1973: 117ff. Durch ihre Schilderung des Königshofes unter Henri II und François II schimmert deutlich genug die für Lafayette zeitgenössische cour Louis’ XIV durch (vgl. etwa Chapiro 2009: 25). „On a cru y trouver une avanture [sic] de ce siècle, sous les noms de quelques personnes de l’ancienne cour“, notiert schon Charles Sorel zu La Princesse de Montpensier (Bibliothèque française [1664, Ed. 1667], zit. nach Laugaa 1971: 10); auch La Princesse de Clèves stellt nicht zuletzt „un miroir inversé de la société contemporaine de Madame de La Fayette“ dar (Rambaud 2006: 36 [Hervorhebung im Original]; vgl. auch Fabre 1979: 58). Gegen „l’opinion, devenue commune dans la critique, selon laquelle le roman dépeint la cour de Louis XIV sous couvert de celle d’Henri II“ wendet sich Jean Mesnard (vgl. Esmein-Sarrazin 2014c: 1304). Besonders aufschlussreich hinsichtlich der komplexen Historizität des Romans samt Überblendung zweier Jahrhunderte ist Lafayettes Konstruktion anachronistischer literarischer Räume: Dies illustriert das Beispiel Coulommiers - den Zeitgenossen Lafayettes vertrauter Name eines realen, in der Epoche der Handlung der Princesse in dieser Form allerdings noch inexistenten Schlosses, der bei der ersten Lesergeneration „powerfully reverberating echoes of more recent French history“ zu erzeugen angetan <?page no="96"?> 96 Panorama einer produktiven Rezeptionsgeschichte qui refuse l’histoire“, 41 für jegliche (post-)modernisierende Variation resp. Adaption eine spezielle Herausforderung. La Princesse de Clèves schildert einen extrem eingeschränkten gesellschaftlichen Mikrokosmos: Das Sichtfeld endet beim niedrigen Adel, 42 mit auffallender Konsequenz - und mit Ausnahme zweier jeweils an narrativer Schlüsselstelle platzierter, trotz materiellen Wohlstands freilich nicht weiter individualisierter bürgerlicher Nebenfiguren 43 - wird alles ‚einfache Volk‘ als für die aristokratischen Protagonisten gleichsam inexistent ausgeblendet. 44 Wie wird dieser „roman aristocratique par excellence“ 45 im 20. und im 21. Jahrhundert - zwischen Modernisierung und bewusst kultiviertem Anachronismus - unter sozialem bzw. auch gesellschaftskritischem Aspekt rekontextualisiert? Diese Frage ist umso interessanter, als das noble Setting der Princesse nicht nur den prachtvollen Dekor für eine allen materiellen Sorgen entrückte Passion stiftet, sondern auch die soziokulturellen Präwar, aber auch mit der Genealogie der realen Dynastien Clèves und Nemours verwoben erscheint (Horowitz 1998: 121f., unter Verweis auf Cuénin/ Morlet-Chantalat 1978 und Beasley 1990; vgl. auch Rambaud 2006: 60ff.). Zum historischen Kontext der Princesse allgemein vgl. die frühen Studien Chamards und Rudlers (1914a/ b, 1917/ 1918a/ b); Malandain 1979; Gregorio 1986; Mesnard 1993a; zur gesellschaftlichen Dimension bzw. „Mme de Lafayette’s Social Vision“ vgl. Woshinsky 1973: hier 103ff., auch 63ff. 41 Fabre 1979: 17. 42 „The novelistic world created by Mme de La Fayette in the Princesse de Clèves is a very limited one, descending no further down the social ladder than the ‚gentilshommes qui appartiennent aux grands seigneurs‘“ (Victor Cherbuliez, zit. bei Kaps 2001: 2). 43 Deren Rolle für den Parcours der Protagonistin kommentiert bereits Valincour: „Il était bien juste qu’après avoir été chez un joaillier pour Monsieur de Clèves, elle allât chez un marchand de soie pour Monsieur de Nemours“ (2001: 60). Vgl. zur Funktion dieser „two parallel ‚shopping‘ scenes“ (Andersen 1998: 217), die „[d]e part et d’autre de l’intrigue […] discrètement l’existence d’autres espaces sociaux que celui de la Cour […] des espaces où l’on fabrique, où l’on trafique“ signalisieren, auch Malandain: „[…] il s’agit de lieux où le hasard des rencontres imprévues vient déranger l’étiquette répétitive de la vie de Cour et du discours de l’analyse; à un niveau de signification plus générale, le fait qu’il s’agit de la première et de la dernière occupation de l’héroïne dans le monde suggère d’élargir le champ de son aventure à des réalités économiques que l’époque de Colbert a appris à ne plus négliger“ (1989: 92). 44 Vgl. Kaps 2001: 2. Ebenso betont Werlen „[l]’absence du peuple“ sowie der „petite Histoire, celle du peuple et des sujets“ in Lafayettes Roman: „Roman royal, roman de cour, La Princesse de Clèves ignore tout de la réalité économique et sociale“ (2012: 50f.). „Noble status is a pure given in La Princesse de Clèves […]“, konstatiert Albanese; nicht zufällig wird die in ihrer selbstverständlichen Präsenz nicht weiter erwähnenswerte zahlreiche Dienerschaft der Clèves als „gens“ und nicht als „servants“ bezeichnet, brächte letzterer Terminus doch „their immediate functional reality“ ins Spiel (1992: 89). Symptomatisch auch die Antwort Charnes’ auf Valincours Kritik an der „aventure du joaillier“ und speziell an der Nachlässigkeit der Mme de Chartres, die ihre Tochter unbegleitet zum Juwelier schickt (2001: 35f.): Bedarf es denn, so der Konter-Kritiker, einer Präzisierung der für die mondäne Leserschaft evidenten Tatsache, dass die junge Aristokratin nicht allein unterwegs ist? „C’était assez qu’il y eût une Demoiselle, ou quelque Écuyer dans la suite que l’Historien donne à Mlle de Chartres; et il a pu supposer sans entrer dans ce détail qu’un Lecteur judicieux y suppléerait assez de lui-même. Il n’était pas nécessaire aussi d’assembler la parenté pour aller assortir quelques pierreries. Cela serait bon à quelque petite Bourgeoise prête à marier“ (Charnes 2014: 625). 45 So Jacques Chardonne im Gallimard-Tableau de la littérature française (1939), wobei das Attribut hier abseits jeglicher gesellschaftskritischen Intention gebraucht, die Princesse „non point à cause de ses princes, mais parce que rien n’y est outré“ für maximal ‚aristokratisch‘ befunden wird (zit. nach Rambaud 2006: 31). „[…] on compte la bourgeoisie pour rien“, hält Albert Desjardins 1864 in Bezug auf Lafayettes Roman in der Revue de l’Est fest (zit. nach Laugaa 1971: 184); vgl. zu dieser Problematik auch Francillon 1988. <?page no="97"?> La Princesse de Clèves à travers les siècles 97 missen für die „morale élitiste“ 46 der Heldin, für deren skrupulöse Introspektion und ethische Selbstreflexion, ihrerseits „a pure luxury“. 47 Die Rezeptionsgeschichte der Princesse spiegelt auch die komplexe Interaktion von sozialer, nationaler und kultureller Identität im historischen Wandel wider: Lafayettes Protagonisten gehören einem Milieu transeuropäischer (Hoch-)Aristokratie an, das sich - in einer Epoche vor dem modernen Nationalstaat - weit mehr über Klassendenn über kulturelle oder gar ethnische Grenzen definiert (und in dem etwa auch mit größter Selbstverständlichkeit international dynastisch geheiratet wird). 48 Auch wenn punktuell das Thema ethnokultureller Differenz resp. spezifischer ‚Mentalitäten‘ angesprochen wird - so in den Reflexionen Nemours’ und des Vidame de Chartres über Königin Catherine, deren leidenschaftliches, misstrauisches, eifersüchtiges und stolzes Temperament neben ihrem Status auch mit ihrer italienischen Herkunft erklärt wird 49 -, so ist die ‚nationale Frage‘ insgesamt doch anachronistisch bzw. irrelevant. Die Welt der Princesse de Clèves ist nicht nur exklusiv aristokratisch und quasi transnational, sondern auch durch und durch weiß: Wie gehen Re-Interpreten des 20. Jahrhunderts und vor allem der Gegenwart mit diesem - zur Zeit Lafayettes unsichtbaren, in einer postmodernen und postkolonialen multikulturellen Gesellschaft nunmehr stark markierten - Aspekt des klassischen Prätexts um? 50 46 Chapiro 2009: 13. 47 Albanese 1992: 90. „C’est la vision naturelle de l’aristocratie, qui est, matériellement et surtout mentalement, coupée de tout l’univers matériel. Agissant peu, ne travaillant jamais, les héros n’ont guère que quatre occupations: des mouvements, des sentiments, des pensées et des paroles“, kommentiert auch Niderst den gesellschaftlichen Kontext der Princesse (1973: 128f.). 48 „L’ascendance était l’appartenance déterminante. Dans l’univers aristocratique […] on ne voyait de semblables que dans les membres de sa caste. Et l’on ne faisait pas d’exception pour ses compatriotes“, fasst Finkielkraut (2013: 85f.) unter Verweis auf Tocqueville die soziale Logik dieser ebenso elitärexklusiven wie in ‚nationaler‘ Hinsicht offenen aristokratischen Welt zusammen. 49 „Elle est italienne et Reine, et par conséquent pleine de soupçons, de jalousie et d’orgueil […] Elle a pour vous une passion violente: […]“ (Lafayette 2014c: 407). Jean Delannoy und Jean Cocteau legen das entsprechende Stereotyp Königin Catherine selbst in den Mund, wenn diese auf den Treueschwur des Vidame reagiert: „Espérons-le, car je suis Italienne… Il faut craindre les Italiennes, Chartres. Il faut les craindre“ (La Princesse de Clèves: 24: 56-25: 07). 50 Unter diesem Aspekt ist ein Blick auf Zayde. Histoire espagnole (Lafayette 2014b) aufschlussreich, Tribut Lafayettes „à la mode de son temps“ (Francillon 1973: 71) bzw. in DeJeans Lesart schon „her own funerary monument to the fiction that had dominated the literary horizon during her reign as a young précieuse“ und insofern „an intentionally retrograde work“ (1991: 65). Dieser in zwei Teilen (1670 [Impr. 1669] und 1671) unter dem Namen Segrais’ publizierte, ab Anfang des 18. Jahrhunderts systematisch Lafayette zugeschriebene Roman (vgl. Esmein-Sarrazin 2014b: 1253), dem Pierre-Daniel Huet seine Lettre-Traité de l’origine des romans (1670) voranstellt (vgl. Lafayette 2014: 279-310), erweitert zumindest oberflächlich das geo-kulturelle Panorama und entfaltet in doppelter zeitlich-räumlicher Verfremdung „un exotisme et une somptuosité que la romancière ne s’autorise que cette seule fois“ (Esmein-Sarrazin 2014b: 1252f.). Vor dem Hintergrund einer regelrechten ‚spanischen Mode‘, die das französische Kulturleben nach dem Pyrenäenfrieden 1659 erfasst, situiert Lafayette die Handlung der Zayde - bereits der Titel dieses ‚Patchwork‘-Textes, „an extended narrative echo-chamber“ (DeJean 1991: 65), spielt auf die den Zeitgenossen wohlvertraute Histoire des guerres civiles de Grenade an - im Königreich León „au tournant des IX e et X e siècles“ und im zweiten Teil auch darüber hinaus rings um den „bassin méditerranéen“ (Esmein-Sarrazin 2014b: 1255f.). Diese ‚exotische‘ Welt wird freilich - wie die eponyme Protagonistin, „cette belle Étrangère“ (Lafayette 2014b: 147 et passim) - aus einer prononcierten „perspective chrétienne et occidentale“ geschildert und entsprechend dem epochenspezifischen Imaginarium (samt konventioneller „imagerie mauresque“) stereotypisiert: „Le parti pris chrétien de la romancière apparaît <?page no="98"?> 98 Panorama einer produktiven Rezeptionsgeschichte Abgesehen von diesen inhaltlich-thematischen Momenten - mit der literarischen ‚Form‘ freilich aufs Engste verstrickt - werden die konkreten Strategien hypertextueller Transformation, narrative Restrukturierungen zu analysieren sein, dies zunächst ausgehend von einigen Schlüsselmotiven und -szenen der Princesse: so die mannigfach variierte, auch poetologisch symbolträchtige Episode des verlorenen Briefes und seiner réécriture, die Bekenntnisszene(n), die finale retraite. 51 Maurice Laugaa resümiert die kritische Rezeptionsgeschichte der Princesse als einen „retour incessant vers le double foyer de l’aveu et de la retraite“; 52 bereits im 20. Jahrhundert scheint der aveu gegenüber dem Fokus auf Verzicht und Rückzug der Protagonistin, mittlerweile als „perhaps the most puzzling of the fictional events in Lafayette’s novel“ 53 betrachtet und „probably the most hotly debated part of the novel“, 54 an Bedeutung zu verlieren. „[…] ce qui nous étonne n’est pas ce qui a étonné le plus les contemporains“, betont Henriette Levillain: 55 Vor dem Hintergrund eines radikal veränderten Ehe- und Liebesbegriffs büßt der bei den Zeitgenossen Lafayettes leidenschaftlich diskutierte aveu 56 seine innovative ‚Unwahrscheinlichkeit‘ ein. Im Kontext einer dem Gebot maximalen Lebens- und Liebesgenusses unterworfenen Gesellschaft stellt vielmehr die anti-hedonistische Verweigerung der Mme de Clèves, „éminemment polysémique“, 57 das eigentliche Skandalon dar: „Cet aveu nous préoccupe moins aujourd’hui: le mariage a évolué, on se confie des secrets jusqu’alors réservés aux replis de la conscience. Ayant changé d ’objet, le débat porte plutôt sur le refus final. Là réside, pour nous qui aspirons follement au bonheur, l’incompréhensible du choix qu’elle opère. Une décision à creuser, sans cesse en point de mire.“ 58 Dem Leitthema Lafayettes - „la tentation d’une honnête femme“ 59 in einem Milieu und einer Zeit, „in der Liebesehen zu également dans le traitement des personnages, qui oppose la vertu, la vaillance et la profondeur spirituelle des Espagnols à la barbarie et à l’impiété des Maures“, notiert Esmein-Sarrazin (2014b: 1256f.); die inszenierte pittoreske Alterität bleibt romaneske Fiktion und franko-/ okzidentalozentrische Projektion. 51 Zum Motiv der retraite im kultur- und literarhistorischen Kontext vgl. Beugnot 1996. 52 Laugaa 1991: 220, zit. nach Dufour-Maître/ Milhit 2004: 76. 53 Racevskis 2003: 184. 54 Lyons 1992: 245; ähnlich auch DeJean 1991: 122. Vgl. Francillons Panorama unterschiedlicher Lesarten dieses Endes und seine nach wie vor aktuelle kritische Reflexion über diverse interpretatorische Bestrebungen, die „étrange complexité“ des Textes bzw. seiner Heldin um jeden Preis „à une seule motivation qui en rende définitivement compte“ reduzieren zu wollen (1973: 168f.), sowie Brink 2015: 106ff. 55 Levillain 1995: 113. 56 Konträre Deutungen des aveu finden sich auch in der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts: Am Beispiel der Princesse („der erste aveu-Roman par excellence“) analysiert Galle das Geständnis als „Artikulationsmodus moderner Selbsterfahrung“, der, „modellbildend für die Genese und Entfaltung von Subjektivität“, als „partieller Vorgriff auf bürgerliche Intimität“ und „Bruch mit dem Hofsystem“ für den „Ablösungsprozeß zweier Norm- und Verhaltenssysteme“ steht (1986: hier zit. 33ff., 11, 37, 47). Nach Matzat dagegen illustriert das Bekenntnis, „so gestaltet, daß es notwendigerweise durch die höfische Diskurspraxis gebrochen werden muss“, als „Gegenentwurf zu den in der höfischen Gesellschaft herrschenden Interaktionsmustern“ lediglich, „daß es keinen Platz außerhalb der höfischen Gesellschaft und keine Alternative zur höfischen Diskurspraxis gibt“ (1985: 252f.). 57 Grande 1999: 110. 58 Delacomptée 2012: 15. „If the seventeenth century was obsessed by the princess’s confession to her husband, the twentieth has been preoccupied with her final renunciation of Nemours“, konstatiert Henry (1992b: 11). Vgl. auch Bonardel 2010: 77f.; Niderst 1973: 190. 59 So fasst Durry (1962: 27) jenes immer wieder variierte Hauptthema Lafayettes zusammen, das zum Titel ihrer sämtlichen fiktionalen Werke, aber auch ihrer „histoire de Madame“ taugte. <?page no="99"?> La Princesse de Clèves à travers les siècles 99 den ganz seltenen Ausnahmen gehörten“ 60 - widerfährt in einer Epoche optionalisierter Lebensabschnittspartnerschaften, routinierter Scheidungen, allenfalls trivialliterarisch und -kinematografisch perpetuierter, ansonsten längst entzauberter ‚ewiger Liebe‘ ein beträchtlicher Intensitätsverlust. In diesem Zusammenhang wird die Frage zu reflektieren sein, auf welche Strategien die Autorinnen und Regisseure der hier analysierten literarischen und filmischen Variationen rekurrieren, um die transgressive Passion der Protagonistin angesichts der Devalorisierung von Tugend wie Treue, der Entdramatisierung eines eventuellen ‚Ehebruchs‘ in einem postmodernen Kontext zu re-plausibilisieren. In Lafayettes bei aller Visualität höchst abstraktem Roman werden - der klassischen Poetik entsprechend 61 - physiologische Realitäten aller Art konsequent ausgeklammert. In ihrem „idéalisme artistique“ 62 evoziert die Princesse eine eminent ‚sozialisierte‘, prachtvoll inszenierte Körperlichkeit „hors de tout prosaïsme, de tout besoin élémentaire, de toute réalité charnelle clairement dite“: 63 „La chair est ici esquivée, les réalités effleurées, la matière estompée, en un univers plus aérien que terrestre, dans un monde où règnent l’abstraction et les entités.“ 64 Mit Krankheit und Tod kommt ein freilich nach wie vor überaus ätherischer Körper ins Spiel; 65 60 Köhler 2006: 76. Köhler betont in dieser Hinsicht auch den Wandel ehelicher Moral-Ansprüche im Lauf des 17. Jahrhunderts, der sich in Lafayettes Roman widerspiegelt: „Die zweite Jahrhunderthälfte mit ihrer Konsolidierung der Ordnung, ihren strengeren, sei es cartesianischen, jansenistischen oder katholischen Idealen der Lebensführung kannte nicht mehr die gleiche Großzügigkeit des Gewissens wie die erste Hälfte. So versteht man es, daß jetzt das Thema der verheirateten Frau, die in Liebe zu einem Mann entbrennt, der nicht der ihrige ist, zum ersten Male zum ernstgenommenen Hauptthema eines Romans wurde. Das geschieht gleichsam jenseits des Umstands, daß eine unverbindliche amoureuse Praxis weiterhin das Leben des höfischen Adels kennzeichnet“ (ibid.). Gerade in diesem Punkt ist auch der doppelte historische Kontext der Princesse von Interesse, deren Handlung sich in einer Epoche relativer ‚Re-Moralisierung‘ des französischen Königshofes situiert: War der Hof François’ I, „[s]éducteur impénitent“, noch für seine „légèreté des mœurs“ berühmt, so sind am Hof seines Sohnes und Nachfolgers Henri II - trotz oder wegen dessen langjähriger Liaison mit der zeitweise quasi allmächtigen Diane de Poitiers - die „bienséances“ und „la bonne tenue“ wieder en vogue (Solnon 1987: 24f.). Von „[d]’innombrables chassés-croisés amoureux“ geprägt erscheint freilich der Hof Louis’ XIV, Schauplatz maximaler Entfaltung royaler ‚Galanterie‘ (ibid.: 258f.), den Lafayette - gemäß der „basic technique of her historical fiction, the telescoping of two courts“ (DeJean 1991: 110) - mit der cour jener früheren Ära überblendet. Zum ehe-historischen und -juristischen Hintergrund vgl. ibid.: 110ff.: Eben zu einer Zeit, da die Ehe neue „political prominence“ als Teil der sonnenköniglichen „propaganda machine“ erlangt, schildert Lafayette „the events of history as dominated by the institution of marriage“ (ibid.: 112f.); den kontroversen aveu der Mme de Clèves liest DeJean nicht zuletzt als „her creator’s attempt to forge a compromise between the two modern views of marriage - the sentimental view […] and the economic view of marriage as well-wrought political contract“ (ibid.: 120). 61 Du Plaisir etwa plädiert in seinen Sentiments sur les lettres et sur l’histoire dafür, sich im literarischen Text auf das Lob für allgemein gefällige und nachvollziehbare „qualités de l’âme“ zu konzentrieren und auf physiologische Konkretisierung der Figuren zu verzichten: „Je crois qu’il serait d’un bon usage de ne point louer par les traits du visage ou du corps […]. Les qualités de l’âme […] plaisent à chacun. Ce sont elles seules qui font les caractères, et ce sont elles seules encore qu’il faut décrire distinctement, au lieu qu’il suffira d’exprimer par quelque terme général les qualités extérieures“ (zit. nach Valincour 2001: 170 [Dossier]). 62 Sellier 2005: 244. 63 Werlen 2012: 64. 64 Ibid.: 42. 65 „Ils ne mangent, ni ne boivent; ils languissent et ils meurent, mais on ne sait de quoi, sinon d’un excès de sentiment“, bemerkt Fabre (1979: 20). <?page no="100"?> 100 Panorama einer produktiven Rezeptionsgeschichte auch wenn der „champ sémantique de la souffrance“ 66 im Text sehr präsent ist, verzichtet Lafayette - deren Korrespondenz, über weite Strecken elaborierte Krankenberichterstattung in eigener Sache, von lebhafter hypochondrischer Phantasie zeugt 67 - in Bezug auf die tödliche „fièvre“ der Mme de Chartres 68 ebenso auf jegliche Konkretisierung wie im Fall des Prince und später der jungen Witwe selbst. Krankheit fungiert hier primär als weitgehend abstrakter „langage du corps“, „résistance passive“ der Protagonistin gegen ungeliebte gesellschaftliche Pflichten, all jene „contraintes qu’elle s’impose, ou plutôt que la société lui impose; ou plus précisément encore, que la société lui impose de s’imposer“. 69 Plastisch illustriert der parallele Verlauf von Passion der Tochter und Pathologie der Mutter die Verstrickung „entre maladie du corps et passion de l’âme“; noch im Tod erscheint der Körper, „messager tragique“, vor allem als Kommunikationsmedium. 70 Nicht nur angesichts des Todes, sondern auch angesichts der Lust bleibt die Princesse dieser klassischen Dezenz bzw. - in Jean Fabres Worten - ihrer noblen „grisaille […] couleur d’âme“ 71 treu. Schon Bayle mokiert sich in seinen Nouvelles lettres de l’auteur de la Critique générale de l’histoire du calvinisme de M. Maimbourg (1685) über Lafayettes allzu tugendhafte Helden; deren Abstinenz in all jenen „cent choses qui ne manquent jamais de se pratiquer entre les personnes qui s’aiment“ wird für historisch wie physiologisch höchst unwahrscheinlich befunden 72 - und stiftet vor dem Hintergrund eines radikalen gesellschaftlichen Normenwandels in puncto Körperlichkeit und Sexualität auch für die Autorinnen und Regisseure postmoderner réécritures und Adaptionen evidenten Re-Interpretationsbedarf. 66 Werlen 2012: 69. 67 Vgl. Grande 1999: 403f. 68 Lafayette 2014c: 364ff. 69 Grande 1999: 401. 70 Ibid.: 402f. In ihrem fiktionalen Œuvre folgt Lafayette strikt dem Gebot der klassischen Poetik zur Vermeidung alles Kreatürlichen; gerade unter diesem Aspekt ist der Rekurs auch auf ihr restliches Werk von großem Interesse. So wird der Tod der Protagonistin ihrer Histoire de la mort d’Henriette d’Angleterre (1720) durchaus in allerlei unerquicklichen Details geschildert: „[…] ce qu’on lui donna la fit vomir […]; mais les vomissements ne furent qu’imparfaits, et ne lui firent jeter que quelques flegmes, et une partie de la nourriture qu’elle avait prise […] M. Vallot en partant avait ordonné un lavement avec du séné, elle l’avait pris […]“ (etc.) (Lafayette 2014e: 768ff.). 71 Fabre 1979: 24. 72 Pierre Bayle: Nouvelles lettres de l’auteur de la Critique générale de l’histoire du calvinisme de M. Maimbourg (1685), zit. nach Lafayette 2014: 707-708, hier 707. „[…] qu’y a-t-il de plus imaginaire que le duc de Nemours, et la princesse de Clèves dans le Roman qu’on a fait pour eux? […] Le monde ne produit point des gens de cette espèce, ils ne sont que le pur Ouvrage d’un Romaniste. Je voudrais bien qu’on me montrât une Dame en France qui fût le vrai Original de la princesse de Clèves. S’il y en avait une je vous promets que j’irais la voir, quand il me faudrait faire quatre cents lieues à pied. Mais je crois qu’il serait encore plus rare de trouver l’Original du duc de Nemours parmi les Seigneurs de la Cour. On ne connaît point cette grande timidité, ni ce grand respect dans notre siècle. […] Non seulement notre siècle est ainsi fait, mais aussi tous les siècles précédents ont été de même, et surtout celui où le duc de Nemours vivait“, so Bayle weiter (ibid.: 707f.). Auch Valincour spöttelt in metaleptischem Kurzschluss über die physiologische Implausibilität mancher Aspekte der Intrige und bringt kontrastiv eine Dimension prosaischer Körperlichkeit ins Spiel: Wie kann es sein, dass Nemours von seiner ekstatischen nächtlichen Irrwanderung durch den Wald bei Coulommiers nicht einmal einen Schnupfen davonträgt (2001: 49)? <?page no="101"?> La Princesse de Clèves à travers les siècles 101 Ebenso die profunde Liebesskepsis Lafayettes, deren Gesamtwerk, geprägt von einem im Kontext der Epoche innovativen Pessimismus, 73 sich quasi als einziger großer „réquisitoire contre l’amour“ liest: 74 In Anbetracht der Vision einer „passion […] redoutable et funeste“, 75 die La Princesse de Clèves entwirft, 76 erklären sich Liebesverzicht und Rückzug der Protagonistin 73 „La grande nouveauté pour l’époque se situe donc dans une approche pessimiste du monde […]“, unterstreicht Rambaud (2006: 30); Shaw charakterisiert La Princesse de Clèves als „perhaps the most disturbingly pessimistic work of fiction of the age“ (1982: 231, zit. nach Henry 1992b: 9). Vgl. auch Francillon 1973: 38, 83f.; Venesoen 1990: 105. 74 Pingaud 2011: 17; speziell zur Princesse de Clèves als „amer et violent réquisitoire […] contre l’amour“ vgl. auch Pingaud 1959: 168f. Von „le plus terrible réquisitoire jamais prononcé contre la galanterie“ ist bei Pelous die Rede (1980: 466, zit. nach Dufour-Maître/ Milhit 2004: 74). „Et il est certain qu’on a aimé en France dans la noblesse de cette époque-là selon la formule de l’Astrée, puis qu’on s’est méfié de l’amour selon la formule de la Princesse de Clèves“, resümiert Lançon (2009b) unter Rekurs auf Maupassants Meditationen über „L’Amour dans les livres et dans la vie“ (1886) und spezifisch die Kulturgeschichte literarischer Liebes-Modelle „d’après la formule de…“. „Man würde jedoch der Komplexität des Lafayette’schen Werkes zu wenig Rechnung tragen, wollte man es nur unter dem Blickwinkel des ‚raisonnement contre l’amour‘ betrachten“, betont freilich bereits Schneider (1983: 125), die in der Princesse de Clèves als „Gegenkomponente“ auch „den Traum vom vollkommenen Liebesglück“ ausmacht (ibid.: 131), dabei allerdings im Anschluss an Beyerles Interpretation des Romans als „der umfassendste ‚rêve de compensation‘ […], der je geträumt wurde“ (1967: 200) und an Cordelier - „En d’autres termes, écrire ‚la Princesse de Clèves‘, c’est pour Mme de La Fayette, et d’une certaine façon, faire - ou ne pas faire - l’amour avec La Rochefoucauld“ (1975: 46, zit. jeweils nach Schneider 1983: 126, 152) - zu einer höchst problematischen autobiografisierenden Lektüre schreitet (vgl. ibid.: 134); vgl. Venesoens nuancierenden Kommentar zu Cordeliers Lesart der Princesse als „autobiographique“ (1990: 164). 75 Malandain 1989: 84. „La passion […] apporte une perturbation totale […] et dans tous les domaines: moral, social, esthétique. […] C’est donc un réquisitoire sévère et sans appel que la parole romanesque fait entendre contre la passion […]“, konstatiert Malandain weiter (ibid.: 88f.). 76 Nicht umsonst wird die Passion im Text konsequent mit den Attributen der Gewaltsamkeit und der Fatalität versehen. „Violence and passion are virtually synonymous in La Princesse de Clèves“, bestätigt Koppisch (1992: 205). Die amouröse „inclination“ wird mit diesem Epitheton ausgestattet (Lafayette 2014c: 352), auch die ‚tendresse‘ - nur scheinbar paradox - mit besagter ‚violence‘ assoziiert (vgl. ibid.: 427). Mit frappierender Monotonie kehrt die Formel der ‚passion violente/ violente passion‘ wieder, in Bezug auf Nemours, der selbst über die Metamorphosen des Charakters unter dem Einfluss diverser „passions violentes“ doziert (ibid.: 381), aber auch auf andere Figuren (so Königin Catherine, vgl. ibid.: 407). „Je serai bientôt regardée de tout le monde comme une personne qui a une folle et violente passion“, befürchtet die Protagonistin (ibid.: 436), die rasch genug am eigenen Leib einen Vorgeschmack der potentiellen Verheerungen der Passion und der damit einhergehenden Eifersucht erfährt (ibid.: 397). „La jalousie naît toujours avec l’amour, mais elle ne meurt pas toujours avec lui“, erklärt La Rochefoucauld (2005: Nr. 361); „[…] la jalousie seule m’a fait sentir que j’étais amoureux […]“, bekennt Lafayettes Consalve aus Zayde (2014b: 104). Im Fall Mme de Clèves’ manifestiert sich die jalousie, „le plus grand de tous les maux“ (La Rochefoucauld 2005: Nr. 503), als frühes Symptom einer noch uneingestandenen Liebe (Lafayette 2014c: 397); es ist nicht zuletzt die Angst vor „la jalousie avec toutes les horreurs dont elle peut être accompagnée“ (ibid.), die die Princesse zu Liebesverzicht und Rückzug treibt (vgl. Köhler 1959: 23ff., 35f.; Peter 2002: insbes. 227ff.). „[…] je n’ai que des sentiments violents et incertains dont je ne suis pas le maître. Je ne me trouve plus digne de vous; vous ne me paraissez plus digne de moi; je vous adore, je vous hais; je vous offense, je vous demande pardon; je vous admire, j’ai honte de vous admirer; enfin, il n’y a plus en moi ni de calme, ni de raison“ (Lafayette 2014c: 448), klagt M. de Clèves; die Passion erscheint derart als Inbegriff all dessen, was die Souveränität, Selbstkontrolle bzw. Selbstbemeisterung des rationalen Individuums bedroht. „[…] il semble que Mme de Lafayette ne vise […] qu’à nous enseigner une très particulière conception de l’amour. Son postulat singulier est que cette passion met l’être en péril“, merkt Camus (1943) an (zit. nach Laugaa 1971: 253f.). Diese hoch ambivalente ‚Liebe‘, „cette part de l’existence que nous ne maîtrisons pas“ (Bruckner 2013: 112), artikuliert sich bevorzugt im Modus der surprise, in der Princesse „das Schlüsselwort für die Erfahrung eines <?page no="102"?> 102 Panorama einer produktiven Rezeptionsgeschichte nicht nur aus Pflicht- und Schuldgefühl gegenüber dem toten Ehemann, sondern auch und vor allem als Sorge um den eigenen repos; jener „fantôme de devoir“, den Mme de Clèves Nemours’ Vorwurf zufolge potentiellem Liebesglück entgegenstellt („Ah! madame, […] quel fantôme de devoir opposez-vous à mon bonheur? “ 77 ) und über dessen chimärischen Charakter sie selbst sich durchaus im Klaren ist („Il est vrai […] que je sacrifie beaucoup à un devoir, qui ne subsiste que dans mon imagination […]“ 78 ), fungiert nicht zuletzt als Alibi und ‚Schutzgespenst‘. Ist die Entsagung der Princesse also „a noble self sacrifice“ oder doch „a possible failure to cope with her passions and environment, a philosophical negation of life“? 79 Illustration eines „exceso de valor o más bien […] exceso de cobardía“, 80 oder vielmehr „both victory and defeat“? 81 Trotz des lapidar resümierten Todes der Heldin ist die Conclusio der Princesse de Clèves - möglicherweise unbefriedigend für eine an der Logik des „Hollywood happy ending“ geschulte Leserschaft, 82 aber weder negativ noch exklusiv ‚tragisch‘ im klassischen Sinne, wird die retraite der Protagonistin doch als „un acte de sa volonté libre, basé sur la connaissance acquise par l’expérience personnelle, directe, et le jugement qui en découle“ dargestellt 83 - interpretatorisch offener, als es auf den ersten Blick scheinen mag. 84 Mit einer Geste des Respekts entlässt Lafayettes Erzählinstanz die Heldin nach deren Verzicht gleichsam aus ihrer Kontrolle bzw. ihrem Blickfeld (schon vor dem Ende des Romans wirkt jene derart „en plötzlichen Überfalls unberechenbarer, irrationaler und schicksalhafter Kräfte auf die vermeintliche Geborgenheit in einer rationalen Lebensordnung“ (Köhler 1959: 21); Francillon (1973: 188f.) unterstreicht die cartesianische Komponente des Motivs: „L’admiration […] est une subite surprise de l’âme“ (Descartes, zit. ibid.: 188). 77 Lafayette 2014c: 469. 78 Ibid.: 473. 79 Paulson 1991: 41f. 80 Calzadilla 1971, zit. nach Paulson 1991: 85. Die Ambiguität dieser Entscheidung der Heldin zwischen Freiheit und ‚Feigheit‘ thematisiert auch Köhler (2006: 101): „[…] indem sie nach dieser Erfahrung aus Angst vor der Eifersucht auf eine Ehe mit Nemours verzichtet, widerstrebt sie der abermaligen Verfügung über ihre Person, gegen eine Inbesitznahme, welche ihr die eigene Bestimmung über ihr Leben und ihr Selbstbewußtsein zu entziehen droht, und sie widerstrebt der Konsequenz, die sich aus einem Besitzanspruch ihrerseits ergeben würde. Dies ist eine hier gleichsam positive Seite der Entscheidung - aber auf Kosten des Lebens. Vielleicht wäre gar nicht im Unrecht, wer behaupten wollte: die Princesse de Clèves sei in Wahrheit feige, allem Anschein zum Trotz, zu feige nämlich, sich dem Gefühlsleben, Schmerz der Liebe, zu stellen, der Eifersucht - und eben dadurch seelisch zu reflektieren.“ 81 Moye 1989: 847. 82 So Jensens Kommentar aus der literaturdidaktischen Praxis mit Studierenden, bei denen Lafayettes Protagonistin, ratlos als „weird“ oder „masochistic“ kategorisiert, und ganz besonders ihr finaler Verzicht auf Unverständnis stoßen (1998: 68). „It is almost as if the Princess were happy being miserable“, spekuliert auch Paulson (1998: 85). 83 Sweetser 1972: 489; ähnlich Durry (1962: 56) und Niderst (1973: 115); zur Conclusio der Princesse vgl. auch Allentuch 1975. Als „tragique jusqu’à son terme“ interpretiert die Princesse dagegen Esmein- Sarrazin (2014c: 1322), dies unter Verweis u. a. auf Mesnard 1993b und Garapon 1990. 84 Dieses trotz des Todes der Heldin in einem tieferen Sinne ‚offene‘ Ende des Romans hebt Grande als wichtige narrative Innovation Lafayettes hervor, die nicht zuletzt die Leser zu ko-kreativer Aktivität herausfordert; eben ihr Schluss stellt auch einen wesentlichen Unterschied gegenüber Villedieus Désordres de l’amour dar, „par anticipation“ lesbar als „l’épilogue de ce qu’aurait été La Princesse de Clèves, si la princesse s’était remariée“ (1999: 59). <?page no="103"?> La Princesse de Clèves à travers les siècles 103 quelque sorte préservée des coups de sonde du narrateur“ 85 ); zwischen dem Abschied der Princesse vom Hof und ihrem Tod liegt eine zeitlich indeterminierte Periode relativer sozioökonomischer Freiheit (und, narratologisch gesehen, beträchtlich vergrößerter erzählerischer Distanz). 86 In späteren literarischen und filmischen Variationen gerät ebendieser ambivalente Schluss - in besonderem Maße „objet d’un investissement fantasmatique“ 87 - quasi zum epochenspezifisch-ideologischen ‚Lackmustest‘. Nach kreativer Re-Interpretation und Rekontextualisierung verlangt freilich auch der Einstieg der Princesse - jenes ausführliche, von den ersten Kritikern Lafayettes bis zur heutigen (auch professionellen) Leserschaft nicht unbedingt enthusiastisch rezipierte historische Eröffnungspanorama mit seiner „forest of names“. 88 Zwischen Anfang und Ende - gleichermaßen poetologische Hochspannungszonen, auch und erst recht in diesen Werken, die sich reflektierterweise nicht ex nihilo, 89 sondern immer schon vom klassischen Prätext her bzw. vor dem Hintergrund eines ganzen Princesse-Palimpsests entfalten - stellt sich die Frage nach Status und Schicksal der Digressionen Lafayettes, 90 jener bei Valincour als „a deficit in 85 Dufour-Maître/ Milhit 2004: 106. „En adoptant cette solution à la fois totalement fermée (Mme de Clèves meurt) et totalement ouverte (ce dénouement est-il heureux ou malheureux? ), Mme de La Fayette déplace le sublime, et transforme la définition des genres et des styles“, notieren Dufour-Maître und Milhit: „Mais quelle est la portée alors d’un dénouement à la fois clos et dont l’interprétation paraît indécidable? “ (ibid.: 88f.). 86 Niderst konstatiert im Aufbau der Princesse die sukzessive Reduktion der historischen Dimension (1973: 22); „[…] la passion submerge le récit duquel s’effacent progressivement les références à l’Histoire“, bestätigt Levillain (1995: 54). 87 Langlade 2013: 27. 88 Gordon 1998: 93. Bereits Fontenelle äußert eine gewisse Ungeduld angesichts dieser ausführlichen Eröffnung, die zwar „une vue ramassée de l’Histoire de ce temps-là“ bietet, ihn freilich auch bei wiederholter Lektüre über Gebühr aufhält („[…] je brûlais d’impatience […] je ne pouvais m’empêcher de vouloir un peu de mal à ce Plan de la Cour de Henri II, et à tous ces Mariages proposés et rompus […]“), bevor er endlich zu den Szenen zwischen Mlle de Chartres und ihrem künftigen Gatten sowie zur „Aventure du Bal“ gelangt, seinem Urteil nach „la plus jolie et la plus galante du monde“ („Lettre sur ‚La Princesse de Clèves‘“ [Le Mercure galant, Mai 1678], zit. nach Lafayette 2014: 513-516, hier 514). „Je ne sais s’il vous sera arrivé la même chose qu’à moi. Mais en lisant cette longue description de la Cour […] je crus que j’allais lire l’histoire de France, et j’oubliai la Princesse de Clèves, dont je n’avais jamais vu le nom qu’au titre du livre“, kommentiert ironisch Valincour (2001: 35), der sogleich selbst eine raffinierte Erklärung für dieses Prozedere offeriert - erlebt er als Leser beim Anblick der schönen Protagonistin im Laden jenes Juweliers doch „presque la même surprise“ wie der Prince de Clèves selbst (ibid.). Charnes wiederum schreitet in seiner Antwort auf Valincour zur Verteidigung der Ouvertüre, die nicht nur den anonymen „Auteur“ zweifellos beträchtliche Arbeit gekostet habe („Je suis assuré que ces trente-six pages ont coûté plus de trente-six heures à l’Auteur, et ceux qui s’y connaissent s’en sont bien aperçus“), sondern vor allem auch - strukturell unentbehrlich - erst die ‚Bühne‘ für den Auftritt der Heldin vorbereite (2014: 624). Aus heutiger Perspektive befindet Delacomptée den Anfang der Princesse bei all ihrer sonstigen Aktualität für etwas ‚verstaubt‘ (2012: 11); die Notwendigkeit einer progressiven ‚Akklimatisierung‘ hebt Levillain hervor (1995: 11). 89 „Rien ne se crée de rien; cette loi de la nature organique passe sans l’ombre d’un doute à la création littéraire: […]“ (Barthes 1979: 153). 90 Die Zahl besagter Digressionen wird in der Sekundärliteratur großteils mit vier (die Erzählung Mme de Chartres’ über Diane de Poitiers, jene des M. de Clèves über die Affäre Tournon/ Sancerre/ Estouteville, die Ausführungen der Dauphine über Anne Boleyn und die Episode des Vidame de Chartres), gelegentlich auch mit drei (Francillon 1973: 108) oder mit fünf angesetzt - so bei Levillain, die unter den „Cinq histoires rapportées“ neben den schon genannten auch die Erzählung der Dauphine <?page no="104"?> 104 Panorama einer produktiven Rezeptionsgeschichte narrative economy“ 91 monierten und auch in der Folge - quer durch mehrere Jahrhunderte Princesse-Kritik - kontrovers diskutierten „récits satellites“. 92 Kurz: „Le profond, dans La Princesse de Clèves, c’est la forme“, wie Albert Béguin schreibt. 93 Auch auf formaler Ebene und aus narratologischer Perspektive gilt es die hypertextuellen Strategien dieser (post-)modernen réécritures zu untersuchen. Lafayette führt nicht zuletzt „a new kind of narrator for the period“ ein, 94 der - oder die -, zugleich „mémorialiste“, „psychologue“ und „moraliste lucide“, insgesamt „un mélange très curieux de perspicacité psychologique et de morale courante“ an den Tag legt, 95 eine höchst diskrete heterodiegetische Erzählinstanz, die sich, „sometimes omniscient, sometimes with limited knowledge, sometimes disinterested, sometimes involved“, 96 nur ein einziges Mal explizit in der ersten Person Singular zu Wort meldet 97 und die Rezipientin derart „face à face avec les événements“ 98 ihre eigene Lesart erarbeiten lässt. Korrigiert diese Instanz in einer Passage Mme de Clèves’ (Fehl-)Interpretation ihrer eigenen Gefühle („Mais elle se trompait elle-même über ihre Mutter, Marie de Lorraine, auflistet (1995: 67f.). Noch großzügiger zählt die Digressionen Scott (1957), die auch die Prophezeiung des königlichen Todes mitrechnet (vgl. Laugaa 1971: 275). 91 Racevskis 2003: 155. „Il me semble que cela ne sert qu’à embarrasser le corps d’un ouvrage, et à le rendre moins régulier […]“, urteilt Valincour (2001: 40); kritisch verweist er auf gewisse „grands romans“, deren Autoren, „sous prétexte d’écrire l’histoire d’un prince, écrivent celle de tout le monde“. In diesem Sinne stellen auch die Digressionen der Princesse - wenngleich immerhin „pas extrêmement longues“ und im Übrigen „toujours si agréables que, si ce sont des fautes, au moins ce sont des fautes qui donnent du plaisir“ - einen Verstoß gegen seine Poetik der narrativen Ökonomie dar: „Car enfin il me semble que la marque d’un excellent ouvrage est de n’avoir rien d’absolument inutile […]“ (ibid.: 39f.). Speziell die Digression rund um Anne Boleyn „et plusieurs autres traits de l’histoire de France“ (ibid.: 40) werden als überflüssig erachtet, auch jene zu Mme de Valentinois wird skeptisch kommentiert (ibid.: 79); ebenfalls entbehrlich dünkt Valincour die Episode Tournon, „hors d’œuvre, et trop longue de la moitié“ (ibid.: 85). Gnade vor den Augen des gestrengen Kritikers findet jedoch „l’histoire de Monsieur le Vidame de Chartres“, „fort bien amenée“: „[…] il semble qu’il ait été impossible à l’auteur de l’éviter“ (ibid.: 41). In Charnes’ Entgegnung werden auch die Digressionen als wichtige Etappen auf der ‚Reise‘ des Lesers durch den Text verteidigt: „Un voyageur qui n’est pas fort pressé […] s’arrête avec plaisir à considérer les paysages, les belles maisons, et les autres objets agréables qui se trouvent sur sa route: de même quoiqu’on aille à la conclusion de l’histoire de la princesse de Clèves, quand on l’a commencée, on ne laisse pas de se plaire aux ornements, dont l’Auteur l’embellit“ (2014: 629). „Les digressions, paraît-il, distraient du sujet central? Elles ont leurs raisons“, erklärt fast dreieinhalb Jahrhunderte später auch Delacomptée (2012: 11). Wie Köhler, der ihre zentrale Rolle bei der „kunstvolle[n] Steigerung“ des Motivs der Eifersucht herausarbeitet (2006: 98ff.), illustriert auch Scott (1957) die Funktionalität dieser - im Unterschied zur Tradition des heroischen Romans jeweils eng mit dem Hauptstrang der Handlung verknüpften - Passagen. Als quasi „des nouvelles à l’intérieur du roman“ und insofern Schlüsselelemente der Transition „de la nouvelle au roman“ interpretiert die Digressionen Niderst (1973: 140f.); eine poetologische Analyse im literarhistorischen Kontext bietet Lallemand 2014. 92 Rousset 1976: 29. 93 Béguin 1967: 9, zit. nach Laugaa 1971: 328. 94 Beasley/ Jensen 1998: 19, unter Verweis auf Francillon. 95 Francillon 1973: 39f. Vgl. auch ibid.: 206ff. zur Doppelgesichtigkeit dieser Erzählinstanz, „narratrice […] double“, „mémorialiste“ und „psychologue avertie“, „femme du monde […] incarnation d’un certain conformisme social et moral“, die diese Vision doch zugleich „‚par-derrière‘“ - so Francillon unter Rekurs auf die Terminologie Jean Pouillons - unterminiert (ibid.: 208f.). 96 Kuizenga 1992: 72. 97 Vgl. den Einstieg in die Präsentation diverser „Princes“ und „grands Seigneurs“ im eröffnenden Panorama: „Ceux que je vais nommer […]“ (Lafayette 2014c: 332). 98 Viala 2008: 266. <?page no="105"?> La Princesse de Clèves à travers les siècles 105 […]“ 99 ), so wahrt sie in anderen Kontexten den Respekt vor dem Innenleben der Protagonistin und beschränkt sich darauf, das Motiv dieser oder jener ihrer Handlungen unter Einsatz entsprechender Modalisatoren dezent zu suggerieren; 100 so in Bezug auf jenes Gemälde der Belagerung von Metz, das die Princesse - gut getarnt unter anderen Bildern - nach Coulommiers bringen lässt („Il y avait entre autres le siège de Metz, et tous ceux qui s’y étaient distingués étaient peints fort ressemblants. M. de Nemours était de ce nombre, et c’était peut-être ce qui avait donné envie à Mme de Clèves d’avoir ces Tableaux“ 101 ), oder auch auf die nächtliche Pavillon-Szene, da Mme de Clèves sich „plusieurs fois“ versucht sieht, „de rentrer dans le Cabinet, et d’aller voir dans le jardin s’il y avait quelqu’un“: „Peutêtre souhaitait-elle autant qu’elle le craignait d’y trouver M. de Nemours: […].“ 102 In diesem Sinne werden die Erzählstrategien zu analysieren sein, auf die die Re- Interpretationen unseres Corpus rekurrieren - ihrerseits in Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Theoriebildung rund um Narration und Autorität, aber auch unter Anknüpfung an so manches bereits überaus modern anmutende Element der Princesse, so Lafayettes „invention du for intérieur“, die nach Claude Habib die eigentliche Originalität des Textes ausmacht, 103 oder die seit Jahrzehnten einigermaßen kontrovers erörterte Verwendung des discours indirect libre, „one decidedly modern characteristic of La Princesse de Clèves“. 104 Auch noch das Chaos der Gefühle wird bei Lafayette freilich stets in geordnete klassische Form gebannt; 105 dagegen wird zu zeigen sein, wie sich unterschiedliche Autoren und Autorinnen des 20. und 21. Jahrhunderts auch auf lexikalischer und syntaktisch-stilistischer Ebene - zwischen selbstreflexivem, teils parodistisch gebrochenem Klassizismus und eklektischer interdiskursiver Polyphonie - an ihrem Prätext abarbeiten. 99 Lafayette 2014c: 397. 100 Vgl. Dufour-Maître/ Milhit 2004: 54. 101 Lafayette 2014c: 449. 102 Ibid.: 453. Zur Relation zwischen Erzählinstanz und Figuren der Princesse vgl. Niderst 1973: 76ff.; zu unterschiedlichen Positionen bzw. Funktionen der narrativen Instanz zwischen „mémorialiste“, „moraliste“ und „psychologue“ vgl. Esmein-Sarrazin 2014c: 1310. 103 Habib 2010: 34. 104 Racevskis 2003: 175. Vgl. Fabres Reflexionen zum „Monopole du discours indirect“ im Roman (Laugaa 1971: 278ff.; Fabre 1979: 31ff.). Francillon, der die Bedeutung des „style indirect“ als „creuset de l’analyse psychologique“ und insofern „la forme la plus significative de l’art de Mme de La Fayette“ betont, bestreitet in kritischer Auseinandersetzung mit Fabre und Delhez-Sarlet (1964) weitgehend die Existenz eines „style indirect libre“ in der Princesse (1973: 221ff., hier zit. 222f.). Okkurrenzen des discours indirect libre im Text untersucht Hipp 1977. 105 So lobt Taine (1904) den Stil Lafayettes, „aussi mesuré que noble“, die „sérénité charmante“, die der Princesse auch noch mitten im Tumult der Gefühle eignet: „[…] au lieu d’exagérer, M me de La Fayette n’élève jamais la voix. […] L’amour, la jalousie atroce, les angoisses suprêmes du corps brisé par la maladie de l’âme, les cris saccadés de la passion, le bruit discordant du monde, tout s’adoucit et s’efface, et le tumulte d’en bas arrive comme une harmonie dans la région pure où nous sommes montés“ (zit. nach Rambaud 2006: 30f.). „Elle ne mimera pas le mouvement discontinu et brouillé d’interférences, la syntaxe élémentaire et incorrecte, les vocables à peine formés, qui font le soliloque des malheureux remâchant leurs problèmes. Classique elle donne l’argument des méditations agitées de son héroïne“, fasst Durry (1962: 50) die Spezifik des Passions-Diskurses der Princesse zusammen. <?page no="106"?> 106 Panorama einer produktiven Rezeptionsgeschichte *** Doch genug der Präliminarien - und nun, vor dem Hintergrund der hier skizzierten ästhetischen und ideologischen Fragestellungen, zur konkreten Analyse diverser Princesses des 20. und des 21. Jahrhunderts, angefangen mit Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel. <?page no="107"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“: Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel La Princesse de Clèves et Thomas furent les livres que Radiguet aimait le plus au monde. 1 Si vous saviez comme c’est amusant d’écrire des romans, beaucoup plus que de les lire. 2 Vorweg also einige knappe Reflexionen zu Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel (1924), „récriture manifeste“ 3 bzw. „pastiche modernisé“ 4 der Princesse de Clèves, als „[c]hefd’œuvre d’écriture retorse“ im Vergleich mit anderen Lafayette-Variationen „entreprise […] à la fois plus fidèle et plus impertinente“. 5 Im Gegensatz zu einer Vielzahl früherer Texte, in denen der Einfluss der Princesse sich eher punktuell manifestiert, entsteht Radiguets Roman von vornherein als „réécriture volontaire et avouée“: 6 „Radiguet a installé son chevalet devant La Princesse de Clèves et il a fait Le Bal du comte d’Orgel. J’ai installé mon chevalet devant La Chartreuse de Parme et il en est résulté Thomas l’imposteur“, um Jean Cocteaus vielzitierte pikturale Metapher aufzugreifen. 7 Gewiss war die Princesse nicht die einzige Inspirationsquelle des Bal (Bernard Pingaud verweist etwa auch auf Choderlos de Laclos, Gobineau und Proust 8 ). Doch Lafayettes Roman, „livre de chevet“ Radiguets, 9 besitzt nicht nur in der eklektischen „bibliothèque intérieure“ 10 des sehr jungen Schriftstellers (der gelegentlich noch zu seinem literarischen Glück gezwungen werden muss), 11 sondern vor allem auch als explizit deklariertes Modell des Bal einen 1 Jean Cocteau in einem Brief an Henri Massis, zit. nach Oliver/ Odouard 1993: ICf. 2 Raymond Radiguet in einem Brief an Valentine Hugo; vgl. V. Hugo: „Trente ans après“ (La Parisienne, Dez. 1953), zit. nach Oliver/ Odouard 1993: XVIII. 3 Levillain 1995: 154. 4 Chapiro 2009: 55. „[…] Radiguet avait déjà poussé jusqu’au pastiche la référence à La Princesse de Clèves, seule façon de la conjurer enfin. Mais Radiguet avait du génie, et la gratuité de sa dérision visait moins l’objet lui-même que sa trace, moins le texte que son mythe“, erklärt Malandain (1989: 117). 5 Coste/ Castells-Faucher 2000: 334f. 6 Werlen 2012: 105. 7 Cocteau 1965: 37, zit. nach Oliver/ Odouard 1993: XC. 8 Pingaud 1986a: 12. „Le Bal du comte d’Orgel procède directement de l’Ombre des jeunes filles en fleurs“, hält bereits Lanoux fest (1957: 40f., zit. nach Oliver/ Odouard 1993: XCVII). 9 Information nach Cocteau in Goesch 1955: 145, zit. nach François 1992: 108. Radiguets Vorliebe für Lafayette, „cette grande amie, si polie avec les sentiments“ (zit. nach Bott 1995: 124), und insbesondere die Princesse de Clèves, aus der er ganze Passagen auswendig zitiert, ist ein gern und häufig variierter Topos der Radiguet-Kritik, so in scherzhaft-paternalistischem Modus bei François Bott: „[…] Radiguet faisait l’école buissonnière avec madame de La Fayette“ („Le petit cousin de la comtesse“ [Le Monde], zit. nach Radiguet/ Cendres 2003: 139). 10 Diese Formulierung André Malraux’ (L’Homme précaire et la littérature, 1977) zitiert Schlanger (2008: 138). 11 Wiederholt klagt Freund und Mentor Cocteau über den mangelnden Arbeitseifer Radiguets (vgl. Oliver/ Odouard 1993: XI). Im Zuge seines „apprentissage romanesque“ (ibid.: XCV) verfällt besagter ‚Faulpelz‘, wie Cocteau berichtet, freilich auch in einen wahren Lesefuror: „[…] ce paresseux […] était devenu un Chinois penché sur des livres. Il en lisait une foule de médiocres, les confrontant avec les chefsd’œuvre, y revenant, notant, annotant, collant des cigarettes et déclarant que le mécanisme d’un chefd’œuvre étant invisible, il ne pouvait apprendre que dans les livres qui passaient pour l’être et qui ne l’étaient pas“ (Cocteau 1957: 35, zit. ibid.). Der junge Autor selbst inszeniert sein Alter Ego in Le <?page no="108"?> 108 Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel Sonderstatus. 12 Radiguets Text entfaltet sich den Spuren der Princesse entlang - und zunächst unter einem diese wörtlich zitierenden Arbeitstitel: „Le Fantôme du devoir“ 13 referiert auf die Schlüsselszene der letzten Aussprache zwischen Mme de Clèves und Nemours („Ah! madame, […] quel fantôme de devoir opposez-vous à mon bonheur? “ 14 ). Intendiert ist hier keine erschöpfende Analyse dieses bereits umfassend untersuchten Romans, ebenso wenig eine Neuauflage der rhetorischen Pflichtübung des ‚Vergleichs‘ zwischen Radiguets Bal und der Princesse. 15 Fokussiert werden sollen vielmehr einige Aspekte, die für die weitere (post-)moderne produktive Rezeption von Lafayettes Werk von besonderem Interesse sind: die konkreten Strategien hypertextueller réécriture, die zum Einsatz kommen, spezifisch moderne - ästhetische und ideologische - Akzentsetzungen gegenüber dem klassischen Modell (und früheren Variationen); Radiguets „Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 16 bzw. „Princesse de Clèves moderne“ 17 (im Jahr 1969 unter der Regie von Marc Allégret nach einem Drehbuch von Françoise Sagan und Philippe Grumbach auch filmisch adaptiert 18 ) stellt im Kontext dieser Studie eine essentielle Etappe in der langen literarischen Rezeptionshistorie des Lafayette’schen Romans dar. Von Radiguets Projekt führt eine direkte Linie auch zum offiziellen Beginn der Kinogeschichte der Princesse: Die Dialoge zu Jean Delannoys Erstadaption aus dem Jahr 1961 stammen aus der Feder Jean Cocteaus, 19 dessen langjähriger Gefährte Jean Marais die Rolle des Prince de Clèves übernimmt und der Jahrzehnte zuvor als enger Freund und künstlerischer Mentor resp. ‚Korrektor‘ Radiguets „jour après jour“ den Entstehungsprozess des Bal du comte d’Orgel begleitet. 20 Auf die lange Zeit umstrittene, mit der penibel dokumentierten kritischen Edition von Andrew Oliver und Nadia Odouard mittlerweile präzise beantwortete Frage nach dem Ausmaß der Interventionen Cocteaus in Radiguets erst sieben Monate nach dem Tod des Autors publiziertem Text 21 - quasi „œuvre écrite à ‚quatre mains‘“ 22 (bzw. sogar Diable au corps (2011: 60) als ebenso frenetischen wie omnivoren Leser: „Je lisais, couché dans ce bateau. En 1913 et 1914, deux cents livres y passent.“ 12 Vgl. Pingaud 1986a: 12. 13 Vgl. ibid.: 34ff.; Oliver/ Odouard 1993: IL. 14 Lafayette 2014c: 469. 15 „Le parallèle avec La Princesse de Clèves est un exercice rhétorique auquel on peut difficilement échapper quand on parle du Bal“, konstatiert Pingaud (1986a: 12f.). Den Bezug zwischen La Princesse de Clèves und Radiguets erstpubliziertem Roman Le Diable au corps stellt Cipriani (2004) her. 16 Senninger-Book 1963. 17 Lanni 2012: 41; vgl. auch bereits Gugenheim 1951. 18 Vgl. Rambaud 2006: 18. 19 Frappierend sind - über die Jahrzehnte hinweg - die Parallelen zwischen Cocteaus Kommentaren und eigenen kreativen Interventionen im Rahmen des Bal einerseits und seinem späteren Engagement in Delannoys Filmprojekt andererseits: Mit einer vielzitierten Formel charakterisiert er etwa Radiguets Text als „roman de la pureté“ (zit. nach Pingaud 1986b: 216), „[l]’histoire de Mme de La Fayette“, auf der Delannoys Princesse basiert, sogar als regelrechte „orgie de pureté“ („La Princesse de Clèves“ [1961], in Cocteau 2003: 261-262, hier 261). 20 Pingaud 1986b: 216. „Je vous demande beaucoup de ne tenir aucun compte des fautes de style. J’avais l’habitude de revoir les épreuves quatre fois avec R. Radiguet et ce travail n’existe pas. Il est tombé malade au moment de s’y mettre“, ersucht Cocteau den Leiter der Cahiers verts, Daniel Halévy, um Nachsicht gegenüber dem Manuskript des Bal (zit. nach Oliver/ Odouard 1993: XXXVIf.). 21 Zweifel an der ‚einstimmigen‘ Autorschaft des Bal äußern bereits diverse Zeitgenossen: „Je ne prétends pas que c’est Jean Cocteau qui a écrit ce livre, je n’en sais rien. Je dis seulement qu’on pourrait s’y tromper comme à un pastiche réussi. Si le dernier livre de Radiguet n’est pas du Cocteau, le dernier <?page no="109"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 109 zu sechs Händen, hatte doch auch Joseph Kessel als kritischer Redakteur, ja partieller Ko- Autor die seinen im Spiel) - und die anschließende Frage, wie weit die posthume Bearbeitung Stil und ursprünglicher auktorialer Intention gerecht wird, kann und soll an dieser Stelle nicht im Detail eingegangen werden, ebenso wenig auf den editorialen Konflikt rund um die Publikation 23 und auf die einigermaßen kontroverse Rezeption des Romans bei der zeitgenössischen Literaturkritik. 24 Aber auch abseits der Cocteau-Connection hat der Roman Radiguets, Lafayette-Hypertext, den Autorinnen späterer Princesse-Variationen wiederum als Hypotext gedient: Der Einfluss des Bal ist nicht nur in Louise de Vilmorins knapp drei Jahrzehnte später publizierter Madame de deutlich präsent; auch Jacqueline Harpmans zuerst im Jahr 1959 veröffentlichte Brève Arcadie konstituiert einen (mindestens) doppelten Hypertext zur - von vornherein auch durch das Prisma Radiguet wahrgenommenen - Princesse Lafayettes und zum Bal. 25 Die Produktivität dieser wohl berühmtesten modernen Lafayette-réécriture manifestiert sich jedoch auch in anderen Werken, die weniger explizit und umfassend auf das Radiguet’sche Modell rekurrieren. Als prononciert ‚klassisch‘ stilisierter Roman (die Edition Olivers und Odouards livre de Cocteau était alors du Radiguet“, erklärt Eugène Montfort im Juli 1924 in Les Marges (zit. nach Oliver/ Odouard 1993: XXXII). Die knapp sieben Jahrzehnte nach der Erstpublikation vorgelegte kritische Edition jener Fassung des Bal, die Radiguet selbst zum Zeitpunkt seines Todes hinterlassen hatte und die Ende 1923 Bernard Grasset übergeben worden war (vgl. Radiguet 1993a: CXIII), macht deutlich, dass die Bearbeitung durch Jean Cocteau und Joseph Kessel de facto weit über das von den Betreffenden eingeräumte Ausmaß hinausging. Oliver und Odouard illustrieren in ihrer detaillierten Darstellung der Textgenese die Dimensionen der posthumen „réécriture“ bzw. - zweifellos wohlmeinenden - Aneignung des Romans durch Cocteau: „Le maître a tout fait pour mettre en valeur l’œuvre de son disciple […]. Son travail de réécriture l’a conduit à s’approprier dans une certaine mesure le texte de Radiguet, et il n’y a pas de doute que sans les interventions de Cocteau Le Bal du comte d’Orgel aurait été sensiblement différent […]“ (1993: CXII). Insofern betonen die Herausgeber, die penibel die an Radiguets Manuskript vorgenommenen Modifikationen - von grammatikalischen Korrekturen bis hin zur offenkundigen punktuellen Sinnverfälschung (ibid.: LXXXVII) - rekonstruieren, dass es sich bei der Version des Bal, die seit 1924 Gegenstand zahlreicher Re-Editionen war, eigentlich um einen „texte déformé, voire tronqué“ handle (ibid.: VII); für „hasardeux“ befinden sie jedes Unterfangen einer Interpretation auf Basis der Original-Edition, deren Text „en tous points suspect“ sei (ibid.: LXXXIX). Es ist freilich ebendieser Text - und nicht das in quellenkritischer Detailarbeit aufbereitete Manuskript Radiguets (zur präzisen Editionschronologie des Bal vgl. Radiguet 1993a: 95ff.) -, der der weiteren Rezeptionsgeschichte des Bal zugrunde liegt - und damit bewusst auch dieser Analyse zugrunde gelegt werden soll, dies, wo relevant, unter Berücksichtigung textgenetischer Aspekte. 22 Pingaud 1986b: 225. 23 Vgl. Nemer 2002: 423ff. 24 Der Bal erscheint am 1. Juni 1924 in der Nouvelle Revue Française. Bald darauf beschwert sich der Verleger Grasset, enttäuscht angesichts der in seinen Augen nicht hinreichend enthusiastischen Präsentation des Romans, in einer „lettre très dure“ bei Jacques Rivière, der in seiner Antwort nichts schuldig bleibt; kurzfristig steht sogar die Perspektive eines verlegerisch-literaturkritischen Duells im Raum. Vgl. das Dossier „Repères biographiques“ in Radiguet 1986: 211-214, hier 214; sowie die Dokumentation „Une querelle épistolaire. Bernard Grasset, Jacques Rivière et Le Bal du comte d’Orgel“ in Radiguet 1993a: 89ff. 25 Aus weit größerer kultureller Distanz und abseits des Projekts einer konkreten réécriture bezieht sich etwa Yukio Mishima auf Radiguet als Vorbild bzw. inspirierenden ‚Rivalen‘, an dessen Werk - Mishima nennt ausdrücklich Le Bal du comte d’Orgel als jenes „chef-d’œuvre de style classique qui égale Radiguet aux plus grands maîtres de la littérature française“ - es die eigene Leistung zu messen gilt: „[…] Radiguet me fascinait […] je surimposais ma propre image à la sienne. Je fis de lui, en quelque sorte, mon rival personnel, et de ses prouesses littéraires, un but à atteindre avant de mourir“ („Le Japon moderne et l’Éthique samouraï“, zit. nach Radiguet/ Cendres 2003: 150). <?page no="110"?> 110 Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel illustriert freilich eindrücklich, wie sehr die nachträgliche Redaktion durch Cocteau und Kessel - réécriture der réécriture - zur Textur dieses „livre absolument classique“ 26 beigetragen hat, 27 dessen diesbezügliche Spezifik die zeitgenössische Kritik unter Verfolgung eigener ideologischer Agenden zum Teil auch überbetont 28 ) weist der Bal zugleich doch eine ganze Reihe moderner Akzente auf, die in unserem Corpus in mannigfacher Variation fortgeschrieben werden: Dies gilt für die Rekontextualisierung von Sujet und Figuren (Radiguets Roman aus den années folles versetzt auch Lafayettes Handlung in das mondäne Paris der Zwischenkriegszeit), unter Reflexion des unausweichlichen Anachronismus dieses Unterfangens; dies gilt für die Neugestaltung der Passions-Problematik vor dem Hintergrund eines fundamentalen Bedeutungswandels von Liebe und Ehe, aber auch für einen schon bei Radiguet skizzierten psychoanalytischen Zugang; dies gilt schließlich für den im Text quasi omnipräsenten gender trouble, das bereits subtil sich abzeichnende Queering des Plots und für die Einführung einer hier noch sehr dezenten interkulturellen Dimension. Auch auf narrativstruktureller Ebene nimmt Radiguet einige signifikante Transformationen vor: so die Re- Interpretation und Verschiebung des aveu oder die Öffnung des Endes, die sich in der Folge als symptomatische gemeinsame Charakteristika in sämtlichen postmodernen Princesse- Variationen wiederfinden werden. 26 Als „un livre absolument classique, et sans doute, le seul livre classique de ces dernières années“ charakterisiert Edmond Jaloux den Bal („Raymond Radiguet“ [Les Nouvelles littéraires], zit. nach Radiguet/ Cendres 2003: 144); doch auch Joseph Delteil honoriert in Le Sacré Corps diesen „classicisme le plus frais et le plus pétulant“ (zit. ibid.: 140-141, hier 141). „Le parti pris de classicisme chez Radiguet, l’apparente froideur marmoréenne de ses deux ouvrages“ betont Maurice Nadeau („Les Œuvres complètes de Raymond Radiguet“ [Mercure de France], zit. ibid.: 151-152, hier 151). „[…] son œuvre […] s’inscrit parfaitement dans ce courant du roman français né avec La Princesse de Clèves: une histoire parfaitement contée, un style sobre, du goût et de la mesure“, erklärt Bernard Noël (Dictionnaire des auteurs de tous les temps et de tous les pays, zit. ibid.: 152). 27 Wie Oliver und Odouard zeigen, wird erst in der Bearbeitung durch Cocteau und Kessel aus Radiguets Manuskript diese ‚klassische‘ Version des Bal, nicht nur spürbar gekürzt, sondern auch stilistisch „le plus classique possible“ gestaltet (1993: LXXXIIff., hier zit. LXXXV). Die beiden machen sich - unter der Ägide des Verlegers Grasset, der als „‚maniaque du style‘“ (ibid.: XL) seinerseits auf maximalen „‚purisme‘“ (Pingaud 1986b: 224) setzt - ausgehend von der „fausse prémisse“ ans Werk, Radiguets Ideal für den Bal sei jener nachträglich kreierte „style d’un sobre classicisme“ gewesen (Oliver/ Odouard 1993: LXXXV). In diesem Sinne wird möglichst „toute redondance, toute phrase légèrement suspecte“ eliminiert, Radiguets „langage hyperbolique“ (ibid.: LXXXIV), seine charakteristische Kombination von „l’hyperbole et l’ellipse, le trop et le pas assez“ (Coste/ Castells-Faucher 2000: 334) zu „ce chef-d’œuvre de mesure“ (François Mauriac, zit. nach Nemer 2002: 420) zurechtgestutzt, als das der Bal in der Literaturgeschichte figuriert; dies zumindest teilweise im Widerspruch zur ursprünglichen Intention des Autors: So findet jener „style relâché, détendu“ (Oliver/ Odouard 1993: LXXXVI), den Radiguet selbst in einer Notiz zu seinem Romanprojekt als poetologisches Programm formuliert: „genre mal écrit comme l’élégance doit avoir l’air mal habillée“ (zit. nach Radiguet 1993b: 864), sich zwar „à chaque page de la version intégrale“ (Oliver/ Odouard 1993: LXXXVI), wurde jedoch aus der kanonischen Fassung sehr weitgehend eliminiert. 28 Ironisch kommentiert Paul Morand - der, wie von den Zeitgenossen Radiguets spekuliert, seine Spur im Bal hinterlassen zu haben scheint: die Figur des Schriftstellers Paul Robin wurde als (einigermaßen karikaturales) Porträt Morands verstanden (vgl. Bott 1995: 170) - die Rezeption des Romans bei einer christlich-konservativen Kritik, die unter Ausblendung von Radiguets „amoralisme“ euphorisch „le retour au classicisme d’un enfant ingénu“ zelebriert: „[…] saint Thomas d’Aquin et la princesse de Clèves, un peu surpris du voisinage, se réveillèrent soudain dans le même lit que Radiguet“ (Monplaisir… en littérature [1967], zit. nach Radiguet/ Cendres 2003: 151). <?page no="111"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 111 Aristokratie als Performance: Vom Hof der Valois zur Society der années folles „Les mouvements d’un cœur comme celui de la comtesse d’Orgel sont-ils surannés? “: 29 Bereits mit dem ersten Satz wird ausgehend von der weiblichen Hauptfigur, moderne Reinkarnation der Princesse de Clèves, die Frage nach der Aktualität bzw. Aktualisierbarkeit des klassischen Prätexts aufgeworfen, nach der romanesken und ethischen Tragfähigkeit des Lafayette’schen „schéma classique“, das, schon für die zeitgenössischen Leser der Princesse nicht uneingeschränkt plausibel, zur Zeit der Entstehung - und der diegetischen Handlung - des Bal nicht mehr selbstverständlich als „suffisamment soutenu par la réalité sociale pour paraître crédible“ 30 zu betrachten ist. Radiguet transferiert Plot und Figurenkonstellation in einen modernen Kontext; an die Stelle des Königshofes bei Lafayette tritt „le Tout-Paris des ‚années folles‘“, 31 „une société oisive et polie, une sorte de cour perdue en plein XX e siècle“. 32 Vor allem über die Gestalt des Comte d’Orgel - in den ersten Entwürfen ‚Comte de Marolles‘, später ‚de Saintré‘, schließlich (vermutlich auf Vorschlag Cocteaus) in ‚d’Orgel‘ umbenannt 33 - wird der Konnex zu einer adligen Lebenskultur der Vergangenheit etabliert, deren Erbe Anne noch ‚im Blute‘ trägt; so erwacht im eponymen Protagonisten im Rahmen der Planung seines Balls, angesichts der verlockenden Perspektive von „mille mascarades“, verlässlich „la passion la plus profonde des hommes de sa classe, à travers les siècles: celle du déguisement“. 34 Diese aristokratische Maskerade ist hier freilich nicht mehr selbst- und machtgewisse Inszenierung der herrschenden Klasse von einst, sondern erscheint in einer modernen Übergangszeit assoziiert mit 29 Radiguet 1986: 55. 30 Pingaud 1986a: 38. 31 Ibid.: 14. Von den ersten Lesern Radiguets wird der im für sie zeitgenössischen Paris angesiedelte Bal auch als Schlüsselroman rezipiert; gleich nach der Publikation nimmt „[l]e jeu des devinettes“ (Bott 1995: 170) seinen Lauf. Neben Society-Aristokrat Étienne de Beaumont, als Modell für Anne d’Orgel identifiziert (ibid.: 135), wird François de Séryeuse autobiografisierend als „l’émissaire ou le double de Raymond“ (ibid.: 176) interpretiert. Eben zur Figur des François, der zunächst - zwischen autobiografischalliterativer Affinität und intertextueller Referenz? - den Namen ‚René‘ trägt, liegen kaum Arbeitsnotizen des Autors vor; „[…] et l’on soupçonne que l’auteur a puisé profondément en lui-même pour la création de son protagoniste“, merken auch die skrupulösen Radiguet-Spezialisten Oliver und Odouard an (1993: LIX). Hinsichtlich der nachträglichen Konstruktion eines schriftstellerischen Œuvres ist es aufschlussreich, dass auch der - autobiografisch inspirierte, im Text namenlose - Erzähler in Le Diable au corps, Radiguet selbst zufolge eine „fausse autobiographie“ (zit. ibid.: XLI), gelegentlich mit ebendiesem Namen ‚François‘ ausgestattet wird (so auf dem Umschlag einer Gallimard/ Folio- Taschenbuchedition): Hier ist es der editoriale Paratext, der die De-facto-Identität der beiden Protagonisten suggeriert und die intratextuelle Kohärenz verstärkt (vgl. François 1992: 111). 32 Pingaud 1959: 172. Im Lauf der Romanhandlung wird freilich auch hier noch ein kleiner ‚Hofstaat‘ mit seinen Intrigen und Galanterien inszeniert - dies anlässlich des Sommerfrische-Aufenthaltes des gräflichen Ehepaars bei Verwandten aus dem österreichischen Zweig der Orgels: In deren Schloss, anachronistische Neuauflage des höfischen Dispositivs bei Lafayette, erlebt der eponyme Protagonist einen mondänen Flirt mit einer „Viennoise d’une beauté célèbre“, der einige (wiederum an Stendhal gemahnende) Reflexionen über die spezifische soziale Dynamik dieses panoptischen aristokratischen Mikrokosmos motiviert: „[…] la vie du château, qui avait facilité les préliminaires, rendait difficile la conclusion“ (Radiguet 1986: 158). 33 Vgl. Oliver/ Odouard 1993: L. 34 Radiguet 1986: 194. <?page no="112"?> 112 Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel einer profunden „[i]ncertitude sociale“, 35 die auch die Mitglieder der sozioökonomischen Elite nicht aus dem Spiel lässt. Geradezu paradigmatisch steht Anne d’Orgel für den politischen wie moralischen Niedergang jener früheren Aristokratie: Dieser neue ‚Prince‘ wird - in seinem „enthousiasme facile“, 36 aber auch seiner Egozentrik, seinem völligen Mangel an Empathie und Fähigkeit zur ethischen Selbstreflexion - als sehr viel weniger noble Figur konstruiert denn sein Lafayette’scher Vorgänger. 37 Selbst der Erste Weltkrieg gerät in den Augen dieses Protagonisten zum ‚Amüsement‘ („la guerre l’avait amusé“), durchaus willkommene Gelegenheit zur Begegnung mit „des hommes de classes différentes“; 38 überaus angetan zeigt Anne d’Orgel sich auch von seinen Reisen ins Mitteleuropa der Nachbzw. bald wieder Zwischenkriegszeit, dünken ihn das verarmte Deutschland und Österreich in ihrer „détresse financière“ doch regelrechte „pays de cocagne“. 39 Mitten in den années folles verkörpert Radiguets Antiheld den längst obsoleten „type parfait du courtisan“, 40 Repräsentant eines artifiziellen „univers […] de la gratuité pure“, 41 in dem höfische Maskerade und moderne Technik sich zur anachronistischen Simulakrenwelt verbinden. Nur widerwillig verlässt er, der sich „dans une atmosphère factice, dans des pièces violemment éclairées, pleines de monde“ 42 in seinem Element fühlt, dieses sein Anti- Biotop; eine prinzipiell skeptisch betrachtete ‚Natur‘ bedarf in seinen Augen wie in jenen seiner adligen Vorfahren der „protection royale pour qu’il lui trouvât du charme“. 43 Für Anne d’Orgel - Kreatur und Advokat der apparences, Adept auch der Lüge als Kardinaltugend des Höflings wie des Künstlers („Mais, pour lui, mensonge n’était pas mensonge; il ne s’agissait que de frapper l’imagination“ 44 ), seinem „métier mondain“ in jedem Moment verpflichtet 45 - ist die elegante Fassade, ein zur leeren Etikette degradierter aristokratischer Wertecodex der „convenances“ 46 die einzig relevante Realität, ja die einzige ‚Realität‘, die er überhaupt noch wahrzunehmen vermag: „[…] il était dans le caractère du comte d’Orgel de ne percevoir la réalité que de ce qui se passait en public.“ 47 Aber auch Radiguets Nemours-Rollenträger erscheint in mancher Hinsicht konträr zum klassischen Modell konstruiert: Im Gegensatz zu seinem Lafayette’schen Vorbild, Inkarnation des perfekten, in allen galanten Künsten brillierenden Höflings, ist François de Séryeuse - im 35 Pingaud 1986a: 40. 36 Radiguet 1986: 83. 37 Führt Lafayette mit M. de Clèves - nach Haussonville (1891) „le premier type du mari sympathique“, zu seinen Gunsten mit Rousseaus Wolmar, „un Prince de Clèves pédant, gourmé et jouant à tout prendre un rôle assez ridicule“, verglichen (zit. nach Laugaa 1971: 202) - eine romaneske Innovation ein, so wird diese positive Re-Interpretation des traditionell ebenso lästigen wie lächerlichen Ehemannes hier teilweise wieder rückgängig gemacht: Anne d’Orgel als hoch ambivalenter moderner ‚Prince de Clèves‘ mag zwar nicht sonderlich „pédant“ anmuten, inkarniert jedoch sehr wohl eine neue Variante des literarischen ridicule. 38 Radiguet 1986: 67. 39 Ibid.: 165. 40 Ibid.: 95. 41 Pingaud 1959: 172. 42 Radiguet 1986: 100f. 43 Ibid.: 94. 44 Ibid.: 95. 45 Ibid.: 204. 46 Pingaud 1986a: 16. 47 Radiguet 1986: 205. <?page no="113"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 113 Manuskript zunächst ‚René‘ und im ersten Teil der ersten Fassung noch homodiegetischer Erzähler 48 - in seiner jugendlichen Schüchternheit alles andere als ein routinierter Casanova; dieser introvertierte Neo- oder auch Anti-Nemours zeigt vielmehr prononcierte Rückzugstendenzen, sehnt sich nach „moins de fêtes, et plus d’intimité“ 49 sowie nach ‚reinigender‘ Einsamkeit. 50 Gemeinsam mit ‚Princesse‘ bzw. Comtesse Mahaut bewegen sich diese Protagonisten in einem Umfeld, dem die soziale und ideologische Kohärenz der höfischen Welt Lafayettes längst abhandengekommen ist. Bereits bei Radiguet - und noch deutlicher bei Vilmorin drei Jahrzehnte später - haben wir es mit einem mehr oder minder frei flottierenden Mikrokosmos von grenzenloser Frivolität und von den Figuren selbst reflektiertem Anachronismus zu tun: „la mondanité parisienne, siège, non du pouvoir, mais d’un art de vivre et de sentir avec distance“ bietet nur mehr ein „équivalent assourdi […] de l’aristocratie de cour“. 51 Diese Degradierung wird in späteren postmodernen Re-Interpretationen - nicht zuletzt ausgehend von der Matrix des Bal - sukzessive vorangetrieben; und auch wenn Radiguets Werk sich als Gegenprogramm zum roman social versteht, 52 so stellt doch diese Zurücknahme der gesellschaftlichen Dimension, die soziale wie spirituelle ‚Entwurzelung‘ der Protagonisten - an der auf diegetischer Ebene auch die dezent jansenistische Inspiration des Textes nichts ändert 53 - sehr wohl ein indirekt aufschlussreiches ideologisches Statement zur Verfasstheit der hier repräsentierten Gesellschaft resp. dieses spezifischen Milieus dar. 54 Als gemeinsames distinktives Merkmal dieser Figuren - sämtlich brüchig gewordene moderne Subjekte ohne klare Normen - macht Pingaud, wiederum im Kontrast zu den Helden Lafayettes, ihre (soziale, moralische, existentielle) „fragilité“ aus, 55 aber auch ihren chronischen „enfantillage“; 56 auch dies in weiterer Folge quasi eine Konstante der literarischen wie filmischen Princesse-Variationen des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts. Lassen Willenskraft und ethische Souveränität der Lafayette’schen Protagonistin deren extreme Jugend 48 Vgl. Oliver/ Odouard 1993: L (zu „René“ siehe auch die Arbeitsnotizen Radiguets ibid.: LII). Ab dem zweiten Manuskript-Heft wechselt Radiguet zu heterodiegetischer Narration, die nicht zuletzt die intendierte Repräsentation des „drame du silence et de l’incommunicabilité des sentiments“ begünstigt (ibid.: XLIII, vgl. auch LXVI). 49 Radiguet 1986: 116. 50 Vgl. ibid.: 161. 51 Coste/ Castells-Faucher 2000: 321. 52 „Côté ‚mondain‘: Atmosphère utile au déploiement de certains sentiments, mais ce n’est pas une peinture du monde; différence avec Proust. Le décor ne compte pas“, vermerkt Radiguet selbst zum Projekt (1993b: 864 [„Le Bal d’Orgel“]; vgl. auch Oliver/ Odouard 1993: XLIII). 53 So betont Pingaud die im Hintergrund des Romans dezent präsente klassische Ideologie: „Vision purement janséniste, en somme: il y a ceux qui ont la grâce et ceux qui ne l’ont pas“ (1986a: 35f.). 54 Diese „dimension sociale“ ist in der ersten Version noch stärker ausgeprägt (Pingaud 1986b: 221). Hier werden Genealogie und Milieu der Protagonisten wie auch einiger Nebenfiguren ausführlicher behandelt; erst im Lauf der weiteren Entstehungsgeschichte wird dieser Aspekt sukzessive reduziert - übrig bleibt ein literarisches Laboratorium, in dem „[l]e thème de l’amour et de ses effets psychologiques […] indépendamment de toute autre considération“ analysiert werden kann. „On comprend aussi pourquoi les protagonistes du Bal sont des aristocrates aisés“, kommentieren in diesem Sinne Oliver und Odouard: „Non seulement ils n’ont pas de soucis matériels, ils ne pensent même pas à l’argent ni à leur rang social, ce qui serait tout à fait invraisemblable dans un roman d’inspiration bourgeoise“ (1993: XLIII). 55 Pingaud 1986a: 16. 56 Ibid.: 41. <?page no="114"?> 114 Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel nur allzu leicht vergessen, 57 schätzt die gestrenge Mme de Chartres an ihrem zukünftigen Schwiegersohn seine Besonnenheit trotz seines jugendlichen Alters („qu’il faisait paraître tant de sagesse pour son âge“), 58 so leidet Radiguets erwachsene Princesse insgeheim darunter, ihren immerhin schon dreißigjährigen Mann in Gesellschaft - und ausgerechnet in Gegenwart des heimlich geliebten François - sich „aussi puéril“, ja als „clown“ gebärden zu sehen: „Au milieu de cette bacchanale improvisée, Anne d’Orgel perdait la tête. Son visage montrait la fièvre des enfants excités par le jeu. […] il oubliait, dans une griserie enfantine, les moindres délicatesses du cœur.“ 59 Nicht umsonst spielen im Text allerlei periphere, karnevaleske Räume eine zentrale Rolle, 60 und nicht umsonst wird Le Bal du comte d’Orgel etwa im Werk Jacqueline Harpmans bevorzugt mit einem derartigen marginalen (Zirkus-)Raum assoziiert. So in einem Spaziergang durch die als anachronistische Bibliothek metaphorisierte, durch und durch intertextualisierte Metropole Paris, literarischer „mythe“: „Paris, quand on est bien gorgé de littérature, paraît d’abord la plus familière des villes. […] On s’y promène comme dans une bibliothèque, on croise Stendhal boulevard des Italiens, Rastignac au Père-Lachaise et Mme d’Orgel à Médrano.“ 61 Ehe, Liebe, devoir und galanteries: Ethik und/ als Ästhetik In diesem gesellschaftlichen und historischen Kontext widerfährt unweigerlich auch der Passion eine radikale Re-Interpretation. In Radiguets Roman - Dokument einer Übergangsepoche und gleichsam ‚Scharniertext‘ in der produktiven Rezeptionsgeschichte der Princesse de Clèves - koexistieren unterschiedliche Ehe-Modelle; jenes der klassisch-dynastischen aristokratischen Allianz findet sich neben jenem der romantisch überhöhten bürgerlichen Liebesehe wieder. So erinnert die mit knapper Ironie evozierte Verbindung des Prince und der Princesse Austerlitz frappant - möglicherweise intendiertes Augenzwinkern an die Adresse des Lesers - an die überlieferte Ehehistorie der Lafayettes, 62 während die Ehe der Orgels ein komplexes Gemisch aus Liebe - im Gegensatz zum klassischen Prätext anfänglich nur auf Seiten der Frau - und perfekt akkordierter Performance darstellt. 57 „Pense-t-on que Mlle de Chartres avait quinze ans…“, reflektiert Radiguet den historischen Statuswandel der Jugend („René. La jeunesse s’est déplacée. On la jugeait précoce. […] Mais sous l’Ancien Régime, un jeune homme de vingt ans pouvait prétendre aux plus hauts postes. C’est la République qui a tué la jeunesse“; „Ébauche“, in Radiguet 1993b: 868-869, hier 869) - und die eigene unbequeme Rolle als ‚Wunderkind‘ (vgl. „Mon premier roman: Le Diable au corps“ [Les Nouvelles littéraires 21, 10.03.1923], zit. ibid.: 431-432, hier 431). 58 Lafayette 2014c: 347. 59 Radiguet 1986: 195f. Cocteau missbilligt den allzu clownesken Charakter Annes (dies möglicherweise aus mondäner Rücksicht auf das für die Zeitgenossen nur allzu evidente Modell). „Enlever le côté ridicule et ressemblant d’Anne“, notiert er im Manuskript Radiguets - und insistiert gleich noch einmal: „Ôter le ridicule d’Anne d’Orgel - reporter tout sur le père“ (zit. nach Oliver/ Odouard 1993: LI). Dieser Vorgabe kommt Radiguet nicht nach; es ist schließlich Cocteau selbst, der in der posthumen Version „certains aspects du caractère du personnage jugés trop caricaturaux“ (ibid.) eliminiert. 60 Vgl. Coste/ Castells-Faucher 2000: 322. 61 Harpman 2000: 76ff. 62 „De tous ceux qui connaissaient sa femme, le prince d’Austerlitz était le seul qui ne fût pas intime avec elle. D’ailleurs, elle ne dérangeait pas ce prince, que la jeunesse croyait mort, tant il faisait peu de bruit […]“ (Radiguet 1986: 72). <?page no="115"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 115 Entgegen dem Zeitgeist wird im Milieu der Orgels und der Grimoards nach wie vor primär dynastisch geheiratet: Der Vater der Protagonistin, vorweg überzeugt, „que personne n’était digne d’une Grimoard“, billigt schließlich als zukünftigen Ehemann seiner Tochter „le comte Anne d’Orgel, un assez beau nom de chez nous“; dass Mahaut auch noch „follement“ in Anne verliebt ist, 63 ist weder Bedingung noch charakteristisch für die Ehekultur des Milieus. Die bei Lafayette klar getrennten Rollen des mari und des amant - die der Prince de Clèves, wie von ihm selbst reflektiert, zu seinem Unglück in seiner Person vereint - erscheinen auch hier deutlich differenziert, so etwa, wenn der Erzähler der Heldin attestiert, „son mari comme un amant“ zu lieben, 64 aber auch, wenn der eponyme Protagonist seine Frau plötzlich „comme si elle n’eût pas été sa femme“ begehrt. 65 Auch in diesem Punkt höfischer Tradition treu, betrachtet Anne d’Orgel den einen oder anderen galanten „caprice“, mancherlei „petites infidélités“ als mondäne ‚Pflicht‘, der es im Rahmen seines „métier élégant“ auch ohne anderen Lustgewinn als jenen der „vanité“ Genüge zu tun gilt: „C’était par devoir, 66 pourrait-on dire, si ce mot n’était pas trop vif, qu’Anne avait trompé Mahaut.“ 67 Das anachronistische Neben-, Durch- und Gegeneinander unterschiedlicher Liebes- Konzepte - vom „amour de vanité“ 68 zu einem romantischen Liebesideal - wird im Text auch an diversen Nebenfronten durchgespielt. So erfährt François „avec surprise“ den Grund für die untypische „détresse morale“ seines Freundes Paul: Neben seiner „véritable liaison“ mit einer Frau aus kleinbürgerlichem Milieu, die um seinetwillen mit ihrem Gatten gebrochen hat, hat der junge Mann sich „par paresse, vanité“ parallel auf eine „aventure“ mit einer gefeierten Schönheit eingelassen, von der er sich vor allem narzisstische Gratifikation und Prestigegewinn verspricht. 69 Allein: Seine Absichten („il avait vu dans sa liaison avec Hester Wayne quelque chose de flatteur“) kollidieren rasch genug mit dem Erwartungshorizont besagter Dame, die nicht nur die mondänen Ambitionen ihres Kavaliers durch Geheimhaltung 63 Ibid.: 60. 64 Ibid.: 126. 65 Ibid.: 116. In derartigen Passagen klingt deutlich das intertextuelle Echo des Lafayette’schen Œuvres mit - an dieser Stelle etwa der Comtesse de Tende: Auch hier zeigt sich ein seiner Frau gegenüber zunächst gleichgültiger Ehemann angesichts der Liebe eines anderen plötzlich „aussi amoureux d’elle que si elle n’eût point été sa femme“ (Lafayette 2014d: 69). 66 Diese Passage illustriert die schillernde Bedeutungsvielfalt jenes zwischen Moral und galanter Mondänität oszillierenden devoir (vgl. Pingaud 1986a: 34), auf den Radiguet sich bereits mit dem direkt Lafayette zitierenden Arbeitstitel seiner ersten Version - Le Fantôme du devoir - bezieht. „[…] dans ce monde des années folles que dominent des êtres légers, frivoles, sans épaisseur, le devoir est une marque d’élégance, de raffinement, de supériorité […]“, konstatiert Lanni (2012: 43) zum Bal. Während Esmein- Sarrazin den devoir in der Princesse vereindeutigend als „pas […] une obligation sociale, mais un code d’honneur, un sens de la fidélité“ interpretiert (2014c: 1321), analysiert Coropceanu (2010: 48f.) dessen Ambivalenz als „un dispositif à la fois social et personnel“ schon im klassischen Prätext. So prallen eben in der Szene der finalen Aussprache zwischen Mme de Clèves und Nemours, auf die Radiguets Fantôme du devoir verweist, zwei sehr unterschiedliche devoir-Konzepte aufeinander: Nemours’ konventionelle Auffassung einer „certaine normativité sociale qui doit répondre avant tout aux exigences de la bienséance“ steht gegen den völlig anders gearteten, persönlichen und primär philosophisch-spirituellen Pflicht- Begriff der Princesse. Zur Kategorie „Devoir“ in Lafayettes Roman vgl. auch Köhler 1959: 28ff. 67 Radiguet 1986: 158. „On porte les signes de la passion comme on porte un vêtement à la mode, par souci d’élégance“, bemerkt Lever zur Romanwelt Villedieus (1981: 203, zit. nach Andersen 1998: 180). 68 Vgl. Stendhals Ausführungen (1959: 5ff.) zu den vier ‚Typen‘ der Liebe („amour-passion“, „amourgoût“, „amour-physique“ und schließlich „amour de vanité“). 69 Radiguet 1986: 162f. <?page no="116"?> 116 Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel der Affäre im Namen der ‚Romantik‘ sabotiert, sondern aus Eifersucht auch seine Beziehung zu seiner eigentlichen Geliebten zerstört. Ein gleich mehrfaches Missverständnis bzw. der Clash inkompatibler Liebeskonzepte führt ins amouröse Desaster: „Pour Hester, qu’il n’aimait pas, Paul avait abîmé un amour. […] Il avait fait deux malheureuses et souffrait.“ 70 Die triste Episode seines Freundes, der es zur Tragik nicht mehr reicht, dient François - ebenso wie die Digressionen Lafayettes der Princesse 71 - mitten in seiner eigenen Verwirrung der Gefühle offensichtlich genug als indirekte Lektion, Warnung vor den Turbulenzen der Galanterie wie der ‚wahren‘ Passion samt destruktiver Eifersucht. Zwischen dem skrupulösen jungen Mann und ihrem mondänen Gatten entfaltet sich die Passionsgeschichte der neuen Princesse, Bewohnerin eines anachronistischen Niemandslandes zwischen dem anspruchsvollen Tugendideal der Heldin Lafayettes und dem oberflächlichen Ehrencodex ihres Milieus. „C’est le regard d’autrui, plus que sa conscience, que redoute Mahaut d’Orgel“, unterstreicht Françoise Bonardel; 72 zumindest ex negativo reflektiert die Protagonistin - im Gegensatz zu Anne als schillernder Fassadenfigur - freilich sehr wohl auch ihr ethisches Dilemma, den Mangel an jeglichem ideologischen und erst recht spirituellen Fundament wie an jener mütterlichen Instruktion, die ihrer intertextuellen Vorgängerin zuteilwird: „Hélas! Je ne puis compter sur rien. La religion ne peut plus me secourir. J’ai assez aimé mon mari pour le suivre dans son incroyance. Ma mère pouvait-elle supposer que je lui ressemblasse si mal? Comment m’eût-elle mise en garde contre des dangers qui, pour elle, ne pouvaient être qu’imaginaires? “ 73 In einer Epoche, in der der ‚Tugend‘ längst ein Odium der Lächerlichkeit anhaftet - „Et puis c’est une sainte“, lautet das ambivalente Standardlob für Mlle d’Orgel, ‚altjüngferliche‘ Schwester des Protagonisten („Cela signifiait que la nature l’avait peu comblée“, fügt der Erzähler hinzu 74 ) -, gedenkt Mahaut, auch sie von Mme de Séryeuse in weniger trivialem Sinne als „sainte“ bezeichnet, 75 mit ironisch gebrochener Nostalgie ihrer Vorfahrinnen, die die Liebe womöglich auch oder vor allem um ihrer Seelenruhe willen scheuten („Peut-être même la principale raison de la vertu de ses aïeules résidaitelle dans leur crainte de l’amour qui ôte le calme“ 76 ); sie meditiert über die Problematik eines eventuellen ‚Ehebruchs‘ (zwischen galanter Routine, obsoletem religiösem Tabu und höchstpersönlicher emotionaler Transgression) und tastet sich voller Zweifel auf das heikle Terrain einer neuen Ethik abseits der Pfade einer traditionellen Moral vor. Jean Cocteau charakterisiert Le Bal du comte d’Orgel - nach Le Diable au corps, jenem „roman du cynisme“ - als Radiguets „roman de la pureté“; 77 wie dem devoir widerfährt auch dieser im Text omnipräsenten pureté eine signifikante Re-Interpretation. Die „blancheur mal 70 Ibid. 71 Auch Oliver und Odouard halten fest, dass die „anecdote“ in Radiguets Roman „exactement la même fonction que les différents ‚récits‘ dans La Princesse de Clèves“ erfülle (1993: CIV). 72 Bonardel 2010: 78. 73 Radiguet 1986: 178. In diesem Sinne ist die Religion, Damien François zufolge „totalement absente du Bal du comte d’Orgel“ (1992: 108), im Roman sehr wohl noch präsent - freilich ex negativo, aus der Perspektive der Protagonistin Gegenstand ambivalenter Nostalgie. 74 Radiguet 1986: 115. 75 Ibid.: 181. 76 Ibid.: 126. 77 Zit. nach Pingaud 1986b: 216; vgl. auch Oliver/ Odouard 1993: XVIII. <?page no="117"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 117 comprise“, 78 die Radiguets Figuren - die Orgels und François, aber auch jenen „prince persan“ namens Mirza und seine Nichte, „jeune princesse“, als fünfzehnjährige Witwe ihrerseits fernes orientalisches bzw. via „éducation européenne“ assimiliertes Spiegelbild der Lafayette’schen Heldin 79 - verbindet, ist weniger moralisches Attribut denn ästhetischer Effekt, ebenso der „programme de pureté“, 80 den François’ Freund Paul, Opfer seiner eigenen galanten Manipulationen, in seinem Liebeskummer skizziert. Die im Gespräch der beiden jungen Männer beschworenen Tugenden - „la fidélité, le respect de soi-même et d’autrui, ce mélange qui n’est insipide que pour ceux qui n’ont pas de goût, le devoir“ 81 - erscheinen kaum als ernsthaft erwogene Prinzipien einer modernen säkularen Ethik, vielmehr als intellektueller Nervenkitzel, der temporäre, primär ästhetische Befriedigung verschafft. Aus der Perspektive François’, von einer „nouvelle manie de pureté“ 82 erfasst, wird letztere zur geradezu ‚kulinarischen‘ Angelegenheit: „[…] François avait jusqu’alors soupçonné la pureté d’être fade. Il jugeait maintenant que seul un palais sans délicatesse en pouvait méconnaître le goût.“ 83 Auch diese in späteren Texten fortgeschriebene Ästhetisierung der Moral darf als eminent modernes Spezifikum des Romans gelten; Protagonistin Mahaut reflektiert diesen fundamentalen Paradigmenwechsel, in dem ‚Tugend‘ von einer „exigence morale“ zur „grâce d’état, aussi gratuite qu’admirable“ wird. 84 Zwischen Jansenismus und Psychoanalyse: Mythos und Metaisierung der Passion Lässt schon Lafayette ihre Figuren selbst die Sozio-Psycho-Logik bzw. (in)vraisemblance ihres Handelns thematisieren, so sind bei Radiguet bereits mit einem gewissen psychoanalytischen Rüstzeug ausgestattete Protagonisten als Beobachter und Interpreten ihres eigenen Seelenlebens und des Verhaltens anderer am Werk. Es wäre übertrieben, Radiguet als ausgesprochenen Freud-Spezialisten oder besonders enthusiastischen Anhänger der damals noch recht jungen Psychoanalyse darstellen zu wollen; „en gros“ ist er freilich mit dem state of the art der psychoanalytischen Theoriebildung vertraut 85 (nicht zuletzt dank der väterlichen Bibliothek, in der sich u. a. die Introduction à la psychanalyse findet): „[…] dans son exploration du rôle de l’inconscient dans les actes humains, il doit peut-être autant à Freud qu’à Proust“, merken Oliver und Odouard an. 86 „Roman où c’est la psychologie qui est romanesque. Le seul effort d’imagination est appliqué là, non aux événements extérieurs, mais à l’analyse des sentiments“, umreißt Radiguet das Programm seines Romans, 87 auf dessen allererster Seite schon die folgende Exploration der „manœuvres inconscientes d’une âme pure […] encore plus singulières que les combinaisons 78 Radiguet 1986: 137. 79 Ibid. 80 Ibid.: 163. 81 Ibid. 82 Ibid.: 110. 83 Ibid.: 118. 84 Pingaud 1986a: 38. 85 Ibid.: 27. 86 Oliver/ Odouard 1993: IC. 87 Zit. nach Radiguet 1993b: 864 („Le Bal d’Orgel“). <?page no="118"?> 118 Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel du vice“ angekündigt wird. 88 Durch das doppelte Prisma des klassischen Prätexts und einer psychoanalytischen Perspektive schildert Radiguet die Passion als Symbol und Symptom der Selbstentfremdung, ja des Selbstverlusts, zwischen traditionellen Topoi amouröser ‚Pathologie‘ und der Problematik eines brüchigen modernen Subjekts. Erkennt die Heldin Lafayettes, einmal vom coup de foudre getroffen, sich selbst kaum wieder, 89 so handelt auch Radiguets Protagonistin im Bann der Passion gleichsam „sur les ordres d’une Mahaut inconnue, et ne pouvait ni ne voulait y rien comprendre“; 90 es ist die Passion, die dem Subjekt immer wieder aufs Neue deutlich macht, wie wenig es - um Freuds berühmte Formulierung zu zitieren - „Herr […] im eigenen Hause“ der Psyche ist. 91 Unter anderem an diesem Aspekt machen Oliver und Odouard - die vor dem Hintergrund sonstiger für „très superficielles“ befundener „ressemblances“ eben in der hier entfalteten „vision de l’amour“ die tatsächliche Verwandtschaft zwischen den Romanen Lafayettes und Radiguets verorten 92 - die moderne Spezifik des Bal gegenüber dem Prätext fest: Das Dilemma dieser neuen Princesse nährt sich wesentlich aus einer „lutte intérieure qui oppose l’orientation de sa vie […] à ‚une autre Mahaut‘, […] une Mahaut que l’épouse d’Anne d’Orgel refuse pendant longtemps de reconnaître, une Mahaut […] qui réclame son droit à l’existence au contact de François“. In diesem Sinne interpretieren Oliver/ Odouard den Bal vor allem als minutiöses Protokoll dieses inneren Konflikts; 93 freilich ist dieses Moment schon bei Lafayette angelegt: Auch für Mme de Clèves - zerrissen zwischen ehelicher Pflicht und illegitimer Passion, zwischen mütterlichem Tugendgebot, Angst vor den Verheerungen der Eifersucht und den Verführungen des Liebesglücks - geht es durchaus um die Grundfrage nach „l’orientation de sa vie“, zu deren souveräner ‚Autorin‘ die Protagonistin sich im Lauf des Romans entwickelt. Umgekehrt tut sich eben über die Liebes-Thematik in der modernen Welt Radiguets eine - parodistisch gebrochene - archaisch-mythische Dimension auf, so in einer Passage, in der der Autor mittelalterlichen Liebesmythos und Partyleben aufeinanderprallen lässt, „ce philtre qui lia pour jamais Tristan et Yseult“ unter die Cocktails einer mondänen Soirée mischt. 94 Nicht zufällig wird ausgerechnet der ebenso aufdringlich wie vergeblich mit François flirtenden Amerikanerin Hester Wayne, Inkarnation oberflächlich attraktiver vulgärer Modernität, eine betont geschmacklose Anspielung auf den Mythos in den Mund gelegt. Doch schockartig kommt François zu Bewusstsein, dass er soeben gemeinsam mit der begehrten Frau einen - von ihrem Ehemann gemixten - ‚Zaubertrank‘ zu sich genommen hat. 95 Nicht zuletzt über die Tristan und Isolde-Motivik schreibt der Bal sich auch in eine okzidentale 88 Radiguet 1986: 55. 89 Vgl. Lafayette 2014c: 415. 90 Radiguet 1986: 144. 91 Freud 1969 (18. Vorlesung: „Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte“). 92 Oliver/ Odouard 1993: XCIV. 93 Ibid.: XCII. 94 Hartnäckig geistern Tristan und Isolde samt Liebestrank auch durch die Arbeitsnotizen Radiguets: „Je vais faire un cocktail § le philtre Tristan et Iseult la sensation qu’on se trompait que deux le buvait“ [sic], heißt es da etwa (zit. ibid.: LVI), und an anderer Stelle: „Tristan et Iseult § les Pléiades § le roman de la longue attente“ (zit. ibid.: LVII). Eventuell klingt im Namen der Radiguet’schen Protagonistin ‚Mahaut‘ auch ein fernes Echo der ‚Dame de Malehaut‘ aus dem Lancelot-Graal bzw. Lancelot en prose mit - Text mit besonders reichem „destin intertextuel“, der „la récriture au sein même du texte premier“ inszeniert (Rabau 2002b: 42f.). 95 Vgl. Radiguet 1986: 78f. <?page no="119"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 119 Liebeskultur des obstacle ein (die Denis de Rougemont später in L’Amour et l’Occident philosophisch aufbereitet); 96 auch Radiguets Protagonist sucht eifrig „des obstacles“ 97 auf seinem heiklen amourösen Parcours. Symptomatisch die Ratlosigkeit der beiden Liebenden, als sie sich endlich zu zweit wiederfinden, ohne den Ehemann, dessen Anwesenheit sie - nur scheinbar paradox - peinlich berührt vermissen: „[…] ils ne savaient quoi se dire. Il semblait à chacun qu’il fallait jouer un rôle et qu’ils avaient négligé de l’apprendre. […] L’absence les gênait de celui dont la présence gêne d’habitude les amants.“ 98 Tristan und Isolde, Version années folles? In Radiguets Szenario rund um ein selbstreflexives, mit der Theoriebildung Freuds vertrautes Liebespaar wird der Mythos nicht bis in den Tod ausbzw. nachgelebt, sondern vielmehr auf der Meta-Ebene problematisiert; prononciert modern erscheint Radiguets Text auch insofern, als diese Analyse zusehends zum Selbstzweck, zur selbstreferentiellen „analyse de l’analyse“ wird. 99 Gender trouble, Homoerotik und ein Hauch von Inzest: Figurationen der Transgression Gegenüber der Konstellation Lafayettes nimmt Radiguet eine bezeichnende Inversion der emotionalen Ökonomie des Ehepaares vor: Hier ist es Princesse-Wiedergängerin Mahaut, die sich als Achtzehnjährige „follement“ in Anne d’Orgel verliebt, „qui, en retour, lui en témoigna une grande reconnaissance et l’amitié la plus vive, que lui-même prenait pour de l’amour“. 100 Die Protagonistin spielt in dieser Ehe auch weiterhin den aktiv liebenden bzw. hofierenden - traditionell ‚männlichen‘ - Part: „[…] la comtesse avait assez d’amour pour tous les deux. Son amour était si fort qu’il déteignait sur Anne et faisait croire à la réciprocité.“ 101 Auch sonst werden in diesem amourösen Dreieck beinahe systematisch die Gender-Attribute - und signifikanterweise auch die gender-markierten Stimmen - ausgetauscht. Während Anne mit seinem (tendenziell eher als weiblich wahrgenommenen) „prénom bisexuel“ 102 zumindest für das gesellschaftlich ungeschulte Ohr mit einer „voix efféminée“ spricht (de facto handelt es sich, wie der Erzähler präzisiert, um „une voix de famille et ce fausset conservé au théâtre“), besitzt Mahaut eine Stimme „d’une grâce sévère, [qui] apparaissait 96 Zum Tristan und Isolde-Subtext in der Princesse de Clèves vgl. Grande (1999: 108) sowie bereits Hipp (1965), die den Rückzug der Heldin als weitere Version jener „recherche à la fois inconsciente et délibérée de l’obstacle, fondement de la conception occidentale de l’amour“ interpretiert (ibid.: 414). Francis Lawrence wiederum sieht in Lafayettes Roman „a debunking of the Tristan myth“ (1965: 21, zit. nach Henry 1992c: 173). 97 Radiguet 1986: 119. 98 Ibid.: 169. 99 „[…] on voit dans Le Bal, et pour la première fois, l’analyse se prendre elle-même - et non plus la passion, reléguée à son tour au rang de prétexte - pour sujet: c’est l’analyse de l’analyse“ (Pingaud 1959: 172). „[…] le récit tout entier devient analyse“, konstatiert Esmein-Sarrazin (2014c: 1312) in Bezug schon auf Lafayette. 100 Radiguet 1986: 60. Gegenüber dem Text Lafayettes reklamiert Radiguets Erzähler sehr viel häufiger und insistenter diese Perspektive omniszienter Superiorität: Hier weiß die narrative Instanz stets - und auch im Voraus - viel besser über die komplexen Innenwelten ihrer Figuren Bescheid als diese selbst. 101 Ibid.: 77. 102 Coste/ Castells-Faucher 2000: 336. <?page no="120"?> 120 Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel rauque, masculine aux naïfs“ 103 und einen Vornamen mit symbolischer „consonance masculine“, 104 Kontrapunkt auch zum wiederum ‚feminin‘ deklinierten Familiennamen François de Séryeuses. 105 Ist Mahaut mit ihrem ‚männlichen‘ Namen und ihrer ‚männlichen‘ Stimme einseitig in ihren Gatten verliebt, so schwärmt dieser ab der ersten Begegnung geradezu leidenschaftlich für François. Mit auf den zweiten Blick ambivalenten Gefühlen betrachtet letzterer das Spektakel des vermeintlich so harmonischen Paares: „Il avait en face de lui un couple tendrement uni. Cette union lui faisait plaisir. Il éprouvait un sentiment bien distinct de ceux dont il avait l’habitude. Chez lui la jalousie précédait l’amour. Cette fois son esprit n’accomplissait pas sa besogne. François ne cherchait pas dans ce ménage une fissure par où s’introduire.“ 106 Derart geht die Liebe in Radiguets Roman, nicht umsonst auch als „roman homosexuel“ gelesen, 107 verschlungene, nicht unbedingt strikt heterosexuelle Wege. „Pourquoi d’abord cette attraction vers Anne? Ne doit-on pas être jaloux? “, 108 fragt sich verwirrt François, der in den Tiefen seiner Psyche vergebens nach dem ‚korrekten‘ Impuls heterosexueller Eifersucht auf den Ehemann der begehrten Frau sucht. Es ist Anne d’Orgel in all seiner „ambivalence sexuelle“, 109 der Mahaut regelrecht in die Arme François’ treibt 110 und selbst - der Text erscheint insofern auch als perfekte Illustration der Mimesis-Theorie René Girards 111 - über die Verliebtheit eines anderen neuen Geschmack an seiner Frau findet: „Il 103 Radiguet 1986: 65. 104 Pingaud 1986a: 48. 105 Bei Weglassung der particule gewinnt auch der Vorname des jungen Mannes unüberhörbar eine gewisse Gender-Ambivalenz (‚François[e]_Séryeuse‘). Doch allein schon der irritierend ‚feminine‘ Familienname motiviert den einen oder anderen verräterischen grammatikalischen Mini-Clash im Text: „À quoi s’intéressait donc ce Séryeuse? “, fragt sich Hester Wayne (Radiguet 1986: 79). In Le Fantôme du devoir findet sich auch noch eine phonetisch gleichfalls gender-doppeldeutige ‚Andrée‘, an deren Stelle schließlich ‚Simone‘ - nach Elimination der gleichnamigen ehemaligen Geliebten Renés ab der zweiten Version - tritt (Oliver/ Odouard 1993: ILff.). Zu den Implikationen der Namensgebung im Bal und ihrem Spiel „sur la relation entre le signifiant et le signifié“ vgl. auch Giardina 1991: 48ff. 106 Radiguet 1986: 77. Eine subtile ‚fissure‘ produziert in ebendieser Passage freilich sehr wohl das intertextuelle Echo der Princesse, in der Nemours die geliebte Frau an der Seite eines „mari qu’il croyait tendrement aimé“ (Lafayette 2014c: 389) nicht ohne Eifersucht betrachtet. 107 „[…] le Bal, roman à trois, est aussi un roman homosexuel, ou du moins un roman que l’on comprend mal si on n’aperçoit pas sa face homosexuelle cachée“, erklärt Pingaud (1986a: 46), wobei gegenüber der hier skizzierten biografistischen Interpretation („Il est évidemment tentant de penser que Radiguet transpose dans le Bal, en le camouflant derrière une imitation de La Princesse de Clèves, son problème personnel d’incertitude sexuelle: […]“; ibid.: 51) Vorsicht geboten ist. Tatsächlich machen sich bereits die zeitgenössischen Leser des als ‚Schlüsselroman‘ rezipierten Bal eifrig an die (homo-) sexuelle Spurensuche; nicht umsonst sieht Georges Auric sich zur expliziten Hetero-Rehabilitation des jungen Autors veranlasst: „Tout de suite, il est nécessaire de le préciser: il était exactement le contraire d’un homosexuel et, s’il avait vécu trois mois de plus, il se fût marié“ (zit. nach Nemer 2002: 213). Vor diesbezüglichen Spekulationen schrecken auch spätere Kommentatoren nicht zurück, wenn etwa Mahaut d’Orgel als „la personnification de la virilité de Radiguet qui, bisexuel, cachait en lui une femme et un homme“ (François 1992: 41) gedeutet wird. 108 Radiguet 1986: 112. 109 Oliver/ Odouard 1993: XCIV. 110 Ebendieser Aspekt wird im Lauf der Arbeit am Text stärker betont, die neu entdeckte Liebe Annes für Mahaut dagegen abgeschwächt (vgl. ibid.: LXV). 111 Vgl. auch Pingaud 1986a: 24. <?page no="121"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 121 commençait de l’aimer, comme s’il avait fallu une convoitise pour lui en apprendre le prix.“ 112 Die in jedem amourösen Dreieck implizit präsente „dimension homosexuelle“ 113 und hier konkret „la virtualité homosexuelle entre le mari mûr et le jeune amant“ 114 manifestiert sich in diesem „[r]oman d’amour chaste aussi scabreux que le roman le moins chaste“ (so Radiguet) 115 in besonders ausgeprägter Form. Suggeriert wird nicht nur „l’homosexualité latente qui porte le trio amoureux“, sondern auch „[l]a dimension incestueuse qui pousse une mère et son fils à mêler leurs voix“. 116 In seiner Verschränkung gleich mehrerer Figuren-Triangel setzt Radiguets Roman auch auf eine unübersehbare ‚ödipale‘ und inzestuöse Motivik 117 (die in späteren von der Princesse inspirierten Texten - bei Marguerite Yourcenar 118 wie bei Emmanuelle Bayamack-Tam - fortgeschrieben und weiter entfaltet wird). Deutlich wird dies zunächst in der Beziehung zwischen François de Séryeuse und seiner attraktiven, mit zwanzig Jahren bereits verwitweten und immer noch jungen Mutter, die, von ihren Zeitgenossen verkannte Schönheit nach dem Geschmack des Jahrhunderts Lafayettes, ihrerseits als Nachfahrin der Princesse erscheint; eben in der Passage, da François zum ersten Mal auch seine Mutter mit neuen Augen - jenen eines potentiell begehrenden Mannes - betrachtet, bringt Radiguet explizit den klassischen Prätext ins Spiel: François jeta sur sa mère un regard nouveau. Il n’avait jamais remarqué sa jeunesse. M me de Séryeuse avait trente-sept ans. Son visage paraissait encore répondre à moins. Mais de même qu’on ne remarquait pas sa jeunesse, sa beauté ne frappait pas. Peut-être lui manquait-il d’être de son époque? Elle ressemblait aux femmes du XVI e siècle, qui fut le siècle par excellence de la beauté française, et dont les portraits aujourd’hui nous attristent; nous nous formons un idéal si différent de la beauté des femmes, que nous ne nous retournerions peut-être pas, dans la boutique d’un joaillier, sur celle pour qui se consuma Nemours. 119 Diese anachronistische mütterliche Schönheit bewegt sich als kluge Pädagogin freilich auch auf den hypertextuellen Spuren der Mme de Chartres; die bei Lafayette geschilderte privilegierte - und lange Zeit exklusive - Mutter/ Tochter-Relation wird hier bemerkenswerterweise auf den männlichen Protagonisten übertragen. Während Mme de Séryeuse in ihrer Sorge, dem Sohn versehentlich „une éducation féminine“ 120 zuteilwerden zu lassen, François mit rücksichtsvoller Zurückhaltung erzieht und auch später für ihren Sohn noch Vertraute und Ratgeberin ist, wächst Mahaut - Tochter einer als desaströs inkompetent porträtierten 112 Radiguet 1986: 113. 113 Pingaud 1986a: 47. 114 Levillain 1995: 155. 115 Zit. nach Radiguet 1993b: 864 („Le Bal d’Orgel“). 116 Coste/ Castells-Faucher 2000: 335. 117 Zu entsprechenden Spuren bereits im klassischen Prätext vgl. Landry 2013. 118 Coste/ Castells-Faucher (2000: 336) lesen auch Marguerite Yourcenars Anna, soror… (1981, Erstfassung 1925) im Licht der Princesse und attestieren diesem Text jenen „[m]ême rapport entre inceste et homosexualité“, der schon Radiguets Roman charakterisiert. Yourcenar selbst erklärt in einem Nachwort den Inzest zum ultimativen „obstacle“ in einer Zeit, die kaum mehr andere kennt: „L’inceste seul demeure inavouable, et presque impossible à prouver […]“ (zit. ibid.). 119 Radiguet 1986: 108. 120 Ibid.: 88. <?page no="122"?> 122 Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel Mutter - weitgehend sich selbst überlassen, „comme une liane sauvage“ und ohne weibliches Vorbild auf. 121 François, voll Bewunderung für seine Mutter, vergisst jedenfalls „peu à peu qu’elle était sa mère“, 122 wie der Erzähler suggestiv konstatiert; 123 auch in seiner Liebe zu Mahaut d’Orgel ist die Mutter als gar nicht so unsichtbare Dritte präsent. 124 Instinktsicher legt Mahaut ihren brieflichen aveu - „un aveu, aussi appliqué, aussi embarrassé que possible“ 125 - nicht François, sondern seiner Mutter ab (und begeht damit jene entscheidende „erreur“, 126 die die Handlung weiter vorantreibt), in Reaktion auf diesen ersten „aveu intermédiaire“ 127 gesteht darauf Mme de Séryeuse stellvertretend die Liebe ihres Sohnes. 128 Zunächst überzeugte Advokatin der ehelichen Liebe - und auch insofern quasi die Erbin der Mme de Chartres im Text: „La mère de François, assez heureuse pour n’avoir aimé que son époux, ne croyait à la solidité des sentiments que conjugaux. Il fallait être un monstre pour avoir un autre que son mari dans le cœur“ -, muss sich Mme de Séryeuse, in ihrem Weltbild von beruhigender Einfachheit erschüttert, der Erkenntnis fügen, „que la vie n’est pas si simple, que la vertu n’a pas un seul visage“; 129 angesichts des „spectacle de cette passion“ fühlt sie sogar „la femme endormie“ in sich selbst erwachen. 130 Dieser Verwirrspiele und indirekten Liebesgeständnisse nicht genug, verleiht eine zufällig entdeckte entfernte Verwandtschaft auch der Relation zwischen Mahaut und François eine leicht inzestuöse Komponente: Ähnelt Mme de Séryeuse in Mahauts Augen weniger einer Mutter denn „une sœur cadette de François“, 131 so stellt sich heraus, dass sie selbst zwar nicht gerade seine Schwester, aber doch eine „cousine“ ist. „Mais alors […] Vous êtes cousins! “, ruft Anne d’Orgel, empfänglich für den pikanten Goût des Inzests, begeistert aus und amüsiert sich über diese neue Enthüllung „comme un fou“, während Mahaut unangenehm berührt, François ratlos („Mahaut, sa cousine! “) und Mme de Séryeuse durch die Bemerkung Annes, sie sei wohl mit „toute la Martinique“ verwandt, gekränkt ist: Hält er sie etwa für „une descendante des nègres“? 132 121 Ibid.: 58f. Gerade zur Figur der Mahaut und ihrer tristen Familiengeschichte finden sich zahlreiche Details in den erhaltenen Arbeitsnotizen Radiguets. Die Eltern seiner Heldin seien „aussi vagues pour elle qu’ils apparaissent dans ce récit“, erläutert der Autor (zit. nach Oliver/ Odouard 1993: LIX). 122 Radiguet 1986: 121. 123 Ein weiteres Mal wird die Dynamik der zentralen Figurenkonstellation auf einem Nebenschauplatz der Handlung gespiegelt. M me Forbach und ihr hydrozephaler Sohn erscheinen als karikatural überzeichnete Version des gar nicht so latent inzestuösen Paars: „On finissait par se croire non en face d’une mère et d’un fils, mais d’un vieux ménage“, kommentiert der Erzähler in einer Passage mit interner Fokalisierung auf François, der das symbiotische Paar mit ambivalenten Gefühlen betrachtet: „Ce ménage avait bien organisé sa vie intime, l’économie de son bonheur émerveillait François. Il tirait un enseignement profond de ces deux êtres qui n’avaient besoin de rien! “ (ibid.: 87). 124 „[…] à travers Mahaut […] c’est évidemment sa mère que François aime“, merkt - etwas simplifizierend - Pingaud an (1986a: 50). 125 Radiguet 1986: 175. 126 „L’erreur“ lautet die Überschrift auf Radiguets Manuskript-Heft Nr. 13 (vgl. Oliver/ Odouard 1993: LV). 127 Coste/ Castells-Faucher 2000: 328. 128 Radiguet 1986: 179f. 129 Ibid.: 175. 130 Ibid.: 181. 131 Ibid.: 143. 132 Ibid.: 122ff. <?page no="123"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 123 „Un roman créole“: Exotik, Historie, Alterität Tatsächlich stattet Radiguet seine modernisierte Princesse samt ihrem karibischen Background - wenn auch nicht Nachfahrin „des nègres“ - gegenüber dem klassischen Prätext mit einer signifikanten ‚exotischen‘ Zusatzdimension aus. Nicht umsonst ist in einer Notiz Radiguets zum Bal - unter Verweis auf Paul et Virginie - von einem „roman créole“ die Rede; 133 in der ersten Fassung des Textes ist dieses im Hinblick auf spätere, postkolonial sensibilisierte réécritures besonders interessante Moment ethnokultureller Alterität, das Radiguet hier in relativ dezenter Form ins Spiel bringt, sogar noch stärker akzentuiert. 134 Unmittelbar nach jenem bereits zitierten ersten Satz, mit dem Radiguet die Frage nach der Aktualität des Lafayette’schen Sujets aufwirft, wird die Problematik nicht nur historisch, sondern auch sozial und ethnokulturell kontextualisiert: „Un tel mélange du devoir et de la mollesse semblera peut-être, de nos jours, incroyable, même chez une personne de race et une créole.“ 135 Die Heldin - auch sie, wie die Princesse Lafayettes, in mehrfacher Hinsicht eine Außenseiterin in ihrer Epoche und ihrem Milieu - wird derart gleich in doppelter Distanz gegenüber einer bürgerlich-europäischen Moderne verortet. Im Gegensatz zum Topos der Kreolin - die spätestens seit Charlotte Brontë und Charles Baudelaire durch etliche kanonische Texte der okzidentalen Literatur spukt - wird diese neue Princesse aber in einem spezifischen historischen und sozialen Umfeld situiert. Schon zu Beginn des Romans wird die dynastische Vorgeschichte der subtil exotisierten Protagonistin resümiert, Mahaut als Spross der „illustre maison des Grimoard de la Verberie“ vorgestellt. 136 Diese hat einst aus Protest gegen die Schwächung der „noblesse féodale“ durch Louis XIII 137 Frankreich ver- und sich, einem „esprit féodal hostile à la monarchie“ 138 treu, in Martinique niedergelassen - bei der bloßen Erwähnung der Insel reagiert eine nostalgische Mme d’Orgel „comme un chien qui entend son nom“ 139 -, wo die Herrschaft über die „indigènes“ ein einigermaßen akzeptables Substitut für die frühere Macht über die rurale Bevölkerung des heimischen Orléanais bietet. 140 Im Rahmen einer kurzen Familien-Ethno-Psychoanalyse - ironische Variation einer modernisierten Klimatheorie - skizziert Radiguet die allmähliche Transformation des Klassen- und Nationalcharakters der feudalen Dynastie, deren ‚erblicher‘ Stolz unter dem Einfluss des karibischen „soleil délicieux“ dahinzuschmelzen scheint. Wie „un arbre sans élagueur“ wuchert der Stammbaum der Grimoards, auf verschlungenen Wegen auch mit den Beauharnais verwandt 133 Zit. nach Pingaud 1986a: 15. 134 Vgl. ibid. 135 Radiguet 1986: 55. 136 Ibid. Eine knappe Notiz Radiguets zeugt davon, dass im archaisierenden Namen dieser frankokaribischen Dynastie gleich eine doppelte exotisch-magische Konnotation mitschwingt: „Prononcez Grimoir (Grimoard…)“ („Fragments“, zit. nach Radiguet 1993b: 852-855, hier 853). Neben dem grimoire assoziiert Giardina (1991: 50f.) den Namen Grimoard auch mit dem Verb grimer und damit dem „monde du spectacle, monde où l’on ne sait jamais la vérité sur les choses et sur les êtres“. 137 Auch über dieses historische Motiv des Konflikts zwischen monarchischer Macht und feudaler Aristokratie stellt Radiguet einen Konnex zu Lafayette her, die ihre Princesse zur Zeit der Hochblüte des französischen Absolutismus nach der Niederschlagung der Fronde verfasst. 138 Coste/ Castells-Faucher 2000: 321. 139 Radiguet 1986: 122. 140 Ibid.: 56. <?page no="124"?> 124 Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel („Quoi de plus drôle […] que ce mariage de la petite cousine avec un général Bonaparte! “), 141 über die ganze Insel, von der aus die Bewohner dieses anachronistisch-aristokratischen Mikrokosmos aus sicherer Distanz - und nicht ohne etwas böswilliges Amüsement - die politische Entwicklung in der Metropole verfolgen: „De leur île, comme des voisins malveillants derrière leur judas, ils observent le vieux continent. Cette Révolution les égaie. […] Mais où la plaisanterie leur paraîtra excessive, ce sera lors de la proclamation de l’Empire. Ils y voient l’apothéose de la Révolution.“ 142 Diese extravagante Familienhistorie mündet in das - im Zuge der Arbeit am Text physisch strategisch de-konkretisierte 143 - Porträt der Protagonistin, inkarniertes Fragment französischer Geschichte mit ‚exotischem‘ Touch: Il pourra surprendre qu’en suivant cette famille le long des siècles, nous ayons feint de ne voir qu’un personnage, toujours le même. C’est que nous nous soucions peu, ici, des Grimoard, mais de celle en qui ils vivent. Il faut comprendre que M lle Grimoard de la Verberie, née pour le hamac sous des cieux indulgents, se trouve dépourvue des armes qui manquent le moins aux femmes de Paris et d’ailleurs, quelle que soit leur origine. 144 Nach der Rückkehr der Familie nach Frankreich im Juli 1902 verlaufen weitere Kindheit und Jugend dieser neuen Princesse in einer doppelt exterritorialen aristokratischen Gegenwelt, zwischen einem Vater, der auf dem zurückgekauften Erbschloss die Rolle seines eigenen Vorfahren aus der Ära Louis’ XIII auszuagieren versucht („Ce fut avec la conviction de venger ses ancêtres que le marquis réintégra leur domaine. Il se croyait son propre ancêtre et rappelé par Louis XIII suppliant; il passa toute sa vie en procès avec des paysans dont il pensait être encore le seigneur“), und einer Mutter, die, auf französischem Boden in ein exotisches Klischeebild ihrer selbst verwandelt, den Rest ihrer Tage als paradigmatische „créole des images“ in chronischer „prostration maladive“ auf einer noblen Chaiselongue - Substitut der karibischen Hängematte - verbringt. 145 Mit der Familiengeschichte der Orgels dagegen, zu Beginn der Revolution nach Deutschland bzw. nach Österreich emigriert, „où ils firent souche“, 146 Parvenus von zunächst inferiorer Noblesse, die vom Glücksfall der Homonymie mit jenen weit prestigeträchtigeren „Orgel dès longtemps éteints“ 147 profitieren (auch noch der wohlklingende Name des Grafen hat insofern partiellen Simulakrencharakter), kommt eine ganz andere Facette französischer Historie ins Spiel: Die Ehe der Protagonisten konstituiert derart einen komplexen, in sich anachronistischen Mikrokosmos, in dem der traditionelle „antagonisme de la noblesse de 141 Wie der begeisterte Cocteau im Rahmen der Arbeit am Bal erfährt, verfügt Radiguet selbst über eine „ascendance créole“: Erweist sich Mme Radiguet ihrerseits als „une parente de Joséphine“ („Voilà qui explique toute une partie créole du caractère de son fils - pourquoi il dort le jour, fume et aime le sucre“; zit. nach Oliver/ Odouard 1993: XVI), so ist Raymond selbst „pas seulement cousin de Joséphine par sa mère, mais par son père des Poisson-Pompadour. C’est inouï“ (zit. ibid.). 142 Radiguet 1986: 56f. 143 Vgl. Oliver/ Odouard 1993: LXI. Nicht nur die Physis, sondern auch die Psyche Mahauts macht im Lauf der Redaktion signifikante Metamorphosen mit; neben diversen deskriptiven Details eliminiert Radiguet auch „tout ce qui aurait, logiquement, emmené Mahaut trop tôt à la prise de conscience de son amour“ (ibid.: LX). 144 Radiguet 1986: 58. 145 Ibid.: 59. 146 Ibid.: 68. 147 Ibid.: 95. <?page no="125"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 125 cour et de la noblesse féodale“ vor dem Hintergrund der années folles ein weiteres Mal en miniature ausgetragen wird. 148 Während der Vater Mahauts in feudalaristokratischem Selbstbewusstsein wie zitiert von vornherein jeden potentiellen Bewerber um die Hand seiner Tochter für genealogisch defizitär befindet, 149 steht Anne, moderner Pariser Höfling, der ‚exotischen‘ Herkunft seiner Frau mit quasi-kolonialer Herablassung gegenüber; so verweist er Mahaut nach ihrem in seinen Augen deplatzierten, ja absurden aveu mit der süffisanten Bemerkung „Allons! Mahaut, calmons-nous. Nous ne vivons pas ici dans les Îles“ auf ihren gleich mehrfach marginalen Platz als wenig subtil pathologisierte („vous êtes malade, nerveuse, méchante“), infantilisierte („Vous êtes une enfant“) und überdies mangelhaft ‚zivilisierte‘ Frau („toutes ces idées-là viennent de ce que vous n’avez pas été élevée“). 150 Über das Porträt eines französischen Feudaladels, dessen vermeintliche „conquête coloniale“ de facto eher „une fuite qui cache mal l’inadéquation au monde nouveau“ darstellt, 151 einer neuen Princesse, der ein hartnäckiges Parfüm anachronistischer Exotik anhaftet und deren leicht ironisiertes Streben nach repos nicht nur mit jansenistischer Tugend, sondern auch mit der stereotypen „indolence de la belle créole“ 152 assoziiert scheint, zeichnet sich jene beginnende Auseinandersetzung mit der durch und durch ‚weißen‘, franko-französischen Welt Lafayettes ab, die in einem postmodernen Kontext längst nicht mehr selbstverständlich ist und in späteren Re-Interpretationen der Princesse denn auch zusehends aus postkolonialer Perspektive zum Thema wird. 153 148 Ibid. 149 Vgl. ibid.: 60. 150 Ibid.: 204ff. 151 Coste/ Castells-Faucher 2000: 322. 152 Ibid.: 326. 153 Nur am Rande sei bemerkt, dass Radiguets Roman auch abgesehen von seiner Protagonistin mit ihrer ‚exotisch‘ eingefärbten Familiengeschichte ein ergiebiges Objekt einer imagologischen Analyse darstellt. Der persische Prinz Mirza mit seiner jungen Nichte liefert den Anlass zu absurd-pittoresken Sentenzen à la „On ne pouvait rêver de Persan plus persan que Mirza“ (Radiguet 1986: 76); auch rund um den Fürsten Naroumof - russischer Revolutionsflüchtling - entfaltet sich ein ganzer Reigen der Auto- und Heterostereotypen, wobei der ‚Fremde‘ nicht zuletzt als Katalysatorfigur fungiert. Als Neuankömmling in Paris repräsentiert „ce prince arrivant en droite ligne d’un pays de mystère“ eine mondäne „‚attraction‘“ sondergleichen (ibid.: 186). Naroumof (‚Bolshakoff‘ alias ‚Bolschakoff‘ in früheren Manuskriptversionen; vgl. Oliver/ Odouard 1993: LVIII, LXVI) ironisiert selbst über seinen „charme slave“ (Radiguet 1986: 192); mit seinem Auftritt im Hause der Orgels (samt extravagantem Tirolerhut) provoziert er eine Sequenz feiner emotionaler Verwerfungen zwischen den Protagonisten. Seine Schauergeschichten aus dem revolutionären Russland liefern Mme d’Orgel - in einem komplexen Spiel der prétextes, das jenes der Princesse fortspinnt - einen willkommenen Vorwand, ihrem anderweitig bedingten emotionalen Aufruhr legitimen Ausdruck zu verleihen („M me d’Orgel défaillait. La Russie n’était pas la cause de son trouble, mais un prétexte pour ne pas avoir à le cacher“; ibid.: 189). Als subtiler Psycho-Analytiker („Les souffrances avaient affiné Naroumof; et il était un Russe: deux raisons pour mieux comprendre les bizarreries du cœur“) durchschaut der exotische Gast als einziger (fast) korrekt die Beweggründe hinter dem widersprüchlichen Verhalten der Heldin, die eben aus ihrer peinlich berührten Sensibilität heraus das taktlose Benehmen des geliebten Ehemannes imitiert und sogar noch übertreibt (ibid.: 197f.). <?page no="126"?> 126 Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel Die Kunst der Maxime und des aveu: Zum narrativen Spiel mit dem klassischen Modell „Le profond, dans La Princesse de Clèves, c’est la forme“, betont der bereits zitierte Albert Béguin; 154 auch in formaler Hinsicht - von inhaltlich-thematischen Aspekten ohnedies nur sehr bedingt zu isolieren - fungiert Radiguet als ‚Pionier‘, dessen Spur spätere (post-) moderne Princesse-Hypertexte folgen. Nur allzu offenkundig knüpft Le Bal du comte d’Orgel „[p]ar son élégance un peu surannée“ an Lafayettes Text an; 155 in intendierter Transparenz rekurriert Radiguet auf die ‚typische‘ Lexik der Princesse (calme, tranquillité vs. agitation, trouble; repos vs. amour 156 etc.), auf Lafayette-Quasi-Zitate („Pourtant, elle n’était pas assez maîtresse d’elle-même pour ne pas tourner les regards vers lui, de temps à autre […]“ 157 ) und auch auf die charakteristischen Litotes, 158 mit denen Lafayette die Emotionen ihrer Protagonisten evoziert („[…] elle […] crut lui exprimer d’une façon délicate qu’il était loin de lui déplaire“; 159 „Anne fut loin de lui déplaire“ 160 etc.). Als „un des traits caractéristiques du Bal, et peut-être le plus contesté“ 161 darf auch das - in späteren Princesse-Variationen wie Louise de Vilmorins Madame de oder Jacqueline Harpmans Brève Arcadie fortgesetzte - Spiel mit der Form der klassischen Maxime bzw. des Aphorismus gelten. „[…] l’écriture aphoristique est une manifestation permanente de la supériorité du scripteur sur le lecteur“, stellt Serge Doubrovsky fest; 162 vom ersten Absatz an bezieht der - als männlich markierte 163 und mit der Autorität avancierten Alters ausgestattete 164 - Erzähler des Bal, chronischer „faiseur de maximes“, 165 diese Superioritätspose, 166 eine Attitüde antizipatorischer Allwissenheit, wobei 154 Béguin 1967: 9, zit. nach Laugaa 1971: 328. 155 Pingaud 1986a: 14. La Princesse de Clèves spukt auch durch die teilweise etwas enigmatischen Notizen Radiguets: „Princesse de Clèves / Tout ce qu’il y a de plus élégant / Tout ce que Paris compte de plus élégant“, meditiert der Autor (zit. nach Oliver/ Odouard 1993: LXVIII), der im Rahmen seiner Arbeit am Bal - wie zitiert - auch seine eleganz-basierte Definition des für seinen Roman intendierten Stils formuliert („genre mal écrit…“). 156 Vgl. etwa Radiguet 1986: 177. 157 Ibid.: 189. 158 Gewissenhaft komponiert der junge Schriftsteller seine persönlichen „Principes de littérature“; unter anderen Stilfiguren verzeichnet er die Litotes samt klassischem Merkbeispiel aus dem Cid: „Va, je ne te hais point“ (zit. nach Radiguet 1993b: 865-867, hier 866). 159 Radiguet 1986: 78. 160 Ibid.: 158. 161 Pingaud 1986a: 31. Überaus kritisch äußert sich in diesem Punkt etwa Claude-Edmonde Magny zum Roman Radiguets, „un de ces adeptes du narrateur omniscient qui manœuvre sans vergogne ses personnages et multiplie […] les affirmations sentencieuses et les maximes a priori“ (vgl. ibid.: 13). 162 Doubrovsky 1980: 63. 163 „C’est ce que nous répondrons aux femmes […]“, hebt der Erzähler zur Beantwortung der eröffnenden Frage des Bal an (Radiguet 1986: 55). 164 „C’est un homme mûr […] qui s’exprime dans le Bal“, bestätigt auch Pingaud (1986a: 41). Aus der Position abgeklärter Altersweisheit lässt der selbst knapp zwanzigjährige Radiguet seinen Erzähler den Protagonisten als zum Zeitpunkt seiner Eheschließung „jeune; il venait d’avoir trente ans“ vorstellen, während in ironischer Umkehr ausgerechnet die alte „négresse“ Marie, subalterne Ersatzmutter der achtzehnjährigen Braut, den zukünftigen Ehemann für „trop vieux“ befindet (Radiguet 1986: 60). 165 François 1992: 109. 166 Der Erzähler des Bal erscheint charakterisiert durch „[l]a supériorité qu’il affiche sur ses personnages, l’abondance des maximes, les jugements tranchés sur l’époque […]“ (Pingaud 1986a: 41); vgl. dazu auch Genetti 2014. Diese Eigenart der réécriture Radiguets evoziert auch die Diskussion um die Präsenz/ <?page no="127"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 127 er gelegentlich auch vor der Trivialität des als solcher exhibierten Topos (à la „Il en est du bonheur comme de la santé: on ne le constate pas“ 167 ) nicht zurückschreckt. 168 Auch wenn der Bal seinen ‚klassischen‘ Textduktus wie gesagt wesentlich der Bearbeitung durch Jean Cocteau und Joseph Kessel verdankt, so ist eben Radiguets Tendenz zur Maxime doch schon in Le Diable au corps manifest. 169 Zugleich werden auch mehrere strukturelle Transformationen vorgenommen, die auf die Princesse-Hypertexte des späteren 20. und des 21. Jahrhunderts vorausverweisen. Dies betrifft die aveu-Szene, 170 der in sämtlichen réécritures ab Radiguet eine fundamentale Re-Interpretation - im Sinne einer gewissen ideologischen Banalisierung, narrativen Dezentralisierung und parallel „démultiplication“ - widerfährt: „Dans les romans modernes, l’aveu ne prétend pas à la même grandeur et du coup ne porte pas en lui les mêmes désillusions. D’une certaine manière, Absenz der klassischen Form der Maxime in Lafayettes Text: „Pas plus de maximes que de portraits dans la Princesse de Clèves! “, erklärt kategorisch Francillon (1973: 216), der sich anderweitig (ibid.: 196) auf Starobinskis Analyse der La Rochefoucauld’schen „psychomachie“ bezieht (1966). Genette konstatiert in La Princesse de Clèves eine „absence à peu près complète de maximes générales“ (1968: 9) - so stellt das Verhalten der Protagonistin in der aveu-Szene „une action sans maxime“ dar (ibid.: 7); auch Nancy Miller spricht im Gefolge Genettes von Lafayettes Strategie der „‚demaximization‘“ (1992: 18). Levillain wiederum weist diese vermeintliche Abstinenz Lafayettes zurück als „contre-vérité [qui] s’explique par le fait que les maximes sont toujours remarquablement coulées dans la narration“ (1995: 69); „maintes maximes, plus souvent ébauchées d’ailleurs que nettement formulées“, identifiziert in der Princesse Niderst (1973: 78). Vgl. dazu auch Esmein-Sarrazin 2014c: 1321. 167 Radiguet 1986: 146. 168 Im Zuge der Ausarbeitung des Bal, Prozess narrativer „épuration“ (Oliver/ Odouard 1993: LXVII), wird diese Dimension sukzessive etwas zurückgenommen. Herrscht im Fantôme du devoir noch eine stark dominante Erzählerstimme vor, so gesteht Radiguet ab der zweiten Version seinen Figuren etwas mehr „autonomie“ zu (ibid.: LXXI); diverse philosophische Reflexionen - etwa eine ausführliche Meditation über den devoir in der Szene zwischen René (später François) und seinem Freund Paul (vgl. ibid.: LXIVf., LXVII) - werden ebenso eliminiert wie Restbestände autobiografischer „souvenirs“ (ibid.: LXVIf.). 169 Vgl. Pingaud 1986a: 32. In der Pose des routinierten Maximenproduzenten in der Tradition der französischen Klassik („Ce n’est pas dans la nouveauté, c’est dans l’habitude que nous trouvons les plus grands plaisirs“) reflektiert der Erzähler des Diable au corps (2011: hier zit. 511f.), romaneskes Alter Ego des gerade siebzehnjährigen Autors, die Gesetze der Liebe („Il faut admettre que si le cœur a ses raisons que la raison ne connaît pas, c’est que celle-ci est moins raisonnable que notre cœur“; ibid.: 1026f.) und des „code passionnel“ (ibid.: 1192), deren Zitationalität auf den Spuren La Rochefoucaulds („Nous croyons être les premiers à ressentir certains troubles, ne sachant pas que l’amour est comme la poésie, et que tous les amants, même les plus médiocres, s’imaginent qu’ils innovent“; ibid.: 658f.). Der Protagonist, wie Alphonse aus Zayde „jaloux du passé“ der begehrten Frau (ibid.: 1257), teilt Lafayettes Liebesskepsis („Il faut pourtant […] que l’amour offre de grands avantages puisque tous les hommes remettent leur liberté entre ses mains. Je souhaitais d’être assez fort pour me passer d’amour et, ainsi, n’avoir à sacrifier aucun de mes désirs“; ibid.: 1201f.), erwägt seinerseits die in der Princesse zentrale Dichotomie von „amour“ und „quiétude“ (ibid.: 1409f.) - und tritt schließlich in eigener Sache in die argumentativen Fußstapfen des galanten Duc de Nemours: „Ainsi, est-il insupportable que la personne que nous aimons se trouve en nombreuse compagnie dans une fête où nous ne sommes pas“ (ibid.: 1580). 170 „Nous nous promîmes de ne rien nous celer de nos pensées secrètes, moi la plaignant un peu de croire que c’est chose possible“: Schon der Erzähler des Diable au corps (ibid.: 1000) gibt sich keinen Illusionen bezüglich der Kommunikabilität intimer Gefühls- und Gedankenwelten hin, ebenso wenig hinsichtlich der Grenzen möglicher sincérité - auch und gerade sich selbst gegenüber: „Les moments où on ne peut pas mentir sont précisément ceux où l’on ment le plus, et surtout à soi-même“ (ibid.: 729f.). <?page no="128"?> 128 Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel l’aveu se banalise, ne correspond plus à une grande scène dramatique dont la position centrale structurerait tout le roman.“ 171 Bereits bei Radiguet wird der heikle aveu gegenüber dem Ehemann, in der Princesse als „péripétie décisive“ 172 zentral „au cœur de l’intrigue“ 173 angesiedelt, ans Ende des Textes verlagert; das indirekt brieflich kommunizierte Eingeständnis der Passion zwischen Mahaut und François geht jenem finalen Bekenntnis voraus. In einem früheren Anlauf legt Mahaut - zur Erleichterung ihres Ehemannes, der unbemerkt von seiner Frau eine flüchtige Berührung zwischen ihr und François beobachtet hat - einen ersten ambivalenten (und unvollständigen: Mahaut offenbart ihre „gêne“ angesichts von François’ Geste, nicht ihre Liebe) „aveu“ ab, der Anne von ihrer Unschuld überzeugt: „Anne d’Orgel respira. Ainsi Mahaut ne lui cachait rien, elle était innocente. Elle lui faisait l’aveu de ce qu’il avait vu, sans savoir qu’il l’avait vu.“ 174 Kurz darauf gesteht François sich selbst seine Liebe ein; 175 noch etwas später „Mahaut dut s’avouer qu’elle aimait François“. 176 Ab diesem Zeitpunkt lebt die Protagonistin, die im Gegensatz zu Mme de Clèves nicht auf moralische Führung durch ihren clownesken Gatten hoffen kann, „dans une torture constante“: „Sa personne tout entière reflétait le cruel combat dont elle était le théâtre.“ 177 Anne d’Orgel - dessen Reaktion auf die offensichtliche Verstörung, die Ausweich- und Rückzugsmanöver seiner Frau („[…] Mahaut est terriblement jeune; elle aurait besoin de plus d’activité. La saison est morne“ 178 ) transparent jene des Prince de Clèves zitiert („Le repos […] n’est guère propre pour une personne de votre âge“ 179 ) - nimmt die Ankündigung des aveu zunächst verständnislos zur Kenntnis: „J’aurai à vous parler ce soir“, erklärt Mahaut, in unruhiger Erwartung des „moment tragique des aveux“, ihrem Mann zu dessen Verblüffung: „Il semblait incroyable au comte d’Orgel qu’une femme eût à parler à son mari.“ 180 „Je suis à bout de forces, je ne peux plus continuer seule“, eröffnet die junge Frau schließlich ihr stilistisch konsequent nach dem klassischen Vorbild Lafayettes modelliertes Geständnis: „Ah! si vous sentiez quelle cruauté est la vôtre en m’obligeant à vous convaincre d’une chose dont j’ai un tel désespoir! “ 181 In der folgenden Passage wird bei Radiguet aber bereits ein in späteren postmodernen réécritures zentraler Aspekt reflektiert - die performative Eigendynamik der Sprache, von der Mahaut, wie zuvor bei ihrer unwillkürlichen Lüge, nun im Moment eines ‚automatisierten‘ aveu gleichsam dahingerissen wird: 182 „[…] Mahaut avait 171 Coste/ Castells-Faucher 2000: 327. 172 Pingaud 1986a: 18. 173 Werlen 2012: 107. 174 Radiguet 1986: 133f. 175 Vgl. ibid.: 160. 176 Ibid.: 172. 177 Ibid.: 173. 178 Ibid.: 174. 179 Lafayette 2014c: 418. 180 Radiguet 1986: 201f. 181 Ibid.: 203f. 182 Durch Radiguets Text zieht sich unterschwellig, aber konstant das Motiv einer fundamentalen Sprachskepsis, eines profunden Misstrauens vor allem gegenüber dem gesprochenen Wort: „Toute parole est destructrice; toute parole est meurtrière“, bemerken Coste und Castells-Faucher zum Bal, dessen Figuren zerrissen scheinen zwischen ihrer „frénésie de confidences“ - eine regelrechte „frénésie de dire“ beobachten die Interpretinnen auch in Pascal Quignards gleichfalls als Princesse- <?page no="129"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 129 menti, sans prendre part à son mensonge, et pour ainsi dire entraînée par le courant du langage. Fut-ce, par un phénomène du même genre qu’elle dévida d’un seul trait, et sur le ton du reproche, ce qu’elle eût dû s’arracher mot par mot, en souhaitant de mourir en route? “ Nach ihrem aveu sieht sich die Protagonistin mit der völligen „incompréhension de son mari“ konfrontiert, der ihr Geständnis als „une inconvenance qui tirait sa gravité d’avoir été publiée“ abtut und sich auch in dieser Ausnahmesituation strikt an seinen mondänen „cérémonial“ hält. 183 Hier endet die raffinierte „orchestration“ des Geschehens durch den eponymen Antihelden, die, so Damien François, vielleicht „le véritable ‚bal‘ du comte d’Orgel“ darstellt. 184 Der diegetische Bal, den der Titel verspricht, soll - wird freilich nicht mehr im Text - trotz allem stattfinden. Anne d’Orgel insistiert auf der Teilnahme François’ - und auch noch darauf, dass Mahaut sein Kostüm wählen müsse; „un devoir d’une frivolité grandiose“ erfüllend, zieht er sich mit einem hypnotischen „Et maintenant, Mahaut, dormez! Je le veux“ zurück. 185 Der titelgebende Ball ebenso wie die noch bevorstehende „‚véritable crise‘“ 186 wird derart in einen virtuellen Raum jenseits des Romans verlagert, der Schluss „à toutes les interprétations possibles“ 187 geöffnet; mit dieser „ouverture du texte“ 188 und dem Verzicht auf die mise à mort der Protagonistin antizipiert Radiguet eine weitere - vielleicht die wichtigste - strukturelle Gemeinsamkeit sämtlicher hier behandelter postmoderner réécritures: „[…] et jamais nous ne saurons ce qu’il adviendra de la relation coupable: texte moderne, texte ouvert, le texte de Radiguet laisse le lecteur à sa perplexité comme à ses choix…“. 189 Variation gedeutetem Roman La Frontière -, der Sehnsucht nach und der Scheu vor dem aveu, dessen „nocivité“ Radiguets Text plastisch illustriert (2000: 328f.). Auch in diesem Punkt knüpft Radiguet - wie in der Folge die Autorinnen so mancher postmodernen Lafayette-réécriture, nun schon vor dem Hintergrund der entsprechenden Theoriebildung - an eine im klassischen Prätext angelegte metadiskursive Dimension an: Bereits La Princesse de Clèves reflektiert die Problematik einer performativen, in dieser ihrer Performativität stets potentiell destruktiven Sprache; als zentrales Thema in Lafayettes „roman de la parole interdite ou différée“ macht Malandain „celui de la parole, justement présentée elle-même partout comme dangereuse, équivoque, cruelle, voire mortelle“ aus (1989: 90). Dufour- Maître und Milhit lesen die Princesse ebenfalls nicht zuletzt als „un réquisitoire contre la parole“ (2004: 66; vgl. dazu auch Grande 2000b). In Bezug auf „cette terrible manie de se confier qu’ont les amants“ (Cocteau 1958, zit. nach Laugaa 1971: 233-235, hier 234), jene fatale „hantise de la sincérité“, von der Lafayettes Heldin sich hinreißen lässt, akzentuiert Fabre ausgehend von Marcel Prousts Kommentar zum „côté Dostoïevski de Mme de Sévigné“ vielmehr den - nur auf den ersten Blick paradox anmutenden - „côté Dostoïevski de Mme de Lafayette“ (vgl. Laugaa 1971: 278, auch 231). 183 Radiguet 1986: 203ff. Stellt, wie Desan anmerkt, das finale Liebesbekenntnis der Protagonistin Lafayettes gegenüber Nemours gleichsam einen „social suicide“ dar, der Mme de Clèves „outside the commerce of men“ katapultiert (1992: 121), so vollzieht sich bei Radiguet auch in diesem Punkt eine symptomatische Degradierung zur bloßen inconvenance. 184 François 1992: 59. 185 Radiguet 1986: 207. 186 Pingaud 1986a: 19. 187 Coste/ Castells-Faucher 2000: 328. 188 Oliver/ Odouard 1993: LXXIX. 189 Werlen 2012: 108. „[…] toutes les interprétations sont permises“ (Pingaud 1986a: 19): Es bleibt der Leserin überlassen, den Bal für sich zu vollenden - oder auch nicht. Auch professionelle Radiguet- Exegeten widerstehen nicht der Versuchung, ihre signifikant divergenten Interpretationen des Endes ins Spiel zu bringen: Während Oliver und Odouard am Schluss des Bal recht pessimistisch eine Protagonistin „au bord de l’abîme“ sehen - Mahaut „ne manquera pas d’entraîner François dans sa chute“ (1993: XCV) -, zeichnet sich für Coste und Castells-Faucher vielmehr „une nouvelle configuration <?page no="130"?> 130 Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel „… copier pour être original“: Paradoxa einer Poetik der ‚Originalität‘ Besitzt der Roman Lafayettes bereits eine nicht zu vernachlässigende metatextuelle Dimension, so skizziert Radiguets Version einen metaliterarisch-selbstreflexiven turn, der sich in den späteren réécritures weiter akzentuieren wird. „Un artiste original ne peut pas copier. Il n’a donc qu’à copier pour être original“: 190 Im Sinne dieser Maxime aus Jean Cocteaus Rappel à l’ordre illustriert der Bal du comte d’Orgel - Dokument auch der Selbstpositionierung eines jungen Romanciers gegenüber der großen klassischen Tradition - die Genese literarischer ‚Originalität‘ auf intertextuellen Umwegen, auf denen die Hürde des heiklen zweiten Werkes („Un premier livre vient tout seul; le second se fabrique, et c’est là, traditionnellement, qu’on attend l’écrivain“ 191 ) bravourös gemeistert wird („promesses tenues“, attestiert Cocteau seinem Freund und Kollegen nach der Vollendung des Romans 192 ). „En se plaçant dans le sillage d’une écriture de la maîtrise, le jeune homme affirme sa propre maîtrise d’écrivain, soutenu par les tuteurs du passé (M me de la Fayette) et du présent (Cocteau)“: 193 Ebendieser auf Radiguets und Cocteaus „idée commune de copie de chefd’œuvre“ 194 beruhende Text wirft damit aber auch die einleitend angesprochene Frage nach sentimentale“ ab, bei der es sich etwa um die Variante eines gefälligen, durchaus nicht ‚tragischen‘ Arrangements à trois handeln könnte (2000: 326). 190 Jean Cocteau: Le Rappel à l’ordre (1926), zit. nach Pingaud 1986a: 11. Zur Schlüsselrolle Radiguets für jenen „retour au classicisme“, den Cocteau in diesem Text zelebriert, vgl. Oliver/ Odouard 1993: XIII. „J’ai suivi l’exemple de Radiguet pour Thomas l’imposteur, puisqu’il m’avait dit: - Il faut se mettre devant un chef-d’œuvre, le copier, et c’est dans la mesure où on ne peut pas arriver à le copier qu’on est original. J’avais dit: - Tiens, je vais faire La Chartreuse de Parme. Lui avait dit: - Je vais faire La Princesse de Clèves et il a fait Le Bal du comte d’Orgel“, präzisiert Cocteau (1973: 19, zit. nach François 1992: 107). In ihrer Analyse des intertextuellen Netzwerkes, in dem sich der Bal situiert, betonen Oliver und Odouard speziell den Bezug zu Cocteaus Thomas l’imposteur, entstehen ebendiese beiden Texte doch quasi in einem Prozess der „osmose littéraire“ (1993: C) oder auch „symbiose littéraire“ (vgl. Oliver 1990). Cocteaus Beitrag zum Bal nährt sich aus einer komplexen Dynamik reziproker Hyper- und Hypotextualität: „Il semble que le souvenir inconscient de Thomas, lui-même inspiré du Bal, ait pu affecter cette nouvelle création - le Bal se réengendre à partir d’un de ses fils! “ (Oliver/ Odouard 1993: CIII). Nicht nur Cocteaus Princesse de Bormes und Radiguets Princesse d’Austerlitz sowie Guillaume Thomas und Anne d’Orgel weisen teils frappierende Ähnlichkeiten auf (vgl. ibid.: CII, CIV) - „Je lui ai donné le mot de la fin“ (zit. ibid.: XIX), bemerkt Cocteau zu Radiguets (1986: 207) berühmtem Schlusssatz („Et maintenant, Mahaut, dormez! Je le veux“), dessen Echo wiederum am Ende seines eigenen Thomas erklingt: „Peu s’en fallait qu’il ne s’écriât, en travestissant la phrase des magnétiseurs: / - Vous êtes Fontenoy, je le veux“ (zit. nach Oliver/ Odouard 1993: CVII). 191 Pingaud 1986a: 7. Notizen zum Bal datieren bereits aus dem Jahr 1921, eine erste vollständige Fassung liegt im Sommer 1922 - also noch vor der Publikation des Diable au corps - vor; zwischen den beiden Texten besteht insofern nicht nur eine gewisse „distance“, sondern auch „une étonnante continuité“ (ibid.). 192 Jean Cocteau: „Préface“ (1924), in Radiguet 1993a: 4-6, hier 5. Angesichts des Bal reiht Cocteau seinen Kollegen definitiv in die große Literaturgeschichte ein - so in einem Brief an Eugénie Cocteau: „Si j’avais le moindre orgueil, le roman de Radiguet suffirait à me le rabattre. Ce chef-d’œuvre inouï fait honte à tout ce dont je l’approche, même à mon cher Stendhal et à Balzac“ (zit. nach Radiguet/ Cendres 2003: 140; vgl. auch Oliver/ Odouard 1993: XIX). 193 Coste/ Castells-Faucher 2000: 334. 194 François 1992: 105. <?page no="131"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 131 dem Status der réécriture auf, Herausforderung an eine Ästhetik, die auf einen chimärischen Begriff von ‚Originalität‘ als Basis künstlerischer Valorisierung setzt. 195 „C’est une méthode comme une autre“, erklärt Jean Cocteau nonchalant zu seiner eigenen und Radiguets Technik der Klassiker-‚copie‘. 196 Wird diese „méthode“ im Fall des Bal von einem Teil der Kritik begeistert aufgenommen, so steht ein anderer dem Projekt skeptisch gegenüber: Paul Lombard verteidigt die Princesse gegen die Zumutung dieser ignoranten modernen „redite“; 197 Marcel Arland disqualifiziert den Bal als reduktive „image pâlie et parfois dénaturée“ des Prätexts; 198 für Charles Du Bos repräsentiert Radiguets Roman lediglich „la plus ténue des reprises inspirées par La Princesse de Clèves“, 199 wobei auch der Rehabilitationsversuch via Betonung der Unterschiede statt Analogien am poetologischen Programm des Autors tendenziell vorbeigeht. 200 Aber auch im literaturwissenschaftlichen Diskurs kommt mehr oder minder unterschwellig der Topos der prinzipiellen Superiorität des ‚Originals‘ gegenüber der ‚Kopie‘ ins Spiel; so bei Claude-Edmonde Magny, die den Bal als „statique“, seine Figuren als „essences figées“ kritisiert 201 und in ihrem negativen Urteil auf eine hinsichtlich der zugrunde liegenden ‚Originalitäts‘-Ästhetik verräterische Metapher rekurriert: „Que Radiguet se soit réfugié sous l’aile de M me de La Fayette n’aurait guère, en soi, d’importance: mais il en est aussitôt résulté pour son œuvre une infériorité par rapport au modèle sur les points mêmes où il avait le plus cherché à lui ressembler.“ 202 Bereits in Bezug auf den - und im - Text Radiguets stellt sich derart die später mit noch größerer Virulenz aufgeworfene Grundfrage nach Sinn und Zweck der Literatur in einer vielleicht längst ‚ausgeschriebenen‘ Welt; zwischen dem klassischen Prätext und den postmodernen réécritures wird diese Problematik hier auch auf diegetischer Ebene reflektiert 195 Der junge Schriftsteller selbst unterhält ein durchaus konfliktuelles Verhältnis zu den als solchen auch konkurrentiell hinterfragten ‚Meisterwerken‘ des Kanons, wovon ein Brief ebenfalls an Mme Cocteau zeugt: „J’ai emporté toute une bibliothèque et me fais envoyer souvent des livres par mes parents“, berichtet der passionierte Leser - und betont sogleich seine Enttäuschung nach der Lektüre von Marivaux’ Marianne („Je m’attendais à un chef-d’œuvre. J’ai été assez déçu“), um im nächsten Atemzug seine eigene entrée auf der Bühne der Literaturgeschichte anzukündigen: „Quand j’aurai lu tous les livres, j’en écrirai un pour avoir quelque chose à lire“ (zit. nach Oliver/ Odouard 1993: XV). 196 Cocteau 1965: 37, zit. nach Oliver/ Odouard 1993: XC. 197 „Pour La Princesse de Clèves, que […] Le Bal du comte d’Orgel rappelle, je ne crois pas que [Radiguet] l’ait seulement ouvert et même qu’il en ait soupçonné l’existence. La seule lecture du roman célèbre l’eût gardé de retomber dans une redite“ (Paul Lombard in L’Homme libre, 29.07.1924, zit. ibid.). 198 „Décidément il est dangereux d’évoquer certains modèles. Dans la mesure où le Bal nous fait songer à La Princesse de Clèves, il ne nous en offre qu’une image pâlie et parfois dénaturée; c’est un délicat pastel, au regard d’une œuvre dont nous sentons encore la violence et le tumulte. Radiguet, sans doute, se proposait d’écrire une œuvre classique, il n’a pris que le cadre et l’appareil; encore les a-t-il singulièrement réduits“ (Marcel Arland: „En relisant Radiguet“ [Arts 380, 10.-16.10.1952, zit. ibid.: XCI). 199 Zit. nach Pingaud 1986a: 13. 200 Vgl. den Kommentar ibid. zur Lesart Clément Borgals. 201 Magny 1950 („Les romanciers moralistes“), zit. nach Pingaud 1986a: 13. 202 Zit. nach Oliver/ Odouard 1993: XCIf. Jean-Louis Bory mokiert sich seinerseits über Radiguets Roman als „La Princesse de Clèves restaurée par Viollet-le[-]Duc“ (vgl. Laugaa 1971: 236); überaus kritisch betrachtet „cet insipide néo-classicisme des années 1920“ auch Niderst („[…] ni Valéry, ni Radiguet, ni même Gide, ne nous feront comprendre la Princesse de Clèves“), der mit einem etwas ambivalenten Vergleich vielmehr eine postmoderne Perspektive auf den klassischen Text Lafayettes valorisiert: „De même qu’il faut des civilisés pour observer et analyser les mœurs des sauvages, il faut la littérature de 1950 et de 1970 pour décrire celle de 1680“ (1973: 187). <?page no="132"?> 132 Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel (wie der Romancier selbst zeigt sich der eponyme Protagonist höchst empfänglich für „ce plaisir de trouver de la nouveauté dans l’habitude“ 203 ). Wie in den späteren Princesse- Variationen entspinnt sich - unter Anknüpfung nicht zuletzt an die verlorene lettre galante Lafayettes - eine elaborierte Schreib-/ Text-Motivik. Die stille Kommunikation der Liebenden, die beide die Passion auf sichere epistoläre Distanz bevorzugen, 204 wird zum metaphorischen chiastischen Lese-Akt: „La comtesse lut en François comme elle comprit qu’il lisait en elle.“ 205 Das Verwirrspiel jener Korrespondenzen, die im Bal nicht nur gelesen, sondern vor allem auch wiedergelesen werden, besitzt eine manifeste poetologische Dimension. Erst bei der zweiten Lektüre durch Mme de Séryeuse bekommt die Leserin den vollständigen brieflichen „aveu“ Mahaut d’Orgels zu sehen; 206 neben einer plötzlich fremd wirkenden Frau kann sich François der irrationalen Befürchtung nicht erwehren, auch ihr Brief in seiner Tasche könnte sich magisch verändert, in unheimlicher Eigendynamik selbst gelöscht oder umgeschrieben haben: „Il portait sa main à sa poche, touchait la lettre. Il résistait à l’envie de la prendre, de la relire. Il tremblait que les mots n’en fussent effacés, ou qu’ils n’eussent changé.“ 207 Eben auf brieflichem Weg etabliert sich aber auch eine Intimität, die dem unmittelbaren persönlichen Kontakt fehlt, wie Radiguet - in einigen prä-derridianisch anmutenden Passagen über die Dialektik von Schriftlichkeit/ Mündlichkeit, Präsenz/ Absenz - kommentiert: „À quel mécanisme de l’âme doit-on attribuer cet écart entre l’écriture et la parole, ou plus exactement entre l’absence et la présence? “ 208 Radiguet thematisiert über seine Figuren aber auch - auf den Spuren Lafayettes und in Vorwegnahme späterer Princesse-Versionen, etwa jener Vilmorins - die Opposition Wahrheit vs. Wahrscheinlichkeit: „La fable lui [Paul, MS] paraissait maladroite, comme ce qui est vrai.“ 209 Direkt zurück in die große französische Literaturgeschichte führt die kleine mondäne Komödie, die die Freunde Paul und François - beide als eifrige Valmont-Imitatoren bemüht, das Klischeebild des zynischen Libertins möglichst überzeugend zu inkarnieren - bei jeder Begegnung inszenieren: „C’était à qui cacherait son cœur. Ils prenaient le masque des personnages des mauvais romans du XVIII e siècle dont Les Liaisons dangereuses sont le chef-d’œuvre. Chacun de ces complices dupait l’autre en se noircissant de crimes qu’il n’avait pas commis.“ 210 Besagter Paul Robin, der das Leben „comme un roman“ 211 (fehl-)interpretiert und sich, Opfer „de toute cette niaise littérature, invention du XIX e siècle“, in permanentem verkrampftem Rollenspiel durchs Leben bewegt, 212 ist seinerseits eine Schlüsselfigur der metaliterarischen Reflexion im Roman: Er, der in seiner überaus modernen „peur du ridicule“ prinzipiell nur 203 Radiguet 1986: 106; vgl. dazu auch Coste/ Castells-Faucher 2000: 334. 204 Insofern durchaus Seelenverwandter der Lafayette’schen Princesse in der seligen nächtlichen Einsamkeit von Coulommiers, fühlt François sich in Gesellschaft der Briefe seiner Geliebten oft „plus heureux que si Mahaut eût été là“; auch letzterer verschafft dieser „commerce épistolaire […] plus de plaisir qu’une présence“ (Radiguet 1986: 156). 205 Ibid.: 196f. 206 Ibid.: 176ff. 207 Ibid.: 194. 208 Ibid.: 155. 209 Ibid.: 129. 210 Ibid.: 101. 211 Ibid.: 129. 212 Ibid.: 62. <?page no="133"?> „… une Princesse de Clèves du vingtième siècle“ 133 (wie) „entre guillemets“ artikuliert, jeden tatsächlichen und potentiellen „lieu commun“ sorgfältig mit selbst in seiner mündlichen Rede deutlich vernehmbaren distanzierenden Anführungszeichen einzäunt, spiegelt in karikaturaler Form auch die poetologische Grundproblematik eines Textes wider, der von vornherein - unter der Feder eines jungen Autors, der weder den klassischen Prätext noch den spielerisch umgegrabenen Gemeinplatz scheut - im Modus der Zitationalität entsteht. 213 Doch auch im zentralen Triangel wird die Kunst der parodistischen ‚Stimmenimitation‘, der verfremdenden Wieder-Holung des Diskurses der anderen unter den Figuren selbst geprobt - so etwa, wenn Anne d’Orgel die Äußerungen François’ für seine anwesende Frau „mot à mot“ nachspricht, „comme s’il eût traduit une langue étrangère, et M me d’Orgel, dans son amour conjugal, paraissait n’entendre que lorsque c’était Anne qui parlait“. 214 Zur Karikatur eines obsessiven Wieder-Lesers, der die absurd detailverliebte Arbeit am bzw. gegen den kanonischen Text ins anankastische Extrem treibt, stilisiert Radiguet jenen „hobereau prussien von Forbach“, der als fanatischer „collectionneur de virgules“ vorführt, ‚wie man die Klassiker gerade nicht lesen sollte‘: Seine höchstpersönliche literarische Mission „consistait à pointer le nombre de virgules contenues dans une édition de Dante. Le total n’était jamais le même. Il recommençait sans relâche“. 215 Aus der - selbstredend unglücklichen - Ehe des alkohol-affinen intertextuellen Zwangsneurotikers (der in früheren Manuskriptfassungen den noch expliziter parodistischen Namen ‚Bierbauer‘ trägt 216 ) geht nach fünfzehn Jahren Wartezeit ein hydrozephales „monstre“ hervor, in dessen groteskem Erscheinungsbild die Mutter hartnäckig „le front de Victor Hugo“ - nach Emmanuel Fraisse und Bernard Mouralis zweifellos „l’auteur le plus plagié au XIX e siècle“ 217 - zu erkennen glaubt; 218 an diesem Punkt schließt sich der Zirkel der literarhistorischen Ironie. *** „La discipline que doit s’infliger tout écrivain qui a une personnalité, c’est de rechercher la banalité“, erklärt Radiguet. 219 Die Tragik der Banalität ebenso wie die Banalität des Tragischen illustriert eine weitere réécriture der Princesse, die, bereits nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, über die idiosynkratische künstlerische Individualität hinaus auch den ‚Zeitgeist‘ der frühen fünfziger Jahre im Kontrast zur Epoche Radiguets reflektiert und auf die nun - weitere Etappe auf dem Weg zu unserem Corpus postmoderner Texte - ein Blick geworfen werden soll: Louise de Vilmorins Madame de. 213 Ibid.: 96f. 214 Ibid.: 93. 215 Ibid.: 86. 216 Vgl. Oliver/ Odouard 1993: LXVI. 217 Fraisse/ Mouralis 2001: 250. 218 Radiguet 1986: 86. 219 Zit. nach Pingaud 1986a: 11. <?page no="135"?> „… une arrière-petite cousine de La Princesse de Clèves“: Louise de Vilmorins Madame de „Et, dans les galaxies, la comtesse de La Fayette fut étonnée et ravie de suivre la belle (mais très brève) carrière de son petit cousin du XX e siècle“, kommentiert François Bott die hypertextuelle Verwandtschaft Lafayette-Radiguet; 1 mit dem Kurzroman Madame de (1951) 2 präsentiert Louise de Vilmorin fast drei Jahrzehnte nach Le Bal du comte d’Orgel eine weitere „arrière-petite cousine de La Princesse de Clèves“, 3 die von der Kritik sofort in der Traditionslinie Lafayettes situiert wurde. Wenngleich weniger bekannt (und ästhetisch weniger innovativ) als der Bal Radiguets, hat dieser Text ebenfalls seine Wirkungsgeschichte - auch außerhalb der Literatur: So sind in Jean Delannoys kinematografischer Erstadaption der Princesse de Clèves aus dem Jahr 1961 Spuren einer Beeinflussung durch Vilmorins Version, ihrerseits schon 1953 von Max Ophuls verfilmt, 4 auszumachen; 1970 wurde Jean-Michel Damases Oper bzw. ‚roman musical‘ Madame de (Libretto: Jean Anouilh) in Monte-Carlo uraufgeführt. 5 In unserem Kontext ist Vilmorins Roman, den es - quasi auf halbem chronologischen Wege zwischen Radiguet und den hier primär fokussierten zeitgenössischen Princesse- Variationen - gleichfalls nicht zuletzt in seiner epochenspezifischen Symptomatik zu analysieren gilt, vor allem auch insofern von Interesse, als er plastisch illustriert, dass die Geschichte der produktiven Rezeption der Princesse nicht als Narrativ einer linearen ästhetischen wie ideologischen ‚Modernisierung‘ zu konstruieren ist: Im Kontrast zu Radiguets années folles- Version, doch auch vor dem Hintergrund des nouveau roman frappiert Vilmorins réécriture durch ihren Traditionalismus, auf formaler wie auf - damit freilich auf Engste verbundener - inhaltlich-ideologischer Ebene. Dieser prononcierte „conservatisme“ 6 prägt auch ihr Vorwort zu einer Edition der Princesse de Clèves aus dem Jahr 1958, 7 in dem die Autorin „sans vergogne“ auf „le psychologisme et l’éternité des sentiments“ setzt. 8 In so mancher Hinsicht erscheint Madame de - ein ähnliches Phänomen wird zehn Jahre später an Delannoys Film-Princesse de Clèves zu beobachten sein, nicht zufällig vom Regisseur 1 François Bott: „Le petit cousin de la comtesse“ (Le Monde), zit. nach Radiguet/ Cendres 2003: 139. 2 Den Abschluss der Redaktion des Textes datiert Vilmorin (1993: 62) mit „Sélestat (Bas-Rhin), Octobre 1950“. 3 So José Zendel in Les Lettres françaises (483 [1953]) aus Anlass der filmischen Adaption des Romans (Regie: Max Ophuls, Drehbuch: Marcel Achard/ M. Ophuls/ Annette Wademant): „Les adaptateurs et le cinéaste ont dessiné d’un trait plus accusé certains mouvements de caractère. Le roman de M me de Vilmorin était écrit avec une retenue et sur un ton qui faisait penser à M me de La Fayette. Madame de apparaissait comme une arrière-petite cousine de La Princesse de Clèves. Sa frivolité et sa légèreté qui, dans le livre, sont à peine suggérées, se trouvent marquées dans le film avec bonheur. Ce qui rend d’autant plus saisissant le contraste avec la démarche fatale de la passion“ (zit. nach Coste/ Castells- Faucher 2000: 320). 4 Der Dictionnaire du cinéma (Paris: Larousse, 1991) verzeichnet diese Adaption als eine Art „vaudeville racinien“ und zugleich virtuose „interprétation de premier ordre“ (zit. bei Bonnot 2006). 5 Der mit Vilmorin befreundete Francis Poulenc vertont seinerseits einige ihrer Gedichte: Fiançailles pour rire (1939 [Uraufführung 1942], nach dem gleichnamigen Band); vgl. Coste 2012. 6 Coste/ Castells-Faucher 2000: 321. 7 Vgl. Vilmorin 1958: 9: „Cette histoire a beau se dérouler à la cour de France sous le règne d’Henri II, elle n’en est pas moins de tous les temps et de tous les milieux“ (etc.). 8 Coste/ Castells-Faucher 2000: 333. <?page no="136"?> 136 Louise de Vilmorins Madame de auch als Statement gegen den ‚Sittenverfall‘ der heraufziehenden sechziger Jahre betrachtet 9 - aber auch weniger ‚modern‘ als der klassische Prätext aus dem 17. Jahrhundert. Dies betrifft insbesondere die Konzeption der weiblichen Hauptfigur; in ihrem ambivalenten „féminisme conservateur“ skizziert Vilmorin ein zur Entstehungszeit des Romans dezidiert antiquiertes Frauenbild, 10 prekär legitimiert durch den Anachronismus des hier evozierten aristokratischmondänen Milieus. Vom 16. Jahrhundert in die Belle Époque: Zur Re-Interpretation eines mondänen Mikrokosmos Deconstruction is not a dismantling of the structure of a text, but a demonstration that it has already dismantled itself. 11 Von der Princesse de Clèves zu Madame de: Die Transformation dieses vielsagend gekappten Titels - der in anderem Kontext seinen eigenen (gewichtigen) „ideological baggage“ transportiert, 12 dessen Echo sechs Jahrzehnte später aber auch in Emmanuelle Bayamack-Tams La Princesse de. nachzuklingen scheint - fasst prägnant den ideologischen Parcours von Lafayette bis Vilmorin zusammen. An die Stelle der vornamenlosen Mme de Clèves, geborene Mlle de Chartres, tritt hier eine gleichsam entwurzelte moderne Nachfahrin, der auch noch ein eventueller Familienname abhandengekommen ist; Vilmorins Titelheldin steht paradigmatisch für eine auf bloße Etikette reduzierte aristokratische „identité évidée“, 13 der längst das historische Fundament wie der entsprechende ideologische Überbau fehlt. „Dans la langue familière, ‚une Madame de‘ désigne la distinction féminine dans ses attributs les plus superficiels“, bemerken Claude Coste und Michèle Castells-Faucher; 14 den ganzen Text hindurch wird die Protagonistin konsequent lediglich als ‚Mme de‘ bezeichnet - analog dazu der Wiedergänger des Prince de Clèves, der lapidar als ‚Monsieur de‘ in Erscheinung tritt. Bei jeder einzelnen Evokation der Eheleute folgt, kleine typografische Extravaganz, auf die Formel ‚Mme de‘ bzw. ‚M. de‘ jeweils eine signifikante Leerstelle (d. h. ein dreifaches Leerzeichen) im Text; die ironische Geste mondäner Diskretion, die die Namen der Akteure einer potentiell skandalösen Affäre dezent zu verschweigen vorgibt, lädt zugleich - wie später auch der Punkt („le petit pois de la Princesse“) im Titel Bayamack-Tams 15 - die Leserin zur multiplen intertextuellen Anknüpfung ein. 16 Die Rolle des Duc de Nemours übernimmt ein 9 Vgl. Delannoy 1960b: 1, zit. bei Denis 1998: 286. 10 Coste/ Castells-Faucher 2000: 324. 11 Miller 1976: 341. 12 Vgl. DeJean (1991: 1ff.) zu den Implikationen bzw. dem „ideological baggage“ der literarhistorisch etablierten Bezeichnung ‚Madame de Lafayette‘ (etc.). 13 Coste/ Castells-Faucher 2000: 322. 14 Ibid. 15 Bayamack-Tam 2010a. 16 In der Filmversion erhält die Protagonistin sehr wohl einen Namen: In transparentem Kalkül mit dem Effekt autobiografisierender Pikanterie nennen Max Ophuls und Marcel Achard ihre Heldin (dargestellt von Danièle Darrieux) kurzerhand ‚Louise‘ (Madame de…: 05: 11 et passim); mit der (De-)Chiffrierung des immer wieder im letzten Moment doch nicht genannten Familiennamens der Madame de - hier ausdrücklich als ‚Comtesse‘ identifiziert - wird den ganzen Film hindurch leitmotivisch gespielt. Die Aristokratin Vilmorin, „mondaine du Tout-Paris“ (Coste 2012), mit ihrem durchaus im Sinne der Sen- <?page no="137"?> „… une arrière-petite cousine de La Princesse de Clèves“ 137 ebenfalls namenloser „ambassadeur“, 17 der in der monotonen Existenz der Protagonistin auch in einem tieferen Sinn als ‚Botschafter‘ aus einer anderen Welt (unmittelbar vor der ersten Begegnung der beiden kehrt er, „nommé […] dans un pays voisin de sa patrie“, 18 aus dem fernen Südamerika zurück), inkarniertes Versprechen eines anderen, intensiveren Lebens, ‚authentischer‘ Passion fungiert. Wie Radiguet modernisiert Vilmorin ihr Sujet, dies freilich unter weitgehender historischer Dekontextualisierung und auch räumlich-geografischer Abstraktion: 19 Den Lafayette’schen Königshof ersetzt die aristokratische Society einer europäischen Metropole - die Assoziation mit Paris liegt nahe, wird im Text jedoch nirgends expliziert 20 - zur Zeit einer vagen Belle Époque. 21 Die in den Augen (nicht nur) der ersten Lesergeneration so ‚unwahrscheinliche‘ Princesse de Clèves wird unter der Feder Vilmorins zur eleganten Dame der Gesellschaft, Antiheldin ohne Tiefgang und ohne Vergangenheit, die selbst in ihrem Milieu als „à la fois trop froide et trop frivole“ 22 gilt und die, obwohl seit längerem verheiratete erwachsene Frau, der menschlichen Vielschichtigkeit und der ethischen Souveränität, aber auch des stillen Rebellentums der jugendlichen Protagonistin Lafayettes entbehrt, ebenso wie deren Verankerung in einem familiären Kontext. Auffallend ist auch hier (wie in der ein Jahrzehnt später realisierten Erstadaption Delannoys) die ersatzlose Streichung der Mme de Chartres und mit ihr jeglicher Vorgeschichte samt der für Lafayettes Heldin so essentiellen mütterlichen Tugendlehre und subtilen Liebespädagogik; abgesehen von ihrer alten „nourrice“, nunmehr Wäschefrau und wohlmeinende, doch inadäquate Gelegenheits-Vertraute, 23 ist diese Protasationspresse ‚interessanten‘ Privatleben ist diesbezüglich zweifellos eine geeignete Projektionsfigur. In einem Porträt, das Francis Poulenc in seinem Journal de mes mélodies (1964, Re-Edition 1993) entwirft, erscheint Vilmorin als anmutiges Gespenst aus dem Jahrhundert Lafayettes: „Son beau visage fait penser au XVII e siècle, comme le bruit de son nom“ (zit. nach Coste/ Castells-Faucher 2000: 325). Ihre Liaison mit André Malraux schließlich bringt Vilmorin nicht nur den ambivalenten Spitznamen ‚Marilyn Malraux‘ ein („Je ne suis plus Louise de Vilmorin, je suis Marilyn Malraux“, wie die Autorin selbst ironisiert; zit. nach J. Ch. 2008); auch zwei zeitgenössische Kommentatorinnen schwelgen noch in der Vorstellung des Paares Vilmorin/ Malraux als moderne Neuauflage des „duo amical, maître et disciple“ Lafayette/ La Rochefoucauld (Coste/ Castells-Faucher 2000: 324). Zu Lebensgeschichte und künstlerischem ‚Netzwerk‘ Vilmorins vgl. die ausführliche Biografie Wageners (2008). 17 Vilmorin 1993: 21 et passim. 18 Ibid.: 21f. 19 Vgl. Bonnot 2006; siehe zu diesem „effet d’abstraction […] nettement perceptible dans l’écriture même du roman“ auch Coste 2012. 20 In der filmischen Adaption Ophuls’ wird die Handlung dagegen explizit in Paris verortet und auch anderweitig ein wenig konkretisiert: Zu Protagonistin ‚Louise‘ gesellt sich Ehemann ‚André‘ (dargestellt von Charles Boyer), der seine spanische Geliebte bzw. „ma petite Lola“ (Madame de…: 20: 29- 20: 30) statt nach Südamerika nach Konstantinopel verabschiedet - willkommener Anlass für einen kleinen Ausflug in eine pittoresk ‚orientalisch‘ stilisierte Welt. Vittorio De Sica alias Baron Fabrizio Donati spricht als ‚ambassadeur‘ mit prononciertem italienischem Akzent und redigiert seine Liebesbriefe mit Hilfe eines Wörterbuchs: „… desiderio? … désir“ (ibid.: 58: 30-58: 33); punktuelle politische Anspielungen (vgl. ibid.: 33: 58-34: 00, 34: 52-34: 55) skizzieren einen freilich auch hier sehr vagen zeithistorischen Kontext. 21 Coste und Castells-Faucher datieren die Handlung der Madame de auf das späte 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts (2000: 339); auch Bonnot (2006) situiert den Romanplot „à la charnière des XIX e et XX e siècles“. 22 Vilmorin 1993: 36. 23 Ibid.: 47. <?page no="138"?> 138 Louise de Vilmorins Madame de gonistin, mehr oder minder isoliert in einer Welt der Männer, von vornherein sich selbst überlassen, 24 allein im Angesicht moralischer und emotionaler Dilemmata, die - erneut stellt sich hier, aus noch größerer historischer Distanz, die schon eingangs bei Radiguet aufgeworfene Frage - längst „surannés“ erscheinen mögen. 25 Auch Vilmorins Text spielt auf seine Weise mit der langen Rezeptionsgeschichte Lafayettes. Kritisiert Valincour das Fehlen eines/ einer confident/ e für die Princesse und Nemours (wie kann die Erzählinstanz ohne die derart im Sinne der klassischen Poetik plausibel verfügbar gemachten Informationen auf das Innenleben der Protagonisten zugreifen? ), 26 so ist es hier Mme de selbst, die das Bedürfnis nach einer „confidente“ äußert: „Une confidente! […] on dirait que sans confidente une femme doute à la fois de son amour et de son amant“, kommentiert mit gutmütigem Spott der „ambassadeur“, zugleich gerührt, „une enfant sous les traits d’une belle femme“ entdeckt zu haben. 27 Auf den Spuren Lafayettes, die ihre Helden die (in)vraisemblance der romanesken Intrige erörtern lässt, legt auch Vilmorin ihren Figuren einen doppelbödigen Diskurs über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit - mit evidenter poetologischer Dimension - in den Mund: „[…] à force de constater que la vérité est invraisemblable et que l’invraisemblable est vrai, je ne m’étonne plus de rien“, erklärt M. de als blasierter Beobachter seiner eigenen (Ehe-)Geschichte. 28 Aber auch im lexikalischen Detail knüpft Vilmorin mit ihrer „écriture nostalgique du siècle classique“ 29 an Lafayette an, von der violence der Leidenschaft bis zu jenem repos, nach dem sich auch ihre Protagonistin (vergeblich) sehnt: „[…] je n’ai dans le cœur ni fatigue ni repos“, klagt die verliebte Mme de im Gespräch mit ihrem Mann und verrät ihm so ihren bedenklichen Gefühlszustand: „Il comprit à ces mots qu’elle était amoureuse et il ne se trompait pas. Elle aimait et souffrait d’amour pour la première fois de sa vie […].“ 30 „L’amour, en traversant les âges, marque d’actualité les événements qu’il touche“: 31 Mit dem ersten Satz bereits appelliert die Autorin an ein vermeintlich zeitloses Imaginarium der Passion, das ihren eigenen Roman mit einer langen intertextuellen Tradition verbindet. Doch es bleibt nicht bei diesem „recours aux maximes, aux vérités générales“; 32 gleich darauf wird auch schon die Differenz gegenüber dem klassischen Prätext deutlich, die Distanz zwischen der Romanwelt Lafayettes und dem hier evozierten Milieu etabliert. „Dans un monde où…“: Auch Vilmorins Text beginnt mit einer - extrem verknappten - Panorama- Skizze eines mondänen Mikrokosmos. Über das Schlüsselattribut inimitable, auf das Personal der Princesse so großzügig angewandt (Vilmorin zitiert in ihrem Vorwort zum Roman eben die Passage über den ‚unnachahmlichen‘ Nemours’ 33 ) wie von den Zeitgenossen auf Lafayette 24 „Qu’est-ce que je dois faire? […] Justement, si maman était là, elle me le dirait…“, lässt Ophuls seine Filmheldin schon in der ersten Szene ratlos monologisieren (Madame de…: 02: 51-03: 03). 25 Radiguet 1986: 55. 26 Vgl. Valincour 2001: 73. 27 Vilmorin 1993: 28. 28 Ibid.: 34. 29 Coste/ Castells-Faucher 2000: 321. 30 Vilmorin 1993: 34. 31 Ibid.: 13. 32 Coste/ Castells-Faucher 2000: 333. 33 Vilmorin 1958: 8. <?page no="139"?> „… une arrière-petite cousine de La Princesse de Clèves“ 139 selbst, 34 wird die Protagonistin - degradierte ‚Princesse‘ in einem Kontext, in dem nicht (natürliche) Schönheit (von eventueller ‚Tugend‘ ist keine Rede mehr), sondern (artifizielle) Eleganz als wesentliches weibliches Sozialkapital fungiert und das ‚Unnachahmliche‘ eifrig kopiert wird - unmissverständlich mit ihrer intertextuellen Vorfahrin assoziiert: „Dans un monde où le succès et le renom d’une femme dépendent moins de sa beauté que de son élégance, M me de était, avec beaucoup de grâce, la plus élégante des femmes. Elle donnait le ton à toute une société et comme les hommes la disaient inimitable, les femmes réfléchies s’efforçaient de la copier […].“ 35 In all seiner Ambivalenz wird dieses Motiv durch den Text fortgesponnen: „Elle a des idées comme personne“, 36 erklärt M. de über seine distinguierte Gattin, die zugleich durch und durch als Produkt ihrer Zeit und ihres Milieus erscheint. Madame de: Paradigmatisch inkarniert diese Protagonistin die Problematik eines insgesamt im Zeichen der melancholisch-ironischen „dévaluation“ 37 stehenden Textes. Das zentrale Figuren-Trio bewegt sich in einer Sphäre anachronistischer Eleganz, vor allem aber weniger befreiender denn bedrückender Zeit-, Ziel- und Sinnlosigkeit, in der die Frauen zum ewigen Müßiggang verdammt, doch auch die Männer hinter der Fassade ihrer Alibi-Professionen 38 lediglich Akteure bzw. Statisten einer mondänen Performance sind; in trivialisierter Form geht die aristokratische Show freilich weiter, auch wenn von einstiger Macht und Selbstgewissheit nur mehr leere Etikette übrig geblieben ist. Im Gegensatz zu Lafayettes Roman, entstanden zur Zeit der Hochblüte des französischen Absolutismus, schildert bereits Radiguet die Aristokratie als „un univers à bout de souffle“; knapp drei Jahrzehnte später spiegelt auch der Text Vilmorins, „[m]iroir de son personnage“, 39 die „dégradation des valeurs nobiliaires“ 40 wider: „[…] la grandeur sociale ne va plus de soi […] la mondanité peine à s’inscrire dans le sillage de l’aristocratie de cour […]“. 41 Wie ebenfalls schon bei Radiguet werden in Vilmorins Roman einzelne Elemente des klassischen Prätextes - vom konkreten literarischen Raum bis zum Moralcodex - gleichsam systematisch degradiert, quantitativ wie qualitativ reduziert. Coste und Castells-Faucher konstatieren in diesem Zusammenhang diverse „effets de rétrécissement“, 42 die auch die Erzählinstanz erfassen. 43 Diese Liebesgeschichte, der 34 Zu den nicht zuletzt poetologischen Implikationen der von und in Bezug auf Lafayette routiniert eingesetzten Epitheta inimitable, incomparable etc. vgl. DeJean 1991: 125f., 251. 35 Vilmorin 1993: 13. 36 Ibid.: 37. 37 Coste/ Castells-Faucher 2000: 322. Vgl. auch Coste 2012: „Règne dans ce roman, tant sur le plan littéraire que sur le plan social, un aristocratisme anachronique qui doit lutter contre la dévaluation imposée par le monde moderne.“ 38 Kein einziges Mal erscheint der Geliebte, konsequent als ‚ambassadeur‘ bezeichnet, in einem Kontext von auch nur approximativer professioneller Relevanz; hier geht es weniger um eventuelle konkrete diplomatische Aktivität denn um mondänen Status. Dies gilt auch für die Position als Artillerie- General, mit der der sich allenfalls bei Gelegenheit zu vagen „manœuvres“ absentierende Ehemann in Ophuls’ Adaption ausgestattet wird (Madame de…: 33: 09), während sich die Verpflichtungen des Botschafters - abgesehen von einem kurzen Abstecher zum Neujahrsempfang des diplomatischen Corps - darauf beschränken, nachtaus, nachtein eifrig von Ball zu Ball zu touren. 39 Coste 2012. 40 Coste/ Castells-Faucher 2000: 321. Coste/ Castells-Faucher stellen hier auch den Bezug zur Recherche her: „La culture mondaine est caricaturée sur un mode qui rappelle Proust“ (ibid.). 41 Ibid.: 325. 42 Ibid.: 322. <?page no="140"?> 140 Louise de Vilmorins Madame de es zur tragischen Erhabenheit nicht mehr reicht, entfaltet sich inmitten mondäner Banalität; auch der Clash zwischen klassischem Passions-Code und Society-Kontext wird von den Figuren selbst reflektiert, denen Vilmorin allerlei Secondhand-Aphorismen à la Oscar Wilde in den Mund legt („C’est curieux […] rien ne décoiffe autant que de pleurer“, scherzt Mme de unter Tränen 44 ). Diese Praxis des „détournement ludique“ der Maxime, auch hier doppelbödiger, subtil unterminierter „hommage au XVII e siècle“, erinnert wiederum an Radiguet: „Une même dévaluation la mine […] au point de la volatiliser.“ 45 (Eben das dekonstruktive Spiel mit der Maxime - Form par excellence der Moralisten des 17. Jahrhunderts - stellt ein frappantes stilistisches Charakteristikum auch der späteren postmodernen Texte in diesem Princesse-Corpus dar.) Aber auch Park und Pavillon von Coulommiers schrumpfen zu ein paar traurig über den Teppich eines Salons verstreuten Blumen zusammen, dies in einer Szene, da die verzweifelte Mme de einen vom Geliebten geschickten „panier de bambou contenant des violettes et des branches de mimosa“ umstößt; als der Spender selbst eintrifft und erstaunt das Chaos der „fleurs éparses sur le tapis“ betrachtet, erklärt sie so tragikomisch wie absurd: „J’en ai fait un jardin“ 46 - hilflose Geste einer Miniatur-Rebellion, die ebenso ins Leere läuft wie - den ganzen Text hindurch - ihre sonstigen Worte und Handlungen. In einer Epoche sehr viel größerer verkehrstechnischer Mobilität und in einer derart ‚kleiner‘ gewordenen Welt verfügt diese moderne Princesse im Gegensatz zur Heldin Lafayettes kaum mehr über innere und äußere Rückzugsräume. Ist die Vorstellung eines banalisierten repos dieser Protagonistin nicht ganz fremd, so spielt das Konzept des devoir - zumindest einer anderen als der allertrivialsten mondänen Pflicht - im Gedanken- und Gefühlsleben der Figuren keine Rolle mehr: „Le devoir s’affadit en sens des convenances pour le comte d’Orgel ou Monsieur de. La princesse trouve son double rétréci dans le personnage de la mondaine […].“ 47 Auch wenn bzw. gerade weil dieser Aspekt im Text kaum explizit thematisiert wird, fordert Vilmorins Roman eben in seiner Hyper-Konventionalität auch zu einer gesellschaftskritischen Lesart heraus. 48 Unterschwellig erzählt Madame de die Geschichte eines fundamentalen sozialen und moralischen Paradigmenwandels, aber auch jene eines latenten Klassenkonflikts - insofern knüpft Vilmorin durchaus an ihren klassischen Prätext an: Wird bei Lafayette mit aus heutiger Perspektive höchst markierter Selbstverständlichkeit eine ganze Gesellschaft auf eine dünne hochadlige Führungsschicht reduziert, deren Angehörigen allein vollwertige Individualität und romaneske Existenz zugestanden, so rekrutiert Vilmorin ihr Personal in einem zwar nach wie vor aristokratischen Milieu, das sich allerdings - historisch, sozioökonomisch 43 Vgl. ibid.: 333: „[…] Vilmorin établit une réelle distance à l’égard du modèle en réduisant considérablement le champ de vision du narrateur. D’où une flottante ironie qui désintellectualise le roman d’analyse, suspend l’arrogance du savoir au nom de la pudeur et du scepticisme.“ 44 Vilmorin 1993: 37. 45 Coste/ Castells-Faucher 2000: 322f. 46 Vilmorin 1993: 38f. 47 Coste/ Castells-Faucher 2000: 322. 48 Dies bedeutet freilich nicht, der Autorin - oder dem Text, dessen ideologische Potenz allerdings auch in diesem Fall zweifellos weit über die intentio auctoris hinausreicht - eine wie immer geartete subversive Intention unterstellen bzw. unterschieben zu wollen; vgl. dazu Lisa Jardines Anmerkung zur prinzipiellen Problematik einer Interpretationsstrategie, die „ostensibly reactionary writing“ um jeden Preis „some concealed radical message“ abzugewinnen versucht (zit. bei Spivak 2003: 155). <?page no="141"?> „… une arrière-petite cousine de La Princesse de Clèves“ 141 wie ideologisch - längst gegenüber einem solide etablierten, finanzstarken und selbstbewussten Bürgertum in der Defensive befindet. Schon am Anfang des Romans stehen die monetären Sorgen der Mme de, deren noble particule gegen ihre Schulden nichts auszurichten vermag; später spukt auch noch ein Neffe durch den Text, der sich, „d’une part sans expérience et d’autre part peu doué pour les affaires“, bei unvorsichtigen Spekulationen ruiniert hat und nun seinen Ehren-Selbstmord plant. 49 Kurz vor ihrem Tod muss die Protagonistin noch eine Szene ultimativer Selbsterniedrigung mit signifikanter sozialer Dimension über sich ergehen lassen: Als sie nach ihrem Weg durch die frühmorgendlich eiskalten Straßen vor dem Haus des Geliebten angekommen ist, wartet sie, „[g]elée, tremblante“, vor der Tür, bis ein verschlafener Diener in Uniform ihr unwillig öffnet, sie voll misstrauischer Herablassung mustert und der lästigen Bittstellerin die Tür vor der Nase wieder zuschlägt 50 - ein in der Welt der Figuren Lafayettes undenkbares Szenario. Kurz: In so mancher Hinsicht lädt dieser ästhetisch konventionelle und ideologisch konservative Text einer oft herablassend als „un poète mondain un peu démodé qui a su séduire un public bourgeois essentiellement féminin“ betrachteten Autorin 51 zu seiner eigenen Dekonstruktion ein; dies soll nun ausgehend von einem mehrfach überdeterminierten und auch poetologisch relevanten Schlüsselmotiv illustriert werden: jenen herzförmigen Brillant- Ohrringen, die, durch den Text und von Figur zu Figur wandernd, die Handlung als kleine narrative Generatoren bzw. mit ihrer eigenen „biographie“ ausgestattete metaphorische „actants“ 52 vorantreiben und über die der Konflikt zwischen „rationalité aristocratique et rationalité bourgeoise“ ausgetragen, 53 eine des Kitsches nicht unverdächtige Liebes-Symbolik in ein System kapitalistischer Zirkulation eingespeist, der Logik universeller Austauschbarkeit unterworfen wird. 54 49 Vilmorin 1993: 50. 50 Ibid.: 60. 51 Vgl. Schmitt 2001, zit. nach Bonnot 2006. 52 Bonnot 2006. 53 Ibid. 54 Dieses Moment illustriert plastisch Ophuls’ Film, der via Schrift-Inserts gleich zum Einstieg die Brillanten als eigentliche narrative ‚Agenten‘ positioniert: „Madame de… était une femme très élégante, très brillante[,] très fêtée. Elle semblait promise à une jolie vie sans histoire. / Rien ne serait probablement arrivé sans ce bijou…“ (Madame de…: 02: 14-02: 23, 02: 25-02: 33). Die ersten Filmminuten beherrscht die überwältigende Präsenz der luxuriösen Dinge (Juwelen, Pelze etc.), die die Protagonistin auf der Suche nach einem liquidierbaren Verkaufsgegenstand Revue passieren lässt; „[…] je préférerais me jeter à l’eau“ (ibid.: 04: 22-04: 26), verwirft sie den bloßen Gedanken, sich von einer geliebten Halskette zu trennen. Erst nach dieser Inspektion eines mondänen Schmuckkastens und Kleiderschranks kommt das Gesicht der Besitzerin (Besessenen? ) selbst ins Bild, dies signifikanterweise zunächst nur indirekt - kunstvoll gerahmtes preziöses ‚Objekt‘ unter anderen - als Reflex in ihrem Toilettenspiegel. <?page no="142"?> 142 Louise de Vilmorins Madame de Brillantherzen zu verkaufen: Liebe und Literatur in Zeiten des Kapitalismus Une œuvre de l’art vaut un diamant pour les uns, un caillou pour les autres. 55 Unter transparenter Allusion auf die Szene, da Lafayette ihre Heldin in der noblen Boutique jenes „Italien“ zum ersten Mal auf den Prince de Clèves treffen lässt und damit ihre amouröse Intrige in Gang setzt, 56 schickt auch Vilmorin ihre Protagonistin bald zu Beginn des Romans zu einem Juwelier - Schlüsselfigur der für diesen Text insgesamt charakteristischen „dévaluation ironique“ 57 traditioneller aristokratischer Werte; auch der „bijoutier“ 58 selbst ist im Gegensatz zu seinem Vorgänger bei Lafayette, dessen prachtvolle Residenz „plutôt celle d’un grand Seigneur, que d’un marchand“ scheint, 59 hier nur mehr ein „commerçant“, Repräsentant einer bürgerlichen kommerziellen Logik, die von seiner verführerisch funkelnden Ware auf den restlichen Text ausstrahlt: „Le commerce des pierres embourgeoise le commerce du Monde.“ 60 55 Valéry 1945: 167. 56 Lafayette 2014c: 338f. Ausgehend von dieser Szene arbeitet Kamuf (1987: 72f.) die metonymischmetaphorische Dimension der Juwelen-Metaphorik bzw. „the subsequent symbolization of the princess as a jewel“ heraus (vgl. Peterson 2012: 249). Bietet bereits das einleitende höfische Panorama „an inventory wherein the narrator, like the proprietor of a fine shop, lays out all the finest gems of the collection“, so wird dieser kostbaren Kollektion mit Mlle de Chartres in ihrem schillernden éclat kurz darauf ein besonders edles, auf matrimonialem Wege noch zu erwerbendes Schmuckstück hinzugefügt (Kamuf 1987: 73). Eine frappierende Juwelen-/ Diamant-/ Kristall-Metaphorik zieht sich auch durch die kritische wie kreative Rezeptionsgeschichte der Princesse de Clèves, Bertrand d’Astorg zufolge „[l]e plus pur, comme on dit du cristal, le plus dur comme on dit du diamant, le plus irritant parce que le plus fermé des romans français“ (Le Mythe de la dame à la licorne [1963], zit. nach Laugaa 1971: 240). Valincour zufolge erfreuen sich jene Leser, die die Lektüre der Princesse unter Vernachlässigung einer für illegitim befundenen Vermischung von Historie und Fiktion genießen, quasi eines „diamant faux“ (2001: 69); Charnes weist in seiner Konter-Kritik darauf hin, dass Valincour dieses rhetorische Juwel seinerseits undeklarierterweise bei Castelvetro entlehnt habe: „Il est bon de remarquer, en passant, qu’il a volé ce diamant, et cette comparaison à Castelvetro, au même endroit, d’où il a tiré son passage; et ce n’est pas le seul vol qu’il lui a fait“ (2014: 647). Jean Cocteau wiederum meditiert in seinem Vorwort zur Original-Edition des Bal du Comte d’Orgel (1924) über Radiguets „cœur de diamant“ („Préface“, in Radiguet 1993a: 4) sowie sein Werk als Produkt des schöpferischen „enchevêtrement d’une machine qui taille le cristal“ (ibid.) - und sein eigenes Leiden, als er nach dem Tod des Freundes „sur les décombres d’une usine de cristal“ zurückbleibt (zit. nach Oliver/ Odouard 1993: C). Marcel Proust stattet ausgerechnet Mme Verdurin mit einem symbolträchtigen „collier de perles noires“ aus, noch „toutes blanches“ erworben „à la vente d’un descendant de Mme de La Fayette à qui elles auraient été données par Henriette d’Angleterre“, aber „à la suite d’un incendie“ schwarz verfärbt. Dennoch insistiert Swann auf der Authentizität dieses fernen Erbes der Autorin der Princesse, befinde sich doch „leur portrait, de ces perles, aux épaules mêmes de Mme de La Fayette, oui, parfaitement, leur portrait […] leur portrait authentique, dans la collection du duc de Guermantes“ (1996: 21). Eine poetologische Lesart dieser Passage liegt nahe: „Peut-être ce don des perles […] est-il métonymique au don du livre ancien, dont la représentation figure dans le livre moderne“ (Laugaa 1971: 231). Vgl. ibid.: 230f. zu den vier Lafayette-Erwähnungen in der Recherche; dazu auch Esmein-Sarrazin 2014a: XXXV. 57 Coste/ Castells-Faucher 2000: 322; Coste 2012. 58 Vilmorin 1993: 14 et passim. 59 Lafayette 2014c: 338. 60 Coste/ Castells-Faucher 2000: 322; Coste 2012. <?page no="143"?> „… une arrière-petite cousine de La Princesse de Clèves“ 143 Nachdem sie ihren Ehemann jahrelang über ihre Ausgaben für Kleider, Schmuck & Co. belogen hat (nicht zufällig wohl klingt bereits im Titel auch ein fernes Echo der Madame Bovary mit), 61 sieht sich Mme de mit „de grandes dettes“ konfrontiert, „qui lui causèrent d’abord du souci, puis de l’angoisse et, enfin, du désespoir“. Da diese moderne Antiheldin ihrem Gatten, „toujours […] fort généreux envers elle“, die schon so lange fortgesetzte Lüge nicht zu gestehen wagt, beschließt sie, heimlich ein kostbares, skrupulös aus ihrer persönlichen und familiären Kollektion gewähltes Schmuckstück, „deux beaux brillants taillés en forme de cœur“, zu verkaufen. 62 Mit diesem höchst symbolischen Akt - handelt es sich doch um „un superbe cadeau“, das die Protagonistin von ihrem Mann „au lendemain de leur mariage“ erhalten hat - wird hier der Kreislauf ehelicher und amouröser Fehlkommunikation initiiert. „[…] les bijoux circulent comme des signes dont la signification échappe toujours à quelqu’un“: 63 Diese konkrete und metaphorische Zirkulation strukturiert den ganzen Text; rund um die Herz-Ohrringe entspinnt sich ein fatales Geflecht aus Lügen, Geheimnissen und zu spät aufgeklärten Missverständnissen. Um den Verlust der Juwelen zu rechtfertigen, inszeniert Mme de im Rahmen eines - hypertextuell ebenfalls nicht ganz unschuldigen - Balls eine kleine theatralische Performance, die sich am nächsten Tag bereits in der Society- Chronik wiederfindet. 64 Allein: Dieses Meisterstück der dissimulation verfehlt seinen Zweck, sucht der involvierte Juwelier doch diskret den Ehemann auf, der die Schmuckstücke zurückkauft - und sie, zwar seinerseits chronisch untreu, aber über „le cynisme du mensonge“ seiner Frau empört, seiner Mätresse als Abschiedsgeschenk überreicht (praktischerweise bricht jene „belle Espagnole qu’il commençait à désaimer“ zu opportunem Zeitpunkt nach Südamerika auf und erspart ihm derart die „ennuis d’une rupture“). 65 Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird im Mikrokosmos dieser aristokratischen Ehe nur mehr mit falschen Karten und Worten gespielt, mit falschen Stimmen über Kreuz und aneinander vorbei gesprochen. Madame de ist nicht zuletzt als romaneske Illustration einer Krise der Repräsentation - im mondänen wie im philosophischen Sinne - lesbar, Reflex und Reflexion auch einer fundamentalen Sprachskepsis. 66 Parallel zum Parcours der immer schon ‚doppelten‘, 61 Der Konnex liegt hier freilich auch nahe zu der oft genug ruinösen Prestigewirtschaft und obligatorischen ostentativen Prachtentfaltung am für Lafayette zeitgenössischen Hof des Roi-Soleil (vgl. dazu etwa Schneider 1983: 6ff.). Zu den ökonomischen Prämissen höfischer Existenz, aber auch literarischer Produktion in der Entstehungszeit der Princesse de Clèves vgl. insbesondere DeJean, die die etablierte Annahme prinzipieller aristokratischer (und weiblicher) Distanzierung gegenüber „the economic aspects of literary activity“ - im Sinne eines stereotypen Bildes moderner Autorschaft als per se „male and bourgeois“ - in Frage stellt (1991: 95, 225), sei diese Abstinenz doch „highly unlikely“ in einer Epoche, da der Adel „increasingly obsessed with the cash flow necessary to maintain the appearance of power de rigeur [sic] at the Sun King’s court“ erscheint und insofern gegenüber einer potentiell höchst ergiebigen „source of liquidity like a best-selling novel“ kaum indifferent gewesen sein dürfte (ibid.: 251). 62 Vilmorin 1993: 14. 63 Coste/ Castells-Faucher 2000: 331; Coste 2012. 64 Vgl. Vilmorin 1993: 14ff. 65 Ibid.: 16f. 66 Setzt Lafayettes Heldin die Dynamik der Fatalität durch ihren aveu, ein in seinen Konsequenzen zunächst nicht erfasstes, in den Augen der Zeitgenossen exzessives Wahrheitsstreben in Gang, so tritt bei Mme de, schwächer und entschieden weniger heroisch-edlen Charakters als ihre Vorgängerin, die Lüge an die Stelle der Wahrheit, mit nicht minder unheilvoller Wirkung. Beide Texte illustrieren über die Jahrhunderte hinweg das performative - und hier sehr konkret destruktive, ja mörderische - Potential der Sprache: „Madame de ment par coquetterie ou par réflexe; M me de Clèves dit la vérité par héroïsme <?page no="144"?> 144 Louise de Vilmorins Madame de bei jeder neuen Transaktion mit neuen Bedeutungen aufgeladenen Schmuckstücke entfaltet sich die unterirdische Zirkulation der (sorgsam geheim gehaltenen) Gedanken und (nach außen wie innen verleugneten) Gefühle hinter den Worten. Zerknirscht bittet Mme de ihren über ihr Betrugsmanöver längst informierten Mann um Verzeihung für die falsche Missetat (jene vermeintliche Unachtsamkeit samt Verlust der Ohrringe); der erboste M. de lässt sie ihre Bitte um „pardon“ mehrmals wiederholen - im folgenden Dialog dieses ‚taubstummen‘ Ehepaars, in der papageienhaften Repetition jener von vornherein unaufrichtigen, zusehends sinn- und wertentleerten Bitte um ‚Verzeihung‘ schwebt unausgesprochen ein nicht realisierter aveu in der Luft: […] et je vous demande pardon. - Pardon? fit M. de . - Pardon, dit-elle. - Répétez-encore, fit-il. Elle prit cette insistance pour un début de surdité, et cria: - Pardon! Pardon! 67 Währenddessen setzt sich der Reigen der amourösen Illusionen auf einem anderen Kontinent fort. Aus der Distanz verliebt sich jene „belle Espagnole“, deren galantes Verhältnis zu M. de ein recht pragmatisches war, nachträglich in „le souvenir d’un homme qu’elle n’avait pas aimé“, ein aus der Ferne ungestört kultiviertes Wunschbild des begehrten Mannes, dem dieser selbst nicht mehr in die Quere kommt. In ihrer unglücklichen transatlantischen Passion - der verspätete coup de foudre fällt umso heftiger aus, als besagte Dame noch keinen adäquaten Ersatz für M. de aufgetrieben hat: als kluge Strategin auch und gerade der Liebe weiß diese symptomatische Nebenfigur des Romans sich diverse „jeunes gens sincères, mais de fortune incertaine“ 68 vom Leibe zu halten - beginnt sie, ihr launisches Glück im Spiel „de casinos en casinos“ zu suchen, bis sie schließlich zum Verkauf der symbolträchtigen Ohrringe gezwungen ist. „Les cœurs de diamant ne brillèrent qu’une heure à peine à la devanture d’un orfèvre“ jener ungenannten südamerikanischen Stadt; rasch landen sie in den Taschen jenes uns bereits bekannten „riche diplomate“, 69 der am nächsten Tag zurück in seine europäische Heimat aufbricht, sich beim ersten Diner zu seinen Ehren neben Mme de wiederfindet und sich unverzüglich in sie verliebt. Die mondäne Élégante - präzise zeichnet Vilmorin die subtile Dynamik der Genese einer Passion nach - fühlt sich zunächst weniger von ihrem Gegenou par panique. L’une comme l’autre, incapables d’apprécier les conséquences de leurs paroles, enclenchent un engrenage qui conduit au même destin“ (Coste/ Castells-Faucher 2000: 329); zur sprachlichen Performativität in Madame de („Les mots […] sont en quelque sorte consubstantiels à la réalité des choses et des affects […]“) vgl. auch Coste 2012. Schritt für Schritt entfaltet die Lüge, „cette mauvaise parole, qui vient corrompre une situation affectivement et verbalement simple“, ihre zerstörerische Macht; bereits der erste, vermeintlich harmlose Schwindel der Protagonistin bezüglich des Schmuckstücks bringt „la transparence des signes“ durcheinander und führt schließlich zur - hier nur für die Protagonistin - tödlichen Krise (Coste/ Castells-Faucher 2000: 329). 67 Vilmorin 1993: 18. 68 Ibid.: 21. 69 Ibid. <?page no="145"?> „… une arrière-petite cousine de La Princesse de Clèves“ 145 über per se verführt als in ihrer Eitelkeit geschmeichelt: „[…] elle ressentait violemment le plaisir de plaire […].“ 70 Die Szene, in der sich dieser komplexe coup de foudre vollzieht, erscheint insgesamt analog zum Hofball bei Lafayette konstruiert: Auch diese Protagonisten finden ‚auf höheren Befehl‘ zusammen (wenn auch die Tischordnung des vornehmen Diners das königliche Kommando ersetzt); auch diese Passion nimmt ihren Anfang im Rahmen eines öffentlichen Spektakels, unter den Blicken eines aufmerksamen - und nicht unbedingt wohlwollenden - Publikums: „Elle sut le distraire de toutes les autres femmes; chacun dut bientôt reconnaître qu’il ne regardait qu’elle, et tout le monde les regarda.“ 71 Wie die Princesse de Clèves und Nemours begegnen einander auch diese beiden Figuren - Angehörige ein und derselben „coterie dans la même société“, degradierte Version des höfischen Dispositivs bei Lafayette - unweigerlich auf Schritt und Tritt bei Diners, Bällen, Empfängen. In Bezug auf ihre eigene Verwirrung der Gefühle erweist sich Mme de als kaum weniger naiv denn die frisch verheiratete Princesse; auch sie versteht ihre eigenen Emotionen nicht sofort zu dechiffrieren: „[…] elle n’en resta pas moins un certain temps dans l’ignorance des sentiments qu’elle éprouvait pour lui“, 72 konstatiert Vilmorins Erzählinstanz auf den Spuren jener Lafayettes, die in einer vielkommentierten Passage ihrerseits die Selbstwahrnehmung ihrer Protagonistin ‚korrigiert‘. 73 Wie für die Princesse in ihrer Eifersucht - angesichts jener vermeintlich an Nemours gerichteten lettre galante - fungiert auch für Mme de eine narzisstische Kränkung als emotionaler Katalysator. Eines Tages verursacht ihr das Ausbleiben ihres diplomatischen Kavaliers „un vif désappointement qu’elle ne voulut pas admettre et qui pourtant l’éclaira à demi“. 74 Ab diesem Zeitpunkt versucht auch diese modernisierte Princesse sich mit allerlei doppelt klassischen prétextes der Gegenwart des Liebesobjekts und der bedrohlichen Macht der eigenen Passion zu entziehen: „[…] elle se prétendait souffrante, fermait sa porte, allait chez elle à la campagne ou bien faisait, accompagnée de M. de , un très court séjour sur un rivage ensoleillé.“ 75 Die Ausflüchte haben freilich bald ein Ende, hat diese Protagonistin doch beim besten Willen keinerlei moralisch tragfähigen Grund mehr, sich einer außerehelichen Passion zu verweigern; hier rührt auch Vilmorins Text an eines der Schlüsselprobleme, mit denen sich jede moderne Re- Interpretation der Princesse konfrontiert sieht - jenen fundamentalen Bedeutungswandel von Liebe und Ehe, der das Dilemma der Heldin Lafayettes prinzipiell in Frage stellt bzw. auf den ersten Blick obsolet erscheinen lässt. 70 Ibid.: 22. In ebendieser Szene klingt das intertextuelle Echo nicht nur der Princesse de Clèves mit ihrer gleichfalls mimetischen Dynamik der Passion, sondern auch jenes der weniger berühmten Comtesse de Tende mit; sehr ähnlich - und ebenso klassisch-lapidar - schildert Lafayette (2014d: 62) hier den narzisstisch gefärbten Entstehungsprozess einer Passion: „Le Chevalier [de Navarre, MS] […] prit […] pour elle une passion violente. […] il devint éperdument amoureux de la Comtesse. Il ne put lui cacher entièrement sa passion; elle s’en aperçut, son amour propre en fut flatté et elle sentit une inclination violente pour lui.“ 71 Vilmorin 1993: 22. 72 Ibid. 73 „Mais elle se trompait elle-même; et ce mal qu’elle trouvait si insupportable, était la jalousie avec toutes les horreurs dont elle peut être accompagnée“ (Lafayette 2014c: 397). 74 Vilmorin 1993: 22. 75 Ibid.: 22f. <?page no="146"?> 146 Louise de Vilmorins Madame de Im Gegensatz zu den Protagonistinnen späterer postmoderner Variationen bewegt sich die Princesse Vilmorins noch in einem aristokratischen Milieu, das auch im 20. Jahrhundert in anachronistischem Widerstand gegen das bürgerliche Ideal des mariage d’amour die Ehe nach wie vor in erster Linie als konventionelles Arrangement aus dynastischen und/ oder finanziellen Erwägungen betrachtet, in dem intrigues und galanteries aller Art an der Tagesbzw. Ballordnung stehen und in dem die bloße außereheliche Liebelei an sich kein Skandal, sondern vielmehr mondäne Normalität ist. Die en passant erwähnte aktuelle Mätresse des M. de wird, wie von der Erzählinstanz elegant suggeriert, weder die erste noch die letzte gewesen sein; mit nachsichtiger Ironie beobachtet der Ehemann eventuelle „amitiés amoureuses“ seiner Frau, 76 solange diese für seine Reputation und seine männliche ‚Ehre‘ keine Bedrohung darstellen. Zum Problem wird das amouröse Amüsement - an sich durchaus comme il faut - in dem Moment, da der unkalkulierbare Faktor ‚Liebe‘ ins Spiel kommt, jene Passion, mit der die Protagonistin - bei aller Klischeehaftigkeit ihrer Gefühle und Gefühlsäußerungen - erstmals eine gewisse individuelle Tiefendimension, Sinn auch für Zeitlichkeit und Endlichkeit der eigenen Existenz gewinnt; 77 auch hier entfaltet sich das ‚Ich‘ aus einem Geheimnis, das immer stärker zum Geständnis drängt. Radiguet verschiebt die bei Lafayette zentrale Bekenntnisszene an den offenen Schluss seines Romans; auch in Madame de - wenngleich der Text doch noch eine zumindest für die Titelheldin letale Wende nimmt - wird der aveu narrativ marginalisiert bzw. trivialisiert: Zuerst sich selbst, dann einander gestehen Mme de und der ‚ambassadeur‘ ihre Liebe; der Ehemann wiederum durchschaut „sans aveu“ und ohne sonderlichen emotionalen Aufruhr die Gefühlslage seiner Frau. 78 Wie schon bei Radiguet ist die Instanz, die diese Protagonistin an der Schwelle des ‚Ehebruchs‘ zögern lässt, nicht mehr das eigene Gewissen, der eigene hohe ethische Anspruch der Heldin Lafayettes (ob dieser sich nun - in diesem Punkt gehen die Interpretationen auseinander - einem inkorporierten strengen mütterlichen Über-Ich, einem spirituellen Impetus oder persönlichem Freiheitsstreben verdankt), sondern das Urteil der Gesellschaft: Wie Mahaut d’Orgel fürchtet auch Mme de primär „le regard d’autrui, plus que sa conscience“. 79 Beinahe zwangsläufig ist Vilmorins Figur ihrem Mann also schließlich ‚untreu‘; ohne jegliche Eifersucht verfolgt M. de, selbst Routinier der außerehelichen Galanterie, den vermeintlichen „jeu de coquetterie“ seiner Frau, die er ein für alle Mal als „incapable de faire un faux pas, incapable aussi d’éprouver de la passion“ kategorisiert hat, und spottet souverän über deren 76 Ibid.: 30. 77 Vilmorins Figuren bewegen sich in einem frei flottierenden Milieu ohne historische Verankerung, gleichsam befangen in einer Illusion ewiger Gegenwart. Signifikant die beinahe empörte Reaktion ihrer Umgebung, als Mme de - in einem wiederum an Lafayette gemahnenden kleinen Manöver - ihre ganz anders motivierten Tränen angesichts des neugeborenen Kindes ihrer Nichte mit einer melancholischen Meditation über Vergangenheit und Zukunft zu erklären versucht: „Ce n’est rien, ce n’est rien […] c’est ce nouveau-né, c’est la vision de l’avenir quand je regarde le passé“; der lautstarke Protest der anwesenden Herren, die sie mit herablassender Galanterie auf ihren Platz verweisen, lässt nicht auf sich warten: „Le passé! le passé! Vous, la beauté, vous la jeunesse même! Voyons, ne parlez pas de ce que vous ignorez […].“ Kurz darauf bemerkt Mme de, die in ihrer passion nun plötzlich auch den passé entdeckt hat, zu ihrem Mann: „Le passé existe dès qu’on est malheureux“ (ibid.: 36). 78 Coste/ Castells-Faucher 2000: 327. 79 Bonardel 2010: 78. <?page no="147"?> „… une arrière-petite cousine de La Princesse de Clèves“ 147 „soupirant“ 80 - in völliger Verkennung der existentiellen Erschütterung, die sich in der Gefühls- und Gedankenwelt seiner Gattin inzwischen vollzogen hat. „[…] elle ne se reconnaissait plus elle-même […]“, 81 heißt es über Lafayettes Protagonistin, verstört angesichts ihrer frisch entflammten Leidenschaft. Der Einbruch der Passion manifestiert sich auch bei Vilmorin als massive, geradezu metaphysische Krise eines plötzlich in seinen Grundfesten, ja seiner Einheit in Frage gestellten Subjekts. In der Passage des ersten unverhüllten Selbst-Eingeständnisses der Liebe häuft sich eine durchaus Lafayette’sche Lexik der violence: Tout à coup elle eut l’impression de n’avoir plus d’importance; elle se demanda ce qu’elle faisait sur terre et pourquoi elle vivait; elle se sentit perdue dans un univers qui n’en finit pas d’être; elle chercha sa raison de vivre et ne trouva en sa pensée qu’un visage. Son cœur s’alourdit du double poids de la présence et de l’absence et elle éprouva le plus violent désir d’être rassurée par un homme dont elle savait à présent ne plus pouvoir se passer. La force de ce désir et de son désir d’abandon, la subite violence aussi des aveux qu’elle se fit, emportèrent ses raisonnements et décomposèrent son personnage. 82 Dieser rasch außer Kontrolle geratenden Leidenschaft steht diese moderne Figur umso hilf- und ratloser gegenüber, als ihr der klare moralische Codex ihrer intertextuellen Vorgängerin fehlt, von deren dezentem religiös-spirituellen Fundament ganz zu schweigen. Auch wenn Coste und Castells-Faucher in Madame de Spuren eines „jansénisme sous-jacent“ ausmachen, 83 so hat sich der Anachronismus der Religion aus der Existenz dieser Figuren doch längst verflüchtigt; zwei verschiedene Welten und Epochen prallen im Gespräch zwischen der Protagonistin und ihrer ehemaligen Kinderfrau aufeinander, als erstere über ihren vagen, noch nicht eindeutig identifizierten (Liebes-)Kummer - quälendes Pharmakon gegen ein generalisiertes taedium vitae - klagt („Nourrice, je suis triste, mais plus rien ne m’ennuie. Il me semble que je suis protégée de l’ennui par un maillot empesé de chagrin. Comprends-tu cela? […] Comprends-tu cela? La vie prend beaucoup d’intérêt quand on se sent mourir“) und ihre Vertraute ihr mit ebenso wohlgemeinten wie absurden religiösen und lebenspraktischen Ratschlägen antwortet: „Je pense que tu as toujours eu des idées qui ne sont pas de ton âge […]. Ton vrai malheur c’est de n’avoir pas d’enfants et au lieu de t’étourdir, tu ferais mieux de prier. […] Tu es triste parce que tu es étourdie, répondit la nourrice, et elle lui cita plusieurs pèlerinages qui guérissent les femmes de la stérilité.“ 84 Mit Gebeten wie Wallfahrten weiß diese Protagonistin freilich nichts anzufangen; an die Stelle einer als obsolet verabschiedeten Spiritualität tritt, einer neuen Religion gleich, eben ihr Kult der Passion - nicht umsonst richtet die verzweifelte Heldin, für die „prier“ keine Lösung mehr ist, eine „lettre de prière“ 85 an ihren Geliebten, nachdem dieser sie im Stich gelassen hat. Ebenso wenig helfen auf Dauer die naiven psychohygienischen Maßnahmen, mit denen die alte Kinderfrau ihren erwachsenen Schützling zu therapieren versucht: 80 Vilmorin 1993: 23. 81 Lafayette 2014c: 415. 82 Vilmorin 1993: 24. 83 Coste/ Castells-Faucher 2000: 325. 84 Vilmorin 1993: 47f. 85 Ibid.: 60. <?page no="148"?> 148 Louise de Vilmorins Madame de Puis elle lui fit boire de la tisane, tapota ses oreillers, ouvrit les fenêtres, agita les rideaux pour changer l’air plus vite et emporta les bouquets de fleurs. - Dors, dit-elle, et demain cela ira mieux. 86 Aber nicht nur moralisch und philosophisch, sondern auch sozial erweist sich Mme de, „désœuvrée par l’amour“, in ihrer mondänen Untätigkeit, ihrer immer wieder unsicheren Realitätswahrnehmung 87 als leichtes Opfer einer auch hier schließlich verheerenden Passion, Anlass und zugleich Symptom einer umfassenderen Sinn- und Identitätskrise, die, gleichsam potenziert im Fall dieser fadisierten Dame der Gesellschaft, auch eine gender-spezifische Dimension besitzt; in bemerkenswert starker Lexik wird der Geliebte als jener „homme qui l’avait dépossédée d’elle-même“ 88 beschrieben. M. de wiederum setzt auf ein hypertrophiertes Klassenbewusstsein bzw. strategischen Snobismus als anachronistische Barriere gegen jene Krise des modernen Selbst. So kommentiert er „les dangers que l’on court en ne se mariant pas dans son milieu“, fungieren die „ancêtres“ doch trotz allem noch als „garantie“ auch der eigenen Identität: „Il me serait impossible à moi-même de savoir qui je suis si je ne connaissais pas mes parents et grands-parents“. 89 Aber längst ist diese Illusion dynastisch fundierter Identität, ist ein ganzes gesellschaftliches Koordinatensystem brüchig geworden; die Subjekte und Bedeutungen bleiben in Bewegung - ebenso die über Südamerika nach Europa zurückgereisten Brillant-Ohrringe, die Mme de eines Tages als Geschenk von ihrem Geliebten erhält. Um diese Gabe, paradigmatischer „cadeau performatif“, 90 wieder öffentlich tragen zu können, benötigt sie eine erneute Lüge, elaborierte kleine Fiktion in der Fiktion: „Permettez-moi de faire un mensonge puisque vous saurez la vérité“, fleht die Protagonistin, während sie, „avec tant de sincérité qu’il en eut les larmes aux yeux“, ihren „ambassadeur“ mit Liebesbezeugungen überschüttet; 91 die versprochene ‚Wahrheit‘ freilich ist nichts als eine weitere Lüge in dem komplexen Gespinst, in dem die Antiheldin sich verstrickt. Mit einer neuerlichen theatralischen Mini-Inszenierung für einen einzigen Zuschauer - ihren Ehemann - versucht sie das Wiederauftauchen des Schmucks zu legitimieren; jener nimmt ihn ihr allerdings ab und erklärt auf ihren Protest hin, den mittlerweile multiplen symbolischen Status der Herzen explizit bestätigend: „Si vous avez vos secrets, j’ai les miens […].“ 92 Und weiter zirkulieren die Brillanten - in einem „enchaînement […] assez peu vraisemblable“, das immer mehr zur „farce“ gerät 93 - durch den Text, jetzt aus den Händen des Ehemanns in die des Botschafters, den ersterer um Rückgabe des heiklen Zwillingsobjekts an ebenjenen Juwelier bittet. 94 86 Ibid.: 48. In dieser Passage wird ausgerechnet der alten Kinderfrau ein hier freilich weniger ‚hypnotisches‘ Echo jenes Kommandos zum Schlaf in den Mund gelegt, das - nach schließlich erfolgtem aveu - am Ende von Radiguets Bal du Comte d’Orgel der eponyme Protagonist seiner Frau erteilt (1986: 207). 87 Vilmorin 1993: 26. 88 Ibid.: 38. 89 Ibid.: 47. 90 Bonnot 2006. 91 Vilmorin 1993: 27. 92 Ibid.: 29f. 93 Bonnot 2006. 94 Vilmorin 1993: 31. <?page no="149"?> „… une arrière-petite cousine de La Princesse de Clèves“ 149 Das Spiel mehrfacher Lügen und doppelbödiger Wahrheiten geht damit in die nächste Runde. Ein drittes Mal kauft M. de die Brillantherzen zurück und macht sie seiner Frau erneut - nun schon in der Intention, ihr eine Lektion zu erteilen - zum zynischen Geschenk: „Vous avez, par vos mensonges, transformé ce bijou en source de dépit; j’en éprouve de la colère et vous serez punie.“ 95 Als ‚Strafe‘ befiehlt ihr der erzürnte M. de, die Herzen unverzüglich seiner Nichte - nach der Geburt des ersten Sohnes im Wochenbett - zu schenken; dergestalt reklamiert er die Liebesgabe von einst als „bijou de famille“ und führt seiner Frau zugleich betont die Beliebigkeit und Austauschbarkeit auch ihrer Leidenschaft vor Augen, verschließt ihr das Schmuckkästchen ihrer heimlichen Passion: […] sans rien dire, elle remit les diamants à leur place et referma l’écrin. M. de appuya sa paume sur le couvercle. - Voilà, c’est fait, dit-il, vous n’y toucherez plus. 96 „Étouffée de chagrin, de honte et d’amour“, nimmt Mme de das ihr auferlegte ‚Martyrium‘ auf sich (der Familienbesuch erscheint in ihren Augen als „une de ces épreuves que le ciel demande aux saintes de traverser“: in derartigen Formulierungen wird die Distanz zwischen dem moralischen Mikrokosmos der Princesse und dem Parcours dieser trivialisierten modernen Heldin immer wieder aufs Neue deutlich); gehorsam gibt sie, „[l]e cœur désolé“, die Herzen aus der Hand. 97 Bald darauf bittet freilich besagte Nichte in finanzieller Not Mme de um diskreten Rückkauf des Schmucks: Ein weiteres Mal wandert dieser retour zum vertrauten Juwelier, 98 in dessen konkreter und metaphorischer Boutique die narrativen Fäden der Schicksale der aristokratischen Protagonisten zusammenbzw. über Kreuz laufen. Längst ist zu diesem Zeitpunkt der symbolische Status der durch den Text, von Figur zu Figur und sogar von Kontinent zu Kontinent reisenden Brillantherzen klar - gerade im Kontrast zu Lafayette. Gewiss ist auch den Helden der Princesse der Wunsch, ein materielles ‚Pfand‘ der Liebe zu besitzen, nicht fremd; auch dieser insgesamt so abstrakte Text kennt jene kleinen Fetischobjekte der Passion, die hier allerdings - im Unterschied zu den zwar unzweifelhaft identifizier-, aber doch austauschbaren Schmuckstücken in ihrer anonymen Kostbarkeit bei Vilmorin - von vornherein individualisiert, mit höchst persönlicher, nicht so ohne Weiteres im Rahmen einer anderen Liaison ‚konvertibler‘ amouröser Bedeutung aufgeladen sind: Dies gilt für das von Nemours entwendete Porträt der Princesse wie für das Gemälde, das diese in der nächtlichen Einsamkeit von Coulommiers betrachtet; dies gilt für die suggestive „canne des Indes“ wie für die farbigen Bänder, mit denen die Princesse Nemours’ raffiniertes Liebesbekenntnis ex negativo fortflicht. 99 Im Gegensatz dazu fungieren die transparenten Brillanten Vilmorins als Konzentrat der Trivialität und prinzipiellen Auswechselbarkeit - der Herzen, der Worte, der Liebesobjekte -, bei allem Kitschfaktor universell recycelbare, willkürlich verkauf- und verschenkbare Passepartout- und gelegentlich auch Alibi-Passionssymbole, von Anfang an eingeschrieben bzw. 95 Ibid.: 35. 96 Ibid.: 35f. 97 Ibid. 98 Vgl. ibid.: 50ff. 99 Lafayette 2014c: 451. <?page no="150"?> 150 Louise de Vilmorins Madame de einkalkuliert in eine doppelte amouröse wie finanzielle Ökonomie; 100 ist Geld im Text Lafayettes niemals ein Thema, so sind es bei Vilmorin die heimlichen Schulden der ‚Princesse‘, die die transkontinentale Zirkulation jener beiden Herzen samt in der Folge akkumuliertem Lügen-Negativkapital überhaupt erst eröffnen. Die durch akuten Finanzbedarf motivierte Geste des ersten Verkaufs, weiter durch den Text kopiert, partizipiert auch an einer spezifischen Ordnung der Geschlechter: Wiederholt sind es weibliche Figuren, die, epochen- und milieubedingt ohne autonome wirtschaftliche Existenz, jene Brillanten, ihnen als - ‚echtes‘ (vom Botschafter an Mme de) oder ‚falsches‘ (von M. de an seine ‚belle Espagnole‘) - Liebesgeschenk überreicht, aus Geldnot in jenes doppelte ökonomische System re-integrieren. Bereits bei Lafayette erscheinen, wie Ralph Albanese betont, etwa die gleichermaßen mit dem hyperbolischen Attribut „incomparable“ beschriebenen Figuren des Nemours und des Vidame de Chartres auf den zweiten Blick „in fact, essentially interchangeable“; 101 in Vilmorins moderner Princesse wird jene ‚Unvergleichlichkeit‘ definitiv devalorisiert. Nicht umsonst demonstriert der erboste Ehemann seiner Frau in Form der ihr auferlegten Strafe mit intendierter Grausamkeit die Austauschbarkeit nicht nur dieser, sondern sämtlicher im Text kursierenden konkreten und metaphorischen ‚Herzen‘. Symptomatisch die Empörung des Neo-Nemours, als er erfährt, dass jene Diamanten, die er als personalisiertes Symbol einer vermeintlich einzigartigen Passion seiner Geliebten schenkt („Voyez ces deux cœurs […] ce sont les nôtres“ 102 ), schon eine lange und verwickelte Vorgeschichte in deren eigener Biografie haben; auch ihm führen die beiden Schmuckstücke die Zitathaftigkeit, die skandalöse Promiskuität amouröser Erlebnisse und Erinnerungen in all ihrer drastischen Brillanz vor Augen: […] il ressentit une vive douleur et beaucoup d’amertume de la manière dont M me de s’était comportée envers lui. […] surtout il ne lui pardonnait pas d’avoir accepté de lui, en gage de sa ferveur, un bijou qu’elle avait autrefois reçu de son mari, un bijou qui devait lui rapporter l’écho de ses premières amours, des premières faveurs qu’elle avait accordées et des premiers secrets de sa vie conjugale. Il éprouva le ridicule de sa situation; il y vit une insulte et de la moquerie et il sentit son cœur se vider de tout amour à la certitude que M me de n’aurait pas répugné à mêler leurs souvenirs à eux, à d’autres souvenirs dont la pensée le blessait. 103 Mit diesem Missverständnis und dem folgenden Zerwürfnis zwischen Mme de und dem Botschafter - und nicht etwa mit aveu und Eifersucht des Ehemannes - nimmt auch diese Liebesgeschichte einen fatalen Verlauf. Diese Protagonistin verzweifelt allerdings nicht an einem moralischen Dilemma, sondern daran, dass ihr ‚Nemours‘ sich nach ihrem scheinbaren Verrat trotzig von ihr abwendet. Das mehrfache Versteckspiel geht auf anderer Ebene weiter: Nicht mehr die Passion, sondern deren Absenz gilt es nun zumindest auf Seiten des Mannes zu camouflieren; aus Courtoisie ist der Geliebte - und Nicht-mehr-Liebende - trotz seines 100 „Au-delà de la métaphore (l’amour comme métaphore de l’argent? l’argent comme métaphore de l’amour? ), Louise de Vilmorin associe étroitement la question sentimentale et la question économique“, betont auch Coste (2012); eine reine „lecture psychologique“ laufe insofern Gefahr, die essentielle „dimension matérielle, économique et sociale de ce roman qui ne sépare jamais valeur morale et valeur fiduciaire“ zu verfehlen. 101 Albanese 1992: 93. 102 Vilmorin 1993: 27. 103 Ibid.: 32. <?page no="151"?> „… une arrière-petite cousine de La Princesse de Clèves“ 151 „changement de sentiments“ 104 bemüht, in der Öffentlichkeit seine etablierte Kavaliersrolle aufrechtzuerhalten - die Liebe freilich, die sich hinter der Maske der Galanterie verbarg (sich kontrastiv ihrer eigenen ‚Authentizität‘ vergewissernd), hat sich verflüchtigt. Irritiert beobachtet indessen M. de den tristen, allmählich sein eigenes Prestige bedrohenden Zustand seiner Frau; ist es nach den Spielregeln des Milieus akzeptabel, ja erfreulich pikant, „que tout le monde vît l’ambassadeur mourir d’amour aux pieds de M me de “, so stellt der „plus petit indice de dépit amoureux“ von Seiten der verheirateten Dame eine subtile Transgression dar. In Umkehrung der Konstellation der Princesse de Clèves ist es hier denn auch der Ehemann, der seine Frau zum temporären Rückzug aus der Gesellschaft bzw. auf ihre Weigerung hin zur mondänen Praxis der dissimulation auffordert: „[…] faites effort sur vous-même […] et puisque vous savez mentir, sachez aussi dissimuler.“ 105 Nach einem Monat der „réclusion“ und der „profondes douleurs“ hat sich die Verfassung der Mme de dramatisch verschlechtert; gleichwohl zwingt sie ihr primär auf die Wahrung seiner Reputation bedachter Ehemann zur Teilnahme an einem Ball - wieder huscht das Gespenst Radiguets durch den Text -, dem sie, die Brillantherzen am Ohr, in „sa beauté dernière“ beiwohnt. Die Diskordanz zwischen Wort und Geste - einem ganzen Code der Galanterie - einerseits und sorgsam kaschierten Gefühlen andererseits erreicht auf ebendiesem Ball einen für die Protagonistin unerträglichen Höhepunkt in dem Moment, da der ehemalige Verehrer seinen höflichen Handkuss mit den leise geäußerten mörderischen Worten „Je ne vous pardonnerai jamais“ begleitet. 106 Es folgt das beinahe unwillkürliche „renoncement“ auch dieser Nachfahrin der Princesse: „M me de […] renonça presque sans le savoir à toute vie et toute envie.“ 107 Diese stets lediglich re-agierende, von Anfang bis Ende getriebene Figur leistet keinen bewussten, reflektierten Verzicht im Namen der Pflicht oder des repos; von ihrem Geliebten verlassen, vegetiert sie passiv ihrem Ende entgegen, ohne jemals jene persönliche Souveränität und auch sozioökonomische Autonomie zu erlangen, die Mme de Clèves als tugendhafte junge Witwe fern des Hofes in ihrer „vie […] assez courte“ 108 doch immerhin noch erlebt. Wie erwähnt darf neben der aveu-Szene eben der Schluss der Princesse als literarischer wie ideologischer ‚Lackmustest‘ moderner und postmoderner Re-Interpretationen gelten; an dieser Stelle zeigt sich denn auch in aller Deutlichkeit noch einmal der ästhetische wie ideologische Konservativismus der réécriture Vilmorins, die hinsichtlich des hier vermittelten Subjektbegriffs und vor allem Frauenbildes weit hinter die Modernität des klassischen Prätexts zurückfällt. Am Ende steht nicht wie bei Lafayette der selbstbestimmte Rückzug der Protagonistin - bei aller Ambivalenz auch ein Akt weiblicher Freiheit -, sondern der in ihrem Milieu und ihrer Epoche deplatzierte Liebestod einer verlassenen Frau, in deren grenzenlos trivialer Existenz der schließlich tödliche Einbruch der Passion die einzige flüchtige Manifestation womöglich trügerischer Transzendenz gewesen sein wird. 104 Ibid.: 39. 105 Ibid.: 40. 106 Ibid.: 59. „Je ne vous pardonnerai jamais“: Bei Ophuls wandert dieser Satz - den Brillant-Ohrringen gleich - ein Stück weiter durch den Plot; hier spricht ihn die Heldin selbst in dem Moment aus, da ihr Ehemann sie zwingt, besagten Schmuck zu verschenken (Madame de…: 01: 21: 19-01: 21: 21). 107 Vilmorin 1993: 59f. 108 Lafayette 2014c: 478. <?page no="152"?> 152 Louise de Vilmorins Madame de Einen verzweifelten letzten Brief - auch das Motiv jenes durch die gesamte Historie der Princesse-Variationen fortgeschriebenen Liebesbriefs taucht hier wieder auf - verfasst die Protagonistin, den sie im Morgengrauen selbst zum Domizil des Geliebten bringt: „Dès le lendemain M me de se mourait.“ 109 Von Anfang an fremdbestimmt, in sozialen Konventionen und zusehends in ihren eigenen Lügengespinsten gefangen, sehr viel weniger souverän als ihre intertextuelle Vorfahrin, wird diese moderne Princesse niemals zur ‚Autorin‘ ihrer eigenen Lebensgeschichte. Auch und erst recht im Tod noch überaus dekoratives Objekt, wird sie ein letztes Mal dem voyeuristischen Blick der beiden männlichen Antagonisten dargeboten; bildet dieses Finale einen radikalen Gegensatz zum Text Lafayettes, so ähnelt es zugleich frappierend der Schluss-Szene von Delannoys filmischer Princesse-Erstadaption, die dem Text Vilmorins manches Ko-Inspirationsmoment zu verdanken scheint. Am Sterbebett ihrer Protagonistin führt Vilmorin ihren Nemours-Wiedergänger und den Ehemann zusammen: „M me de gisait aux frontières de sa beauté prochaine. Les deux hommes restèrent immobiles face à face, de chaque côté de son lit, les yeux baissés vers elle […].“ 110 Die Autorin schickt ihre unglückliche Heldin allein in den Tod: Im Unterschied zur Princesse bleibt nicht nur der Geliebte, sondern auch der Ehemann am Leben; 111 beider männliche Solidarität setzt sich schließlich über alle punktuellen Rivalitäten hinweg. Am Ende von Vilmorins Roman steht wiederum - wie könnte es anders sein - jenes Paar Brillant- Ohrringe, die nun erstmals feierlich aufgeteilt und damit kommerziell devalorisiert werden: „Elle est morte, prenez ce cœur qu’elle vous donne […]“, erklärt der Witwer dem Geliebten seiner Frau. Doch auch der finale Liebesakt des „ambassadeur“, der sich dieses zur „relique“ überhöhte Herz 112 an goldener Kette um den Hals schmieden lässt - dies bei ebenjenem „bijoutier“, durch dessen Hände die Herzen schon wiederholt gegangen sind 113 -, gerät zur wider Willen pathetischen Geste, hilf- und letztlich sinnloser Versuch des Widerstands gegen die Kontingenz der Welt im Allgemeinen und die Beliebigkeit der vermeintlich absoluten Passion im Besonderen, 114 gegen die Dynamik einer doppelten Ökonomie, in der von Beginn 109 Vilmorin 1993: 60. 110 Ibid.: 61. 111 Es ist bemerkenswert, dass Regisseur bzw. Drehbuchautoren der Filmversion in ebendiesem Punkt zu einer sentimentalen Korrektur schreiten: Coste/ Castells-Faucher übertreiben zwar ein wenig, wenn sie den Kinogatten in die Position eines gerade noch rechtzeitig seine ‚wahre Liebe‘ für seine Frau gestehenden „nouveau Prince de Clèves“ hineinwachsen sehen (2000: 327), doch in der Tat widerfährt der Figur eine hinsichtlich ihrer Plausibilität diskutable abrupte Metamorphose. Zunächst ganz zynischgalanter Lebemann - „Je vous envie. Vous paraissez très heureuse“, kommentiert der General den Zustand seiner akut verliebten Frau (Madame de…: 41: 07-41: 10) -, erklärt der Protagonist sich plötzlich für dieser seiner Rolle sowie einer lediglich auf „camaraderie“ und „gaieté“ (ibid.: 01: 26: 26-01: 26: 28) basierenden mondänen Ehe überdrüssig und fordert seinen Rivalen unter einem Vorwand zum Duell, das letzterer, sich bewusst, damit quasi seinen „suicide“ zu begehen (ibid.: 01: 29: 51-01: 29: 56), höchstwahrscheinlich nicht überlebt - wie transparent suggeriert, aber (durchaus im Sinne der klassischen Poetik) nicht gezeigt wird; ebenso wenig wie der Tod der Heldin, die zuvor noch, um das Leben des Geliebten betend, die fatalen Juwelen in einer Kirche deponiert. Auch dieser Eintritt „dans l’univers du sacré“ (Bonnot 2006) entbehrt nicht des - längst brüchigen - Pathos und der - nicht unbedingt restlos intendierten - Komik, wenn die Protagonistin zu „ma petite sainte chérie“ fleht (Madame de: 01: 31: 18-01: 32: 02). 112 Bonnot 2006. 113 Vilmorin 1993: 61. 114 „Dans une atmosphère de dégradation généralisée, la romancière et ses personnages font en quelque sorte de la résistance“, notiert auch Coste (2012). <?page no="153"?> „… une arrière-petite cousine de La Princesse de Clèves“ 153 an in den konvertiblen Währungen Liebe und Geld parallel gehandelt wird. 115 Vilmorins Text klingt denn auch nicht mit der Beschwörung dieser ‚ewigen‘ Passion aus, sondern bereits mit deren Demontage: Der letzte Satz des Romans gilt dem durchaus tröstlichen Witwer, der, etikettebewusst auch am Totenbett seiner Frau, sogleich standesgemäße Trauerkleidung bestellt. 116 Vom ersten Satz - pseudo-klassische Maxime über die Liebe - bis zu diesen prosaischen Trauertextilien, in die der syntaktische Schlussfaden des Textes verwoben wird, wird Madame de dergestalt trotz aller Ausflüge auf das Terrain eines kitschig-sentimentalen Liebesdiskurses als möglicherweise auktorial nicht als solches intendiertes Narrativ einer Desillusion lesbar. Der melodramatische Tod dieser Antiheldin ist nicht mehr ‚tragisch‘, sie selbst eine schwache, in mehrfacher Hinsicht degradierte Kopie ihrer intertextuellen Vorfahrin, das hier geschilderte Milieu - mondäne Simulakrenwelt - nur mehr ein ferner Schatten des Lafayette’schen Königshofes. „Pour les romanciers modernes, la fin de La Princesse n’est pas d’‚actualité‘“, stellen Coste und Castells-Faucher fest. 117 Gibt Louise de Vilmorin mit dem Finale ihrer Madame de implizit eine negative Antwort auf die Frage nach der ‚Aktualität‘ der Princesse? Es möchte scheinen, dass das Gegenteil der Fall ist. Gewiss illustriert diese trivialisierte Passionsgeschichte plastisch, dass die Princesse de Clèves in der modernen Society dezidiert fehl am Platze wäre - und dass selbst ihrer schwachen Nachfahrin nur mehr in Schönheit zu sterben übrig bleibt. Doch eben durch seinen Bezug auf die Kontrastfolie des klassischen Prätexts entfaltet Vilmorins Roman - Reflexion nicht zuletzt über die Konzepte Ehe, Liebe, Moral, über menschliche Subjektivität, Gesellschafts- und Geschlechterordnung im Wandel der Zeit - eine zusätzliche Bedeutungsdimension; im Spiegel der - gerade in ihrer Fremdartigkeit nach wie vor höchst aktuellen - Princesse wird es hier möglich, spezifisch moderne Problematiken kritisch in den Blick zu nehmen, ein diffuses Unbehagen in der Kultur in romanesker Form zu artikulieren. Frappant bleibt jedenfalls die - auch im Kontext der Epoche zu situierende - konservative Ästhetik und ideologische Tendenz der oberflächlich modernisierenden réécriture Vilmorins ebenso wie der historisierenden Princesse-Adaption Delannoys, die diese beiden Werke, entstanden respektive Anfang der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre, gerade hinsichtlich der Konzeption, aber auch der narrativen/ filmischen Inszenierung der weiblichen Hauptfigur besonders stark vom Lafayette’schen Prätext und der Version Radiguets einerseits, von späteren postmodernen réécritures und Adaptionen andererseits unterscheidet. 115 Insofern ist Coste und Castells-Faucher nicht zuzustimmen, wenn sie - punktuell ihrerseits einer stereotypen Opposition von „mondanité“ vs. „vraie vie“ und einem klischeehaften Topos der „passion“ verpflichtet - in Bezug auf Radiguets wie Vilmorins réécritures konstatieren: „[…] la mondanité laisse la place à l’apprentissage de la vraie vie: la découverte de la passion rachète une existence sans idéal, frappée d’inconsistance“ (2000: 322). 116 Vgl. Vilmorin 1993: 62. 117 Coste/ Castells-Faucher 2000: 326. <?page no="154"?> 154 Louise de Vilmorins Madame de *** Im nächsten Schritt dieser Annäherung an diverse moderne und postmoderne Re- Interpretationen der Princesse soll nun ein etwas eingehenderer Blick auf einen Text geworfen werden, der, zuerst im Jahr 1959 - und damit nur acht Jahre nach Vilmorins Roman, zwei Jahre vor Delannoys filmischer Erstadaption - erschienen, zu beider ideologischem Konservativismus in aufschlussreichem Kontrast steht, aber auch - in überarbeiteter Fassung im Jahr 2001 und damit mitten in einer Phase erneut intensivierter produktiver Princesse-Rezeption neu herausgebracht - den direkten Brückenschlag zu den in der Folge zu analysierenden zeitgenössischen réécritures erlaubt: Jacqueline Harpmans Roman Brève Arcadie. <?page no="155"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“: Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Littérairement, Madame de Lafayette est ma mère. 1 Il fallait à tout prix éviter la rue La Fayette […] 2 Le chef-d’œuvre, une fois là, est aussi un obstacle. D’où ce sentiment de découragement (il est trop tard et tout est déjà dit) qui accompagne les lettres depuis leur origine. 3 Mon professeur de français […] m’a dit, des décennies plus tard, que plagier est la meilleure façon d’apprendre à écrire: j’ai été très fière d’avoir trouvé cela toute seule. 4 „J’étais, au départ, terriblement classique et d’un classicisme qui, au fond, me stérilisait“, erklärt die Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Jacqueline Harpman 1992 in einem Interview zu ihren allzu ‚klassischen‘ Anfängen; auf die Rückfrage „Qu’entendez-vous par classicisme? “ präzisiert sie: „La Princesse de Clèves, le roman ultra-pur, ultra-linéaire, le roman d’analyse, Benjamin Constant et le dix-neuvième siècle.“ 5 Tatsächlich steht der erste publizierte Roman der Autorin, Brève Arcadie aus dem Jahr 1959, ganz im Zeichen der Princesse de Clèves; in einer Schlüsselpassage wird der intertextuelle Bezug explizit hergestellt, doch weit darüber hinaus sind Personenkonstellation und Handlung, aber auch Stil und ethische Grundproblematik offenkundig von Lafayette inspiriert. Der im Erscheinungsjahr mit dem Prix Victor Rossel, dem höchsten belgischen Literaturpreis, ausgezeichnete Roman 6 wird von der zeitgenössischen Kritik als „Nouvelle Princesse de Clèves“ denn auch sogleich in dieser Traditionslinie situiert; 7 zur Jahrtausendwende - vor dem Hinter- 1 Harpman 1994b, zit. nach Outers 2014: 31. 2 Harpman 1998: 545f. (Der topografischen Präzision halber: Die Rede ist in besagter Passage von der nach dem Marquis de La Fayette benannten Straße im 9. und 10. Pariser Arrondissement; klar genug freilich dennoch die poetologische Ironie, die hier im Kontext von Harpmans intensiver Lafayette- Rezeption mitschwingt.) 3 Schlanger 2008: 90. 4 Coudray 2004a: 86. 5 Andrianne 1992; vgl. auch Mingelgrün 2004: 201. Auf ebendiese - und ein paar weitere - prägende Prätexte ihres Schaffens verweist Harpman auch in folgender Reflexion über ihre zahlreichen literarischen ‚Vorfahren‘: „J’ai adoré, pour le versant classique, La Princesse de Clèves, Adolphe, Le Diable au corps. Pour le versant baroque, Proust, Balzac. Entre les deux, je place Stendhal, qui est mon père et ma mère en écriture, bien que je ne lui ressemble pas plus que certains enfants à leurs parents! “ (Ghysen 1992, zit. nach Outers 2014: 16). 6 Vgl. Paque 2003: 23. Bei einem breiteren Publikum stieß der Erstlingsroman einer noch völlig unbekannten Autorin nicht auf allzu große Resonanz (vgl. ibid.: 47); dem gegenüber steht die durchwegs sehr positive literaturkritische Rezeption: Charles Spaak etwa, voll des Lobes für dieses „petit chefd’œuvre“ (zit. ibid.: 23), situiert den Roman - höchste Auszeichnung in seinem Munde - „dans la lignée du ‚singulier Benjamin‘“ (i. e. Constant) (ibid.: 24) und damit auch der Princesse de Clèves. 7 Vgl. etwa Kiesel 1959; siehe dazu allgemein das Dossier „Repères biographiques“ in Harpman 2004a: 212-219, hier 215; Paque 2003: 47ff. Speziell auf Harpmans „nouvelle ‚Princesse de Clèves‘“ verweist auch noch der Nekrolog der Libre Belgique („Jacqueline Harpman est décédée“, 24.05.2012). <?page no="156"?> 156 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie grund einer Phase erneut intensivierter produktiver Princesse-Rezeption - wird Brève Arcadie in einer von der Autorin überarbeiteten Version neu aufgelegt. 8 Am Anfang einer literarischen Karriere fungiert hier das klassische Vorbild als intertextuelle Initialzündung; geradezu paradigmatisch illustriert Brève Arcadie die Geburt einer postmodernen (ré-)écriture aus der Auseinandersetzung mit dem Kanon - und spezifisch den palimpsestartigen Charakter der produktiven Rezeptionsgeschichte der Princesse de Clèves: Baut Raymond Radiguet - Jean Cocteaus berühmtem Diktum zufolge - seinen literarischen „chevalet“ vor dem Modell Lafayettes auf, so prangt vor Harpmans Staffelei neben der Princesse auch schon der Bal du comte d’Orgel. „Les mots ont une grande puissance“, heißt es bei Radiguet; 9 „La puissance des mots est toujours plus grande qu’on ne croit“, bestätigt Harpman, deren Roman aus einer multiplen hypotextuellen Matrix hervorgeht und den Prozess der eigenen Genese zugleich auf metaliterarischer Ebene reflektiert. 10 Literatur und Psychoanalyse: Aspekte einer doppelten Karriere Je pense, donc je suis, était une erreur, il fallait dire „Nous pensons, donc nous sommes, et c’est bien difficile“. 11 Nous n’aimons pas tellement les pères, dans la famille. Ils meurent tôt et laissent des situations difficiles. Autant s’en passer. 12 Die Entstehungs- und Publikationsgeschichte dieses so überaus klassischen - und dabei doch schon postmodern gebrochenen - Debütromans, der in dichter Konzentration bereits sämtliche in späteren Texten Harpmans entfalteten Problematiken enthält, 13 ist einige knappe Anmerkungen wert. Jacqueline Harpmans literarische Laufbahn beginnt unter recht speziellen Umständen: Als Medizinstudentin an Tuberkulose erkrankt, verbringt sie 1950- 1951 gezwungenermaßen 21 Monate im Sanatorium von Eupen. Dort vertreibt Harpman sich 8 Vgl. die zitierte Re-Edition 2001 bei den Brüsseler Éditions Labor. 9 Radiguet 1986: 171. Auch Radiguet selbst - legendäre Figur - geistert weiter durch Harpmans Œuvre: In Les Bons Sauvages - in ihrer Reflexion über die heikle Position der Literaturwissenschaftlerin gegenüber einem derartigen Text, selbst „déjà saturé d’analyse“, stellt Paque (2000: 307f.) explizit den Konnex zu Le Bal du comte d’Orgel her - wird der junge Louis Martin, der - „écrivain […] rebelle à sa vocation“ und im Übrigen „fort étonné d’apprendre qu’il a fait un des dix ou douze chefs-d’œuvre de ce genre court et cruel qu’est le roman d’analyse français“ - mit seinem Erstlingswerk einen unverhofften Bestseller lanciert, von einer enthusiastischen Kritik als „nouveau Radiguet“ bzw. wiederauferstandener Rimbaud gefeiert (Harpman 2000: 203ff.). In Le Bonheur dans le crime amüsiert eine unkonventionelle Urgroßmutter, zu ihrer Zeit Championne des galanten Ehebruchs, ihre Nachkommen mit ihren Erzählungen aus den années folles, „récits de robes en surah, de jazz-band, de Bugatti et de charleston, où Radiguet faisait scandale entre Le Bœuf sur le toit, le Péril jaune et Landru à peine guillotiné […]“ (2004b: 78). 10 Nicht umsonst wurde die Rolle des Schlüsselworts entre in Harpmans Werk betont (Blanckhaert 2013: 111): Von vornherein entfaltet sich dieses Schreiben in einem intertextuellen Zwischenraum (vgl. dazu auch Blanckhaert 2009). 11 „Une hypothèse psychanalytique sur la création littéraire“, in Harpman 2011: 87-99, hier 88. 12 Harpman 2005b: 1960f. 13 „Ce premier roman fait figure d’anticipation à bien d’autres égards“, bemerkt Paque (2003: 51). <?page no="157"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 157 die Zeit mit intensiver Lektüre - und fängt bald selbst ernsthaft an zu schreiben. 14 Noch im Sanatorium vollendet sie einen - niemals publizierten - ersten Roman (Les Jeux dangereux). 15 Nachdem sie aus gesundheitlichen Gründen ihr Medizinstudium definitiv aufgegeben hat, 16 wendet sich Harpman ab 1954 für einige Jahre hauptberuflich der Literatur zu; 1958 publiziert René Julliard, Entdecker und Mentor der jungen Autorin, die Novelle L’Amour et l’Acacia - und fordert freundlich einen Roman ein. Es darf als bezeichnendes Moment literarhistorischer Ironie gelten, dass „le très classique Brève Arcadie“ 17 seinen Status als Harpmans offizieller Debütroman eben der Schwierigkeit der ‚Einschreibung‘ in einen schon allzu gut bedienten, von einer regelrechten „avalanche de papier imprimé“ 18 heimgesuchten Literaturmarkt verdankt: Die Publikation ihres noch vor Brève Arcadie fertiggestellten „vrai premier roman“ 19 L’Apparition des esprits - „comme beaucoup de premiers romans“ in der ersten Person Singular verfasster 20 „[r]oman d’initiation“, 21 dessen Titel wiederum einen transparenten Bezug zur französischen Klassik etabliert 22 - wird von Julliard „pour des raisons de stratégie“ verschoben, 23 da die Thematik mit zwei anderen „romans de femmes qui font du bruit“ (konkret Françoise Sagans Bonjour tristesse und Françoise Mallet-Joris’ Le Rempart des béguines) bereits stark vertreten ist; 24 L’Apparition des esprits erscheint schließlich 1960. 14 „J’écris depuis toujours“, berichtet die etablierte Schriftstellerin später (zit. nach Outers 2014: 16) - und blickt ironisch auf ihre prä-literarischen Anfänge zurück: „J’ai commencé mon premier roman […] à onze ans […]. À treize ans […] j’ai rédigé les projets des romans que j’écrirais quand je serais grande et que j’aurais acquis la maturité d’esprit nécessaire. […] Entre quatorze et seize ans, j’ai écrit une pièce de Marivaux - en moins bon - une nouvelle de Poe - en moins bon - un roman de Colette - en moins bon. Je n’étais, clairement, pas du genre précoce. Mais j’ai continué. […] Je suis une preuve vivante que l’obstination paie puisque à trente ans j’ai quand même fait quelque chose qu’un éditeur a jugé propre à être publié“ (Coudray 2004a: 85f.). Die hier in eigener Sache reflektierte allmähliche Kristallisation eines auktorialen ‚Ich‘ auf dem Umweg über Imitation und Pastiche erscheint als Leitmotiv der Harpman’schen Poetik überhaupt: „À un moment donné, j’ai senti quelque chose en gestation qui était… ‚moi‘. Les idées et la façon de les dire m’appartenaient et n’étaient plus des imitations des écrivains que j’aimais“ (zit. nach Outers 2014: 16). 15 Vgl. Harpman 2004a: 214f. (Dossier); Paque 2003: 21. 16 Dieses unvollendete Studium hat seine unüberlesbaren Spuren in Harpmans belletristischem Œuvre hinterlassen, das von entschieden überdurchschnittlicher medizinischer Expertise zeugt: In etlichen Harpman-Texten sticht die deskriptive Präzision und medizinhistorische Plausibilität diverser Krankheits- und Todesszenarien ins Auge. Dies gilt, im Gegensatz zur bis in den Tod höchst abstrakten Körperlichkeit der Figuren Lafayettes - „Ce sont de curieux héros qui périssent tous de sentiment et vont chercher des maladies mortelles dans des passions contrariées“, bemerkt Albert Camus (1943, zit. nach Laugaa 1971: 254) -, für die Angina pectoris des Prince de Clèves-Wiedergängers in Brève Arcadie ebenso wie für das vielfältige physio- und psychopathologische Panorama in La Plage d’Ostende aus dem Jahr 1991 (Harpman 1993). 17 Paque 2013: 92. 18 „C’est quoi, écrire? “, in Harpman 2011: 43-56, hier 45. 19 Lambert 2013: 170. 20 „Je, Il, Elle…“, in Harpman 2011: 73-86, hier 73. 21 Paque 2003: 24. 22 Als Motto stellt Harpman ihrem Roman (2005a) La Rochefoucaulds Maxime Nr. 76 voran: „Il en est du véritable amour comme de l’apparition des esprits: tout le monde en parle, mais peu de gens en ont vu“ (vgl. La Rochefoucauld 2005). 23 Harpman 2011: 73 („Je, Il, Elle…“). 24 Paque 2003: 23. <?page no="158"?> 158 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Auf die enttäuschende Non-Rezeption ihres vom Verlag recht halbherzig vermarkteten dritten Romans Les Bons Sauvages aus dem Jahr 1966 (Harpmans Förderer Julliard ist mittlerweile verstorben, sein Nachfolger Christian Bourgeois setzt andere Akzente) 25 folgt eine beinahe zwanzigjährige Pause in der literarischen Tätigkeit der Autorin, die nun einen anderen intellektuellen Weg einschlägt, „parce qu’elle croyait n’avoir plus rien à dire et surtout parce qu’elle s’engage dans la perspective d’une voie nouvelle, la quête de ‚la réponse exacte‘: ce sera la psychanalyse“. 26 Harpman studiert Psychologie, absolviert von 1971 bis 1977 ihre Lehranalyse, praktiziert als Psychoanalytikerin (kleinianischer Obedienz) und publiziert in der Revue belge de psychanalyse. 27 Am 14. Juli 1985 - von Harpman selbst für ihre ‚Legende‘ fixiertes Datum - beginnt „cette romancière à double détente qui vit deux fois son talent s’embraser“ 28 nach fast zwanzig Jahren Abstinenz wieder zu schreiben. 29 „Sommes-nous en présence d’une ou de deux carrières? d’un faux puis d’un vrai démarrage? “, fragt sich Jeannine Paque 30 nach der schöpferischen Dynamik hinter diesem überraschenden Neustart. In nur zwei Wochen vollendet die Schriftstellerin einen ersten Entwurf des Romans La Mémoire trouble, der, 1987 bei Gallimard erschienen, „par un jeu subtil sur le temps“ 31 ihre zweite Schaffensphase eröffnet; auch wenn Harpmans „retour à l’écriture“ sich ebenso wie ihr erstes Debüt in eher diskretem Rahmen abspielt, 32 bleibt ihre literarische Produktion ab diesem Zeitpunkt bis zu ihrem Tod im Mai 2012 ebenso intensiv wie konstant. 33 Wider die Melancholie des postmodernen Dichters: Vom Klassizismus zum Karneval […] peut-être la vérité n’a-t-elle pas d’époque. 34 Une maille sauta dans l’étrange tricot du temps, l’espace s’y engouffra, créant d’imprévisibles distorsions. 35 Jeannine Paque betont die beträchtliche intratextuelle „cohésion“ des Harpman’schen Œuvres vor und nach jener langen Kreationspause; mit wenigen Ausnahmen (insbesondere La Fille démantelée (1990), „le livre libérateur qu’autorisent sans doute la fin de l’analyse didactique et la mort de la mère“, sowie Moi qui n’ai pas connu les hommes (1995), „à la limite de la science- 25 Ibid.: 27. 26 Ibid. 27 Vgl. Harpman 2004a: 216f. (Dossier). 28 Jacques De Decker in Le Soir (23.09.1992), zit. bei Paque 2000: 302. 29 Vgl. das Dossier „Repères biographiques“ in Harpman 2004b: 279-285, hier 283f. 30 Paque 2003: 151. 31 Harpman 2004a: 217 (Dossier). 32 Paque 2003: 29. 33 Einen bio-bibliografischen Überblick über Leben und Werk Jacqueline Harpmans bieten die Sites http: / / www.servicedulivre.be/ sll/ fiches_auteurs/ h/ harpman-jacqueline.html sowie http: / / www.rosa doc.be/ site/ rosa/ francais/ reperes/ spot/ harpman.htm. 34 Harpman 2007b: 3081. 35 Harpman 2002: 277f. <?page no="159"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 159 fiction“, 36 rätselhafter „météorite“ in Harpmans Werk 37 ) entfalte sich dieses vom ersten bis zum letzten Roman gleichsam als „un seul texte“ 38 bzw. „une seule et longue histoire […] un grand texte“. 39 Innerhalb dieses Textes zeichnet sich freilich sehr wohl eine signifikante Entwicklung im Sinne einer sukzessiven Emanzipation vom klassischen Vorbild ab: „beaucoup plus coincée par des notions de classicisme, de construction“, „moins libre“ sei sie in ihren ersten Romanen gewesen, erklärt Harpman Jahrzehnte später im Interview - und konstatiert insofern einen zumindest für sie selbst spürbaren „changement“ zwischen ihren beiden Schaffensperioden: „Quand j’ai repris, je me suis sentie complètement libre de faire ce que je voulais.“ 40 Die réécriture kanonischer Prätexte bleibt auch in dieser zweiten Phase ein zentrales ästhetisches Verfahren in ihrem Werk - nunmehr vor allem im Modus der Parodie und mit einer gehörigen Dosis souveräner metaliterarischer Selbstironie. So greift Harpman in Le Bonheur dans le crime (1993) nicht nur den - bereits „une relation spéculaire entre la fiction et la narration“ suggerierenden 41 - Titel, sondern auch Erzählstruktur und raffiniert verfremdete Figuren aus Barbey d’Aurevillys hier einer mehrfachen Gender- und Genre- Transformation unterzogenen gleichnamigen Novelle aus den Diaboliques auf 42 und jongliert nebenbei auch mit allerlei anderen mehr oder minder klassischen Prätexten: In fröhlichem metaleptischem Verwirrspiel fragt sich der intradiegetische Erzähler, ob die junge Emma - intertextuelle Patchworkfigur - wohl Eugène Fromentins Dominique gelesen habe („il me semble qu’on ne le lit plus […]“), ist sie doch im Begriff, exakt den amourösen Irrtum der Heldin Madeleine zu wiederholen. 43 Eben aus Dominique - seinerseits in der Tradition der Princesse de Clèves zu verorten und bei Denis de Rougemont als literarhistorische Etappe der romanesken ‚Degradation‘ des Passions-Mythos analysiert 44 - geht ein späterer Roman Harpmans hervor: 45 Unter dem Titel Ce que Dominique n’a pas su unternimmt die Autorin eine gender-re-interpretierte réécriture aus der Perspektive Julies, die, bei Fromentin völlig im Schatten ihrer schönen Schwester stehend, hier zur zentralen Protagonistin avanciert, als homodiegetische narrative Instanz 36 Paque 2003: 149f. 37 De Decker 2004. 38 Paque 2003: 149. 39 Paque 2000: 303. 40 De Decker 2004. 41 Blairon 2004: 267. 42 Vgl. ibid.: 243ff.; Hage 2001. 43 Harpman 2004b: 127. 44 Unter dem Titel „Vulgarisation du mythe“ kartografiert Rougemont „la voie romanesque du mythe“, die rasch genug „sur une route nationale encombrée“ mündet: „Le Lys dans la Vallée, Adolphe, Dominique, Madame Bovary, Thérèse Raquin, la Porte Étroite, Un Amour de Swann: étapes françaises de la dissociation psychologique, de la dégradation de ‚l’obstacle‘ extérieure, et de la reconnaissance lucide - par là même, antiromanesque - de sa nature purement intime et subjective“ (1979: 253f.). 45 Harpman arbeitet in ihrer palimpsestuösen réécriture die Lafayette’sche Dimension von Fromentins Roman betont heraus: „Elle a pris, en toute innocence, un homme qu’elle n’aimait pas: elle n’avait pas notion de ce qu’est aimer et l’a découvert trop tard“, fasst Ich-Erzählerin Julie das Liebesdrama ihrer Schwester Madeleine zusammen (2007b: 516f.). „J’ai le droit d’éprouver mes sentiments, pas d’agir selon eux“ (ibid.: 2886f.), erklärt Madeleine selbst unüberhörbar auf den Spuren ihrer klassischen Vorgängerin, während Julie die komplexe Psychodynamik des aveu - so anlässlich einer hintergründigen „scène d’aveux sans aveux“ (ibid.: 2798f.), aber auch ihrer eigenen „aveux à la fois sincères et mensongers“ - reflektiert: „[…] une vérité peut en cacher une autre […]“ (ibid.: 3220ff.). <?page no="160"?> 160 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie den Fromentin’schen Plot gegen den Strich (nach-)erzählt, der Version Dominiques („cet amoureux myope“) ohne falsche Bescheidenheit „la vérité, la mienne et celle de Madeleine“ entgegenstellt 46 - und dabei permanent ein ironisches Spiel mit der eigenen Rolle treibt: Moi, Julie d’Orsel, j’habite mon histoire, qui poursuit son cours. Oh! je sais bien qu’elle a été conçue par un certain Eugène Fromentin, qui l’a publiée sous le titre Dominique, mais je sais aussi que je suis moi, dans mon monde, et je ne me soucie pas d’imaginer comment ces deux vérités se conjuguent. Il se peut que des lecteurs dociles à Dominique qui n’a regardé que ma sœur, Madeleine, ne m’aient pas remarquée: je suis au fond de la scène, toujours présente et toujours en colère. Je continue. Et je vais raconter ce que Dominique n’a pas su ou, s’il le savait, n’a pas dit. 47 So erläutert Julie, Expertin der „dissimulation“ 48 und ihrer Selbstcharakteristik nach „pas une bonne personne“, 49 schließlich auch, weshalb sie ausgerechnet jene postmoderne belgische Romancière namens Jacqueline Harpman - in einer metaleptischen Möbiusschleife als Spezialistin für die in den Werken des großen männlichen Kanons zu Unrecht vernachlässigten Non- und Antiheldinnen valorisiert - mit der Niederschrift ihrer Geschichte beauftragt habe: J’ai choisi cet écrivain - elle croit en toute sincérité être l’auteur de ce récit - car elle a déjà écrit l’histoire d’un personnage secondaire. […] cela montre qu’elle connaît la question, qu’elle sait ce qu’il en est d’être toujours à l’arrière-plan dans la vie des autres alors que l’on sent, naïvement, qu’on est au centre de la sienne. Peut-être, en cet instant, voyant les mots arriver sous sa plume sourit-elle, amusée par cette mise en abyme qui me rappelle les Je sais que tu sais que je sais que tu sais auxquels, comme tous les enfants, nous avons tellement joué Madeleine et moi… 50 Nicht nur die Eigendynamik des Textes („Je pense que c’est une expérience constante pour l’écrivain de ne pas comprendre d’où ça vient“ 51 ), die Funktion des „écriveur“ 52 als Resonanzkörper fremder Diskurse, Medium der Geschichten und der fiktiven Figuren, die sich erzählen wollen 53 - quer durch Harpmans Romane ausgesponnenes poetologisches Leitmotiv -, werden im Werk dieser psychoanalytisch geschulten Schriftstellerin reflektiert, die sich 46 Ibid.: 570f. 47 Ibid.: 29ff. 48 Ibid.: 104f. 49 Ibid.: 49. 50 Ibid.: 50ff. 51 Harpman 2011: 52 („C’est quoi, écrire? “; Hervorhebung im Original). 52 Als „grand écriveur“ definiert sich - unter Verweis auf „mon vieux Larousse de 1906“: „qui écrit beaucoup, qui aime à écrire“ - nicht nur der Erzähler des Romans En toute impunité (2005b: 381ff.); in der ersten ihrer vier Poetik-Vorlesungen in Louvain-la-Neuve rund um „La création littéraire au prisme de la psychanalyse“ (1993) rekurriert Harpman in eigenem Namen auf diesen bewusst rehabilitierten und re-interpretierten Begriff, den sie ausdrücklich nur in maskuliner Form gebraucht: „[…] je vais d’abord tenter de définir qui est l’écriveur. Je me rends compte que je détourne un peu le sens normal du terme: Littré le définit comme celui qui aime à écrire beaucoup de lettres. Je l’entends comme la part de quelqu’un qui se met en position d’écrire, pour donner à lire“ (2011: 51 [„C’est quoi, écrire? “; Hervorhebung im Original]). 53 Vgl. dazu auch den Kommentar der Erzählerin in L’Orage rompu (Harpman 1998: 65), die selbst - und zwar nicht als einzige narrative Instanz bei Harpman - darauf hinweist, „qu’elle se laisse écrire, qu’elle ‚se laisse faire‘ par un récit qui s’impose à elle […]“ (Blanckhaert 2013: 108). <?page no="161"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 161 selbst als „un auteur classique qui aurait lu Freud“ definiert 54 und - nicht überraschend - auch einen elaborierten metaliterarischen Begleitdiskurs über ihr eigenes Œuvre entfaltet. Die Schwierigkeit des Anfangs, der Überwindung der ‚sterilisierenden‘ Präsenz der großen klassischen Literaturgeschichte thematisiert Harpman bezeichnenderweise vor allem in ihrer zweiten Schaffensperiode. So in La Plage d’Ostende (1991), Paque zufolge quasi Harpmans romaneske „somme“ 55 und zugleich „une histoire d’amour absolu“, mit der die Autorin erstmals auch „un public plus large sinon populaire“ erreicht: 56 In einer poetologischen Schlüsselpassage des Textes macht sich die frühreife - und spätgeborene - Protagonistin (nicht ganz zufällig wohl kommt die ebenso schöne wie brillante Émilienne erst nach fünfzehnjähriger Probe- und Wartezeit ihrer selbst durch dieses eine Kind, „sage et tranquille“, noch vage überforderten Eltern zur Welt 57 ), mit elf Jahren von einem nicht ganz altersgemäßen, jedoch nicht minder fatalen coup de foudre getroffen, an die schwierige Aufgabe, ihren eigenen (Liebes-)Roman zu verfassen. Dem Schreiben geht, soviel ist auch der kleinen Émilienne klar, unweigerlich das Lesen voraus. 58 Diszipliniert wie stets macht sich das Mädchen also ans Studium der großen Literatur („[…] je pris dans la bibliothèque quelques romans dont la lecture m’avait plu pour voir comment il fallait faire“) und, besitzt es doch in höchstem Maß „l’esprit de méthode“, zunächst einmal diverser berühmter ‚erster Sätze‘ - darunter jenen der Recherche, deren Erzähler die über kindliche Schlafengehens-Rituale und -Zwänge aus leidvoller Erfahrung wohlinformierte junge Leserin für „bien présomptueux“ befindet: „Se coucher de bonne heure? 54 Lambert 2013: 174. Wie später bei Marie Darrieussecq stellt sich auch in diesem Fall die Frage nach der Relation zwischen Literatur und Psychoanalyse - eine Frage, die Harpman „toujours de manière négative ou sibylline: c’est à son insu“ beantwortet (Paque 2003: 155). Zugleich konstituiert ihre „double identité“, die sie in „C’est quoi, écrire? “ nur halb im Scherz für „pas toujours facile à porter“ befindet (2011: 43), ein nicht zu vernachlässigendes, verlässlich im editorialen Paratext recyceltes Element der „image de l’auteur“ (Paque 2003: 156). Harpman selbst (2011: 44) betont die Rolle der Psychoanalyse auch in ihrer poetologischen Reflexion: „[…] je m’interroge volontiers sur la création littéraire, et cela je ne peux le faire qu’en psychanalyste, puisque c’est le seul outil théorique dont je dispose.“ Umgekehrt stellt das literarische Schreiben gleichsam die Fortsetzung der psychoanalytischen Exploration innerer terrae incognitae mit anderen Mitteln dar: „Quand on raconte des histoires, on a accès à des terres inconnues où l’on n’irait pas autrement“ (Lambert 1999: 46, zit. nach Bainbrigge 2013: 3). In Bezug auf ihre jahrzehntelange Faszination für den - kontextuell doppeldeutigen - roman d’analyse assoziiert Harpman schließlich direkt psychoanalytisches und literarisches Erkenntnisinteresse: „Cela m’a toujours passionnée. J’ai toujours été intéressée par ce qu’on appelle dans la littérature française le roman d’analyse: La princesse de Clèves, Adolphe, Stendhal… Et quand j’ai rencontré, très jeune, la psychanalyse, c’était la même chose pour moi. La seule distinction que j’ai faite, c’était que d’un côté c’était la réalité, et de l’autre, on inventait. Mais il y a aussi de l’imagination dans la pratique de l’analyse“ (Blandiaux 2002). Aus Anlass der Publikation des gleichnamigen Bandes unterstreicht Harpman erneut die enge Verwandtschaft zwischen Écriture et psychanalyse (2011): „Mais c’est la même chose! Le lien, c’est ma curiosité de savoir ce qui se passe dans la tête des gens“ (Duplat 2011). 55 Paque 2003: 85; vgl. auch Paque 2000: 306. 56 Ibid.: 29. 57 Harpman 1993: 16. 58 Der von Harpman selbst referierten Anekdote nach entsteht die Idee zu diesem Roman auch sehr konkret inmitten von Büchern: Zufällig hört die Autorin in der Brüsseler Librairie de Rome mit an, wie eine Kundin auf der Suche nach einem „gentil roman d’amour“ für ihre Patentochter buchhändlerischen Beistand begehrt - und liebäugelt auf der Stelle mit der Idee, sich lieber an einen „méchant roman d’amour“ zu machen (Paque 2003: 29). <?page no="162"?> 162 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Mais c’est le propre de tous les enfants! D’ailleurs, ils ne se couchent pas: on les couche […].“ 59 Abgesehen von dieser pragmatisch-pädagogischen Proust-Kritik bleibt Émilienne nach gewissenhafter Auswertung ihres Corpus von „premières phrases“ - die folgende Passage skizziert zugleich ein Panorama zentraler Prätexte Harpmans - allerdings eher ratlos zurück: Entre „Longtemps, je me suis couché de bonne heure“, „La petite ville de Verrières peut passer pour l’une des plus jolies de la Franche-Comté“, „Je vais encourir bien des reproches“ et „Je venais de finir à vingt-deux ans mes études à l’université de Gottingue“, je me sentis déconcertée. Les uns décrivent d’abord un cadre et s’approchent lentement du personnage central, d’autres abordent directement le héros par une de ses particularités les moins significatives. […] Un examen plus approfondi me fit voir qu’il ne s’agissait que de jeux de perspective qui conduisent toujours à un portrait moral aussi précis que possible du héros. Il me parut donc adéquat de commencer mon récit par le nœud même de mon histoire, l’instant exact où, sage au côté de ma mère, je vis ma vie se décider. 60 Ebendiesem poetologischen Programm entspricht der fulminante Einstieg dieser „selfbegetting novel“, 61 mit dem die Leserin schon zuvor konfrontiert wurde. Hat auf den allerletzten Seiten der Plage d’Ostende die Erzählung das Leben wieder eingeholt („J’ai fini d’écrire ma vie. […] je me suis rejointe“ 62 ), so beginnt der Roman in medias res, mit einem klassischen coup de foudre, der sich vom Hofball Lafayettes auf einen mondänen Empfang im Milieu der modernen Brüsseler Bourgeoisie verirrt: Dès que je le vis, je sus que Léopold Wiesbeck m’appartiendrait. J’avais onze ans, il en avait vingtcinq. Ma mère dit: - Voici ma fille Émilienne. […] Moi, j’étais foudroyée. 63 Comment l’esprit vient aux filles: 64 Im Namen einer um jeden Preis geheimzuhaltenden Liebe verwandelt sich die noch sehr junge Protagonistin rasch in eine Expertin des gesellschaftlichen Rollenspiels (eine gewisse Routine der kontextuell durchaus positiven konnotierten dissimulation verdankt sie bereits ihren Kindheitserfahrungen in einem Dorf, das in Zeiten der NS- Besatzung kollektiv die Résistance unterstützt); zugleich lernt Émilienne, „une extraordinaire menteuse“, 65 freilich auch schon die Sehnsucht nach dem aveu, die Versuchung der „vérité“ - verführerischer „vertige, une vague de désir, une oasis, le repos et le calme“ 66 - kennen. 59 Harpman 1993: 16. 60 Ibid. 61 Vgl. zu diesem Konzept Kellman 1980. 62 Harpman 1993: 316. 63 Ibid.: 9. Derartige coup de foudre-Szenen werden durch das gesamte Werk Harpmans fortgeschrieben; auch im bereits erwähnten Roman Ce que Dominique n’a pas su schlägt - gleich mehrfach - ein intertextualisierter coup de foudre ein: „Moi, je le vis, je rougis, je pâlis à sa vue“ (2007b: 359)… Julie, bei Fromentin unscheinbare Zeugin der unglücklichen Liebesgeschichte zwischen ihrer Schwester und dem eponymen Protagonisten, erscheint bei Harpman von Anfang an als kompetente, nicht zuletzt literarisch geschulte Analytikerin ihrer eigenen Passion: „Comme je n’étais pas sotte et que les mauvaises lectures m’avaient instruite, je savais le nom du trouble qui s’était emparé de moi. Dominique était beau et je l’aimais“ (ibid.: 383ff.). 64 Dieses multiple Zitat wird ironisch durch Harpmans Werk ausgesponnen, so auch in Le Passage des éphémères: „[…] c’est ainsi que l’esprit vient aux filles, même si la fille a passé les soixante ans“ (2003b: 1681f.). 65 Harpman 1993: 263. 66 Ibid.: 58. <?page no="163"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 163 Als lustvolle Wort-Spielerin 67 und heimlich debütierende Autorin ihrer großen Passionsgeschichte entwickelt die Heldin ein feines Gespür für den „réseau de paroles“, der ihre Existenz, ja ihre Persönlichkeit konstituiert. 68 Als Erbin einer Papierfabrik erscheint sie auch auf pragmatischer Ebene in die Buch-Produktion involviert; zu jener Zeit, da sie sich an ihre ersten literarischen Versuche wagt, wird sie sich auch ihrer „position sociale“ bewusst und bestaunt in Begleitung ihres Vaters die Wunderwerke der familiären „papeterie“. 69 Spätestens hier verliert das auf den zweiten Blick nicht mehr so banale weiße Papier ihrer Schulhefte - nunmehr Gegenstand einer gewissen „perplexité“ - seine Unschuld, wird auch die etymologische Verwandtschaft von Text und Textil motivisch aktiviert: Unter dem Blick Émiliennes verwandelt sich der Stoff ihrer dekorativen Mädchenkleider in potentielles Schreib-Material, auf dessen kritische Annotation sie als wohlerzogenes Kind mit Bedauern verzichtet: „J’eus parfois envie d’écrire sur le tissu de ma robe, pour voir, mais comme je ne pouvais pas faire de bêtises, je m’en abstins.“ 70 Nicht zufällig wird eben zwischen diesen beiden Passagen - der literarhistorischen Reise rund um die elterliche Bibliothek und der Exkursion in die Papierfabrik - die heikle Frage nach Möglichkeiten und Grenzen künstlerischer ‚Originalität‘ im Zeitalter einer (allzu) belesenen, selbstreflexiven Moderne noch in einem anderen im doppelten Sinne klassischen Zusammenhang aufgeworfen; dies auf einem theatralischen Umweg, der sich wiederum autobiografischer Inspiration verdankt. Als Schulmädchen entwickelt Jacqueline Harpman unter dem Einfluss einer Französischlehrerin namens Mlle Barthe 71 - in der Sekundärliteratur verschiedentlich, ist die Versuchung doch offenbar zu groß, als „mademoiselle Barthes“ zitiert 72 - „une véritable passion pour la grammaire, la syntaxe et les Classiques de la littérature française“: „À force d’aimer Racine, elle en connaît des rôles entiers par cœur et voudrait devenir tragédienne.“ 73 Diesen bald aufgegebenen Karrierewunsch teilt Harpman mit einer anderen Protagonistin aus La Plage d’Ostende, der wunderschönen, aber nicht gerade mit großem Esprit gesegneten Mutter Émiliennes, deren jugendlichen theatralischen Ambitionen ihre eigene kluge Mutter - im Gegensatz zum angesichts der bloßen „idée d’une fille comédienne“ entsetzten Vater - mit strategischer Toleranz begegnet, wohl wissend, dass ihre Tochter, „bien trop jolie pour ne pas être arrêtée par les épouseurs“, es kaum jemals auf die Bühne schaffen werde: „[…] il ne s’agissait que de la laisser user selon ses goûts du temps qui la séparait du mariage.“ 74 Die attraktive junge Frau mit ihrem „contralto richement timbré“ wird im Konservatorium mit offenen Armen aufgenommen; doch rasch genug stellt sich heraus, dass es ihr an jeglichem originellen Ansatz fehlt. Über die pflichtbewusste Imitation gelangt Anita in ihrer Traumrolle als Phèdre (oder vielmehr, wie ihre scharfsichtige Tochter bemerkt, als „une actrice jouant Phèdre“) niemals hinaus: „Elle rêvait de jouer Phèdre et allait voir à Paris comment font les grandes actrices. Elle rentrait et copiait, ce dont ses professeurs, qui voyageaient 67 Vgl. etwa ibid.: 15. 68 Ibid.: 21. 69 Ibid.: 24. 70 Ibid.: 18. 71 Vgl. Paque 2003: Illustrationsteil, III. 72 Vgl. etwa Harpman 2004a: 213 und 2004b: 280 (jeweils Dossier); Linchamps 2009. 73 Harpman 2004a: 213f. (Dossier). 74 Harpman 1993: 17. <?page no="164"?> 164 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie aussi, s’apercevaient. Ils la priaient, le plus délicatement du monde, d’inventer son propre jeu. Elle lisait et relisait avec ardeur, et ne voyait rien à faire que ce qu’elle avait vu.“ Eine glückliche Heirat erlöst die ratlose Racine-Aspirantin rechtzeitig vor der blamablen Kapitulation im Angesicht der französischen Klassiker; im Handumdrehen wird das drohende Desaster zum noblen Karriereverzicht im Namen der Liebe umgedeutet. 75 Die künstlerischen Aktivitäten der zur ewigen Kopie verfluchten klassischen Schönheit sind - als Gelegenheitsmodell und Mäzenin - fortan exklusiv passiver Natur; doch die gescheiterte Phèdre-Interpretin bleibt eine poetologische Schlüsselfigur in Harpmans Roman. Mit literarisch sensibilisiertem Ohr lauscht Émilienne der Rede ihrer ebenso gutmütigen wie beschränkten Mutter, die, moderne bourgeoise Reinkarnation der Nymphe Echo, auch auf ihrer neuen Bühne der mondänen Brüsseler Salons stets lediglich nachzusprechen scheint, unaufhörlich auch noch so triviale Phrasen ihrer jeweiligen Konversationspartner wiederholt - idiosynkratischer Tick und zugleich Bewältigungsstrategie angesichts der prinzipiellen „étrangeté“ der Sprache. 76 Eben über das Theater der französischen Klassik wird hier trotz anfänglichen Misserfolgs - und nach längerer Pause - schließlich doch noch eine kreative weibliche Tradition konstituiert. Erzählerin Émilienne als Repräsentantin der nächsten Generation besitzt zwar beträchtliche künstlerische Sensibilität, stellt diese jedoch quasi exklusiv in den Dienst ihrer alles verschlingenden Passion für den geliebten Mann; zwischen ihrem Lehrstuhl für Geschichte an der Universität und dem Betrieb ihrer eigenen Galerie bleibt sie ihrem Selbstverständnis nach doch stets in erster Linie große Liebende und Muse des Künstlers (zugleich freilich auch - unaufgelöste Ambivalenz - souveräne Allein-Autorin bzw. -Regisseurin ihrer eigenen Lebens- und Passionsgeschichte, in der alle anderen Figuren früher oder später gehorsam die ihnen zugedachte Rolle übernehmen). Erst die zunächst ohne Mutter aufwachsende Enkelin der glücklosen Phèdre-Aktrice verwirklicht den großmütterlichen Traum vom Theater: „Anita avait rêvé de théâtre: Esther est comédienne.“ 77 Als Schulmädchen debütiert die nach ihrer Urgroßmutter benannte Esther - deren Name familiäre jüdische Tradition und französische Klassik verbindet - in einer Aufführung des Malade imaginaire; 78 bereits der ‚Droge‘ Theater verfallen, feiert sie einen ersten Triumph in L’École des femmes. 79 Wenige Jahre später brilliert sie auf den großen Pariser Bühnen, etablierte Expertin für das klassische Repertoire - während sie privat weiterhin vergeblich der Chimäre der großen Liebe nachjagt: Über diese hoch ambivalente Figur der ewig rivalisierenden und semi-inzestuös verliebten Tochter wird hier nicht nur die Frage nach Kunst und Lebens(un)glück aufgeworfen, sondern auch - in einer symbolträchtigen weiblichen Generationenfolge - der Prozess künstlerischer Emanzipation in der Auseinandersetzung mit dem klassischen Modell reflektiert. Die Familienchronik der Plage d’Ostende, die vom ratlosen Eklektizismus zur kreativen Selbstbehauptung im Angesicht des Kanons führt, verarbeitet noch einige weitere autobiografische Elemente, die für die Kontextualisierung des „hyperclassicisme voulu“ 80 vor allem 75 Ibid. 76 Ibid.: 204. 77 Ibid.: 255. 78 Ibid. 79 Ibid.: 303. 80 Paque 2003: 150. <?page no="165"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 165 des Harpman’schen Frühwerkes nicht indifferent sind. Die schöne Anita, die Racine beim besten Willen keine originelle Interpretation abzugewinnen vermag, ist Jüdin; die kleine Schriftstellerin Émilienne geht aus ihrer Ehe mit einem nichtjüdischen belgischen Industriellen hervor. Spiegelverkehrt reinszeniert Jacqueline Harpman hier ihren eigenen familiären Hintergrund: Als Tochter eines aus Amsterdam stammenden jüdischen Vaters und einer nachträglich - einige Jahre nach der Heirat - zum Judentum konvertierten Mutter aus belgischer Bauernfamilie verbringt Harpman (geb. 1929) die Zeit des Zweiten Weltkriegs mit ihren Eltern im marokkanischen Exil 81 (ein Teil der Verwandtschaft väterlicherseits flieht rechtzeitig nach Südamerika, ein anderer freilich wird deportiert). In Casablanca wird Harpman aufgrund der Vichy-Gesetzgebung nicht ins Lycée aufgenommen und besucht stattdessen das Collège; der konservative und extrem klassiker-zentrierte Literaturunterricht, den sie als eifrig lesendes Schulmädchen dort erfährt, hinterlässt im Werk der erwachsenen Autorin tiefe Spuren. 82 Im Oktober 1945 kehrt die Familie nach Brüssel zurück: Jacqueline Harpman, der die gewünschte altphilologische Lycée-Ausbildung verwehrt geblieben war (und die statt Flämisch Unterricht in Arabisch erhielt, dies mit dem Resultat „lamentable“), muss ihre Abschlussprüfung vor einer speziellen Jury für kriegsbedingt in ihrer Schullaufbahn beeinträchtigte Kandidaten ablegen. 83 Die einigermaßen traumatische Erfahrung der abrupten kulturellen ‚Transplantation‘ in jugendlichem Alter wird verschiedentlich in ihrem literarischen Werk - darunter eben in La Plage d’Ostende - thematisiert. „Changer de monde à onze ans? Ce ne sera pas facile“: 84 Erst als Quasi-Teenager gelangt Esther aus den USA nach Belgien, unbekanntes ‚Heimatland‘; 85 zunächst muss sie ihren amerikanischen Akzent loswerden, bevor sie ihre brillante Karriere als klassische französische Mimin beginnt. 86 81 Eben in diesem spezifischen autobiografischen Kontext - in Paris auf dem Weg ins Exil - verortet Harpman nachträglich ihren ersten literarischen Schreibversuch: „J’ai commencé mon premier roman en 1940 […] alors que la famille partait pour le Maroc. Je me souviens parfaitement de son contenu: une petite fille, seule dans la maison, voyait tout à coup un rai de lumière sous la porte de sa chambre, et avait peur. Cela a fait une demi page de cahier d’écolier, puis mon inspiration s’est tarie. J’ignore tout à fait ce qui aurait suivi“ (Coudray 2004a: 85f.). 82 Paque 2003: 151f. Mit ironischer Sentimentalität erinnert sich die Protagonistin aus L’Apparition des esprits, die wie Harpman selbst die Kriegsjahre in Marokko verbringt - dies aus politisch entschärften Gründen: an die Stelle einer (halb-)jüdischen Herkunft tritt eine vor Ort zu erledigende Erbschaftsangelegenheit -, im Folgeroman Le Véritable Amour an die „bibliothèque municipale“ von Casablanca, der sie „le fond de ma modeste culture littéraire“ verdankt: „Il y avait tout Victor Hugo, Sainte-Beuve, La Princesse de Clèves et Madame Bovary, pour les autres je ne sais plus, mais j’y ai trouvé à lire pendant quatre ans.“ Auf die amüsierte Rückfrage ihrer Gesprächspartnerin „Et le XX e siècle? “ folgt die lapidare Antwort: „Hé bien! je suis devenue historienne! “ (2005a: 247). 83 Vgl. Harpman 2004a: 213f. (Dossier). 84 Harpman 1993: 247. 85 Nach mehreren Jahren in Marokko entdeckt auch die jugendliche Heldin der Apparition des esprits ein höchst ‚exotisches‘ Belgien wieder: „Au retour, les ciels gris m’étonnèrent, et je découvris le pays où j’étais née avec l’incrédulité ravie que l’on réserve, d’habitude, aux Polynésies“ (2005a: 16). 86 Über mehrere Generationen hinweg zeichnet La Plage d’Ostende auch den Verlust einer jüdischen Identität nach. Von ihrer aus den USA re-emigrierenden Tochter neugierig nach der jüdischen Tradition befragt, weiß Émilienne - die sich als Kind der Teilnahme an einer punktuell erwähnten „bar-mitzva“ im weiteren Familienkreis durch Vorschützen einer „grippe“ zu entziehen versteht (1993: 85) - nichts zu antworten: „J’avouai ne pas savoir grand-chose là-dessus et que toute pratique religieuse s’était perdue dans la famille depuis trois générations“ (ibid.: 251). Ihr eigenes komplexes Verhältnis zu ihrer „judéité“ kommentiert Harpman im Gespräch mit Andrianne (1992): Ohne jegliche „contacts religieux“ <?page no="166"?> 166 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Aus einer gleich mehrfachen „position périphérique“ 87 heraus entfaltet sich auch das Werk Jacqueline Harpmans, die als belgische frankophone Autorin mit jüdischen Wurzeln mit der Selbst-Einschreibung in die große französische Literaturgeschichte, der Aneignung der klassischen „canons du roman d’analyse français“ 88 ebenso wie jenes für ihr Œuvre so überaus charakteristischen „vocabulaire rare, parfois précieux“ 89 spielt, für die die „option classique“, wie Paque vermutet, auch ein kreatives „alibi“ darstellt. 90 Im Lauf ihrer langen literarischen Karriere - die hier auch einer Distanzierung gegenüber dem Herkunftsmilieu gleichkommt 91 - hält sich Harpman, die jegliche Selbst-Provinzialisierung und -Folklorisierung konsequent verweigert („‚Belgitude, connaît pas‘“ 92 ), als singuläre, ja marginale Figur abseits aller Schulen und Strömungen; lange Zeit von der Literaturwissenschaft relativ wenig beachtet - da zugleich ob ihres Klassizismus und der Popularität einiger ihrer späteren Romane bei einem non-intellektuellen Publikum vage anrüchig 93 -, wird sie in den letzten Jahren teilweise in einem Kontext (‚belgische Frauenliteratur‘) akademisch (wieder-)entdeckt, den es gerade in Anbetracht von Harpmans hartnäckigem Widerstand gegen jegliche Vereinnahmung für eine wie immer geartete écriture féminine durchaus kritisch zu hinterfragen gilt. 94 aufgewachsen, erklärt sie das Bekenntnis zu ihrer partiell jüdischen Herkunft angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts und eines nach wie vor nicht überwundenen Antisemitismus doch zu „une question de dignité“. Nach ihrem Tod im Mai 2012 wird Harpman als deklarierter Atheistin dennoch ein jüdisches Begräbnis samt gewisser „récupération“ durch die Community zuteil (für diese Information danke ich Martine Renouprez). 87 Paque 2003: 150. 88 Ibid.: 151. 89 Ibid.: 89. 90 Ibid.: 158. 91 Vgl. ibid.: 154. 92 Ibid.: 157. 93 Vgl. ibid.: 158. 94 Auch in puncto Gender entzieht sich Harpmans Werk - wie die Person der Autorin - jeglicher simplen Kategorisierung. „Elle passe […] à côté du ou des féminismes dans leur ensemble“, meint Paque (ibid.: 156); Harpman selbst erklärt sich für „tout à fait féministe“, distanziert sich aber zugleich vom Feminismus des MLF: „Ce qui m’a fort déplu là-dedans, c’est que c’était très coupe-zizi“ (De Decker 2004a). Mit beißendem Spott lehnt sie auch die Verwendung der Formen écrivaine oder auteure als „mise en forme officielle du sexisme le plus déplorable“ ab: „Personnellement, je me refuse fermement à être autre chose qu’écrivain et romancier car je persiste à laisser à mon sexe la place où la nature l’a mis, qui me convient fort bien, et à avoir le sexe que je veux dans la tête. […] Je pense que les fonctions et les métiers n’ont pas de sexe, et qu’il faut foutre la paix à la langue française. Ai-je été claire? “ (zit. nach Paque 2003: 10f.). Dies hindert sie freilich nicht daran, bereits in Les Bons Sauvages ironisch mit „[q]uelques siècles“ einer signifikant etikettierten „littérature masculine“ und einem naiven Anti-Feminismus abzurechnen („On n’ose plus être antisémite, les nègres deviennent des Noirs, il reste au raciste les femmes sur qui exercer un paternalisme éclairé“; 2000: 144f.), in ihren Texten gezielt klassischkanonische ‚männliche‘ Werke aus ‚weiblicher‘ Gegenperspektive zu dekonstruieren, im Rahmen eines literarischen „projet de réhabilitation“ - so im Novellenband La Lucarne aus dem Jahr 1992 (Harpman 2003a) - hyper-stereotypisierte mythische Figuren wie Jeanne d’Arc, Maria und Antigone zu reinterpretieren (vgl. De Decker 2004a) und von Roman zu Roman immer wieder aufs Neue starke, rebellische, (gender-)transgressive Frauen in Szene zu setzen (vgl. Paque 2013: 93). „¡Puès [sic] esta mujer es un hombre! “, ruft ein irritierter spanischer Grande angesichts der fiktiven Königin aus La Dormition des amants aus (2002: 4315, vgl. auch 4365), die - in Paques Lesart regelrechte „féministe avant l’heure“ (2003: 138) - nach dem Tod ihres Mannes unter Aufhebung der Lex salica mit diplomatischem Geschick ihren Anspruch auf die französische wie die spanische Krone durchsetzt. In der Tat wird das Salische Gesetz Ende des 16. Jahrhunderts erneut heftig diskutiert, als von ultra-katholischer Seite <?page no="167"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 167 Vor allem nach besagtem schriftstellerischem Re-Start Mitte der achtziger Jahre entwickelt Harpman derart eine Reihe kreativer ‚Bewältigungsstrategien‘ im Umgang mit der zugleich sterilisierenden und inspirierenden Präsenz der großen Vorbilder („Je ne me remettrai jamais de ne pas avoir écrit Les Hauts de Hurlevent, ça, c’est certain“, bemerkt sie in einem späten Interview zu Emily Brontë, hier noch vor Lafayette unter ihren persönlichen „romancières de référence“ genannt 95 ). Das Motiv der Klassiker-Lektüre à rebours zieht sich leitmotivisch durch ihr Werk, Schauplatz einer konfliktuellen und dabei höchst lustvollen Konfrontation mit dem literarischen Kanon, die im Zeichen nicht nur der bei Harold Bloom analysierten ‚Einflussangst‘, sondern auch bzw. vor allem einer potentiell subversiven Einflusslust, der spielerischen Selbstauslieferung an den einen oder anderen klassischen Prätext steht. Voll Skepsis kommentiert die kindliche Leserin in La Plage d’Ostende den ‚prätentiösen‘ Anfang der Recherche; mit dem Rotstift in der Hand macht sich Philippe, Gymnasialprofessor für französische Literatur und Fanatiker der grammatikalischen Korrektheit, in Le Bonheur dans le crime an die Lektüre Prousts: Erst nachdem Monsieur Dutilleul - dessen Name bereits einen feinen Proust’schen Goût zu besitzen scheint - eine Taschenbuchausgabe von Un amour de Swann komplett nach der Manier eines Schulaufsatzes ‚korrigiert‘ hat, erklärt er sich gnädig für „soulagé et capable d’apprécier les beautés du texte“. 96 Mit seiner Ehefrau Simone, ihrerseits Englischlehrerin, führt der unerbittliche Proust-Korrektor einen literarischen Dauer-Disput, der immer wieder aufs Neue um die - dem jeweils anderen Partner verhassten - respektiven ‚Lieblingsautoren‘ („Elle détestait Kafka, lui, Balzac […]“) kreist: „Kafka-Balzac“ wird zum ritualisierten Gesellschaftsspiel, Initiationstest - doppelter Initiationstext - auch für neu in den Familienkreis aufgenommene Personen. 97 Ironischerweise führt die erbitterte Balzac/ Kafka-Querelle schließlich dazu, dass die Eheleute sich nach jahrelangen obsessiven Lektüren über Kreuz zu Experten für das Werk des ungeliebten anderen Autors entwickeln: „Pour mieux argumenter, chacun relisait sans cesse très méticuleusement l’écrivain qu’il n’aimait pas: pour finir Simone connaissait mieux Kafka que Philippe, qui savait La Comédie humaine par cœur.“ 98 Aber auch der Kanon der französischen Klassik bleibt nicht aus dem parodistischen Spiel: Der intradiegetische Erzähler des Romans kommentiert kritisch nicht nur die Tragödie der überaus literarischen Familie Dutilleul („Les tragédies vues du dehors ont vite l’air ridicule […]“), sondern auch Racine, schon von seinem gestrengen Vater für „trop expansif“ befunden. 99 Ebendieser multipel intertextualisierte Roman - dessen Figuren 1590 Claire-Eugénie, Tochter des spanischen Königs und Enkelin von Henri II, als Thronfolgerin vorgeschlagen wird (vgl. Grewe 2005: 205, unter Verweis auf Cosandey 2000: 31). 95 De Decker 2004a. Wuthering Heights (1847) findet sich - neben Marlen Haushofers Die Wand (1963; Le Mur invisible) denn auch unter den „2 œuvres à connaître“, die Harpman hier der Leserschaft empfiehlt (Coudray 2004a). 96 Harpman 2004b: 34. Wie Lafayette oder Benjamin Constant stellt auch das nicht zuletzt aus psychoanalytischer Perspektive ergiebige Werk Prousts für Harpman selbst eine zentrale literarische Referenz dar: „Proust reste ma référence, entre autres pour sa relation à sa mère, comme il la raconte au début de ‚La Recherche‘. […] Pour moi, Proust reste au centre. Je l’ai relu tant de fois que je crois parfois tout connaître et pouvoir anticiper chaque phrase. Comme pour Stendhal“ (Duplat 2011). Eine psychoanalytische Interpretation „Du premier chapitre de la Recherche considéré comme une séance“ publiziert sie 1999 in der Revue française de psychanalyse (wieder abgedruckt in Harpman 2011: 13-32). 97 Harpman 2004b: 60, 116. 98 Ibid.: 60f. 99 Ibid.: 194ff. <?page no="168"?> 168 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie wiederholt ihre eigene literarische Vorgeschichte reflektieren 100 - illustriert auch die Kunst der schöpferischen Fehllektüre, des kreativen Fehlhörens resp. „poetischen Fehlverstehens“, 101 das dem im etymologischen Sinne parodierten fremden Text 102 eine neue Bedeutung abgewinnt: So erinnert der Erzähler sich an einen Opernbesuch als Jugendlicher, da er, Opfer und Komplize einer „confusion qui m’enchante encore aujourd’hui“, zur Musik von Carmen seinen ‚eigenen‘ Text hört - und an seine Enttäuschung Jahre später, „lorsqu’une chanteuse à la diction plus claire me fit connaître le texte réel“. 103 In ihren réécritures schreitet Harpman, „lectrice du monde“, 104 derart zur Karnevalisierung bzw. auch ‚Vampirisierung‘ der Literaturgeschichte; 105 in ihrem Werk mit seiner „interaction habile des métatextes, intratextes, intertextes…“ und seinem „enchevêtrement des temporalités“ 106 wird die Logik linearer Zeitlichkeit aufgehoben und damit auch der Druck literarhistorischer Priorität relativiert. 107 Erscheint als doppelter Motor hinter diesem Œuvre 100 Empört protestiert (Ur-)Großmutter Emma, als ihr literatur-affiner Groß-Schwiegersohn seine neugeborene Tochter ‚Sylvie‘ nennen möchte, „en hommage à Gérard de Nerval“: „Vous n’y pensez pas […] un nom choisi par un homme qui s’est pendu dans la rue! “ Philippe kontert sogleich mit einem Seitenhieb auf Emmas eigene zweifelhafte literarische Genealogie: „Vous portez bien le nom d’une femme qui s’est empoisonnée à l’arsenic! “ Indigniert weist die alte Dame diese Zumutung zurück („Que non! C’est celui de ma grand-mère! Dans un fiacre, imaginez-vous cela? “ ibid.: 26). In aller Unschuld erzählt sie, sonst so scharfsichtig, ihren Urenkeln freilich sehr wohl von den amourösen Abenteuern ihrer „époque“ („On y trouvait des adultères, des alcôves parfumées et des histoires de coups tirés vite fait entre deux portières qui valaient bien un fiacre brinquebalant dans les rues de Rouen […]“; ibid.: 77) - und wird mit einigen Jahrzehnten Verspätung doch noch von ihrem intertextuellen Schicksal eingeholt: Nicht mit Arsen, aber mit einer Überdosis Schlafmittel verabschiedet sich die hochbetagte Emma ins Jenseits, als allerlei heikle Familiengeheimnisse manifest zu werden drohen; es ist der ebenso voyeuristische wie complaisante Erzähler, der - in seiner Doppelrolle als Arzt und Priester - ihren Suizid diskret verschleiert. 101 Vgl. Bloom 1995: 21ff. („Clinamen oder Poetisches Fehlverstehen“). 102 „D’abord, l’étymologie: ôdè, c’est le chant; para: ‚le long de‘, ‚à côté‘; parôdein, d’où parôdia, ce serait (donc? ) le fait de chanter à côté, donc de chanter faux, ou dans une autre voix, en contrechant - en contrepoint -, ou encore de chanter dans un autre ton: déformer, donc, ou transposer une mélodie“ (Genette 2003: 19ff. [„Parôdia chez Aristote“], hier zit. 20). 103 Harpman 2004b: 137. 104 Vgl. Rădulescu 2003. 105 Nicht umsonst charakterisiert sich der intradiegetische Erzähler des Romans Le Bonheur dans le crime - poetologische Schlüsselfigur, Sprachrohr so mancher metaliterarischen Reflexion, die Harpman auch in eigenem Namen in ihrem paratextuellen Diskurs artikuliert - als „vampire discret“ (2004b: 196), der sich von Kindheit an genussvoll von den (Lebens-)Geschichten, Gedanken und Worten der anderen nährt („Ma tête était vide. Je n’étais pas là. Il m’apparaît maintenant que j’étais chez les autres, j’écoutais leur histoire, je pensais leurs pensées […]“; ibid.: 123), ebenso wie die inzestuösen Protagonisten des Romans mühelos zwischen den Epochen und (Text-)Welten zu reisen scheint („voyageurs temporels […] ils changeaient de siècle et de vocabulaire avec souplesse […]“; ibid.: 78f.) und bald dazu übergeht, mit regelrechter „goinfrerie intellectuelle“ Berge von Weltliteratur zu ‚verschlingen‘: „J’ai dévoré des milliers de pages […]“ (ibid.: 123). 106 Bainbrigge 2013: 2. 107 Harpmans Werk favorisiert - und inszeniert auf diegetischer Ebene - insofern eine a-chronologische intertextuelle bzw. interferentielle Lektüre im Sinne Michael Riffaterres, in deren Rahmen die Leserin den Bezug zwischen zwei Texten u. U. in Unkenntnis oder Missachtung der jeweiligen Publikationsfolge etabliert und kreativ re-interpretiert: „[…] c’est dire qu’un texte peut se lire à travers un intertexte qui lui est ultérieur, sans que ce dernier ait pu influencer sa production au niveau de l’écriture“ (vgl. Vuaille- Barcan/ Rolls 2006: 261). <?page no="169"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 169 neben der metaphysischen Kränkung der eigenen Vergänglichkeit, dem „scandale“ des Todes 108 - auch dies ein unaufhörlich in Romanen wie Paratexten variiertes Schlüsselthema Harpmans 109 - die spezifische Kränkung des immer schon ‚zu spät‘ gekommenen (post-) modernen Schriftstellers, „Erbe einer Melancholie, gezeugt im Geist der Aufklärung von ihren Vorbehalten gegenüber der von den Großen der Antike und der Renaissance ererbten doppelten imaginativen Fülle“, 110 so setzt Harpman zusehends auf das ästhetische Verfahren parodistischer „anachronismes jubilatoires“ 111 - Herzstück ihrer Poetik, Pharmakon gegen jene bei Bloom beschworene „Melancholie des schöpferischen Geistes […], der verzweifelt auf Priorität beharrt“. 112 „Multiple versions exist laterally, not vertically“, unterstreicht - wie zitiert - Linda Hutcheon in Bezug auf die Ästhetik der Adaption; 113 auch Harpmans Texte unterminieren im Rahmen einer horizontal reorganisierten Literaturgeschichte spielerisch „elements like priority and authority“. 114 Wie Julie, die sich - ihrerseits „mes classiques bien en tête“ 115 - an ihre Konter-Narration zu Fromentins Roman macht, betätigt sich auch ihre gehorsame ‚Sekretärin‘ Harpman als literarhistorische „entremetteuse“, 116 Auf- und Umgräberin diverser „lieux communs“ eines monumentalisierten Kanons. 117 Vor allem im Spätwerk der Autorin 108 Harpman 2000: 261. 109 „Mon prénom est Jacqueline, mon nom est Harpman, je suis une femme et chaque seconde qui passe me rapproche de ma mort“, lautet der letzte Satz der autobiografisch inspirierten Novelle „La Lucarne“ (in Harpman 2003a: 177-210, hier 210). „[…] j’étais très indignée par la mort, par ma mort, parce que je trouvais ça inacceptable, inconvenant, irrecevable, que l’on doive mourir, j’en étais profondément scandalisée. […] J’étais partie pour durer des millénaires et puis voilà qu’on me dit: ‚Encore quelques années…‘ Je trouve ça inacceptable“, erklärt Harpman unverblümt in einem Interview im Rahmen der Radio-Dokumentation Le Commun des mortels (RTBF/ La Première, 16.03.2009; vgl. „‚J’étais partie pour durer des millénaires‘. Extraits d’un entretien avec Jacqueline Harpman“, in Lambert 2013: 175ff., hier zit. 176); siehe dazu auch Thatcher 2013. Um das Wunsch- (und Angst-)phantasma der Unsterblichkeit kreist - in Auseinandersetzung nicht zuletzt mit Simone de Beauvoirs Tous les hommes sont mortels (1946) - der nach dem Modell Choderlos de Laclos’ konzipierte Briefroman Le Passage des éphémères (zu den erwähnten intertextuellen Referenzen vgl. etwa 2003b: 814ff., 1948f.). Voll herablassenden Mitleids meditiert Harpmans Protagonistin, Prototyp des „homo sapiens immortalis“ (ibid.: 3402), über das triste Schicksal der normalsterblichen Menschheit: „À peine ont-ils commencé le voyage qu’il touche à sa fin. Ils ont quitté la rive, ils croyaient regarder l’horizon, la barque aborde déjà l’autre quai. Quelle pitié, mon ami, quelle pitié! “ (ibid.: 801f.). Die Literatur als Strategie prekärer Immortalisierung entdeckt bereits die melancholische Heldin in Moi qui n’ai pas connu les hommes, verstörender (post-) apokalyptischer Roman und philosophische Fabel, für sich. Schreibend klammert sich diese Gefangene einer „liberté vide“ (1995: 2676), schließlich einzige Überlebende in einer verwüsteten, unverständlichen Welt, an die Reste ihrer lebendigen Menschlichkeit: „Je ne serai vraiment morte que s’il ne vient jamais personne, que si les siècles, puis les millénaires se déroulent pendant si longtemps que cette planète, dont j’ai cessé de croire qu’elle est la Terre, n’existera plus. Tant que les feuilles couvertes de mon écriture resteront sur cette table, je pourrai devenir une réalité dans un esprit. Puis tout s’effacera, les soleils s’éteindront et je disparaîtrai comme l’univers“ (ibid.: 2728ff.). 110 Bloom 1995: 11. 111 Paque 2003: 139. 112 Bloom 1995: 15f., vgl. auch 84. 113 Hutcheon 2006: XIII. 114 Vgl. ibid.: 174. 115 Harpman 2007b: 2396. 116 Vgl. ibid.: 2131. 117 „Dernière demeure! Ne pouvez-vous parler qu’en lieux communs? “ (ibid.: 3823). Der schwierige Kampf um die literarische Rückeroberung des Gemeinplatzes wird wiederum im ‚poetologischen‘ <?page no="170"?> 170 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie entfaltet sich aus dem melancholischen Wissen um die eigene Sekundarität schließlich jene ‚jubilatorisch‘ anachronistische Welt, in der Erzähler und Figuren kreuz und quer durch die Epochen reisen und vor allem lesen. So in Harpmans Fromentin-réécriture, deren Protagonistin, mit feiner „réceptivité parodique“ ausgestattete ‚ludische‘ und zugleich ‚uchronische‘ Leserin, 118 unbesorgt ihrer Zeit voraus Proust kommentiert („un des grands auteurs de votre siècle, dont le nom m’échappe en ce moment“), 119 in einem doppelten Lektüre-Akt das Bewusstsein ihres postmodernen Publikums zu infiltrieren und über die historische Distanz hinweg dessen Weltkenntnis und Vokabular begierig aufzusaugen erklärt, 120 oder auch im pseudohistorischen Roman La Dormition des amants (2002), „parenthèse d’histoire européenne Schlüsselroman Le Bonheur dans le crime reflektiert, dessen Erzähler auf eine lange Hass-Liebesbeziehung mit dem Klischee zurückblickt. Konsterniert betrachtet der Musterschüler, fixer Anwärter auf den alljährlichen „premier prix de composition française“ (2004b: 58), jene „fort mauvaise note“, die ihm sein sorgfältig redigierter Aufsatz zum Thema „Un paysage d’hiver“ eingebracht hat: „[…] après une longue réflexion, j’avais parlé de la campagne recouverte d’un blanc manteau de neige“ (ibid.: 175). Gehorsam internalisiert der Junge darauf das Gebot der ‚Originalität‘ - und meidet auch Jahrzehnte später ängstlich das diskursive Terrain des einst so stolz ‚neu‘ entdeckten lieu commun, auch wenn er heimlich nach wie vor „une nostalgie profonde pour les expressions toutes faites“ kultiviert und sich gelegentlich erlaubt, in lustvoller Pseudo-Naivität darin zu schwelgen. Auch dieser Text illustriert schließlich die Entfaltung einer paradoxen ‚Originalität‘ eben aus der hyper-konventionellen Imitation: Ausgerechnet der (Anti-)Held dieser Episode entwickelt sich als Erwachsener zum überaus gefragten Geschichtenerzähler, der nachträglich auch die kommunikativen Tugenden des Gemeinplatzes zu argumentieren versteht; ausdrücklich honoriert er in Abgrenzung gegenüber seiner eigenen Epoche die Literatursprache des 19. Jahrhunderts, „de ce siècle qui n’avait pas peur des clichés car il prenait les manières fréquentes de dire pour les manières justes. L’intérêt des lieux communs est qu’on les comprend bien, on retrouve sa pensée chez les autres, cela est rassurant“ (ibid.). Dieser abgeklärten défense schließt sich auch der Erzähler des Romans Du côté d’Ostende (2006) an: „Que voulez-vous? même un lieu commun vieux comme le monde a été dit une première fois et n’est passé lieu commun que par l’effet de sa pertinence“ (Harpman 2007a: 153f.). 118 In ihre Darstellung des Phänomens Intertextualität integriert Samoyault (2013) eine Übersicht über die korrespondierenden Leser-Typen (vgl. ibid.: 70ff.: „Divers lecteurs“). Zum „lecteur ludique“ mit seiner „réceptivité parodique“ (so Samoyault unter Rekurs auf eine Formulierung Michel Vernets) gesellen sich - potentiell auch in Personalunion - der „lecteur herméneute“ und der „lecteur uchronique“, um eventuelle Anachronismen unbesorgter Operator der „détemporalisation des textes dans les opérations successives de lecture“ (ibid.): „C’est ainsi que l’intertextualité ne date pas; elle ne dispose pas le passé de la littérature selon l’ordre successif d’une histoire mais bien comme une mémoire“ (ibid.: 71). „Lire l’intertextualité c’est d’abord faire l’expérience de ce temps réversible […]“: Unter Anknüpfung an Samoyault identifiziert auch Rabau den Anachronismus als „en ce sens la figure la plus emblématique de toute intertextualité“ (2002b: 44) und plädiert ihrerseits für „une critique spatiale libérée de la linéarité“ (ibid.: 44ff., vgl. auch 14f.), die im Gegensatz zur traditionellen ‚Einfluss‘-Forschung die literarhistorische „décontextualisation“ (ibid.: 37) nicht scheut, Intertextualität nicht als „réaction“, sondern als „interaction“ auffasst und so auch der „notion d’influence rétrospective“ gerecht zu werden vermag (ibid.: 43f.). 119 Harpman 2007b: 353ff. 120 „On sera peut-être étonné de me trouver utilisant des termes que l’on n’avait pas encore inventés de mon temps: je retraduis des pensées qui, alors, restaient confuses. Mon savoir s’explique très simplement: je le prends dans l’esprit des lecteurs. Pendant qu’ils sont dans Dominique, moi je suis dans leur âme, je m’y promène à mon gré […]“ (ibid.: 739ff.). Einer ähnlichen Technik bedient sich bereits die unsterbliche Protagonistin des Romans Le Passage des éphémères, die sich, „incroyablement protéiforme“ (2003b: 2463), geschickt dem jeweiligen ‚Zeitgeist‘ anzupassen und den skandalösen Anachronismus ihrer Existenz derart zu kaschieren versteht (vgl. etwa ibid.: 678f.). <?page no="171"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 171 putative“. 121 Im Zuge der Arbeit an diesem Text setzt Harpman, nach eigener Aussage von ihren Figuren und ihrem Plot quasi heimgesucht, sich erstmals ausführlich mit der Geschichte des frühen 17. Jahrhunderts auseinander. 122 Gerade dieser Roman - intermittierende „féerie“ - verweist wiederum in so mancher Hinsicht auf La Princesse de Clèves, „par ses décors et ornements, si on veut bien se souvenir que madame de Lafayette attribuait à la cour d’Henri II le faste de celle de Louis XIV“: 123 An einem von „beaucoup de fort belles personnes“ bevölkerten Königshof 124 finden sich - getreu der retrowie prospektiv geltenden Maxime literarischer Unsterblichkeit, die Erzählerin Julie in Ce que Dominique n’a pas su formuliert 125 - in fröhlichem Anachronismus allerlei illustre literarhistorische Gäste ein, „toutes personnes de très haut lignage“, darunter „la duchesse de Guermantes“, „la baronne de Charlus“ und „la comtesse d’Orgel, qui était célèbre pour ses bals“, 126 selbstverständlich samt männlicher Begleitung („le prince de Guermantes, garçon impétueux que l’autorité de son père fatiguait, Orgel, qui avait envie de s’illustrer […]“ 127 ). Während Xavier Mellery, realer Repräsentant des belgischen Symbolismus, als metaleptischer Zeitreisender mit dem Porträt einer fiktiven franko-spanischen Königin aus einem nicht minder fiktiven 17. Jahrhundert beauftragt wird, zitiert und kommentiert deren geliebter Eunuch, 128 passionierter Leser, quer durch die Jahrhunderte nicht nur die „tragédies d’un certain Shakespeare qui remportait grand succès à Londres“, 129 sondern auch Stendhal 130 und schließlich sogar einen Dichter „dont j’ai oublié le nom, quelque chose comme Borgas ou Borges, il paraît qu’on le connaîtra“. 131 Zugleich verwehrt er sich prophylaktisch gegen die 121 Paque 2003: 43. Vgl. zu diesem „faux roman historique“ bzw. „faux roman mémoire“ vor allem Torre Giménez 2013 (hier zit. 67). 122 „Cela non plus, je n’ai pas choisi. Quand ces premières phrases sont arrivées, il y avait un brasero, une tente, une reine, des guerres qui ne me situaient pas à l’époque actuelle. Ou bien je laissais tomber, mais je n’en avais pas envie, ou bien je continuais et je m’instruisais sur ce début du XVII e siècle que je ne connaissais pas bien. Un temps que j’aime beaucoup pour la langue. Là, j’ai pu me donner bien librement à mon goût de la grammaire. C’était un des grands agréments de ce livre“, erklärt Harpman, ihre ‚Autorität‘ spielerisch an ihren Ich-Erzähler - den Eunuchen Girolamo - weiterreichend: „Il m’est tombé dessus comme ça, on ne choisit pas ses personnages, c’est toujours la même chose. Les premières phrases qui me sont venues sont les premières du livre. C’est lui qui racontait, qui avait tout vu. C’était naturel. Je n’ai fait que suivre. J’ai le sentiment que je dois aller déchiffrer ce qui est écrit quelque part“ (Blandiaux 2002). 123 Paque 2003: 44. 124 Harpman 2002: 454. 125 „Les héros de romans ne meurent jamais, ils existent dans un univers défini par les mots du livre“ (Harpman 2007b: 26). 126 Harpman 2002: 654ff. 127 Ibid.: 3908. 128 Kaum zufällig sind die zentralen Agenten dieses literarhistorischen Verwirrspiels des Öfteren zugleich gender-transgressive Figuren: Dies gilt für Girolamo in La Dormition des amants ebenso wie für Julie in Ce que Dominique n’a pas su, die als selbstdeklarierte „femme libre“ (2007b: 2629), als Mann verkleidete, bei Gelegenheit auch den ‚männlich‘-homosexuellen Liebesakt nicht scheuende Medizinstudentin („Ils ne voulaient point de femmes? Je me mettrais donc en garçon“; ibid.: 2921) auch in Sachen Geschlechterordnung ihrer Zeit weit vorauseilt: „Imagine-t-on siècle plus stupide que celui où ma vie s’est déroulée? “ (ibid.: 1123). 129 Harpman 2002: 2152f. 130 Vgl. ibid.: 3855ff. 131 Ibid.: 319f. <?page no="172"?> 172 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie eventuelle Kritik eines gewissen „monsieur Vaugelas“ am Stil seiner eigenen Erzählung („Ma foi! ces mémoires n’étant pas écrits pour être lus maintenant, cela n’a pas d’importance. Si on en critique le style et que monsieur Vaugelas y trouve à redire, je ne serai pas là pour être vexé“ 132 ), die er unter Assistenz eines eifrigen, kalligrafisch talentierten kleinen Dienstboten namens ‚Harpman‘ niederschreibt. 133 Harpman nimmt Borges - nicht zufällig in das hier punktuell versagende antizipatorische literarische Gedächtnis ihres Erzähler-Chronisten aus dem 17. Jahrhundert projiziert - beim Wort, wenn dieser darüber reflektiert, „daß die Dichter ihre eigenen Vorgänger erschaffen“; 134 in diesem extravaganten literarischen Universum ist Originalität keine Frage der bloßen Anciennität, zeitliche Priorität kein den melancholischen postmodernen Text von vornherein verdammendes zwingendes Kriterium ästhetischer Höherwertigkeit mehr. Wiederholt wird diese Karnevalisierung des Kanons - kreative Hommage - samt Revalorisierung der Re-Interpretation 135 auch auf diegetischer Ebene vorexerziert. Voll Vorfreude erwirbt der Erzähler in En toute impunité, seinerseits Roman eines „crime parfait“, 136 ein Buch namens Le Bonheur dans le crime („Il y avait longtemps que je n’avais pas relu l’admirable nouvelle de Barbey d’Aurevilly […]“ 137 ) - und stellt enttäuscht fest, dass ihm anstatt des originalen „chef-d’œuvre“ das Elaborat eines „usurpateur sans vergogne“ untergejubelt wurde. 138 In der Folge schreitet die textexterne Schöpferin besagten „faux Bonheur dans le crime“ zur Zähmung des rebellischen Rezipienten, der zunächst „malgré […] un style acceptable de la part de l’auteur“ die Lektüre verweigert 139 - und zur Strafe sogleich statt des gewünschten Orlando an Harpmans Woolf-Hypertext gerät: „[…] non! c’était un Orlanda, et du même auteur sans vergogne qui, vraiment! n’avait pas d’inspiration pour ses titres s’il lui fallait toujours reprendre ceux des autres! “ 140 Mit einem Exemplar der Diaboliques („les vraies“) rettet sich der gequälte Leser auf eine prekäre Insel der „lecture heureuse“; 141 angesichts des sich intensivierenden Durcheinanders zwischen klassischem Prätext und (doppelt) romanesker Realität kehrt er freilich zuletzt zur postmodernen réécriture zurück („Il faudrait peut-être que je me décide à lire cet autre Bonheur dans le crime […]“ 142 ) - und wird schließlich selbst 132 Ibid.: 4912ff. 133 „J’ai une belle écriture […]. Je suis rapide et vigoureux: je pourrais, si vous êtes fatigué de tenir la plume, écrire sous la dictée pendant des heures“, erklärt der kleine ‚Harpman‘ stolz seinem Herrn, der seinerseits konstatiert: „On sent que cela lui plairait“ (ibid.: 4895ff.). 134 Bloom 1995: 21. Vgl. dazu auch die Reflexionen Jorge Luis Borges’ in „Kafka y sus precursores“ (Otras inquisiciones, 1952): „Im Vokabular der Kritiker ist der Ausdruck ‚Vorläufer‘ unverzichtbar; man müsste jedoch versuchen, ihn von jedweder polemischen Konnotation zu befreien. In Wirklichkeit erzeugt jeder Schriftsteller seine eigenen Vorläufer. Jedes Werk verändert die gemeinschaftliche Wahrnehmung der Vergangenheit, wie auch die der Zukunft“ (zit. nach Calvo Montoro 2002: 78). 135 „Eine neue Interpretation zu geben, ist also das gleiche, wie ein neues Werk zu schaffen“, bemerkt Groys zur Innovation als kulturökonomischem Prinzip (1999: 43). 136 Harpman 2005b: 2502. 137 Ibid.: 39ff. 138 Ibid.: 91ff. 139 Ibid.: 527f. 140 Ibid.: 531ff. Im Interview kommentiert Harpman ihr ambivalentes Verhältnis zu Virginia Woolf und deren „langue sublime“, in der sie freilich „des histoires d’un ennui inimaginable“ erzähle (De Decker 2004a). 141 Harpman 2005b: 534f. 142 Ibid.: 2917. <?page no="173"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 173 zum Schriftsteller bzw. (ré-)écriveur: „Ce soir-là, je n’ouvris pas Les diaboliques. Je pris des notes jusqu’à une heure du matin.“ 143 Im Rahmen dieses von Roman zu Roman fortgeschriebenen literarhistorischen Spiels ist nicht nur eine über den eigenen Klassizismus ironisierende Jacqueline Harpman als Leserin der Princesse de Clèves und des Bal du comte d’Orgel denkbar, sondern auch Lafayette - oder sogar, in einer der für Harpman charakteristischen metaleptischen Wendungen, Mme de Clèves - als prospektive Leserin der réécriture Harpmans, die, literarisches Markenzeichen, immer wieder diverse fiktive Alter Egos, auktoriale Avatare unterschiedlichen Alters und beiderbzw. allerlei Geschlechts in ihre Texte schmuggelt - von jener „bonne fille“ namens „Jacqueline Harpman“, die in La Plage d’Ostende als improvisierte Maskenbildnerin der tristen betrogenen Ehefrau etwas mehr Glamour zu verleihen versucht, 144 bis zu besagtem kleinen Sekretär „Harpman“ in La Dormition des amants oder auch „votre amie Jacqueline“ in Le Passage des éphémères. 145 Debüt mit Lafayette: Brève Arcadie als (meta-)klassischer Roman Devenir un auteur, c’est donc surmonter l’angoisse d’influence. 146 Un premier roman, c’est une histoire personnelle de la littérature. 147 Drei Jahrzehnte zuvor, zur Entstehungszeit ihrer Lafayette-réécriture, ist Jacqueline Harpman noch auf der Suche nach ihrer eigenen literarischen Stimme - dies auf dem Umweg über das Genre des von ihr bevorzugten „roman psychologique ou d’analyse ‚à la française‘“; 148 mit diesem Text beginnt aber auch der Prozess der allmählichen Emanzipation vom klassischen Kanon, der in dessen parodistisch-karnevalistisches détournement mündet. In Brève Arcadie selbst, „[p]roche encore de ses modèles“, folgt Harpman mit ihrer prononcierten Präferenz für die „forme sentencieuse“ schon stilistisch der Spur ihrer ehrwürdigen Vorbilder: „Des phrases entières semblent échappées de Racine ou, plus près, de Constant ou de Fromentin […]“; auf Lafayette verweist sowohl die „économie générale de l’intrigue“ als auch spezifischer die „prudente économie des descriptions“, ebenso der Rekurs auf „une infinie variété de périphrases“. Paque unterstreicht vor allem die - im Genre Roman besonders markierten - Parallelen zum klassischen Theater; wie in den Tragödien Corneilles oder Racines frappiert auch in Brève Arcadie „l’absence de niveaux de langue“: „Le texte participe d’un seul registre, qu’il s’agisse du langage parlé dans les dialogues ou du style indirect dans le récit proprement dit.“ 149 Bei aller Ironie etwa gegenüber „ce rythme ternaire qui fait que tout Racine pourrait se chanter sur l’air du Beau Danube Bleu“ 150 bleibt die Romancière in ihrem „immense respect 143 Ibid.: 1099f. 144 Vgl. Harpman 1993: 219f. 145 Harpman 2003b: 490, vgl. auch 545f. 146 Schneider 2011: 320. 147 Dantzig 2005: 691-693 („Premier livre, dernier livre“), hier 692. 148 Paque 2003: 149, vgl. auch 133. 149 Ibid.: 49ff. 150 Harpman 2000: 202. <?page no="174"?> 174 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie pour la grammaire“ (in diesem Punkt erklärtermaßen sogar „de plus en plus pointilleuse“ 151 ) einem betont klassischen Textduktus treu; in ihrer zweiten Schaffensperiode wird letzterer systematisch metaisiert - und so manche Figur mit Harpmans eigenen, zugleich explizit kommentierten sprachlichen „tics“ ausgestattet. 152 Doch bereits in der frühen Brève Arcadie werden auch subtile stilistische Brüche sichtbar: Etliche Sätze münden in ein leitmotivisch wiederkehrendes, halb spöttisches, halb melancholisches etc., narrative Signatur dieser ersten literarischen Selbstverortung in einem womöglich längst überfüllten „mondo di carta“, 153 in dem - Angst des Autors vor der weißen, aber auch vor der palimpsestartig vollgekritzelten Seite - nichts mehr zu erzählen übrig geblieben und jedenfalls immer schon klar ist, wie die jeweilige Reflexion nun weiter zu verlaufen hat. 154 Wie das Experiment der kleinen Protagonistin aus La Plage d’Ostende beginnt Brève Arcadie mitten in der klassischen Bibliothek der literarischen Vorfahren - und konkret auf den ersten Seiten der Princesse de Clèves, auch wenn deren Incipit nicht unter jenen berühmten „premières phrases“ zitiert wird, von denen ausgehend Émilienne sich an ihr eigenes Projekt macht. Als quasi omnipräsenter Hypotext inspiriert Lafayettes Roman Figurenkonstellation wie Handlungsverlauf; diese Princesse hat freilich eine beträchtliche intertextuelle Wanderung vom französischen Königshof des 16. Jahrhunderts in die Salons der belgischen Bourgeoisie 151 De Decker 2004a. 152 „Au moins, seul devant la feuille, je peux me livrer aux plaisirs de la langue sans voir personne froncer les sourcils devant les imparfaits du subjonctif“: Die anachronistische Vorliebe für letztere teilt Jean Avijl aus En toute impunité (2005b: 387f.) nicht nur mit Jacqueline Harpman selbst, sondern auch mit der polyglotten - und unsterblichen - Heldin des Passage des éphémères (2003b: 703f.), die sich - am Ende des 15. Jahrhunderts geboren (vgl. ibid.: 838), und zwar „très exactement pendant la nuit du 11 au 12 octobre 1492 […] la nuit même où Christophe Colomb posait le pied sur l’île de Guanahani“ (ibid.: 2914f.) - mit wechselndem Erfolg um Modernisierung ihres „français […] pas très contemporain“ (ibid.: 692) wie ihres „russe […] excellent“, doch „un peu désuet“ (ibid.: 687f.) bemüht: „Les langues évoluent à une vitesse déroutante, je suis restée trop longtemps dans des pays où l’on parle anglais, mon vocabulaire porte la marque d’un autre siècle“ (ibid.: 701f.). 153 Vgl. den Titel Luigi Pirandellos aus den Novelle per un anno (Pirandello 2007) sowie den Kommentar Rabaus (2002b: 13f.). „Vous voulez tous qu’on écrive des livres sans jamais s’arrêter“, beklagt sich selbst der gewiss nicht lebensarme Blaise Cendrars (2006: 6). „À quoi cela mène-t-il? Dites-le-moi… […] Allez donc faire un tour à la Bibliothèque nationale et vous verrez à quoi cela vous mène, cette histoire-là. Un cimetière. Un continent submergé. Des millions de volumes livrés aux vers. Personne ne sait plus de qui c’est. Personne ne le demande jamais. Terra incognita. C’est plutôt décourageant.“ 154 So etwa jene des jungen François, der über seine ganz und gar unzeitgemäße, geradezu peinliche ‚Keuschheit‘ ironisiert: „Me voilà donc sans maîtresse et bien chaste depuis deux mois. Si je fais les comptes de ma vertu, j’ai vécu en ascète. À notre époque, il y a du ridicule, etc.“ (Harpman 2004a: 115). Vgl. etwa auch den ironischen Kommentar François’ zur „quiétude du gourmet dans le saint ministère, etc.“ (ibid.: 33), jenen der Erzählinstanz zum Selbstbetrug der verliebten Neurotiker („C’est une grande satisfaction morale pour les inquiets, ils se disent: ma passion m’a changé, amélioré, etc.“; ibid.: 117), den „troubles de conscience“ Julies, „encore naïve“ („J’ai donné des raisons d’espérer, c’est assez pour qu’aujourd’hui on désespère, ne suis-je pas bien coupable, etc.“; ibid.: 51), oder auch umgekehrt zur würdevollen Reaktion Aubergers auf die außereheliche Passion seiner Frau: „Il n’eut pourtant pas le mouvement de dépit: Ai-je été assez sot, etc., que l’on peut craindre: […]“ (ibid.: 91). Noch häufiger und insistenter rekurriert Harpman in Les Bons Sauvages auf dieses schillernde etc., das hier quasi leitmotivisch an den Satzbeginn wandert („Etc., etc., elle parla pendant une bonne demiheure“; 2000: 113, vgl. auch ibid.: 71, 164, 260), mehrmals auf der Meta-Ebene kommentiert wird („Etc., etc., le vocabulaire français permet de répéter la même idée pendant vingt minutes sans répétition de mots […]“; ibid.: 187) - und sogar syntaktische Autonomie gewinnt: „Etc., etc.“ (ibid.: 46). <?page no="175"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 175 des 20. zurückgelegt. Wie Radiguet, doch noch ein paar Jahrzehnte später, stellt Harpman sich der Herausforderung einer Rekontextualisierung des Sujets vor dem Hintergrund eines radikal veränderten - und sich rasch weiter wandelnden - Liebes-, Ehe- und Subjektbegriffs. Im Folgenden soll in Form einiger interpretatorischer Streiflichter auf den Text gezeigt werden, wie hier eine von vornherein auf der Meta-Ebene problematisierte nachträgliche ‚Originalität‘ sich eben in der réécriture des klassischen Prätextes entfaltet. Ähnlich wie Raymond Radiguet und Louise de Vilmorin - und im Unterschied zur Princesse - nimmt Jacqueline Harpman das (zeit-)historische Moment ihrer Narration relativ stark zurück und konzentriert sich auf die zentrale amourös-matrimoniale Intrige. An die Stelle des ausführlichen Eingangs-Panoramas bei Lafayette tritt in Brève Arcadie ein prägnantes Psycho- und Sozioporträt des ‚Prince‘-Rollenträgers, anachronistisch-eklektische und gerade insofern symptomatische Figur „à l’aise entre deux siècles“, 155 die - Opfer eines lähmenden taedium vitae - sämtliche galanten und sonstigen Ambitionen längst hinter sich gelassen hat: „Si Gaston Auberger s’ennuya toujours, je crois que ce fut par excès d’imagination. La première femme qu’il eut lui apprit ce qu’il faut savoir sur les femmes et l’amour. Il ne lui fallut qu’une année pour être éclairé sur le peu de variété des joies que l’ambition donne. […] Que reste-[t-]il dans la vie d’un homme qui ne s’amuse plus de l’amour ni de l’ambition? “ 156 Mit der Epoche wechselt Harpman auch das soziale Milieu. Ihr ‚Prince‘ ist der Sohn eines bürgerlichen Industriellen, der sich, gegen den Snobismus des Parvenus nicht gefeit, an seiner temporären Rolle als pseudo-feudaler „châtelain“ delektiert, und einer „demoiselle de Verteuil“ aus rezentem Empire-Adel, 157 die - im Gegensatz zu Radiguets Mme de Séryeuse, „une grande dame fourvoyée dans la bourgeoisie“, 158 vielmehr in die Aristokratie verirrte Bourgeoise - mit ihrer Eheschließung ins Bürgertum zurückkehrt, gehorsam nach romaneskem Vorbild und getreu dem „style de l’époque“ den obligaten, von allerlei moralischen Skrupeln begleiteten und lediglich platonisch ausgelebten „adultère“ für sich entdeckt 159 und nach dem Ruin der Familie im Rahmen der Wirtschaftskrise 1929 mit Leichtigkeit, ja beinahe Erleichterung in die prosaische Position der Hausfrau zurückfindet: „M me Auberger avait déjà oublié ses bijoux et s’était mise à faire la cuisine.“ 160 Der finanzielle Krach eines entthronten und mittlerweile semi-senilen Vaters - Repräsentant einer ganzen Generation - ersetzt den Tod bei Lafayette: Der junge Jurist Gaston, nunmehr „chef de famille“, 161 rettet mit der Eröffnung eines industriellen Steinbruchs - der seinerseits zu einer poetologischen Lesart einlädt - auf dem geologisch vielversprechenden Gelände des elterlichen Gutes das wirtschaftliche Schicksal der Familie. Auch auf diegetischer Ebene thematisiert dieser Debütroman die Schwierigkeit eines modernen Protagonisten, seinen Platz zu finden in einer Welt, in der bereits alles gesagt und getan scheint („Tout ce qu’il touchait lui semblait déjà épuisé: il se résigna“ 162 ), in der es nur 155 Harpman 2004a: 25. 156 Ibid.: 7. 157 Ibid. 158 Raymond Radiguet, zit. nach Oliver/ Odouard 1993: LIV. 159 Harpman 2004a: 8. 160 Ibid.: 12. 161 Ibid.: 9. 162 Ibid.: 14. <?page no="176"?> 176 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie mehr einen ererbten „domaine de famille“ 163 möglichst gewinnbringend zu exploitieren und im Übrigen weitgehend sich selbst zu überlassen gilt; nach erfolgreicher Etablierung der „Carrières de Verteuil“ bleibt dem noch jungen Auberger nichts als der Rückzug in einen vorzeitigen „repos“ (kaum zufällig rekurriert Harpman hier auf diesen Schlüsselbegriff). 164 „À cet homme, certaines choses ne parvenaient que sous leur aspect caricatural“: 165 Das melancholisch-ironische Bewusstsein dieses allzu luziden Antihelden fungiert als Zerrspiegel, in dem soziale Konventionen und Illusionen aller Art - von den vermeintlichen „mystères“ einer romantisierten Geschäftswelt („Les mots ‚grandes affaires‘ qui font rêver les jeunes Rastignac perdirent rapidement leur prestige poétique […]“ 166 ) bis zum hyper-stereotypisierten „langage des passions“ 167 - parodistisch reflektiert werden. In Abwandlung von La Rochefoucauld („Il y a des gens qui n’auraient jamais été amoureux s’ils n’avaient jamais entendu parler de l’amour“) 168 stellt Gaston Auberger, eines routiniert-repetitiven, durch und durch zitationellen Liebesspiels längst überdrüssig, eines Tages fest, dass er seiner mondänen Verpflichtung zur Galanterie schon eine ganze Weile nicht mehr nachgekommen ist: „Un jour, il aperçut qu’il n’avait plus songé à être amoureux depuis trois ans. Il fallait qu’il y pensât, cela ne se faisait pas tout seul.“ 169 Als resignierter „quadragénaire“ unternimmt der Protagonist - den weder der Tod seiner Eltern (immerhin Anlass eines „chagrin assez vif“: „c’était une sensation“) noch der Zweite Weltkrieg aus seinem chronischen ennui dauerhaft aufzurütteln vermögen 170 - im Jahr 1948 mit überschaubarem Optimismus einen letzten Versuch, etwas Abwechslung in sein Leben zu bringen: „[…] l’unique moyen de se désennuyer qu’il n’eût pas encore essayé était le mariage.“ 171 Zwischen Anachronismus und Transgression: Lob des mariage de raison Ja, eine Liebesgeschichte… lieber Meister, wie denken Sie sich das? In der heutigen Zeit Liebe? […] Wer liebt denn heute noch? 172 Ko-Protagonistin dieser Rebellion gegen Kontingenz und Konventionalität der Welt ist die hübsche Julie Bourdet, über ihren Vornamen - mit einem Familiennamen von geradezu karikaturaler bürgerlicher Trivialität kontrastiert - in ein ganzes Netzwerk intertextueller Referenzen von Shakespeare über Rousseau bis Fromentin eingesponnen. 173 Die Auserwählte, 163 Ibid.: 9. 164 Ibid.: 12. 165 Ibid.: 11. 166 Ibid. 167 Ibid.: 10. 168 La Rochefoucauld 2005: Nr. 136. 169 Harpman 2004a: 13. 170 Ibid.: 13f. 171 Ibid.: 17. 172 Tucholsky 2016: 17f. 173 Tatsächlich verbindet schon diese erste Julie eine Reihe frappanter Gemeinsamkeiten - bis ins lexikalische Detail der Schilderung - mit ihrer zugleich älteren und jüngeren Namensschwester aus Harpmans Fromentin-réécriture. Die attraktive Julie aus Brève Arcadie erscheint quasi als glorifizierte Version der Fromentin-Harpman’schen Hybridfigur; ohne Koketterie entwirft letztere als homodiegetische <?page no="177"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 177 mehr als zwei Jahrzehnte jünger, richtet einen desillusionierten Blick auf ihren Bräutigam: „J’épouse une momie! “, bemerkt sie amüsiert gegenüber ihrer ob so viel Respektlosigkeit entsetzten Mutter: „Au moins, respecte ton mari! “ 174 Die junge Frau, die nach einer eintönigen Jugend im Kloster eben erst - wie ihre Lafayette’sche Vorgängerin - ihr gesellschaftliches Debüt hinter sich gebracht hat, lässt sich, „moins crédule qu’il n’est d’usage à un tel âge“, freilich nicht nur auf Druck ihrer Familie, sondern vor allem aus höchstpersönlichen pragmatischen Erwägungen auf diese in den Augen ihrer Zeitgenossen bereits recht extravagante Vernunftehe ein: „Elle se doutait bien que Gaston Auberger ne nourrissait pas à son égard une passion dévastatrice, mais elle avait des raisons d’accepter ce mariage qui enchantait ses parents.“ 175 „Les règles ont changé, mais il faut toujours les enfreindre car les règles servent à étouffer les âmes“: 176 Immer wieder insistiert die (zukünftige) Psychoanalytikerin Harpman 177 auf Erzählerin ein kritisches Selbstporträt im Kontrast zu ihrer schönen Schwester: „Dominique n’a vu que Madeleine, ses cheveux cassonade et son teint de crème fouettée. Elle avait les yeux en amande, la bouche en cerise: une pâtisserie au miel. Sans doute mon beau, mon méchant Dominique aimait les douceurs. Moi, je suis noiraude, petite, et, pour rester dans la métaphore alimentaire, j’ai le cheveu chocolat foncé, pas noir comme les admirables chevelures des Hindoues qui se déroulent quand elles les libèrent […]“ (Harpman 2007b: 56ff.). Eben mit einer derartigen prachtvollen „longue chevelure d’Hindoue“ wird - aus der großzügigeren Perspektive einer heterodiegetischen Erzählinstanz - jene erste Julie ausgestattet (2004a: 127); die beiden Figuren teilen auch ihre faszinierenden „yeux […] bleus“ (ibid.: 26; 2007b: 886ff.) und eine gewisse ‚spanische‘ Exotik (vgl. ibid.: 2545). Der strahlenden Protagonistin der Brève Arcadie stellt Harpman mit Alberte Orval eine blasse, allseits verkannte blonde Schönheit zur Seite, die als Prototyp der Antiheldin - und speziell der bei aller Liebenswürdigkeit ungeliebten Frau, die schließlich trotz allem aktiv ihr Lebensglück erarbeitet - relativ getreu die undankbare Position Julie d’Orsels gegenüber ihrer Schwester Madeleine zitiert (die subtile Verbindung zwischen den Figurenkonstellationen der beiden Texte spiegelt sich nicht zuletzt in der phonetischen Affinität der jeweiligen Namen wider). 174 Harpman 2004a: 15. 175 Ibid.: 16. 176 Harpman 2007b: 3864f. 177 Bereits vor dem offiziellen Beginn ihrer psychoanalytischen Laufbahn ist das Thema in Harpmans Werk überaus präsent; der im Anschluss an Brève Arcadie verfasste Roman Les Bons Sauvages, letzte Publikation Harpmans vor ihrer langen literarischen Schaffenspause, setzt nicht nur eine pathologisch eifersüchtige Ehefrau in Szene, „blonde nerveuse“ und Stammkundin auf den Sofas des Pariser psychoanalytischen Milieus („Elle court psychiatres et analystes à longueur d’année […]“; 2000: 137), sondern im Rahmen des ‚Bildungsromans‘ der Protagonistin auch deren Konfrontation mit der Bibliothek eines Liebhabers, die „de Freud à aujourd’hui, une bonne partie de la littérature psychanalytique traduite en français“ enthält. Nach einigen Tagen exzessiver Lektüre kommt Clotilde wieder zu sich, „les joues en feu et l’œil hagard“: „elle regarda autour d’elle, reconnut mal les objets quotidiens et soupira que c’était horrible“ (ibid.: 180). Die Autorin selbst verortet ihre allererste Begegnung mit der Psychoanalyse im Exil von Casablanca - biografische Schlüsselphase in mancher Hinsicht - und konkret in der dortigen Stadtbücherei, in deren überschaubarem Sortiment sie sich als Teenager eifrig quer durch das Alphabet liest und derart - sogleich mit der Impression einer „résonance profonde“ - Freud für sich entdeckt: „À la bibliothèque municipale de Casablanca il n’y avait pas beaucoup de livres. Par exemple on passait directement de ‚Fl.‘ à ‚Fr.‘. Je lis donc Madame Bovary de Flaubert et puis j’emprunte Freud. Quelles œuvres? Je ne m’en souviens pas avec précision. Ce devait être Totem et tabou ou La Psychologie des foules. Freud n’était pas une vedette dans les milieux intellectuels où je vivais, d’autant plus que la guerre n’était guère propice à l’émergence des auteurs allemands. Mais la lecture de Freud a brusquement trouvé en moi une résonance profonde. Cela me concernait, oui c’était pour moi“ (Andrianne 1992). „À quatorze ans, je découvrais Freud. Et j’avais déjà la pleine conviction que je serais romancière et psychanalyste“, bestätigt Harpman auch im Gespräch mit De Maeschalt (1992: 12, zit. ibid.). <?page no="178"?> 178 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie der existentiellen Notwendigkeit der Transgression 178 - in der Liebe wie in der Literatur 179 -, die je nach sozialem und historischem Kontext unterschiedliche Formen annimmt. Erfüllt in Zeiten der standes- und standardgemäß arrangierten Ehe die Passion diese transgressive Funktion, 180 so setzen Harpmans Protagonistinnen in einer Ära, in der die romantisierte bürgerliche Liebesehe - wie der Stendhal’sche amour-passion „un phénomène historique“ 181 - zur mehr oder minder obligaten Norm geworden ist, auf die Vernunftehe, vom „témoignage de la mesquinerie bourgeoise“ 182 zur Rebellion einer neuen Generation umgedeutet. Julie in Brève Arcadie, die „derrière les robes de pensionnaire et la tenue correcte d’une jeune fille bien élevée“ 183 einen unabhängigen, wachen Verstand verbirgt, ist die erste in einer ganzen Reihe Harpman’scher Romanheldinnen, die ihre vie sentimentale in einem komplexen Spannungsfeld gesellschaftlicher Passions-Codes - und hier nicht zuletzt vor der Negativfolie der vor allem für den weiblichen Part höchst strapaziösen Hass-Liebesehe ihrer Eltern 184 - für sich neu aushandeln, zwischen persönlichem Pragmatismus und epochenspezifischem amourösem Klischee: „Comme la mode n’est plus aux mariages de raison, M lle Bourdet, qui n’était pas encore tout à fait dégagée des préjugés du siècle, eût trouvé ridicule d’épouser sans amour. Elle employait sa curiosité à se faire croire qu’elle aimait.“ 185 In ironischem Rollentausch zwischen den Generationen und Geschlechtern ist es hier der Vater, temperamentvoller Lebemann bzw. seinem schmeichelhaften Selbstbild nach „homme de passion“, der den allzu vernünftigen Eheplänen seiner Tochter und seinem allzu soliden zukünftigen Schwiegersohn voll Skepsis gegenübersteht: „C’est un homme sérieux […] Comme Julie va s’ennuyer! “ 186 Auch die naive, chronisch überforderte und nur mehr nach „repos“ strebende Mutter sieht der Heirat ihrer Tochter ratlos bis ängstlich entgegen - und stellt, im Gegensatz zur raffinierten Liebespädagogik einer Mme de Chartres, erst im Rahmen der Hochzeitsvorbereitungen erschrocken fest, dass jene über diverse Aspekte des Ehelebens längst recht gut im Bilde ist: „Les quarante-quatre ans d’Auberger effrayaient un peu M me Bourdet. Bah! dit Julie, il sera fidèle. La pauvre femme fut choquée de voir que sa fille 178 „Je n’ai jamais eu la prétention d’écrire des histoires moralement correctes“, erklärt augenzwinkernd Harpmans Erzählinstanz in der finalen „Moralité“ des Romans Orlanda (1996: 299), dessen gendertransgressiver Plot rund um eine Virginia Woolf lesende Protagonistin sich gleichfalls aus einem hypertextuellen Verwirrspiel entfaltet. 179 Als „une passion, un amour“ charakterisiert Harpman auch ihr Verhältnis zur französischen Sprache, deren in ihrem Werk genussvoll kultivierte „rigueur“ erst den unentbehrlichen Rahmen für die Erfahrung jeglicher „liberté“ stifte: „Sans limites, il n’y a pas de transgressions.“ Auch in dieser Hinsicht also „le bonheur dans le crime“, wie De Decker (2004a) unter Zustimmung Harpmans („Absolument! “) resümiert. Vgl. zu diesem Leitmotiv des Harpman’schen Œuvres auch bereits Les Bons Sauvages (2000: 204). 180 „Mon cousin a eu des amants pour parents! Y a-t-il rien de plus subversif? “, fragt sich verblüfft Julie aus Ce que Dominique n’a pas su (Harpman 2007b: 257f.): „Ces gens-là avaient dissimulé la passion dans le mariage, qui est évidemment le dernier endroit où la chercher“ (ibid.: 268f.). Skeptisch beobachtet auch die jugendliche Heldin aus L’Apparition des esprits die nach langen Ehejahren vage skandalös anmutende Passion ihrer Eltern, dieser „maniaques de l’amour conjugal“ (2005a: 29): „[…] ma mère, pourtant, paraissait fort honnêtement mariée. Mais elle avait de la passion comme si elle ne l’eût pas été“ (ibid.: 15). 181 Vgl. Rougemont 1979: 8. 182 Vgl. Cannone 2013: 221. 183 Harpman 2004a: 17. 184 Vgl. ibid.: 128. 185 Ibid.: 20. 186 Ibid. <?page no="179"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 179 savait que les hommes sont parfois infidèles. Elle l’eût été encore bien plus si elle avait su ce que les deux fiancés se disaient dans leurs tête-à-tête.“ 187 Ist Lafayettes Prince de Clèves - in ebenso epochenuntypischer wie unglücklicher Fusion der Rollen des mari und des amant - leidenschaftlich in seine Frau, bei Radiguet umgekehrt Mahaut d’Orgel zumindest anfänglich „follement“ in ihren Mann verliebt, 188 so liebt in Harpmans ehelicher Konstellation bis auf Weiteres überhaupt niemand mehr. Brève Arcadie geriert sich zunächst als provokant unzeitgemäßes Lob der Vernunftehe (an das Harpman in späteren Romanen anknüpft 189 ) bzw. jener ‚guten Ehe‘, deren weniger liebesdenn freundschaftsorientiertes Ideal bereits Montaigne skizziert. 190 „J’ai passé l’âge des passions […] et vous ne l’avez pas encore atteint. C’est pourquoi notre mariage peut réussir brillamment. Dans le choix que nous faisons l’un de l’autre, nous ne sommes aveuglés par rien d’étranger à la raison: comment nous tromperions-nous? “, 191 erklärt Auberger seiner Verlobten - und wird damit vorerst recht behalten. Die Verbindung zwischen der „momie“, die „avec un sourire amusé“ vor dem Altar steht, 192 und der achtzehnjährigen Julie gerät durchaus zur beiderseitigen Zufriedenheit. Die junge Frau weiß die Vorteile ihrer neuen „vie auprès d’un honnête homme fort désabusé“, 193 187 Ibid.: 16ff. 188 Radiguet 1986: 60. 189 So setzt Harpman in La Plage d’Ostende ihre romaneske Reflexion über die okzidentale Liebes- und Ehegeschichte fort. Pragmatisch tröstet die elfjährige Protagonistin ihre kleine Freundin Colette (! ), die sich, in ihren Cousin verliebt, wegen eventueller kirchlicher Heiratsverbote Sorgen macht: „D’ici que nous soyons en âge, tu verras, on ne se mariera plus. […] L’union libre l’emportera […].“ Aus der Perspektive der gealterten und ironisch abgeklärten Émilienne wird dieser historische Optimismus freilich nachträglich relativiert: „Je croyais l’évolution des mœurs plus rapide qu’elle ne fut, on mit quarante ans à cesser de se marier, et il paraît qu’on recommence […]“ (1993: 39). Wenn bis auf Weiteres auch noch geheiratet wird, so hat doch jedenfalls die Norm der Liebeslängst jene der Vernunftehe abgelöst: „Je crois que vous vous trompez d’époque. Les mariages de raison sont tout à fait démodés“ (ibid.: 50), erklärt der brotlose Künstler Léopold seiner Mäzenin, als diese ihm ihren Vorschlag einer (für ihn) höchst vorteilhaften arrangierten Ehe unterbreitet. Zum Befremden ihrer Eltern und ihrer überaus modernen Großmutter („Je croyais que les mariages de raison étaient passés de mode? “) beharrt auch hier eine sehr junge Heldin auf einer unzeitgemäßen strategischen Allianz („Je ne me soumets pas aux modes“); zur Auswahl eines passenden Kandidaten wird ebenjene Großmutter zu Rate gezogen („Tu les connais. Lequel me conseilles-tu d’épouser? Je veux être libre et riche“; ibid.: 104), deren vielfach bewährtem „regard perçant“ (ibid.) das Doppelspiel ihrer Enkelin nicht verborgen bleibt: „Ton mariage m’a toujours semblé louche […] plus personne ne pratique le mariage de convenances: à qui ou à quoi convenait-il? “ (ibid.: 188). In Le Bonheur dans le crime ist es wiederum die kluge Emma, prinzipielle Anti-Idealistin (2004b: 192), die den Sitten- und Sinneswandel in Sachen Liebe und Sexualität in einem „siècle d’émancipation“ (ibid.: 189) mit seiner „morale […] trop incohérente“ (ibid.: 220) kommentiert; so gegenüber dem Polizeikommissar, der in ihrem Haus die Leiche eines Selbstmörders - unglücklicher Verehrer ihrer Urenkelin - inspiziert und nach den üblichen Motiven („quelque chose qui correspondît à la situation […] de la jalousie, un rival […], une maîtresse évincée, du déjà vu“) sucht: „Il n’y a rien de tout cela, mon pauvre monsieur, mais une passion, un amour malheureux, Werther, vous connaissez? “ („Mais Werther ne dormait pas dans le lit de la jeune fille“, so der prompte Einwand des nicht ganz unbelesenen Kommissars; ibid.: 161). 190 „Ung bon mariage, s’il en est, refuse la compaignie et conditions de l’amour. Il tache à representer celles de l’amitié. C’est une douce societé de vie, pleine de constance, de fiance et d’un nombre infiny d’utiles et solides offices et obligations mutuelles“ (Montaigne 1965a). 191 Harpman 2004a: 18. 192 Ibid.: 20f. 193 Ibid.: 22. <?page no="180"?> 180 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie erfreulicher Kontrast zur trivialen Welt der bürgerlichen idées reçues, in der sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hat („Qu’elle était loin des sottises édifiantes de sa mère, ou frivoles de son père! “ 194 ), sehr wohl zu schätzen; unter der Anleitung eines bei allem Zynismus rücksichtsvollen, mit sokratischer Methode zu Werke gehenden Pygmalion erkundet sie - wie die Princesse ist auch Brève Arcadie nicht zuletzt ein (hier parodistisch gebrochener) Initiations- und Bildungsroman - voll Neugier die terra incognita ihrer eigenen Persönlichkeit: „Il lui apprenait à se découvrir: non à se faire des opinions, ce qui est la méthode usuelle, mais à porter au jour les siennes propres.“ 195 Die ungleichen Partner solidarisieren sich in der komplizenhaften Demontage der Klischees eines stereotypisierten Liebesdiskurses: Als gehorsame Schülerin ihres desillusionierten Ehemanns schämt Julie sich anfangs ihrer gelegentlichen „mouvements de midinette“ („[…] cela doit venir de ma mère. Et elle admirait la sagesse de son mari“ 196 ); rasch genug erlernt sie - ihrerseits stets auf der Hut vor „le pathétique [qui] ne lui semblait jamais très éloigné du mauvais goût“ 197 - den Gebrauch der Ironie „comme remède contre les passions“. 198 Beide wissen auch der subtilen ödipalen Zusatzdimension ihres „bizarre mariage“ ihren Reiz bzw. „le piment de l’inceste“ abzugewinnen (ausgerechnet beim Restaurantbesuch wird Julie zu beider Amüsement für Aubergers Tochter gehalten und damit diese kulinarische Metapher aktualisiert). 199 Hoch literarisierter klassischer amour-passion und ehelicher amour-affection („[…] l’affection est plus exigeante que l’amour“, stellt die Protagonistin fest 200 ) werden auf Harpmans postmoderner Carte de Tendre ebenso neu vermessen und re-differenziert wie Liebe und sexuelle Lust (diese Unterscheidung spielt in Harpmans Werk als emanzipatorische Errungenschaft, bewusster Kontrapunkt zu einer traditionellen weiblichen Sozialisierung, auch weiterhin eine zentrale Rolle 201 ). Zu ihrer eigenen Überraschung erlebt Julie zwar zu Beginn in den Armen ihres „mari-momie“ - der sich auch hier auf die Rolle des luziden Beobachters beschränkt - unerwartete sinnliche, auf den stilistischen Spuren Lafayettes dezent-litotisch periphrasierte 194 Ibid.: 18. 195 Ibid.: 26. 196 Ibid.: 24. 197 Ibid.: 150. 198 Ibid.: 123. 199 Ibid.: 20f. 200 Ibid.: 112. 201 „Faut-il orner d’amour le désir? “ (vgl. Paque 2013: 93, sowie die Variation der Formel in L’Apparition des esprits, 2005a: 63): Auf diese Schlüsselfrage des Harpman’schen Œuvres gibt auch Julie aus Ce que Dominique n’a pas su, in radikaler Umdeutung ihres intertextuellen Vorbilds bei Fromentin Pionierin nicht zuletzt der weiblichen sexuellen Emanzipation, eine negative Antwort. Schon als junges Mädchen versteht sie - im Gegensatz zu ihrer Schwester und überhaupt ihrer Epoche („[…] je ne crois pas que ma sœur fut capable de différencier l’amour et le désir, distinction qui n’était, de toute façon, guère établie dans notre siècle“; 2007b: 3268f.) - souverän zwischen Lust und Liebe zu unterscheiden; pragmatisch fordert sie ihren Cousin Olivier auf, sie in die Kunst der körperlichen Liebe einzuführen: „Je t’aime beaucoup. J’ai toute confiance en toi. Tu as eu des maîtresses, tu dois savoir comment traiter une femme. Tu me feras de bons débuts“ (ibid.: 1279f.). „Elle venait d’apprendre qu’on peut se servir des sens contre le cœur et j’admire une fille qui découvre cela à seize ans“, kommentiert eine im Text durchgehend ironisch präsente Erzählinstanz die éducation sentimentale der jugendlichen Protagonistin der Bons Sauvages (2000: 51). „Le drame de ma vie est que j’ai souvent confondu le désir et l’amour […]“, bedauert dagegen Cornélie in L’Orage rompu (1998: 370). <?page no="181"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 181 Freuden: „Son plus grand étonnement fut de ne se trouver pas insensible.“ 202 Mit seinem höflichen Rückzug aus dem gemeinsamen Schlafzimmer erklärt Auberger jegliches matrimoniale Sexualleben freilich bald nach der Hochzeit implizit für beendet; eine reflektierte platonische Allianz, zu deren stillschweigendem Arrangement das selbstverständliche Recht der jungen Frau auf anderweitige galanteries gehört („[…] entre gens d’une certaine qualité, certaines choses vont de soi, et n’appellent d’accords que tacites“ 203 ), situiert sich von vornherein jenseits des bürgerlich-romantischen Ideals der Liebesehe samt Anspruch auf monogame Exklusivität und moralischer Verdammung des ‚Ehebruchs‘. In der Tat ist Julie ihrem „mari si distant et si aimable“ 204 - „ami“, 205 nicht jedoch amant: die in der Gestalt des Prince de Clèves epochenuntypisch fusionierten Rollen werden hier wiederum anachronistisch separiert - im Rahmen belangloser aventures ‚untreu‘ (den entsprechenden lakonischen aveu legt stellvertretend die Erzählinstanz ab: „Il faut bien l’avouer, M me Auberger avait parfois trompé son mari“), im Bewusstsein dessen, dass diese sexuellen Eskapaden die Substanz ihrer Ehe nicht tangieren: „Mais cela le trompe si peu, se disait-elle quand elle y pensait. Et ce n’était pas pour s’excuser.“ 206 Diese auf Respekt und wachsender „intimité intellectuelle“ 207 beruhende Ehe reproduziert mitten im 20. Jahrhundert en miniature das soziale Kunstwerk eines ‚höfischen‘ Zeremoniells. Jeden Morgen absolviert Julie, die sich „vis-à-vis d’un homme qui n’était plus son amant“ niemals anders als perfekt gekleidet und frisiert zeigt, „un petit et un grand lever“. 208 Auch nach Jahren des Zusammenlebens siezen die Eheleute einander, da ihnen das vertraute Du trotz sämtlicher verkrampfter Bemühungen nicht über die Lippen will. 209 Selbstverständlich bleibt auch diese Ehe - wie Jahrhunderte zuvor jene der Clèves - kinderlos; skeptisch lauscht Julie ihrer Freundin, deren etwas pathetisches Mutterglück sich in denkbar klischeehaften Formeln artikuliert: „Elle ne se sentait pas portée vers les enfants. Louise avait une fille, et disait parfois: ‚Moi qui suis mère…‘ sur un ton propre à brouiller définitivement Julie 202 Harpman 2004a: 22. 203 Ibid.: 50. 204 Ibid.: 29. 205 Ibid.: 23f. 206 Ibid.: 50. 207 Ibid.: 25f. 208 Ibid.: 52f. 209 Vgl. ibid.: 24. Auch dieses Motiv wird in La Plage d’Ostende - in vieler Hinsicht Folgetext zu Brève Arcadie - wieder aufgegriffen und um eine interkulturelle/ interlinguistische Perspektive erweitert: „Oh! cesse de me vouvoyer s’il te plaît! Nous sommes mariés! “ Mit zweifelhaftem Erfolg versucht Émilienne, dieser Aufforderung ihres frischgebackenen Ehemannes nachzukommen: „Mes tentatives de tutoiement furent honnêtes, mais, à la première incongruité, le vous revenait. […] Il ne m’était pas toujours facile de me souvenir que, de nous deux, j’étais la seule à avoir fait un mariage de raison“ (1993: 126f.). Während ihrer Expat-Zeit in der ungeliebten Industrie-Metropole Detroit kann die Protagonistin ihr heimliches vous endlich hinter einem scheinbar neutralen you verbergen; jener Moment, in dem Émilienne ihren mittlerweile verhassten Ehemann mit einem erneut unwillkürlich auf Französisch geäußerten vous auf seinen Platz verweist, markiert das Ende einer misslungenen Ehe (ibid.: 198). In Le Bonheur dans le crime ist es der unglücklich liebende Mann, der sich unmittelbar vor seinem amourös motivierten Selbstmord hinter die schützende Barriere eines anachronistischen vous zurückzieht (2004b: 152); vgl. auch bereits die Variationen über dieses Motiv in L’Apparition des esprits (2005a: 77, 174) und Les Bons Sauvages (2000: 172f.). <?page no="182"?> 182 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie avec les joies de la maternité. J’en arriverais peut-être à dire: ‚Moi qui suis mère‘, songeaitelle avec un frisson d’effroi.“ 210 In harmonischem repos fließt das erste Jahrzehnt dieser Ehe aus einem anderen Jahrhundert dahin: „Les années coulèrent. D’abord étonnés de s’être si bien accordés, les Auberger s’habituèrent à leur entente. […] Ils étaient fort contents l’un de l’autre, c’était un ménage heureux.“ 211 Der „ménage heureux“ freilich hat - um Denis de Rougemonts Maxime über den „amour heureux“ zu variieren - „pas d’histoire“, zumindest in der okzidentalen Literatur. 212 Die ‚Geschichte‘ setzt auch hier an dem Punkt ein, an dem doch noch die doppelte ‚Passion‘ in eine allzu vernünftig organisierte, das Intensitätspotential menschlicher Liebes- und Leidensfähigkeit nicht ausschöpfende Existenz einbricht - Symbol und Symptom eines existentiellen Mangels, den die Protagonistin im Lauf der Jahre immer stärker verspürt. 213 Ihr Mann selbst, unwillkürlicher Komplize des heraufziehenden Dramas, empfiehlt der melancholischen Julie: „Il faut se trouver des passions“ - eine Idee, die dieser überaus verlockend erscheint: „Des passions? Julie emportait un grand point d’interrogation pour meubler sa journée. […] Comme il doit être plaisant d’avoir des passions! […].“ 214 210 Harpman 2004a: 28. 211 Ibid.: 28ff. 212 Vgl. Rougemont 1979: 55. 213 Vgl. Harpman 2004a: 54. Beinahe überrascht wird Julie sich plötzlich dessen bewusst, dass sie noch niemals ‚geliebt‘ hat: „[…] je n’ai jamais aimé! En tout cas, pas comme on l’entend d’habitude, car j’aime infiniment Gaston, mais, à cet amour-là, il faut toujours un adverbe“ (ibid.). Das Wort- und Gefühlsspiel rund um die Liebe avec oder sans adverbe, auch in L’Apparition des esprits (2005a: 74, 180) und in Les Bons Sauvages (2000: 222) bereits präsent, wird durch Harpmans späteres Werk weiter fortgeschrieben. So in La Plage d’Ostende, da die noch jugendliche Esther dem Gefährten der Mutter ihre eigene Liebe bekennt und vorgibt, die höfliche Zurückweisung in seiner Antwort („Oui, Esther, je t’aime beaucoup“) nicht zu verstehen („Moi, j’ai fait comme s’il n’avait pas compris, mais je savais déjà que je trichais, j’ai souri et j’ai dit: ‚Pas d’adverbe.‘ Alors, il a cessé de sourire“; 1993: 304f.); so auch in L’Orage rompu (1998: 1630ff.), La Dormition des amants („La reine aimait beaucoup son mari. Je pense que, sans moi, le beaucoup eût été de trop […]“, erklärt der dezente Eunuch Girolamo; 2002: 3384), Le Passage des éphémères (2003b: 2531ff.) oder Ce que Dominique n’a pas su. „Nous nous aimions beaucoup: je me suis souvent demandé pourquoi nous ne nous sommes pas aimés sans adverbe“, meditiert Julie über ihr freundschaftlich-inzestuöses Verhältnis zu ihrem Cousin (2007b: 1924f.): „Il raffolait de mon amour avec adverbe, le seul, je crois, qu’il ait jamais pu supporter […]“ (ibid.: 2219). Und auch wenn die Frage nach der auktorialen Intention hier offenbleiben muss, so sei en passant doch darauf hingewiesen, dass ebendieses Detail - Running Gag mit liebesphilosophischer Tiefendimension - auch durch das Werk Amélie Nothombs, literarische Landsfrau Harpmans aus einer anderen Generation, leitmotivisch ausgesponnen wird, von Attentat - „[…] mon amour pour toi ne s’embarrasse d’aucun adverbe“ (1999: 141) - bis zu Ni d’Ève ni d’Adam: „Je l’aimais beaucoup et ce beaucoup, de ma part, était neuf. C’était pourtant la présence d’un adverbe dans cet énoncé qui me convainquait de l’urgence de partir“ (2009: 170). „Je l’aime beaucoup… mais de l’amour? De l’amour véritable? Non… Je n’en ai pas“, reflektiert melancholisch auch Manoel de Oliveiras ‚Princesse‘ ihr Verhältnis zu ihrem Ehemann (La Lettre: 39: 52-40: 01), während ihre Passion für ‚Nemours‘ Pedro Abrunhosa ohne Adverb auskommt: „J’aime quelqu’un“ (ibid.: 41: 49). 214 Harpman 2004a: 55. <?page no="183"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 183 Coup de foudre auf Umwegen: Zur Psycho-Analyse der Passion Die gewünschte Passion lässt - in aller Gewalt des Singulars - nicht lange auf sich warten. In betontem Gegensatz zu jenen ebenso friedlichen wie leicht faden Jahren des Eheglücks („Les années coulèrent“) wird die fatale Begegnung exakt datiert: „Le 6 février 1957, M. et M me Auberger dînaient chez leurs amis Lepage.“ 215 Um seiner jungen Frau willen hat sich Auberger wieder auf eine gewisse „vie sociale à demi abandonnée“ eingelassen; 216 um diesen in den Augen der Zeitgenossen mysteriösen „ménage disparate“ 217 entfaltet sich eine komplexe soziale Dynamik, „tout un petit mécanisme de relations“. 218 An Julies Seite findet sich rasch eine moderne ‚Dauphine‘ wieder, intime Freundin, die - Advokatin der pragmatischen Vernunft auch in Liebesdingen - selbst ein reiches außereheliches galantes Leben von entwaffnender Transparenz führt („On n’avait pas le temps d’hésiter si Untel était son amant, que son attitude le proclamait déjà“), sich durch ihre - zur „sincérité“ der Heldin passende - „violente franchise“ auszeichnet und sich unverzüglich in den „ménage Auberger“ und ganz besonders in Julie ‚verliebt‘. 219 Im Haus ebendieser Louise Lepage schlägt der coup de foudre - bzw. vielmehr eine Serie von „mini coups de foudre“ 220 - ein, dies verzögert und auf allerlei Um- und Irrwegen zwischen den Geschlechtern: An jenem Februarabend betritt François Hartog, hybride Reinkarnation von Lafayettes Nemours und Radiguets Séryeuse, die romaneske Bühne; ist der Familienname ‚Hartog‘ wohl als Kontamination des flämisch-niederländischen hertog (Herzog) mit einem nicht minder symbolträchtigen hart (Herz) zu lesen, so zitiert Harpman mit der Wahl des Vornamens denkbar eindeutig jenen anderen François aus Le Bal du comte d’Orgel. Hier haben wir es mit einem abgeklärten Nemours-Wiedergänger zu tun, der als kultivierter junger Mann selbstverständlich La Princesse de Clèves kennt; in einer Schlüsselpassage des Romans wird explizit der klassische Prätext als positives Gegenmodell zum bei allen quantitativen Erfolgen unbefriedigenden Liebesleben dieses gutbürgerlichen ‚Herzogs‘ - der seinen Lebensunterhalt als Ingenieur verdient - ins Spiel gebracht: Hélas, ce garçon contrariant ne les aimait que distantes, s’il eût rêvé, c’eût été de quelque Clèves bien difficile à émouvoir, et il était fait à ne rencontrer que des consentements. Détestant d’être aimé car il n’aimait jamais, mais affligé d’une constitution très normale, il se rabattait sur les plaisirs qu’on paie: non point franches putains de trottoir parfumées à l’antiseptique, mais plus coûteuses et moins fréquentées, de ces jeunes femmes à petit budget et grand train de vie qui refusent les cadeaux pour n’accepter que les emprunts. 221 Durch eine - fatale oder arbiträre? diese Frage rührt an das (nicht nur liebes-)philosophische Kernproblem des Romans - Verkettung von Umständen begegnet François schließlich dieser modernen ‚Clèves‘, die er allerdings nicht auf Anhieb erkennt. 215 Ibid.: 31. 216 Ibid.: 25. 217 Ibid.: 26. 218 Ibid.: 118. 219 Ibid.: 27, 90. 220 Léopold (2009: 26) zu Lafayettes Roman, unter Verweis auf Assoun 2001: 141. 221 Harpman 2004a: 48f. <?page no="184"?> 184 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Nicht umsonst wurde Le Bal du comte d’Orgel auch als „roman homosexuel“ interpretiert, 222 fungiert Protagonistin Mahaut doch nicht zuletzt als Projektions- und Katalysatorfigur der ambivalenten Passion zwischen den beiden männlichen Akteuren des zentralen amourösen Dreiecks; auch in Brève Arcadie trifft ein dezent queerer coup de foudre zunächst den Ehemann und den zukünftigen Liebhaber seiner Frau. Ausführlich rekapituliert Harpman die von einem gewissen gender trouble und Zögern zwischen hetero- und homosexuellen Affinitäten geprägte Vorgeschichte ihres Helden: Nach einer adoleszenten mystisch-homoerotischen Episode, von François’ Mutter - lebenspraktische Liebespädagogin auf den Spuren der Mme de Chartres - raffiniert abgewendet, 223 reflektiert der junge Mann als improvisierter Psychoanalytiker seiner selbst nicht nur sein potentielles Ödipus-Problem, sondern auch die mögliche ‚Verdrängung‘ seiner eigenen Homosexualität („[…] il en vint à se demander s’il n’était pas homosexuel. Il pensait à l’amitié si vive qu’il portait à sa mère et se demanda si elle n’était pas de celles que la psychologie moderne trouve suspectes. […] Mais, s’il arrivait qu’il plût à des hommes, incontestablement ces messieurs ne le troublaient guère. Cela ne prouve rien, je puis refuser inconsciemment de sentir le trouble, etc.“ 224 ) - und nimmt erleichtert den Spott eines tatsächlich homosexuellen ehemaligen Schulkameraden („De qui te fiches-tu? “) zur Kenntnis: „[…] il s’avoua qu’il n’eût pas du tout aimé être homosexuel.“ 225 Dies hindert François - vom ersten Augenblick an „confusément“ im Bann einer vagen „sympathie“ 226 - nicht daran, sich unverzüglich in seinen neuen Bekannten zu ‚verlieben‘: „Il n’était pas habitué aux coups de foudre: ce soir, il en avait un pour Auberger.“ 227 Bald lauscht François dem älteren Mann - gereiftes Alter Ego, mit dem ihn eine Spiegelrelation verbindet („il lui semblait être devant soi-même“) - „avec passion“; 228 wie die amitié amoureuse zwischen Julie und ihrer Freundin Louise wird auch diese Männerfreundschaft von Anfang an unter Rekurs auf eine frappierende Lexik der Leidenschaft geschildert. „Ainsi c’est du mari que tu es amoureux? “, erkundigt sich die ebenso scharfsichtige wie -züngige Mutter François’ nach seinem euphorischen Bericht; 229 kritisch betrachtet der junge Mann vor dem Hintergrund seiner neu erwachten ‚Passion‘ für den klugen älteren Gentleman dessen Frau, „que le monde doit trouver trop jeune et trop belle pour lui“ 230 und der er selbst ihre Jugend und Schönheit zunächst beinahe übel nimmt: „Hartog lui en voulait d’être si jeune et si belle, et l’idée l’exaspérait que, si elle était fidèle et digne d’Auberger, le monde devait s’en étonner: le moindre des égards eût été de s’effacer.“ 231 Selbst nach dem 222 Pingaud 1986a: 46. 223 Vgl. Harpman 2004a: 45f. 224 Ibid.: 47. Ein weiteres Mal fügt Harpman an dieser Stelle ein lakonisches „etc.“ hinzu: Die Fortsetzung der entsprechenden psychoanalytisch inspirierten Argumentation darf als nicht nur ihrem Protagonisten, sondern auch der Leserin bis zum Überdruss bekannt vorausgesetzt werden. 225 Ibid.: 48. 226 Ibid.: 36, 33. 227 Ibid.: 42. 228 Ibid.: 41. 229 Ibid.: 44. 230 Ibid.: 41. Quasi exakt diese Formulierung, mit der die Protagonistin als „trop belle et trop jeune“ für ihren älteren Ehemann identifiziert wird, wird bereits in der ersten Szene von Jean Delannoys zwei Jahre nach Brève Arcadie erschienener Princesse-Adaption einem hier vierzigjährigen M. de Clèves selbst in den Mund gelegt (La Princesse de Clèves: 06: 29-06: 30). 231 Harpman 2004a: 42. <?page no="185"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 185 ersten Liebesakt mit Julie empfindet François ein Gefühl des „amour pur pour Auberger“ - wobei die heroisch reklamierte Fiktion einer re-platonisierten „délicieuse amitié“ rasch genug in sich zusammenstürzt, ein „de façon si fraternelle“ begonnener Kuss unversehens wieder ins leidenschaftliche Register gleitet. 232 Doch auch Auberger bringt seinem jungen Verehrer angesichts seiner üblichen blasierten Attitüde ganz und gar untypisches empathisches Interesse entgegen, meditiert über dessen attraktives Äußeres („[…] Auberger pensait que ce jeune homme avait un visage intéressant. Peut-être même est-il beau? “ 233 ), legt vor Julie unumwunden ein ‚Liebesbekenntnis‘ ab („[…] j’aime beaucoup M. Hartog“ 234 ) - und bestätigt etwas nüchterner am nächsten Morgen: „En tout cas, ce garçon m’a plu.“ 235 „Les premiers mouvements d’un cœur sont si ténus que les mots les plus légers y pèseraient trop“, 236 erklärt - in überaus Radiguet’schem sentenziösem Tonfall - eine über die Köpfe der Figuren hinweg psycho-analysierende Erzählinstanz. In einem metonymischen Gender-Verwirrspiel kristallisiert sich erst allmählich das klassische, damit freilich von Anfang an brüchige Bild einer heterosexuellen Passion heraus; während im Bewusstsein François’ leidenschaftliche Bewunderung für Auberger und unterschwellige erotische Faszination für seine Frau sich in einem fatalen circulus amorosus („[…] chaque fois qu’il pensait ‚Julie‘ il se hâtait de répondre ‚Auberger‘. […] Plus il comprenait Auberger, plus il le respectait, moins il parvenait à ne pas penser à sa femme“ 237 ) zunächst zur Verliebtheit ex negativo hochschaukeln („[…] il faudrait avoir l’âme bien basse pour songer à être amoureux de la femme d’Auberger et à lui faire la cour“ 238 ), erwacht auch die Liebe Julies auf subtilen Umwegen, vermittelt über die melancholische Gegenwart der geheimnisvollen Alberte (unter deren Augen nach langer Kristallisationsphase schließlich die „foudre“ einschlägt 239 ) und vor allem unter unwillkürlicher Mithilfe ihres Ehemannes, der auch hier - wiederum auf den Spuren des Bal du comte d’Orgel - als beiderseitige Projektionsfigur fungiert und das Liebespaar überhaupt erst zusammenführt, was der sonst so luzide Auberger erst mit beträchtlicher Verspätung erkennt: „Ainsi les avait-il réunis, ce qui, plus tard, devait lui paraître de la dernière ironie.“ 240 Nicht nur hinsichtlich dieser vagen homoerotischen Dimension, sondern auch in seiner ödipal-inzestuösen Motivik 241 knüpft Brève Arcadie an den Radiguet’schen Hypotext an. 242 232 Ibid.: 95f. 233 Ibid.: 37. 234 Ibid.: 41. 235 Ibid.: 54. 236 Ibid.: 35. 237 Ibid.: 60. 238 Ibid.: 43. 239 Vgl. ibid.: 73ff. 240 Ibid.: 91. 241 Als Inbegriff der psychosexuellen Transgression, die auch im Zeitalter der sukzessiven Aufhebung anderer Tabus noch standhält, spielt das Motiv des Inzests eine zentrale Rolle im Werk Harpmans („Après tout, dans toutes les légendes, l’humanité commence par des incestes, que ce soient les enfants d’Adam et Ève ou ceux de Noé et ses filles“, konstatiert ungerührt die Protagonistin des Passage des éphémères; 2003b: 3386) - und ihrer ironischen Selbstreflexion zufolge auch in der Phantasiewelt der bedauerlicherweise bruderlosen Autorin: „L’inceste entre frère et sœur m’a toujours fait beaucoup rêver. Je n’ai pas de frère. Et toutes les femmes que je connais qui en ont un ne semblent guère de mon <?page no="186"?> 186 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Wie seinen Namensvetter verbindet François ein enges Verhältnis mit seiner klugen und schönen Mutter, durch deren Porträt deutlich genug das Gespenst der Mme de Séryeuse durchschimmert. Auch Harpmans Mme Hartog ist als Vertraute und privilegierte Gesprächspartnerin ihres Sohnes eine Schlüsselfigur dieser Passionsgeschichte, die mit ihren allzu wachsamen Blicken und pointierten Fragen immer wieder die Intrige vorantreibt; als moderne, psychoanalytisch sensibilisierte Mutter eifrig um Vermeidung eventueller „excès de la sollicitude maternelle“ 243 sowie des „style des mères abusives“ 244 bemüht (als scharfer Beobachter erkennt Auberger sogleich, „qu’elle était folle de lui et craignait comme l’enfer de le laisser paraître“ 245 ), empfiehlt sie vor dem Hintergrund ihrer eigenen sorgfältigen Psycho- und Sexualhygiene auch ihrem Sohn ohne Weiteres erotische Verausgabung als Heilmittel gegen die Liebe: „As-tu une maîtresse? […] Eh bien, fatigue-toi.“ 246 Hier entfaltet sich eine komplexe amouröse Dynamik gleich mehrfach inzestuös gefärbter Beziehungen, deren einzelne Stränge im Rahmen eines gemeinsamen Abendessens im Hause Hartog verknotet werden: An einem Tisch sitzen Auberger - der, noch in der Verlobungszeit für Julies Vater gehalten, nun eine homoerotisch gefärbte ‚väterliche‘ Freundschaft für François empfindet - und Mme Hartog, heimlich in ihren Sohn ‚verliebt‘, François und Julie gegenüber, die in den Augen Aubergers ihrerseits wie Geschwister erscheinen. 247 Auberger fühlt sich freilich auch zu der ihm charakterlich verwandten und altersmäßig sehr viel näher stehenden Mutter des Geliebten seiner Frau hingezogen („Il est curieux, disait Auberger à M me Hartog, qu’en si peu de temps il me semble vous connaître depuis si longtemps. […] Comme je me reconnais, pensait-il. N’était Julie… / N’était Julie? … / Il s’arrêta net“ 248 ), während Mme Hartog mit einer Mischung aus Nostalgie, Neugier und Neid die Manifestationen einer Leidenschaft betrachtet, die sie selbst nur aus Büchern kennt: „Elle n’avait guère aimé, et ne avis. Mais moi, je me suis imaginé un frère un peu plus âgé pour vivre une grande passion incestueuse avec lui, quand j’étais toute jeune. Et cela m’est toujours resté en tête. Du fantasme, de la littérature…“ (Blandiaux 2002). 242 Auch im quasi zeitgleich entstandenen Roman L’Apparition des esprits ist der Einfluss Radiguets unverkennbar: In einer an Brève Arcadie wie an den Bal du comte d’Orgel erinnernden Konstellation entfaltet sich ‚Liebe‘ auch hier auf verschlungenen Projektionspfaden zwischen den Geschlechtern (vgl. 2005a: 39). Wie zwischen Radiguets Mahaut und François besteht auch zwischen Harpmans Protagonistin Catherine und ihrem Verehrer Julien ein entfernter „faux cousinage“, wie sich überraschend erweist (woraufhin jener die junge Frau ironisch als „ma cousine“ adressiert; ibid.: 40f.); auf den Spuren Anne d’Orgels gesteht Catherine: „Je ne suis sensible à la nature qu’en ville. Entre des quais une rivière m’enchante, les marronniers en fleurs sur un boulevard me ravissent: à la campagne je ne les vois pas“ (ibid.: 18). 243 Harpman 2004a: 43. 244 Ibid.: 45. „Elle eut des amants: elle craignait, si elle n’en avait pas, de s’aigrir ou de reporter sur son fils les excès d’une sensibilité insatisfaite. Dès qu’elle avait du vague à l’âme, elle prenait un amant, comme on fait une cure à Vichy“ (ibid.). 245 Ibid.: 100. 246 Ibid.: 142. 247 „Ne trouvez-vous pas qu’il y a une sorte de ressemblance entre Julie et François, disait Auberger en les regardant marcher, tous deux bruns, élancés, on les prendrait facilement pour frère et sœur“ (ibid.: 128). An dieser Stelle klingt ein gleich doppeltes Radiguet’sches intertextuelles Echo mit: „Il arrive que cette ressemblance morale déborde sur le physique. Regard, démarche: plusieurs fois des étrangers nous prirent pour frère et sœur. C’est qu’il existe en nous des germes de ressemblance que développe l’amour“, erklärt der Erzähler des Diable au corps (2011: 1023ff.). 248 Harpman 2004a: 127ff. <?page no="187"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 187 savait, de la passion, que ce qu’on en apprend dans les livres, mais elle admirait ceux qui savent aimer.“ 249 Längst sind die Protagonisten dieser aktualisierten Princesse - all diese von den Figuren selbst auf der Meta-Ebene reflektierten ödipalen Verstrickungen illustrieren dies zur Genüge - mit bereits zum kulturellen Gemeingut trivialisierten Grundlagen psychoanalytischer Theoriebildung vertraut, was ihren inneren Monologen und Selbstkommentaren - auch dieser moderne roman d’analyse mit seinem „entêtement à explorer l’arrière-plan de la conscience“ 250 inszeniert im Anschluss an Lafayette ein ganzes „theater of the mind“ 251 - eine spezifische, oft ironische Zusatzdimension verleiht. Diese wird sich in der zweiten Schaffensphase Harpmans - mittlerweile ausgebildete Psychoanalytikerin - noch stärker akzentuieren; doch auch die Autorin der Brève Arcadie treibt schon ihr Spiel mit dem literarischen Recycling von Freud & Co. So porträtiert sie ihre Protagonistin Julie - die ihren an der Seite ihres ehelichen Mentors erworbenen „dérangeantes habitudes de lucidité“ 252 auch dort nicht mehr entgehen kann, wo sie über die Vorgänge in den Tiefen ihrer Psyche vielleicht lieber nicht allzu genau Bescheid wissen möchte - als feinsinnige Analytikerin ihrer eigenen Traum- und Gefühlswelten: „[…] ce retour de lucidité qui m’a fait admettre que je souffrais n’annonce-t-il pas que je souffre moins fort? […] Toute interprétation comporte son contraire.“ 253 Als François Hartog - im Gegensatz zu einer Reihe flüchtiger Liebhaber vor ihm - bereits in der Nacht nach der ersten Begegnung ihre unruhigen Träume heimsucht, gibt Julie sich nicht mit der traumdeuterischen Standarderklärung kompensatorischer Wunscherfüllung („Cet homme m’a plu, et, quand la pudeur féminine m’a empêchée de bien voir que j’avais envie de lui, un rêve me l’apprend […]“) zufrieden: „[…] sa gêne elle-même lui faisait sentir qu’il y avait plus.“ 254 „Que sait-on des gens? “, fragt später der Erzähler in Le Bonheur dans le crime, 255 als transgressiver Priester, psychoanalytisch versierter Arzt und begnadeter conteur gleich mehrfacher Experte für Beichten, Bekenntnisse und seelische Abgründe aller Art. Eine bemerkenswerte ästhetische und ideologische Spannung ergibt sich schon in Brève Arcadie daraus, dass Harpman gerade in diesem Debütroman allerlei psychoanalytisch inspirierte Einsichten in die seelische Ökonomie eines prekären Subjekts voller beunruhigender Zonen der „obscurité“ 256 mit einer höchst (selbst-)kritischen allwissenden Erzählinstanz kombiniert, die überall in der diegetischen Welt ihre Augen und Ohren („[…] Dieu et le romancier ont des oreilles partout“, heißt es in Le Bonheur dans le crime 257 ), jederzeit sogar zum Unbewussten und zu ‚verdrängten‘ Trauminhalten ihrer Figuren Zugang hat 258 und diesen wiederholt ihre Begriffsstutzigkeit, 249 Ibid.: 44. 250 Paque 2003: 50. 251 Zu Lafayettes Heldin und dem komplexen „theater of her mind“ vgl. Höfer 2009: 166, unter Verweis auf McDougall 1991. 252 Harpman 2004a: 52. 253 Ibid.: 153. 254 Ibid.: 52. 255 Harpman 2004b: 133. 256 Harpman 2004a: 84. 257 Harpman 2004b: 12. Siehe auch den Kommentar der Autorin zu diesem Satz in Harpman 1999a: 69f.; vgl. Blairon 2004: 277. 258 In diesem Sinne charakterisiert Mathieu (o. D.) Harpmans Figuren-Porträts als regelrechte „scanners“. <?page no="188"?> 188 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Langsamkeit, Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber (etc.) vorwirft: „François […] m’agace, il se joue la comédie, et mal. Je risque de montrer quelque ironie en parlant de lui, en quoi j’aurais bien tort, puisque j’en sais plus que lui […].“ 259 Im Gegensatz zur narrativen Instanz Lafayettes, die sich auf sehr seltene und dezente direkte Interventionen beschränkt, spielt diese/ r - gender-unspezifische - Erzähler/ in den gesamten Text hindurch mit der eigenen Rolle, zwischen noch in ihrer gelegentlichen Rücknahme paradox reklamierter demiurgischer Omnipotenz („Quand je crée, je suis Dieu, et cela est très-bon“, erklärt Harpman an anderer Stelle 260 ) und vermeintlicher Hilflosigkeit den Reaktionen und Handlungen der Protagonisten gegenüber, mit denen sie/ ihn ein ambivalentes Liebesverhältnis verbindet: „Je m’aperçois que ces gens-là passent beaucoup de nuits blanches. Mais qu’y puis-je? C’est un des lieux communs de la passion qu’elle ôte le sommeil, nous l’avons tous éprouvé.“ 261 Neben dieser Erzählinstanz, die ihre eigene Narration kontinuierlich auf der Meta-Ebene kommentiert, stattet Harpman aber auch ihre Figuren mit einer prononcierten metadiskursiven Sensibilität gegenüber rhetorischen Konventionen und Klischees aus. Mit sicherem Ohr erkennt Julie fremde Versatzstücke im Diskurs ihrer Ko-Protagonisten wieder (so etwa, als ihre Freundin Louise von François als „un bon fils, idée qui revenait vingt fois“ schwärmt: „C’est le langage de M lle Orval, se dit-elle. Pour Louise, on est peut-être bon amant ou mauvais causeur, mais bon fils? …“ 262 ); mit feiner literarhistorischer Ironie lässt Harpman sie aber auch - auf den Spuren Valincours, der Lafayettes Heldin ihre allzu eilige Verliebtheit vorwirft - über eine nach wie vor aktuelle, auch chronologische Geschlechterordnung des Liebesrituals räsonieren: „[…] une femme qui se respecte ne remarque pas un homme la première. Cela avait une rassurante odeur de lieu commun.“ 263 Diese Figuren sind niemals nur Liebende, sondern stets zugleich Theoretiker der Liebe; Harpmans moderne Princesse gibt sich nicht mit der bloßen Evidenz der Passion, der in ihrer mimetischen Logik im Grunde ‚unoriginellen‘ Liebe ihrer intertextuellen Vorgängerin für „ce qu’il y avait de plus aimable à la Cour“ 264 zufrieden. Wie die Protagonistin Lafayettes hadert auch Julie mit dem Bedauern, nicht (mehr) den ‚richtigen‘ Mann lieben zu können - der freilich (hierin modifiziert Harpman die Ausgangskonstellation Lafayettes und lässt ihre Erzählinstanz ein weiteres Mal die Perspektive der ihren Gatten schuldbewusst idealisierenden Heldin korrigieren) die prinzipielle Liebesbereitschaft seiner viel jüngeren Frau anfangs gezielt 259 Harpman 2004a: 59. 260 Zit. in Paque 2003: 8. Die ironisch-demiurgische auktoriale Instanz ist in diesem literarischen Universum auch insofern allgegenwärtig, als Harpman prinzipiell jeglichen récit als „autobiographique“ (ibid.: 6), auch noch die vermeintlich unbedeutendste Nebenfigur als „un aspect de l’auteur même, un aspect qu’il n’a pu mettre en action dans sa vie“ (zit. ibid.: 40) betrachtet: „Depuis des lunes, je dis et je répète que nos personnages de roman sont ces aspects de nous que nous ne pouvons pas mettre en œuvre dans notre vie, pour des raisons impératives qui ne nous sont en général pas connues“ (Harpman 1999b: 10f., zit. bei Lambert 2013: 172). Auch in dieser Hinsicht assoziiert Harpman Psychoanalyse und - gleichfalls an einer Dynamik der ‚Übertragung‘ partizipierenden - Schreibprozess: „Le transfert existe bien évidemment aussi dans l’écriture. Tous ces personnages que nous créons, dont nous relatons les faits et pensées, sont des composantes de nous-mêmes. […] Le transfert se passe certes autrement dans l’écriture, mais il est bien là“ (Duplat 2011). 261 Harpman 2004a: 139. 262 Ibid.: 56. 263 Ibid.: 52. 264 Lafayette 2014c: 424. <?page no="189"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 189 sabotiert hat. 265 Zur gleichen Zeit unternimmt François in argumentativen Endlosschleifen immer wieder aufs Neue den (fruchtlosen) Versuch, die eigene Passion auf rationalem Wege bzw. mit Hilfe seines psychoanalytischen ‚Werkzeugkoffers‘ zu entkräften. 266 Dieser ironisch-melancholische ‚Liebesroman‘ erscheint auch dadurch charakterisiert, dass alle drei zentralen Protagonisten - dies weniger aus moralischen denn aus ästhetischen Motiven: die schon bei Radiguet initiierte Ästhetisierung der Moral wird hier fortgesetzt - sich einer als peinliche Manifestation kitschiger Sentimentalität verachteten Liebe schämen, François sich seines in die Quarantäne verächtlicher Anführungszeichen verbannten „‚chagrin d’amour‘“, 267 Julie sich ihres längst überwunden geglaubten „côté midinette“ 268 und ihres flüchtigen Idylls mit François („Mais nous tournons à l’image d’Épinal! “ 269 ) ebenso wie ihr Lehrmeister Auberger seines verspäteten „amour sénile“ 270 und seiner potentiellen lächerlichen Rolle als einer jener „barbons amoureux“: 271 „Moi, sensible, inquiet? […] Je suis un sot.“ 272 Liebesbrief, „aveu à rebours“ und Farbenspiel: Auf den Spuren der Princesse de Clèves (I) Nicht zuletzt im hypertextuellen Spiel mit Radiguets Roman werden in dieser palimpsestartigen réécriture also mehrfach prononciert moderne Akzente gesetzt; doch zugleich führt eine Vielzahl feiner Fäden direkt zur Princesse Lafayettes zurück. Diese Wahlverwandtschaft manifestiert sich bereits auf lexikalischer Ebene, in einer sich mit klassisch-litotischer Dezenz artikulierenden Sprache der Liebe; so etwa, wenn François - Ingenieur, der auch in Liebesdingen dem „esprit méthodique“ 273 und seinem Selbstbild als „un homme plus raisonneur que passionné“ 274 treu bleibt - nach systematischer Analyse der Situation zu einer für den Moment zumindest beruhigenden Conclusio gelangt („il […] osa enfin s’accorder qu’on ne le haïssait pas“ 275 ) oder - auch dies mit überaus klassischer Zurückhaltung - einen ‚Liebesbrief‘ an Julie schreibt: „Je viens vous mettre en garde contre moi, et je ne vous demande cet entretien bien froid et bien calme que pour vous épargner des excès qui vous feraient horreur.“ 276 Protagonistin Julie, auch sie mit den Lafayette’schen Schlüsselattributen der 265 Vgl. Harpman 2004a: 23f., 111. 266 Vgl. etwa ibid.: 65f. 267 Ibid.: 142. 268 Ibid.: 106. 269 Ibid.: 97. 270 Ibid.: 146. 271 Ibid.: 130, vgl. auch 23. 272 Ibid.: 114. 273 Ibid.: 116. 274 Ibid.: 158. 275 Ibid.: 116, vgl. auch 146. Zur Rekurrenz dieser litotischen Formel im Werk Lafayettes vgl. Esmein- Sarrazin 2014a: XXVIIf., sowie Esmein-Sarrazin 2014d: 1354. Das ironische Spiel mit dieser hyperklassischen Wendung wird durch Harpmans Œuvre weiter fortgesponnen: „[…] je suis un jeune homme moderne, et les jeunes hommes modernes s’expriment avec pudeur, de préférence par litotes“, erklärt Guillaume, verführerischer und nun seinerseits verlassener Nemours-Wiedergänger in Les Bons Sauvages: „Va, je ne te hais point“ (2000: 222). 276 Harpman 2004a: 164. <?page no="190"?> 190 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie sincérité und der pudeur bzw. auch der „beauté pudique“ 277 ausgestattet, kultiviert wie ihre Vorgängerin die Kunst des „gouvernement de soi-même“, 278 während Harpman ihre Freundin Louise - in aller Unschuld Lafayette paraphrasierend („l’amour est une chose incommode“ 279 ) - über „la passion, qui est la chose la plus inconfortable du monde“ 280 meditieren lässt und sich selbst in liebesphilosophischen Maximen im Stil La Rochefoucaulds übt. 281 Farbenspiele als Teil eines raffinierten Codes der Liebe, ver(w)irrte Korrespondenzen, eine re-interpretierte scène de l’aveu, eine räumliche Struktur, die über die beträchtliche historische und soziale Distanz hinweg jene bei Lafayette zitiert: Spätestens auf den zweiten Blick wird deutlich, mit welchem Sinn fürs hypertextuelle Detail Harpman ihren Roman den Spuren der Princesse de Clèves entlang verfasst - und dabei gezielt immer wieder ein Stück beiseitetritt, manch subtile Kontamination mit anderen literarischen Prätexten vornimmt; dies angefangen mit dem Porträt ihrer Protagonistin. Auch wenn Harpman ihrerseits eine recht klassisch anmutende „économie“ der Deskription kultiviert und - angesichts eines zwar nicht mehr (hoch-)aristokratischen, aber doch sozioökonomisch privilegierten Milieus nach wie vor plausibles Verfahren - diversen „préoccupations matérielles“ verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit widmet, 282 stattet sie ihre Figuren - im Gegensatz zu Lafayettes abstrakthyperbolischen Schilderungen und einer ganzen langen Tradition kreatürliche Realitäten eskamotierender Liebesliteratur - doch mit einer relativ konkreten, im Fall ihrer ‚Princesse‘ und ihres ‚Nemours‘ zwar durchaus attraktiven, aber nicht hyper-idealisierten Körperlichkeit aus; mit einer physiologischen Präzision, die Lafayettes Princesse völlig fremd ist, beschreibt sie auch Krankheit und Tod. 283 Ähnelt der vor der Zeit gealterte Ehemann - bei allem Respekt für seine intellektuellen und menschlichen Qualitäten - in den Augen seiner jungen Braut wie zitiert einer „momie“, 284 so ist auch François, dem die kritische Erzählinstanz immerhin „une curieuse façon d’être 277 Ibid.: 127. 278 Ibid.: 152, vgl. auch 104 („Il vaut mieux me maîtriser […]“). Diese konsequente ‚Selbstbemeisterung‘ ist ein Lebens-Leitmotiv diverser Harpman’scher Protagonistinnen; so hat auch Émilienne in La Plage d’Ostende so hart daran gearbeitet, „la maîtrise de moi-même“ zu erwerben, dass sie diese eiserne Selbstkontrolle auch in Momenten der Krise und der Verzweiflung gar nicht mehr abzulegen vermag: „je n’avais plus les moyens de la perdre“ (1993: 145). Perfekt illustriert Harpmans Heldin insofern Norbert Elias’ Reflexionen über jene schließlich „automatisch und blind arbeitende Selbstkontrollapparatur“, die sich im wohlkonditionierten ‚zivilisierten‘ Subjekt „neben der bewußten Selbstkontrolle […] verfestigt“ (1997: 328; vgl. dazu auch Galle 1986: 37ff.). 279 Lafayette in einem Brief an Gilles Ménage vom 18. September 1653, zit. nach Lafayette 2014: 843-844, hier 843. 280 Harpman 2004a: 120. 281 Man vergleiche etwa: „Nous façonnons à notre ressemblance les circonstances de notre vie et le destin n’est que le jeu des hasards sur un caractère“ (ibid.: 31); „L’amour varie ses visages. […] Et c’est toujours pour tromper les amants“ (ibid.: 128); „Chaque amour réinvente l’amour et on a les passions qu’on mérite“ (ibid.: 132). La Rochefoucauld, auf den Harpman bereits mit dem Titel ihres noch vor Brève Arcadie verfassten Romans L’Apparition des esprits Bezug nimmt, bleibt eine Referenzfigur auch im späteren Werk, so in Ce que Dominique n’a pas su: „Serai-je moins prisonnière en étant mariée? Il y a de bons mariages, mais il n’y en a point de délicieux. - La Rochefoucauld, je sais. Je serai là pour t’égayer“ (2007b: 305ff.; vgl. La Rochefoucauld 2005: Nr. 113). 282 Paque 2003: 49ff. 283 Vgl. ibid.: 52. 284 Harpman 2004a: 15, 20. <?page no="191"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 191 beau“ zuerkennt, 285 nicht unbedingt jenes „chef-d’œuvre de la nature“, 286 als das Lafayettes Nemours - mit einer Formel, die der Phantasie der Leserin maximalen Interpretationsspielraum lässt - lapidar beschrieben wird; Julie selbst, über das Rätsel ihrer amourösen Objektwahl grübelnd, erinnert sich an „des hommes plus séduisants [qui] m’ont poursuivie“. 287 Die Protagonistin betritt - im Unterschied zur Heldin Lafayettes, die als fünfzehnjährige strahlende Schönheit bei Hof debütiert - die Bühne des Romans als zwar ästhetisch vielversprechendes, aber noch längst nicht zu voller Schönheit erblühtes Mädchen; ihre noch ausstehende Metamorphose zur verführerischen, mit konkreten physischen Atouts à la „taille longue, hanche agréable, mollet nerveux“ ausgestatteten erwachsenen Frau wird in kunsthistorischen Begriffen resümiert: „[…] sa beauté s’éploya après les vingt ans. Enfant, c’était un Clouet, si Clouet a peint des brunes; les rondeurs disparues, elle passa Toulouse- Lautrec: […].“ 288 Diese Protagonistin ist - betonter Kontrapunkt zum literarischen Vorbild (den auch sämtliche filmischen Princesse-Adapteure nach Jean Delannoy setzen) - nicht blond; wiederholt spielt Harpman auch in der Folge mit dem Klischeebild der blonden und blauäugigen romantischen Heldin. In raffinierter Naivität zeigt Émilienne in La Plage d’Ostende, brünette Schönheit mit intensiven grauen Augen, ihren Eltern den Liebesbrief eines Schulkameraden, der - offenkundig liebes-farbenblind - stereotypengetreu von ihren „yeux bleus“ schwärmt: „Que fait-on de cela? “ 289 Julie ist - zumindest physisch - blauäugig; diese blauen Augen, „si brillants qu’on était étonné de les trouver bleus“, 290 stellen in ihrer trügerischen Harmlosigkeit eine bemerkenswerte romaneske Innovation dar. Ebenso wie Lafayette verzichtet auch noch Radiguet im Bal schließlich auf deskriptive Konkretisierung seiner Protagonistin - und verteidigt seine diesbezügliche Zurückhaltung unter Verweis auf das klassische Vorbild: Comprendra-t-on l’orgueil - d’ailleurs illégitime à coup sûr mais tout de même enivrant - que tire un écrivain de se voir reprocher ce que justement il admire dans les chefs-d’œuvre. Un écrivain éminent, membre de l’Académie française [Henri de Régnier, MS], ne m’a-t-il pas reproché sérieusement de n’avoir point dit la couleur des yeux de mon héroïne. Hé! Madame de Clèves, de quelle couleur étaient ses yeux? La comtesse de La Fayette ne nous le dit pas, mais nous le savons bien, d’après ses actions. 291 285 Ibid.: 48. 286 Lafayette 2014c: 333. 287 Harpman 2004a: 110. 288 Ibid.: 26. 289 Harpman 1993: 64. 290 Harpman 2004a: 26. 291 Zit. nach Radiguet/ Cendres 2003: 82. „Il n’aimait pas qu’on peignît physiquement les personnages“, bestätigt auch Joseph Kessel in seinem Nachruf auf den Autor des Bal: „Si Madame de La Fayette, disaitil, avait décrit Nemours avec une barbe et une moustache, ne nous semblerait-il pas démodé? C’est l’absence du visage précis qui donne à l’amant de la princesse de Clèves une éternelle jeunesse. Et il prétendait que la peinture la plus sûre et la plus exacte était celle de l’intérieur […]“ („Raymond Radiguet est mort“ [Les Nouvelles littéraires], zit. in Radiguet/ Cendres 2003: 145). In früheren Entwürfen des Romans wird Protagonistin Mahaut freilich sehr wohl nicht nur mit „bonnes manières“, sondern auch mit Augen „couleur de goudron“ (zit. nach Oliver/ Odouard 1993: LIX) ausgestattet; Le Fantôme du devoir entwirft aus der Perspektive Renés (später in ‚François‘ umbenannt) ein recht plastisches Porträt: „Mahaut ne ressemblait pas à un Botticelli. Loin de là. Son visage de jeune fauve attirait à la fois et faisait peur comme un feu rougeoyant de bois. On avait envie d’approcher les mains de son visage. <?page no="192"?> 192 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Zusätzlich zu diesen poetologisch nicht unschuldigen blauen Augen fügt Harpman dem Porträt ihrer Heldin eine frappierende ‚exotische‘ Komponente hinzu, die - über den Lafayette- Prätext hinaus - einen hypertextuellen Faden aus Radiguets Bal mit seiner durch ihren kreolisch-karibischen Background gleichfalls vage exotisierten Protagonistin fortspinnt. Nach exzessiven, von ihr selbst ironisch als „thérapeutiques“ bezeichneten Sonnenbädern, mit denen sie sich von ihrem Liebeskummer zu kurieren versucht („Elle ne trouvait la paix que terrassée par la chaleur, endolorie, éparpillée comme après un plaisir trop violent. Les voix se taisaient et elle s’abandonnait à l’agréable sensation de n’exister que très peu“), 292 ähnelt diese moderne Princesse mit ihrer „longue chevelure d’Hindoue“, 293 „bronzée […] dans ses robes aux couleurs vives“, einer „gitane apprivoisée“. 294 Ausgehend von den strahlend blauen Augen ihrer hybriden princesse-gitane schreibt Harpman wiederum die Farb- und Liebesspiele Lafayettes fort. Der junge belgische Ingenieur hat keine Gelegenheit mehr, stolz die Farben der angebeteten Frau bei etwaigen königlichen Turnieren zur Schau zu tragen; 295 sein - unfreiwilliges - farbiges Liebesbekenntnis folgt Pour savoir son humeur Hélie et moi l’attirions devant la fenêtre; nous n’avions qu’à regarder en plein jour, pour voir la couleur de ses yeux. […] les yeux de Mahaut, quelquefois violets ou couleur de perle“ (zit. ibid.: LXI). Im weiteren Verlauf der Arbeit am Text machen Mahauts in verschiedenen Farben schillernde bzw. ‚sprechende‘ Augen noch allerlei Metamorphosen mit („Quand René cherchait des comparaisons, il ne pensait pas au corail pour ses lèvres, ni aux émeraudes pour ses yeux, ni aux perles pour ses dents […]. Pour savoir son humeur, […] il suffisait de regarder la couleur de ses yeux. Bleus, c’est qu’il faisait beau dans son cœur. René s’inquiétait lorsqu’il voyait ses yeux d’une autre couleur. Parfois violets ou couleurs de perle, ils indiquaient quelque contrariété ou quelque chagrin dont René s’inquiétait plus qu’Élie“; zit. ibid.), bis Radiguet sich schließlich für die Option klassischer deskriptiver Abstinenz entscheidet: „Dans la dernière version, Radiguet supprime toute description physique afin de mieux mettre en relief le drame psychologique“ (ibid.). 292 Harpman 2004a: 156f. 293 Ibid.: 127. 294 Ibid.: 157. 295 Während König Henri II beim Turnier die Farben seiner Mätresse Diane de Poitiers affichiert, erweist Nemours der Angebeteten eine raffinierte Hommage ex negativo, indem er neben Schwarz die Farbe Gelb wählt - die Mme de Clèves liebt, aus Gründen ästhetischer Inkompatibilität mit ihrem blonden Haar aber nicht tragen zu können erklärt (Lafayette 2014c: 439f.); vergeblich rätselt der Rest des Hofstaats über dieses für die Adressatin selbst klare und zugleich facettenreiche Bekenntnis einer Liebe, die der verehrten Frau eben das von ihr selbst Begehrte, ihr Fehlende symbolisch zum Geschenk macht. Diese Passage kommentiert - und kritisiert - bereits Valincour in seinen Lettres, und zwar aus historischmoralischen Überlegungen, habe doch der reale Duc de Nemours bei jenem Turnier in der Tat die Farben Gelb und Schwarz getragen, dies freilich „à l’intention d’une très belle dame, à qui il avait témoigné son amour autrement que par son respect et par son silence“ (2001: 53). Konkret referiert dieses Detail Brantôme: „Il [Henri II] portait pour livrée, blanc et noir, qui était la sienne ordinaire, à cause de la belle veuve qu’il servait. M. de Guise son blanc et incarnat, qu’il n’a jamais quitté pour une Dame que je dirai, qu’il servit étant fille à la Cour. M. de Ferrare jaune et rouge, et M. de Nemours jaune et noir. Ces deux couleurs lui étaient très propres, qui signifiaient jouissance et fermeté, ou ferme en jouissance, car il était lors (ce disait-on) jouissant d’une des belles Dames du monde, et pour ce, devait-il être ferme et fidèle à elle pour bonne raison, car ailleurs n’eût-il su mieux rencontrer et avoir“ (Vies des hommes illustres et grands capitaines français [posthum 1666], zit. nach Lafayette 2014: 480-483, hier 480). Insofern wirft die Farbenwahl des literarischen Nemours, so Valincours Einwand, unweigerlich einen Schatten auf die Tugend der fiktiven Princesse: „[….] et si cette belle dame était Madame de Clèves, comme l’auteur de son histoire nous en assure, il se trouverait que les derniers chagrins de Monsieur de Clèves n’étaient peut-être pas si mal fondés que l’on s’est imaginé“ (2001: 53); vgl. auch in diesem Punkt die Entgegnung Charnes’, der in diesem Kontext eine poetologische Grund- <?page no="193"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 193 nach einer Dienstreise nach Spanien, 296 wo François auf Schritt und Tritt unter der Omnipräsenz - ihn allesamt an Julie erinnernder - dunkler Schönheiten leidet: „Peut-être si les Espagnoles eussent été moins brunes eût-il moins pensé à elle? “ Allein: „Le cœur étant fort têtu, dans un pays de blondes, il se fût sans doute autant acharné sur le contraste qu’ici sur la ressemblance“, präzisiert die Erzählinstanz. 297 In Spanien vollzieht sich die allmähliche ‚Kristallisation‘ seiner Liebe auf Distanz („Ce fut à Barcelone qu’il s’éprit lentement d’une femme qu’il avait vue pendant deux heures, à deux mille kilomètres de là“), wobei jene allwissende narrative Instanz - die ihren Figuren immer wieder ungeduldig vorauseilt („De Julie et François, qui paraissaient n’en être encore qu’au premier trouble, je sais, depuis le 6 février, qu’ils sont voués“) - diese Formel sogleich wieder in Frage stellt: „Mais ‚s’éprit lentement‘ me gêne, car on aime tout d’une fois, même si l’on met du temps à le découvrir.“ 298 Nach seiner Rückkehr überreicht François, stets aufmerksamer Sohn, seiner Mutter ein spanisches Souvenir - bunter Fauxpas mit doppelt ödipaler-intertextueller Dimension: „Il lui avait rapporté une mantille bleue, qu’elle admira beaucoup. Mais, quand elle la posa sur ses épaules, elle ne put retenir une petite grimace: elle avait les yeux verts et le bleu jurait satzdiskussion der Princesse zwischen Historizität und Fiktionalität skizziert: „Il est assez difficile de voir où va la conclusion de ce raisonnement […]: car ou le Critique considère l’histoire de Mme de Clèves, comme des Mémoires véritables, et en ce cas on ne peut juger autre chose de la conjecture de Brantôme, sinon qu’il s’est trompé, et qu’il faut suivre le témoignage de celui qui a fait le détail de la vie de Mme de Clèves, pour juger sûrement de sa vertu: ou le Critique regarde cette Princesse comme une personne inventée; et en ce second cas, je ne sais pas, comment on peut rapporter ce qui a été dit de la Dame historique, à ce que l’Auteur du Roman applique à la Dame fabuleuse [….]“ (2014: 637; siehe auch Laugaa 1971: 73 [„La Dame historique et la Dame fabuleuse“]). Um „toutes les mauvaises impressions que les couleurs jaunes et noires pourraient donner de sa conduite“ zu vermeiden, schlägt Valincour in seiner skizzierten ‚verbesserten‘ réécriture der betreffenden Passage eine unverfänglichere farbliche Alternative vor: „Qu’importait-il de donner à Monsieur de Nemours du bleu plutôt que du jaune? “ (2001: 53) - eine Anregung, die in der kreativen Rezeptionsgeschichte der Princesse aufgegriffen wird: So lässt Jean Delannoy seinen Nemours mit dem himmelblauen Schal der Protagonistin an seiner Lanze in die königliche Arena reiten, dies unter dem verlegenen Blick der Princesse und dem eifersüchtigerzürnten ihres Mannes, der dieses Symbol hier ebenso zu deuten versteht; von Amélie Nothombs postmoderner Princesse-Wiedergängerin, die in Gesellschaft eines re-interpretierten ‚Blaubart‘ in allerlei höchst sinnlichen gelben Farbenspielen schwelgt, wird noch die Rede sein. Zum „extraordinaire symbolisme polysémique“ dieses Farbencodes, mit dem Lafayette Nemours zugleich als „un chevalier parmi les autres“, „un compagnon privilégié du destin royal“ und „le chevalier servant, quoique clandestin, de sa dame“ in Szene setzt, vgl. auch Malandain 1989: 94. 296 Es ist verlockend (wenngleich nicht zwingend), hier einen Bezug zur ‚spanischen‘ Motivik in der Princesse de Clèves - rund die Eheschließung der Élisabeth de France - herzustellen. Eben im Rahmen dieser spanischen Reise spielt die jeglicher folkloristischen belgitude dezidiert abholde Jacqueline Harpman, die ihre Princesse-Version unter weitgehendem Verzicht auf geo-topografische Konkretisierung in Brüssel resituiert, aber auch ironisch mit der imagobzw. ‚ethnologischen‘ franko-belgischen Differenz, wird von ihrem frankophonen Protagonisten doch allseits erwartet, dem Klischeebild des galanten Franzosen gerecht zu werden: „On attendait de lui qu’il brillât dans la conversation […], charmât les jeunes femmes et enchantât les autres: qu’il fût bien français, enfin. Ce dont il essayait de s’acquitter, à contrecœur […]. Dès qu’une femme lui disait: - Vous êtes bien Français, va! il grinçait des dents, il savait que cela signifiait: Quand me manquerez-vous de respect? Il précisait alors que même si sa langue maternelle était le français, les hasards de la géographie lui faisaient porter la nationalité belge. - C’est la même chose, disaient ces personnes peu au fait des problèmes ethnologiques, et pour qui un homme était français dès qu’il était séduisant“ (Harpman 2004a: 60f.). 297 Ibid.: 60. 298 Ibid.: 59. <?page no="194"?> 194 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie violemment.“ Offensichtlich genug identifiziert dieser Chromo-Clash Julie als die eigentliche Adressatin der verräterischen Liebesgabe, deren Bedeutung in diesem Moment nicht nur Mme Hartog, sondern auch dem quälend errötenden Kavalier („François rougit, indiscrètement, comme font les hommes […]“ 299 ) selbst klar wird: „J’aime, se dit François. Le découragement lui fit ployer les épaules.“ 300 Doch auch mit der poetologisch symbolträchtigen Motivik der zahlreichen - hier weniger verlorenen denn missverstandenen, indirekt adressierten, über Kreuz interpretierten - Briefe, die quer durch Brève Arcadie zirkulieren, knüpft Harpman an die Princesse an. Einem metaphorischen „orage“ gleich bricht ein Brief François’, der sich eigentlich an Julie richtet, in Albertes „quiétude chèrement acquise“ ein und lässt das prekäre Gleichgewicht der heimlich in den jungen Mann verliebten Empfängerin, die seine Schrift zunächst nicht erkennt, „comme un château de cartes“ in sich zusammenstürzen; 301 ratlos entziffert Julie, in Unkenntnis des epistolären Vor- und Verwirrspiels, den Folgebrief Albertes - und schickt ihrerseits einen Brief, der niemand anderem als François gilt, an ihre Freundin Louise, die, routinierte Kupplerin, das Schreiben zu dessen Beglückung dem wahren Adressaten zeigt. 302 Etliche Szenen und Motive aus Lafayettes Text werden neu gemixt und rekontextualisiert: So verlagert Harpman die Tanzszene vom Hofball in ein „établissement en vogue“; nicht königlicher Befehl, sondern mondäne Konvention zwingt dieses Liebespaar zum gemeinsamen Tanz - Moment eines „insoutenable émoi“, 303 transparent sublimierter erotischer Akt („il est ridicule de danser avec un homme dont on partage le lit depuis quinze ans“, erklärt unverblümt Louise, auch hier Sprachrohr der liebesphilosophischen Reflexion) - unter dem kritischen Blick der anwesenden Gesellschaft. 304 Eine noch eindeutiger parodistische réécriture der Hofball-Szene samt sexueller Re- Akzentuierung und alternativem Ausgang unternimmt Harpman in ihrem - editions- 299 Wie bei Lafayette fungiert auch bei Harpman ein hoch semiotisierter Körper als stets potentiell verräterisches Kommunikationsmedium; dessen unwillkürliche ‚Botschaften‘ - so das Erröten der Protagonistin, „[c]ette rougeur familière à Mme de Clèves, et qui d’abord est presque son seul langage“ (Sainte- Beuve: Portraits de femmes [1845], zit. nach Laugaa 1971: 173), die Chang (2012) als poetologische „figure for the tension between legibility and dissimulation that runs throughout Lafayette’s text“ interpretiert: in metonymisch-metaphorischer Umkehr konstituiert auch das Versteckspiel um die Autorschaft der Princesse und insbesondere die Notiz des Libraire au lecteur „a type of textual ‚blush‘“ - werden in dieser postmodernen réécriture freilich signifikant (gender-)re-akzentuiert. Ist bei Lafayette die Heldin in ihrer anfänglichen „naive and pristine whiteness“ die einzige errötende Figur (ibid.), so tritt bei Harpman auch und vor allem der männliche Körper als Objekt begehrlicher und/ oder neugieriger Blicke in den Fokus der anderen Figuren wie der Erzählinstanz: Wiederholt ist es Protagonist François, der in Gegenwart der geliebten Frau peinlich berührt errötet (vgl. etwa auch 2004a: 159) oder erbleicht; mit Kennerinnenblick beurteilt Julies Freundin Louise die Attraktivität des jungen Mannes: „La pâleur et l’agitation lui allaient bien, soulignant une certaine ardeur famélique“ (ibid.: 161). 300 Ibid.: 64. In diesem amourösen Farbenspiel entfaltet Harpman zugleich das schon bei Lafayette angelegte Sinnbild von Liebe und Alterität: Wählt Nemours zu Ehren der Princesse Gelb - jene ‚falsche‘ Farbe, die die blonde Heldin liebt, aus ästhetischen Gründen jedoch nicht tragen kann -, so schenkt François seine Mantille von der richtigen Farbe unwillkürlich der falschen - oder, psychoanalytisch (über-? )interpretiert, eben doch wieder der richtigen - Frau. 301 Ibid.: 69. 302 Ibid.: 68f., 160. 303 In der klassisch-dezenten Lexik Harpmans periphrasiert der rekurrente Schlüsselbegriff des „émoi“ die sinnliche Lust bis hin zum Orgasmus (vgl. Paque 2013: 92). 304 Harpman 2004a: 125. <?page no="195"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 195 chronologisch dritten, de facto direkt nach Brève Arcadie verfassten - Roman Les Bons Sauvages (1966): An die Stelle der Mme de Clèves tritt die optisch wie alliterativ nicht unverwandte junge Clotilde Santivas, „blonde et mince“, 305 Nachfahrin einer Dynastie längst ruinierter „Grands d’Espagne“, 306 nunmehr Erbin nicht nur eines florierenden Kaffee- Konzerns und „de quelques milliards“, sondern auch „de trois millions et demi de personnes humaines“ 307 in einem imaginären lateinamerikanischen Land namens ‚Araguay‘, über das ihre Familie in neo-feudaler Manier herrscht. Nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters wird diese moderne, professionell wie erotisch experimentierfreudige Princesse, die der „idée de posséder un demi-pays“ zunächst gleichgültig, 308 dann mit wachsendem Unbehagen gegenübersteht, 309 „[e]n vertu d’un droit de succession non régi par la loi salique“ zur Quasi- „monarque“ avancieren 310 - und schließlich mit nicht minder noblen Komplizen zur „révolution“ schreiten. 311 Bis auf Weiteres genießt sie nach ihrer Flucht aus der heimatlichen Provinzstadt „Saucerre“ (in einer aus dem Originalmanuskript gestrichenen Passage lautet das Toponym - intertextuell, ob nun coquille oder nicht, nicht ganz unschuldig - „Sancerre“ 312 ), Mikrokosmos des doppelten paraître („Il faut tenir pour règle qu’à Saucerre rien n’est ce qui paraît, etc.“) und der „avec un peu de vanité“ zu „intrigues“ überhöhten „petits stratagèmes“, 313 in Paris einige Jahre der Freiheit vor der vom Vater sorgfältig im Voraus arrangierten Heirat (zu der es nicht mehr kommen wird). Nach allerlei semi-amourösem Hin und Her ist die Protagonistin im Begriff, sich zwar nicht - da dynastisch inakzeptabel - auf eine formelle Ehe, aber doch auf eine solide Kohabitation mit einem seriösen jungen Chemiker einzulassen („Elle employait le verbe épouser par esprit de synthèse“ 314 ); im Rahmen einer distinguierten „soirée des professeurs“ 315 nimmt sie mit gemischten Gefühlen diverse auf einem Missverständnis beruhende Glückwünsche entgegen und tanzt mit ihrem zukünftigen ‚Gatten‘, als Nemours-Reinkarnation Guillaume, „professeur d’anglais dans un lycée“ 316 - bis ins Detail der England-Affinität wird auch hier der motivische Faden der Princesse fortgesponnen - verspätet auf der Bildfläche erscheint: Pendant qu’elle dansait avec Jean, un jeune homme parut au seuil du salon. Il était grand et maigre, il avait le teint pâle et les cheveux noirs que l’usage littéraire accorde volontiers aux inquiets et qui leur va très joliment. Son regard fit le tour du salon et son expression ne marqua pas d’enthousiasme. Puis il vit Clotilde […] Dans ce visage qu’il ne connaît pas, il reconnaît son désir et ne cherche pas à le maquiller de mots. […] Vous dansez? demanda-t-il. Elle dansait. […] Au premier pas, elle chancela, il sourit et la colla contre lui. Mais… se disait Clotilde, mais… puis elle perdit conscience de tout ce qui n’était pas, contre le sien, ce corps dominateur. […] Elle fit un effort violent pour se maîtriser, voulut s’écarter un peu de cet incroyable étranger contre qui elle se retrouvait collée et comprit 305 Harpman 2000: 52. 306 Ibid.: 17. 307 Ibid.: 232. 308 Ibid.: 155. 309 Vgl. ibid.: 262ff. („Les Milliards“). 310 Ibid.: 260f. 311 Ibid.: 291. 312 Vgl. ibid.: 329-335 („Inédits“), hier 331. 313 Ibid.: 24, 29f. 314 Ibid.: 167. 315 Ibid.: 160. 316 Ibid.: 172. <?page no="196"?> 196 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie qu’elle révélerait à l’assemblée une indécence si complète que nul tailleur ni les plus solides étoffes anglaises ne la pouvaient dissimuler. […] Après cela, on ne se met pas en ménage avec Jean Detheil était la conclusion inévitable. […] et ils partirent. 317 Eine in mehrfacher Hinsicht signifikante Re-Interpretation widerfährt in Brève Arcadie - wie in anderen modernen und postmodernen réécritures - auch der zentralen Szene des aveu. Auch diese Princesse, ihrerseits als honnête femme in einem durchaus klassischen Sinn, ja sogar als „femme trop honnête“ charakterisiert, 318 teilt mit ihrer Vorgängerin wie erwähnt das Schlüsselattribut der sincérité. 319 Ist der jugendlichen Protagonistin - „sans passé“ in die Ehe gegangen - zunächst jeglicher Gedanke an confessions wie aveux aller Art völlig fremd („[…] elle n’éprouvait pas le besoin de se confier: c’est qu’elle n’avait pas de secrets“ 320 ), so entdeckt sie mit ihrer Liebe zugleich die Ambivalenz des Geheimnisses; und auch wenn Julie die Passion selbst wie die damit verbundene notwendige Lüge für „peu commode“ befindet, 321 so konstituiert sich die junge Frau, zu Beginn ihrer Ehe noch „pas tout à fait adulte“, 322 doch zu diesem Zeitpunkt - in der Erfahrung der Differenz zwischen sozialer Persona und indirekt eben dadurch in seiner Authentizität sanktioniertem ‚wahrem‘ Ich - erstmals als erwachsenes, eigenverantwortliches Subjekt. An unproblematische Aufrichtigkeit gegenüber ihrem Ehemann und Mentor gewöhnt, leidet Julie zwar unter ihrer dissimulation 323 („Son premier mouvement était, si naturellement, de lui tout dire qu’il fallait toujours un effort pour taire ce qui devait absolument l’être“ 324 ), widersteht jedoch aus Rücksichtnahme auf ihren Ehemann, die nachträglich die Ambivalenz des - edlen? egozentrischen? - Bekenntnisses der Heldin Lafayettes beleuchtet, lange Zeit der Versuchung des aveu: „[…] sous prétexte d’honnêteté, n’irais-je pas briser le cœur du meilleur des hommes et lui avouer ma folie? Je le connais, il m’ordonnerait de le quitter pour être heureuse. […] Je ne pourrais pas être heureuse auprès de François sachant Gaston seul, chaque instant de joie serait doublé de remords.“ 325 317 Ibid.: 167ff. Diese moralisch vorurteilsfreie ‚Princesse‘, naive hedonistische Philosophin („Je ressens donc je suis“; ibid.: 111), folgt dem attraktiven Fremden ohne zu zögern „chez lui“ - und ins nächste Kapitel: „Guillaume ou le deux-pièces-cuisine“ (ibid.: 170ff.). Kaum zwei Jahre später wird das Dreiecks- Szenario mit neu verteilten Rollen nachgespielt; nunmehr findet sich der routinierte Verführer, Ex- „galopeur de filles“ (ibid.: 196), in der Position des verlassenen, über seine Verzweiflung hinwegironisierenden ‚Ehemannes‘ wieder: „Tu me conduiras à des extrémités de langage que je désapprouve. Dans l’humeur où je suis, il me semble que si tu pars, je crève“ (ibid.: 222). 318 Harpman 2004a: 111. „Nous étions plus épris d’honnêteté qu’honnêtes“, konstatiert selbstkritisch die mit Julie in mancher Hinsicht verwandte junge Protagonistin aus L’Apparition des esprits (2005a: 72). 319 Harpman 2004a: 90, vgl. etwa auch 137. 320 Ibid.: 25. 321 Ibid.: 137. 322 Ibid.: 51. 323 Vgl. ibid.: 101. 324 Ibid.: 90. 325 Ibid.: 112. In Le Bonheur dans le crime ist es besagte (Ur-)Großmutter Emma, zu ihrer Zeit souveräne Managerin ihres Liebeslebens zwischen ehelicher „affection de convenance“ und der galanten Routine des „adultère qu’elle pratiqua avec discrétion et assiduité“ (2004b: 27f.), die die kleinbürgerliche Geschmacklosigkeit des aveu mit gebührender Verachtung kommentiert, auf den Spuren La Rochefoucaulds (vgl. etwa 2005: Nr. 441: „Dans l’amitié comme dans l’amour on est souvent plus heureux par les choses qu’on ignore que par celles que l’on sait“) das naive Gebot absoluter Aufrichtigkeit mit eleganter Geste beiseite wischt und vehement gegen die moderne „Tyrannei der Intimität“ (vgl. Sennett 2004: insbes. <?page no="197"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 197 Komplizierter als jene ihrer intertextuellen Vorfahrin ist ihre emotionale Lage auch insofern, als hier zunächst nicht restlos klar ist, was es konkret zu gestehen gälte. Für Julie als Juniorpartnerin in einer höflich-platonischen Ehe, die ihre sexuelle Freiheit - solange das elementare Gebot der Diskretion gewahrt bleibt - nicht einschränkt, stellt der adultère in einem physiologisch-sexuellen Sinne keine der Absolution bedürftige Transgression mehr dar; die dezente Spiritualität der Princesse hat sich in dieser modernen Re-Interpretation verflüchtigt, die anspruchsvolle persönliche Ethik der Protagonistin bewegt sich - trotz oder aufgrund ihrer im Kloster verbrachten Jugend - gänzlich abseits eines theologischen Koordinatensystems. Vergeblich grübelt François über die Motive hinter Julies auf keinem religiösen Fundament mehr basierendem Streben nach ehelicher Treue - und wirft damit auf poetologischer Ebene auch die Frage nach der Aktualität des Dilemmas der Mme de Clèves „au siècle du divorce“ und des nonchalanten ‚Ehebruchs‘ 326 auf: „Au XX e siècle, quand la vertu conjugale ne peut plus s’appuyer sur les obligations religieuses ni sur les interdits sociaux, quelles raisons feraient une femme d’esprit refuser de tromper son mari? “ Ein weiteres Mal ist es Mme Hartog, die die psychowie soziologisch plausibelste Erklärung liefert: „Si elle n’est pas sotte et qu’elle ne croit pas à l’enfer, je ne vois que l’estime qu’elle a pour lui.“ 327 (Das Echo ebendieser Passage mit ihrem leichten Spott über die religiös induzierten Ängste potentieller Ehebrecherinnen früherer Zeiten ist in Ce que Dominique n’a pas su zu vernehmen: „La princesse de Clèves craignait l’enfer, ma sœur avait été élevée dans l’idée qu’on ne commet pas l’adultère et ne savait pas très bien pourquoi“, kommentiert sarkastisch jene andere Julie. 328 ) Wie Schuppen fällt es François von den Augen; eben die Verweigerung der 424ff.) protestiert: „C’est qu’il faut inventer! Après la guerre, la deuxième bien sûr, il y a eu une période où la mode voulait qu’on ne mente plus. Il fallait tout raconter! Cela me semblait de la paresse, ou bien de la cruauté. Songez-y! Informer un mari de ce qu’on fait au lit avec un autre! Pouah! “ (Harpman 2004b: 78). Die großmütterliche Ehephilosophin folgt damit - in unverblümteren Begriffen - der Argumentation der Korrespondenten des Mercure galant zum Zeitpunkt der Erstpublikation der Princesse de Clèves: „La princesse de Clèves est excusable, parce qu’elle ne serait plus l’Héroïne d’un Roman si elle n’avait un caractère extraordinaire. Je crois qu’elle devait plutôt se laisser tenter, que de s’exposer à la mauvaise humeur continuelle d’un Mari, parce qu’un Homme est plus heureux d’être trahi sans le savoir, que d’être le Confident d’une Femme qui le hait le plus vertueusement du monde“, erklärt Leser ‚De Merville‘ aus Dieppe (Extraordinaire von Juli 1678, zit. nach Lafayette 2014: 521-522, hier 522). Dieser Meinung schließt sich auch ‚Fredino‘ an, mit dessen Schreiben, datiert „À Venise, le 12 septembre 1678“, die Debatte im Extraordinaire von Oktober 1678 bis auf Weiteres beendet wird: „[…] Mme de Clèves me désole dans la confidence qu’elle fait au prince de Clèves, de la forte passion qu’elle a pour le duc de Nemours. En effet les suites d’une déclaration de cette nature ne peuvent être que très dangereuses“ (zit. ibid.: 531f.). 326 Harpman 2007a: 84. „[…] en cette seconde moitié du XX e siècle, qui se souciait encore d’un adultère? “, fragt rhetorisch der Erzähler des Romans (ibid.: 14). 327 Harpman 2004a: 115. 328 Harpman 2007b: 3290f. Überflüssig zu bemerken, dass diese einer generell zur provokanten Pointe neigenden Figur in den Mund gelegte Formulierung die ethische Problematik der Princesse de Clèves verkürzt - und ein weiteres Mal auch die kontroverse Frage nach dem Status der Religion im Werk Lafayettes aufwirft. Die Entsagung der Mme de Clèves ist nicht auf eine naive, hier aus der Perspektive der Erzählerin freilich gezielt ironisch überspitzte ‚Angst vor der Hölle‘ zu reduzieren (auch nach dem Tod ihres Gatten - in Abwesenheit nun jeglichen sozialen wie religiösen Hindernisses - verweigert die Princesse die Verbindung mit dem geliebten Mann); Lafayette skizziert hier vielmehr eine differenzierte individuelle Ethik mit durchaus narzisstischer Komponente. Der Bedeutungsverlust traditionell religiös fundierter moralischer Normen, die als anachronistischer Ballast, in einem säkularisierten <?page no="198"?> 198 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Frau wird als höchster Liebesbeweis lesbar: „[…] comment n’ai-je pas compris plus tôt? […] elle consentait à faire l’amour… c’est qu’elle ne consent pas à aimer. Elle m’aimerait donc? “ 329 Nicht der trivialisierte außereheliche Liebesakt, sondern die Liebe selbst stellt hier das Tabu dar; das moralische Dilemma hat sich auf eine subtilere emotionale Ebene verschoben: „Pour Julie, l’infidélité commençait plus haut qu’on n’a coutume de la situer, et cette femme qui avait eu plusieurs amants ne se croyait en danger de tromper son mari que depuis qu’elle se voyait sur le point de donner prise sur son cœur.“ 330 Ebenso wie François an die säuberliche Differenzierung von Liebe und Lust gewöhnt („j’ai toujours fait l’amour sans aimer“ 331 ), setzt diese moderne Princesse gezielt (und jahrelang erfolgreich) auf routinierte Galanterie als effizientes Mittel gegen die Passion: „Ne peut-on pas compter que le plaisir protège de l’amour? “ 332 Auf den Spuren Lafayettes und Radiguets, aber auch Stendhals analysiert Brève Arcadie die feinen Nuancen der ‚Liebe‘ auf einer Skala zwischen amour-passion und mondäner galanterie: Zu Zwecken der paradoxen amourösen Abschreckung spielt Julie, bestrebt „de fuir l’amour dans le désir“, 333 auch François gegenüber die artifizielle Rolle der ‚femme facile‘ („[…] l’aimer n’est encore rien, le tout est qu’il ne m’aime pas. On dit que les Kontext nicht mehr argumentierbare sinnentleerte Konventionen noch ein ganzes Stück weit in die Moderne mitgeschleppt werden, ist bei Harpman wiederholt ein Thema: So analysiert der Erzähler in Le Bonheur dans le crime ausgehend vom tragikomischen Schicksal einer der Erotomanie verfallenen bigotten Lateinlehrerin die fatale Psycho- und Soziodynamik jenes „genre de familles où la bigoterie a survécu à la religion“ (2004b: 66f.). In La Dormition des amants exploriert Harpman in reflektiertem Anachronismus die Mentalität einer Epoche, in der Religion erst punktuell im Bewusstsein einiger weniger vor-aufgeklärter Geister von der omnipräsenten Selbstverständlichkeit zum potentiellen, nicht zuletzt aus gesellschaftlicher Vorsicht rasch wieder verdrängten Problem wird: „Girolamo, crois-tu en Dieu? “, erkundigt sich die rebellische Infantin bei ihrem geliebten Eunuchen, „très surpris“ angesichts dieser blasphemischen Frage: „Madame, j’ignorais que l’on pût se poser la question“ (2002: 2224ff.). Julie in Ce que Dominique n’a pas su hat diesen gedanklichen Schritt bereits erfolgreich hinter sich gebracht („il m’apparut que je ne croyais ni en Dieu ni au Diable et j’écartai la théologie“, stellt sie anlässlich ihrer Studienwahl pragmatisch fest; 2007b: 2901f.); aus ihrer paradoxen Perspektive als metaleptische Grenzgängerfigur zwischen den Welten und den Epochen demontiert sie zugleich die Illusion postreligiöser Freiheit: „De mon monde, j’ai vu changer le vôtre. Je le comprends sans doute mieux que vous ne comprenez le mien. Beaucoup d’entre vous pensent qu’ils sont libres parce qu’ils ne croient plus en Dieu ni en l’Enfer, les deux mythes qui ont tellement détruit nos vies: vous avez les vôtres“ (ibid.: 46ff.). 329 Harpman 2004a: 115. 330 Ibid.: 105. 331 Ibid.: 121. 332 Ibid.: 86. Auf Sexualität als sicherstes Mittel gegen die Liebe setzt nach Julie noch eine ganze Reihe Harpman’scher Heldinnen. „Si ça se trouve, au lit, je ne vous plairai pas, et vous cesserez de m’aimer“ (2004b: 127): Mit wütender Verzweiflung reagiert Gérard Gaveau in Le Bonheur dans le crime, leidenschaftlicher, schließlich suizidaler „galant façon XIX e “, auf die liebenswürdige Nonchalance, mit der seine überaus moderne Angebetete - angehende Ärztin, die im Lauf ihrer Liaison unter anderem Kardiologie studiert - sich ihm als Sexualpartnerin anbietet und zugleich seine große, hoffnungslos anachronistische Passion - „Ne soyez pas sot! Ce n’est pas de ce siècle-ci! “, erklärt ausgerechnet die kluge Urgroßmutter - ignoriert (ibid.: 124ff.). Als Gérard der galanten Einladung Emmas endlich nachgibt, muss er verzweifelt den fatalen Unterschied zwischen „le plaisir ordinaire d’une physiologie équilibrée“ und „l’exaucement de toute aspiration que l’amour peut dispenser pendant quelques instants“ feststellen: „Il fut ébloui, tremblant, il eut devant lui une femme aimable qui lui souriait et lui tenait des propos de bonne compagnie sur sa prestation“ (ibid.: 131). 333 Harpman 2004a: 97. <?page no="199"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 199 hommes ne font pas de passions pour les femmes faciles. Soyons facile“ 334 ). Ohne weitere Skrupel begleitet sie ihren Kavalier zu einem Rendezvous „en pleine forêt, une auberge très plaisante, dans le style ‚repos du chasseur‘“; in diesem bewährten Ambiente - Bühne eines „tête-à-tête galant“, mit dessen „règles établies“ beide wohlvertraut sind - bemüht sich das Liebespaar wider Willen, die Passion flirtend in Schach zu halten. 335 Auch François verlässt sich auf seine erotische „virtuosité pour éviter l’émoi“; in ironischer Wendung kommt auch ‚Literatur‘ als Schutzwall gegen die drohende emotionale Krise zum Einsatz: „[…] il se donna le plaisir de la regarder longuement, d’admirer, sans s’émouvoir, la ligne gracieuse des paupières baissées, le dessin d’une bouche émouvante, l’ovale qui… il fit de la littérature.“ 336 Ein ganzes galantes „alphabet […] des amours sans conséquences“ 337 wird hier zusehends ratlos rezitiert, eine ritualisierte „comédie de la séduction“ aufgeführt, 338 deren vorgeschriebene Repliken und Gesten die Liebenden immer wieder vergessen; doch auch noch beim ersten Sexualakt erscheinen beide verkrampft bemüht, sich um jeden Preis an „la cérémonie des préliminaires savants“ zu halten: „Ils passèrent une demi-heure à s’ennuyer dans les règles de l’art.“ 339 Dieser zur Routine trivialisierten Sexualität reicht es weder zum Geheimnis noch zum Skandal; Julies Sehnsucht nach dem erlösenden aveu bezieht sich denn auch nicht auf ihr erotisches Stelldichein mit François, sondern auf einen Moment ‚verbotenen‘, gerade nicht sexuellen - und umso intimeren - gemeinsamen Glücks. 340 In einem sorgfältig präparierten „aveu à rebours“ 341 ist es schließlich der Ehemann, der - nach seiner ersten Angina pectoris-Krise ans Kranken- und bald Sterbebett gefesselt - im Namen seiner Frau das ersehnte und zugleich gefürchtete Geständnis ablegt: „Vous aimez François, dit en souriant Auberger à sa femme.“ 342 Diesen fatalen Satz wiederholt Julie unaufhörlich während der folgenden langen Nacht an der Seite ihres Mannes, wobei sie sich ihn signifikanterweise grammatikalisch nicht zu eigen macht („[…] Julie veillait sur son repos et se répétait sans cesse: Vous aimez François“ 343 ) und damit nicht nur das eigene, so lange aufgeschobene Bekenntnis gleichsam mit fremder Stimme testet, sondern auch die unterirdischen Gefühlsverstrickungen dieses amourösen Dreiecks adressiert (auch Auberger ‚liebt‘ François - François anstelle Julies, Julie anstelle François’). Rasch genug bereut der rücksichtsvolle Gatte - auch er von der Gewohnheit ehelicher sincérité verführt („[…] depuis dix ans, je lui dis tout, j’ai parlé avant d’avoir réfléchi s’il ne fallait pas me taire“ 344 ) - freilich seinen (doppelt) substitutiven aveu; sich der performativen Macht der Worte nur allzu bewusst, erkennt er klar, dass „ce stupide ‚Vous aimez François […]‘“ 345 nun nicht mehr ungeschehen zu machen ist. 334 Ibid.: 86f. 335 Ibid.: 81f. 336 Ibid.: 84f. 337 Ibid.: 79. 338 Ibid.: 85. 339 Ibid.: 87. 340 Vgl. ibid.: 101. 341 Ibid.: 131. 342 Ibid.: 129. 343 Ibid. 344 Ibid.: 131. 345 Ibid.: 134. <?page no="200"?> 200 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie In prononciertem Kontrast zu Lafayettes Prince de Clèves, der sich (wie bereits zuvor Mme de Chartres) nicht ohne eine beträchtliche letzte Dosis ‚Psychoterror‘ der Protagonistin gegenüber ins Jenseits verabschiedet, ist Auberger fest entschlossen, keinesfalls sofort zu sterben, um Julie nicht der Qual der entsprechenden Gewissensbisse auszuliefern: „Si je commets la sottise de mourir aujourd’hui, elle croira toujours m’avoir tué. Il faut vivre un an […].“ 346 Die schuldbewusste Julie versucht unterdessen, den aveu in hypothetischer Form zu suspendieren: „Et si je vous jurais que ce que vous avez cru est faux? “ 347 Während der Zeit der schweren Krankheit Aubergers leben die Eheleute derart in einem ihnen bisher ungewohnten „état bien conjugal de l’hypocrisie réciproque“, deren Motive - wie Auberger innerlich ironisch kommentiert - immerhin „peut-être plus honorables qu’il n’est coutume“ sind. 348 Im Gegensatz zu Lafayettes Text ist hier der Liebhaber kein Zeuge des aveu; 349 als Julie ihn nachträglich informiert, ist auch für François, skrupulösere und selbstreflektiertere Reinkarnation des Nemours, die moralische Pflicht zum Verzicht auf seine Liebe klar: „Le repos d’un homme qu’il estimait profondément dépendait de lui. Il ne s’agissait plus de tromper un mari: mais de le tuer. […] Il aimait Julie? Soit. Il avait trente ans et tout le temps d’oublier. Auberger, malade, âgé, n’avait plus, lui, toute une vie devant soi.“ 350 Dieser verschobene aveu bringt noch andere heikle Wahrheiten ans Licht. Auch der zynischsouveräne Ehemann erweist sich - wenngleich erst an der Schwelle des Todes - als nicht immun gegen die mimetische Dynamik der Liebe; in dem Moment, in dem er zum Zeugen der so erbittert bekämpften Passion zwischen Julie und François wird, wird dieser abgeklärte Adept der Vernunft sich verspätet in einer regelrechten amourösen Epiphanie seiner eigenen Liebe für seine junge Frau bewusst. 351 (Hier folgt Harpman weniger der hypotextuellen Spur Lafayettes als jener Radiguets: Auch Anne d’Orgels Interesse an seiner Frau erwacht angesichts der Passion zwischen Mahaut und jenem anderen François.) Auch ihre Konstruktion literarischer Räume 352 modelliert Harpman ziemlich getreu nach dem klassischen Prätext. Wie ihre Vorgängerin flüchtet auch Julie vor ihrer Passion aus der Hauptstadt - in diesem Fall Brüssel - aufs Land; hier ist es die Krankheit ihres Mannes, die den willkommenen Vorwand liefert, sich auf dessen Landgut Verteuil - strukturelles Äquivalent zu Coulommiers, in dem zwischen vert und Vinteuil eventuell auch noch weitere intertextuelle Assoziationen mitklingen - zurückzuziehen. Dort angekommen, verfällt Julie in eine kaum larvierte, als bei ihr gänzlich ungewohnte „paresse“ getarnte Depression. 353 Wie Lafayettes Duc sucht auch Harpmans Hartog seine Geliebte - hier nach brieflicher 346 Ibid. 347 Ibid.: 135. 348 Ibid.: 140. 349 Vgl. ibid.: 163. Sowohl Bussy-Rabutin als auch Fontenelle kritisieren die versteckte Präsenz Nemours’ in Lafayettes scène de l’aveu; skeptisch gegenüber jeglichem Abusus des „hasard romanesque“ zeigt sich auch Du Plaisir (vgl. Esmein-Sarrazin 2014c: 1329). 350 Harpman 2004a: 167. 351 Vgl. ibid.: 113f. Auch hier entspinnt sich eben über die Liebes-Motivik eine prinzipielle Reflexion über menschliche Subjektivität zwischen Determinismus und Freiheit; spät stellt sich Auberger die Frage, ob nicht womöglich seine ganze Lebensphilosophie lediglich ein physiologisches Produkt eines zu schwachen Organismus war: „Auberger s’était parfois demandé si, en vérité, la nature ne le contraignait pas à une réserve qu’il croyait choisir“ (ibid.: 144f.). 352 Vgl. zur Konstruktion literarischer Räume im Werk Harpmans allgemein Zbierska-Mościcka 2013. 353 Harpman 2004a: 156. <?page no="201"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 201 Verabredung zu einem vermeintlich letzten Treffen - heimlich an ihrem Zufluchtsort auf. In der ländlichen Einsamkeit nahe Verteuil entfaltet sich eine leicht parodistisch gefärbte Idylle mit animalischer Komparserie (Julie erscheint in Begleitung ihrer Hunde, Alibi auf vier Beinen; so sehr verschmelzen die Liebenden mit der Landschaft, dass auch die zunächst aufgescheuchten Vögel sich bald wieder ringsum niederlassen). 354 In dieser ekstatischen Vereinigung unter freiem Himmel - quasi paradigmatische Liebesszene im Werk Harpmans, die auch in La Plage d’Ostende minimal variiert wiederkehrt 355 - erreicht diese Passionsgeschichte ihren zugleich euphorischen und angesichts des bevorstehenden Abschieds ‚für immer‘ melancholischen Höhepunkt; abseits des trivialen Alltags tut sich für ein paar Nachmittagsstunden der paradoxe Evasions-Zeitraum jener im Titel des Romans beschworenen Brève Arcadie auf, 356 „le non-temps de l’amour“, 357 in dezent lyrischen Tönen evozierte Oase prekärer Ewigkeit: „L’instant était immobile et l’éternité provisoire.“ 358 „L’amour heureux porte sa propre condamnation“: Die Selbstdemontage des amour-passion Combien de temps dure une éternité? 359 Allein: Arkadien - mythologisch-literarisches „Wunschbild“ 360 - ist ebenso wenig von Dauer wie die Passion selbst. Scheinbar endgültig nehmen die beiden Liebenden voneinander Abschied; am nächsten Tag erklärt Julie in einem Brief an ihre Freundin feierlich ihren Verzicht im Namen der ehelichen Pflicht und des repos: „[…] à mon calme, au repos que j’ai enfin trouvé, je sens que je n’ai plus rien à craindre ni de moi ni de lui.“ 361 Bei der schicksalhaften Trennung bleibt es allerdings nicht; mit dem Ableben Aubergers kommt der Passion Julies und François’ das moralische „obstacle“ 362 abhanden. „[…] la tragédie contemporaine, c’est l’amour tué par lui-même, mourant de sa propre victoire“, bemerkt Pascal Bruckner; 363 nimmt Harpman bereits zuvor immer wieder moderne Re-Akzentuierungen an ihrem Sujet vor, so weicht sie am Ende des Romans - Variation über ebenjene „tragédie contemporaine“ - am frappierendsten von ihrem klassischen Prätext ab. Auberger, längst „au-delà des comédies“, stirbt ohne Ressentiment und Rachegelüst; der verzweifelten Julie, untröstlich im Bewusstsein ihrer vermeintlichen Schuld („Je vous ai tué. 354 Vgl. ibid.: 164ff. 355 Vgl. Harpman 1993: 268f. 356 Vgl. auch die Deutung des Lafayette’schen Coulommiers als „[s]ymbole de l’Arcadie mythologique“ bei Rambaud (2006: 73). 357 Vgl. Kristeva 1999: 15. 358 Harpman 2004a: 165. 359 Harpman 2003b: 252. 360 Vgl. Garber 2009. 361 Harpman 2004a: 171. „Elle n’a plus rien à craindre de ce monde“, lautet - Koinzidenz oder auch nicht - der letzte Satz von Delannoys zwei Jahre nach Brève Arcadie präsentierter filmischer Erstadaption der Princesse de Clèves (01: 46: 56-01: 46: 58). 362 Vgl. Rougemont 1979: 44ff. 363 Bruckner 2013: 107. <?page no="202"?> 202 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Je ne me le pardonnerai jamais“ 364 ), erklärt er sanft, sie werde selbstverständlich über seinen Tod hinwegkommen. Und obwohl Julie „[d]evant ce visage envahi par l’absence“ fest davon überzeugt ist, „qu’elle ne réparerait jamais“, wird Auberger ein letztes Mal recht behalten. Frei bleibt diese Princesse nach dem Tod ihres Ehemannes zurück - und selbst am Leben, wenngleich sie, für eine ganze Weile quasi außer sich, „une docilité somnambulique qui effrayait“ an den Tag legt. 365 Nach dieser letzten Text-Wegkreuzung, an der die Abzweigung in Richtung der Conclusio der Princesse noch denkbar, ja für einen Moment plausibel scheint, verlässt Harpman freilich die Spur Lafayettes. Langsam findet Julie wieder zu sich, zögert die Konfrontation mit den quälenden „remords“, 366 die sie unweigerlich erwarten, so lange wie möglich hinaus; doch nicht nur aus Pflicht- und Schuldgefühl gegenüber dem Gespenst des toten Gatten („elle se vit aussi coupable d’aimer que d’être aimée“ 367 ) verlängert sie künstlich ihre Trauerzeit, schiebt ein - bezeichnende Wortwahl - auf sie ‚lauerndes‘ Glück noch ein wenig vor sich her: „Le plus aigu de sa douleur passa lentement. Le jour vint où Julie prolongeait son désespoir: François et le bonheur la guettaient.“ 368 „À vrai dire, tout obstacle détruit, la passion n’a plus où se prendre“: 369 Auch diese Liebenden ereilt die bei Rougemont analysierte Dynamik einer Passion, die an ihrer eigenen Möglichkeit scheitert (ein weiteres Mal ist es Julies Freundin Louise, die Harpman über das Unglück als höchstes Glück der Liebe philosophieren lässt: „Si je poursuis ce bizarre raisonnement, je tombe sur l’idée saugrenue que le grand bonheur, en amour, c’est d’être malheureux“ 370 ). Dennoch bleibt Harpman mit ihrem Schluss der Struktur der Princesse treu; auf der allerletzten Seite des Romans resümiert die Erzählinstanz in zwei knappen Absätzen und aus abrupt vergrößerter narrativer Distanz - in auffallendem Kontrast zur vorangegangenen detaillierten Exploration der Gefühlswelten der Figuren - das weniger tragische denn triviale Finale der Passionsgeschichte dieser neuen Princesse, 371 die nicht nur den Tod ihres Mannes, sondern 364 Harpman 2004a: 189. In signifikanter Wendung hin zur selbstanklagenden Introspektion findet die Leserin hier jenen Schlüsselsatz aus Madame de wieder, den Vilmorin (1993: 59) ihre ‚Nemours‘-Figur an die Heldin, Max Ophuls in seiner Filmfassung letztere an den Ehemann richten lässt. 365 Harpman 2004a: 189. 366 Ibid.: 190. 367 Ibid.: 182. 368 Ibid.: 190. 369 Rougemont 1979: 227. 370 Harpman 2004a: 161. Bereits zuvor - freilich nicht ohne Sophismus - meditiert François selbst, mitten in der prekären Seligkeit der ‚Brève Arcadie‘, über die Dynamik einer Passion, die sich aus ihrer eigenen Unmöglichkeit nährt: „Si, dès le début, ils n’eussent senti un goût d’impossible, se fussent-ils attachés l’un à l’autre plus qu’à ces maîtresses faciles à avoir, ces amants faciles à rejeter qui avaient précédé? “ (ibid.: 167). 371 Im Hintergrund ihrer zentralen amourösen Intrige spinnt Harpman das Dilemma zwischen mariage und passion auch in anderen Personenkonstellationen aus - mit einer Reihe unterschiedlicher Lösungen. Haben sich die naive ‚Liebesphilosophin‘ Louise und ihr Ehemann, dessen gesellschaftliche Funktion sich im Wesentlichen auf seinen Status als „le mari de M me Lepage“ (ibid.: 27) beschränkt, komfortabel in einer wohltemperierten Ehe eingerichtet, die hinreichend Raum für galante Abenteuer lässt, so ist ein anderer Nebenstrang der Handlung als dezente alternative Re-Interpretation des Lafayette’schen Plots von besonderem Interesse. Der attraktiven Julie stellt Harpman mit der auf den ersten Blick unscheinbaren, in ihrer anachronistischen Schönheit - wie Radiguets Mme de Séryeuse - verkannten Alberte eine andere, gleichsam verblasste Kopie der Princesse zur Seite, im Gegensatz zur dunkelhaarigen Protagonistin blond wie die Heldin Lafayettes, ausgestattet auch mit deren „traits réguliers“, doch ohne deren „éclat“ (ibid.: 34). Seit ihrer Jugend ist diese triste Schatten-Princesse in François Hartog <?page no="203"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 203 auch das Ende ihrer von der Kontingenz eingeholten großen Liebe, die unausweichliche „décristallisation“ 372 bzw. Verflüchtigung des „envoûtement“ 373 er- und überleben wird: L’amour s’est longuement exalté de tout ce qui le contrariait. Un jour, l’impossible vient à portée de main, les amants éblouis capturent leur bonheur. Arcadie, terre promise enfin donnée, ils entrent d’un pas étonné dans le rêve. Les années appartiennent enfin à ceux qui ont compté les heures. L’impatience se tait, le cœur s’apaise, les jours déroulent leur lent accord, tout ce qui fut fièvre devient douceur et l’exaltation tendresse. Le visage où l’on a lu un destin amer nous appartient et la joie la plus aiguë sera demain la plus quotidienne. Au fil du temps, il n’est pas d’aiguillon qui ne s’émousse, de gestes qui ne perdent leur pouvoir. Quand la mer se retire, on songe avec indulgence aux tempêtes passées. […] L’habitude a raison de tout et le bonheur des passions. L’amour heureux porte sa propre condamnation. 374 verliebt; „résignée aux injustices de l’amour malheureux“ (ibid.: 40), steht die ‚alte‘ (i. e. etwa dreißigjährige) Jungfer aus der Provinz in puncto dissimulation den Höflingen Lafayettes notgedrungen nicht nach (ibid.: 38). Erst nach zehn Jahren kann Alberte sich zu einer anderweitigen Verbindung durchringen („Elle décida qu’elle serait raisonnable et se marierait comme tout le monde, mais quand elle pourrait le faire sans répulsion“ - auch hier ist das Echo der Princesse deutlich zu vernehmen; ibid.), dies mit einem deutlich älteren und seinerseits leidenschaftlich in sie verliebten „homme estimable“, dessen Beruf als Landarzt wohl intendierterweise auch andere intertextuelle Assoziationen weckt (ibid.: 39). Bereits verheiratet, sieht sie - die sich nun unvorsichtig gegen ihre alte Passion immunisiert glaubt - sich von dieser wieder heimgesucht; beinahe versehentlich, „sans mesurer l’aveu“, bekennt sie François die Wahrheit über ihre emotional asymmetrische Ehe, Liebesehe auf Seiten des Mannes, auf Sympathie und Respekt beruhende Vernunftehe auf Seiten der Frau - und damit recht getreuliche Neuauflage der Ehe der Clèves (ibid.: 175) -, sowie gleich darauf wortlos ihre Liebe selbst: „Dix ans de silence éclatèrent dans le regard qui se posa sur lui. Alberte ne trouvait plus, contre elle-même, d’arme que dans l’aveu“ (ibid.: 177). Diesem aveu folgt freilich nicht die vermeintlich sich abzeichnende Katastrophe. Erschüttert angesichts der „injustice de l’amour“, deren unwissentlicher Exekutor er selbst gewesen ist, beschließt François, noblerer, durch „[u]ne tendresse profonde“ motivierter Neo- Nemours, Alberte die „humiliation d’avoir dévoilé son amour à un homme qui ne l’aimait pas“ zu ersparen (ibid.: 178); der sexuell doch noch vollzogene ‚Ehebruch‘ erweist sich als Exorzismus, der die Figur nach Jahren aus den Fesseln eines „amour manqué“ (ibid.: 179) befreit und - nur scheinbar paradox - ihre Ehe rettet. Der „cercle de l’amour malheureux“ (ibid.: 122) ist durchbrochen, auch diese Nebenintrige damit an ihrem Schlusspunkt angekommen: „Nous quittons Alberte. Ansieux ne verra plus que la sage épouse du docteur Fleurier“ (ibid.: 179). In der Tat wird diese Heldin, rechtzeitig geheilte Anti-Bovary, an der Seite ihres landärztlichen Ehemannes glücklich; ausgerechnet diese so rasch gebrochene Ehe nimmt, während die große Passion zwischen Julie und François dem trivialen Alltag nicht allzu lange standhält, einen glücklichen Verlauf: „Avec le temps, elle découvrit, entre les bras de son mari, ce que l’accord des sens peut pour l’accord des cœurs“ (ibid.). 372 Vgl. Rougemont 1979: 246, im Anschluss an Stendhal. 373 „Il y a donc en tout amour une sorte d’envoûtement. Contre toute raison, il récuse en effet la contingence de son origine“, konstatiert Grimaldi (2011: 10). Jenes „principal paradoxe de l’amour […] de nous faire éprouver comme nécessaire ce qu’il y a de plus contingent“ (ibid.) reflektiert auch der klassische Prätext: „[…] l’on n’est pas amoureux par sa volonté […]“, erklärt Lafayettes Vidame de Chartres (2014c: 406) - und nützt damit die dem Konzept einer fatalen Passion inhärente „Chance, sich in Angelegenheiten der Liebe von gesellschaftlicher und moralischer Verantwortung freizuzeichnen“ (Luhmann 1994: 73), während Bussy-Rabutin - dessen Histoire amoureuse des Gaules samt „Passages de l’Histoire amoureuse de France qui ne figurent pas dans l’Histoire amoureuse des Gaules“ (2007: 183- 209) mit ihrem parodistischen (Anti-)Liebesdiskurs eine in mancher Hinsicht aufschlussreiche zeitgenössische Kontrastfolie zur Princesse bietet - den Mythos der amourösen „prédestination“ (Grimaldi 2011: 10, 145) pragmatisch demontiert; vgl. dazu den Kommentar Luhmanns (1994: 73). 374 Harpman 2004a: 191. <?page no="204"?> 204 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Diese La Rochefoucaulds würdige Maxime steht am Ende des Romans; nichts mehr ist zu erzählen übrig geblieben: „L’amour au quotidien, cela ne fait pas des romans“, wie Harpman im Interview erklärt, 375 und „le bonheur n’a pas d’histoire“. 376 „Avez-vous lu Tristan et Yseult? “: Der Mythos zwischen Dekonstruktion und Rehabilitation Offensichtlich genug steht Jacqueline Harpmans Princesse-Re-Interpretation auch im Zeichen von Denis de Rougemonts zuerst 1939 publiziertem kulturphilosophischem Monumentalwerk über L’Amour et l’Occident. Nicht nur „le conflit nécessaire de la passion et du mariage en Occident“, 377 die Dynamik einer Liebe, die sich am Hindernis entzündet, aus diesem nährt 378 und schließlich in den Tod als „l’obstacle suprême“ mündet, 379 sondern auch konkret 375 Vgl. Lambert 1999: 41, zit. nach Lambert 2013: 169. 376 Dieses Zitat Barbey d’Aurevillys stellt Harpman ihrem Roman Le Bonheur dans le crime voran, dessen Protagonisten permanent auf der Meta-Ebene ihre eigene Erzählsituation sowie diverse ‚narratologische‘ Fragen - etwa nach der Variation narrativer Distanz und Geschwindigkeit - reflektieren: „[…] vous me feriez bousculer mon récit? Si vous le souhaitez, je peux tout gâcher et le faire en dix mots. On peut tout mettre en dix mots, rappelez-vous Voltaire. - Et même moins: ‚Ils naissent, ils souffrent, ils meurent‘, je sais“ (2004b: 35). Empört reagiert der textinterne Adressat auf den vermeintlichen Trick des Erzählers, der sich eben anschickt, einen Teil seiner Geschichte mit einer konventionellen Ellipse zu überspringen: „Hé! Quoi, dix ans plus tard? Allez-vous tricher? “ Dieser selbst, der die Reaktion seines Zuhörers strategisch einkalkuliert hat, erinnert sich an seine eigenen jugendlichen Lese- Erfahrungen, da auch er „les auteurs à dix ans plus tard“ der bloßen „paresse“ verdächtigte: „L’auteur trichait, je suis bien d’accord avec vous. Un instant plus tôt, je suivais les héros dans leurs moindres gestes, j’étais minutieusement tenu au courant des événements et, tout à coup, on me claquait la porte au nez, comme si l’on ne s’apercevait même pas de ma présence. Tout m’était dérobé […]“ (ibid.: 56f.). Ganz ähnlich wird auch am Schluss von Brève Arcadie eine narrative Tür der Leserin zwar nicht vor der Nase zugeschlagen, aber doch mit einem ironischen Lächeln geschlossen: ‚Nichts‘ ist mehr zu erzählen übrig geblieben. 377 Rougemont 1979: 12. 378 „L’amour ne vit que de ce qui le contrarie? “ (Harpman 2004a: 86): Dieses liebespsychologische Gesetz entdeckt die noch jugendlich naive Protagonistin bald nach Beginn ihrer außerehelichen galanten Karriere. Legt ihr erster Zufallsliebhaber, nach zwei Stunden recht unzeremoniös verabschiedet, noch eine - erst nachträglich gewürdigte - „rare discrétion“ an den Tag, so muss Julie rasch feststellen, „qu’il suffit que l’on s’ôte à un homme pour qu’il s’entête. Cette grande vérité allait bientôt l’obséder“ (ibid.: 50). 379 Rougemont 1979: 57. Wie sehr die ‚Liebe‘ aus dem Reiz der (in Zeiten des laissez-faire immer schwieriger zu inszenierenden) Transgression einerseits, aus der Unmöglichkeit ihrer Vollendung andererseits sich nährt, illustriert Jacqueline Harpman immer wieder aufs Neue in ihren Romanen - in Le Bonheur dans le crime mit seinen multiplen inzestuösen Verstrickungen ebenso wie in La Dormition des amants, Geschichte der extravaganten Passion zwischen Königin Maria Concepción und ihrem Eunuchen: „Quelle étrange aventure, mon doux Girolamo! Vois-tu plus grand obstacle que celui qui nous a séparés? J’ai mené la guerre au monde, j’ai vaincu des royaumes, j’ai soumis des empires, il n’y a que toi qui me sois resté interdit. Ah! si tu savais comme j’avais envie de toi! “, reflektiert die Monarchin auf ihrem Sterbebett die große Leidenschaft ihres Lebens (2002: 5337f.). Nach ihrem Tod verfasst Girolamo - notgedrungen „l’amant d’aucun sexe“ (ibid.: 166), dennoch großer Liebender und Geliebter („Eunuque, elle m’a aimé plus que son époux, plus que son fils, plus que son père. C’est au bout de ce terrible récit que je découvre avoir été l’amant le mieux aimé“; ibid.: 5421f.) - selbst seine Hymne an „le seul amour qui reste toujours intact, celui que rien n’altère, l’amour impossible qu’aucun exaucement n’affadit“ (ibid.: 5420). „[…] les amours meurent, mon ange, ce n’est pas ta faute et seul ce qui n’a pas <?page no="205"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 205 die bei Rougemont zentrale Referenz auf den Tristan und Isolde-Mythos - „grand mythe européen de l’adultère“, „forme mythique“, die auch in der zeitgenössischen Gesellschaft „en filigrane“ omnipräsent sei 380 - wird in Harpmans Werk über Jahrzehnte entfaltet. 381 Und eben in diesem Punkt ergibt sich eine frappierende Feststellung: Im Gegensatz zu jener poetologischen Entwicklung, die Harpman von einem anfänglichen, von der Autorin selbst nachträglich ironisch kommentierten Hyper-Klassizismus zum parodistischen Spiel mit ebendiesen Klassikern führt, scheint umgekehrt die in Brève Arcadie vollzogene Demontage des ‚Prädestinations-Mythos‘ samt „fantasme messianique de l’amour“ 382 im Spätwerk gelegentlich in dessen - wenngleich brüchige - Rehabilitation zu münden. 383 Als besonders aufschlussreich erweist sich hier wiederum die parallele Lektüre der Brève Arcadie mit La Plage d’Ostende, in so mancher Hinsicht Wider- und Fortschreibung - réécriture der réécriture - jenes Debütromans. „Seigneurs, vous plaît-il d’entendre un beau conte d’amour et de mort? …“ Der Anfang von Joseph Bédiers Tristan, den Rougemont seinen Reflexionen voranstellt, 384 wäre auch am Beginn von La Plage d’Ostende, postmoderner „beau conte d’amour et de mort“, wohl am Platze. Schildert Brève Arcadie die mäandernde, aus allerlei Projektionen und Missverständnissen resultierende allmähliche Kristallisation einer Passion, 385 die ihr Ende in der Trivialität und Arbitrarität des Alltags erleben wird, so wird der klassische coup de foudre in La Plage d’Ostende wieder in seine Rechte eingesetzt. Mit schlafwandlerischer Gewissheit identifiziert die elfjährige Émilienne den jungen Maler Léopold auf den ersten Blick als den - ihren - eu lieu garde la grâce infinie du rêve“, konstatiert auch die Erzählerin des Romans L’Orage rompu (1998: 2289f.), ihrerseits dezent gender-transgressive Figur (vgl. ibid.: 971f., 1306f.), unter transparenter Allusion auf die berühmte Lettre CXLI aus den Liaisons dangereuses (vgl. Laclos 1996: 404f.). 380 Rougemont 1979: 18, siehe auch 25. Vgl. in diesem Sinne auch DeJeans Anmerkung zu den Implikationen der Positionierung Lafayettes „at the origin of the modern novel“: „[…] the modern novel is thereby defined as the novel of adultery“ (1991: 106). 381 Diese Referenz konstituiert im Fall von Brève Arcadie einen zusätzlichen hypertextuellen Quer-Bezug zu Radiguets Le Bal du comte d’Orgel: Auch in diesem Text, u. a. als „roman initiatique fondé sur le ‚mythe de la quête‘“ (Andrew Oliver, zit. bei Pingaud 1986a: 19) gelesen, klingen wiederholt der Tristan und Isolde-Mythos sowie das Motiv des Liebestranks an (Radiguet 1986: 78f., 82). 382 Grimaldi 2011: 10, 145. 383 Diese frappierende Tendenz bestätigt auch das Diptychon L’Apparition des esprits (1960) und Le Véritable Amour (2000). In ersterem Text - der, eng mit der knapp darauf entstandenen Brève Arcadie assoziiert, bereits die heikle Dynamik amour-mariage und amour-plaisir-désir (vgl. etwa 2005a: 176) auslotet, die Frage amouröser Prädestination, aber auch die allgegenwärtigen „apparences […] trompeuses“ (ibid.: 16) reflektiert - nimmt eine fürs Erste gescheiterte Liaison ein pragmatisches Ende: Die in einen älteren Freund ihrer Eltern - intratextueller Verwandter Gaston Aubergers, wie jener Advokat der Vernunftehe („Il faut […] faire un mariage de raison; le mariage est bien plus stable sans l’amour“; ibid.: 30) - verliebte Protagonistin, ironische Psychoanalytikerin ihrer selbst und ihres potentiellen „complexe d’Œdipe“ (ibid.: 56), findet sich trotzig damit ab, dass die Passion nichts als „une gracieuse invention littéraire“ sei, und schickt sich an, noch ein paar Jahre jugendlicher Freiheit zu genießen: „Après quoi, on me marierait“ (ibid.: 197f.). Vier Jahrzehnte später schreibt Harpman dieses im Frühwerk demontierte Passionsnarrativ in alternative Richtung fort: Nach teils schmerzlicher éducation sentimentale und Überwindung der Widerstände des älteren Geliebten, der wie Auberger den „ridicule“ fürchtet (ibid.: 80), findet Heldin Catherine zum Véritable Amour zurück. 384 Rougemont 1979: 15. 385 „Il y a toujours quelque malentendu à la naissance d’un amour, quand ce ne serait que ceux que l’on se crée“ (Harpman 2004a: 59), resümiert die Erzählinstanz ihre minutiöse Analyse der Sequenz subtiler non-verbaler Missverständnisse in jener Szene, da der erste ‚Funke‘ zwischen Julie und François überspringt. <?page no="206"?> 206 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie einzigen Mann, „l’amant“ par excellence; 386 von der mittlerweile herangereiften Protagonistin minutiös präpariert, trifft der ‚Blitz‘ der Liebe einige Jahre später Léopold selbst. Im Unterschied zu Brève Arcadie wird die - Fiktion der? - Fatalität dieser großen Passion hier bis zum Ende des Textes nicht widerlegt (und schließlich durch den Tod sanktioniert). 387 Besonders eindrücklich verbindet - und differenziert - beide Romane der Rekurs auf den jeweils signifikant unterschiedlich interpretierten Tristan und Isolde-Intertext. Am Anfang der Ehegeschichte in Brève Arcadie steht die Dekonstruktion des „beau mythe“ durch den routinierten Des-Illusionisten Auberger, der die Schicksalhaftigkeit der ‚großen Liebe‘ auf den banalen Zufall amouröser Disponibilität reduziert und die sozialen Gesetzmäßigkeiten hinter einer vermeintlich absoluten, über jegliche gesellschaftliche Konditionierung erhabenen Passion demaskiert: Je dis le hasard et non pas l’amour. Que voulez-vous, on tombe amoureux de qui est présent quand on est en état d’aimer, il n’y a pas de choix mais des circonstances. Avez-vous lu Tristan et Yseult? […] Vous aurez peut-être remarqué qu’un si grand amour, et qui pendant dix siècles a guidé la sensibilité des amants, est le fruit d’une erreur, partant du hasard. Une suivante distraite se trompe de flacon et voilà un couple soudé par-delà la mort. Mais si, au lieu que ce fût au beau Tristan, Yseult eût offert à boire à quelque marin qui passait par là? Elle l’eût aimé, pourtant! Et loin qu’une reine aimât un prince - s’il fallait être adultère, la bienséance exigeait qu’elle le fût dans son monde - une reine eût aimé un matelot: c’était de la farce ou du roman social, ce qui laisse indifférents les amants. 388 386 Harpman 1993: 12. 387 Ins Spiel kommen hier auch die jeweils unterschiedlichen Erzählstimmen und -perspektiven: In Brève Arcadie ist eine heterodiegetische narrative Instanz am Wort, die den ganzen Text hindurch immer wieder Gedanken- und Gefühlswelten wie kleine Selbstbetrugsmanöver der Protagonisten kommentiert; in La Plage d’Ostende äußert sich eine homodiegetische, zwar mit beträchtlicher Luzidität ausgestattete, in eigener Sache jedoch nicht unbedingt restlos verlässliche Erzählerin, die ihre Lebensgeschichte mit kompromissloser Konsequenz dem Narrativ ihrer einen und einzigen großen Passion unterordnet. Letzteres wird allerdings nachträglich aus der Sicht einer Nebenfigur des Romans auch intersubjektiv sanktioniert: Mit Du côté d’Ostende (2006) verfasst Harpman eine Fortsetzung bzw. partielle réécriture der Plage aus der Perspektive Henri Chaumonts, seiner ironischen Selbstcharakteristik nach „vieux pédé“ (2007a: 162), platonischer Gefährte der Heldin nach dem Tod Léopolds, Erbe und Kommentator jener „petite pile de cahiers où elle avait relaté son histoire“ (ibid.: 12). In seiner Version korrigiert Henri teils „la monstrueuse partialité d’Émilienne“ - so wird die betrogene Ehefrau, „cette pauvre Blandine“, ihm zufolge „infiniment plus charmante qu’il n’appartenait d’en convenir à la jalousie vigilante d’une enfant amoureuse ou à la rage d’une maîtresse, même sûre d’être préférée“ (ibid.: 39), rehabilitiert; Émiliennes persönlichen Passions-Mythos schreibt er freilich sehr wohl fort. Am Ende seiner Erzählung schließt sich ein mit dem ersten Satz („Émilienne est morte hier, à la fin de l’après-midi“; ibid.: 7) eröffneter Zirkel; selig sieht die Protagonistin an der Schwelle des Todes der Wiedervereinigung mit dem Geliebten entgegen, idiosynkratische Mystik, die der theologischen Doxa nicht bedarf: „Il sera là, et je mourrai auprès de lui. Que m’importe s’il sort de ma mémoire ou arrive du bout des cieux: il sera là. Je compte sur moi“ (ibid.: 184). Unter den Augen Henris - Zeuge eines säkularisierten, aber eben nur zum Teil psychologisierten Liebeswunders - stirbt Émilienne mit einem zusehends strahlenden Lächeln auf den Zügen: „[…] c’était une brise légère qui m’effleurait, je respirais l’air même de l’amour, puis il devint plus puissant, la main d’Émilienne se crispa sous la mienne, elle fut tout entière soulevée, je sentis l’élan qui l’emportait […]“ (ibid.: 185f.). 388 Harpman 2004a: 18f. In L’Apparition des esprits ist es Maurice Alker, der unter ironischem Rekurs auf den Mythos die Frage seiner jugendlichen Freundin (und späteren Ehefrau) nach den rätselhaften Motiven individueller Liebeswahl beantwortet: „C’est une question enfantine! Déjà, pour Tristan et Yseult, on n’a trouvé que le philtre“ (2005a: 32). <?page no="207"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 207 Eifrig macht seine gebannt lauschende junge Braut sich zunächst die Auberger’sche Anti- Liebesphilosophie zu eigen. Auf dem Höhepunkt ihrer Liebe zu François kommt erneut das Tristan und Isolde-Leitmotiv ins Spiel, sieht Julie sich angesichts ihrer eigenen Erfahrung geradezu mystischen (Wieder-)Erkennens des Anderen versucht, 389 ihre Passion eben doch nicht als Produkt des Zufalls, 390 sondern als Manifestation des Schicksals selbst zu betrachten: „Et s’il n’y avait pas, entre Tristan et Yseult, que le philtre, entre François et moi, que le moment propice? Nous nous sommes si vite reconnus, et en nous étant si peu cherchés! “ 391 In gender-invertierter Spiegelung dieser Konstellation steht wiederum gegen die Interpretation der pragmatischen Mme Hartog, die das Ganze ebenfalls zur bloßen „coïncidence“ erklärt, 392 die intuitive - und vielleicht doch trügerische - Einsicht François’: „Il ne lui semblait jamais s’être épris mais avoir reconnu une femme. […] il retombait dans l’éternelle idée: Nous étions faits l’un pour l’autre.“ 393 Lässt die Erzählinstanz den lieu commun der amourösen Fatalität vorerst noch gnädig in der Schwebe (bzw. schließt sich punktuell sogar einer freilich parodistisch mechanisierten Vision der Passion als tragikomisches Marionettentheater an: im gemeinsamen Tanz erscheinen Julie und François als „[m]arionnettes au bout d’un fil, mais c’est l’amour qui le tient“ 394 ), so folgt dessen Demontage im lapidaren Finale des Romans: Tristan und Isolde sind hier ebenso fern wie jener flüchtige, mit ironischer Präzision kalkulierte Aufenthalt in der ‚Brève Arcadie‘: „Pendant vingt secondes, il fut follement amoureux. Vingt secondes. Nous compterons fidèlement les moments où ces gens-là sont heureux l’un par l’autre.“ 395 In La Plage d’Ostende dagegen wird das Tristan und Isolde-Motiv von Anfang bis Ende des Textes ausgesponnen, 396 beginnend mit dem - im französischen Original auf Deutsch zitierten - Motto, extrem verdichtetes chiastisches Resümee einer ‚absoluten‘ Passion: Tristan: Tristan du / ich Isolde / nicht mehr Tristan! Isolde: Du Isolde / Tristan ich / nicht mehr Isolde! 397 389 „[…] dans la cheminée, les flammes dansaient. François tenait étroitement enserré le visage de Julie et pas un instant leurs yeux ne se fermèrent, éblouis, au sein de l’égarement, de si bien se reconnaître“ (Harpman 2004a: 88): Im akuten Stadium manifestiert sich auch diese Passion als existentielle Grenz- und Glückserfahrung, Jenseits eines galanten „arsenal de conventions“ (ibid.: 153), Jenseits auch der Sprache - und zugleich deren paradoxes Produkt; die als „exorcisme“ intendierte Formel „je vous aime“ gerät erst recht wieder zum performativen Akt (ibid.: 166). Hinter den Kulissen der Alltagswelt tut sich für einen Moment eine quasi mystische Dimension auf, „un monde entrevu, où l’amour […] est […] identité enfin reconnue, ferveur et repos“ (ibid.: 78); mythisches Anderswo oder auch Wunschphantasma, vor dem Julie sogleich wieder die Flucht ergreift. 390 Vgl. ibid.: 110. 391 Ibid.: 123f. 392 Ibid.: 137. 393 Ibid.: 158f. 394 Ibid.: 125. 395 Ibid.: 80. 396 Neben dem durch den gesamten Roman fortgeschriebenen Tristan/ Isolde-Motiv bringt Harpman auch andere Wagner-Intertexte ins Spiel; so kommentiert Émilienne das Ende der Götterdämmerung (1993: 140). 397 Ausgehend von ebendiesen Zeilen aus dem Wagner-Libretto entfaltet sich die liebesphilosophische Reflexion auch in Orlanda: „Que nomme-t-on amour? […] Ich Tristan, du Isolde, je suis toi, tu es moi […]“ (1996: 247). <?page no="208"?> 208 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Explizit identifiziert die Erzählerin sich selbst und ihren Geliebten mit dem mythischen Liebespaar; auch zwischen Tristan-Léopold und Isolde-Émilienne vollzieht sich jene ekstatische - oder auch ‚ozeanische‘ 398 - „communion“ („Allez, avec un peu le sens du ridicule, employer ‚extase‘ ou ‚communion‘! …“, spottet François in Brève Arcadie über derlei Topoi eines klassischen Liebesdiskurses, in seinen Augen längst „inutilisables“ 399 ), die die beiden immer wieder für selige Momente über Konfusion und Kontingenz der Existenz triumphieren, gemeinsam ins Arcadia einer plötzlich durch und durch sinnerfüllten Welt entfliehen lässt: „[…] et tout prenait sens, j’étais Léopold, il était Émilienne et nous respirions enfin librement dans notre identité complétée.“ 400 „Qu’en est-il d’Yseult si Tristan se détourne? “: 401 Als unermüdliche Exegetin des Mythos insistiert die Protagonistin der Plage d’Ostende auf der Grandiosität einer Passion, 402 die des Liebestrankes - billiges „alibi“ 403 auch aus der Sicht Émiliennes - nicht mehr bedarf: „C’est une pensée de timide ou une invention de servante effrayée. Tristan enchaîne Yseult en apparaissant et la dépossède de soi. Je n’ai rien décidé: une fois vouée, je me suis rendue à l’appel de la vocation, et Léopold n’a pas choisi.“ 404 Neben Tristan und Isolde 405 und dem biblischen Hohelied, archaischer Liebesgesang, der als parodistisch gebrochener Subtext durch den trivialen Dialog eines mondänen Flirts hindurchklingt, 406 nimmt Harpman - neben einer ganzen Reihe anderer klassischer und moderner Intertexte, von Lafayette über Choderlos de Laclos 407 und Stendhal 408 bis Simone de Beauvoir - hier auch auf den Platon’schen Mythos 398 Vgl. Sigmund Freuds Analyse des von Romain Rolland in der Diskussion um Die Zukunft einer Illusion (1927) evozierten „ozeanischen Gefühls“, im Sinne Rollands „die eigentliche Quelle der Religiosität“ (Freud 2000b: hier zit. 197). Die Erzählerin rekurriert auf eine signifikante Metaphorik ‚liquider‘ Seligkeit, Regression und Transzendenz zugleich: „[…] rien n’était trouble dans l’eau tranquille où nous flottions“ (Harpman 1993: 59). 399 Harpman 2004a: 79. 400 Harpman 1993: 125. 401 Ibid.: 140. 402 Die bloße Idee des amourösen Zufalls wird hier bereits als Zumutung abgetan: „Est-ce que vous croyez que je vous aime par hasard, parce que j’avais un amour à placer et que vous passiez par là? “ (ibid.: 100) - explizit wird hier die desillusionierte Liebestheorie Aubergers aus Brève Arcadie widerlegt. 403 Vgl. Rougemont 1979: 50. 404 Harpman 1993: 79. 405 Im Werk Harpmans zeichnen sich gleichsam zwei sich immer wieder überkreuzende liebesphilosophische Motivstränge ab. Sechzehn Jahre nach La Plage d’Ostende verweist Julie in Ce que Dominique n’a pas su - an den Liaisons dangereuses („ce fut mon livre de morale“; 2007b: 190) geschulte Liebesskeptikerin, immun gegen die Verführungen der literarischen Passion („[…] je trouvais Werther un peu sot, l’Ellénore d’Adolphe me faisait hausser les épaules et Ruy Blas me paraissait tout à fait idiot. J’estimais que mourir par amour est du gaspillage, puisqu’on n’a qu’une vie […]“; ibid.: 185ff.) - ihrerseits ironisch auf den Tristan und Isolde-Mythos, in dessen romanesker Neuauflage ihr selbst eine wenig reizvolle Rolle zugedacht ist: „J’étais là, cela est sûr, je suis l’épée que Tristan met entre Iseult et lui pour tromper le roi Marc, mais il n’y a point d’époux à rassurer dans les parages, seulement les amants“ (ibid.: 2456ff.). Zugleich kämpft freilich auch sie selbst, Opfer eines klassischen coup de foudre, ein abwechslungsreiches (Liebes-)Leben lang ebenso erbittert wie vergeblich gegen ihre „stupide passion“ (ibid.: 1144, vgl. auch 2228), ihre „détestable passion“ (ibid.: 2851) für jenen einen Mann („mon détestable bien-aimé“; ibid.: 1146), dem sie völlig gleichgültig ist. 406 Harpman 1993: 44f. Vgl. auch die Variation über den biblischen Prätext in Le Passage des éphémères (2003b: 1512f.). 407 Vgl. Harpman 1993: 93. 408 Vgl. ibid.: 199. <?page no="209"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 209 ursprünglicher Einheit Bezug, ebenso unerreichbares wie ambivalentes Ideal; 409 die beiden Liebenden erscheinen als moderne Version jenes androgynen Doppelwesens, das im sexuellen Akt, ja in der bloßen physischen Präsenz des anderen zu seiner ursprünglichen Einheit zurückfindet. 410 Das Bild der ‚siamesischen Zwillinge‘ treibt diese fusionellen Phantasien (und nebenbei auch die vage inzestuöse Komponente dieser Liaison) auf einen neuen metaphorischen Höhepunkt; die Trennung vom Geliebten wird als - immer wieder provozierte und reproduzierte - ‚Amputation‘ erlebt. Hoch ambivalent gestaltet sich dieses Liebes-Imaginarium nicht zuletzt unter dem Gender- Aspekt. Über seine Erzählerin reflektiert dieser Text auch die stereotype Rhetorik und Ideologie einer hypertrophierten Passion als Teil einer soziokulturellen Dressur zur ‚Weiblichkeit‘; der jugendlichen Protagonistin aus Marie Darrieussecqs Clèves hierin nicht unähnlich, 411 unterwirft sich auch Émilienne einem literarisch vor-geschriebenen Passions-Programm samt ritualisiertem discours amoureux. Während die soeben vom ‚Blitz‘ getroffene Elfjährige bereits fleißig ihre Rolle als große Liebende und fürs Erste ihren Auftritt vor ihrer gleichaltrigen Freundin Colette probt („Je lui dirais que l’amour s’était emparé de moi et que je n’étais plus la maîtresse de mes désirs. - Je suis un fantôme que sa présence incarne. […] je n’existe qu’à ses côtés […]“), steht ihr luzides kindliches Ich diesem „langage de folie“ anfangs noch skeptisch, ja erschrocken gegenüber: „Il restait quelque chose de l’enfant sage que j’étais huit jours plus tôt: ce langage de folie m’effarait, à peine si j’osais reconnaître ma voix dans ce petit halètement sur quoi je mettais les mots que je pouvais.“ 412 Jahre später befindet sich Émiliennes Tochter Esther, einst ihrerseits auf den ersten Blick unglücklich in den mittlerweile verstorbenen Léopold verliebt, bei allem beruflichen Erfolg immer noch im Bann jenes destruktiven Mythos der einen, einzigen großen Passion, die ihr ‚reales‘ Leben gnadenlos entwertet: „[…] mais c’est au premier regard qu’on reconnaît l’Unique, n’est-ce pas? […] Je me dis que c’est au prochain baiser que je vais m’éveiller et que tout sera transformé, que je serai l’Amante au bras de l’Amant. […] Et je ne me retrouve qu’avec un amant de plus dans un lit de passage.“ 413 Andererseits eignet dieser mythisch überhöhten Passion - Versprechen einer voll entfalteten Menschlichkeit diesseits/ jenseits der Geschlechterdichotomie - selbst ein Moment der Gender- Transgression: Die Ekstase des Platon’schen Doppelwesens markiert auch jenen Punkt, an dem Isolde-Émilienne und Tristan-Léopold die Identitäten und die Körper tauschen, die Frau Mann, der Mann Frau, die beiderseitige Geschlechtszugehörigkeit völlig irrelevant wird („Parce qu’elle est moi“, 414 antwortet auch Léopold auf die Frage, weshalb er sich ausgerechnet in Émilienne verliebt habe). Der verzweifelten jungen Frau gegenüber, die zum ersten Mal ihre sorgsam kultivierte ästhetische Maske der Weiblichkeit fallen lässt, über- 409 „Nous ne formons jamais l’être idéal de Platon“ (Harpman 2004b: 223). Vgl. zum für Harpman zentralen „mythe de l’androgyne“ und jenem „paradigme du couple fusionnel“ auch Paque 2003: 88, 138. 410 Vgl. Harpman 1993: 77. 411 Den Konnex zwischen dem Werk Jacqueline Harpmans und jenem Marie Darrieussecqs - konkret zwischen Moi qui n’ai pas connu les hommes (1995) und Truismes (1996) - stellt aus gender-theoretischer Perspektive auch Sauble-Otto (2005) her. Unter motivspezifischem Gesichtspunkt untersucht Nodot- Kaufman (2012) u. a. die Romane Darrieussecqs, Harpmans und Amélie Nothombs. 412 Harpman 1993: 19. 413 Ibid.: 315f. 414 Ibid.: 267. <?page no="210"?> 210 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie nimmt Léopold den Part der tröstenden ‚Mutter‘: „[…] Léopold, l’amant, l’homme qui avait pris possession de moi quand j’avais onze ans, Léopold devint comme une mère, il me berça, il murmura des paroles indistinctes et apaisantes, il tenta de me faire oublier les batailles, la solitude et la peur.“ 415 Die Ambivalenz dieser Motivik - zwischen fusionellem, ja anthropophagem Phantasma, 416 regressiv-narzisstischer Sehnsucht nach dem „retour à la mère archaïque, pré-œdipienne“ 417 einerseits und Aufhebung der Geschlechtsidentität, aber auch Streben nach einem Jenseits der Kontingenz andererseits - bleibt unaufgelöst stehen. 418 La Plage d’Ostende, Lehrstück der okzidentalen Passion nach Rougemont, illustriert mit seinen Protagonisten, Großmeister in der Disziplin des amourösen Hindernis-Parcours, auch paradigmatisch jene unaufhörliche „création de l’obstacle par la passion des deux héros“. 419 Beschreibt Rougemont den Ehemann als wesentlichen passions-generierenden und -prolongierenden Faktor („Sans le mari, je ne donne pas plus de trois ans à l’amour de Tristan et Iseut“ 420 ), so dient hier Léopolds subtil ridiculisierte Ehefrau verlässlich als Reibebaum, an dem sich die Passion der Protagonisten zwanzig Jahre lang abarbeitet; mit einer überstürzt eingegangenen Vernunftehe, die sie für mehrere Jahre ins US-amerikanische Exil zwingt, trägt Émilienne, einmal der vermeintlich asexuellen Tabuzone der Kindheit entwachsen, ihrerseits eifrig zur Akkumulation diverser „obstacles“ bei: „Pas un des obstacles qu’ils rencontrent ne se révèle, objectivement, insurmontable, et pourtant ils renoncent à chaque fois! On peut dire qu’ils ne perdent pas une occasion de se séparer. Quand il n’y a pas d’obstacle, ils en inventent: […].“ 421 415 Ibid.: 146. 416 Der latent ‚anthropophage‘ Charakter der großen Passion - auch hier findet sich wieder die Referenz auf Tristan und Isolde - wird in Le Bonheur dans le crime reflektiert: „C’est pour ça que les grandes histoires d’amour finissent toujours dans la mort: il ne s’agit pas d’aller côte à côte, mais d’incorporer. L’amour absolu, celui dont les amours ne sont que de médiocres esquisses, est anthropophage, Tristan et Iseult n’ont d’autre projet que de s’entre-manger“ (Harpman 2004b: 93f.). Hinter einer modernen Fassade manifestiert sich dieses archaische Moment auch in der Beziehung des inzestuösen Geschwisterpaars Clément und Emma, in den Augen des faszinierten Erzählers „un seul monstre qui s’engloutit éternellement en soi-même“ (ibid.: 223), in all seiner strahlenden Schönheit monströser doppelköpfiger Narziss, aber auch „Narcisse et Écho“ (ibid.: 227) - ein Sujet, das (nicht nur) in Harpmans Werk eine ausgeprägte metaliterarische Dimension besitzt -, Tristan und Isolde, Siegmund und Sieglinde in der Verkleidung zweier Brüsseler Bourgeois, ironischerweise ausgerechnet Medizinstudenten und schließlich erfolgreich praktizierende Ärzte. Liebe als Anthropophagie, Liebe als Vampirismus: Als ebensolchen beschreibt auch der unglückliche Gérard seine unerwiderte Leidenschaft für die attraktive Emma (ibid.: 99). Nicht zuletzt über dieses durch den ganzen Text ausgesponnene Motiv werden Liebe und Literatur in diesem ‚poetologischen‘ Roman - dessen intradiegetischer Erzähler sich selbst wie zitiert als „vampire“ charakterisiert (ibid.: 196) - assoziiert. 417 Renouprez 2013: 89. 418 Zur Rolle der prä-ödipalen Motivik in La Plage d’Ostende, Paque zufolge romanesker „exaucement de l’enfance“ (2013: 94), vgl. Snårelid 2013; diese betont „la manière dont le préœdipien, analogue à une image idéalisée de la position de fusion symbiotique avec la mère, structure la narration“ (ibid.: 100) sowie die frappierende „présence du préœdipien dans le vocabulaire amoureux du roman“ (ibid.: 103). Gegenüber diesem fusionellen „état pré-langagier“ (wie Snårelid unter Verweis auf Cixous argumentiert) kommt im Werk Harpmans des Öfteren eben die Literatur als differenzierendes ‚drittes‘ Element ins Spiel (ibid.: 104ff.). 419 Vgl. Rougemont 1979: 44. 420 Ibid.: 46. 421 Ibid.: 38 (zu Tristan und Isolde). <?page no="211"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 211 „Et l’obstacle suprême, c’est la mort“: 422 Rechtzeitig in jenem Moment, da die Beseitigung auch des letzten Hindernisses unmittelbar bevorsteht, stirbt Léopold (symbolischerweise an einer Herzkrankheit), besiegelt mit seinem Tod die ‚Ewigkeit‘ dieser einzigartigen Passion - und erspart sich die Verlegenheit, die Geliebte womöglich heiraten zu müssen und mit ihr gemeinsam in der Trivialität des Alltags unterzugehen. 423 Von der Höhe ihrer eigenen Liebe herab urteilt die Erzählerin streng über die „maigres feux“ 424 der anderen - allein: Auch diese moderne Isolde überlebt (beinahe wider Willen) und ‚versagt‘ damit im Angesicht ihrer mythischen literarischen Vorgängerinnen: „Juliette ou Yseult, toujours l’amante meurt sur le corps de l’amant, je n’y suis pas parvenue, la tombe est à moitié vide.“ 425 Steht am Ende des Romans die Vision des schließlich erfolgreich nachgeholten Liebestods, selige Antizipation des Moments, da eine auf magische Weise wieder elfjährige Émilienne, ihres „corps inutile“ ledig, sich in die Arme Léopolds stürzen wird, bereit zum gemeinsamen Aufbruch „vers une éternité trop courte“, 426 so bleibt - und hier wird die potentielle Dekonstruktion des Mythos skizziert - die Frage im Raum, wie weit das ganze Passionsnarrativ auf symbolischer Meta- 422 Ibid.: 57. 423 „[…] on ne conçoit pas que Tristan puisse jamais épouser Iseut. Elle est le type de femme qu’on n’épouse point, car alors on cesserait de l’aimer […]. Imaginez cela: Madame Tristan! “ (ibid.: 46f., vgl. auch den Abschnitt „Épouser Iseut? “; ibid.: 306ff.). „Seigneur! on connaît cela, il y en a cent versions et on se retrouve toujours le samedi dans une grande surface. Sérieusement, voit-on Tristan et Yseut poussant le chariot avec douze boîtes de lait stérilisé UHT, deux tournedos bien tendres et des paquets de croquettes surgelées? “, spottet die Ich-Erzählerin in L’Orage rompu (Harpman 1998: 2254ff.), die angesichts des während einer Eisenbahnfahrt Paris-Brüssel einschlagenden coup de foudre das aufziehende Gewitterspektakel der Gefühle vorzeitig abbricht. Nicht nur in ihrem Beruf als Mathematikerin der Ratio verpflichtet, „féministe“ von Jugend an (ibid.: 1156ff.), deklariert diese Protagonistin ihre prinzipielle Aversion gegen ‚Passionen‘ aller Art („Je crois que je déteste les passions“; ibid.: 1778) und insbesondere die Liebe, nicht zuletzt Instrument patriarchalischer Unterdrückung (vgl. ibid.: 2300f.); und doch mündet diese ambivalente „sagesse“ in das Bedauern über eine niemals in ihrer vollen Intensität ausgekostete Existenz, das verspätet eine „vieille femme furieuse d’avoir si bien maîtrisé ses passions“ (ibid.: 2297f.) heimsucht. Die Tristan und Isolde-Referenz wird in diesem Text ex negativo leitmotivisch ausgesponnen („[…] il voulait que je le regarde et que je boive au philtre de son désir naissant, mais j’eus peur, je me souvins que, de la passion ou d’Yseut, il y en a toujours une qui meurt sur le cadavre de l’amour et que je craignais les orages“; ibid.: 1494f., vgl. auch 1768), ein poetisch überhöhter Code der Passion parodistisch konterkariert: So gedenkt Cornélie, mit der Harpman ihre eigenen literarischen Präferenzen - von der geradezu sinnlichen Liebe zu „le beau rythme ternaire des vers de douze pieds - car je les préfère bien classiques“ (ibid.: 91f.) über Stendhal (ibid.: 416f.) bis Proust (ibid.: 1075) - teilt, ihrer jugendlichen Ignoranz in sexueller Hinsicht („nous n’avions que de très obscures notions du plaisir, car nous lisions surtout Racine et Corneille qui sont chiches en informations“; ibid.: 1282f.) und ihrer erotischen Initiation, die trotz aller kanonischen Anstrengungen der belesenen Debütantin recht wenig romanesk ausfällt: „Moi, entre ses bras, je pensais aux transports d’amour dont je lisais la description dans les romans et je tentais vaillamment de m’exalter. Hélas! mon modèle était Catherine Earnshaw dans les bras de Heathcliff juste avant de mourir en couches. […] je savais qu’il y aurait du sang, mais Stendhal et Balzac ne m’avaient pas avertie qu’il y en aurait tant“ (ibid.: 224ff.). 424 Harpman 1993: 293. 425 Ibid.: 306. „Je ne mourrai donc jamais! “, klagt die ihren Geliebten ungebührlich lange überlebende Émilienne noch als alte Frau in Du côté d’Ostende (2007a: 11). Catherine, Protagonistin des Véritable Amour, zeigt sich als große Liebende ihrerseits fest entschlossen, „très vite“ nach ihrem Ehemann zu sterben; die pharmazeutischen Vorbereitungen sind für alle Fälle getroffen (2005a: 345). 426 Harpman 1993: 317. L’Éternité n’est pas de trop (2002) lautet der Titel von François Chengs u. a. im Licht der Princesse de Clèves analysiertem Passionsroman. <?page no="212"?> 212 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Ebene als philosophische „rêverie“ zu lesen ist: „Léopold et Émilienne peuvent-ils mourir? Ou ne sont-ils qu’une rêverie désespérante qui accule chacun de nous à connaître que l’amour est ailleurs, qu’il est parti, qu’il est fini, et qu’il faut attendre que la mort nous délivre de l’attendre? “ 427 Über eine in anderer Hinsicht überaus moderne, auch mit der feministischen Theoriebildung ihrer Epoche vertraute Protagonistin 428 reflektiert Harpman eine hoch ambivalente Passion als letztes Refugium der Transzendenz, säkularisiertes Religionssubstitut, „promesse de vie plus vivante […] quelque chose qui serait au-delà du bonheur et de la souffrance, une béatitude ardente“. 429 Ein weiteres Mal dient eine historisch rekonfigurierte Liebesgeschichte als Prätext der Auseinandersetzung mit philosophischen Grundproblematiken. „Avons-nous du pouvoir sur le commencement, ni sur la fin de nos passions? “ 430 lautet, so Marie-Jeanne Durry, die Schlüsselfrage Lafayettes, „question si essentielle que je la mettrais volontiers en épigraphe à toute l’œuvre“. 431 Immer wieder kehrt auch Jacqueline Harpman in ihrem Romanwerk zur Exploration jener - unergründlichen - Gründe der Passion zurück, in denen sich das Dilemma menschlicher Subjektivität zwischen Freiheit und Fatalität konzentriert. „D’où vient que nous soyons si peu libres de choisir les objets de nos passions? “, meditiert auch die ansonsten bemerkenswert ‚befreite‘ Julie aus Ce que Dominique n’a pas su: 432 „Expliquerat-on un jour cette étrange fureur qui s’empare de quelqu’un et l’asservit définitivement? “ 433 Rougemont bleibt in seiner Analyse der amourösen „dialectique de l’obstacle“ 434 nicht an dem Punkt stehen, an dem „l’obstacle voulu“ 435 in seiner Funktion als Generator und Motor 427 Harpman 1993: 307f. „Mais ces mythes ne sont appelés que pour être eux-mêmes dépassés“, erklärt Paque (2003: 87). Freilich wird die Ambivalenz dieses auf verschiedenen Levels lesbaren Liebesromans nicht aufgelöst: Interpretiert Renouprez (2013) die Fromentin-Variation Ce que Dominique n’a pas su als Exempel eines kreativen „détournement du roman sentimental“, so funktioniert La Plage d’Ostende sowohl - unter Ausblendung der Meta-Ebene - als derartiger ‚roman sentimental‘ als auch als dessen Dekonstruktion; erstere Lesart mag eine tiefere Bedeutungsdimension des Textes verfehlen, bleibt aber - im Gegensatz zu Ce que Dominique n’a pas su oder zu Brève Arcadie, die selbst der ‚naivste‘ Rezipient nicht zur kitschverdächtigen Apotheose der Liebe zurechtzubiegen vermöchte - möglich. Nicht umsonst wohl verschaffte eben La Plage d’Ostende - einer der wenigen ins Deutsche übersetzten Harpman-Texte, unter dem Titel Die Essenz der Liebe (1994a) publiziert (und im editorialen Paratext gezielt als ‚Liebesroman‘ vermarktet, angefangen mit dem Benoîte Groult-Zitat auf dem Frontcover: „Ich werde niemals diese junge Isolde und ihren Weg durch die tragischen Wunder der Liebe vergessen“) - der Autorin erstmals eine gewisse Popularität bei einem größeren Publikum (vgl. Paque 2003: 29); zugleich dürfte gerade dieser Roman nicht unwesentlich zur Konstitution der ambivalenten Reputation einer „[œ]uvre peu qualifiée aux yeux des partisans de la modernité (littéraire ou sociologique)“ (ibid.: 158) beigetragen haben. 428 „Le féminisme couvait, les premières éruptions n’allaient pas tarder, Le Deuxième Sexe avait déjà déplu en Europe, Betty Friedan déplairait bientôt ici […]“, berichtet Émilienne aus der Einöde ihres US-Exils (Harpman 1993: 150). 429 Rougemont 1979: 16. 430 Lafayette 2014b: 123. 431 Durry 1962: 8. 432 Harpman 2007b: 3204. 433 Ibid.: 3877f. Dieselbe Figur stellt sich auch die komplementäre Frage „Peut-on aimer sur commande? “ (ibid.: 450f.) und kommt - nach allerlei fruchtlosen Versuchen, ihre eigene unerwiderte Liebe loszuwerden („Peut-on se débarrasser de l’amour? J’essayai diverses recettes, parfois inventées, parfois prises dans les livres“; ibid.: 443f.) - resigniert zum Schluss: „J’appris ainsi qu’on n’aime ni ne désaime sur commande“ (ibid.: 464). 434 Rougemont 1979: 45. <?page no="213"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 213 der Passion erkannt wird; in letzter Instanz fungiert das ‚Hindernis‘ nicht mehr nur als deren (doppelter) „prétexte“, sondern als ihr eigentliches Objekt: „N’est-il pas l’objet même de la passion, - si l’on descend au fond du mythe? “ 436 Den auf den ersten Blick absurden Masochismus einer dem „amour réciproque malheureux“ 437 verpflichteten okzidentalen Liebeskultur erklärt Rougemont derart aus einer tieferen Libido der Erkenntnis; dies gelte, wie er hinzufügt, nur „pour les meilleurs“, jedoch: „[…] soit qu’on désire l’amour le plus conscient, ou simplement l’amour le plus intense, on désire en secret l’obstacle. Au besoin, on le crée, on l’imagine.“ 438 Diese philosophische - ethische wie ästhetische - Komponente der Passion reflektiert auch Jacqueline Harpmans Werk; besonders eindrücklich illustriert dies eben die hier abschließend kurz analysierte Plage d’Ostende, nicht nur Liebes-, sondern auch Künstlerroman, dessen Protagonist homme fatal wider Willen, 439 mit Leib und Seele jedoch Maler ist („Savez-vous qu’il sera un grand peintre? Que dis-je? Il sera Peintre, tout simplement […]“, kündigt seine enthusiastische Mentorin an 440 ). Auf den Spuren Freuds beschreibt Julia Kristeva in ihren Histoires d’amour - auch dies eine Studie über „quelques grandes idées amoureuses qui ont constitué notre culture; quelques grands mythes qui l’ont fascinée“ - „la relation amoureuse (fût-elle imaginaire) […] comme modèle du fonctionnement psychique optimal“, den „psychisme […] amoureux“ als Inbegriff wahrhaft lebendiger Menschlichkeit. Als „lieu privilégié de cette passion des signes qu’est leur condensation et leur polyvalence littéraire“ wird ‚Liebe‘ hier auch zum literarischen/ künstlerischen Phänomen. 441 Eben jene kontemplative und zugleich euphorische Fusion, die momentan rückhaltlose Selbstauslieferung charakterisiert in La Plage d’Ostende auch das Verhältnis des Protagonisten zur Kunst - seiner eigenen und jener der anderen, wobei diese Unterscheidung in Momenten der Ekstase weitgehend irrelevant wird. Der große Liebende Léopold, nach eigener Aussage „entré en peinture comme on entre au couvent, sans retour“, 442 demonstriert auch die ideale Rezeptionshaltung dem Kunstwerk gegenüber; 443 noch Jahre später erinnert sich sein Freund 435 Ibid.: 47. 436 Ibid.: 44. 437 Ibid.: 53ff. 438 Ibid.: 54. 439 „C’était la peste, cet homme-là! on l’aimait en tout sens et de partout! […] Il était innocent. Il ne se doutait pas du tout qu’il semait le désastre, et je crois que personne n’eut la cruauté de le lui dire“, erinnert sich Henri Chaumont, einst seinerseits heimlich in Léopold verliebter Freund in Du côté d’Ostende (2007a: 18f.), an den schönen Maler, „bourreau des cœurs“ ohne jegliche böse donjuaneske Absicht (ibid.: 39), fatale Inkarnation des „amour même“: „Il a brisé plusieurs vies sans rien y comprendre“ (ibid.: 175). 440 Harpman 1993: 11. 441 Kristeva 1999: 25ff. 442 Harpman 1993: 272. 443 Die poetologische (Selbst-)Reflexion situiert sich in Harpmans auch in dieser Hinsicht transgressivem Œuvre in einem größeren intermedialen Kontext; dies illustriert höchst ‚pittoresk‘ La Plage d’Ostende als metaliterarischer Künstlerroman (unter den Augen der Leserin entsteht die titelgebende Plage d’Ostende als malerisches Meisterwerk des Protagonisten en abyme im Text), aber auch Le Bonheur dans le crime: Hier spielt Musik nicht nur diegetisch, sondern auch als narrative Matrix und Metapher der Meditation über Literatur eine zentrale Rolle. Die intradiegetische Erzählung entfaltet sich während einer unwetterbedingt prolongierten automobilen Odyssee zu einer Aufführung der Walküre im Opernhaus von Gent, mehrfaches Ziel des Romans, an dem der Akt der Narration (schon zuvor lässt <?page no="214"?> 214 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie Albert, Kollege und weniger erfolgreicher Konkurrent, an die Vision eines in der Betrachtung eines Gemäldes magisch ‚transfigurierten‘ Léopold: Il était habité. Nous aimions tous la peinture, mais aucun de nous ne pouvait l’aimer autant que lui. La première fois que j’ai regardé un tableau avec lui, c’était à Anvers, le portrait de Philippe de Croy par Van der Weyden. En lui parlant, j’ai tourné les yeux vers lui: il était transfiguré, il était plus beau que le tableau. Alors j’ai regardé le tableau et j’ai compris que je ne pouvais pas voir ce qu’il voyait. C’était comme ces images où on montre quelqu’un qui a une vision, les témoins ne voient pas ce que le visionnaire voit. Moi, je voyais Van der Weyden, lui, je ne sais pas. On avait envie d’avoir son regard, d’être lui. 444 Nicht umsonst assoziiert Émilienne - Geliebte, Muse, Gehilfin, schönes metaleptisches Gespenst, das einem von Léopolds Bildern entsprungen scheint - diesen Zustand sogleich mit ihrer eigenen Passionserfahrung: „Ich Tristan. Du Isolde.“ 445 Die réécriture der Passion: Literatur als Liebesakt L’amour? Que met-on dans ce mot-là? 446 On met longtemps à voir que le mot aimer est un passe-partout. 447 Vom Romanerstling Brève Arcadie bis ins Spätwerk erzählt Jacqueline Harpmans Œuvre derart ein Stück Liebes-Geschichte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Von Text zu Text entfaltet sich hier eine eigenwillige „philosophie amoureuse“; 448 eben über eine aus psychoanalytischer, metaphysischer wie ästhetischer Perspektive problematisierte Passion vollzieht sich die Auseinandersetzung mit der conditio humana in einer postmodernen Welt. Der Maler Léopold in quasi-mystischer Entrückung vor jenem Gemälde; Émilienne, beim Anblick Léopolds vom coup de foudre getroffen; die Brève Arcadie der Liebenden im gleichsich der Erzähler auf eine doppelte Wette mit seinem textinternen Adressaten und dem Leser ein: „[…] c’est un défi à relever, je me modèlerai exactement sur le temps qui nous reste et je vous […] dirai les derniers mots en montant le perron du théâtre“; 2004b: 188), doch auch - dies in proleptischer Geste - die Geschichte bzw. das inzestuöse ‚Bonheur dans le crime‘ der Protagonisten der intradiegetischen Erzählung endet, ihrerseits - moderne Siegmund und Sieglinde-Version - schließlich von einem multiplen Fluch eingeholt (ibid.: 232f.). Die Passion selbst wird in musikalische Begriffe gefasst (so befinden sich die Quasi-Zwillinge Clément und Emma - neben Émilienne und Léopold aus La Plage d’Ostende paradigmatische Inkarnation des perfekten Liebespaars im Werk Harpmans - „en résonance comme les branches d’un diapason“; ibid.: 146); der literarische Text erscheint als Resonanzraum, in dem durchaus ‚musikalische‘ Variationen diverser klassischer Prätexte erklingen. Auch seine eigene Kunst reflektiert der Erzähler als eine Frage der poetischen und psychologischen Resonanz, als „affaire d’écho“ - und wirft im gleichen Atemzug seinem Gegenüber dessen amouröse und narrative ‚Taubheit‘ vor (ibid.: 226f.). 444 Harpman 1993: 314. 445 Ibid. 446 Ibid.: 139. 447 Harpman 2000: 144. 448 Vgl. Kristeva 1999: 9. Dies auf mehreren Ebenen; im paratextuellen Diskurs legt die Autorin ein selbstironisches literarisches Liebesbekenntnis ab: „[…] je tombe amoureuse de tous mes personnages, même des méchants […]. Sans cet élan amoureux vers mes personnages, je n’aurais pas la force d’écrire sur ces gens“ (Duplat 2011). <?page no="215"?> „J’étais, au départ, terriblement classique…“ 215 namigen Roman, ekstatische Evasion jenseits des Alltags: Inbegriff des Widerstands gegen die Kontingenz der Existenz und gegen den Tod selbst, 449 besitzt diese Liebe auch eine poetologische Dimension. Die Rezeption des Kunstwerks wird zum - parallel kritisch reflektierten - amourösen ravissement, zwischen produktiver Aneignung und Heimsuchung eines vom souveränen auktorialen Demiurgen zum bloßen Medium sich erzählender Geschichten reduzierten - oder auch magnifizierten - schreibenden Subjekts. Bereits in Brève Arcadie - doppelbödiger ‚Liebesroman‘ - korrespondiert die Intrige unter den Figuren, sämtlich intertextuelle Wiedergänger, mit jener anderen Passion auf der Ebene einer literarischen Produktion, die sich ihrerseits lustvoll am „obstacle“ 450 des klassischen Vorbilds befeuert. Der Text inszeniert schließlich en abyme den - hier zunächst unfreiwillig - kreativen Leseals Liebesakt. Stellt François’ Ideal „quelque Clèves bien difficile à émouvoir“ dar, 451 so zeigt Harpman in einer anderen Schlüsselpassage auch ihre Protagonistin als Leserin. Die unglücklich liebende Julie, die gerade in ambivalentem Heroismus ihre Liaison mit François beendet hat, versucht sich mit einem Roman abzulenken - doch hartnäckig scheint der Text nur wieder ihre eigene Liebes- und Leidens-Geschichte zu erzählen, Zeile für Zeile nehmen die fremden Worte ihre eigene spezifische Bedeutung an: Elle prit un livre, prétendit s’absorber. À travers le collier des phrases, son propre émoi rôdait, et si le livre la toucha parfois, c’est que les mots les plus usés se chargeaient de sens, éclataient en elle comme inventés à mesure: amour, regret, jamais s’enlaçaient à une peine encore indistincte et qui n’attendait, pour s’élever en tempête, que la première défaillance. […] Elle mettait à se fuir cette obstination qu’on n’emploie jamais à se connaître, et bientôt, n’osant plus ni quitter le livre ni poursuivre une lecture qui laissait trop de place à l’incontrôlé, […] elle voit le mot amour se charger de tous les amers prestiges de l’impossible, et jamais plus, qui fut si facile à prononcer, lui devient intolérable. […] Enfin, proie forcée dans ses derniers retranchements, incapable de pousser plus loin les mensonges, Julie dut bien s’avouer qu’elle aimait. 452 Julie, die sich lesend unwillkürlich ihre eigene Narration bastelt, diese aus dem resp. in den fremden Text herausbzw. hineinliest, 453 spiegelt nicht zuletzt die Geste der modernen Autorin wider, deren (ré-)écriture sich aus der Lektüre, einer multiplen intertextuellen Matrix entfaltet. In kritischer Aneignung der Princesse, deren Aktualität - in einem non-trivialen Sinn - ihr Roman ein weiteres Mal illustriert, reflektiert Harpman prinzipielle Fragen nach dem Menschsein zwischen Fatum und Freiheit, der immer schon diskursiven Verfasstheit des Individuums, Ehe, Liebe, Geschlechterrollen in einem neuen historischen und soziokulturellen Kontext. Wie der klassische Prätext erzählt auch Brève Arcadie die Geschichte der Konstitution eines (weiblichen) Subjekts - dies nicht allein auf diegetischer Ebene: Eine schwierige Initiation erlebt nicht nur Protagonistin Julie als moderne Princesse, in deren literarischer Genealogie 449 An die Stelle einer längst anachronistischen und pragmatisch devalorisierten religiösen (Rest-)Kultur treten hier - auch über eine re-interpretierte mystische Lexik aufs Engste assoziiert - Passion und Kunst als Domänen einer säkularisierten, reflexiv gebrochenen Spiritualität. 450 Vgl. Schlanger 2008: 90. 451 Harpman 2004a: 48. 452 Ibid.: 108f. 453 Wiederholt tritt Julie auch metaphorisch als Leserin - und ihre eigene ‚Autorität‘ allmählich auslotende Ko-Autorin - ihres Lebens-Buches in Erscheinung: „La vie, par moments, lui paraissait bien longue. D’un livre monotone, on peut sauter les pages: elle ne pouvait sauter les jours“ (ibid.: 156). <?page no="216"?> 216 Jacqueline Harpmans Brève Arcadie sich neben ihrer Lafayette’schen Vorfahrin auch allerlei andere illustre Ahninnen finden, sondern auch eine mit ihrem eigenen Klassizismus hadernde junge Schriftstellerin, deren Karriere als kreativer Liebesakt mit der Princesse de Clèves beginnt. *** Über Jahrzehnte hinweg begleitet La Princesse de Clèves auch den literarischen Werdegang einer anderen Autorin - wie Jacqueline Harpman professionelle Psychoanalytikerin -, mit deren Lafayette-réécriture wir unsere hypertextuelle Reise nun im extrême contemporain fortsetzen wollen: von der Princesse weiter nach Clèves, von und mit Marie Darrieussecq. <?page no="217"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ Marie Darrieussecqs Clèves „And who should be at the vanguard of resistance against Sarkozy’s attacks but Darrieussecq“, fragt rhetorisch Jacqueline Dutton; 1 in der Tat ist Marie Darrieussecq, „grande admiratrice de La Princesse de Clèves“, 2 als mehrfach autorisierte Stimme - nicht nur politisch interessierte Schriftstellerin, 3 sondern auch promovierte Literaturwissenschaftlerin - im Gefolge der ‚Affäre‘ im öffentlichen Diskurs über die Princesse überaus präsent. 4 Vor allem aber legt sie 2011 unter dem Titel Clèves ihre eigene kreative Re-Interpretation des Romans vor; mit der 2013 erschienenen und im selben Jahr mit dem Prix Médicis prämierten ‚suite‘ Il faut beaucoup aimer les hommes zeichnet sich ein gewisser Paradigmenwechsel in der kritischen Rezeption Darrieussecqs ab. Doch vorweg sei hier ein Blick auf Clèves geworfen, hypertextuelles Spiel mit der Princesse, wie diese vielschichtiger Liebes-, Initiationsbzw. „carefully crafted bildungsroman“ 5 (oder auch „une sorte de roman d’apprentissage à rebours“ 6 ), zugleich „épopée de la puberté“ und „roman de classes“, 7 Metaroman und philosophische Meditation über die (inter-)diskursive Verfasstheit menschlicher Subjektivität. In einem ausführlichen Interview, das die Flammarion-Edition der Princesse de Clèves aus dem Jahr 2009 eröffnet, 8 kommentiert die Autorin zwar auch sympathisierend die Symbol- 1 Dutton 2009. 2 Payot 2011. 3 „Toute écriture est politique puisque toute écriture est une vision du monde“ (Marie Darrieussecq in Les Inrockuptibles, 19.03.2002, zit. nach URL: http: / / evene.lefigaro.fr/ citation/ toute-ecriture-politiquetoute-ecriture-vision-monde-67707.php). Durchaus ‚politisch‘ ist in Darrieussecqs Sinne bereits die literarische Fiktion per se: „J’ai personnellement la conviction que c’est dans la fiction qu’on va changer le monde“, wie sie an anderer Stelle erklärt (Bacqué/ Chemin 2006, zit. nach Chadderton 2012: 137). Dabei differenziert Darrieussecq zwar klar zwischen künstlerischer Arbeit und gesellschaftspolitischer Positionierung, nützt aber bei Gelegenheit sehr wohl strategisch ihre öffentliche Präsenz bzw. Autorität. So unterstützt sie die Kandidatur Ségolène Royals bei den Präsidentschaftswahlen 2007; ausgehend von der medienwirksam zelebrierten Liaison zwischen Carla Bruni und dem „new-style president“ Sarkozy kommentiert sie die Gender-Dynamik des französischen politischen Imaginariums (Darrieussecq 2008). Seit Jahren engagiert sich Darrieussecq im Rahmen der Bibliothèque sans frontières und des Réseau D.E.S. France; nach dem Attentat auf Charlie Hebdo am 7. Jänner 2015 publiziert sie eine Hommage an die Opfer und allgemein an ein Medium, das ihr selbst seit ihrer Kindheit als provokante ‚Schule‘ der Aufklärung gedient habe: „Vais-je prendre la relève et écrire à mon tour dans Charlie? Face à mes trois jeunes enfants, je me pose la question. La réponse est oui, forcément, mais la terreur est là“ (Darrieussecq 2015). Vgl. zu Darrieussecqs gesellschaftlich-politischen Aktivitäten insbesondere Chadderton 2012: 39ff. („Social Commitment and Textual Politics“). 4 Vgl. etwa „La princesse de Clèves vue par…“, art. cit. Eine Lafayettes Roman gewidmete France Inter- Sendung wirbt mit Marie Darrieussecq - neben Alain Finkielkraut - als anerkannter Autorität in Sachen Princesse (Gallienne 2014). 5 Henry 1992c: 175 (über La Princesse de Clèves). 6 Malandain 1989: 64 (ebenfalls zu Lafayette). 7 Barnett 2011. 8 Darrieussecq 2009b: I-IX. Auszüge aus besagtem Interview fungieren mittlerweile als fixer Bestandteil diverser paratextueller ‚Waschzettel‘ zur Princesse: So beruft sich auch die Amazon-Präsentation des <?page no="218"?> 218 Marie Darrieussecqs Clèves funktion des Romans im Rahmen der bildungs- und wissenschaftspolitischen Widerstandsbewegung; 9 ihre langjährige Auseinandersetzung mit der Princesse - deklariertes „livre de chevet“, „que j’ai dû lire vingt fois dans ma vie“, 10 „livre préfére“ 11 bzw. „favourite book“ 12 - geht freilich weit über das punktuelle Protest-Engagement hinaus: Wie Darrieussecq betont, handelt es sich bei Clèves um „un projet à long terme, commencé avant le règne de tel ou tel président“. 13 Ihr Werk schreibt sich damit vielmehr in jene Phase re-intensivierter produktiver Lafayette-Rezeption ein, die bereits zur Jahrtausendwende beginnt; auch Sarkozys provokante Wahl seines literarischen Hassobjekts bestätigt indirekt erst recht Präsenz und Aktualität der Princesse, jenes „texte classique dont je sentais qu’il occupait bien notre époque“, wie Darrieussecq erklärt: „Et ce bien avant la polémique qui a suivi les propos de Sarkozy et qui n’a fait que confirmer mon intuition.“ 14 Werkes auf die Empfehlung der „romancière Marie Darrieussecq“ (URL: https: / / www.amazon.co.uk/ Princesse-Cl%C3%A8ves-GF-French-ebook/ dp/ B005PKSKE8). 9 „La Princesse devint une ligne de front, et Clèves une place forte d’où les enseignants, chercheurs, lecteurs et lettrés en tout genre se mirent à faire le guet. […] Ce avec quoi ces lettrés contemporains ne sont pas d’accord (entre autres), c’est de demander à la culture d’être rentable, et à court terme. La Princesse de Clèves, combien d’entrées? “ (Darrieussecq 2009b: VIIIf.). 10 Grosjean 2015. 11 Zit. nach „Marie Darrieussecq. Écrivain française“ (Le Figaro/ Evene, „Chroniques & Anecdotes“). 12 Dutton 2009; vgl. auch Kaprièlian 2010: 4. 2009 erstellt Darrieussecq für Télérama den Katalog ihrer persönlichen „Bibliothèque idéale“: An erster Stelle reiht sie La Princesse de Clèves, auf den Rängen finden sich J. D. Salingers The Catcher in the Rye, William Faulkners Absalom, Absalom! , gefolgt u. a. von Varlam Šalamovs Kolymskie rasskazy (Récits de la Kolyma), Primo Levis La Tregua, Jane Austens Pride and Prejudice, Gustave Flauberts Correspondance und schließlich - psychoanalytisches Extra - Sándor Ferenczis Thalassa. Psychanalyse des origines de la vie sexuelle (URL: http: / / www.babelio.com/ liste/ 63/ La-bibliotheque-ideale-de-Marie-Darrieussecq); die Referenz auf Ferenczis ‚apokalyptisches‘ Werk steht auch am Schluss von Blooms Essay über dichterische Einflußangst (1995: 136f.). 13 Darrieussecq 2009b: IX. Bereits in „Je est unE autre“ (2007) erwähnt Darrieussecq ein in Arbeit befindliches Princesse de Clèves-Projekt. In einem Interview aus dem Jahr 2010, in dem sie ihren ein Jahr später publizierten Roman schon recht konkret kommentiert („[…] j’en suis à la troisième tentative, mais je crois que c’est la bonne et c’est pour cela que je suis assez excitée en ce moment […]“), kommt sie auf dessen nachträgliche politische Zusatzdimension zu sprechen: „Évidemment, le débat est un peu parasité par les propos que Nicolas Sarkozy a tenus contre La Princesse de Clèves, il y a maintenant deux ou trois ans; ce qui m’a, comme beaucoup d’intellectuels, amusée - c’est tellement ridicule! Mais ce projet est bien antérieur à cette affaire, et La Princesse de Clèves survivra à Nicolas Sarkozy - je n’ai aucun doute là-dessus - et j’espère que mes livres aussi… Il y a donc ce léger parasitage, mais on écrit aussi dans une époque, on n’écrit pas dans une bulle: je ne peux donc pas faire comme s’il n’avait pas dit ces bêtises-là, qui amènent à se demander quelle est la place de la littérature aujourd’hui, qui lit et comment“ (Kaprièlian 2010: 4). Tatsächlich wird Darrieussecqs Roman in diesem Kontext eine - zwischen verstärkter Öffentlichkeitswirkung und dem damit verbundenen Risiko simplifizierender Interpretationen ambivalente - politisierte Rezeption zuteil. In diesem Sinne wird teilweise auch noch die 2013 erschienene deutsche Übersetzung aufgenommen; so stellt die Kritik des Spiegel gleich einleitend den Sarkozy-Bezug her: „In ihrem Roman ‚Prinzessinnen‘ erzählt Marie Darrieussecq vom Heranwachsen in den achtziger Jahren, verschafft dabei einem Klassiker neue Aktualität - und widerlegt Ex- Staatspräsident Nicolas Sarkozy.“ Dieser wohlmeinenden, jedoch reduktiven Lesart des Textes als Sarkozy-Refutatio bleibt der Rezensent auch in der Folge treu (Dehoust 2013). 14 Bourmeau 2011. <?page no="219"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 219 Marie Darrieussecq und La Princesse de Clèves: Fragmente einer literarischen Liebesgeschichte Im zitierten Interview rekonstruiert die Autorin auch die Etappen ihrer persönlichen Liebesgeschichte mit der Princesse, die - nicht ganz ohne Startschwierigkeiten - mit einer schulischen Pflichtlektüre im Alter von dreizehn Jahren beginnt. Der coup de foudre trifft die zukünftige Schriftstellerin mit signifikanter Verzögerung: Auch Darrieussecq gesteht, die ersten Seiten des Romans („Dix noms propres par ligne, vingt-cinq mariages, cinquante alliances politiques“) zunächst als „une barrière infranchissable“ empfunden zu haben; erst nachträglich erschließt sich der erwachsenen Leserin - die für ihre eigene Clèves-Version allerdings einen anderen Einstieg wählt - die narrative wie ideologische Funktionalität dieses historischen Eröffnungspanoramas, mit dem „la petite Princesse comme un pion sur un échiquier“ positioniert wird. 15 Der Satz „Il parut alors une beauté à la cour […]“ markiert den Anfang einer jahrzehntelangen Faszination für Lafayettes Text, 16 ungeachtet diverser anderweitiger durch die historische und sprachliche Distanz bedingter Verständnisprobleme: Was hat es etwa mit dem mysteriösen ‚Vidame‘ auf sich, den sich die jugendliche Leserin - „loin de tout comprendre“ - nur über die ‚dame‘ (fehl-)zuerklären weiß? 17 Darrieussecq dechiffriert die Princesse als Palimpsest, das nicht nur einen, sondern eine ganze Reihe potentieller Romane enthält: „Ce livre de deux cents pages en a des milliers.“ 18 Hinter dem „roman d’amour“ - vorrangig für den Teenager - kommt später ein „grand roman politique, un roman de guerre et de stratégie“ zum Vorschein; der Text fungiert aber auch als „roman à suspens, parce que la lecture qu’on en fera est imprévisible“. Die Princesse nimmt schließlich „la forme du roman policier“ - mit dessen philosophischen Implikationen 19 - vorweg: „[…] qui est coupable de la mort de Monsieur de Clèves - et faut-il forcément un coupable? “ Zugleich liest Darrieussecq, selbst ausgebildete Psychoanalytikerin, literarische Spezialistin für hoch problematische ‚Familienromane‘, Lafayettes Text als „un grand roman œdipien“. 20 Besonders aufschlussreich - gerade vor dem Hintergrund der Instrumentalisierung der Princesse als politisiertes Protestsymbol - ist ihre Interpretation der Protagonistin als Figur des Widerstands in einem tieferen Sinne, paradoxe Heldin der stillen, passiven Rebellion, Vorfahrin von Herman Melvilles Bartleby: „Opposer à la cour la stratégie du repli. C’est aussi par égoïsme qu’elle se refuse à un remariage. Un égoïsme prodigieux, transcendantal, surhumain, un égoïsme qui rime avec héroïsme: un refus à la Bartleby […]. La Princesse de Clèves préférerait ne pas. […] Si la Princesse de Clèves est une héroïne, c’est une héroïne 15 Darrieussecq 2009b: IIf.; vgl. auch Darrieussecq/ V 2010. 16 Darrieussecq 2009b: II; vgl. die entsprechende Passage bei Lafayette (2014c: 337). 17 Darrieussecq/ V 2010. 18 Darrieussecq 2009b: III. 19 Vgl. Ecos Reflexionen zu „La metafisica poliziesca“ (1990a: 524f.). Auch Delacomptée vergleicht die Princesse mit einem „roman policier dont l’auteur se serait volontairement gardé de fournir la clé“ (2012: 137). 20 Darrieussecq 2009b: III. Den Konnex zur Ödipus-Motivik etabliert bereits Kamuf in ihrer Interpretation der Princesse; nicht nur situiere Lafayette ihren „historical monarch“ über dessen tödliche Augenverletzung „in a line of descent from the mythical king of Thebes“ (auch hierin macht Kamuf „perhaps a measure of political critique“ aus); eben der Ödipus-Mythos liefere „a key to the princess’s enigma, a key which lies in the differentiation of parent and child, or, more exactly, of the parent’s desire from that of the child“ (1987: 88). <?page no="220"?> 220 Marie Darrieussecqs Clèves paradoxale: une héroïne du NON . […] Peut-être est-elle héroïquement paresseuse: aimer lui est une insurmontable somme d’efforts.“ 21 Auch historisch betrachtet erscheint die Princesse mit ihrer kontroversen Rezeptionsgeschichte als Spiegel, der jeder Epoche das Bild ihrer eigenen (Vor-)Urteile und (Pseudo-) Evidenzen zurückwirft: 22 La seule faute de goût de la Princesse de Clèves semble avoir été d’avouer à son mari, après une épuisante lutte intérieure […] On a beaucoup glosé, depuis trois siècles, sur cet aveu. Il a fait écrire trois millions de fois plus de pages que les deux cents petites pages du roman lui-même. Les premiers lecteurs de Mme de Lafayette, au XVII e siècle, le jugèrent invraisemblable: quelle épouse pense devoir informer son mari de ses tentations adultères? Au XVIII e siècle, cet aveu, on l’a trouvé charmant. Au XIX e , immoral. Au XX e , idiot: mais qu’elle l’épouse donc, son bellâtre de cour! Et au début du XXI e , on dit qu’il ne faut plus lire ce livre, mais c’est encore une autre histoire. 23 Entgegen dem zitierten Urteil André Gides („Rien de neuf à en dire, ni qui n’ait été fort bien dit“ 24 ) betont Darrieussecq die Unerschöpflichkeit, Un-Auslesbarkeit dieses „livre hyper contemporain“: „je l’ai lu et relu, et il reste toujours quelque chose à en dire, quelque chose à en écrire“. 25 21 Darrieussecq 2009b: VIf. Diese Überlegungen zum ‚Egoismus‘ der Heldin Lafayettes korrespondieren mit entsprechenden literaturwissenschaftlichen Lesarten: Wie Doubrovsky (der der Princesse einen „égoïsme total“ attestiert; 1959: 48, zit. nach Henry 1992b: 11; vgl. auch Laugaa 1971: 257ff.) betonen etwa auch Fabre - „[…] d’un bout à l’autre du roman, Madame de Clèves ne parle que d’elle, ne pense qu’à elle […]“ (1979: 46) -, Vigée (1960) und Grande „l’égocentrisme du personnage de la princesse“ (1999: 102). Ob Egoismus oder nicht: Das Streben der Protagonistin nach jenem polyvalenten repos oszilliert zwischen philosophischer Abgeklärtheit und existentieller „paresse“, die, „toute languissante qu’elle est“, selbst über „les violentes passions, comme l’ambition et l’amour“ zu triumphieren vermag (so La Rochefoucauld [2005] in Maxime Nr. 266). Dieser Aspekt bietet mannigfache Anknüpfungspunkte an Darrieussecqs eigenes Werk: So assoziiert Dutton (2009) ihre Princesse-Interpretation mit der Gestaltung ihrer eigenen Heldin aus dem Roman Tom est mort, auch sie „a heroine of inaction“. 22 „As readers and critics, therefore, we might have to ask whether La Princesse de Clèves tells us less about its own ideology than about our own tastes and expectations: is what we are holding up to the text a magnifying glass or a mirror? “, fragt auch Campbell (2006: 452). 23 Darrieussecq 2009b: VIII. 24 Gide 1913, zit. nach Laugaa 1971: 233. 25 Darrieussecq 2009b: IX. In Darrieussecqs paratextuellem Diskurs wird die Princesse als zugleich „hyper contemporain“ und ‚zeitlos‘ konstruiert; auch die „romans sans âge de Mme de La Fayette“ finden sich in der Kategorie jener „grands livres […] atemporels, toujours modernes, et [qui] se répondent en faisant fi du temps“ (2011a: 177f.). <?page no="221"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 221 „Les livres m’invitaient à continuer les livres“: Eine Poetik transauktorialer Hypertextualität? Aus dieser multiplen relecture 26 geht schließlich Darrieussecqs eigenes Projekt einer „réécriture à l’envers“ 27 hervor. Clèves, seinerseits palimpsestartiger Text 28 bzw. „livre-rhizome“ (so Chiara Rolla im Anschluss an Gilles Deleuze und Félix Guattari 29 ), ist als Exempel einer „[é]criture au miroir, qui reflète un autre texte“, 30 insofern von speziellem Interesse, als Darrieussecq in ihrer Auseinandersetzung mit dem klassischen Prätext kreative réécriture, literaturtheoretische Expertise, Sensibilität in Gender-Fragen und professionell psychoanalytischen Zugang miteinander verbindet. Clèves lädt nicht nur dazu ein, so manche Facette am Roman Lafayettes in neuem Licht zu betrachten, sondern konzentriert auch in bemerkenswerter Dichte die Schlüsselthemen resp. zentralen ‚Obsessionen‘ 31 Darrieussecqs, „écrivain de la métamorphose […], de la disparition, des réminiscences“. 32 Als Dokument metaliterarischer (Selbst-)Reflexion - die bei Darrieussecq im paratextuellen Diskurs wie im belletristischen Œuvre selbst stattfindet - illustriert Clèves paradigmatisch die zitationelle Poetik einer Schriftstellerin, die, „sans cesse habitée par toutes sortes d’auteurs“, 33 aus dem Bewusstsein für die eigene Verstricktheit in ein jahrtausendealtes literarisches Netzwerk ihre nur scheinbar paradoxe ‚Originalität‘ bezieht, für die - wiederum Einflusslust statt ‚Einflussangst‘, 34 mindestens ebenso sehr fröhlicher Eklektizismus wie postmoderne „posture ‚mélancolique‘“ 35 - die Überfülle potentieller Prätexte primär eine Einladung zum Weiterschreiben bedeutet. Diesen Aspekt thematisiert Darrieussecq, eine jener „lecteurs-auteurs“, 36 deren Werk sich vor allem im Wechselspiel mit den Texten der anderen entfaltet (und dabei eine artifiziell konstruierte Dichotomie Welt/ 26 Die Kunst des Wiederlesens wird in Clèves auch auf diegetischer Ebene ausgehend von der Erfahrung der jugendlichen Protagonistin thematisiert: „Et comme un livre qu’on comprend mieux en le relisant plus grande (les jeux de mots dans Astérix, ou les scènes de sexe chez Barjavel) elle comprend mieux […]“ (Darrieussecq 2011b: 121). 27 Marie Darrieussecq, zit. nach Leyris 2011. 28 Im Gespräch mit Kaprièlian (2010: 14) reflektiert Darrieussecq die palimpsestartige Dynamik der Genese ihrer eigenen Texte: „Les romans changent. On n’a pas perdu LA version géniale: on écrit une autre version qui donne ce livre-là qui correspond à ce temps-là et on essaie d’avancer.“ 29 Rolla 2012: Abs. 10. Als „rhizomatic novel“ samt „[r]hizomatic epistemology“ liest Andersen bereits die Princesse (1998: 39ff.). 30 Vgl. Riffaterre 1979: 97. 31 „Évidemment il y aura toujours la mer, les fantômes, l’absence, la voix féminine, le corps et ses métamorphoses: ‚obsessions‘ qu’on me prête volontiers“ (Darrieussecq 2011a: 195). 32 Kaprièlian 2010: 5. Zur Gespensterthematik vgl. Fréville 2013. Gerade im Fall Darrieussecqs, die in Werk wie paratextuellem Diskurs ausgeprägte ‚spektrale‘ Sensibilität und konsequent metaisiertes hypertextuelles Spiel verbindet, erscheint der theoretische Kurzschluss mit Charles’ ‚textes fantômes‘ - „[…] le texte est bien porteur de fantômes, ceux de textes possibles qu’il n’actualise pas, ceux des possibles contenus dans d’autres textes et auxquels il redonne vie“ (Rabau 2002b: 41) - besonders reizvoll. 33 Kaprièlian 2010: 17. 34 „Aber poetischer Einfluß muß Dichter nicht weniger originell machen; ebenso oft macht er sie origineller, wenn auch deshalb noch nicht notwendig besser“, hält auch Bloom fest (1995: 11). 35 Rolla 2012: Abs. 11. 36 Vgl. Duras 2012: 35. <?page no="222"?> 222 Marie Darrieussecqs Clèves Text unterminiert 37 ), über ihre Protagonistin Marie Rivière im autofiktionalen Roman Le Pays, ‚liquides‘ Alter Ego der Autorin selbst: 38 Il suffisait […] que j’ouvre, au hasard, l’un des grands livres que j’avais emportés, pour que la pulsion d’écrire me soulève comme un treuil. Je n’écrivais pas parce qu’il m’arrivait des choses, j’écrivais parce que d’autres livres existaient […]. Certains écrivains ne lisent pas, craignant je ne sais quelle dépense, déperdition ou perte; empêtrés dans leur unicité fantasmée; alors qu’écrire n’a rien de personnel, écrire c’est faire partie de l’écriture. 39 Les livres m’invitaient à continuer les livres […]. 40 „L’attente est l’état originel de l’écriture […]“, erklärt ebenfalls Marie Rivière; 41 das Warten, dem Elementarzustand des liebenden Individuums nicht unverwandt, 42 die Selbstauslieferung an den - fremden und eigenen - Text ist hier schöpferisches Grundprinzip: „Je ne choisis pas mes sujets, ils me choisissent“, 43 oder auch: „Les livres viennent, ils s’imposent, ils demandent à être écrits.“ 44 Dem äußerlich fixierten literarischen Produkt geht ein Schreibprozess ‚im Kopf‘ - vorzugsweise nächtliche mentale écriture quasi automatique - voraus, im Lauf langer „insomnies - heureuses: cette nuit, par exemple, j’ai beaucoup écrit dans ma tête“, bzw., wie die Autorin sogleich in signifikanter Subjekt-Verschiebung präzisiert: „Les 37 „[…] le monde est fait notamment de livres, d’écrits plus largement, et la lecture est donc un des modes d’appréhension du réel“, betont Rabau (2002b: 31) in ihrer Meditation über Intertextualität als „un flux entre le réel et le livre“ (ibid.: 32, vgl. auch 24). 38 Darrieussecq selbst - die scherzhaft auf die Homophonie ihres Vornamens mit einem in ihrem Werk oft problematischen und/ oder gespenstischen mari verweist (Barraband/ Gassmann 2005: 12) - erläutert das zugrunde liegende „jeu de mot[s] tout bête sur mon nom - ‚Darrieu‘ veut dire ‚de la rivière‘“ (Kaprièlian 2010: 15). Der autobiografische Bezug wird in Le Pays nicht nur über Namen, baskische Herkunft und schriftstellerische Profession allgemein etabliert; Darrieussecq teilt auch ihr eigenes literarisches Œuvre mit ‚Marie Rivière‘, die sich mit der stereotypen Frage konfrontiert sieht: „Pourquoi un cochon, dans votre premier roman? “ (2005: 60). „Pourquoi une truie? “: „De toutes les questions possibles, sauf peut-être ‚comment ça va? ‘, c’est la question qu’on m’a le plus posée depuis la publication de Truismes en 1996“, bemerkt Darrieussecq in eigenem Namen in ihrem Vorwort zum Novellenband Zoo (2006a: 7-9, hier 7). Abgesehen von ihrer ironischen statistischen Erklärung zur Verbreitung des misogynen Schimpfwortes truie nimmt sie ihre Truismes zum Anlass für eine Reflexion über die Autorschaft des literarischen Textes, die Frage, wer eigentlich - und ob überhaupt jemand - schreibt: „Mais y a-t-il quelqu’un, quand on écrit? “ (ibid.: 7f.). 39 „Il a, quelquefois, usurpé mon nom; / mais je ne suis pas cet homme; / car cet homme écrit / et l’écrivain n’est personne“, heißt es bei Edmond Jabès (2002: 32). 40 Darrieussecq 2005: 256f.; vgl. auch die sehr ähnliche Überlegung in Le Bébé (2002; siehe dazu Darrieussecq 2011a: 181). „J’écris parce que j’ai lu“ - dieses poetologische Schlüsselstatement nuanciert die Autorin im Interview: „Ce qui m’a formée, c’est vrai, c’est la lecture. Je n’adhère pas au mythe de l’écrivain tout seul sur son rocher. Mais il ne faut pas exagérer! J’écris aussi parce que j’ai vécu… On écrit avec des choses très archaïques, des choses qu’on a vécues enfant. Il y a un croisement évident entre les mots et la vie“ (Villovitch 2013). „Un autre critère du bon écrivain est qu’il donne envie d’écrire“: Über die „contamination de la création“ meditiert auch Dantzig (2005: 226 [„Critères du bon écrivain ou du bon livre“]), der „un Marie Darrieussecq“ freilich mit leicht verächtlicher Geste ins Repertoire der „Bibliothèques de maisons de campagne“ (ibid.: 110-111, hier 111) verbannt. 41 Darrieussecq 2005: 77. 42 „Attendre, c’est notre grande affaire. Nous ne faisons même que cela“, so Grimaldi in seinen Métamorphoses de l’amour (2011: 113). 43 Vgl. „‚Je ne choisis pas mes sujets, ils me choisissent‘“ (o. D.). 44 Flamerion 2007. „Mais quand l’idée insiste, il n’y a pas le choix […] il faut écrire ce qui insiste“, erklärt Darrieussecq auch im Gespräch mit Kaprièlian (2010: 11). <?page no="223"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 223 phrases s’écrivent.“ 45 Auch diese Kunst der Hingabe will freilich in konsequenter Arbeit errungen sein; wiederholt erklärt Darrieussecq, erst im Rahmen ihrer Analyse gelernt zu haben, sich - resp. es - einfach schreiben zu lassen. 46 Der literarische Text formiert sich im Resonanzraum eines Subjekts, das sich aus der eigenen Existenz zu absentieren vermag; 47 am Werk ist hier eine paradoxe Autorin, deren ultimative Aufgabe in der eleganten Selbst-Elimination besteht: „La personne de l’écriture n’était pas une personne […]. Dans la chambre d’échos qu’était l’absence à soi-même, l’écriture trouvait sa résonance; la relecture servait à égaliser les humeurs des phrases, à les débarrasser de l’écrivain; la publication, à l’arracher de là s’il y restait encore. […] La grâce, c’était que ça s’écrive, que ça s’écrive sans elle: sous ses yeux les phrases galopant sur le papier.“ 48 45 Ibid.: 8, 10. 46 So im Interview mit Villovitch 2013 („La psychanalyse m’a aidée à écrire […]. Elle m’a autorisée à devenir auteure“) und mit Kaprièlian: „Ça m’a autorisée“ (2010: 12); vgl. auch Grosjean 2015. Im selben Kontext reflektiert Darrieussecq auch die stereotype Angst vor künstlerischer ‚Sterilisation‘ wie die De- Neurotisierung ihres eigenen Schaffens mit Hilfe der Psychoanalyse, die diverse familiäre ‚Gespenster‘ bannt und die Schriftstellerin, vom „magma familial“ befreit (ibid.), endlich „seule devant ma page“ zurücklässt (Kaprièlian 2010: 12). Aus praktisch-lebensphilosophischer Perspektive fungiert der psychoanalytische „drôle de métier“ als Anti-Melancholikum („le coup de sonnette du patient est le meilleur antidépresseur que je connaisse: c’est un shoot“), Strategie gesellschaftlicher Selbstverankerung im Gegensatz zu einer Ideologie exklusiven Künstlertums: „Je suis devenue psychanalyste pour essayer d’‚être dans la vie‘, de faire quelque chose. […] en tous cas, je ne pouvais plus ne faire qu’écrire“ (ibid.: 6, 22); vgl. dazu auch Petit 2012: 2, 6f. „Si je suis devenue psy, c’est parce que la psychanalyse a sauvé ma vie“, bestätigt Darrieussecq noch 2015; zugleich bedauert sie, aufgrund ihrer intensivierten literarischen Reise-Aktivitäten bis auf Weiteres auf ihr zweites Metier verzichten zu müssen (Grosjean 2015). 47 An anderer Stelle erläutert Darrieussecq im eigenen Namen - und im Anschluss an Gilles Deleuze („Writing is not a way of speaking. It’s a way of listening“) - diese Kunst der Selbst-Absentierung des ‚leeren‘ bzw. ‚porösen‘ schreibenden Subjekts (Rees 2005), temporär ‚unsichtbar‘: „Je deviens invisible. […] Je suis avalée par le livre, traversée par ce que j’écris. […] Quelque chose me traverse, […] ce quelque chose me désintègre et me recrée sur la page. C’est de l’ordre de l’extase, sinon ça n’écrit pas“ (Solé 2010). Als ‚ekstatischen‘ Akt der Selbstentäußerung („[…] je maintiens le mot extase: je suis en dehors de moi. Je deviens autre. […] Je suis ailleurs, et j’y suis bien“) beschreibt sie ihr kreatives Erleben auch in ihrer poetologischen Tandem-Meditation mit Ingo Schulze („Rendez-vous littéraire à Berlin. Fête de la littérature franco-allemande“ [Arte, 26.05.2014]), als „état méditatif“ von geradezu ‚schamanischer‘ Qualität im Interview mit Petit (2012: 4). 48 Darrieussecq 2005: 117. Über ihre Protagonistin stellt Darrieussecq auch allerlei Überlegungen über das Handwerk des Schreibens im technik-/ mediengeschichtlichen Kontext an. Nostalgisch trauert Marie Rivière, während sie ihrer Mutter, berühmter Bildhauerin, bei der Arbeit zusieht, dem „aspect purement manuel de l’écriture“ nach, jenen mechanischen Arbeitsphasen, die den schöpferischen Zustand eines aus sich selbst abwesenden Subjekts favorisieren: „[…] depuis l’invention du traitement de texte, les écrivains ne recopient plus leurs manuscrits pendant des heures, ne vérifient plus longuement leurs épreuves; ils ne peuvent plus travailler mécaniquement. Toutes les étapes sont de création; à neuf, à vide. J’enviais ma mère, qui polissait en bavardant“ (ibid.: 283f.). Über den Kontrast mit anderen Medien der Kunst wird auch der körperliche Aspekt des Schreibens reflektiert; wie die Texte der anderen löst der Anblick der Hände der mit ihrem Material beschäftigten Bildhauerin „un fourmillement dans tout le corps“ aus, „un désir toutes affaires cessantes - écrire“ (ibid.: 286). Vgl. dazu auch Darrieussecqs Notizen zum dichterischen Selbstverständnis Rainer Maria Rilkes im Gegensatz zu Malerei und Bildhauerei als ‚handfester‘ Lebenskunst in Être ici est une splendeur. Vie de Paula M. Becker (2016: 289f.): „Rilke pense que les peintres savent vivre, toujours. L’angoisse, ils la peignent. Van Gogh à l’hôpital peint sa chambre d’hôpital. Le corps des peintres et des sculpteurs est actif. Leur travail est à ce mouvement. Lui, poète, ne sait que faire de ses mains. Il ne sait pas être vivant.“ <?page no="224"?> 224 Marie Darrieussecqs Clèves Halb scherzhaft teilt Darrieussecq die Romanciers der französischen Literaturgeschichte in zwei poetologisch wie praktisch klar voneinander zu unterscheidende ‚Clubs‘ ein: Zeichnet sich der „club P[e]rec“ durch minutiöse Planung und Konstruktion des Textes aus, so ordnet sie sich selbst dem „club Stendhal“ zu, der vielmehr, „au fil de la plume“ drauflosschreibend, auf die Eigendynamik des Textes setzt 49 (was Darrieussecqs anderweitiger Affinität zu Georges Perec, „un collègue en disparition“, 50 neben Marguerite Duras einer ihrer „deux grands totems“, 51 nicht im Wege steht). Auf den Spuren von Jacques Derrida und Jorge Luis Borges skizziert Darrieussecq eine Poetik jenseits der Fixierung auf individuelle Autorschaft (die sich freilich - wie jene ihre illustren Vorgänger - den inhärenten Widersprüchen eines autorisierten und copyrightgesicherten Diskurses über die Dekonstruktion des Autors zu stellen hat). In Le Pays - poetologischer Schlüsseltext, mit Darrieussecqs Lafayette-Variationen über eine Vielzahl feiner intratextueller Fäden verknüpft - wird bezeichnenderweise eben La Princesse de Clèves in eine Reflexion über jenen transauktorialen Pan-Intertext verwoben; wie Odysseus oder Orlando repräsentiert die Heldin dieses ursprünglich anonym publizierten Romans einen mythischnarrativen Archetyp: „Les enfants ne prêtent pas attention aux noms des écrivains, puisque personne n’écrit les histoires. Elles naissent et se diffusent hors d’un fond commun; si quelqu’un les invente, c’est un être virtuel, un ordinateur sans lieu compilant pour l’éternité les mêmes données: Ulysse et son voyage, Roland et son agonie, la princesse de Clèves et son amour.“ 52 Auch im Zusammenhang mit ihrer eigenen réécriture betont Darrieussecq die relative Trivialität des isolierten Plots, „de ce ‚truisme‘, de ce cliché qu’est le triangle amoureux. C’est tout bête mais cela nourrit la littérature depuis toujours“. 53 Nicht auf der Ebene der histoire, sondern auf jener der écriture ist die ‚Originalität‘ des literarischen Werkes zu suchen: „[…] si je racontais l’histoire, quel intérêt! Les drames sont toujours les mêmes depuis Homère: […]“ 54 … „[…] ce n’est plus l’histoire qui compte, car tous les thèmes ont été abordés, toutes les histoires ont été racontées. Mais c’est la manière dont on raconte l’histoire qui est importante et qui fait la différence: […].“ 55 Mit einer signifikanten Metapher charakterisiert Marie Darrieussecq Schriftsteller als „des éponges qui captent un certain état mental inconscient, l’état d’une époque“. 56 Kann ein 49 „‚Je ne choisis pas mes sujets…‘“, art. cit. 50 Kaprièlian 2010: 17. 51 Villovitch 2013. 52 Darrieussecq 2005: 66. 53 Kaprièlian 2010: 4. 54 Ibid.: 15. 55 „‚Je ne choisis pas mes sujets…‘“, art. cit. 56 Flamerion 2007. Diese poetologisch-philosophische Schlüsselmetapher teilt Darrieussecq mit mehreren ihrer Figuren aus dem Metaroman Bref séjour chez les vivants (2001): „Il faudrait voir la mer au maximum, à plein le cerveau comme une éponge“, meditiert die Literaturwissenschafts-Studentin Nore (2002: 101). Ihre Schwester Anne, Grenzgängerin zwischen postmoderner Mystik und Psychopathologie, glaubt indes durch einen mythischen „grand cerveau global“ zu surfen (ibid.: 117), selbst Teil und privilegierte Agentin jener universellen „seule conscience, flottante, inchangée, mais fractionnée en individus“ (ibid.: 28); auch sie fasst ihr - der Poetik Darrieussecqs nicht unverwandtes - Programm passivkreativer Empathie („flotter à l’unisson de la grande conscience et percevoir ses pulsations“; ibid.) in das Bild der idealen ‚Disponibilität‘ des Schwamms: „[…] non, la solution […] est de se concentrer, de monter / à ce degré ultime de disponibilité au monde qui est d’être, où qu’on soit, dans son centre… <?page no="225"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 225 ‚Schwamm‘ des literarischen Kapitalverbrechens des Plagiats geziehen werden? „Es raro que los libros estén firmados. No existe el concepto del plagio: se ha establecido que todas las obras son obra de un solo autor, que es intemporal y es anónimo“, fasst der Erzähler von Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius die „hábitos literarios“ einer im Zeichen des „sujeto del conocimiento […] uno y eterno“ stehenden fiktiven Alternativkultur zusammen. 57 Darrieussecq selbst affichiert „la nature intertextuelle de ses récits“; 58 so findet sich am Ende des Romans Bref séjour chez les vivants (2001) - paradigmatische Illustration der „implicitation“ im Sinne Tiphaine Samoyaults 59 - eine eklektische Auflistung von Quellen (von Descartes bis The Cure, Bioy Casares bis Marie-Claire, Perrault bis Sollers), ohne die „[c]e livre n’existerait pas“. 60 Mit der Problematik des Plagiats - die, kleine literarhistorische Ironie, Lafayette und Darrieussecq, die Princesse und Clèves über die Jahrhunderte hinweg verbindet - sieht die Autorin sich nicht nur auf poetologisch-philosophischer, sondern auch auf pragmatischer Ebene konfrontiert. 1998 attackiert Marie NDiaye Naissance des fantômes als „singerie“ ihres eigenen Romans La Sorcière (1996) und unterstellt Darrieussecq eine unredliche „‚tentative d’appropriation‘ de ses livres“. 61 Einige Jahre später ist es Camille Laurens, die Darrieussecq vorwirft, mit Tom est mort (2007) ein „plagiat psychique“ an ihrem autofiktionalen Text Philippe (1995) begangen zu haben. 62 Die Attacke Laurens’, die ihre Kollegin als angebliches Opfer eines literarischen „syndrome de coucou“ pathologisiert, 63 beruht auf einem wenig überzeugenden Begriff themen-basierter ‚Originalität‘; 64 in höchst fragwürdiger Weise wird s’atomiser dans la lumière, nulle part et partout, être un filtre à monde, une éponge“ (ibid.: 114). Auf dieselbe Metapher rekurriert Dantzig (2005: 282): „Un écrivain est une éponge […] un écrivain s’imbibe de ce qu’il lit“ („Eponge, gong“). 57 Borges 2008b: 30f. Eben aus dieser Passage zitiert Darrieussecq in Rapport de police (2011a: 188). 58 Marie/ Cornille 2014: 132. 59 Zur „implicitation“, ebenso wie das Plagiat eine Variante der „Intégration-absorption“, sowie den benachbarten Kategorien der „Intégration-installation“ und der „Intégration-suggestion“, insgesamt als kontinuitätsstiftende intertextuelle Verfahren mit den diskontinuitäts-akzentuierenden „Opérations de collage“ kontrastiert, vgl. das Modell Samoyaults 2013 (hier zit. 116). 60 Darrieussecq 2002: 261. Vgl. auch die strategisch platzierte Danksagung am Ende des Plagiats-Essays Rapport de police: „Merci à tous les livres que j’ai lus. Sans eux, je n’aurais pas écrit“ (2011a: 390). 61 Zit. nach Gaudemar 1998; zur Relation zwischen Naissance des fantômes als ‚Hypertext‘ und dem Werk NDiayes vgl. Cottille-Foley 2010. Diese ‚Affäre‘ gilt es freilich nicht nur in poetologischer Hinsicht zu betrachten - über die Plagiats-Diskussion wird auch ein verlagspolitisches Machtspiel um Marktanteile und Medienpräsenz ausgetragen; vgl. dazu Sarrey-Stracks Bourdieu-basierte Analyse der „polémique entre Marie Ndiaye et Marie Darrieussecq“ (2002: 235ff.): „[…] le véritable motif de la querelle semble […] avoir trait, d’une part à la question de l’originalité, d’autre part à la présence médiatique que l’une se serait octroyée aux dépens de l’autre“ (ibid.: 238). 62 Vgl. Payot 2010. Zu dieser Kontroverse siehe auch Strasser 2012; Robson 2015. 63 Laurens 2007. 64 Doch selbst auf der Ebene thematischer Argumentation wäre hinzuzufügen, dass „the recurring trope of the death of a child“ im Werk Darrieussecqs allgemein ein von der Autorin auf ein traumatisches Geheimnis in ihrer Herkunftsfamilie zurückgeführtes Leitmotiv (Dutton 2009) bzw. narratives Strukturprinzip darstellt: „Tous mes livres enchâssent un enfant mort, c’est-à-dire qu’ils sont comme des coffrets - ou des châsses, au sens médiéval - autour d’un enfant mort“ (Kaprièlian 2010: 18; vgl. auch Flamerion 2007). Auch der kindliche Tod wird häufig im oder am Wasser, zentrales Element der Poetik Darrieussecqs, verortet: So im polyphonen Roman Bref séjour chez les vivants, um die Leerstelle eines vor Jahren ertrunkenen Sohnes kreisendes Psycho-Protokoll einer zutiefst dysfunktionalen Familie, oder in White (2003) mit seinem „traumatic narrative of infanticide“ (Rye 2009: 35; vgl. zu diesem Text Stemberger 2010). Durch Le Pays geistert das Gespenst eines toten Bruders namens Paul, später durch <?page no="226"?> 226 Marie Darrieussecqs Clèves die ‚Authentizität‘ des persönlichen Dramas rund um Mutterschaft und Kindstod reklamiert und gegen die Kontrahentin ins Treffen geführt. 65 In beiden Fällen erscheint die Plagiatsanschuldigung - und erst recht jene eines chimärischen ‚plagiat psychique‘ - sehr wenig fundiert; 66 ein vages Stigma bleibt in dergleichen Fällen freilich doch meist haften (und wird teilweise nicht nur im literaturkritischen, sondern auch im literaturwissenschaftlichen Diskurs reproduziert 67 ). Darrieussecq selbst nimmt diese beiden Affären 68 zum Anlass für eine prinzipielle Reflexion über das Plagiat, die Phänomene der „plagiomanie“ („ce désir fou d’être plagié“) und einen zum ‚Pablo‘ umgetauften peruanischen Adoptivsohn namens Angelito ersetzt - der, als Wiedergänger eines Verstorbenen gecastet, als junger Mann einem signifikanten ‚Wahnsinn‘ verfällt (2005: 92, 104ff.). Aus der Sicht der Autorin erscheint Tom est mort - als ihr persönlicher ‚Lieblingsroman‘ unter ihren Werken verteidigt (vgl. „‚Je ne choisis pas mes sujets…‘“, art. cit.) - als möglicher ‚Exorzismus‘ dieses obsessiv wiederkehrenden Themas (Flamerion 2007). Doch auch mit diesem so kontrovers rezipierten Text, zugleich sprachphilosophische Meditation über die Grenzen des Sag- und Kommunizierbaren (vgl. Kotowska 2011), ist jenes Gespenst nicht ein für alle Mal gebannt: Das Motiv des toten Kindes taucht in Clèves mehrfach auf. Erst spät wird die Protagonistin über die Identität des kleinen Jungen aufgeklärt, dessen Foto auf dem Nachttisch der Mutter und im Salon steht (Darrieussecq 2011b: 20, 33f.). Das Porträt auf dem Grabstein verschwimmt in ihrem Gedächtnis mit dem Bild eines medial aktuell omnipräsenten „petit garçon jeté dans une rivière et qui s’appelle Grégory, le petit Grégory“. Todesumstände wie Namen des Bruders ‚vergisst‘ Solange dagegen sogleich wieder - und scheut sich, die Mutter danach zu fragen, da sie das düstere „là-bas“ des Friedhofs nicht in den Mikrokosmos ihres Alltags, „le seul à peu près vivable, le seul à peu près possible“, herüberholen möchte (ibid.: 274f.); der Tote bleibt der namenlose „autre sous sa dalle“ (ibid.: 289). Ein kindliches Gespenst spukt auch durch das Schloss der Familie d’Urbide: Solanges noble, stets in mondänes Schwarz gekleidete Schulkollegin Lætitia hat den - kontextuell hoch ambivalenten - Vornamen einer vor ihrer Geburt verstorbenen Schwester ‚geerbt‘ (ibid.: 249f.). Ist eine erwachsen gewordene Solange in Il faut beaucoup aimer les hommes bereits im Begriff, ihrem - am Austausch derlei intimer Geheimnisse allerdings desinteressierten - Geliebten „le nom de son frère (un prénom tout bête, et tellement français)“ zu verraten (2013b: 159), so gibt Darrieussecq in Être ici est une splendeur einen weiteren Puzzlestein zu diesem erst noch zu schreibenden ‚Familienroman‘ preis: „Et je sais que je parle pour un autre mort, mais il viendra, les morts reviennent, j’écrirai sa courte vie, c’était mon frère et il s’appelait Jean, il a vécu deux jours, mais il n’est pas encore temps“ (2016: 1391f.). 65 In anderem Zusammenhang reflektiert freilich auch Laurens selbst die intertextuelle Genese des Schreibens und konkret Liebe als literarisches Phänomen: „Ce que j’ai éprouvé de l’amour, je l’ai d’abord vécu dans les livres - j’ai été Phèdre, Bérénice, la princesse de Clèves, Nadja, Mme Bovary, Anna Karenine, Belle du Seigneur, Lol V. Stein, Anne-Marie Stretter. Les émotions qu’elles ont ressenties dans les livres, je les ai reconnues dans ma vie. Peut-être même ne les ai-je éprouvées avec cette intensité que parce qu’elles existaient dans mes livres. […] Et au moment d’écrire des romans d’amour, ils étaient tous là. Sans eux, sans ces personnages en proie à l’amour, mes passions seraient différentes, sans eux, mes livres seraient différents“ (2013: 154f.). 66 „In the light of the rich complexity of the relationships between writing, personal experience and society in her work, the accusations of plagiarism brought against her seem to express a naïve and simplistic conception of the process of creative writing“, resümiert auch Chadderton am Schluss ihrer Analyse von Marie Darrieussecq’s Textual Worlds (2012: 142). 67 So halten Marie/ Cornille fest, Darrieussecqs Texte seien „à ce point farcis d’allusions littéraires qu’ils invitent naturellement le lecteur à se montrer soupçonneux“ (2014: 132). Heikler erscheint die Argumentation Forests, der sich von einem problematischen Begriff autobiografisch fundierter ‚Authentizität‘ verleiten lässt, Laurens’ Vorwurf des ‚psychischen Plagiats‘ eine gewisse Plausibilität zuzuerkennen (2011: 93). Jourde wiederum weist in einem Kurzporträt Darrieussecqs speziell auf die Plagiatsvorwürfe gegenüber der Autorin hin (vgl. Jourde/ Andersen 2010: 154). 68 Einmal als quasi-magnetischer „‚cœur de cible‘“ bzw. als Projektionsfigur diverser Plagiats-Phantasien designiert, sieht sich Darrieussecq - abgesehen von jenen beiden ‚offiziellen‘ Affären - auch teils <?page no="227"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 227 der „plagiomnie“ („quand ce désir d’être plagié conduit à une calomnie, à la désignation d’un plagiaire et au recours au scandale“). 69 „‚Je suis sûre que Marie Darrieussecq est foncièrement malhonnête.‘ (M ARIE ND IAYE )“: 70 Mit diesem ihrem Rapport de police (2010) vorangestellten Zitat geht Darrieussecq zum metatextuellen Gegenangriff über. 71 Selbstironisch empfiehlt sie, bei einem Publikumsgespräch wieder einmal zu diesem heiklen Thema befragt, die Lektüre ihres Essays („Il faut lire ce livre, qui est excellent…“ 72 ), der aus politischer wie philosophischer Perspektive die Funktionen des Plagiatsvorwurfs als Zensurmechanismus, ‚Waffe‘ gegen unliebsame Autoren bzw. Konkurrenten im literarischen Feld, regelrechte „tentative d’assassinat symbolique“ 73 problematisiert, aber auch die platonischen Ursprünge jenes fundamentalen Misstrauens gegenüber der Fiktion, das in unserer Epoche, „extraordinairement platonicienne“, eine Renaissance erlebe; in dieser langen Traditionslinie wird auch der ihr selbst vorgehaltene angebliche „plagiat psychique“ kontextualisiert. 74 Darrieussecq (psycho-) analysiert den Diskurs rund um das Plagiat 75 und hinterfragt ‚Originalität‘ („[c]ette vieille antienne“) als längst brüchige ästhetische Kategorie: „Je ne crois pas en l’originalité comme critère littéraire. Corollaire: je ne suis pas une obsédée du plagiat.“ 76 Vor diesem Hintergrund ist Clèves, in mancher Hinsicht fiktionale Fortschreibung des Rapport de police, auch als literaturtheoretisches Statement zu interpretieren: „Se consacrer au pastiche, pour se délivrer du plagiat, en quelque sorte…“. 77 In diesem Sinne liest Rolla Clèves als poetologische „revanche“ Darrieussecqs, 78 „consécration narrative“ der im Rapport formulierten Thesen, 79 „légitimation“ der eigenen hypertextuellen Schreibpraxis 80 : „De ce massiven Attacken und Nachstellungen von Seiten völlig Unbekannter ausgesetzt, unpublizierter Autoren, die ihr Ideen- oder auch gleich Manuskriptdiebstahl vorwerfen (2011a: 12ff.). 69 Ibid.: 11f. 70 Ibid.: 11. 71 Mehrfach kommt Darrieussecq in Rapport de police auch auf La Princesse de Clèves zu sprechen, so in Bezug auf die historische Konfiguration der „notion d’auteur“ (ibid.: 26); ausgehend von der ‚Affäre‘ Sarkozy problematisiert sie die Opposition von ‚lesbarer‘ bzw. ‚nützlicher‘ und angeblich ‚unlesbarer‘ hermetischer Literatur: „C’est dans le même esprit que le président de la République française se gausse aujourd’hui de La Princesse de Clèves, qui serait illisible par une ‚guichetière‘, et l’évalue en termes d’utilité sociale“ (ibid.: 279, vgl. auch 417). 72 Kaprièlian 2010: 20. 73 Darrieussecq 2011a: 22. 74 „Homère, dit Platon, n’a pas fait la guerre: c’est déjà très limite, selon Platon, qu’Homère se permette de se mettre à la place des vrais gens qui l’ont faite, eux. Mais ce qui est intolérable, c’est qu’il l’écrive à la première personne - c’est le ‚plagiat psychique‘, l’usurpation maximale“ (zit. bei Kaprièlian 2010: 20). Zur platonischen Dimension postmoderner Plagiats-Diskurse und konkret der Affäre Laurens vgl. insbesondere Rapport de police (2011a: 21f., 338). 75 Die zeitgenössische Obsession des Plagiats zeuge, so Darrieussecq, nicht zuletzt von „une grande confusion quant à ces deux grandes catégories occidentales que sont le même et l’autre“ (2011a: 19). Bloom kommentiert seinerseits jene symptomatische „Angst, Einfluß zu haben, doch auf diesem Gebiet ist keine Umkehrung eine wirkliche Umkehrung“ (1995: 10). „Une anxiété du futur“ als Korrelat zu Blooms vergangenheitsorientierter „Anxiety of Influence“ konzipiert in diesem Sinne Budick; vgl. den gleichnamigen Abschnitt in Rabau 2002a: 215-218 (Auszug aus Budick 1991: 31f.). 76 Darrieussecq 2011a: 194f. 77 Vgl. Samoyault 2013: 40; dazu auch Rolla 2012: Abs. 26f. 78 Vgl. den entsprechend betitelten Abschnitt ihrer Analyse: „Clèves: la revanche de Marie Darrieussecq“ (ibid.: Abs. 28ff.). 79 Ibid.: Abs. 31. 80 Ibid.: Abs. 30. <?page no="228"?> 228 Marie Darrieussecqs Clèves point de vue, chaque écrivain aurait donc le droit d’écrire en exploitant son patrimoine mémoriel tout comme chaque lecteur peut se permettre de lire en faisant appel au sien. Dans cet appel aux armes pour défendre leurs droits, que Darrieussecq adresse aux écrivains et à leurs lecteurs, toute polémique sur le plagiat semble perdre sa consistance et son importance.“ 81 An diesem Punkt kommt die Leserin ins Spiel - sowohl jene imaginäre Leserin, deren ‚ideales‘ Bild ein Text wie Clèves, mit der Titel-Allusion angefangen, gezielt konstruiert, 82 als auch die reale Leserin des Romans, Mitbewohnerin des bunten „pays du déjà lu“. 83 In ihren Reflexionen über den Schreibakt rekurriert Darrieussecq wiederholt auf jene Schlüsselmetapher des Resonanzraums; auch das Bewusstsein der Leserin mit ihrer eigenen idiosynkratischen „bibliothèque intérieure“ 84 stellt einen ebensolchen dar. 85 Gerade ein Text wie Clèves, in dem multiple „Leerstellen“ 86 die Rezipientin zur kreativen Partizipation einladen, 87 konfrontiert diese mit dem Echo ihrer eigenen ‚Stimme‘ und macht derart die „dimension mémorielle de la littérature - à savoir le bagage culturel qu’un écrivain et son lecteur partagent avec les auteurs et les œuvres de leur temps“ 88 ebenso deutlich wie die Tatsache, dass das lesende Subjekt dem literarischen Text niemals ‚allein‘ gegenübersteht. 89 In ihrem paratextuellen Diskurs bekennt Darrieussecq sich zu einer Poetik der produktiven Verstörung 90 und der Herausforderung: „[…] je demande à mon lecteur un effort, une intelligence: je n’écris pas pour le distraire ni pour lui plaire mais pour l’inviter à regarder le monde d’une autre façon, et pas forcément d’une façon commode. Mes livres ne sont pas confortables, et j’espère bien laisser des traces.“ 91 Dieser Anspruch prägt nicht nur den im Zusammenhang mit Plagiatsaffäre Nr. 2 bereits erwähnten Roman Tom est mort (Darrieussecqs 81 Ibid.: Abs. 32. 82 „[…] Marie Darrieussecq cligne de l’œil au lecteur, et […] on peut déjà percevoir que, par ce titre à valeur connotative et pouvoir évocateur si forts, l’auteure pense à une typologie de lecteurs bien précise: mais précisément, quel peut être le lecteur modèle de Clèves? “ (ibid.: Abs. 3). 83 Darrieussecq 2011a: 18f. 84 André Malraux (L’Homme précaire et la littérature, 1977), zit. bei Schlanger 2008: 138. 85 „Ça commence et mon crâne est la chambre où résonnent les accords. Lire ce texte c’est écouter“, schildert Darrieussecq ihr eigenes Erleben als Leserin - hier konkret von Rilkes Requiem (1908) - im Essay Être ici est une splendeur (2016: 1409), dessen Titel einen Versteil („Hiersein ist herrlich“) aus Rilkes siebenter Duineser Elegie zitiert (vgl. Rilke 1997b: 31). 86 Vgl. Iser 1984: 265ff. 87 „[…] Mme de La Fayette ne cherche pas […] à imiter le flux désordonné d’une conscience qui émerge […]“, konstatieren Dufour-Maître und Milhit (2004: 55); bei Darrieussecq werden die Harmonie und die geschlossene Architektur des Textes, eine im Doppelsinn ‚klassische‘ Syntax gesprengt. Ihren „frequent refusal of classical syntax, and employment of often elliptical structures whose syntactic breakdown creates meaning“ analysiert Chadderton (2012: hier zit. 114) vor allem an Bref séjour chez les vivants, Le Bébé und Le Pays; auch Clèves präsentiert sich als bewusst fragmentarischer, lockerer, ja löchriger Text, dessen Erzählduktus die einer assoziativen Logik folgende Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonistin widerspiegelt und der sich so einer allzu ‚glatten‘ Lektüre verweigert. 88 Rolla 2012: Abs. 10. 89 „Jamais un lecteur ne se retrouve vraiment seul face à un texte littéraire, même quand il lit seul: l’œuvre est toujours reçue à travers des médiations qui la redestinent, c’est-à-dire qui en configurent la communication (destination et réception) selon une idée, ou plutôt une forme spécifique du commun où elle doit résonner“ (Merlin-Kajman 2010: 61f.). 90 „La littérature est aussi là pour semer le désordre, et pas pour nous réconcilier“ (Darrieussecq in Kaprièlian 2010: 18). 91 Flamerion 2007. <?page no="229"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 229 eigener Einschätzung nach „un livre très dur, difficile à lire. Il n’y a pas d’échappatoire possible, sauf à fermer le livre“ 92 ), sondern auch Clèves, literarisches Spiel unter Einbeziehung der Leserin, die mit ihrer intertextuellen Kompetenz bzw. Disponibilität die unterschiedlichen Bedeutungskomponenten des Werkes im Zuge ihrer Lektüre erst aktiviert (oder auch nicht). 93 Und wieder nähern wir uns einer schon einleitend angesprochenen zentralen Frage jeder Poetik der réécriture: Muss ein Roman wie Clèves durch das Prisma der Princesse gelesen werden? Darrieussecq zufolge nicht unbedingt: Noch während der Redaktion reflektiert sie die komplexe literaturtheoretische Verortung von Hypertextualität zwischen Autorin und Leserin. Bemerkenswerterweise findet die explizite Referenz erst zeitversetzt Eingang in den Text; das Dorf Clèves trägt seinen Namen zunächst nur im Kopf der Autorin: „Entretemps, le titre (provisoire toujours) est devenu Clèves […]: c’est le village où cela se passe qui s’appelle Clèves, bien que je ne l’aie toujours pas nommé dans le livre. Donc, à la limite, il ne s’appelle Clèves que pour moi.“ Auch wenn der Roman für sie als Textproduzentin sehr konkret auf der Matrix ihrer „lecture de La Princesse de Clèves“ basiere, sei es ohne Weiteres möglich, ihn abseits dieser Referenz zu rezipieren: „[…] le lecteur pourrait le lire sans penser une seule seconde à La Princesse de Clèves“, erklärt Darrieussecq, die ihr Werk nach Vollendung „de tout un travail mental qui, d’une certaine façon, n’appartient qu’à moi“ 94 aus ihrer Interpretationshoheit entlässt und der Leserin - über die auktoriale Intention hinaus - eine Schlüsselrolle im Prozess der literarischen Bedeutungskonstitution einräumt. 95 Sein volles Potential entfaltet dieser vom Titel an mit diversen „clins d’œil à la patrimoniale Princesse de Clèves“ 96 durchsetzte Roman allerdings wohl erst bei Berücksichtigung dieser hypertextuellen Zusatzbzw. Tiefendimension. 92 Ibid. 93 Als poetologische Mini-Parabel ist in diesem Sinne auch die Novelle „Simulatrix“ (2003) zu lesen: Der Text illustriert auf diegetischer Ebene die Schlüsselrolle der Leserin bzw. Zuhörerin als Ko-Autorin, in deren Bewusstsein sich das zunächst chaotisch anmutende Geplapper ihres Gegenübers erst zur kohärenten ‚Geschichte‘ formiert. Wie der Schreibprozess wird die nur scheinbar passive Attitüde der empathischen Rezipientin als kreativer Akt der Selbst-Absentierung charakterisiert (Darrieussecq 2006a: 121-140, hier 125). 94 Kaprièlian 2010: 4. 95 Dies zeigt Darrieussecqs Kommentar zur Rezeption ihres ‚Gespensterromans‘ Naissance des fantômes in Argentinien, wo der Text nicht nur aus psychoanalytischer Perspektive, sondern auch - von der Autorin ursprünglich nicht intendierte, aber als legitim anerkannte Lesart - als politische Allegorie interpretiert wurde: „[…] dans ce pays aux trente mille disparus, ce roman avait été lu comme une protestation in memoriam, comme un geste politique. Cet accueil fut le plus bel hommage qu’on ait rendu à Naissance des fantômes, et j’ignorais, en l’écrivant, qu’il parlait aussi de ça. On ignore toujours ce que la fiction peut prendre en charge, et cette ambiguïté est précisément sa force“ (2011a: 385). „À Buenos Aires, les gens avaient une lecture très psychanalytique du livre mais en plus ils y voyaient une dimension politique. […] Tout cela a un rapport très profond avec ce que j’écris même si cela n’était pas volontaire“, erläutert Darrieussecq schon im Interview mit Barraband/ Gassmann (2005: 13). Zu ihrem komplexen Spiel mit der Leserin („Paradoxically […] the narrator asserts authority over the reader by allowing them equality“) vgl. auch Chadderton 2012 (hier zit. 87). 96 Leyris 2011. <?page no="230"?> 230 Marie Darrieussecqs Clèves „Une sorte de réécriture“: Clèves im inter- und intratextuellen Kontext Die Leserin als (Ko-)Autorin, die Autorin als Leserin 97 - vor dem Hintergrund dieser einleitenden Überlegungen stellt sich die Frage: Wie ‚funktioniert‘ Clèves konkret als Princesse- Hypertext? Wie ist der Roman aus transtextualitätstheoretischer Sicht einzuordnen? Die paratextuellen Äußerungen Darrieussecqs selbst zu diesem Thema sind von bezeichnender Uneindeutigkeit: „Le livre n’est pas une réécriture mais il a été nourri par ce texte classique […]“, erläutert sie im Interview mit Sylvain Bourmeau. 98 Andernorts freilich charakterisiert sie ihr Projekt als „[u]ne sorte de réécriture, pour le dire vite“, 99 den fertigen Text schließlich explizit als „une réécriture à l’envers“ der Princesse. 100 Alternativ spricht Darrieussecq aber auch von ihrem „rewriting“ 101 bzw. „‚remake‘ de La Princesse de Clèves“ 102 - worauf ein wohlmeinender Kritiker Wert auf die Feststellung legt, Clèves sei keinesfalls „comme un vulgaire remake du chef-d’œuvre de Mme de La Fayette“ zu betrachten 103 (immer wieder ist im auktorialen wie kritischen Diskurs diese symptomatische prophylaktische Defensivreaktion gegenüber einem ‚originalitäts‘-fixierten Literaturverständnis zu beobachten, dem réécriture wie Remake prinzipiell verdächtig sind). Doch erklärt sich das terminologische Zögern auch aus der Komplexität eines in mehrfacher Hinsicht transgressiven Textes selbst. 104 Beschränkt sich ein Rezensent pragmatisch auf die 97 Hinsichtlich dieser Poetik einer doppelten lecture-(ré-)écriture (zum Konzept der „écriture-lecture“ vgl. Kristeva 1969: hier zit. 144) sind auch Darrieussecqs Reflexionen über ihre translatorische Tätigkeit aufschlussreich, stellt die Übersetzung doch „une des formes les plus importantes et les plus fréquentes de réécriture“ dar (Fraisse/ Mouralis 2001: 252). Unter Rekurs auf den Text/ Textil-Topos akzentuiert Darrieussecq deren „aspect tricot“; die Lust am fremden Text wird aber auch in eine scherzhaft erotisierte Metaphorik gefasst: „Je pense que je mets ma langue au service d’une autre langue (ça fait un peu ‚french kiss‘). Tout en gardant une liberté, peut-être une audace, qui vient de l’écriture.“ Daneben meditiert sie über jenen „repos“, den die Möglichkeit, sich an einem präexistenten Text ab- und entlangzuarbeiten, für sie bedeute. Übersetzung als Liebesakt: Nicht umsonst erklärt Darrieussecq, prinzipiell nur Texte zu übersetzen, für die sie die ‚Verantwortung‘ übernehmen könne („Il faut que je sois en accord avec le livre, il faut que je l’aime, même“), in einer von Werk zu Werk unterschiedlichen Dosierung von Texttreue und kreativer Variation. Während der kanonische antike Autor ein höheres Maß spielerischer ‚Untreue‘ verträgt („Ovide pouvait tout supporter“) und Darrieussecq mit ihrer Übersetzung - die Tristia und Epistolae ex Ponto werden unter dem ironisch Lévi-Strauss’schen Titel Tristes Pontiques fusioniert - ihren Ovid kreiert („j’en ai fait mon Ovide“), verlangt der Erstling einer debütierenden Romancière wie Margaux Fragoso nach relativer ‚Wörtlichkeit‘: „[…] c’était son premier livre, je ne pouvais pas prendre les mêmes libertés. Et puis Ovide il n’y a rien à ‚améliorer‘, alors qu’avec un premier livre on est parfois tenté de se dire: ‚je n’aurais pas écrit ça comme ça‘. Mais ce n’était pas mon livre, donc je traduisais mot à mot […]“ (Robert 2013). 98 Bourmeau 2011. 99 Darrieussecq 2007b. 100 Leyris 2011. 101 Bourmeau 2011. 102 Darrieussecq/ V 2011. 103 Leménager 2011. 104 Darrieussecq selbst betont die poetische Dimension ihrer Prosatexte (auch deren Genese vollziehe sich „[p]oétiquement, c’est-à-dire au niveau du travail du matériau, les mots“) und allgemein - entgegen der „invention rhétorique“ der literarischen Gattungen - die Kontinuität von „poésie“ und „roman“ (Kaprièlian 2010: 8f.). <?page no="231"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 231 Formulierung vom „Transfer eines Klassikers“, 105 so unternimmt Chiara Rolla unter Rekurs auf Gérard Genettes Hypertextualitätsmodell den Versuch einer präziseren Einordnung von Darrieussecqs von vornherein zu einer „lecture oblique“ einladendem Roman: „Parodie, pastiche, ironie, sont alors les catégories qui peuvent être évoquées pour essayer de le définir. Celles-ci ne se caractérisent pas […] par une relation de co-présence, mais bien de dérivation, et elles relèvent moins de l’intertextualité que de l’hypertextualité.“ 106 Rolla situiert Clèves als „réécriture parodique“ in einer jahrtausendealten Tradition der Parodie und des Pastiches (und damit zwischen „opération de transposition, de transformation“ und „stratégie d’imitation“), betont aber auch - unter Verweis auf Vincent Jouve - die zentrale Rolle der Ironie in Darrieussecqs Text („cette écriture renversée se configure de plus en plus alors comme une écriture ironique“); 107 auf diese Dimension des Romans verweist auch die journalistische Literaturkritik (wiederholt wird die Flaubert-Referenz ins Spiel gebracht 108 ). „Quand la princesse s’appelle Solange, que le bal se transforme en kermesse, les carrosses en Alpine Renault et les jeunes filles en sauteuses patentées, l’on comprend que Marie Darrieussecq […] joue l’énorme contre-pied“: 109 Gerade in Form des hypertextuellen „contre-pied“ bzw. der parodistischen Gegenrede bringt Darrieussecqs Variation - auch mit diesem Begriff (im Sinne der Definition Milan Kunderas) schiene Clèves durchaus treffend beschrieben 110 - in einem konventionell-sakralisierenden Diskurs vernachlässigte Facetten ihres klassischen Prätexts ans Licht. Ob nun réécriture, Parodie, Pastiche, ironische Variation und/ oder „réactualisation“: 111 Diese neue (Anti-)Princesse geht als Produkt etlicher Experimente aus dem literarischen Labor der Autorin hervor - „j’ai essayé des tas de façons“, kommentiert Darrieussecq salopp die langwierige Genese ihres Romans. 112 „Si on écume la surface de La Princesse de Clèves, il reste des espèces de bulles“: Ihr hypertextuelles Verfahren charakterisiert sie mit dieser poeto- 105 Dehoust 2013. 106 Rolla 2012: Abs. 26. 107 Rolla (ibid.) unter Verweis auf Jouve 1997: 84. Vgl. dazu auch Colin 2013. 108 So zeigt sich Sorrente (2011) begeistert von Darrieussecqs „léger ton flaubertien de l’ironie“. 109 Payot 2011. 110 Eine Untersuchung der Textstrategie der „Variatio“ u. a. im Œuvre Darrieussecqs bietet Willocq 2014. 111 Rolla 2012: Abs. 4. 112 Darrieussecq/ V 2011. Ironischerweise spiegelt die Produktion des eigenen Textes die einstige Überforderung der erstmals mit der romanesken Einstiegshürde Lafayettes konfrontierten jugendlichen Princesse-Leserin. Während der Arbeit an Clèves gesteht Darrieussecq, die sich als sehr wenig plotorientierte Schriftstellerin charakterisiert („C’est vrai que je ne suis pas un écrivain à histoire, et c’est un regret“), eine gewisse Ratlosigkeit angesichts der ausufernden Romanpopulation dieses für ihre Verhältnisse untypisch ‚narrativen‘ Textes ein: „J’ai d’ailleurs eu un moment de panique, il y a quelques mois, parce que j’ai créé tant de familles, avec tellement d’histoires […] et tellement de croisements entre elles, que je me disais que je n’allais pas m’en sortir. Le récit tel qu’il se développait représentait plus de six tomes. Cela faisait trop et je ne savais plus par quoi commencer.“ In der Tat weicht Darrieussecq mit Clèves deutlich von früheren Werken ab; die Autorin selbst thematisiert die Suche nach der Herausforderung durch ein Projekt, mit dem sie an die Grenzen ihres literarischen savoir-faire stößt: „[…] dans ce livre qui s’appelle peut-être Clèves, je ne procède pas de la même façon. Quand on sait trop faire, ça devient dégoûtant: je n’ai pas envie d’écrire un livre que je sais faire, sinon je m’ennuie“ (Kaprièlian 2010: 5, 8, 11). Vgl. ihre parallele Reflexion in Rapport de police: „J’écris le livre que je ne sais pas écrire. Sinon, je m’ennuierais: le seul risque, pour moi, serait de me caricaturer moimême, de me plagier“ (2011a: 195). <?page no="232"?> 232 Marie Darrieussecqs Clèves logischen métaphore filée, 113 die sich in das in ihrem Werk zentrale maritime Imaginarium einschreibt. 114 Als „la réplique à facettes multiples d’une recherche qui hante Darrieussecq depuis longtemps“ 115 entfaltet Clèves seinen Bedeutungsreichtum einerseits vor dem Hintergrund des Lafayette-Prätexts, andererseits aber auch im intratextuellen Zusammenhang des Darrieussecq’schen Œuvres. Als metamorphotischer Roman knüpft der Text an ihren Erstling Truismes an; dieser privilegierte Bezug wurde von der Kritik wie von der Autorin selbst hergestellt: „C’est encore l’histoire d’une métamorphose: non celle d’une femme en truie, mais celle d’une petite fille en femme […]“, 116 erklärt Darrieussecq; nach „vos autres sources“ neben der Princesse de Clèves befragt, beschreibt sie Clèves auch als „un peu une réécriture de Truismes, qui était un livre assez autobiographique“. 117 Neben dem Konzept einer doppelten (inter- und intra-)hypertextuellen réécriture kommt hier mit dem - nicht strikt im literaturtheoretischen Sinne gebrauchten - Adjektiv „autobiographique“ ein anderes poetologisches Stichwort ins Spiel. Tatsächlich stellt Clèves das hybride Produkt der Kombination zweier unterschiedlicher Projekte dar: Je voulais depuis longtemps parler de l’adolescence. Alors j’ai eu l’idée de réécouter le journal intime que j’ai enregistré entre 14 et 17 ans. Comme j’ai toujours écrit de la fiction, je préférais enregistrer ce journal sur des cassettes. J’ai passé trois semaines avec ces bandes et tout m’est revenu d’un 113 Bereits während der Arbeit am Roman gebraucht Darrieussecq diese Metapher der literarischen ‚Schaumbildung‘ und des hypertextuellen ‚Abschöpfungsprozesses‘ (hier unter Verweis auf Marguerite Duras’ La Maladie de la mort [1982]): „[…] c’est comme une écume à la surface d’un livre qui ne s’est pas écrit et qui est pourtant là: c’est une sorte de geste littéraire, là encore, au sens où on parle de geste artistique. Le livre que j’écris actuellement serait ainsi une espèce d’écume - il sera peut-être relativement épais, il y a diverses sortes d’écumes… -, quelque chose qui resterait de tous ces livres qui me sont passés par la tête en pensant à La Princesse de Clèves“ (Kaprièlian 2010: 5). Auch ihre Betrachtungen über die philosophischen Aspekte des Schreibens - über den Text als Spur resp. ‚Schaum‘ vorangegangener mentaler Prozesse, jenes niemals restlos zugänglichen „quelque chose“, das sich vor der Sprache bzw. „hors langage“ situiert - fasst Darrieussecq in dieses Schlüsselbild: „Pour moi, ce processus est très lié à l’écriture: il se passe quelque chose avant l’écriture, avant la pensée par phrases, et c’est ce qui est le plus important. C’est cela qui va aboutir à ces quelques pages qui ne sont, au final, que des traces. Qu’une écume, si l’on veut“ (ibid.: 6). Auf eine nicht unähnliche Metaphorik von Schatten („we think not in words, but in shadows of words“) und Schaum rekurriert schon Vladimir Nabokov in seiner poetologischen Reflexion: „I don’t think in any language. I think in images […] and now and then a Russian phrase or an English phrase will form with the foam […]“ (1973: 30, 14, zit. nach Loison 2013: 266). 114 Vgl. Cortijo Talavera 2006; Patellière 2010; Stemberger 2014. Diese Meeres-Metaphorik erscheint als Konstante im metaliterarischen Selbstkommentar Darrieussecqs; ihre Poetik der Novelle - die als „une sorte de digression“ irgendwo am Rande bzw. „sur les bords d’un roman“ entsteht - formuliert die Autorin ebenfalls in maritimen Begriffen (2006a: 8 [Vorwort]). Aber auch die konkrete schriftstellerische Praxis erscheint aufs Engste mit dem liquiden Element assoziiert; Schreiben und Schwimmen kombiniert bevorzugt Darrieussecqs (auto-)fiktionalisiertes Alter Ego Marie Rivière (2005: 177f., vgl. auch 196). Hinsichtlich dieser Meeres-Motivik wäre wiederum an Duras anzuknüpfen: „Il y a une chose que je sais faire, c’est regarder la mer, peu de gens ont écrit sur la mer comme je l’ai fait dans L’Été 80“ (2012: 13; vgl. auch Duras 1996). 115 Rolla 2012: Abs. 9. 116 Thomine 2011. 117 Bourmeau 2011. „‚Truismes‘, c’est aussi moi. Je suis un genre de monstre! “, scherzt Darrieussecq auch im Interview mit Villovitch (2013). Augenzwinkernd präsentieren Marie und Cornille Clèves als „un autre roman ‚cochon‘“ (2014: 132); Leménager (2011) spricht von einer „réécriture hyperréaliste“ der Truismes. <?page no="233"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 233 coup […]. Un autre projet, ancien aussi - un rewriting de la Princesse de Clèves -, est venu télescoper celui-ci: j’ai réalisé que la princesse était aussi une adolescente, elle a 13 ans. 118 […] L’articulation des deux projets m’a pris du temps: […] 119 Neben der Inspiration durch den klassischen Prätext („ça m’aura insufflé une dynamique“ 120 ) wird hier auch autobiografisches Material verarbeitet: Aus besagtem Audio-Tagebuch ihrer Jugend übernimmt Darrieussecq „des phrases, des clichés, des idioties“, „des dialogues assez longs“, 121 aber auch so manches Element soziohistorischer Kontextualisierung. Was bedeutet dies für die Einordnung des Romans, im Werk Darrieussecqs „l’un de ses plus personnels et universels à la fois“, 122 polyphoner Text, in dem Lafayettes Princesse und die fiktional verfremdete Stimme der adoleszenten Marie Darrieussecq in einen anachronistischen Polylog treten? In der Literaturkritik wurde Clèves gelegentlich - und zu Unrecht, wie gleich angemerkt sei - dem „Genre skandalumwitterter französischer Autofiktion“ zugerechnet. 123 Ihren Umgang mit autobiografischen Quellen - auch in dieser Hinsicht fungiert Clèves als Matrix und Resümee poetologischer Selbstreflexion - fasst Darrieussecq wiederum in eine Meeres-Metapher; mit der Präsenz jenes „matériau autobiographique“ in ihrem belletristischen Werk verhalte es sich wie mit „la ‚laisse‘ de la mer qui oscille“: „je prend un peu plus, un peu moins, quoi“. 124 Auch wenn sie sich als leidenschaftliche Leserin von Autobiografien outet („j’adore ça“) und ihre Dissertation dem Genre Autofiktion gewidmet hat, 125 sieht Darrieussecq sich selbst quasi exklusiv als Autorin fiktionaler Texte („moi, j’écris de la fiction, c’est ça qui m’excite […] c’est ça qui m’intéresse“) und nicht als „écrivain d’autofiction“, 126 mit Ausnahme allenfalls des Pays, „peut-être le plus proche que j’ai fait d’une autofiction“. 127 118 Hier verrechnet Darrieussecq sich knapp: Lafayettes Heldin absolviert ihr Debüt bei Hof „dans sa seizième année“ (Lafayette 2014c: 338). Darrieussecq selbst lässt ihre Handlung etwas früher in der Biografie ihrer Protagonistin einsetzen: Solange ist zu Beginn des Romans zehn Jahre alt; die zentrale amouröse Intrige entfaltet sich wenige Jahre später. 119 Bourmeau 2011. 120 Darrieussecq/ V 2010. 121 Darrieussecq/ V 2011. 122 Bourmeau 2011. 123 Teutsch 2013. Clèves sei „dem Wesen nach eine Selbsterkundung“, wie die Rezensentin ein weiteres Mal betont (ibid.). Die Frage nach dem Status der Autofiktion in der französischen Gegenwartsliteratur bzw. auch nach der - ihrerseits stereotypisierten - Rezeption besagter „skandalumwitterter französischer Autofiktion“ etwa im deutschen Sprachraum führt uns an dieser Stelle zu weit; vgl. dazu Stemberger 2013a. Was Clèves betrifft, so wird der Roman auch im Negativ-Part eines kritischen Pro/ Contra- Diptychons im Express - hier in offen devalorisierender Intention - mit dem Genre (sexualisierter) Autofiktion assoziiert: „Mais si Clèves nous a paru un peu plus distrayant que La vie sexuelle de Catherine M., et si les lecteurs libérés y trouveront peut-être leur compte (de fesses), la lourdeur du propos exaspère vite et on peine à terminer ce roman qui porte complaisamment la plume dans la culotte“ (Peras in Ferniot/ Peras 2011). 124 Darrieussecq/ V 2011. 125 Darrieussecq 1997; vgl. auch Darrieussecq 1996. 126 Darrieussecq/ V 2011. 127 Ibid. Vgl. auch Darrieussecq 2007b; Kaprièlian 2010: 15. Wie Virginie Despentes („Moi, j’aime bien l’autofiction des autres. Je ne le ferais pas, parce que c’est dangereux. […] C’est une violence à la personne à qui ça arrive“; zit. nach Neuhoff 2010) oder Emmanuel Carrère (vgl. 2011: 323) artikuliert auch Darrieussecq gewisse ethische Vorbehalte gegenüber dem Genre („Je ne suis pas de ceux qui pensent que la littérature a tous les droits, et j’ai toujours veillé à ne pas, disons, agresser mes proches délibérément“); zugleich problematisiert sie das Etikett ‚Autofiktion‘ - im Gegensatz zum Roman, „si <?page no="234"?> 234 Marie Darrieussecqs Clèves Ausgehend von der Rezeption dieses Werkes - trotz der paratextuellen Etikettierung als Roman und der Präsenz etlicher Fiktionalitäts-Indikatoren vielfach nicht nur als autofiktionaler, sondern gleich als autobiografischer Text gelesen - reflektiert Darrieussecq den Hang allzu zahlreicher - auch professioneller - Leser zum biografistischen Kurzschluss, traditionelle Bewältigungsstrategie angesichts der „perturbation“, der „inquiétude“, 128 die innovatives literarisches Schreiben unweigerlich provoziere: […] il y a eu des malentendus amusants, des lecteurs qui voulaient absolument que ce soit moi, sans écart, qui parle dans ce livre. Beaucoup de gens, universitaires compris, ont cru par exemple que j’étais retournée vivre au Pays basque. Parce qu’il y a une narratrice écrivain (pour la première fois dans un de mes livres) 129 et qu’elle a des points communs avec moi. C’est inévitable, et quel que soit merveilleusement vaste“ - als potentielle Falle bzw. reduktives Rezeptionsmuster, aus dem sich ein/ e Autor/ in kaum mehr befreien kann (Darrieussecq 2007b). Im Unterschied zu in ihren Augen paradigmatischen Repräsentanten des Genres wie Pierre Loti, Blaise Cendrars oder Hervé Guibert (vgl. Kaprièlian 2010: 14f.) habe ihr Leben, wie Darrieussecq selbstironisch erklärt, aber ohnedies wenig spektakuläres Material zu bieten, abgesehen von der Prägung durch die starke „tradition autobiographique de silence dans ma famille“, sanktioniert durch eine Art „pacte familial“. Im selben Interview spekuliert Darrieussecq aber auch über ihre literarische Zukunft und die Eventualität eines autobiografischen (Alters-)Werkes: „Il n’est pas du tout exclu qu’un jour, quand je serai vieille, c’està-dire quand mes parents seront morts, je raconte ma vie […]“ (ibid.: 15ff.); noch entschiedener in Villovitch 2013: „Un jour, il est évident que je raconterai l’histoire de ma famille! “ 128 „La vraie littérature est, elle, synonyme d’inquiétude […]“, insistiert Darrieussecq auch im Gespräch mit Petit (2012: 3). 129 Abseits des Pays inszeniert Darrieussecq freilich noch weitere Schriftstellerinnen als Ich-Erzählerinnen und Protagonistinnen, dies vor allem im novellistischen Werk, am Rande des romanesken Œuvres situiertes Experimentierfeld mit prononcierter poetologischer Dimension. Die autofiktionale Inspiration gleitet hier immer wieder ins Grotesk-Phantastische hinüber, so etwa, wenn die Erzählerin der Novelle „Quand je me sens très fatiguée le soir“ (1997; in Darrieussecq 2006a: 11-18), explizit als Altersgenossin Darrieussecqs identifiziert, ihrem komatösen Klon namens ‚Marie‘ einen Besuch abstattet (ibid.: 13f.); ausführlich - und quasi en abyme - wird dieses Motiv zwei Jahrzehnte später im dystopischen (und zugleich metaliterarischen) Roman Notre vie dans les forêts (2017) mit seiner (um) ihr Leben schreibenden Protagonistin entfaltet. „Connaissance des singes“ (2005; in Darrieussecq 2006a: 37-54) setzt eine akut blockierte Schriftstellerin in Szene (ibid.: 39), die ihrerseits die aus kreativer Untätigkeit hervorgehende Autogenese des literarischen Textes („[…] ne pas écrire fait partie de l’écriture. On est là, assis à ne rien faire, et les livres se forment“) und den paradox passiven Schreibakt eines in einen bloßen Resonanzraum verwandelten Subjekts reflektiert („[…] je ne parvenais plus à m’oublier pour écrire. Je ne retrouvais plus cette absence à moi-même qui est comme une chambre d’échos, où le monde se met à bruire pour s’écrire à travers moi“; ibid.: 41f.). Zwischen einer weltreisenden Mutter, die ihre Tochter als Babysitterin eines sprechenden Affen namens Marcel zwangsverpflichtet, und einer verschollenen, plötzlich als etablierte Pariser Literaturkritikerin wieder auftauchenden Tochter („Ma salope de fille. […] Le cauchemar, pour une mère écrivain“) findet diese Heldin sich in einer doppelten ödipalen Falle wieder (ibid.: 51ff.). Aber auch im Zentrum der mit ironischer Transparenz psychoanalytisch inspirierten Novelle „My mother told me monsters do not exist“ (1999; in Darrieussecq 2006a: 141-153) steht eine in der Phase der „relecture“ des eigenen Werkes zu Publikationszwecken (ibid.: 143) von allerlei Ängsten und einem schließlich als extravagante Tochter adoptierten Hybrid-Monster heimgesuchte Schriftstellerin. „La Randonneuse“ (1988; in Darrieussecq 2006a: 155-180) kokettiert parodistisch mit dem Horror-Genre: Eine weitere „romancière en manque d’inspiration“ zieht sich in ein abgelegenes Haus im Gebirge zurück; die sommerliche „coquetterie de scribouilleuse“ (ibid.: 157) wird in der Einsamkeit des Winters und vor der Kulisse eines überaus ‚hollywoodesken‘ Schneesturms zum Alptraum, als ein unheimlicher Gast mit poetologisch nicht ganz unschuldiges Grauen erregenden „véritables griffes“ eintrifft (ibid.: 166). All diese schriftstellernden Zoo-Bewohnerinnen fungieren auch als Sprachrohre der Autorin und in ihrer zweifelhaften narrativen Zuverlässigkeit als Symbolfiguren einer längst brüchigen <?page no="235"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 235 le livre. […] certains lecteurs tiendront toujours à identifier le narrateur et l’auteur. Par angoisse, je crois. Comme s’il fallait absolument réduire et ordonner cette perturbation. 130 ‚Trash‘, Tabu und Transtextualität: Zur Rezeption von Clèves Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit Truismes und Le Pays kalkuliert Darrieussecq das Risiko autofiktionaler bis -biografischer (Fehl-)Interpretationen bereits während der Arbeit an Clèves ein; nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus pragmatischen Erwägungen experimentiert sie sukzessive mit unterschiedlichen Erzählstimmen. 131 Auf eine erste Version „à la première personne“ folgt ein Versuch heterodiegetischer, dann doch wieder homodiegetischer Narration, bis sie sich schließlich für eine Erzählung in der dritten Person - mit interner Fokalisierung auf Solange („comme héroïne, non pas narratrice“) - entscheidet. Wie Darrieussecq erklärt, habe sie es vermeiden wollen, etwa diverse „scènes de sodomie“ (und umso mehr „des scènes de ratage de sodomie“) in der ersten Person zu präsentieren: „Non, j’avais pas envie de m’exposer à ce point-là.“ Die schützende Distanz der „troisième personne“ erlaubt in diesem Sinne „plus de liberté“ in der Gestaltung ihrer Protagonistin, „pas tout à fait moi“ bzw., wie Darrieussecq unter ironischer Variation der Formel Flauberts bemerkt: „Cette Solange, oui… c’est moi et c’est pas moi, quoi.“ 132 Die Aufnahme von Clèves lässt ihre prophylaktische Defensivmaßnahme nachträglich mehr als gerechtfertigt erscheinen. Nach dem Skandalerfolg von Truismes sowie den erwähnten Plagiatsaffären stellt Clèves einen weiteren Höhepunkt in der kontroversen Rezeptionsgeschichte Darrieussecqs dar; 133 diese „épopée de la puberté“, 134 die auch im Jahr 2011 offen- Autorität (erst verspätet gibt die Protagonistin der verstörenden Weihnachtsnovelle „Noël parmi nous“ [2002; in Darrieussecq 2006a: 203-217] ein nicht unwesentliches Detail ihrer Identität preis - die ‚Tatsache‘ nämlich, dass sie, bereits vor vielen Jahren verstorben, aus einer unheimlichen Parallelwelt der Gespenster erzählt). Doch auch abgesehen von diversen diegetischen Autorinnen spielen schreibende Erzählinstanzen eine Schlüsselrolle; Darrieussecq selbst betont „le fait que beaucoup de mes narrateurs écrivent […] même s’ils ne sont pas ‚officiellement‘ écrivains“; metaliterarischer Kunstgriff, der elegant die Barriere des Anfangs zu überwinden erlaubt (Kaprièlian 2010: 10). 130 Darrieussecq 2007b. 131 Im Zusammenhang mit der Redaktion von Clèves reflektiert Darrieussecq allgemein die Konventionen der narrativen Stimme, die generalisierte Skepsis, die eine postmoderne literarische Kultur jenen traditionellen „narrateurs omniscients, à la troisième personne […] qui savent tout, chez Balzac ou dans Guerre et Paix“, entgegenbringt - aber auch den auf den zweiten Blick nicht minder ‚enigmatischen‘ Charakter der Erzählung in der ersten Person: „Mais la première personne est largement aussi énigmatique: comment y a-t-on accès? C’est une convention, mais elle me trouble un peu“ (Kaprièlian 2010: 11). 132 Darrieussecq/ V 2011; vgl. auch Petit 2012: 8. „[…] c’est une sorte d’alter ego, évidemment“: Auch in Bezug auf den Folgeroman Il faut beaucoup aimer les hommes betont Darrieussecq (V 2013b) ihre Affinität zu ihrer Protagonistin, mit unverkennbarer Sympathie als „ma petite Solange“ bezeichnet (Siméone 2013). 133 „On m’a accusée deux fois de plagiat, on m’a taxée de pornographie, on s’est inquiété pour mes pauvres enfants, on m’a dite inculte ou on m’a reproché ma thèse“, wie die Autorin selbst ihr Rezeptionsschicksal resümiert (vgl. Kaprièlian 2011). Spricht Michel Houellebecq von einer „‚guerre totale‘“, die die französische Kritik jahrelang gegen seine Person geführt habe („drôle de guerre au demeurant, où je suis désarmé; il serait plus juste de parler de guerre d’extermination totale dirigée contre moi“; Houellebecq/ Lévy 2008: 201), so spottet Darrieussecq über die ihr geltende „guéguerre littéraire“: „J’ai appris qu’on pouvait férocement me détester, j’ai parfois été stupéfaite par les arguments ou la déraison des adversaires, j’ai accepté d’avoir des ennemis“ (Kaprièlian 2011). <?page no="236"?> 236 Marie Darrieussecqs Clèves kundig noch das Zeug zum Tabubruch hat, provoziert allerlei „réactions violentes de rejet“. 135 Symptomatisch zunächst die Reaktion eines Teils der professionellen Rezensentenschaft, der die Princesse gegen Darrieussecqs angebliche ‚Vulgarität‘ verteidigen zu müssen glaubt 136 (auch die Rezeption von Clèves illustriert insofern eindrücklich die Monumentalisierung des sakrosankten klassischen Textes 137 ). Doch auch von Seiten ‚einfacher‘ Leser sieht Darrieussecq sich heftigen persönlichen Attacken ausgesetzt, die signifikanterweise vor allem um die Themen weiblicher Sexualität und Körperlichkeit kreisen, bis hin zur Zusendung von „lettres anonymes pleines de poils pubiens, ou de papier toilette“, mit denen die Schriftstellerin - im 134 Barnett 2011. 135 Leyris 2011. Unverblümt kommentiert Virginie Despentes (2011) den Tabubruch, den Darrieussecqs Schilderung weiblicher Sexualität aus desillusionierter Innenperspektive offenbar nach wie vor darstellt: „Ainsi la question ‚Darrieussecq verserait-elle dans le trash en publiant Clèves? ‘ peut aujourd’hui se poser, sans qu’on se couvre de ridicule. Le trash serait devenu le terme adéquat pour désigner le désir féminin, dès lors que ce désir passe par un corps. À l’extrême limite, la brigade du bon goût littéraire tolère encore les bites qui peinent à jouir et sentent le pipi de vieux, Philippe [sic] Roth passe encore, on sent que c’est tout juste, sans trop déranger les estomacs délicats de la critique hexagonale. Mais la petite chatte affolée de la Solange de Clèves: un digne silence accueille son explosion hormonale. Trop de fluides, sans doute.“ Despentes schreibt bekanntlich unter Pseudonym (habe sie ihrem Vater doch nicht zumuten wollen, „le papa de Baise-moi“ zu sein; vgl. Neuhoff 2010); auch Darrieussecq (2007b) konstatiert nachträglich, dass sie - hätte sie den Skandalerfolg der Truismes geahnt - ihre Karriere lieber pseudonym begonnen hätte, schon aus Rücksicht auf ihre Familie, „[d]’autant que ‚Darrieussecq‘ est un nom assez rare“. 136 „Aucune princesse, dans ce Clèves […]. Pas davantage de Madame de Lafayette […]“, erklärt in einem von programmatischer Antipathie getragenen Kommentar Enthoven (2011), der Darrieussecqs Roman als „version porno d’Hélène et les garçons“ disqualifiziert. „La p… de Clèves“ betitelt Leménager seine - bei allem ironischen Mitgefühl für das Schicksal der hypertextuell malträtierten „[p]auvre Mme de La Fayette“ insgesamt doch vorsichtig positive - Rezension im Nouvel Observateur (2011). Als literaturkritische Buchhalterin zählt Peras gewissenhaft die Okkurrenzen ‚vulgärer‘ Lexik im Roman und beanstandet „trop de ‚bite(s)‘ - nous avons compté soixante-trois occurrences sur 345 pages“ (Ferniot/ Peras 2011). Tatsächlich spielt Darrieussecq mit der Akkumulation von bites und sonstigen in der obsessiven Wiederholung verfremdeten sexuellen Vulgarismen, freilich nicht Provokation um ihrer selbst willen, sondern parodistisch gebrochene Reflexion des ‚pansexuellen‘ Weltbildes ihrer hormongequälten pubertierenden Heldin. Als Illustration jenes „universal phallocentrism“, unter dessen Bedingungen Darrieussecqs Figur ihre sexuelle Initiation erlebt, des Fehlens jeglicher „language or experience outside a masculine frame of reference“ interpretiert den frequenten Rekurs auf das entsprechende Vokabular Hoft-March: „[…] I would submit that this is precisely why the text is peppered with more than sixty-three mentions of the male member. The writer purposefully represents how, in the experience of a young girl growing up in the eighties, male sexuality, moreover a limited form of male sexuality, was ubiquitous and annoyingly unavoidable, dominating the landscape of human desire“ (2015: 183). „Si je commence à me dire que il [sic] y aura des journalistes assez idiots pour compter le nombre de fois où les personnages de Clèves diront le mot ‚bite‘… si je me mettais à redouter tous les malentendus possibles, je n’écrirais plus“, kommentiert die Peras’sche bitologie trocken Marie Darrieussecq (Petit 2012: 4). 137 „Pourquoi l’admiration regarde-t-elle en arrière, pourquoi préfère-t-elle le détour du passé? Pourquoi accorde-t-on un préjugé favorable à un livre ancien? Pourquoi juge-t-on plus sévèrement un écrivain contemporain qu’un vieil écrivain transmis par l’école? “, fragt Schlanger (2008: 95). Darrieussecq selbst lässt ihr Alter Ego in Le Pays einige ironische Überlegungen über unterschiedliche literarische Kulturen des modernen Okzidents anstellen: „J’étais française: j’aimais les écrivains morts. L’Amérique du Nord les aime à succès. L’Espagne les aime baroques. L’Angleterre les ignore“ (2005: 115). „In France, only dead writers are good writers“, erklärt sie auch im Gespräch mit Rees (2005). Ganz ähnlich resümiert Jean-Pierre Salgas 1997 die paradoxe Dynamik des literarischen Feldes der Gegenwart: „Un bon écrivain est de plus en plus en France un écrivain mort. Mieux peut-être, un écrivain qui sait assez bien faire le mort de son vivant“ (zit. bei Vuaille-Barcan/ Rolls 2006: 258). <?page no="237"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 237 Fall Darrieussecqs ‚strafverschärfend‘ auch noch Psychoanalytikerin und Intellektuelle 138 - gezielt auf ein verächtliches Sexualobjekt reduziert wird: 139 „[…] une lettre m’a conseillé de me ‚faire mettre par un Arabe‘ (c’est un thème récurrent, chez les anonymes), une autre de rouler mon roman Clèves pour m’en faire un Tampax. Jean-Edern Hallier disait de Duras, 140 toujours elle, qu’elle écrivait ‚de la littérature Tampax‘.“ 141 Eben Marguerite Duras taucht in Darrieussecqs Reflexionen über die latente bis offen aggressive Misogynie von Literaturkritik wie Lesepublikum, über den nach wie vor marginalen Status der schreibenden Frau („Je crois aussi qu’une femme qui écrit, ça rend fou certains hommes et certaines femmes […]. Une femme qui écrit est une marginale, fondamentalement“ 142 ) als Referenzfigur wiederholt auf - Schutzheilige auch der zeitgenössischen Schriftstellerin, 143 dieser ‚Hexe‘ sui generis, 144 der man gelegentlich immer noch einen metaphorischen Scheiterhaufen errichte. 145 In jenem Interview zur Princesse de Clèves bezieht 138 „Peut-être y a-t-il un contraste insupportable entre mon image de normalienne et les livres que j’écris. Je n’écris que sur la mort et le sexe, mais en public je ris de ce qui m’ennuie. J’ai l’air trop et pas assez sérieuse. Ajoutez à ça la psychanalyse, le désir que j’ai de travailler l’inconscient: assez, qu’elle disparaisse“ (Darrieussecq in Kaprièlian 2011). 139 Eine alternative Erfahrung geschlechtsspezifischer Attacken macht Darrieussecq im Zusammenhang mit Le Bébé (2002). Diesem „livre d’une mère écrivain“ bleibt themenbedingt der Pornografie-Vorwurf erspart; dafür sieht sich die Autorin anderweitig mit „des réactions très agressives“ angesichts der angeblichen Trivialität ihres (‚weiblichen‘) „sujet mineur“ konfrontiert: „Je me souviens en particulier d’un journaliste qui a dit que j’aurai mieux fait de jeter le livre avec les couches sales de mon fils. […]. On m’interdisait d’avoir un discours d’intellectuelle sur le bébé. […] il y a peu de livres sur les bébés parce que c’est ‚interdit‘ en littérature: on ne peut pas être mère et écrivain“ (Barraband/ Gassmann 2005: 14); als „a vigorous act of political, aesthetic and ontological resistance to cliché“ würdigt den Text die gender-sensibilisierte Literaturwissenschaftlerin (Jordan 2005: 98). Zu Le Bébé als von der Kritik teilweise höchst negativ kommentiertem Kampf „contre les clichés“ rund um die Mutterschaft vgl. auch Darrieussecq 2016: 1145f. 140 In La Vie matérielle - an diesen Band knüpft Darrieussecq mit dem Titel ihres Folgeromans zu Clèves an - meditiert Marguerite Duras nicht nur über das Geschlecht bzw. die ‚Weiblichkeit‘ der Literatur („[…] depuis des millénaires, le silence c’est les femmes. Donc la littérature c’est les femmes. Qu’on y parle d’elles ou qu’elles la fassent, c’est elles“; 2012: 118), sondern auch über Autorinnen und Autoren als „des objets sexuels par excellence“ (ibid.: 87), die Erotisierung des schreibenden Körpers, die vor den „romancières, même de soixante-dix ans“ nicht haltmacht (vgl. „Vous ne voulez pas? “; ibid.: 134), sowie über die im Fall der Schriftstellerin potenzierte Ambivalenz sexualisierter Autorität (vgl. ibid.: 86). 141 Kaprièlian 2011. „Le voilà - Frankreichs erster Damenbindenroman“, erklärt in bemühter Witzigkeit auch die Rezensentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der zufolge Darrieussecq sich „als Madame de La Fayette ihrer Zeit an die Spitze einer neuen Körperbewegung [setzt]“ (Teutsch 2013). 142 Kaprièlian 2011. 143 „Si je m’autorise à l’écriture c’est grâce au legs de ces deux femmes [Marguerite Duras und Nathalie Sarraute, MS]. Ni plus ni moins, envers et contre tous“ (Darrieussecq 2006b: 164, zit. nach Chadderton 2012: 28). Es sei Duras, der sie „[l]’audace d’écrire“ ursprünglich verdanke, wiederholt Darrieussecq auch nach dem Erfolg von Il faut beaucoup aimer les hommes (Grosjean 2015). 144 Sorgina bzw. Sorguina (baskisch ‚Hexe‘) lautet der Titel von Darrieussecqs erstem, von der siebzehnjährigen Verfasserin selbstbewusst an Minuit und Gallimard verschicktem, jedoch niemals publiziertem Manuskript (vgl. Terrasse 2007: 265); siehe auch den kurzen Auszug aus „Sorguina, un des tous premiers romans, non publié“ auf der Website der Autorin (URL: http: / / www.mariedarrieussecq.com/ autres_textes [01.08.2018]). 145 „[…] ainsi, dans le théâtre de la solitude profonde qui est pendant des siècles celui de sa vie, de cette façon, la femme voyage. […] C’est dans ce cas qu’elle est promue sorcière, comme vous l’êtes, comme je le suis, et qu’on la brûle“, heißt es in Duras’ Vie matérielle (2012: 72). <?page no="238"?> 238 Marie Darrieussecqs Clèves Darrieussecq auch die Heldin Lafayettes in diese literarische Familie der rebellischen Frauen mit ein: „La Princesse est héroïquement asociale. Son inaction fait d’elle une rebelle mieux que si elle avait hurlé son refus (là, on l’aurait brûlée - c’est encore le temps des sorcières).“ 146 Von der Princesse bis Clèves: Zur Genese eines Hypertexts Die so kontrovers rezipierte Geschichte ihrer hypertextuellen Nachfahrin entsteht also auf verschlungenen Wegen, im Rahmen eines literarischen Experiments, in dessen Verlauf sich Erzählperspektive und -stimme, aber auch Titel und Setting der Handlung mehrfach ändern. Der spielerische (Ab-)Schöpfungsprozess beginnt an den paratextuellen Ufern von Lafayettes Werk: 2007 kündigt Darrieussecq einen Roman unter dem noch unmissverständlicher intertextuell inspirierten Titel La Princesse de Clèves an. 147 Auf diesen ersten Arbeitstitel - der auf den Spuren von Borges’ „Pierre Menard, autor del Quijote“ 148 auf den Effekt der Differenz in der wörtlichen Wiederholung setzt - verzichtet Darrieussecq, die zunächst mit dem ironischen „geste littéraire“ eines weißen Covers samt lapidarem Paratext „Marie Darrieussecq, La Princesse de Clèves, P.O.L.“ liebäugelt, 149 angesichts der ‚Affäre‘ Sarkozy: 150 „[…] maintenant, cela ressemblerait à une espèce de geste politique, alors que ce n’est pas du tout mon propos.“ 151 Der Titel des Romans - zugleich dessen narrative Matrix („j’ai toujours le titre au début du livre, à sa naissance“ 152 ) - schrumpft von La Princesse de Clèves auf ein enigmatisches ‚C‘ als Ort der Handlung; 153 schließlich pendelt er sich bei einem knappen Clèves ein, zumindest in einem französischen Kontext transparentes, aber weniger eindeutiges ‚Augenzwinkern‘ an die Adresse der Leserin, 154 „titre thématique“, der sämtliche bei Genette für diese paratextuelle Kategorie vorgesehenen Funktionen erfüllt. 155 146 Darrieussecq 2009b: VIf. 147 Darrieussecq 2007b; vgl. auch Dutton 2009. 148 Borges 2008c. „[…] notre ami, et confrère, Pierre Ménard“ erweist auch Genette seine Hommage (2003: 556, vgl. auch 29, 359ff., 449f., 548). Siehe dazu auch Rabau 2002b: 28f., sowie den Abschnitt „L’identité du texte. Pierre Ménard et les deux jumeaux“, in Rabau 2002a: 135-141 (Auszug aus Goodman/ Elgin 1986). 149 Kaprièlian 2010: 4. 150 „Given the recent renewal of interest in the original however, she may have to revise her plans. Perhaps the President’s views on literature may have an even greater impact on contemporary writing than they have had on its revival of the literary canon“, bemerkt Dutton (2009) bereits in der Entstehungsphase des Romans. 151 Kaprièlian 2010: 4. 152 Ibid. 153 Darrieussecq/ V 2010. 154 Vgl. Rolla 2012: Abs. 3. Lafayette setzt mit La Princesse de Clèves auf einen in den Augen und Ohren ihrer Zeitgenossen mit beträchtlicher Suggestionskraft ausgestatteten Namen, der eine ganze „légende“ rund um die Dynastie der Clèves evoziert (vgl. Rambaud 2006: 51ff.). „Le titre a de quoi faire rêver aujourd’hui. Une princesse. Un nom propre aux sonorités liquides, ouvertes et qui se termine en douceur sur un e muet“, bemerkt Levillain - und demontiert diese märchenhafte Vision als „un anachronisme grossier“, wählt Lafayette doch gezielt „un patronyme appartenant à une noblesse reconnue“, im Gegensatz zu jenen „prénoms exotiques qui avaient rendu célèbres les romans précieux“ sogar „loin d’être fantaisiste“ (1995: 25ff.). Wenngleich dieses Hintergrundwissen bei einem heutigen breiteren Publikum nicht mehr vorausgesetzt werden kann, funktioniert der Name als allgemeinkulturelle - und im Gefolge der Anti-Sarkozy-Protestbewegung hoch politisierte - Referenz nach wie vor verlässlich in einem französischen Kontext. Außerhalb Frankreichs gilt dies - zumindest abseits einer literarisch <?page no="239"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 239 Mit diesem Titel korrespondiert das provokant verknappte Resümee auf der quatrième de couverture: „Solange se demande s’il vaut mieux le faire avec celui-ci ou avec celui-là.“ Dieser Satz - „une sorte de prolongement narratif en dehors des limites spatiales, un commentaire […], ou encore une synthèse, très dépouillée mais décidément efficace“ 156 - findet sich freilich nicht im Roman selbst wieder und deutet insofern ein weiteres Mal die für das gesamte Projekt konstitutive Geste der transtextuellen Grenzüberschreitung an. Ähnlich ein neues paratextuelles Element, das mit der Folio-Taschenbuchedition (2013) ins Spiel kommt: Das Cover ziert hier die Fotografie eines Paars roter Damen-Lederstiefel. 157 Diese bleiben zwar leer, gehören aber - wie die Leserin von Clèves weiß bzw. bald erfährt - zu einer bestimmten Figur im Roman (nämlich der Mutter Roses, den ganzen Text hindurch leitmotivisch mit ihrem Zwillings-Fetischobjekt assoziiert). Abgesehen von der Referenz auf diverse Märchen-Topoi und einem parodistischen psychoanalytischen Subtext stiften diese Stiefel eine signifikante Verbindung zwischen intra- und extradiegetischer Ebene; über die Gestalt der gestiefelten Frau - als einzige progressive Intellektuelle von Clèves paradigmatische Außenseiterin, Hass- und Spottobjekt („C’est une dingue […]. Une dingue, doublée d’une conne“, erklärt Solanges schürzenjagender Vater 158 ) - scheint die Autorin (die mit besagter Figur auch ihre wiederholt in poetologischem Kontext reflektierte Schwimmleidenschaft teilt) nicht zuletzt mit ihrem (Zerr-)Spiegelbild zu spielen. Das Auftauchen dieses diegetischen Motivs auf dem Cover eines Romans, mit dem die postmoderne Schriftstellerin in die Fußstapfen Lafayettes tritt, verbildlicht einen symbolischen Schritt über den Text hinaus - und lädt auch die Leserin gleichsam dazu ein, diese metaleptischen Zauber-Stiefel in einem hypertextuellen Experiment anzuprobieren. Aber auch die Subtitel der einzelnen Abschnitte („Les avoir“, „Le faire“, „Le refaire“) lassen sich - abgesehen von ihrer konkreten Bedeutung im Rahmen der Biografie der jugendlichen Protagonistin 159 - als poetologisches Programm en miniature lesen („c’est le refaire qui est compliqué“, so der doppelbödige Kommentar der Autorin 160 ). Nicht minder programmatisch ist das Motto aus Rilkes Malte Laurids Brigge, das Darrieussecq ihrem Text voranstellt: „Est-il possible que l’on ne sache rien de toutes les jeunes filles qui vivent cependant? Est-il possible gebildeten franko-affinen Leserschaft - wie gesagt nur sehr bedingt; nicht zufällig substituiert die deutsche Übersetzung Clèves durch den kommerziell mehr versprechenden Titel Prinzessinnen (2013). Während der Titel Clèves die Leserin von Anfang an in ein hypertextuelles Spiel mit einbezieht, geht hier ein wesentliches rezeptionssteuerndes Element verloren. Aufschlussreich sind in diesem Sinne auch die Lösungen, die andere Übersetzungen - zwischen Treue gegenüber der literarhistorischen Dimension des Originaltitels und marketingstrategischen Erwägungen - finden: Verschwinden aus dem Titel der englischsprachigen Version All the Way (2013) sowohl die Princesse als auch Clèves, so befestigt die schwedische Übersetzung vielmehr die Lafayette-Referenz: In Flickan i Clèves (2013) klingt deutlich genug der Titel von Lafayettes Roman - Prinsessan de Clèves - mit. 155 Und zwar konkret „une fonction littérale […]; une fonction métonymique […]; une fonction métaphorique […]; une fonction antiphrastique“ (Rolla 2012: Abs. 2). 156 Ibid.: Abs. 3. 157 Vgl. Darrieussecq 2013a. 158 Darrieussecq 2011b: 29. 159 „‚Les avoir‘ (les règles), ‚Le faire‘ (l’amour), ‚Le refaire‘ (toujours l’amour, quoique l’expression semble peu appropriée)“, dechiffriert Payot (2011) die drei Subtitel des Romans; ebenso Bourmeau (2011) und Enthoven (2011). Darrieussecq selbst lässt bezüglich des ersten etwas mehr Interpretationsspielraum offen: „‚Les avoir‘ - les règles, ou peut-être aussi les garçons“ (V 2011). 160 Darrieussecq/ V 2012. <?page no="240"?> 240 Marie Darrieussecqs Clèves qu’on dise ‚les femmes‘, ‚les enfants‘, ‚les garçons‘ et qu’on ne se doute pas, malgré toute sa culture, l’on ne se doute pas que ces mots, depuis longtemps…“. 161 „Points de suspension, que Clèves viendra remplir“: Marcandier fügt dieser „[c]itation volontairement tronquée“ die Fortsetzung (in französischer Übersetzung) hinzu („… n’ont plus de pluriel mais n’ont qu’infiniment de singuliers“) und konstatiert: „Là est le programme d’écriture de Clèves: dire Solange, les adolescent(e)s du roman non pour atteindre un pluriel - trop large, trop général, sans acuité - mais des singuliers.“ 162 Mit diesem fragmentarischen Zitat schreibt Darrieussecq sich wiederum in die große literarische Tradition ein, bricht - signifikante Geste - die zitierte Passage eben dort ab, wo ihr eigener Roman einsetzt; nebenbei wird auch die Leserin zur transtextuellen Spurensuche und Reflexion animiert. Wurde der ursprünglich anvisierte Titel La Princesse de Clèves schließlich auf ein lapidares Clèves reduziert, so greift Darrieussecq die Formel der - wie bei Régis Sauder pluralisierten - „princesses de Clèves“ im Text selbst auf. Es ist der lokale Intellektuelle des Dorfes Clèves, Vater von Solanges Schulkollegin Rose und Ehemann der bereits bekannten Stiefelträgerin, der die intertextuelle Referenz - hier mit auktorialer Selbstironie zum etwas betulichen bildungsbürgerlichen Scherz stilisiert - ins Spiel bringt: „Il faisait toujours une plaisanterie sur Rose et elle, les princesses de Clèves, avec un air malin et personne ne savait quoi dire.“ 163 Vor dem Hintergrund der versteckten Omnipräsenz des klassischen Prätexts ist es Monsieur Bihotz, der seinem Schützling Solange - literaturgeborene Protagonistin, die mit der Lafayette- Allusion nichts anzufangen weiß - die unterschwelligen Verbindungen zwischen Menschen, Ereignissen und Geschichten mit dem Bild des „effet papillon“ zu erklären versucht: Tu n’as pas assez RÉFLÉCHI. Il y a des liens entre les choses, des liens… qu’on n’avait pas forcément vus. Ce qu’on appelle l’effet papillon. Un papillon bat des ailes en Chine, il y a des conséquences jusqu’à Clèves. Dans ta vie c’est pareil. Des choses qui se sont passées il y a longtemps ou même des trucs qu’ont faits tes grands-parents et même des gens qui vivaient au Moyen Âge mais qui sont reliés à toi par des voies que tu n’imagines pas. 164 161 Rainer Maria Rilke, wenngleich „pas mon écrivain préféré“ (Darrieussecq 2016: 1412), wird bereits in Le Bébé zitiert (vgl. ibid.: 1430f.) - und motiviert in Darrieussecqs Modersohn-Becker-Essay wiederum eine ausführliche Meditation über das problematische Konnotationspotential der „jeune fille“ („[…] et déjà ces deux mots sont de trop, chargés de rêveries à la Rilke et de poésie masculine - ‚laissez-nous donc tranquilles! ‘“; ibid.: 751f.) und ein alternatives Frauenbzw. ‚Mädchen‘-Bild, wie es sich im Werk der hier gewürdigten Künstlerin („Pas de sens ajouté. Pas d’innocence perdue, pas de virginité bafouée, pas de sainte jetée aux fauves. Ni réserve ni fausse pudeur. Ni pure ni pute“; ibid.: 750), aber schließlich auch in Rilkes Briefen an einen jungen Dichter abzeichnet: „Un jour […] la jeune fille et la femme cesseront d’être seulement le contraire de l’homme, elles seront une réalité en elles-mêmes; non plus un complément et une limite, mais l’existence et la vie; ce sera la condition humaine sous sa forme féminine“ (zit. ibid.: 881ff.). 162 Marcandier 2011. „Ist es möglich, daß man von den Mädchen nichts weiß, die doch leben? Ist es möglich, daß man ‚die Frauen‘ sagt, ‚die Kinder‘, ‚die Knaben‘ und nicht ahnt (bei aller Bildung nicht ahnt), daß diese Worte längst keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige Einzahlen? “, lautet die deutschsprachige Originalpassage (Rilke 1997a: 23). 163 Darrieussecq 2011b: 29. 164 Ibid.: 197. Ebendieser poetologisch aufgeladene „effet papillon“ wird auch in Le Pays reflektiert (2005: 124); „[d]es milliers de papillons jaunes“ lässt Darrieussecq schließlich durch eine Passage des Folgeromans zu Clèves flattern (2013b: 259). <?page no="241"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 241 Erst allmählich wird Solange, als hypertextuell generierte Figur unfreiwillige Einwohnerin von Clèves und Clèves, sich ihrer Verstricktheit in ein ganzes Netzwerk vor-geschriebener Texte und Diskurse bewusst - und reflektiert ihre eigene, immer schon sprachlich konstituierte Subjektivität. Nicht umsonst trägt das Geschäft der Mutter (die auf der Nobilitierung des Ladens zur „boutique de déco“ besteht: „Pas une boutique de souvenirs […] encore moins un magasin […]“) den Namen „La Clef de Clèves, nom trouvé par le propriétaire précédent“; 165 unübersehbar wird hier auch mit einem - ererbten, verlorenen und unter Umständen wiedergefundenen - intertextuellen ‚Schlüssel‘ gespielt. 166 Vom Königshof ins Niemandsland: Zur Rekonfiguration von Zeit und Raum Darrieussecq verzichtet auf die historische Einstiegshürde der Princesse; doch auch in ihrem Text werden Handlung und Figuren konsequent, wenngleich dezent politisch und sozial kontextualisiert. Ihre Re-Interpretation von Lafayettes „livre hyper contemporain“ 167 wird im modernen, aber nicht streng zeitgenössischen Frankreich angesiedelt, „à l’aube des années 1980“, 168 einer für die zeitgenössische Leserin noch vage vertrauten und schon wieder ein Stück entfernten Welt. 169 Abgesehen von paratextuellen Hinweisen der Autorin erlauben diverse chronologische Marker im Text selbst eine approximative Datierung der Handlung; auch wenn das primäre Interesse der adoleszenten Protagonistin weniger der großen Politik als ihren amourösen Nöten und sexuellen Abenteuern gilt, finden sich in Clèves mancherlei Hinweise auf das globale Geschehen im Hintergrund. 170 Noch zahlreichere Indizien stammen freilich aus dem Bereich der Alltags- und Jugendkultur: So stiften diverse Songtitel bzw. gerade 165 Darrieussecq 2011b: 281. 166 Das Motiv wird im Text subtil fortgesponnen; kurz darauf erkundigt sich Bihotz bei Solange, die - symbolisch genug - den Schlüssel zu ihrem Elternhaus verloren hat: „Qu’est-ce que tu as fait de ta clé? “ (ibid.: 289). Vor dem Hintergrund der politisierten Princesse-Neurezeption zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben auch sonstige Spielereien mit dem Titel bzw. Toponym ‚Clèves‘ einen mindestens doppelten Boden - so das nach demokratischer Abstimmung gewählte neue Stadtmotto „Clèves, la relève“, das sich gegenüber der Alternative „On se lève tous pour Clèves“ („jugé trop pub“) oder dem hypokriten „Clèves, on en rêve“ durchgesetzt hat (ibid.: 285f.). 167 Darrieussecq 2009b: IX. 168 Barnett 2011. Darrieussecq (V 2012) situiert die Haupthandlung des Romans rund um die fünfzehnbis sechzehnjährige Solange in den Jahren 1983-1984; die Leserin lernt Solange zum ersten Mal im Alter von zehn Jahren kennen, womit die Vorgeschichte Ende der siebziger Jahre einsetzt. 169 Clèves enthält eine ganze Reihe raffiniert ‚naiv‘ stilisierter zeitphilosophischer Reflexionen aus der Perspektive der jugendlichen Protagonistin; Solange meditiert über die Mechanismen der Erinnerung und die Paradoxa des Zeitgefühls (vgl. 2011b: 51, 86), teilweise unter Rekurs auf eine signifikante technische Metaphorik: „Est-ce que le temps s’use, à passer, et les souvenirs, comme des disques, est-ce que le temps laisse des poussières qui entrent dans les yeux? “ (ibid.: 238). 170 So sorgt der sowjetische Einmarsch in Afghanistan auch in Clèves für Unruhe: Die Bevölkerung hortet für alle Fälle Lebensmittel; Solange, inspiriert von ihren SF-Lektüren, gibt sich indessen wüsten Vernichtungs-Visionen hin, in denen die sowjetischen Raketen bereits auf das französische Dorf zufliegen (ibid.: 38f.). Verächtlich präzisiert ihre intellektuelle Freundin Rose aus Anlass der aktuellen Präsidentschaftswahlen (extradiegetisch am 26. April und am 10. Mai 1981): „C’est pour les gens comme toi que mes parents ont voté Mitterrand“ (ibid.: 262). <?page no="242"?> 242 Marie Darrieussecqs Clèves aktuelle popmusikalische Hits, die - von Michael Jacksons Billie Jean bis The Cure - den Soundtrack zu Solanges Initiationsparcours liefern, einen recht konkreten zeitlichen Rahmen. 171 Mit einem bewusst anachronistischen Vergleich - doch durchaus in der Tradition der Lafayette-Forschung - beschreibt Darrieussecq das höfische „milieu clos et invivable“ der Princesse als „une sorte d’anticipation de Big Brother, ou de cette série TV devenue culte, Le Prisonnier“. 172 Was wird aus dem „huis clos infernal de la cour“ - Darrieussecq reflektiert auch die komplexe Historizität der Schilderung Lafayettes, deren Darstellung des französischen Hofes unter Henri II und François II eine kritische Perspektive auf den für die Autorin zeitgenössischen Hof Louis’ XIV camoufliert 173 - in einem postmodernen Kontext? Auch die Re-Interpretation des Lafayette’schen Hofes - weniger fixer Ort denn mobiles Dispositiv bzw. „une certaine manière de vivre“ 174 - geht aus einer Reihe wieder verworfener literarischer Experimente hervor. „Je cherchais un huis clos et j’ai tout essayé: […] Ça ne fonctionnait pas“, berichtet Darrieussecq; 175 sukzessive werden eine „navette spatiale“, 176 der Jupitermond ‚Europa‘, 177 ein Club Méd unter der Herrschaft eines tyrannischen ‚Freizeitkönigs‘, „avec fêtes obligatoires“ und allgemeiner Pflicht zum Glück oder zumindest affichierten Amüsement, als Äquivalent des höfischen „lieu clos“ erprobt. 178 Bemerkenswerterweise assoziiert Darrieussecq den Königshof aber auch hier schon mit dem zeitgenössischen 171 Darrieussecq (V 2013a) charakterisiert Clèves als „un roman assez musical“, geprägt von der Musik ihrer eigenen Jugendjahre. 172 Darrieussecq 2009b: III. Analog beschreibt Pingaud die höfische „société close, la terrible société du regard“ (1959: 96) bei Lafayette; Albanese spricht von „a hermetically closed world“ (1992: 88). „Lieu de magnificence, la cour reste en effet un huis clos, où nul n’est libre de ses activités ou de ses déplacements“, bemerkt auch Garapon (1988: 51). 173 Darrieussecq/ V 2010. 174 Mesnard 2009: 35. 175 Bourmeau 2011. 176 Darrieussecq/ V 2011. 177 Darrieussecq/ V 2010. Eine gewisse Affinität zur Science-Fiction-Literatur, „vraiment un point important, une clef de mon imaginaire“, manifestiert sich in so manchem Text Darrieussecqs (vgl. Sauvage 1999: 62, zit. nach Chadderton 2012: 27). Schon in Le Pays entfaltet die Autorin (mehrere Jahre lang - in diesem Zusammenhang nicht ganz indifferentes biografisches Detail - mit einem Astrophysiker verheiratet) diverse SF-Weltraumvisionen, lässt ihre Protagonistin, geboren in jenem „été miraculeux où Armstrong a marché sur la Lune“, über die ‚Unwahrscheinlichkeit‘ eines technischen Fortschritts meditieren, mit dem ihr perzeptorischer und kognitiver Apparat nicht mithalten kann (2005: 103). Zur Zeit der Entstehung von Clèves befindet sich auch „un roman de science-fiction à moitié fini“ in Arbeit (vgl. Flamerion 2007), der, wenngleich für „raté“ befunden (ibid.), einige Spuren in Darrieussecqs Lafayetteréécriture hinterlassen zu haben scheint. Solanges SF-Phantasien fügen der multiplen Temporalität des Textes eine weitere Dimension hinzu; so nimmt die Heldin aus ihrer Gegenwartsperspektive der frühen Achtziger das Jahr 2000 als Teil einer mehr oder minder utopischen Zukunft vorweg - und knüpft auch in dieser Hinsicht an ihre Vorgängerin aus Truismes (2000a: 109) an. Anlässlich eines Hochzeitsfestes betrachtet Solange ihre Mitbürger, sämtlich herausgeputzt, „comme s’ils attendaient le grand vaisseau spatial qui les emmènera essaimer dans l’espace. Tout Clèves décollera sauf elle. […] Planète Clèves 2000“ (2011b: 226). Bei einem Ausflug mit dem Vater erinnert sie sich an dessen Erzählungen „quand elle était petite“, samt Vision ihres Heimatortes als gläsern erstarrter futuristischer Welt (ibid.: 244); aber auch der gemeinsame Friedhofs-Trip mit der Mutter scheint „façon science-fiction“ in eine andere Realität zu führen (ibid.: 271). Ein medial mehrfach gerahmtes Raumschiff startet auf einem Fernsehbildschirm, auf dem Solange den Film 2001 (i. e. Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey aus dem Jahr 1968) verfolgt (ibid.: 321). 178 Darrieussecq/ V 2010. <?page no="243"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 243 Showbusiness („c’est un show, ce livre“) und konkret mit Hollywood, Glamour-Welt voller „bals, costumes“ und galanteries, die mit dem Dispositiv Lafayettes nicht nur in puncto „magnificence“, sondern auch „en termes de cauchemar“ korrespondiert: Diese postmodernen Prinzen und Prinzessinnen - als gender-invertierte Neuauflage des „éternel triangle amoureux“ schlägt Darrieussecq scherzhaft die mittlerweile doppelt beziehungshistorische Konstellation Brad Pitt-Angelina Jolie-Jennifer Aniston vor - bewegen sich ebenfalls in einem von amourösen und professionellen Intrigen beherrschten „huis clos où tout le monde s’entre-dévore“. 179 Diesen (alp-)traumhaften Mikrokosmos Hollywood wird Darrieussecq zur Szenerie ihres zwei Jahre später erschienenen Folgeromans zu Clèves wählen; fürs Erste entscheidet sie sich für eine andere Option. „Clèves-le-Haut“ 180 heißt schließlich der Geburtsort der Heldin, „village fictif“ in Südwestfrankreich, 181 der auf einer politischen Karte nicht auftaucht 182 („It is not down in any map; true places never are“ 183 ), aber einigermaßen konkret situiert wird. Clèves liegt „à peu près à une heure de la mer“ („trop long pour y aller comme ça“, doch „trop près pour l’oublier“); wie Darrieussecq präzisiert, darf sich die Leserin den Atlantik, „la mer aussi de mon enfance“, 184 vorstellen, während das Dorf selbst zwar „quelques touches de culture basque“ aufweise, 185 aber, wenngleich „assez typé“, nicht in einem explizit baskischen Kontext („pas au pays basque“) zu verorten sei. 186 Geografisch marginalisiert und seines aristokratischen Nimbus beraubt, repräsentiert Clèves hier also „la province la plus profonde, le lieu le plus aux antipodes par rapport à Paris et à sa cour“. 187 Lafayettes Protagonistin gelangt als heiratsfähiges junges Mädchen an den Königshof - und damit ins politische, gesellschaftliche und kulturelle Zentrum Frankreichs; aus dem höfischen Mikrokosmos flieht sie zunächst auf den Landsitz Coulommiers und nach dem Tod ihres Mannes auf ihre Besitzungen „vers les Pyrénées“, 188 nicht zufällig „le lieu français le plus éloigné de Paris“. 189 Eben an der Peripherie Frankreichs, an der die „vie […] assez courte“ der Heldin Lafayettes endet, 190 beginnt die Lebensgeschichte jener Darrieussecqs - neue Princesse, verbannt ins Exil „sous les Pyrénées à attendre l’avenir“, 191 fern dem „centre d’un monde qui tourne sans elle“; 192 Solanges Kindheit und Jugend stehen 179 Ibid. 180 Darrieussecq 2011b: 141. 181 Darrieussecq/ V 2012. 182 Vgl. Darrieussecq 2011b: 299. 183 Melville 1922: 57. 184 Darrieussecq/ V 2012. 185 Ibid. 186 Darrieussecq/ V 2011. In etlichen Rezensionen wird Clèves dagegen eindeutig als „baskische[s] Provinznest“ identifiziert (Dehoust 2013); vgl. auch Payot (2011) und Enthoven (2011), der von einem „bourg du Sud-Ouest (inexistant, mais vaguement basque…)“ spricht. Aus Anlass der Publikation von Il faut beaucoup aimer les hommes situiert Darrieussecq selbst ihr fiktives Dorf Clèves explizit „au Pays basque“ und damit in einem autobiografisch inspirierten geografisch-kulturellen Kontext: „Après tout, c’est mon univers! “ (Villovitch 2013). 187 Rolla 2012: Abs. 24. 188 Lafayette 2014c: 476. 189 Grande 1999: 110. 190 Lafayette 2014c: 478. 191 Darrieussecq 2011b: 86. 192 Ibid.: 278f. <?page no="244"?> 244 Marie Darrieussecqs Clèves - in Umkehrung der sozio-spatialen Dynamik bei Lafayette - im Zeichen des schmerzlichen Bewusstseins, „qu’on n’est pas à Paris“, 193 des ungeduldigen Wunsches, endlich aus der tristen Gemeinschaft der „misérables Cliviens, pathétiques villageois enclavés pour toujours“ auszubrechen. 194 Auch wenn Clèves sich im Lauf der Jugendzeit der Protagonistin in einen „village moderne, un melting-pot américain“ 195 verwandelt und nach erfolgreicher Überschreitung der 2000- Einwohner-Grenze zur Stadt erhoben wird, bleibt es ein Ort des Mangels, den auch seine bescheidenen touristischen Atouts („Son château du XVIII e . Ses maisons à colombage. Sa base nautique, ses planches à voile. […] Sa statue de la Vierge. Son rocher touristique […]“ 196 ) nicht zu kompensieren vermögen; ein nur widerwillig bewohnter Ort (spöttisch kommentiert Solanges Vater die Unverwüstlichkeit der Möwen, die sich „même à Clèves“ zu adaptieren wissen 197 ), den an Sommerwochenenden alle Bewohner fluchtartig in Richtung Meer verlassen. 198 Clèves symbolisiert das Scheitern der eigenen Lebensträume; die frustrierten Eltern der pubertierenden Princesse beschuldigen jeweils den anderen, ein besseres Leben „au bord de la mer“ verhindert zu haben. 199 Indes versuchen Solange und ihr Neo-Nemours einander beim ersten Flirt mit ihrem angeblichen Domizil „sur la Côte“ - Inbegriff höheren Sozialprestiges - zu beeindrucken. 200 193 Darrieussecq/ V 2012. Hinsichtlich dieser Dialektik Zentrum/ Peripherie ergibt sich eine signifikante Parallele zu Régis Sauders Nous, princesses de Clèves, deren aus der gleich mehrfach marginalen Marseiller banlieue sensible stammende Protagonisten im Zuge ihres Lafayette-Projekts zumindest für ein paar Tage - die meisten von ihnen zum ersten Mal - in die französische Hauptstadt reisen. 194 Darrieussecq 2011b: 278. 195 Ibid.: 284. 196 Ibid.: 91. 197 Ibid.: 56. 198 Vgl. ibid.: 280. 199 Ibid.: 56f., 271. 200 Das Meer - synästhetisches Gesamtkunstwerk (so beschwört die Erzählerin von Le Pays „l’odeur bleue de la mer“; 2005: 75), Schauplatz bzw. Gegenstand quasi-phänomenologischer Experimente (fasziniert beobachtet die Protagonistin der Novelle „Un diamant gros comme Biarritz“ [2007] das Nebel-Wunder einer „mer flottant sur la mer“; Darrieussecq 2012a: 34) - besetzt in Darrieussecqs literarischem Imaginarium allgemein eine Schlüsselposition (unweigerlich kommt bei der Psychoanalytikerin auch die Assoziation mer-mère ins Spiel, so in Le Pays: „Quant à la langue, les Français sont des enfants. Langue, en français, est l’anagramme de lagune. Les Français baignent dans leur français comme dans une mer originelle“; 2005: 141). In Clèves wird diese Motivik wiederum in ihrer Polyvalenz entfaltet; Antithese zur faden Alltagswelt von Clèves, erscheint das Meer auch als Szenerie weiblicher Befreiung. Roses Mutter, die, in ihrer Ehe unbefriedigt („une mal baisée“, kommentiert die respektlose Tochter; 2011b: 342), dem Gerücht zufolge „une double vie, sur la Côte“ führt (ibid.: 283), lässt ihren bei der Hitze olfaktorisch wenig erfreulichen roten Stiefel-Fetisch am Ufer zurück und stürzt sich geradezu aggressiv in die Wellen, „d’un crawl impeccable, plongeant sous les rouleaux comme si l’océan n’était qu’un embarras ridicule entre elle et l’Amérique“, voll Sehnsucht und Neid beobachtet von Solange, noch unerfahrene Schwimmerin: „Elle voudrait partir tout droit, comme la mère de Rose, dans l’élément liquide. Elle voudrait croire qu’il y a entre la mer et elle un pacte sublime qui exclut le reste de l’humanité“ (ibid.: 82). Schon aus der Sicht des kleinen Mädchens erscheint Wasser als verlockendverbotenes Element (ibid.: 136). Den Konnex „De l’amour et de la mer“ und eine ganze maritime Liebes- Rhetorik („Ceux qui ont voulu nous représenter l’amour et ses caprices l’ont comparé en tant de sortes à la mer qu’il est malaisé de rien ajouter à ce qu’ils en ont dit“) reflektiert bereits La Rochefoucauld (2005: Abschnitt VI); dieser Topos wird auch bei Darrieussecq fortgeschrieben: In dem Moment, in dem Solange zum ersten Mal ihren ‚Nemours‘ küsst, verwandelt sich selbst Clèves in ein <?page no="245"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 245 Kurz: „A priori, ce Clèves-là […] n’a pas grand-chose à voir avec celui de la princesse“; 201 doch tatsächlich besteht zwischen diesen beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen literarischen Räumen eine doppelte Kontrast- und zugleich Spiegelrelation. Den Königshof Lafayettes und Darrieussecqs Dorf Clèves verbindet - über enorme historische und gesellschaftliche Distanzen hinweg - eine sehr ähnliche soziale Dynamik: „Même sensation d’étouffement, […] mêmes médisances; même nécessité de plaire à plein temps; même importance accordée aux apparences […]“. 202 Die Dichotomie von apparences und vérité prägt auch Darrieussecqs Roman; in Clèves dreht sich ebenfalls alles um adäquate Selbstpräsentation: „même obsession du regard, même règne du faux-semblant que chez Mme de La Fayette“, konstatiert Camille Thomine. 203 Wie die Höflinge Lafayettes sind die jugendlichen Akteure Darrieussecqs Tag für Tag mit der Inszenierung einer grandiosen Persona beschäftigt; die bei Lafayette so zentrale Fähigkeit zur Selbstbemeisterung wird auch in diesem Milieu hoch valorisiert. Immer wieder verrutscht freilich für kurze Momente die Maske blasierter Coolness und gibt den Blick auf das unsichere Selbst dahinter frei: Selbst die intellektuelle Rose, stets bemüht, in jeder erdenklichen Situation - auf den Spuren der Heldin Lafayettes - „maîtresse d’elle-même“, 204 „maîtresse de ses paroles et de son visage“ bzw. „[m]aîtresse de sa conduite“ (wenn schon nicht „maîtresse de ses sentiments“) 205 zu bleiben, fällt gelegentlich aus der Rolle; hastig streift ein anderes Mädchen nach kurzem Contenance-Verlust sein metaphorisches „costume de Super-Nathalie“ wieder über. 206 Auch Liebe und Sexualität erscheinen als komplexes Rollenspiel: Eifrig übt Protagonistin Solange - hoffnungsfrohe Debütantin im „théâtre de l’amour“ 207 - zunächst allein vorm Badezimmerspiegel Gesten und Repliken der amourösen „comédie“ ein. 208 Wie an Lafayettes Hof entfaltet sich auch hier ein strategisches Versteckspiel, in dem Emotionen camoufliert, auf Umwegen artikuliert werden; am Exempel ihrer Heldin illustriert Darrieussecq das diskursive Neben- und Durcheinander von normkonformer Performance und innerer Gefühlsbzw. Gedankenwelt. Wie die Figuren Lafayettes spricht auch Solange gleichsam „with two voices - the voices of the private individual and the public personage - which maintain a perpetual dialogue“: „We overhear the murmur of Meeres-Zauberreich (2011b: 158). Nur widerwillig kehrt sie, die bitter „la décourageante absence de la mer“ (ibid.: 186) in ihrem Leben beklagt, nach einem in Gesellschaft ihres erwachsenen Liebhabers am Strand verbrachten Tag nach Clèves zurück (ibid.: 277). Ort ekstatischer, ja kosmischer Ganzheits- Erfahrungen (ibid.: 336), steht das Meer zugleich für eine unheimliche mythische Welt; der Schaum auf den Wellen markiert eine magische „ligne entre les morts et les vivants“ - so scheint es jedenfalls Solange, die sich ängstlich fragt, welchem Lager sie wohl selbst angehört („c’est peut-être moi la vivante et tous les autres sont morts […]“; ibid.: 278). 201 Thomine 2011. 202 Rolla 2012: Abs. 14. 203 Thomine 2011. 204 Darrieussecq 2011b: 261. 205 Lafayette 2014c: 391, 419, 367; vgl. auch 382, 395, 429. „Soyons donc maistres de nous-mesmes, et sçachons commander à nos propres affections, si nous desirons gaigner celles d’autruy“, appelliert Nicolas Faret in seinem Handbuch höfischer Lebenskunst (L’honneste homme, ou, L’art de plaire à la court [1630], zit. nach Peterson 2012: 238). Zur Rolle dieser Schlüsselformel in der Princesse vgl. auch Francillon 1973: 165; Kaps 2001: 40; Coropceanu 2010: 29. Zu Faret (vgl. die Re-Edition L’Honnête homme ou l’Art de plaire à la cour, 1970) siehe auch Galle 1986: 22ff. 206 Darrieussecq 2011b: 263. 207 Duras 2012: 159. 208 Ibid.: 158. Vgl. dazu Darrieussecq 2011b: 95. <?page no="246"?> 246 Marie Darrieussecqs Clèves the tormented, uneasy conscience, floating up to us from the underworld of temptation and desire, trying desperately to come to terms with itself and conform to a standard of conduct prescribed by the community.“ 209 Die Existenz der Teenager von Clèves gerät analog dem Leben bei Hof zur herausfordernden Sequenz öffentlicher Auftritte, von den Alltagsräumen Schule, Geschäft, Straße bis zu Parties und Disco-Events - funktionales Äquivalent höfischer Festivitäten bei Lafayette, auch sie „markets where individuals gain and lose value“ 210 -, auf denen es sich unter dem kritischen Blick der konkurrierenden Ko-Akteure zu bewähren gilt; auch hier stellt der Rückzug aus diesem pubertären Jahrmarkt der Eitelkeiten keine sozial praktikable Option dar. Darrieussecq konstruiert in Clèves ein ganzes System ineinander verschachtelter Räume: Das Dorf Clèves, insgesamt als huis clos angelegt, enthält weitere in sich geschlossene Dispositive, zwischen denen sich die Protagonistin bewegt: so die Schule, ihrerseits panoptischer, präsenzpflichtiger Mikrokosmos, 211 deren cour wiederholt zur Bühne grausamer Szenen öffentlicher Erniedrigung wird, aber auch das lokale Schloss der Familie d’Urbide, Schauplatz einer Party, die den Hofball bei Lafayette ersetzt; besagtes Schloss, das Solange - gespalten zwischen Faszination und (Sozialwie Sexual-)Neid auf „la jeune baronne“ 212 - neugierig erkundet, erscheint als eklektisch-anachronistischer Raum, intertextuelles und kulturgeschichtliches Patchwork (die Wände von Lætitias Zimmer bedeckt eine kuriose Collage aus historischen Gemälden und zeitgenössischen Pop-Postern). „Un roman de classes“: Zwischen Klassik und Klassenkampf In räumlicher und zeitlicher, aber auch in sozialer Hinsicht werden Plot und Figuren Lafayettes derart einer radikalen Re-Interpretation unterzogen. Evoziert La Princesse de Clèves eine exklusive aristokratische Welt, deren Blickfeld nicht über den niedrigen Adel hinausreicht, so wird dieses gesellschaftliche Panorama bei Darrieussecq erweitert bzw. insgesamt ein ganzes Stück nach unten transponiert (diese Degradierung ist wiederum bis ins hypertextuelle Detail in der Recodierung literarischer Räume nachzuvollziehen: so tritt an die Stelle des herrschaftlichen Parks von Coulommiers der bescheidene Garten Bihotz’ mit dem in Stress-Situationen wild Unkraut jätenden Hausherrn). Gerade durch diese Rekontextualisierung macht Clèves aber auch die soziale Dimension des klassischen Prätexts, der, seinerseits auch „a social novel“, nicht zuletzt eine ideologische Krise resp. einen gesellschaftlichen Umbruch widerspiegelt, 213 in neuem Licht sichtbar. 209 Turnell 1951: 9f., zit. nach Paulson 1991: 41. 210 Desan 1992: 106 (zu Lafayette). 211 Auf die Analogie zwischen Königs- und Schulhof setzen auch die filmischen Re-Interpretationen Christophe Honorés und Régis Sauders; nicht nur in diesem Sinne konstatiert Rolla ihrerseits gewisse „analogies ‚formelles‘“ zwischen Darrieussecqs Roman mit seinen „indices d’une écriture cinématographique“ und besagten Filmen (2012: Abs. 35). 212 Darrieussecq 2011b: 256. 213 Desan 1992: 104ff. Desan beschreibt die Intrige der Princesse als „a complex network of sentimental and political exchanges occurring in the marketplace represented by the court of Henri II“; Frauen fungieren auf diesem höfischen ‚Marktplatz‘ als „a medium of exchange“ (ibid.: 104f.). Albanese fokussiert in seiner Deutung von Verweigerung und Rückzug der Princesse weniger den Genderals den Klassen- Aspekt: „Instead of a feminist declaration of independence, it is more to the point to view in her refusal <?page no="247"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 247 Wie die Princesse ist Clèves nicht nur eine individuelle Initiationsgeschichte, sondern ebenso sehr ein „roman de classes“: 214 „[…] j’avais très envie de faire un roman sur les classes sociales - dans la province française.“ 215 Wiederholt akzentuiert Darrieussecq diesen ‚soziologischen‘ Aspekt ihres Adoleszenz-Romans, Narrativ einer doppelten Metamorphose: Solanges schwieriger Übergang ins Erwachsenenleben wird parallel geführt mit der sozioökonomischen Transformation des Dorfes Clèves, vor dem die Dynamik der Globalisierung nicht haltmacht. In mehreren Interviews rekonstruiert die Autorin den konkreten sozialen Hintergrund ihres hypertextuell inspirierten ‚Klassenromans‘ - und reflektiert dessen Genese in einem zeitgenössischen Kontext, in dem auch abseits einer thesenhaften littérature engagée gesellschaftspolitische „indifférence“ als schriftstellerische Attitüde kaum eine Option sei: […] dans ce roman qui s’appelle peut-être Clèves, je me penche pour une fois sur un milieu précis: celui de la petite bourgeoisie régionale en France dans les années soixante-dix, parce que c’est mon enfance, tout simplement. Le temps va passer, je ne vais pas rester uniquement dans les années soixante-dix. Dans ce village, différents milieux sociaux, différentes „classes sociales“ - parce qu’il faut vraiment réemployer ce terme aujourd’hui, qui est un outil conceptuel indispensable pour penser le monde - s’affrontent […]. Ce récit […] se centre autour du point de vue d’une petite fille qui va grandir et assister à des conflits sociaux, et sexuels, sans comprendre de quoi il retourne. Pour la première fois, je m’intéresse à des effets de classes sociales, sûrement à cause du contexte actuel, dans lequel l’indifférence de l’écrivain est, au bout d’un moment, difficile à tenir. 216 Wie Lafayette ihre Princesse als „pion“ auf einem höfischen „échiquier“, 217 positioniert auch Darrieussecq ihre Heldin samt Schulkolleginnen minutiös auf einem sozialen Schachbrett: 218 Markieren Lætitia als „[la] fille du château“ („dans tous ces villages“ obligatorisch vertretener Typus, wie Darrieussecq ironisch erklärt) und Delphine als „prolétaire“, uneheliches Kind einer einfachen Arbeiterin, die beiden Extreme dieser gesellschaftlichen Skala, so repräsentiert a profoundly class-oriented decision; she seeks to preserve intact a traditional class identity; she steadfastly refuses to betray the ancestral ideals by which the aristocracy defined itself“ (1992: 103). Lafayettes Text reflektiert nicht zuletzt das Spannungsverhältnis zwischen aristokratischem Status von einst und jetzt: „Die Bannkraft des Hofes unterbindet nach der endgültigen politischen Zähmung des Hochadels jede die gesellschaftliche Realität ignorierende Vorspiegelung einer realen Geschichtsmächtigkeit“, merkt Köhler (1959: 16) zum Werk Lafayettes an. Nicht umsonst erfreuen sich allerlei teils recht aggressive sportliche Spiele zu jener Zeit beträchtlicher Beliebtheit bei Hof: Jener „noblesse domestiquée“ (Francillon 1973: 285) dienen diverse „jeux brutaux“ auch als „exutoires d’une violence mal contenue“ (Solnon 1987: 112). Die lice steht in diesem Sinne, so Andersen (1998: 196f.), „as a microcosm of French society“ symbolisch „for the entire social space of France“. 214 Barnett 2011. 215 Darrieussecq/ V 2011. 216 Kaprièlian 2010: 13f. 217 Darrieussecq 2009b: III. 218 Entschieden zu simplistisch mutet angesichts dieses differenzierten sozialen Panoramas und der Empathie, mit der Darrieussecq den ‚Entwicklungsroman‘ ihrer kleinbürgerlichen Princesse verfolgt, der Kommentar Enthovens (2011) an, der die „autochtones“ aus Clèves, hier gelesen als quasi ‚ethnologischer‘ Text („Est-ce de la littérature? De l’ethnologie? Allez savoir“), aus gebührender elitärer Distanz betrachtet, „beaucoup de grognements, d’onomatopées, de borborygmes, de truismes […] émis par des individus dont le paysage mental et esthétique évoque un supermarché en bordure de décharge“ zu vernehmen glaubt und Darrieussecq attestiert, ihr romaneskes Personal diesmal exklusiv „sur le tas, vers le bas, dans la boue humaine, dans le vide sidéral de la bêtise authentique“ rekrutiert zu haben. <?page no="248"?> 248 Marie Darrieussecqs Clèves Nathalies Familie das Kleinbürgertum, jene Roses die „bourgeoisie, parents un peu artistes“. 219 Auch wenn Darrieussecq die damalige relative „continuité“ bzw. „proximité des classes sociales“ in diesem provinziellen Milieu, „aujourd’hui plus segmenté“, betont, 220 ist in der Konstellation dieser konfliktuellen Teenager-Freundschaften bereits ein ganzer Klassenkampf en miniature angelegt, sind die Eltern der einen doch die „domestiques d’autres parents“. 221 Durchaus sensibilisiert in Habitus-Fragen, ohne freilich über entsprechendes Fachvokabular zur Artikulation ihrer intuitiven Erkenntnisse zu verfügen, beobachtet die Protagonistin voll Widerwillen auch an sich selbst manch ‚servilen‘ Reflex; so etwa, als sie ihre Mutter in deren ‚boutique‘ vertritt und beim Besuch zweier Kundinnen - ausgerechnet ihre Schulkollegin Rose und deren Mutter - unwillkürlich die Pose der diensteifrigen Verkäuferin einnimmt: „Son dos se redresse instantanément, par un procédé orthopédico-commercial hérité de sa mère (et de son père). (Deux parents, deux putes.)“ 222 Soziale Hierarchien erscheinen dem Körper selbst eingeschrieben; 223 Solanges verächtliche Betrachtungen über ihre Eltern, die versklavten „putes“, korrespondieren auf anderer diskursiver Ebene mit Pierre Bourdieus Thesen zur „somatisation des rapports sociaux de domination“. 224 Parallel manifestieren sich die Ressentiments der ‚Plebs‘ gegen die lokale Elite, verkörpert durch die dem niedrigen Adel angehörige Familie d’Urbide, die dem ‚Volk‘ mit herablassender Leutseligkeit samt „charité“ begegnet; „particule je t’encule“, spottet Delphine, sich über Namen wie Attitüde der aristokratischen Herrschaften „avec apostrophe“ mokierend 225 (unübersehbar dient dieser sexualisierte Vulgärdiskurs im Mund der jugendlichen Protagonistinnen nicht zuletzt zur sozialen Selbstverteidigung). Mit Concepción, Tochter spanischer Emigranten, kommt ein Moment dezenter Exotik hinzu; gegenüber der einzigen dunkelhäutigen Familie - eventuell pakistanischen Ursprungs („on ne sait pas trop bien“ 226 ) -, die 219 Darrieussecq/ V 2012. Der in Clèves geschilderte Mikrokosmos zitiert nicht nur das huis clos des höfischen Dispositivs bei Lafayette, sondern schreibt sich auch in das intratextuelle Netzwerk von Darrieussecqs Œuvre ein; mehrere Figuren des Romans - idiosynkratische Prototypen - tauchen in leicht variierter Form auch in anderen Texten auf. So illustriert die Novelle „Un diamant gros comme Biarritz“, in der gleichfalls autobiografisches Material verarbeitet wird, die Transformation und Re-Kombination einzelner Protagonistinnen und Motive: Die Leserin von Clèves erkennt den zeithistorischen Rahmen (die Handlung wird präzise auf „la fin du mois de mars 1983“ datiert) und literarische Räume wieder (etwa die lokale „villa“ samt „boum“), ebenso Figurenkonstellation und soziale Dynamik. Die Erzählerin bewundert nicht nur das titelgebende Schmuckstück am Hals ihrer vornehmen Freundin Hortense - die mit Rose aus Clèves mehr als nur den floralen Namen und eine mysteriöse Mutter mit Doppelleben gemeinsam hat, zugleich jedoch die Rolle der jungen Schlossherrin Lætitia spielt -, sondern auch den in deren Familie kultivierten „esprit brillant et dur“, dem sie selbst, aus weniger distinguiertem Hause stammend, nicht minder ratlos gegenübersteht (2012a: 27ff.) als später Solange diversen bildungsbürgerlichen Scherzen über ‚les princesses de Clèves‘ & Co. 220 Darrieussecq/ V 2012. Dies im Kontrast zum historischen Universum der Princesse de Clèves mit ihren „classes sociales […] cloisonnées“ (Francillon 1973: 232). 221 Darrieussecq/ V 2012. 222 Darrieussecq 2011b: 283. 223 Darrieussecq betont ihre Faszination für den metaphorischen „corps social du village“ (V 2011) - und reflektiert in diesem Kontext auch die „antécédents sociaux“ ihrer eigenen Familie, ebenso wie ihre persönliche soziale (Hyper-)Sensibilität im Milieu ihrer Jugendjahre (V 2012). 224 Bourdieu 1998: 29. 225 Darrieussecq 2011b: 139, 144. 226 Darrieussecq/ V 2012. <?page no="249"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 249 Darrieussecq in die auf den Spuren Lafayettes noch fast exklusiv weiße Welt von Clèves einführt, wird vorsichtige Distanz gewahrt. 227 „L’étiquette des cours est assez simple, comme tout ce qui est noble. Mais rien n’égale en énigmes le protocole des petites gens“, erklärt der Erzähler von Raymond Radiguets Le Diable au corps; 228 das ebenso komplexe wie unerbittliche ‚Protokoll der kleinen Leute‘ illustriert auch Darrieussecqs Roman. Standesbewusstsein und Angst vor Statusverlust, diverse soziale ‚Fiktionen‘ spielen im Mikrokosmos Clèves eine zentrale Rolle; auf anderem gesellschaftlichem Level, aber mit nicht geringerer Intensität, als dies bei Lafayette der Fall ist, gilt auch hier: „‚Tenir son rang‘, ‚se distinguer‘ et ‚s’élever‘ sont des préoccupations de chaque instant.“ 229 „L’entrée dans la vie se fait aussi dans la compréhension intime de sa propre position sociale“: 230 Die Pubertät erscheint nicht nur als Zeit des Erwachens einer schwierig zu kontrollierenden Sexualität, sondern auch als Phase der Vertreibung aus einem kindlichen Paradies seliger Unbewusstheit hinsichtlich des eigenen Sozialstatus. Brutal wird Solange von einer Schulkollegin mit der Wahrheit über ihren nicht ohne ödipale Obsessivität verehrten Vater konfrontiert, der vermeintliche stolze Air Inter-Pilot in seiner prächtigen Uniform - literarisch inspirierter Privat-Mythos 231 - als subalterner Mitarbeiter besagter Fluglinie entlarvt: „Putain, Solange, tu crois qu’il y a encore des gens pour croire que ton père est pilote? […] Ton père est porteur, tu crois que je ne sais pas? “ Angesichts dieser schockartigen Degradierung ihres Vaters (und damit ihrer selbst) ringt die Protagonistin höchst symptomatisch nach Luft, ein weiteres Mal verzweifelt bemüht, ihr Gesicht zu wahren: „Tout l’oxygène de la pièce disparaît. Avoir l’air de rien. Avoir l’air de ce qu’elle a toujours été: la fille d’un pilote d’Air Inter et d’une commerçante de Clèves-le-Haut.“ 232 Verspätet erweist sich der abrupt aus luftiger Höhe abgestürzte Vater (nicht umsonst wird Solange ihrem künftigen Liebhaber Arnaud bei der ersten Party-Begegnung eine symbolische Lüge über den tragischen Tod ihrer Eltern „dans un crash aérien“ erzählen 233 ) als Steward, ein Beruf, dem die virile, ja heroische Aura des Piloten 234 fehlt (dies verrät schon Solanges Suche nach einer adäquaten maskulinen 227 Dominique Antoine spricht im Interview mit Darrieussecq seinerseits neben der quasi selbstverständlichen „xénophobie“ auch die „homophobie“ der französischen Provinzwelt der Epoche an (ibid.). 228 Radiguet 2011: 878f. 229 Dufour-Maître/ Milhit (2004: 27) zum Roman Lafayettes. 230 Koutchoumoff 2011. 231 „Quand tu étais petite […] tu croyais qu’il était pilote. Comme dans Le Petit Prince“, bestätigt Solanges Mutter (Darrieussecq 2011b: 190). 232 Ibid.: 141. 233 Ibid.: 153. 234 Mit der Flieger-Motivik erscheint traditionell eine ganze Ideologie, ja regelrechte Mythologie heroischer Männlichkeit assoziiert (zur literarischen Darstellung des fliegenden Helden als „Überwinder erdgebundener Weiblichkeit“ und der damit einhergehenden „säuberliche[n] Trennung der Geschlechterwelten“ vgl. Wagner 1996: 91ff., hier zit. 101, 117) - dies auch noch nach dem Ende der tatsächlich ‚abenteuerlichen‘ Phase der Luftfahrt. In Clèves spielt der vermeintliche Beruf des Vaters eine zentrale Rolle in der zugleich auf kritischer Meta-Ebene reflektierten Reinszenierung einer konventionellen Geschlechterordnung: Während der Vater - angeblich - sein Flugzeug durch luftige Höhen steuert und auf dem Weg nach Paris noch eine Ehrenrunde über dem Haus der Familie einlegt, verweilt die depressive, ewig migränöse Mutter im Wesentlichen in der tristen Horizontale ihres Bettes. Die Boden/ Luft-Opposition ist zentral auch für das Selbstverständnis der Protagonistin, „prise dans une contradiction fondamentale entre le sol auquel elle voudrait échapper - le quotidien si pesant de Clèves […] - et l’air: s’envoler, fuir, comme son père qu’elle rêve pilote d’avion […]“ (Marcandier 2011). Als privi- <?page no="250"?> 250 Marie Darrieussecqs Clèves Bezeichnung: „Son père est hôtesse de l’air - elle se rend compte qu’elle l’a toujours su - comment dit-on pour les hommes, steward, steward au sol, au comptoir d’enregistrement“ 235 ). Die Entthronung des Vaters, in den Augen der Tochter zunächst noch „[u]n adulte plus qu’adulte“ 236 in seiner imposanten Männlichkeit, ist damit vollzogen; die verunsicherte Solange erlebt eine groteske Vision eines seltsam mobilen, sozial auf- und absteigenden Vaters, der nunmehr als verdächtiger „contrebandier de la société“ erscheint. 237 In ähnlicher Weise brechen auch die familiären Fiktionen anderer Mädchen in sich zusammen, werden die angeblichen princesses früher oder später als Hochstaplerinnen entlarvt. So entpuppt sich Delphine, die jahrelang gern zugelassen hat, dass man sie allseits für „la princesse du château“ hielt, als die Tochter der alleinerziehenden Schloss-Concierge (von der töchterlichen Pseudo-Aristokratin wiederum als „une grosse pute“ devalorisiert). 238 In Darrieussecqs Clèves herrscht eine kaum minder strikte Etikette als am Hof Lafayettes, ein streng normatives Klassenbewusstsein mit rigiden Exklusionsmechanismen; unerbittlich wird der soziale und sexuelle Marktwert jedes einzelnen Individuums evaluiert. 239 In diesem Punkt führt Clèves Lafayette und Michel Houellebecq zusammen: Vor der hypertextuellen Vergleichs- und Kontrastfolie ihres klassischen Prätexts illustriert Darrieussecq ihrerseits jene doppelte kapitalistische Ökonomie der postmodernen Gesellschaft, um die das Werk des literarischen Theoretikers der Extension du domaine de la lutte (1994) unaufhörlich kreist. 240 Auch in der kleinen Welt von Clèves sind Komplizenschaft oder zumindest stillschweigendes Einverständnis angesichts der brutalen Marginalisierung und Ridiculisierung anderer eine zentrale Überlebensstrategie; erleichtert (bzw. „contente que ce ne soit pas elle“) beobachtet Solange, selbst lange Zeit Mobbing-Opfer, wie der größte Junge der Klasse, routinierter Exekutor pubertär hypertrophierten patriarchalischen Terrors, ein geistig retardiertes Mädchen namens ‚Peggy Salami‘ auszieht und nackt auf dem Schulhof zur Schau stellt. 241 Wie gut geölt das Räderwerk eines sozial re-interpretierten comme il faut in diesem denkbar un-mondänen Milieu funktioniert, zeigt sich auch in der unverzüglichen Sanktionierung jeglicher Transgression durch die Peergroup: Als Solange ihren Wunsch nach einem tête-àtête mit einem attraktiven englischen Austauschschüler gesteht („autrefois elle appelait ça: legiertes Vehikel dieser Flucht fungiert bald die Sexualität: „[…] elle est déjà sur son avion, supersonique et rugissante, et voilà“ - in symptomatischen Begriffen erlebt Solange den ‚Jungfernflug‘ ihrer Defloration (Darrieussecq 2011b: 294). 235 Ibid.: 200. 236 Ibid.: 59. 237 Ibid.: 200f. Dieses Motiv der Demontage einer vermeintlich allmächtigen Vaterfigur - mit seiner doppelten ödipal-sozialen Dimension - findet sich bereits in Le Pays, dessen Protagonistin den tragikomischen biografischen Parcours ihres Vaters resümiert: Einst als Fabrikbesitzer - transparent parodistische phallische Symbolik - stolzer Herr über zahllose unermüdlich rauchende Schornsteine im ganzen Land (Darrieussecq 2005: 280), erhält dieser, durch seine Spielsucht ruiniert, nun sein ‚Gnadenbrot‘ auf dem weitläufigen Anwesen der als Künstlerin auch kommerziell erfolgreichen Mutter. 238 Darrieussecq 2011b: 139f. 239 Auch ausgehend von der Re-Konfrontation mit ihrem eigenen Audio-Tagebuch konstatiert Darrieussecq die ‚Grausamkeit‘ dieser jugendlichen Welt: „C’est un univers d’une incroyable dureté. J’ai d’abord été effrayée lorsque j’ai écouté ce journal“ (Bourmeau 2011). 240 Der Bezug zum Werk Houellebecqs wird auch von Enthoven (2011) hergestellt. 241 Vgl. Darrieussecq 2011b: 15f. <?page no="251"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 251 sortir avec un garçon“ 242 ), verweist Mobbing-Rädelsführer Raphaël - der soeben mit dem kollektiven Gruß „Bande de gros pédés“ die Szene betreten hat - sie sofort auf ihren Platz in der Hierarchie: „Il faut sortir à son niveau.“ 243 Diese Schlüsselformel, die ein strikt normatives Welt-, Selbst- und Fremdbild prägnant resümiert, wird durch den ganzen Text ausgesponnen: „Tu as toujours été un peu rustique […] il faut sortir à son niveau“, spottet die distinguierte Rose, als sie von Solanges Liaison mit Bihotz erfährt. 244 Streng beurteilt die Protagonistin selbst die Ehe der Eltern nach den Gesetzen dieser sozio-sexuellen Ökonomie; dem Vater als chronischem Fremdgänger mit potentiell exhibitionistischen Anwandlungen 245 wird auch nach seiner professionellen Degradierung immerhin noch ein klarer Attraktivitäts-Bonus gegenüber der Mutter eingeräumt: „Pilote ou pas, papa est tellement plus beau que maman, qu’est-ce qu’elle croit? Il faut sortir à son niveau.“ 246 Aufstiegssehnsüchte und Abstiegsängste bestimmen derart die Existenz der Heldin - und determinieren auch ihre Partnerwahl: Ex-Babysitter Bihotz, „ce plouc, ce hardos qui écoute Iron Maiden“, 247 arbeitslos in einer Krisenzeit, 248 tätowiert, konkret wie metaphorisch markiert, ist in ihren Augen schon deshalb keine längerfristige Beziehungs-Option, weil er als stigmatisierter Außenseiter auch sie selbst via sozioökonomische Kontamination zur ‚marginalen‘ Figur zu machen droht. 249 Die Wendung „[ê]tre cataloguée Bihotz“ fasst den Alptraum der Protagonistin zusammen, die - nicht zufällig anlässlich des ‚höfischen‘ Festes im lokalen Schloss - wieder einmal befürchtet, sich eher früher als später definitiv „[a]vec les bizarres, les ploucs, les concierges, les mal fagotés, les pervers, les sales […]“ im Abseits wiederzufinden. 250 242 Ibid.: 238. 243 Ibid.: 96ff. 244 Ibid.: 319. 245 Die traumatische Vision eines Vaters, der alkoholisiert öffentlich sein Geschlechtsteil zeigt (ibid.: 42f.; eine sehr ähnliche Szene kindlicher Scham angesichts des väterlichen Exhibitionismus findet sich in Philippe Vilains Confession d’un timide [2010: 14f.]), sitzt in Solanges Erinnerung fest: „La bite de son père plantée comme son nez au milieu de la figure. […] Il n’y aurait plus que l’exil ou la disparition, loin de ce village absurde posé absurdement à cet endroit de la croûte terrestre […]“ (Darrieussecq 2011b: 66); auf einem Hochzeitsfest befürchtet Solange erneut: „Si son père était là il montrerait sa bite“ (ibid.: 224). Ihre Freund-Feindin Rose verweist diese Szene später ins Reich der Phantasie: Solanges Vater, kein „exhibo“, sondern „juste un minable“, sei lediglich schrecklich betrunken gewesen (ibid.: 302f.). 246 Ibid.: 190. 247 Ibid.: 136. 248 Vgl. ibid.: 133. 249 In dem in ihrer Selbst- und Fremdeinschätzung obsessiv wiederkehrenden Adjektiv ‚marginal‘ konzentrieren sich die sozialen Ängste der Protagonistin, die nichts mehr wünscht, als um jeden Preis ‚dazuzugehören‘, ‚normal‘ und ‚gesund‘ zu sein. Unter die Rubrik der „choses marginales“ (ibid.: 329) fällt derart sogar die Mykose, unter der Solange nach ihren ersten sexuellen Erfahrungen leidet; das Stigma der Marginalität schwebt auch über einer potentiellen gemeinsamen Zukunft mit Bihotz („prolétaire, et même un peu marginal. ‚Perçu comme un marginal‘, précise Rose“): „Elle serait là, à Clèves, sous le soleil, Bihotz s’occuperait d’elle à sa façon marginale […]“ (ibid.: 319). 250 Ibid.: 142. Freilich wird in Clèves auch gezielt die Assoziation von sozialer und moralischer Distinktion problematisiert. Insofern bleibt die Interpretation Rollas etwas zu sehr in konventionellen Kategorien befangen, wenn sie Darrieussecqs Prince-Rollenträger Bihotz im Gegensatz zum literarischen Vorbild jegliche „noblesse“ abspricht: „pas de distinction, pas de classe, pas de noblesse d’âme et/ ou de rang chez lui“ (2012: Abs. 20). Pas de classe: Die Formel illustriert die Ambivalenz des Klassenbegriffs zwischen normativer und deskriptiver Dimension. Bihotz & Co. als Angehörigen des ‚niedrigen‘ Volkes per se auch jegliche „noblesse d’âme“ abzusprechen (trotz seiner „social shortcomings“ besitze Bihotz „a strong sense of moral propriety“, betont dagegen Hoft-March [2015: 184]), geht an der Intention des <?page no="252"?> 252 Marie Darrieussecqs Clèves Auch wenn ausgerechnet die snobistische Rose naiv erklärt: „L’amour est plus fort que la lutte des classes“, 251 spielt sich ‚Liebe‘ - dies macht Clèves ebenso deutlich wie die Princesse - nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum ab; Lafayettes amouröse Intrige wird bei Darrieussecq ihrerseits historisch und sozial rekontextualisiert. „… ma Princesse, elle couchera“: Zur Re-Interpretation des amourösen Triangels Personenkonstellation und Rollenverteilung in Darrieussecqs Roman zitieren mit ironischer Treue das Szenario Lafayettes, dies freilich unter konsequenter Desidealisierung sämtlicher Figuren. 252 Dies gilt zunächst für Darrieussecqs pubertierende ‚Princesse‘, „une adolescente obsédée par le sexe“, 253 ein Teenager wie - anachronistisch gesprochen - die Heldin Lafayettes, doch weit entfernt von deren hyperbolischer Schönheit und Tugendhaftigkeit; wie der Roman insgesamt wird auch diese Protagonistin, „princesse inversée“ 254 bzw. „princesse à l’envers“, 255 im Modus der parodistischen Umkehrung konstruiert. Im Gegensatz zu Mlle de Chartres resp. Mme de Clèves - über ihre Vornamenlosigkeit von den historischen Figuren differenziert und mit einer gewissen geheimnisvollen Aura versehen („[…] both the Prince and Princess of Clèves would lose much of their coldness and mystery, if each had a name“, bemerkt Michael Paulson 256 ) - verliert Darrieussecqs Heldin jenen aristokratischen „nom à faire rêver“; 257 dafür erhält Solange, moderne ‚princesse de Clèves‘ - nicht mehr von, sondern aus: das Patrowird zum Toponym umgedeutet -, einen mit allerlei symbolischen Konnotationen ausgestatteten Vornamen, von der lateinischen Etymologie (solemnis) über die Legende der „sainte Solange“ 258 bis zur intertextuellen Referenz (als berühmteste Namensschwester in der französischen Literatur darf wohl Solange aus Genets Les Bonnes gelten). Romans vorbei, der nicht zuletzt den ‚elitären‘ Aspekt des klassischen Prätexts beleuchtet - nicht unwesentliches Verdienst in Anbetracht der Tatsache, dass auch noch der zeitgenössische literaturkritische und politische (Pro-)Lafayette-Diskurs teilweise recht unreflektiert einen gewissen, im historischen Kontext in seiner Selbstverständlichkeit unsichtbaren, aus heutiger - bewusst anachronistischer - Perspektive jedoch sehr wohl zu hinterfragenden ‚Snobismus‘ der aristokratischen Erstrezipienten reproduziert: So erklärt Régis Jauffret in seiner Verteidigung der Princesse gegen Sarkozy deren ästhetischen wie ethischen Reiz damit, dass es sich hier nicht um „de vulgaires amours de bureau“ handle (zit. nach „La princesse de Clèves vue par…“, art. cit.). 251 Darrieussecq 2011b: 320. 252 Schon die Spezifik von Lafayettes Werk wurde im Sinne von Du Plaisirs Poetik eines neuen Romans daran festgemacht, dass der Text beim Leser für die Helden, „dont il se sent proche“, eine besondere Empathie provoziere; vgl. Lecompte (2009a: 292f.) sowie Racevskis (2003: 161f.) zum non-heroischen Charakter von Handlung und Protagonisten als zentralem modernem Zug der Princesse. Diese - vor der Kontrastfolie des heroischen Romans zu betrachtende und aus heutiger Sicht sehr relative - ‚Unvollkommenheit‘ der in hyperbolischen Begriffen geschilderten Figuren Lafayettes wird in Darrieussecqs réécriture mit ihrer alles andere als perfekten (Anti-)Heldin weiter entwickelt und konkretisiert. 253 Leménager 2011. 254 Thomine 2011. 255 Rolla 2012: Abs. 15. 256 Paulson 1991: 66 (vgl. allgemein den Abschnitt „Naming/ Non-Naming in La Princesse de Clèves“, 61ff.). 257 Werlen 2012: 30. 258 Darrieussecq selbst erzählt im Interview die Geschichte der heiligen Solange, „patronne de Berry“ (eine Gegend, die „tout comme le Pays basque“ über eine „forte tradition de sorcellerie“ und eine Population <?page no="253"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 253 In einem zwar heterodiegetisch erzählten, jedoch durchgehend intern fokalisierten Text wird der Name der Protagonistin (über etliche Seiten hinweg lediglich als ‚elle‘ bezeichnet) erst verspätet und auf signifikantem Umweg eingeführt - über die doppelte ‚Verneinung‘ einer dementen Großmutter, die ihre Enkelin hartnäckig beim falschen Namen nennt: „La mère de papa, qu’on appelait Nannie, l’appelait Nono, ce qui n’a rien à voir avec Solange à moins de vouloir dire Soso. ‚Solange‘, rectifiait sa mère, ‚oui, Nono‘, répétait Nannie, on n’en sortait pas.“ 259 Rund um den Namen Solange entfaltet sich im Roman aber auch eine ganze Reihe amouröser Sprachspiele. 260 Im Interview skizziert Darrieussecq eine kreative Alternativ-Etymologie samt ‚soleil‘ und ‚solitude‘, 261 Bihotz beschwört seinerseits „Solange, ma Solange, mon soleil, mon seul ange“; 262 die Heldin wiederum sähe ihren ‚altmodischen‘ Namen nur allzu gern durch das anglo-modernisierte ‚Angie‘ ersetzt, Zauberformel im Mund des geliebten Arnaud („Il prononce Heyndjiii“), die ihr glamouröseres Ich zum Vorschein zu bringen verspricht: „C’est tellement sexy et rock’n’roll. Tellement autre chose que Solange. Tellement ça. C’est le nom de cette fille qui est cachée en elle […]. Angie, que lui, Arnaud, est capable de voir.“ 263 Wie das Dorf Clèves und den Königshof verbindet Solange und die Princesse de Clèves eine Kontrast- und Spiegelrelation; Darrieussecq selbst verweist auf etliche Parallelen bzw. von „femmes marginales, libres, conspuées pour cela aussi“ verfüge). Die legendäre Solange, „martyre de la pureté“, landet auf der Flucht vor ihrem berittenen Verfolger in einem Fluss (eine Szene, deren „érotisme mouillé“ die Psychoanalytikerin Darrieussecq fasziniert); noch nachdem jener sie enthauptet hat, wandelt die Heilige, ihren Kopf unter dem Arm, unbesiegbar einher (V 2012). Kurioses Detail am Rande, das Darrieussecqs Vertrauen in die Eigendynamik des Textes bzw. das „savoir de l’écriture“ (2011a: 192) zu bestätigen scheint: Die Figur Solange ist längst erfunden, der Roman Clèves geschrieben, als die Autorin - „après-coup“, wie sie betont - die entsprechende Legende entdeckt (V 2011). 259 Darrieussecq 2011b: 22. 260 „Aimer, au plus fort de l’amour, c’est aimer un nom“, erklärt Michel Schneider (2011: 11); ausführlich erörtert wird die Magie des ‚Philonyms‘ bei Ėpštejn, der das Projekt einer differenzierten ‚Erotonymik‘, definiert als ‚Linguistik und Poetik des Liebesnamens‘, skizziert (2011: v. a. 370ff., 387ff.). 261 Darrieussecq/ V 2012. 262 Darrieussecq 2011b: 132, vgl. auch 292. „[…] une certaine Solange - le seul ange? “, spinnt auch Enthoven (2011) das Spiel fort, während die Rezensentin der FAZ in diesem Punkt beträchtliche Phantasie an den Tag legt und allerlei Spekulationen über den Namen ‚Solange‘ anstellt, „der phonetische Verwandtschaft zu den französischen Wörtern ‚songes‘ (Träumereien), ‚soulagement‘ (Erleichterung) oder ‚longes‘ (Laufleine) aufweist und den Marie Darrieussecq kaum zufällig für ihre jugendliche Heldin gewählt haben dürfte“ (Teutsch 2013). 263 Darrieussecq 2011b: 232. Die performative Macht des Namens reflektieren - nicht zuletzt aus der Gender-Perspektive - auch andere Figuren im literarischen Universum Darrieussecqs. So sucht Marie Rivière in Le Pays, mit einem Mann namens Diego Herzl - eine ganze Familien- und Exilgeschichte findet sich hier konzentriert - vom feuerländischen ‚Ende der Welt‘ verheiratet („comme non-lieu c’est imbattable“; 2005: 49), nach einem möglichst ‚starken‘ Namen für ihre neugeborene Tochter, Talisman gegen die weibliche Namenlosigkeit: „Les femmes n’ont pas de nom. Même si j’écrivais sous le nom de ma mère, ce serait sous le nom de son père à elle. Si j’accouche d’une fille, elle n’aura que son prénom. Il faut que nous trouvions des syllabes suffisamment fortes pour la nommer, entière, pour signifier son surgissement. Une femme unique au monde, ma fille“ (ibid.: 92). Das strahlende Resultat ihrer Meditationen lautet - „Épiphanie“ (ibid.: 263). Strategisch betitelt Darrieussecq auch ihren Essay über „Paula M. Becker“, in Abgrenzung gegenüber einer langen Tradition patriarchalischer (De-) Nomination: „Les femmes n’ont pas de nom. Elles ont un prénom. Leur nom est un prêt transitoire, un signe instable, leur éphémère“ (2016: 375f.). <?page no="254"?> 254 Marie Darrieussecqs Clèves „convergences divergentes“ 264 zwischen Lafayettes Protagonistin und ihrer eigenen „héroïne ou anti-héroïne“. 265 Beide Figuren teilen ihre Jugend, „la même curiosité pour l’amour et une même attitude rebelle“, 266 aber auch ihre doppelbödige „sincérité“, 267 essentieller Charakterzug der Heldin Lafayettes, zugleich zentrales Element einer von Narzissmus nicht freien Inszenierung. Die parodistische réécriture Darrieussecqs arbeitet die Ambivalenz dieses auch durch Clèves leitmotivisch ausgesponnenen Schlüsselattributs heraus: Solanges Selbstbild prägt ebenfalls eine beinahe aggressiv affichierte ‚Ehrlichkeit‘ - gerade in Liebesdingen -, die ihrerseits schon wieder zur von der Protagonistin als solche reflektierten Pose wird. Radikal unterscheidet sich Solange von Lafayettes tugendhafter Heldin dagegen in puncto Körperlichkeit und Sexualität. Bereits im Flammarion-Interview aus dem Jahr 2009 kündigt Darrieussecq spielerisch die Sexualisierung ihrer postmodernen Re-Interpretation der Princesse an, die „une certaine conception puriste de la (très) jeune fille“ 268 historisch kontextualisiert und dekonstruiert: „Tout le monde est censé savoir que la Princesse de Clèves ne couche pas, ne couchera jamais, avec le duc de Nemours. Mais si vous avez treize ans et que vous ouvrez ce livre pour la première fois, vous ne le savez pas encore. […] ma Princesse, elle couchera. Je ne vous dis que ça.“ 269 In diesem Sinne findet sich Darrieussecqs Princesse unter Fortschreibung und sexueller Erweiterung der Ausgangskonstellation Lafayettes bald genug zwischen zwei Männern wieder. An die Stelle des Prince de Clèves tritt Monsieur Bihotz, Solanges Babysitter seit frühester Kindheit, mit dem das pubertierende Mädchen - auf eigene Initiative - ein heimliches Liebesverhältnis mit zumindest männlicherseits unglücklichem Ausgang beginnt. Bei der Gestaltung dieser Figur beweist sich Darrieussecqs Kunst der ethischen „ambiguity“ auf den Spuren Lafayettes: 270 Über Bihotz, den bereits mit seinem kindlichen Schützling ein problematisch sexualisiertes Verhältnis verbindet, wird - ohne jegliches Moralisieren, aber auch ohne jede Verklärung à la Lolita - das heikle Thema Pädophilie in den Roman eingeführt. 271 264 Rolla 2012: Abs. 11ff. 265 Darrieussecq/ V 2012. 266 Rolla 2012: Abs. 18. 267 „Si loin qu’on aille dans la sincérité, on y trouve toujours un au-delà“, merkt Fabre treffend (nicht nur) zur Princesse de Clèves an (1979: 48). Das Moment der „mauvaise foi“ hinter und in der abgründigen „sincérité“ der Lafayette’schen Heldin, ihrerseits im Banne der „illusion de sa propre gloire“, analysiert - vor allem an der scène de l’aveu - Léopold 2009 (hier 38ff.). 268 Barnett 2011. 269 Darrieussecq 2009b: V, IX. „[….] c’est sûr qu’elle couche“, betont Darrieussecq (V 2011) auch an anderer Stelle, nach dem Unterschied zwischen der Protagonistin Lafayettes und „ma ‚princesse‘“ befragt. 270 „Critics who look for the establishment of ultimate values within the Princesse de Clèves find only ambiguity“, konstatiert schon Kaps (2001: 83). 271 Bereits als Babysitter zeigt Bihotz sich nicht unempfänglich für die ‚Reize‘ der kindlichen Solange (2011b: 53f.); einige Jahre später am Strand kann er seine enthusiastische physiologische Reaktion auf die Gesellschaft mehrerer halbwüchsiger Mädchen zu deren Amüsement nicht verbergen (ibid.: 82f.). Auch diese Motivik des pädophilen Babysitters der kleinen ‚princesse de Clèves‘ besitzt einen doppelten poetologischen Boden: Schon in Rapport de police meditiert Darrieussecq über die Etymologie des „plagiarius“, Menschenräuber oder auch „voleur d’enfants“ - und stellt vor dem Hintergrund des ihr von Laurens vorgeworfenen metaphorischen Diebstahls eines (toten) Kindes den Konnex zwischen den respektiven Obsessionen des Plagiats und der Pädophilie her: „Quand on sait l’hystérie collective qui existe de nos jours autour de la figure du pédophile, on entend qu’être plagiaire est le crime suprême <?page no="255"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 255 Im Paratext wirft Darrieussecq die - vor dem Hintergrund zeitgenössischer polit-korrekter Normen bewusst provokante - Frage auf, ob es nicht unter Umständen „vielleicht besser ist, als Jugendlicher auf einen verliebten Erwachsenen zu treffen als auf einen anderen Jugendlichen, einen Gleichaltrigen, der ungewollt brutal sein kann“, und betont explizit, ihre Teenager- Protagonistin sei kein „Opfer eines furchterregenden Monsters, überhaupt nicht“. 272 „Lolita revisited, aber dann anders“: 273 In der Darstellung dieser „relation inappropriée, comme disent désormais les amateurs d’anglicismes pudiques“ 274 kommt neben der Princesse de Clèves - mit ihrer gleichfalls sehr jugendlichen Heldin, deren frühe Ehe im Kontext der Epoche und des Milieus freilich ganz und gar nicht außergewöhnlich erscheint - ein weiterer zentraler Intertext ins Spiel; an Vladimir Nabokovs modernem Klassiker führt hier kein Weg vorbei. Darrieussecq erklärt, im Rahmen der Arbeit an Clèves auch Lolita wiedergelesen zu haben - und zwar aus gezielt re-fokussierter weiblicher Perspektive, mit der Intention, „Lolita eine Stimme [zu] geben“. 275 Zur Zeit der Entstehung von Clèves übersetzt sie auch Margaux Fragosos Tiger, Tiger! , autobiografisch inspirierte pädophile Liebes- oder - je nach Standpunkt - Missbrauchsgeschichte, mit der sich die junge US-amerikanische Autorin ebenfalls von der quasi-obligaten moralischen Empörung angesichts des Themas abgrenzt. Auch wenn Tiger, Tiger! - sorgfältig inszeniertes editoriales Phänomen, in 23 Ländern zeitgleich auf den Markt gebracht 276 - zweifellos auf anderem literarischem Level bzw. in einem anderen Marktsegment als das Werk Nabokovs (und Darrieussecqs) anzusiedeln ist, so scheint doch auch die Auseinandersetzung mit Fragosos ihrerseits stark intertextualisierter „autobiographie romancée“ (gemeinsam lesen die adoleszente Protagonistin und ihr ‚Liebhaber‘ neben Lolita auch Marguerite Duras’ L’Amant) die eine oder andere Spur in Clèves hinterlassen zu haben. Über die Figur Bihotz - dezente interlinguistische Ironie: die baskische Vokabel ‚bihotz‘ bedeutet ‚Herz‘ 277 - werden bei Darrieussecq patriarchalische Virilitäts-Ideale hinterfragt: Bihotz, Außenseiter auch einer traditionellen Gender-Ordnung, steht für einen alternativen en littérature. Ogre, vampire, suceur du sang des écrivains - le voleur de mots, le voleur d’enfants, l’Autre dans toute son horreur! “ (2011a: 24, 159f.). 272 Darrieussecq/ V 2013a; vgl. auch Barnett 2011. 273 Vgl. Darrieussecq/ V 2013a. 274 Leménager 2011. 275 Darrieussecq/ V 2013a. Die Lolita-Referenz wurde auch im kritischen Diskurs zum Roman vielfach aufgegriffen; in der Rezension des Nouvel Observateur (Leménager 2011) ebenso wie von Despentes (2011), die Darrieussecqs Heldin als „Lolita chaudasse“ charakterisiert. 276 Vgl. Höbel 2011. Fragosos „autobiographie […] romancée“ (Messadié 2012) trägt im Original den Untertitel A Memoir (2011); in der deutschen Übersetzung (2011) wird durch die paratextuelle Umcodierung zum Roman eine betonte Literarisierung und damit Entschärfung vorgenommen. Ob ‚Memoir‘ oder ‚Roman‘: Wenig überraschend fiel die Rezeption des Werkes höchst kontrovers aus. So präsentiert Le Journal du Dimanche „un récit dangereux traduit par Marie Darrieussecq“, Konzentrat von „quinze années de perversion sexuelle“, dessen „passages pornographiques“ bereits das US-amerikanische Publikum schockiert hätten (Delorme 2012). „[…] amoureux ou prédateur sexuel? “, fragt sich Messadié (2012) angesichts des Antihelden dieses unbequemen Textes, der „le même malaise“ wie einst Nabokovs Lolita provoziere, „autre histoire de tordus qu’on aurait parfois souhaité n’avoir jamais lue“. Nicht minder kritisch wurde auch die deutsche Übersetzung kommentiert (vgl. etwa Höbel 2011; Lovenberg 2011). 277 Vgl. Trask 2008: 56, 143. <?page no="256"?> 256 Marie Darrieussecqs Clèves Männlichkeitsentwurf, der ‚weibliche‘ Attribute und Aktivitäten zulässt. 278 Nicht zufällig wird dieser in den Augen seiner Umgebung zumindest in psychosozialer Hinsicht so ‚unmännliche‘ Mann, der seine Mutter bis zu ihrem Tod pflegt, sich bei aller sexualisierten Ambivalenz fürsorglich um das ihm anvertraute Kind kümmert und über den Tod seiner geliebten Hündin weint, 279 von Solanges Vater als verkappter Homosexueller abgetan („[…] les pédés sont super-bons, rayon enfants. Qu’est-ce que tu veux qu’il lui fasse, à ma fille? “, entgegnet dieser einem Bekannten, der Bedenken bezüglich Bihotz’ Babysitterrolle äußert). 280 Nach dem Modell seines Lafayette’schen Vorgängers ist es Bihotz, der noch vor ihrem offiziellen Debüt auf dem lokalen Liebesmarkt die Reize dieser neuen Princesse entdeckt; wie jener versucht er seine amourösen Prioritätsrechte geltend zu machen. 281 Bei Gelegenheit bedauert auch die mittlerweile halbwüchsige Solange, nicht in den treuen Bihotz mit all seiner „tendresse“, seinem „bon regard, aimant, ancien […] infiniment doux“ 282 verliebt zu sein: „Ce serait tellement pratique d’être amoureuse de lui.“ 283 Es ist Bihotz mit „ses yeux de troll attendri qui vient de capturer la princesse“, 284 der Solange in ihrer pubertären Unsicherheit ein schmeichelhaft idealisiertes Bild ihrer selbst bietet und seine junge Geliebte mit betont zeremonieller Höflichkeit („Madame est servie“) und ängstlicher Zurückhaltung behandelt („Il sourit sans cesse, comme s’il avait un peu peur“). 285 Im Gegensatz zu Lafayettes Prince wird dieser sein Nachfolger tatsächlich betrogen und verlassen. Der „[p]auvre Monsieur Bihotz“ („Il mérite tellement d’être aimé“, konstatiert Solange noch in dem Moment, da sie ihren Bekenntnis- und zugleich Abschiedsbrief verfasst 286 ) unternimmt daraufhin - wiederum subtil gender-transgressiv auf den Spuren „of that disillusioned romantic Emma Bovary“ 287 - einen ungeschickten (und denkbar wenig glamourösen) Selbstmordversuch, weit von der noblen Agonie seines intertextuellen Ahnen entfernt: Das in suizidaler Absicht konsumierte 278 Es ist vielleicht kein Zufall, dass auch dieser sozial degradierte Prince sich wie sein Lafayette’scher Vorgänger bei einem Teil der weiblichen Literaturkritik beträchtlicher Popularität zu erfreuen scheint. So bedauert Koutchoumoff (2011), dass Bihotz als heimlichem Helden des Romans, dessen „transformation“ im Namen der Liebe „plus forte encore que la mue de Solange“ sei, nicht mehr Raum gewidmet werde: „Peut-être qu’alors, le roman n’aurait pu éviter le pathos. Peut-être. […] Monsieur Bihotz reste en mémoire, seul sur une route, silhouette indélébile.“ Vgl. auch bereits Koutchoumoff 2013: „Tandis que Monsieur Bihotz s’avance vers la lumière, quitte ses attributs de personnage secondaire pour occuper une place inattendue, Solange poursuit ses cruelles chimères. Les masques tombent, comme toujours chez Darrieussecq.“ 279 Vgl. Darrieussecq 2011b: 337. 280 Ibid.: 63. Auch aus der Perspektive der Mutter erscheint Bihotz als Repräsentant einer zwar positiv valorisierten, aber dennoch überaus klischeehaften ‚Unmännlichkeit‘ (ibid.: 340); ein Urteil, das sie nach seinem verunglückten Selbstmordversuch revidiert: „Quel égoïsme! On dirait ton père“ (ibid.: 343). 281 Vgl. Lafayette 2014c: 340: „M. de Clèves sentit de la joie, de voir que cette personne, qu’il avait trouvée si aimable, était d’une qualité proportionnée à sa beauté: il s’approcha d’elle, et il la supplia de se souvenir qu’il avait été le premier à l’admirer, et que sans la connaître il avait eu pour elle tous les sentiments de respect et d’estime qui lui étaient dus.“ Der „contraste“ zwischen den Erstbegegnungen der Protagonistin jeweils mit ‚Clèves‘ bzw. ‚Nemours‘ (vgl. Francillon 1973: 102) bleibt - in puncto Chronologie, Ambiente und Öffentlichkeitsgrad - auch hier skrupulös gewahrt. 282 Darrieussecq 2011b: 324. 283 Ibid.: 312. 284 Ibid.: 305. 285 Ibid.: 324. 286 Ibid.: 337f. 287 Hoft-March 2015: 186. <?page no="257"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 257 Unkrautvernichtungsmittel verfehlt knapp seinen Zweck, 288 Bihotz stirbt nicht wie M. de Clèves „avec une constance admirable“, 289 sondern überlebt als Dauer-Dialysepatient. 290 Seine Princesse reagiert nicht mit Schuldgefühlen, Reue und Entsagung; leicht indigniert wendet sie sich vielmehr ihren anderweitigen amourösen Sorgen zu. 291 Diese Sorgen haben einen Namen: Arnaud. Besagter Arnaud (mit dem ironischen Familiennamen „Lemoine“ 292 ), gleichfalls radikal desidealisierter Rollenträger des Nemours, wird als jugendlicher Pseudo-Don Juan geschildert, der die bemühte Selbstinszenierung als philosophisch abgeklärter und sexuell abgebrühter Libertin mit naiv-machistischen Besitzansprüchen gegenüber seinem imaginierten Harem verbindet („Lui ne partage pas. Est-ce qu’on partage une fille comme toi? Qui est l’autre mec? “ 293 ). Nur eingeschränkt ist Rolla zuzustimmen, wenn sie - im Vergleich zu Anti-Prince Bihotz - die „convergences entre ce personnage et son correspondant du XVII e siècle“ (bzw. diegetisch des 16. Jahrhunderts) für „beaucoup plus évidentes“ befindet; 294 der doch sehr viel komplexeren Figur Lafayettes wird sie kaum gerecht, wenn sie Darrieussecqs Arnaud ohne Weiteres auf den klassischen Prätext reprojiziert („Comme Nemours, Arnaud est un jeune homme expérimenté et sans scrupules […]“) und die Frage aufwirft, ob dieser nicht „plutôt qu’une image renversée de Nemours, la version des années 1980 du même personnage“ repräsentiere. 295 Es ist sehr wohl ein parodistisch ‚verkehrter‘ Nemours, den Darrieussecq ihrer „princesse inversée“ 296 zur Seite stellt: Im Porträt Arnauds kippt die latente, vor allem in feministisch inspirierten Lektüren akzentuierte Ambivalenz des Lafayette’schen Helden klar ins Negative; damit schreibt auch Clèves sich in eine - in zeitgenössischen Re- Interpretationen der Princesse generell frappierende - Tendenz zur Konstruktion problematischer Nemours-Figuren ein. ‚Nemours‘ widerfährt überdies - weitere charakteristische, bereits bei Radiguet sich abzeichnende strukturelle Gemeinsamkeit unterschiedlicher (post-) moderner Variationen - eine texinterne Multiplikation; 297 dieses Verfahren wendet Marie Darrieussecq auch auf andere ‚Bausteine‘ ihres Prätexts an. 288 Auch dieser Suizidmodus wurde schon leitmotivisch vorbereitet: In Krisensituationen fällt Bihotz jeweils „avec sa tête à désherber“ wütend bis verzweifelt jätend über seinen Garten her (Darrieussecq 2011b: 243). 289 Lafayette 2014c: 461. 290 In den Ohren Solanges klingt selbst besagte ‚Dialyse‘, auf die Bihotz mit seinem fatalen Virilitäts- Defizit nun ein Leben lang angewiesen sein wird, ein wenig nach einem „prénom féminin“ (Darrieussecq 2011b: 343). 291 Vgl. ibid.: 345. 292 Ibid.: 286. 293 Ibid.: 334. 294 Rolla 2012: Abs. 22. 295 Ibid. 296 Thomine 2011. 297 Arnaud fungiert als zentrale Reinkarnation des Nemours; zugleich findet - entsprechend der emotionalen und sexuellen Mobilität der pubertierenden Heldin - eine gewisse Pluralisierung der männlichen Liebesobjekte statt: Vor der Begegnung mit Arnaud gibt Solange sich Schwärmereien über einen gewissen Christian hin, Ko-Protagonist ihrer höchst konventionellen Zukunftsträume von idyllischem Heim und harmonischem Familienleben (Darrieussecq 2011b: 75). Als temporäre Statisten in ihrer amourösen Performance kommen aber auch Terry - dessen Reiz sich nicht zuletzt der mimetischen Logik des Begehrens verdankt, hat der junge Engländer doch zuvor bereits Solanges beste Freundin mit seiner sexuellen Aufmerksamkeit beglückt (ibid.: 94ff.) - und ein anonymer „pompier“ auf Polterabend-Trip <?page no="258"?> 258 Marie Darrieussecqs Clèves Hofball, Brief, Bekenntnis, Farbencode: Auf den Spuren der Princesse de Clèves (II) Unter Rekurs auf eine signifikante text-kartografische Metapher 298 erklärt Darrieussecq, „la trame la plus évidente“ bzw. „les bornes kilométriques“ der Princesse in Clèves beibehalten zu haben. Dies gilt für das Dispositiv eines para-höfischen „huis clos“ wie für den zentralen „triangle amoureux“, aber auch für diverse Schlüsselmomente und -motive („il y a la lettre, le bal, la couleur jaune“), die allerdings nicht tels quels übernommen, sondern zum einen sozial wie historisch rekontextualisiert, zum anderen narrativ multipliziert und teilweise untereinander rekombiniert werden. 299 „La première ligne est la clé qui tourne le moteur du livre“: 300 Jener Satz, mit dem Darrieussecqs Liebesgeschichte mit der Princesse beginnt („Il parut alors une beauté à la Cour […]“ 301 ), fungiert als narrative Matrix für die Einstiegsszene in Clèves. Solange erhält die Erlaubnis, sich auf jene „kermesse“ zu begeben, die im wenig feudalen Milieu des Dorfes Clèves einem höfischen Fest bei Lafayette entspricht und hier als Bühne für das Debüt der adoleszenten Heldin dient. 302 Etwas später im Text, im Rahmen jener Party im lokalen château - für Clèver Verhältnisse untypisch mondänes Event, zu dem Solange sich mühsam Zugang verschaffen muss -, folgt ihre Begegnung mit Arnaud. Coup de foudre: Unübersehbar zitiert diese Szene das erste Aufeinandertreffen der Princesse de Clèves und des Duc de Nemours, die beim Hofball auf royale Aufforderung miteinander tanzen, ohne einander noch vorgestellt worden zu sein. Auch Solange und Arnaud, anonyme Party-Gäste, kommen einander beim Tanz näher; erst nachträglich folgt die mehr oder minder offizielle Präsentation (beiderseits unter Vorspiegelung einer subtil verfälschten bzw. ‚verbesserten‘ Identität). Dem „unusually rapid inamoramento [sic]“ 303 der Protagonisten Lafayettes widerfährt bei Darrieussecq eine sexualisierte Re-Interpretation: Direkt nach dem Tanz landet Solange mit ihrem Kavalier in einem der Schlafzimmer des Schlosses; die ‚Liebesszene‘ gerät freilich zur anti-pornografischen Parodie. Die Schlüsselszenen resp. -motive der lettre und des aveu werden fusioniert. 304 Es ist ein getreulich in ungeschickter Mädchenhandschrift samt orthografischen und grammatikalischen in einer Provinz-Disco ins Spiel (ibid.: 103ff.). Vgl. zu dieser Vervielfältigung potentieller Nemours- Figuren auch Marcandier 2011. 298 Zur Raum-/ Text-Motivik bei Darrieussecq vgl. auch die poetologischen Meditationen in Le Pays, dessen Schriftsteller-Protagonistin en abyme den Entstehungsprozess eines Werkes namens „Le Pays“ - metaphorisiert als Erschließung neuen literarischen Territoriums - reflektiert: „Les phrases se formaient dans ma tête […]. Le Pays lentement se laissait prendre“ (2005: 155, vgl. auch 79, 224f.). 299 Darrieussecq/ V 2011. 300 „‚Je ne choisis pas mes sujets…‘“, art. cit. 301 Lafayette 2014c: 337. 302 Darrieussecq 2011b: 11. 303 Racevskis 2003: 159. 304 Hier knüpft der Text nicht nur an La Princesse de Clèves, sondern parallel an das tragische Schicksal einer anderen Lafayette-Heldin an: Auch die Comtesse de Tende in der gleichnamigen Novelle - Lafayettes „œuvre la plus cruelle, celle où la critique de l’amour est poussée le plus loin“ (Pingaud 1959: 100f.) - legt ihren aveu auf brieflichem Wege ab (im Unterschied zu Mme de Clèves hat diese Protagonistin tatsächlich Untreue samt dezidiert inopportuner Schwangerschaft zu beichten); ebenfalls postalisch erteilt ihr Ehemann - verspätet in seine zunächst vernachlässigte Frau verliebt und nun zutiefst in seiner ‚Ehre‘ gekränkt - ihr seine Instruktionen für ihre weitere Lebensgestaltung <?page no="259"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 259 Fehlern reproduzierter Abschiedsbrief von naiver Grausamkeit, der Bihotz in seinen Suizidversuch treibt; weniger couragiert und moralisch skrupelloser als ihre intertextuelle Vorgängerin, teilt Solange ihrem Quasi-Ehemann („son mec. Avec qui elle vit“ 305 ) ihre Entscheidung, ihn zu verlassen, und ihre Verliebtheit in einen anderen auf epistolarischem Wege mit. Zur Sicherheit fügt sie eine kleine Erpressung hinzu („P. S. N’insistez pas sinon je raconte à tout le monde“), bevor sie ihr Schreiben mit vier ebenso kitschigen wie zynischen Herzchen beschließt. 306 Ein weiteres Mal bringt Darrieussecqs parodistische réécriture eine im Prätext bereits angelegte Ambivalenz zum Vorschein; spätestens auf den zweiten Blick wird auch der aveu der Princesse de Clèves - mit dem sie den Ehemann in „le rôle incongru d’un directeur de conscience“ drängt, „en même temps qu’on lui apprend qu’il est l’offensé“ 307 - als ethisch durchaus zweideutiger Akt bzw. Manifestation einer „conscience irréfléchie“ lesbar. 308 Doch auch abseits der Re-Interpretation resp. Transformation ganzer Szenen wird so mancher feine intertextuelle Faden fortgesponnen. Nach ihren Eindrücken bei der allerersten Konfrontation mit der Princesse befragt, erzählt Darrieussecq von ihrer besonderen Faszination für deren Farbensymbolik; jene Passage, da Nemours der angebeteten Frau zu Ehren neben Schwarz mit der Farbe Gelb zum Turnier erscheint, habe ihr persönlich eine ganz neue Dimension der ‚Sprache der Mode‘ und einer raffinierten amourösen Semiotik erschlossen: „Je ne savais pas que le jaune était censé ne pas aller aux blondes. Je trouvais cet interdit vestimentaire d’un chic insurpassable […]. Et l’attention de Monsieur de Nemours me semblait une merveille de tact et de ‚sous-conversation‘: comment se faire comprendre d’une seule personne, sans un mot, juste en portant une couleur, une couleur en négatif…“. 309 Schon in Bref séjour chez les vivants (2001) spielt Darrieussecq im Rahmen einer literarischen Farb- Phantasmagorie auf den Spuren Rimbauds auch mit dem ‚Chromotopos‘ der Princesse de Clèves, „blonde et pâle“, hier allen ästhetischen Skrupeln zum Trotz neben Beige mit ihrem geliebten Gelb assoziiert: Des cascades d’images entrevues, sans mots, elles veulent bien dire quelque chose. Et parfois une phrase formée, dont on perçoit l’image même, une chenillette de lettres à dominante noire avec des couleurs: le a vert, le e brun, le è beige et le ê ocre, le i jaune, le o rouge, le u bleu. […] Éléonore Johnson est un nom un peu triste: beige rouge noir, rouge noir noir rouge. Un nom des années quatre-vingt. Et la Princesse de Clèves est blonde et pâle comme son nom, en beige et jaune. 310 In derselben Passage stellt sich die Protagonistin, mehrfach Sprachrohr poetologischer Reflexionen, die auch transtextualitätstheoretisch interessante Frage, was von einem Text im Bewusstsein des lesenden Subjekts übrig bleibt: „Qu’est-ce qui reste des livres qu’on a lus? (Lafayette 2014d: 72ff.). Zur relativ späten literaturkritischen Assoziation der aveux dieser beiden Lafayette’schen Heldinnen vgl. Laugaa 1971: 128. 305 Darrieussecq 2011b: 333. 306 Ibid.: 338f. 307 Levillain 1995: 77. 308 Ibid.: 89, unter Verweis auf Doubrovsky (1959), dem zufolge Lafayettes Roman „incontestablement une des études les plus subtiles et les plus poussées de la ‚mauvaise foi‘, sa souplesse, ses artifices diaboliques et ses innombrables avatars“ bietet (zit. nach Levillain 1995: 143). 309 Darrieussecq 2009b: IV. 310 Darrieussecq 2002: 152. <?page no="260"?> 260 Marie Darrieussecqs Clèves Une forme et des couleurs, parfois des mots, et une certaine densité d’images, autre que celle des films et proche des souvenirs.“ 311 Vor diesem Hintergrund ist auch die spezifische Aufmerksamkeit, die dem modischen und farblichen Detail in Clèves zuteilwird, alles andere als zufällig. Die Heldin - wie gesagt konsequent intern fokalisiert - bleibt den ganzen Text hindurch quasi unsichtbar (ihr Aussehen erschließt sich höchstens indirekt in ihren - überaus kritischen - Selbstkommentaren); erst im Folgeroman Il faut beaucoup aimer les hommes wird der Leserin auf wiederum durch die narrative Fokalisierung bedingten deskriptiven Umwegen ein mehr oder minder konkretes Bild Solanges, auch sie blond und hellhäutig wie die Princesse Lafayettes, geboten. In Clèves freilich ist die - gleichfalls symbolträchtige - Schlüsselfarbe zunächst weniger Gelb als vielmehr Rot; jenes Rot, das in Gestalt besagter metaleptischer Stiefel bereits über das Cover der Taschenbuchedition marschiert und seine Spuren quer über die Seiten des gesamten Romans hinterlässt. Als aufgeregte Debütantin macht sich eine herausgeputzte Solange zur „kermesse“ auf: Aus der Perspektive der stolzen Besitzerin wird ihre „robe préférée“ als synästhetisches Gesamtkunstwerk mit allerlei visuellen („Des chiens rouges sont brodés le long de l’ourlet“) und haptisch-akustischen Atouts geschildert („Elle gambade sur la route, un petit saut à chaque pas, un bruit glissant, chiff, chiff“). 312 In diesem Kleid widerfährt Solange die Miniaturkatastrophe ihrer Menarche; zu den roten Deko-Hündchen auf dem geliebten Kleid gesellt sich unerwartet, „[s]ur le blanc immaculé“, noch eine ganze Meute verräterischer „autres petits chiens rouges“ dazu. 313 Aus Schaden zumindest in diesem Punkt vorsichtig geworden, wählt Solange für ihr erstes Rendezvous ein schwarzes Outfit - nicht nur um der geheimnisvollen Aura als angebliche Waise willen, sondern vor allem auch zur Vermeidung vestimentärer Pannen: „[…] elle a mis du noir parce qu’elle est ténébreuse […] parce qu’elle est orpheline et que le sang, si fuite, se verra moins.“ 314 311 Ibid. Darrieussecq schließt hier nicht zuletzt an Marcel Proust an; im Rahmen von Swanns Meditation über die Vinteuil’sche „petite phrase“ wird unter Bezug u. a. auf La Princesse de Clèves die Frage nach jenem intuitiv präsenten ‚Bild‘ bzw. jener Spur reflektiert, die ein musikalisches oder literarisches Kunstwerk im Bewusstsein des Rezipienten hinterlässt: „En sa petite phrase, quoiqu’elle présentât à la raison une surface obscure, on sentait un contenu si consistant, si explicite, auquel elle donnait une force si nouvelle, si originale, que ceux qui l’avaient entendue la conservaient en eux de plain-pied avec les idées de l’intelligence. Swann s’y reportait comme à une conception de l’amour et du bonheur dont immédiatement il savait aussi bien en quoi elle était particulière, qu’il le savait pour la Princesse de Clèves ou pour René, quand leur nom se présentait à sa mémoire“ (Proust 1995: 247f.). 312 Darrieussecq 2011b: 11. 313 Ibid.: 45. 314 Ibid.: 202. Bei anderer Gelegenheit wird im Kreis von Solanges copines darüber diskutiert, ob frau wohl an den Menstruationstagen heiraten solle oder nicht, die Gefahr der Blamage im blutbefleckten weißen Prachtkleid gegen die vorteilhafte Option der Camouflage potentieller Non-Virginität in die Waagschale geworfen (ibid.: 117f.). <?page no="261"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 261 Körperwelten, Geschlechterwelten: Zur Sinnlichkeit des Romans Im Kontrast zur abstrakten Romanwelt Lafayettes setzt Darrieussecq aufs körperliche, durchaus auch abjekte Detail; die Autorin selbst kommentiert ihre ‚physische‘ - „molekulare“ bzw. „atomisch[e]“ - Schreibweise, bei der es den Figuren an und unter die Haut geht. 315 Ihre Solange ist keine ätherisch-entrückte Schönheit, sondern ein um die eigene Attraktivität ängstlich besorgter Teenager mit Gewichtsproblemen, Menstruationsbeschwerden und rasch genug lästiger Vaginalpilzinfektion; 316 aus der Perspektive der Protagonistin entsteht hier eine Innenvision als defizitär wahrgenommener weiblicher Körperlichkeit. 317 Wie bei Lafayette wird die Physis zum verräterischen Medium, das allerlei Geheimnisse preiszugeben droht. Betrifft dies in der Princesse minimale unwillkürliche Reaktionen (Erbleichen, Erröten), subtile mimische Lapsus, 318 so spielt sich diese kompromittierende Körper-Kommunikation bei Darrieussecq auf sehr viel konkreterer physiologischer Ebene ab. Das heikle Thema Menstruation zieht sich leitmotivisch durch den Text; 319 im Gegensatz zur Interpretation Lisbeth 315 Darrieussecq/ V 2013a. Von der Kritik wurde Clèves als überaus ‚sinnlicher‘ Roman in einer Entwicklungslinie situiert, an deren Anfang Darrieussecqs Erstling Truismes steht und die etwa Thomine (2011) mit dem um die Gespensterthematik, ein Imaginarium „d’absences, d’auras, de vides“ kreisenden anderen Teil ihres Œuvres kontrastiert. Die konstruierte Dichotomie zwischen ‚leiblicher‘ und ‚gespenstischer‘ Textualität bleibt jedoch etwas reduktiv: Darrieussecq selbst kommentiert zwar die Spezifik ihres literarischen Parcours „sur ces deux jambes“, zugleich betont sie freilich die permanente Interaktion bzw. unterschwellige Affinität zwischen jenen beiden „cases“, die Materialität ihrer ‚Gespenster‘- und vice versa den gespenstischen Charakter auch ihrer ‚Körper‘-Romane (Solé 2010) - und insbesondere die Kontinuität zwischen auf den ersten Blick so konträr anmutenden Texten wie Truismes und Naissance des fantômes, „en quelque sorte un contrechamp“ des erstgenannten Romans (Barraband/ Gassmann 2005: 12); gemeinsam mit Le Mal de mer bilden diese beiden Werke - unterschiedliche Facetten einer idiosynkratischen „écriture de la sensation“ (so Darrieussecq unter Rekurs auf eine Formulierung Nathalie Sarrautes) - in ihren Augen „une trilogie, pour des tas de raisons“ (Kaprièlian 2010: 6f.). Bei aller Plastizität der hier entfalteten körperlich-sexuellen Motivik ist auch Clèves der Autorin zufolge „plein de fantômes“ (Darrieussecq/ V 2011). 316 Die ätherisch-ästhetisierte Körperlichkeit der Princesse steht in aufschlussreichem Kontrast zu einer Epoche aus heutiger Sicht defizitärer Hygiene, wenig elaborierter Medizin und daraus resultierender zahlreicher Pathologien, „en particulier dans le domaine gynécologique“ (vgl. Grande 1999: 400ff. [„Somatisation ‚précieuse‘ et maladie romanesque“], hier zit. 400). Bleibt das Imaginarium der Krankheit im literarischen Text hier „toujours équivoque“ (ibid.: 401), so stellt doch schon seine dezente Präsenz einen relativen diskursiven Tabubruch dar (ibid.: 403). Auch in diesem Punkt schreibt Darrieussecq ihr klassisches Modell im Kontext einer anderen Epoche fort, in der besagter Tabubruch sehr viel konkretere gynäkologische Formen annimmt. Nicht zufällig hat diese Motivik auch bei der professionellen Literaturkritik teilweise aggressive Ablehnung provoziert: Ganz im Sinne des patriarchalischen ‚Literaturpapstes‘ Marcel Reich-Ranicki („Wen interessiert schon, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert? “; zit. nach Hansel 2002) disqualifiziert die FAZ-Rezensentin Darrieussecqs Roman als „gärenden Körpererkundungskitsch“, „der aufgrund seiner sich an Erfahrungen einer Jederfrau heranschmeißenden Stofflichkeit einige Sogwirkung entfaltet“ (Teutsch 2013). Angesichts einer Flut von Körper- und sonstigen Flüssigkeiten („Menstrues, sperme, boissons gazeuses, salive ou mycoses servent donc de fond de sauce à cette saga d’un néant moderne“) fragt sich ein etwas verstörter Enthoven (2011) in Le Point: „Est-ce ainsi que les femmes vivent? Mme Darrieussecq parle de ces affaires avec une autorité que nul n’osera lui disputer.“ 317 „Elle […] raconte, et bien, les femmes de l’intérieur“, attestiert der Autorin Koutchoumoff (2011). 318 Vgl. dazu Albers 2010; Chang 2012; Peterson 2012 und 2016. 319 Anlässlich der Publikation von Clèves geht Darrieussecq auf die Menarche als „rite de passage“ ein - ohne männliches Pendant, zumindest in der okzidentalen Gesellschaft -, aber auch auf die damit <?page no="262"?> 262 Marie Darrieussecqs Clèves Koutchoumoffs 320 erscheint die Menarche als traumatische, in geradezu archaisch-biblischen Begriffen artikulierte Erfahrung der ‚Unreinheit‘: „C’est comme si la maison allait rester sale pour toujours.“ 321 Verstört beobachtet Solange ihren plötzlich so fremden, temporär schwer kontrollierbaren Körper; selbst die per se gesellschaftsfähigen Hände entwickeln ein irritierendes Eigenleben, werden zu quasi-autonomen Alter Egos, „[d]es mains-visages qu’il faut contrôler comme si on lui avait collé là d’autres Solanges“. 322 Unheimliche Autonomie gewinnt jedoch vor allem die Vagina, als kleines, kühnes ‚Tier‘ metaphorisiert: „Elle finira par se détacher, pattes velues et ventre au sol à la rencontre avide du monde, si elle, Solange, reste peureusement en arrière […]. Elle finira par courir d’elle-même, vivra sa vie de créature et rentrera dans la tanière entre les jambes, pour la faire jouir, elle Solange, misérablement seule dans son lit.“ 323 Zugleich erscheint „cette masse charnue qui tient entre les jambes, vivante et épaisse, sanguine, de plus en plus poilue“ freilich auch als einzig solides Refugium einer in ihren Grundfesten erschütterten Identität („La seule chose certaine, finalement, la seule chose sur quoi on puisse refermer les doigts“); für die (super-)pubertierende Protagonistin, 324 der ihre Welt gehörig durcheinandergerät, ist passionierte Onanie eine Strategie der Selbstvergewisserung, ontologisches Erste-Hilfe-Programm. Das vielfältige Imaginarium weiblicher Anatomie im Werk Darrieussecqs wäre eine eigene Analyse wert. 325 Gerade in Clèves werden über die entsprechende Motivik konventionelle assoziierten sprachlichen ‚Tabus‘: Nachträglich reflektiert sie ihre Faszination u. a. für den geradezu exhibitionistischen Euphemismus „indisposée“ (V 2011). 320 „Les règles sont l’arc de triomphe (intime) sous lequel il faut passer pour commencer son chemin dans le réel“: Koutchoumoff (2011) glaubt - potentiell interessante, wenngleich eingeschränkt intersubjektiv verifizierbare Hypothese - eine Korrespondenz zwischen weiblichen Körperzyklen und narrativem Rhythmus des Textes zu beobachten (ab dem Zeitpunkt von Solanges Menarche erscheine der Duktus des Romans „plus coulant, plus suivi“). Bei aller gebotenen Zurückhaltung gegenüber derartigen Ansätzen, die nur allzu leicht in Richtung einer esoterischen écriture féminine abgleiten, ist diese Interpretation insofern zumindest erwähnenswert, als Darrieussecq - mit ihrer auch poetologischen Affinität zum liquiden Element - sich in anderen Texten an entsprechenden stilistischen Experimenten versucht: So verfolgt Le Mal de mer (Darrieussecq 1999b) - der Autorin zufolge „un livre de l’oscillation maritime, du sentiment océanique, de la dépression“ (Terrasse 2007: 263) - erklärtermaßen das Ziel, den Rhythmus des Meeres in narrative Struktur zu übersetzen (vgl. Cortijo Talavera 2006). 321 Darrieussecq 2011b: 49. Auch das Bad im Meer ist während der Menstruationszeit tabu, ja in Solanges Phantasie lebensgefährlich, fürchtet sie doch, dass ihr blutender Körper Haie anlocken könnte (ibid.: 73). Diese irrationale Obsession - Relikt in einer weiblichen Generationenfolge tradierten Aberglaubens - findet sich bereits unter den mehr oder minder abstrusen Glaubenssätzen ihrer Kindheit, mit denen sich die Protagonistin in Le Pays auseinandersetzt (Darrieussecq 2005: 197); ähnlich jene in Mrs Ombrella et les musées du désert (Darrieussecq 2007a: 67). 322 Darrieussecq 2011b: 223. 323 Ibid.: 267. Auch die Rede von der Vaginal-Flora wird ironisch wörtlich genommen; in Solanges blühender Imagination verwandelt sich ihr Geschlechtsorgan in ein extravagantes Wald-Biotop (ibid.: 329). 324 Darrieussecq selbst spricht von „une espèce de puberté monstrueuse“ bzw. „super-puberté“ (V 2011). 325 So spielt Darrieussecq in Le Pays mit dem Bild einer vagina oculata, der Fusion von Gesichtssinn und Geschlechtsteil (2005: 138), ebenso wie mit der mise en abyme weiblicher Genitalien beim gynäkologischen Ultraschall: „L’échographe eut […] un mouvement d’escrimeuse, […] et nous vîmes deux fémurs couronnés de rotules entre lesquels s’ouvrait, mise en abyme et gouffre d’indiscrétion, au fond de mon vagin un autre petit vagin“ (ibid.: 170); wenig später kommt die schwangere Protagonistin beim Schwimmen auf den „effet Vache qui rit des corps féminins“ zurück (ibid.: 197). In „Je est unE autre“ (2007) beschreibt Darrieussecq diese Verschachtelung weiblicher Körper als narrative Matrix, <?page no="263"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 263 Gender-Zuschreibungen parodistisch unterminiert: Nachdenklich betrachtet Solange das Geschlechtsteil einer Schulkollegin, das sie „d’une grande rationalité anatomique“ dünkt, „comparée à ce qu’ont son père et Monsieur Bihotz et vraisemblablement tous les hommes“. 326 Bereits viel früher studiert das kleine Mädchen Bihotz’ grotesk ‚verdoppelten‘ Phallus, dessen zwei so unterschiedliche Erscheinungsformen erst später zur Konvergenz gelangen. 327 Auf dem Höhepunkt ihrer Pubertät verwandelt sich der selbstdiagnostizierten ‚Nymphomanin‘ die Welt in ein Chaos von Geschlechtsorganen; der Versuch der Mutter, sie auf die bevorstehende Scheidung der Eltern vorzubereiten, weckt ebenso plastische Assoziationen („‚Ton papa et moi‘, est en train de dire sa mère […]. ‚Ton papa et moi‘ - la bite de son père dans la chatte de sa mère“ 328 ) wie das berühmte Bild der Konferenz von Jalta („Une photo avec seulement des hommes“, konstatiert Solange, deren raffiniert ‚naiver‘ Blick problematische Selbstverständlichkeiten entlarvt): „Est-ce qu’on parvient à se concentrer, quand on a une bite? Est-ce qu’ils ne pensaient pas à leurs bites en signant ces contrats? Est-ce que ça ne se met pas à durcir inopinément alors qu’on est en plein milieu de se partager le monde? “ Das subversive Potential dieses pubertär-pansexualisierten Weltbildes wird in dieser Passage deutlich; angesichts besagten Dokuments seriöser Staats-Männlichkeit imaginiert Solange das alternativgeschichtliche Projekt einer „Histoire de la bite“. 329 Kurz: Jener auch bei Lafayette - wenngleich sehr dezent - präsente erotische Subtext (die Psychoanalytikerin Darrieussecq befindet die nächtliche Episode von Coulommiers für „hyperphallique“ 330 ) wird in diesem „roman dense, sexuel, sans détour“ 331 ausführlich entfaltet. Als initiatorische Etappe nach erster Menstruation und erstem Kuss folgt skriptgetreu die „première fois“ tout court; auch hier erklärt Darrieussecq, sie habe - in Anbetracht von „milliers de déflorations dans la littérature“, in denen kaum jemals eine feminine Perspektive zum Ausdruck komme - bewusst nach „d’autres mots“ für diesen Schlüsselmoment einer weiblichen Sozialisierung gesucht. 332 Die patriarchalische Version der Defloration als Szene männlicher ‚Eroberung‘ und ‚Unterwerfung‘ des weiblichen Körpers wird gezielt demontiert: „La défloraison: un pauvre coup foireux, tiré avec un imbécile“, fasst Virginie Despentes die entsprechende Passage in Clèves prägnant zusammen. 333 aus der im Prinzip der ganze Text Le Pays hervorgeht: „Voici donc un livre qui prend comme point de départ une sorte d’emboîtement gigogne d’utérus: un utérus enceint d’un être humain lui-même porteur d’un autre utérus en formation […]. Cet effet de mise en abîme, de matriochka, me semble d’ailleurs dire quelque chose du féminin.“ Es ist - abseits der Gefahr autobiografischer Überinterpretation - die Autorin selbst, die, deklarierte „‚fille Distilbène‘“, auch den persönlichen Hintergrund dieser in ihrem Werk frappierenden ‚uterinen‘ Motivik kommentiert (Barraband/ Gassmann 2005: 10). 326 Darrieussecq 2011b: 16. 327 „Il a deux bites. Celle pour faire pipi, et l’autre. L’autre est beaucoup plus grande, couleur crête de dindon […]“ (ibid.: 54). 328 Ibid.: 123. 329 Ibid.: 258f. 330 Darrieussecq/ V 2011. 331 Marcandier 2011. 332 Darrieussecq/ V 2011. 333 Despentes 2011. <?page no="264"?> 264 Marie Darrieussecqs Clèves „… un beau roman féministe“? Patriarchat, Poetik, Psychoanalyse In ihrer Auseinandersetzung mit der Princesse de Clèves thematisiert Darrieussecq explizit den Gender-Aspekt des Romans; ohne Lafayette anachronistisch auf eine Vorläuferin des Feminismus zu reduzieren, betont sie doch, wie sehr ihre Protagonistin - bei aller Berufung auf ein konventionelles Tugendideal - sich einem stereotypen Geschlechterrollenspiel zu entziehen vermag. Ganz ‚selbstverständlich‘ bleibt Lafayettes Heldin - „dans un univers sans contraception“ auch bei der kurzen Dauer ihrer Ehe eigentlich nicht ganz so selbstverständlich - kinderlos; die Wiederverheiratung sogar mit dem leidenschaftlich geliebten Mann lehnt sie kategorisch ab: „C’est bien pour échapper au Devoir que la Princesse de Clèves se retire du monde. À cet [sic] harassant devoir du sexe et du désir, du bonheur peut-être. […] Ils ne se marièrent pas, n’eurent pas d’enfants, et ne vécurent même pas longtemps.“ 334 Diese Formel, die die vermeintlich idyllische Welt des Märchens aus den Angeln hebt, kehrt auch in Clèves wieder; ironisch reflektiert Solange ihren Anti-conte de fées mit Bihotz: „[…] et ils vécurent heureux et eurent, non, n’eurent pas d’enfants“. 335 Nicht nur aus Gründen biografischer Vertrautheit mit jener Ära, die sie selbst als Teenager in der französischen Provinz erlebt hat, wählt Darrieussecq die frühen achtziger Jahre als chronologischen Rahmen für ihre parodistische réécriture, Dekonstruktion diverser Mythen der ‚Weiblichkeit‘ wie der romantischen ‚Liebe‘, Exploration weiblicher Körperlichkeit und Sexualität abseits patriarchalischer Prüderie wie pornografischer Klischees. Erzählt Lafayettes Text - literarisches Dokument einer Übergangsepoche („[…] le roman témoigne du procès de civilisation qui marque le début de l’âge moderne, non sans en interroger les insuffisances et les limites“ 336 ) - nicht zuletzt ein Stück Kultur- und Zivilisationshistorie, so situiert auch Darrieussecq ihren Roman bewusst in einer in ihren Augen noch unzulänglich erforschten Umbruchszeit der europäischen Liebes- und Sexualgeschichte: Zwischen der Einführung der Pille und der ‚Entdeckung‘ von AIDS tut sich eine „parenthèse de quinze ans dont on n’a su quoi faire“ auf, 337 eine „fenêtre historique“ vor allem aus weiblicher Perspektive durchaus ambivalenter sexueller Freiheit. Darrieussecq spricht von einer „sorte de double-bind“, in der sich auch ihre Protagonistin auf ihrer sozio- und psychosexuellen Gratwanderung zwischen den misogynen Negativklischee-Fallen der „prude“ bzw. „Sainte-Nitouche“ und der „salope“ befindet, mitten in jener „Zeit, die auf die angebliche sexuelle Befreiung folgt“. 338 Rund um ihre ‚Princesse‘ entspinnt sie vor dem Hintergrund einer gesamtgesellschaftlichen Phase der Des- und Re-Orientierung, in der sexualmoralische und -kulturelle Akzente neu gesetzt, Grenzen neu ausgelotet werden, eine paradigmatische Initiationsgeschichte. 339 Jener „immense 334 Darrieussecq 2009b: VII. 335 Darrieussecq 2011b: 305. 336 Merlin-Kajman 2010: 59. 337 Darrieussecq/ V 2012. 338 Darrieussecq/ V 2013a. 339 In einem insgesamt als ‚Défense‘ Darrieussecqs und des Romans Clèves angelegten Beitrag charakterisiert auch Virginie Despentes (2011) diese Epoche als Schlüsselphase der okzidentalen Sexualgeschichte, konstatiert jedoch einen gewissen Anachronismus hinsichtlich der Darstellung eines „sexe […] jubilatoire“. Freilich geht die auf den zweiten Blick nicht mehr allzu ‚jubilatorische‘ sexuelle Initiation der Protagonistin mit beträchtlicher Unsicherheit, Versagensängsten und kaum camouflierter Gewalt <?page no="265"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 265 choc qu’a été la ‚libération sexuelle‘“ (von der Autorin selbst mit vielsagenden Anführungszeichen ausgestattet) trifft frontal ihre (Anti-)Heldin, „jeune fille embarrassée avec son corps“ - Solanges chronische „gêne“ 340 korrespondiert mit den Reaktionen ihrer intertextuellen Vorfahrin, bei Hof quasi permanent in einem Zustand von „embarras, confusion, trouble“ etc. 341 -, zugleich eifrig bemüht, ihrer „obligation de perdre sa virginité“ so bald wie möglich nachzukommen; 342 dies umso mehr, als eventuelle spirituelle Skrupel hier im Gegensatz zum Text Lafayettes keine Rolle mehr spielen. 343 Doch in so mancher Hinsicht ist diese neue Norm ästhetisch perfekter, sexuell aufgeschlossener (aber nicht zu aufgeschlossener) Weiblichkeit nicht weniger repressiv als jene religiös fundierte patriarchalische Moral, wie Clèves illustriert. 344 Insofern bleibt die Dichotomie „Solange, héroïne du oui vs la Princesse de Clèves, héroïne du non“ 345 reduktiv (‚Nono‘ nennt die demente Großmutter wie zitiert ihre Enkelin). „Ce devrait être un roman plutôt heureux, cette fois…“, kündigt die Autorin im Vorfeld an. 346 einher; auf Solanges ambivalentem Passions-Parcours werden die schlimmsten Befürchtungen der Heldin Lafayettes großzügig eingelöst. 340 Darrieussecq/ V 2012. 341 Durry 1962: 49. 342 Darrieussecq/ V 2012. 343 Das dezente religiöse Moment im Text Lafayettes verflüchtigt sich aus dieser postmodernen réécriture; an die Stelle eines eventuellen jansenistischen tritt die Problematik des sozialen Determinismus, mit dem die Autorin sich kritisch auseinandersetzt. Für ihre säkularisierte, zwar „dans un petit village tout blanc, tout catholique“ geborene (Darrieussecq/ V 2013b), aber selbst ohne nennenswerte religiöse Erziehung aufgewachsene Heldin ist das Thema bezeichnenderweise nur ex negativo präsent: Bei Gelegenheit fragt sich Solange, ob ihr Status als gemobbte Außenseiterin in der Schule womöglich etwas mit ihrer „absence au catéchisme“ zu tun habe (Darrieussecq 2011b: 30). Sehr vereinzelt mischen sich irgendwo aufgeschnappte religiöse Versatzstücke in das interdiskursive Chaos, das das Bewusstsein der Protagonistin darstellt; dies illustriert vor allem ihr aus akutem amourösem Anlass parodistisch gewendetes ‚Mariengebet‘: „Je vous salue Marie, pleine de grâce, le Seigneur est avec vous. Vous êtes bénie entre toutes les femmes et Jésus le fruit de vos entrailles est béni. Sainte Marie, mère de Dieu, faites qu’Arnaud me téléphone, s’il vous plaît Sainte Marie, je ferai tout ce que vous voudrez. Amen“ (ibid.: 177f.). Ihre volle Ironie entfaltet diese Passage nachträglich bei der Lektüre des Folgeromans Il faut beaucoup aimer les hommes, bestätigt sich hier doch die am offenen Ende von Clèves suggerierte Vermutung der Leserin, dass Darrieussecq ihre Heldin ‚gebenedeiten Leibes‘ in eine ungewisse Zukunft entlässt. 344 Aufschlussreich als Paralleltext zu Clèves ist in diesem Punkt wiederum die Novelle „Simulatrix“, deren Protagonistin ‚Chloé‘ - die phonetische Affinität zu ‚Clèves‘ ist nicht allzu weit hergeholt - ebenfalls aus ihrer Jugend Anfang der achtziger Jahre berichtet. Bereits hier wird jene neue sexual-diskursive Ökonomie problematisiert; wie später in Clèves spielen diverse „magazines féminins“, die in Wort und buntem Bild eine obligatorisch ‚befreite‘ neue Weiblichkeit in Szene setzen, eine zentrale Rolle (Darrieussecq 2006a: 127f.). Wie Solange in Clèves führt auch Meister-‚Simulatrix‘ Chloé ein reges Sexualleben im Namen des sozialen Prestigegewinns („Cette vie sexuelle ‚sociale‘ […], qui n’existait que pour être racontée, s’opposait à la solitaire“; ibid.: 129f.), arbeitet hart an ihrem Image als libertine („À dix-sept ans elle avait déjà tout fait: c’était obligatoire“; ibid.: 130) und reflektiert am eigenen Leib den performativen Charakter auch der Sexualität: „[…] simuler excite, peut même faire jouir, parfois: le geste précède la sensation comme l’agenouillement la foi“ (ibid.: 137). Bis ins intratextuelle Detail finden sich in Clèves wieder aufgegriffene Schlüsselwörter und -szenen, darunter auch jene Formel der weiblichen ‚Selbst-Vergewaltigung‘ (vgl. ibid.: 131), die Darrieussecq (V 2013a) später in Bezug auf ihre neue ‚princesse de Clèves‘ gebraucht. 345 Rolla 2012: Abs. 15. 346 Flamerion 2007. <?page no="266"?> 266 Marie Darrieussecqs Clèves Doch ist Clèves wirklich ein ‚glücklicher‘ Roman? 347 Schon Lafayettes „roman d’amour et de malchance“ 348 strahlt einen im Kontext der Epoche innovativen Pessimismus aus; nach der Publikation von Clèves gibt Darrieussecq selbst eine wenig optimistische Lesart ihres eigenen Romans vor: Sie spricht nunmehr von einem ‚melancholischen‘ Text, „plein de noirceur aussi“, dessen Protagonistin „de ratage en ratage, de malentendu en malentendu“ schlittere, kurz, das Ganze sei im Grunde „tellement accablant“. 349 Im Unterschied zu manch tendenziell allzu ‚positivem‘ Kommentar betont Darrieussecq auch, dass Clèves in ihren Augen gewiss „kein Liebesroman“ und auch kein „erotische[r] Roman“, keinesfalls „excitant“, sondern „assez brutal“ sei. 350 In puncto Liebesskepsis ist die ideologische Distanz zwischen der Princesse und Clèves geringer, als es dem oberflächlichen Blick scheinen mag, auch wenn das profunde Misstrauen gegenüber der Passion im postmodernen Text weniger jansenistische denn gender-kritische und psychoanalytische Wurzeln hat. Auch Darrieussecq schildert Liebe als höchst ambivalente, potentiell tödliche Angelegenheit; sie rekurriert ihrerseits auf den seit der Antike etablierten, durch etliche Jahrhunderte französischer Literaturgeschichte fortgeschriebenen, bei La Rochefoucauld wie Stendhal vielfach variierten Topos der Passion als ‚Krankheit‘, 351 wenn sie Solanges Verliebtheit als regelrechte ‚Infektion‘ metaphorisiert („[…] elle a été 347 Chronologisch parallel zur Entstehung von Clèves setzt Darrieussecq auch an anderer Stelle - und in anderem Genre - das obligatorische Happy End des Märchens außer Kraft: Mit Péronnille la chevalière (2009a), illustriert von Nelly Blumenthal, legt sie einen feministisch inspirierten (Anti-)conte de fées vor, der sich, parodistische Verfremdung patriarchalischer ‚Prinzessinnen‘-Narrative und paradigmatisches Exempel einer an metatextuellen Signalen reichen „doppelsinnige[n] Kinderliteratur“ (vgl. Ewers 2012: 64), nicht nur an ein kindliches Publikum richtet und unter Inversion der traditionellen Märchen-Gender-Ökonomie eine Geschichte von Liebesskepsis und Verweigerung - mit gleichfalls offenem Ende - erzählt. 348 Habib 2010. 349 Darrieussecq/ V 2011. Als „roman cruel d’une tristesse poignante“ interpretiert Clèves auch Ferniot in ihrer durchaus positiven Rezension (Ferniot/ Peras 2011); aus kritischer Perspektive kommentiert Enthoven (2011) diese „saga sur le néant contemporain“, die, angesiedelt in einer ‚infernalischen‘ Welt („Allez savoir. Mme Darrieussecq est si facétieuse qu’on ne sait plus si elle se moque ou si elle confond l’enfer avec la vie“), ihre Protagonistin über einen amourösen Hindernisparcours mitten in die Katastrophe einer erwachsenen weiblichen Existenz schickt: „Femme, elle est devenue femme. Elle va enfin pouvoir rater sa vie.“ 350 Darrieussecq/ V 2013a. Die Rezensentin der FAZ greift insofern gewiss zu kurz, wenn sie Clèves als Roman der positiv konnotierten „Hingabe“ mit Lafayettes „Entsagungsroman“ kontrastiert (Teutsch 2013). In etwas übertrieben optimistischem Licht interpretiert auch Rolla das offene Ende des Romans bzw. das weitere Schicksal von Darrieussecqs „princesse à l’envers, qui accepte de vivre à l’ombre de l’homme qu’elle aime ou qu’elle pense aimer“: „Solange décide d’être l’auteur de son destin et, dans un élan ‚altruiste‘ propre à sa jeunesse et en même temps viscéralement féministe, elle sortira du huis clos de son village pour aller à l’encontre de la vie adulte qui l’attend“ (2012: Abs. 15). Eventueller ‚Altruismus‘ zählt nun freilich nicht zu den distinktiven Merkmalen dieser postmodernen Princesse, deren Attitüde auch mit dem Attribut „féministe“ kaum adäquat beschrieben scheint; dies abgesehen davon, dass auf den letzten Seiten von Clèves - im Gegensatz zur bei Rolla skizzierten Fortsetzung („Solange décidera de suivre Arnaud […]“; ibid.: Abs. 25) - das unglückliche, vom involvierten jungen Mann einseitig vorverlegte Ende dieser vermeintlichen großen Liebesgeschichte deutlich genug suggeriert wird. 351 Vgl. etwa La Rochefoucauld 2005: Nr. 417, 459 sowie Nr. 59 in den „Maximes retranchées après la première édition“; Stendhal 1959: 16: „L’amour est comme la fièvre, il naît et s’éteint sans que la volonté y ait la moindre part.“ <?page no="267"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 267 infectée et tout son cerveau, son corps est plein de lui“ 352 ). Beide Texte verbindet auch ihre Luzidität gegenüber den soziokulturellen Mechanismen, die ‚Liebe‘ generieren (oder verhindern), nur vermeintlich spontane Emotionen konditionieren. Ist Clèves also ein „beau roman féministe“, ja Darrieussecqs „roman le plus féministe“, wie es in einer Kritik heißt? 353 Bei der Beschäftigung mit einem komplexen fiktionalen Text ist dergleichen reduktiven Etiketten gegenüber Vorsicht geboten. Darrieussecq, die auf die Frage nach „Le livre qui a changé votre vie? “ Simone de Beauvoirs Le Deuxième Sexe nennt („J’ai accepté l’idée d’être féministe après ça“) 354 und 2016 eine Neu-Übersetzung von Virginia Woolfs A Room of One’s Own vorlegt, 355 definiert sich zwar selbst explizit als „féministe“ 356 - dies allerdings mit dem signifikanten Zusatz „dans la vie“; 357 in Bezug auf ihr literarisches Werk verweigert sie (bislang erfolgreich) die Einordnung in die eine oder andere ideologische Schublade: „Je n’écris pas dans une visée militante, dans une visée aussi délibérément féministe“ (nämlich im Vergleich mit der in diesem Kontext zitierten Monique Wittig), wie sie erklärt. 358 Nicht umsonst manifestiert sich auf Seiten einer feministisch orientierten Literaturwissenschaft ein gewisses Unbehagen gegenüber dieser unbequemen Autorin, die nicht so ohne Weiteres für den entsprechenden Diskurs zu vereinnahmen ist, 359 dies auch in ihrer Eigenschaft als Psychoanalytikerin lacanianischer Ausrichtung. 352 Darrieussecq 2011b: 246. 353 Diatkine 2011. 354 Grosjean 2015. 355 Vgl. Woolf 2016. Der Woolf-Intertext wird weiter in Darrieussecqs eigenes Werk verwoben, so in den Essay Être ici est une splendeur (2016: 659f.), der parallel zu besagter Übersetzung entsteht und der Autorin „le même plaisir que les traductions“ verschafft (Darrieussecq/ V 2016a). Eben auf die Virginia Woolf- Referenz rekurriert McGuire in seiner Interpretation der Princesse de Clèves als „un dé-nouement délibéré du récit répétitif du patriarcat“: „La vie elliptique de la Princesse de Clèves, vie réelle mais nonreprésentable, cachée dans l’espace de ‚a room of her own‘, doit donc rester le champ non-cultivé, le préalable silencieux d’un vrai discours féminin“ (1993: 391). 356 Vgl. bereits ihre frühe Selbstcharakteristik im Interview mit Bourcier (1996): „Marie Darrieussecq: ‚européenne, féministe et athée‘“. Fast wortgleich bestätigt sie ein Jahrzehnt später im Gespräch mit Lambeth (2006: 814): „Je suis féministe, européenne, et athée. Si je crois à quelque chose, c’est à ces trois valeurs-là“ (beide zit. nach Chadderton 2012: 40). 357 „Je suis féministe dans la vie, pas nécessairement dans mon écriture. Je ne crois pas à une écriture féminine. Idée dangereuse, ghettoïsante, minorisante. Il y a peut-être des thèmes féminins, mais l’écriture est sans sexe, de même que le cerveau“, erklärt Darrieussecq (Concannon/ Sweeney 2004). „Je suis féministe, mais je décris le monde tel qu’il est, pas tel qu’il devrait être“, definiert sie ihre Position auch im Interview mit Grosjean (2015). 358 Darrieussecq 2007b. Eine - unter Berücksichtigung des oben formulierten Caveat durchaus erhellende - kombinierte Lektüre von Darrieussecq/ Wittig und konkret von Clèves als „A Wittigian Rewriting of Adolescence“ unternimmt Kim 2016. 359 „Her complex identity politics have led critics to disagree on readings of her novels as feminist […]“, resümiert Chadderton (2012: 4, vgl. auch 9, 42ff.) - und kommt ihrerseits zur Conclusio, Darrieussecq sei „neither essentialist nor feminist“ (ibid.: 83). „[…] Darrieussecq has always been keen to stress that she is not a ‚women’s‘ writer […]“, unterstreicht auch Jordan, wenngleich „her work does focus on issues which are especially important for women“ (2005: 75). Darrieussecq selbst spielt wiederholt mit dieser un-eindeutigen feministischen Perspektive; sie betont zugleich die „liberté“, die sie als Schriftstellerin dem „féminisme de la génération précédente“ verdanke, und jene durch ihre eigene Geschlechtsidentität legitimierte Freiheit, „des choses horribles sur l’image féminine“ zu schreiben, die ein männlicher Autor sich im Zeitalter der Political Correctness nicht erlauben könnte (hier in Bezug auf Truismes): „Une chose est certaine: si c’était un homme qui avait écrit le livre, il se serait fait assassiner! “ (Phillips <?page no="268"?> 268 Marie Darrieussecqs Clèves In literarischem Œuvre wie metaliterarischem Diskurs rekurriert Darrieussecq - die scherzhaft gesteht, „des livres psychologiques contre la psychologie“ zu verfassen 360 - spielerisch auf Versatzstücke psychoanalytischer Theorie, so auch in ihrer erwähnten Interpretation der Princesse de Clèves als „un grand roman œdipien“; 361 in dieser Hinsicht bietet Lafayettes Text vielfache Anknüpfungspunkte für eine Schriftstellerin, die in ihrem eigenen Werk - angefangen mit Truismes, Roman eines „matricide“, „livre du meurtre de la mère“ 362 - immer wieder hoch problematische, dysfunktionale Familien- und insbesondere Mutter/ Tochter- Konstellationen variiert. „Le père est […] totalement absent, comme dans la plupart de mes bouquins“, erläutert Darrieussecq zu Truismes; 363 auch unter den zahlreichen ‚absences‘, die die Geschichte der Heldin Lafayettes prägen, 364 spielt jene des verstorbenen Vaters eine spezifische Rolle. Von Anfang an wird Mlle de Chartres als Halbwaise eingeführt: „Et jamais plus il ne sera question du père dans le roman.“ 365 Als „roman œdipien“ kann auch Clèves gelesen werden; 366 Protagonistin Solange wächst zwischen einem ewig abwesenden, leidenschaftlich verehrten Vater und einer depressiven, psycho-somatisierenden Mutter auf - weitere Inkarnation des Typus der „mauvaise mère“, für den Darrieussecq anlässlich der Publikation ihres Romans mit dem psychoanalytisch schillernden Titel Le Mal de mer (1999) 1999: 190f., zit. nach Morello/ Rodgers 2002: 45). Als Akt weiblicher künstlerischer Solidarität und Würdigung gegen den Strich einer maskulinistischen Kunstgeschichte („Je ne sais pas s’il existe une peinture de femmes, mais la peinture des hommes est partout“) präsentiert Darrieussecq (2016: 1204f.) ihren Essay - „à la fois biographie et littérature engagée“ (V 2016b) - über Modersohn-Becker, „vraiment une pionnière“ (V 2016a), die „après des siècles de regard masculin“ (2016: 743f.) „quelque chose à elle, d’encore presque inouï, d’encore presque non vu“ auf die Leinwand bannt: „une femme peint des femmes“ (ibid.: 744f.), und zwar „de vraies femmes […] des femmes enfin nues: dénudées du regard masculin“ (ibid.: 1189). „Je veux lui rendre plus que la justice: je voudrais lui rendre l’être-là, la splendeur“, erläutert Darrieussecq die programmatische Intention hinter diesem Text (ibid.: 1389f.), der begleitend zur ersten exklusiv der Malerin gewidmeten Ausstellung in Frankreich erscheint: Paula Modersohn-Becker. An Intensely Artistic Eye (Musée d’art moderne de la ville de Paris, 08.04.-21.08.2016); vgl. auch Darrieussecqs „visite guidée“ (V 2016c). 360 Miller/ Holmes 2001. 361 Darrieussecq 2009b: III. 362 Barraband/ Gassmann 2005: 9ff. 363 Ibid.: 9. 364 Vgl. Coropceanu 2010: 9. 365 Grande 1999: 101. Grande verweist hinsichtlich der Rolle des „père absent“ auch auf den biografischen Kontext - und gibt ausnahmsweise selbst ein Stück weit der Versuchung der referentiellen Illusion nach, wenn sie Lafayettes Protagonistin als Opfer eines unbewältigten Ödipus-Komplexes ‚psychoanalysiert‘: „La princesse, faute d’un père ou d’une image du père, n’a sans doute jamais pleinement dépassé son complexe œdipien: […]“ (ibid.). Einen ebensolchen attestiert Lafayettes Erzählerin Sellier („Ce père ‚mort jeune‘, la narratrice en évite la pensée parce qu’elle est demeurée fixée à sa figure idéalisée: c’est lui qu’elle recherche inconsciemment dans toute relation amoureuse, ce dieu intime“), der auch an Nemours eine „coloration paternelle“ ausmacht. Der fundamentale Konflikt zwischen „l’exposition à l’attrait d’une figure paternelle idéalisée, royale (Nemours) comme ‚retour du refoulé‘, et la censure, qui conduit à représenter la fuite“, ist in seinen Augen „rien de moins que la matrice, le générateur du scénario“ (2005: 244f.). Man muss sich diese Lesart samt problematischer Spekulation über das ‚Unbewusste‘ einer nicht allzu präzise gefassten „narratrice“ (und erst recht einer fiktiven literarischen Figur) nicht rückhaltlos zu eigen machen; zur Lafayette-réécriture und insbesondere Nemours-Re-Interpretation im Werk der Psychoanalytikerin Darrieussecq stellt Selliers Kommentar eine ideengeschichtlich aufschlussreiche Ergänzung dar. 366 Rolla 2012: Abs. 17. <?page no="269"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 269 eine besondere literarische Zuneigung bekundet. 367 Lafayettes Heldin wird auf dem Höhepunkt ihrer amourösen Turbulenzen von ihrer abrupt sterbenden Mutter, bisherige Mentorin (und Manipulatorin) auch in Liebesdingen, im Stich gelassen; bei Darrieussecq wird der Tod der Eltern zur emotionalen bzw. scheidungsbedingt bald auch physischen Abwesenheit umgedeutet - auch dies zu der Zeit, da die Protagonistin in den Wirren der Pubertät vergeblich „un appui auprès des adultes […] tous terriblement déficients“ sucht. 368 Übernimmt für die Heldin Lafayettes nach dem Tod der Mutter der Ehemann, „son protégé, son ombre portée, quasi son double“, 369 deren Rolle („Le discours moralisateur de la mère semble être repris par le mari“ 370 ), so erfüllt für Darrieussecqs Solange Monsieur Bihotz - seinerseits mittlerweile verwaister Ko-Akteur eines geradezu karikaturalen ödipalen Szenarios - eine heikle Mehrfachfunktion als Babysitter, ‚Ehemann‘, quasi-inzestuöser Ersatzvater und zugleich Muttersubstitut („Manquerait plus qu’il soit sa mère“ 371 ). Es ist ausgerechnet Bihotz, der Solange einen ausgewachsenen Ödipus-Komplex attestiert: „Ton père c’est pareil. Il faut procéder à toute une libération mentale. Sinon tu sais ce qui va se passer? Tu vas te jeter à la tête du premier venu. Tout ça, parce que tu es amoureuse de lui. C’est le tyran intérieur.“ 372 Freilich repräsentiert Bihotz selbst auch die Versuchung prä-ödipaler Fusion, die Beziehung mit ihm eine verführerisch einfache Lösung aller Zukunftssorgen, fades, aber friedliches Refugium in einer feindlichen Welt: „Ça résoudrait l’avenir, quoi faire, que penser, les problèmes. […] Ils joueraient pour de vrai à être ensemble, pendant que déluge et désastres engloutiraient le monde.“ 373 Recht symbolisch wird es Solange jedoch bald zu eng in dem eindeutig genug uterin-‚ozeanisch‘ konnotierten kleinen Planschbecken, kümmerliches Meeres-Surrogat, das Bihotz ihr in seinem Garten einrichtet; die Trennung von ihrem polyvalenten Ex-Babysitter markiert eine wesentliche Etappe ihrer Befreiung aus einer ödipalen Kindheitssphäre (insofern lässt Darrieussecqs Version auch das komplexe Verhältnis der Protagonistin Lafayettes zu ihrem auf Betreiben der Mutter geheirateten Mann und Mentor in potentiell interessantem neuem Licht erscheinen). Vollendet ist besagter Emanzipationsprozess damit noch lange nicht: Nicht minder symptomatisch wird Neo-Nemours Arnaud - 367 „J’ai une grande affection pour elle, le personnage de la ‚mauvaise mère‘ […]“ (Miller/ Holmes 2001). „Mauvaises mères de tous les pays, unissez-vous“, proklamiert ironisch auch die Protagonistin des Pays (2005: 209). 368 Darrieussecq/ V 2011. 369 Delacomptée 2012: 68. 370 Coropceanu 2010: 27. 371 Darrieussecq 2011b: 311. 372 Ibid.: 197. Zur Entstehungszeit von Clèves - und im selben Text, in dem sie ihr Princesse-Projekt thematisiert - reflektiert Darrieussecq diese literarische Vater-Problematik auch aus ihrer biografischen Situation heraus („J’ai en tête […] un livre où il y aura un personnage de père assez problématique, et pour le coup nourri par certains aspects de mon père. Dois-je attendre la mort de mon père pour l’écrire? “) sowie allgemein die Notwendigkeit des symbolischen ‚Elternmords‘, um befreit schreiben zu können: „Il faut oublier tout ça pour écrire. Il faut ‚tuer ses parents‘, pas exactement au sens psychanalytique. Pour écrire vraiment il faut se débarrasser de l’éternelle ‚lettre à la mère‘ ou ‚lettre au père‘ […]. Il faut renaître comme écrivain, sans filiation“ (Darrieussecq 2007b). Bereits in Bezug auf ihren Erstling Truismes kommentiert sie die ödipale Dimension des Schreibakts: „Écrire est une affirmation par rapport à la langue maternelle, c’est dire: ‚Je ne parle plus ta langue maternelle. La langue que tu m’as transmise, j’en ai fait autre chose, j’ai osé y toucher et la transformer, j’ai osé en faire une langue d’écrivain‘“ (Barraband/ Gassmann 2005: 10). 373 Darrieussecq 2011b: 312f. <?page no="270"?> 270 Marie Darrieussecqs Clèves narrativer Antipathie-Träger - wiederholt mit Solanges Vater assoziiert. 374 Als Inkarnation verführerischer Männlichkeit in den Augen der jugendlichen Heldin mit dem ‚effeminierten‘ Bihotz kontrastiert, wird Arnaud in einer weiteren ironischen psychoanalytischen Wendung seinerseits als in eine quasi-symbiotische Relation verstricktes ‚Muttersöhnchen‘ mit Pascha- Allüren in Szene gesetzt. 375 Kurz: Die Antwort auf die Frage „Mes personnages devraient-ils consulter? “, die Darrieussecq in einem den „Fictions de la psychanalyse“ (und Sigmund Freud, „ce romancier autrichien“) gewidmeten Dossier des Magazine littéraire spielerisch aufwirft, fällt in Bezug auf Clèves klar affirmativ aus; 376 die Re-Interpretation der Princesse als Prototyp des „roman d’analyse“ - dessen Figuren mit ihrer „rage […] à se dire“ 377 Jahrhunderte vor Freud in Richtung Couch zu drängen scheinen - gewinnt hier eine spezifische Zusatzkomponente. Auf dieser hypothetischen Couch fände Darrieussecqs postmoderne Princesse sich freilich nicht nur in Gesellschaft ihrer höchstpersönlichen ödipalen Gespenster wieder, sondern auch als exemplarisches Produkt einer soziokulturellen Dressur zur ‚Weiblichkeit‘, in der - auch insofern situiert Clèves sich abseits einer eindeutigen bzw. -dimensionalen feministischen Ideologie - andere Frauen und primär die jeweiligen Mutterfiguren eine hoch ambivalente Schlüsselrolle spielen. Wie Lafayettes Princesse („[…] la mère, loin de jouer un rôle de contrepouvoir face à l’autorité paternelle, de protéger sa fille au nom d’une possible solidarité féminine, se range sous la bannière du père et sert les intérêts du système patriarcal auquel elle s’identifie“, erklärt Nathalie Grande 378 ) adressiert auch Darrieussecqs Roman - dies noch expliziter - die delikate Frage weiblicher Komplizität und Ko-Täterschaft im Rahmen patriarchalischer Repressionsstrukturen. Michael Paulson charakterisiert die auf den ersten Blick mächtigen Frauen in Lafayettes Text - Diane de Poitiers, Königin Catherine, die Dauphine, aber auch Mme de Clèves selbst - als „practitioners of a stable patriarchy, perhaps even moreso [sic] than their male counterparts“; 379 auch im bescheideneren Milieu von Clèves sind es nicht zuletzt, ja sogar vor allem weibliche Figuren, die eifrig an der Reproduktion einer hyper-konventionellen Geschlechterordnung arbeiten. Dagegen betätigt sich ausgerechnet Solanges Vater, einem klischeehaften Männlichkeitsideal verpflichteter Dorf-Casanova, bei Gelegenheit als Propagandist feministischer Anliegen und führt seiner Tochter Vorbilder großer weiblicher Karrieren vor Augen: So erzählt er Solange von Jacqueline Dubut, „la première femme pilote“, von „une Anne Chopinet major de l’École polytechnique“ - und versucht ihr klarzumachen, dass dergleichen Perspektiven auch ihr selbst offenstünden (was Solange sich in ihrem menstruellen Elend kaum vorzustellen vermag („Est-ce que Jacqueline Dubut a ça? Comment peut-elle se concentrer 374 Vgl. Rolla 2012: Abs. 17. 375 Vgl. Darrieussecq 2011b: 180, 206, 212 und insbesondere den parodistischen Polylog zwischen Solange, Arnaud (beide am Telefon) und der besorgten Mutter des Möchtegern-Casanovas im Hintergrund: „Tu es maso sur les bords, j’adore. […] Embrasse-moi […] sur le chibre, sur ma bite quoi […] vas-y suce-moi, vite, il faut que je raccroche […] caresse-toi je te dis, mets-toi le doigt dans le cul - Arnooooo - mais si, allez, mais si, il faut que je raccroche, pense à moi et bouge ton petit cul salope oh oh - Arnoooooooooo - pense bien à moi dans ton joli petit cul uh uh“ (ibid.: 268). 376 Darrieussecq 2014. 377 Coste/ Castells-Faucher 2000: 332. 378 Grande 1999: 55f. 379 Paulson 1998: 3. <?page no="271"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 271 sur le pilotage? “ 380 ). Während die Mutter sich bei diesem Anlass auf die Ankündigung eines lebenslangen Kampfes um eine ästhetisch akzeptable ‚Figuration‘ von Weiblichkeit beschränkt („Désormais, tout ce que tu manges va s’accumuler sur tes hanches“ 381 ), ist es der Vater, der seine Teenager-Tochter - unter etwas brutal formulierter Einräumung libidinöser Freiheit: „Tout le monde baise. Je baise, tu baises, nous baiserons“ - zumindest rudimentär über Risiken und Nebenwirkungen des Sexuallebens aufklärt. 382 Als besonders kompromisslose Advokatinnen einer zutiefst chauvinistischen Sexualethik und -ästhetik agieren die jungen Mädchen selbst, noch unsichere Teilnehmerinnen und zugleich unerbittliche Beobachterinnen einer hochgradig stereotypisierten Komödie der Geschlechter. Ängstlich wird der eigene Körper auf seine Normkonformität hin überprüft („Il l’embrasse dans le cou et lui empoigne les seins. Elle espère qu’ils sont assez gros, de quoi remplir la main d’un honnête homme“ 383 ); ebenso ehrgeizig wie vergeblich diätet sich Solange einem unrealistischen Idealbild ihrer selbst entgegen („Elle a deux jours pour perdre deux kilos“, 384 lautet die Vorgabe angesichts eines bevorstehenden Rendezvous). Unter ihren copines zirkulieren aber auch überaus rigide Regeln ‚korrekten‘ Sexualverhaltens und -empfindens: „Mettre les mains elle n’ose pas, il paraît (Nathalie) que les vraies femmes jouissent sans les mains […].“ 385 Im Sinne der neuen weiblichen Pflicht zur Lust wird im Kreis dieser halbwüchsigen Schulmädchen ‚frigide‘ zum ultimativen Schimpfwort („‚Rose elle doit être frigide‘, estime Nathalie“ 386 ), zum Stigma, das es unter noch so unerquicklichen sexuellen Umständen um jeden Preis zu vermeiden gilt: „[…] ça fait franchement mal, il faudrait se détendre (Nathalie dit que les femmes frigides ne savent pas se détendre), heureusement ça ne dure pas […].“ 387 In unreflektiertem Widerspruch dazu werden parallel aber auch traditionelle patriarchalische Klischeebilder sexualitäts-averser ‚tugendhafter‘ Weiblichkeit perpetuiert: „‚Les femmes en général n’aiment pas ça‘, affirme Nathalie.“ 388 Derart üben sich auch und gerade die weiblichen Figuren Darrieussecqs unablässig in der Klassifikation anderer Frauen nach sexuellem Marktwert und ‚moralischem‘ Standing. Eine Braut, die nicht den ästhetischen Erwartungen entspricht („Et sa mariée n’est pas la bombasse attendue“ 389 ), erntet Spott und Hohn; eine sexuell zu ‚befreite‘ Schulkollegin wird verächtlich als „nympho“ kategorisiert: „Il paraît que Delphine est une nympho. Pas exactement une pute ni une salope. Ni une fille facile. C’est plus sur le versant malade de la chose (explique Nathalie).“ Entsetzt diagnostiziert Solange - unter Rekurs auf die aufgeschnappte Formel 380 Darrieussecq 2011b: 62. 381 Ibid.: 73. 382 Ibid.: 113ff. 383 Ibid.: 166. 384 Ibid.: 185. 385 Ibid.: 216. Besagte Schulkollegin Nathalie fungiert den ganzen Text hindurch als Sprachrohr ebenso strikter („Les vraies femmes sont vaginiques, selon Nathalie. […] Le must, c’est de trouver son point G“; ibid.: 315) wie abstruser sexualkundlicher Instruktionen („Bisexuel c’est deux filles à la fois“; ibid.: 263). „Ça n’existe pas, une bite en plastique“, erklärt bei anderer Gelegenheit die vermeintlich mit allen Intimwässerchen gewaschene Nathalie, wohingegen Rose - dank heimlicher Nachforschungen im Nachttisch ihrer Mutter - mit technischem Fachwissen auftrumpfen kann (ibid.: 261f.). 386 Ibid.: 94. 387 Ibid.: 217. 388 Ibid.: 314. 389 Ibid.: 226. <?page no="272"?> 272 Marie Darrieussecqs Clèves einer „sensualité débridée“ - bei sich selbst die gleiche ‚Pathologie‘: „C’est ça qu’elle a. Elle est nympho. C’est cette maladie qu’elle a.“ 390 Männliche Brutalität in sexuellen Dingen wird derweil glorifiziert, beweist sie doch, dass hier ein ‚richtiger Mann‘ am phall(ozentr)ischen Werk ist; ihrem ‚Ehemann‘ Bihotz, bei aller grenz-pädophilen Ambivalenz rücksichtsvoll, „tellement responsable“ 391 und gerade deshalb in seiner Geschlechtsidentität suspekt („c’est comme si sa bite ne faisait pas de lui exactement un homme“ 392 ), wirft Solange, stolz auf ihre neu erworbenen lexikalischen Schätze, zumindest in Gedanken reihenweise chauvinistisch-homophobe Pejorativ-Etiketten an den Kopf: „Puceau. Pédé. Gros enculé.“ 393 In ihrer bemerkenswert misogynen Mädchenclique wird nur konsequent auch jener ‚Cunnilingus‘, dessen schwierigen Namen zu behalten Solange schwerfällt, 394 für „un truc de pédé“ erklärt: „[…] les vrais mecs ne font pas ça. […] C’est sûr qu’Arnaud ne ferait jamais un truc comme ça.“ 395 Eifrig überbieten die neuen ‚princesses de Clèves‘ einander in pflichtbewusster Pro- Heteronormativität (auch das Label ‚pervers‘ erfreut sich beträchtlicher Popularität 396 ). Nach einem überraschenden Kuss mit einer Schulkollegin fragt sich Solange mit auch typografisch markiertem Entsetzen, ob Lætitia womöglich „lesbienne“ sei. 397 Besagte Lætitia, zuvor noch als „Moket’éco“ für die männliche Dorfjugend verspottet, 398 fungiert nach ihrer ‚Entlarvung‘ als Objekt aggressiver Stigmatisierung („Une grosse gouinasse […] Une sale putain de goudou“ 399 , „une grosse gouine“ 400 ), an dem sich Solange & Co. kontrastiv der eigenen ‚Normalität‘ vergewissern: „Mais tu es débile ou quoi […]. Je vais pas me laisser violer par une gouine.“ 401 Gegen den Makel sexueller ‚Perversion‘ vermag auch Lætitias superiorer Sozialstatus nichts auszurichten; gehorsam zieht sich die zuvor beneidete und bewunderte junge 390 Ibid.: 257ff. „On ne dit pas d’un homme qu’il est nymphomane“, konstatiert die Mutterfigur in Emmanuelle Bayamack-Tams Mon père m’a donné un mari (2013b: 62) lapidar eine implizit misogyne terminologische Asymmetrie. 391 Darrieussecq 2011b: 344. 392 Ibid.: 338. 393 Ibid.: 195. 394 Mit raffiniert inszenierter Naivität bedauert die Protagonistin, dass hier im Gegensatz zum männlichen Äquivalent kein alltagskompatibler Ausdruck zur Verfügung steht: „Elle se souvient que ça porte un nom latin, vu que c’est un peu gynécologique et qu’on n’a pas trouvé un bon mot simple comme ‚pipe‘“ (ibid.: 276f.). In Le Pays bringt die Erzählerin eine lexikalische (Argot-)Alternative („pèlerinage aux sources“) ins Spiel (2005: 249). 395 Darrieussecq 2011b: 277. 396 „Quand elle pense que Nathalie lui a dit que Rose pensait qu’elle (Solange) était perverse […] comme elle (Rose) devait être contente de faire sa belle avec perverse! (Elle a regardé dans le dictionnaire, ça veut dire névrotique quasiment. Perverse cette blague, Rose a le melon, c’est tout, elle se croit, elle utilise des mots pour se rendre intéressante, genre elle est le centre du monde.)“ (ibid.: 137). 397 Ibid.: 254. 398 Ibid.: 149. 399 Ibid.: 266. 400 Ibid.: 286. 401 Ibid.: 261. Vgl. dagegen die affirmative Aneignung der ‚gouine‘ in Virginie Despentes’ Apocalypse bébé: Zwar stößt (Anti-)Heldin Lucie Toledo sich zunächst noch an der Frequenz, mit der die ‚Hyène‘, Repräsentantin eines aggressiv-orgiastisch pro-lesbischen Diskurses und Lebensstils, dieses Wort im Munde führt („Elle n’a que ça à la bouche, ma parole. Gouine, gouine, gouine, je n’ai jamais autant entendu répéter ce mot que ces derniers jours“; 2010: 113); sie selbst wird im Lauf des Romans freilich noch ihre ‚Konversion‘ erleben. <?page no="273"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 273 Schlossherrin aus der Mikro-Gesellschaft des Dorfes zurück: „[…] on ne voit plus jamais Lætitia depuis que tout le monde sait qu’elle est gouine.“ 402 Insgeheim erinnert sich Solange freilich mit weit komplexeren Gefühlen an ihren Kuss mit der verhöhnten ‚Lesbe‘: „Et le mot gouine, comment le faire entrer dans ça, dans ce moment dans la chambre de Lætitia - ce moment qui ressemble à la lumière des photophores, tremblant et chaud, et qu’elle aime évoquer, rallumer, bien que pas un mot n’ait été dit entre elles […].“ 403 Der Kontrast ist frappant gegenüber den heterosexuellen ‚Liebes‘-Szenen mit dem romantisch verklärten Arnaud, der Solange bei der ersten Begegnung salopp als „ma grosse salope“ adressiert, 404 sie unter Einsatz physischer Gewalt zur Fellatio („[…] c’est un peu dommage quand même cette impression de lui nettoyer la bite. Elle voudrait qu’il lui lâche les cheveux, ça tire, et elle a un bras bloqué façon judo“ 405 ) - nur mit Mühe kann Solange „les larmes comme une grande vague de cynisme“ zurückhalten 406 - und zum Analverkehr nötigt: „[…] est-ce que c’est ça, se faire enculer? Ou violer, est-ce que c’est ça? Est-ce que techniquement, c’était ma première fois? Rapport au récit qu’elle compte faire à Nathalie.“ 407 Wie im Fall der Lafayette’schen Princesse in ihrer nach wie vor produktiven Ambivalenz 408 hieße es auch Clèves unrecht tun, wollte man den Text auf einen feministischen Thesenroman reduzieren; sehr wohl freilich bietet Darrieussecq eine luzide gender-kritische Auseinandersetzung mit Liebe, Sexualität, dem performativen Charakter von Geschlechtsidentität 409 und deren (Inter-)Diskursivität: Clèves ist auch bzw. vor allem ein Roman über die Sprache(n) der Liebe wie der Sexualität; neben seinem - im Gegensatz zur Princesse höchst plastischen - physiologisch-sexuellen Imaginarium besitzt der Text eine prononcierte metadiskursive Dimension, 410 mit der Darrieussecq wiederum an Lafayettes Werk anknüpft. 411 402 Darrieussecq 2011b: 315. 403 Ibid.: 288. 404 Ibid.: 169. 405 Ibid.: 159. 406 Ibid.: 167. 407 Ibid.: 220. 408 „C’est une des grandes beautés de l’œuvre que cette ambivalence de tout […]“: Auch in Fragen Gender und Feminismus besitzt Selliers Einschätzung der Princesse ihre Gültigkeit (2005: 241). 409 Die diesbezügliche Ambivalenz des Textes betont auch Le Men (2013: 13): „Clèves semble receler de nombreux éléments textuels pertinents dans le cadre d’une analyse de la performativité du genre. Il apparaît cependant difficile - et certainement contrefait - de vouloir conclure sur le potentiel subversif du personnage de Solange. Certains augureraient de sa conformité. Toujours est-il qu’au-delà de son apparente banalité […], le personnage fait preuve de qualités critiques, et l’auteure réussit par son entremise à rendre visible la norme de genre, et à la dénoncer.“ 410 ‚Korporalisierung‘ des klassischen Prätexts und Tendenz zum Metadiskurs erscheinen dabei eng assoziiert; gerade in den Bereichen Körperlichkeit und Sexualität vollzieht sich die Suche der Heldin nach ‚les mots pour le dire‘ (vgl. Cardinal 1975; diesen Konnex stellt auch Hoft-March [2015: 187] her), die kritische Exploration jener Gemeinplätze, hinter denen Abgründe sich verbergen. 411 Grande unterstreicht die bereits thematisierte metadiskursive Dimension auch dieses Romans, in dem die äußere Handlung gegenüber diversen Sprach- und Sprechakten zurücktritt: „Cette montée en puissance des paroles et des sentiments au détriment de l’action, culmine dans La Princesse de Clèves. […] les rares événements du roman sont des actes de langage, tels les ultima verba de M me de Chartres ou du prince, l’aveu de la princesse à son mari, ou sa conversation finale avec Nemours“ (1999: 348f.). Auch Darrieussecqs Protagonistin verfügt über jene Sensibilität für die performative Qualität, die „consistance quasi matérielle“ der Sprache, die Delacomptée als distinktives Merkmal der Heldin <?page no="274"?> 274 Marie Darrieussecqs Clèves Sex und Text oder Liebe, Lektüre, Lexikon: Die (Selbst-)Erfindung des Subjekts Il s’agit toujours d’une existence comme écrite, déjà décrite, même à ses propres yeux. 412 „Es entsteht Liebe durch Sprache. […] Liebe ist etwas Sprachliches“, so Martin Walser. 413 Denis de Rougemont geht in L’Amour et l’Occident auf die Allianz von „passion“ und „expression“, „guère séparables“, ein: „[…] on a toujours vu que l’invention d’une rhétorique faisait foisonner rapidement certaines puissances latentes du cœur.“ 414 Norbert Bolz kommentiert ironisch das „Gerede“ als die eigentliche „Vollzugsform der Liebe“, die über die prinzipielle „Inkommunikabilität unter Intimitätsbedingungen“ hinwegzutäuschen versucht 415 - und zitiert Robert Musils Betrachtungen über den Menschen, „recht eigentlich das sprechende Tier“ und „das einzige, das auch zur Fortpflanzung der Gespräche bedarf“ („Und nicht nur, weil er ohnehin spricht, tut er es auch dabei; sondern anscheinend ist seine Liebseligkeit mit der Redseligkeit im Wesen verbunden“). 416 Michail Ėpštejn theoretisiert den ‚semiotischen und sogar semiokratischen‘ Charakter der Liebe, das Liebesbekenntnis als ‚transformativen‘ Sprechakt. 417 „Parler, c’est parler de sa sexualité. Et parler de la sexualité c’est déjà être dans la sexualité“, erklärt Marguerite Duras. 418 Mit einem Wort: „L’amour est une rhétorique“, 419 „inséparable des discours et de la fiction“. 420 Seiten um Seiten ließen sich mit literarischen und philosophischen Meditationen über die Verstrickungen von Liebe, Sexualität und Sprache füllen. Auch das Werk Lafayettes illustriert den Konnex zwischen Sprach- und Liebeslust: „[…] l’amour fit en lui ce qu’il fait en tous les autres: il lui donna l’envie de parler […]“, heißt es über den Comte de Chabannes in La Princesse de Montpensier. 421 An Lafayettes Metaphorik der Passion partizipiert auch das signifikante Bild vom ‚Überströmen‘ eines Subjekts, das es seine Liebe in Sprache zu fassen drängt - so im Fall der Protagonistin ebenjener Novelle, „qui était pleine de sa passion, et qui trouvait un soulagement extrême à […] en parler […]“. 422 Auch die Warnung vor den Gefahren der Passion taugt noch zur indirekten Legitimation, sich nach Herzenslust in einem nie versiegenden Liebesdiskurs zu ergehen. 423 Beschreibt Niklas Luhmann die Liebe als der individuellen Gefühlsregung präexistenten „Kommunikationscode“ resp. „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“, als (epochen- und kulturspezifische) diskursive Struktur, die der amourösen Objektwahl vorausgeht bzw. sich „zunächst gewissermaßen […] im Lafayettes gegenüber dem Hof und der galanten Oberflächlichkeit seiner „conversations mondaines“ ausmacht: „Les mots, pour elle, n’ont pas la même valeur que pour les courtisans“ (2012: 44). 412 Duras 2012: 72. 413 Föderl-Schmid 2012. 414 Rougemont 1979: 191. 415 Bolz 1995: 17f. 416 Musil 1970: 1130, zit. nach Bolz 1995: 18. 417 Ėpštejn 2011: 383, 122ff. 418 Duras 2012: 49. 419 Schneider 2013: 171. 420 Gérard 2013: 82. 421 Lafayette 2014a: 23. 422 Ibid.: 38. 423 Vgl. Grande 1999: 357. <?page no="275"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 275 Leergang“ bewegt, 424 so exploriert auch Clèves diese Eigendynamik des discours amoureux und knüpft zugleich - parodistisch gebrochen - an die preziöse Kultur der Zeit Lafayettes an: „Disserter sur les étapes et les accidents de la carte du Tendre était une des occupations favorites de ses contemporains.“ 425 Besagter „dissertation“ über die Formen der Liebe widerfahren auf dem hypertextuellen Parcours von der Princesse bis Clèves freilich einige symptomatische Transformationen; dies betrifft zunächst den eklatanten Unterschied in der diskursiven ‚Amplitude‘ beider Romane. Im Gegensatz zu Lafayettes Werk mit seiner paradox desinkarnierten Körperlichkeit und seinem überaus dezenten Liebesdiskurs (auch in potentiell stark sexualisierten Kontexten übt die Erzählinstanz klassisch-noble Zurückhaltung, so etwa, wenn Nemours sich, „à peine […] maître du transport que lui donna cette vue“, vor dem nächtlichen Fenster der geliebten Frau wiederfindet 426 ) entfaltet sich bei Darrieussecq ein breites interdiskursives Panorama, das sämtliche bei Ėpštejn formulierten Kategorien des Sprechens über Sexualität umfasst (von den ‚archaisch-buchsprachlichen‘ über die ‚medizinisch-terminologischen‘, ‚bürokratischdeskriptiven‘ und ‚poetisch-bildlichen‘ bis hin zu den ‚zoologisch-abwertenden‘ und zum ‚vulgären‘ Slang 427 ). Noch eine andere signifikante Erweiterung nimmt Darrieussecq vor: Während in Lafayettes Roman die Protagonistin zwar als Adressatin intradiegetischer Erzählungen mit evidenter didaktischer Komponente fungiert, die Lektüre auf diegetischer Ebene aber keine Rolle spielt, ist Clèves auch eine Geschichte des - stark erotisierten - Lesens. Nicht zufällig wurde Solange - im Kontrast zu Lafayettes Princesse, Anti-Bovary avant la lettre - auch als Wiedergängerin der Heldin Flauberts interpretiert: 428 „[…] c’est Bovary qu’on sodomise“, bringt Virginie Despentes den in Clèves inszenierten Clash unterschiedlicher Liebesdiskurse und -praktiken auf den Punkt. 429 Diverse Lese-Akte werden hier en abyme reflektiert: Vor allem Rose, die intellektuelle, eloquente und aus Solanges Sicht leicht snobistische Freundin („Rose disait toujours les choses les plus alarmantes avec une syntaxe rare et son accent élégant“ 430 ), tritt auch als kritische Leserin auf, die ein detailliertes Lektüretagebuch führt und sogar ihr eigenes literarisches Rating-System entwickelt hat. In den Augen Solanges, gerade auf dem Höhepunkt ihrer ‚pansexuellen‘ Phase angekommen, geraten Text und Sex ein weiteres Mal durcheinander, als Rose sie in den „classement de ses lectures“ einzuweihen versucht; auch durch Roses zu Ehren des Tagebuchs der Anne Frank etablierte Maximal-Bewertung „super +“ fühlt Solange sich an ihre eigenen Obsessionen erinnert: 424 Luhmann 1994: 21ff. 425 Pingaud 2011: 28. 426 Lafayette 2014c: 451. 427 Vgl. Ėpštejn 2011: 462. 428 So bei Ferniot: „Elle ne lira jamais Madame Bovary, pourtant elle ressemble à l’héroïne de Flaubert: une petite Emma qui voudrait tellement connaître la passion […]“ (Ferniot/ Peras 2011). Den Flaubert- Bezug bringt auch Enthoven (2011) ins Spiel, um Darrieussecq sogleich wieder aus der ‚großen‘ Literaturgeschichte zu verbannen: „On songe à Flaubert, à Colette, à Anaïs Nin. Puis on les oublie. [Ç]a vaut mieux. Pour eux.“ 429 Despentes 2011. 430 Darrieussecq 2011b: 33. <?page no="276"?> 276 Marie Darrieussecqs Clèves Ça fait un peu serviette hygiénique. „Tu as l’esprit mal tourné. D’ailleurs Anne Frank est le premier écrivain du monde à avoir jamais écrit sur les règles. Ça n’a rien de sale.“ Il est de plus en plus difficile de parler avec Rose. 431 Diesen Streifzug durch Roses Journal nützt Darrieussecq auch für einen kleinen Verriss von Albert Cohens Belle du Seigneur aus gespielt jugendlich-naiver Perspektive; stellvertretend übt sich Rose in prä-feministischer Literaturkritik und erklärt Cohens Roman mit seinem stereotypen Geschlechter-Imaginarium kurzerhand für „le livre le plus risible que j’ai jamais lu“. 432 Im Gegensatz zu ihrer Freundin bemüht sich Solange vergeblich um schriftstellerische Disziplin: „Elle essaie de tenir son journal, comme Rose. Rose lui a même offert un carnet Hallmark pour son anniversaire. Mais c’est fastidieux. La vie est ennuyeuse.“ 433 Schließlich versucht die Protagonistin („Fleur bleue, ricanerait son père“ 434 ) ihr para-literarisches Glück mit einem Audio-Tagebuch (basierend auf Darrieussecqs eigener Dokumentation ihrer Jugendzeit), prophylaktische Aggression an die Adresse eventueller voyeuristischer Leser - bzw. heimlich lauschender Hörer - inbegriffen: „Merde à celui qui écoutera.“ 435 Die ‚Gespenster‘ der Medientechnik sind bei Darrieussecq ein rekurrentes Motiv. Irritiert hört Solange auf Band ihre eigene verfremdete Stimme, die - erneut kommt die ödipale Problematik ins Spiel - plötzlich jener der Mutter zum Verwechseln ähnelt; verwirrt rekapituliert sie, naive Medienphilosophin, die Erläuterungen Roses bezüglich der Funktion des Schädels als „caisse de résonance“: „Rose lui explique […] que la voix dans la tête n’est pas la voix que les autres entendent. Il lui semble confusément que ça explique des choses.“ 436 Auch abseits des Tagebuch-Experiments wird die gespenstische Verdopplung des Ich in technische Bilder gefasst; die Turbulenzen ihrer pubertären Gefühls- und Gedankenwelt beobachtet Solange zeitweise, „comme si elle regardait le film d’elle-même se regardant“. 437 Angesichts der wachsenden Entfremdung gegenüber ihrer Freundin verspürt sie das Bedürfnis, deren Gestalt auf Polaroid zu bannen, „pour saisir ce qui l’envahit, comme on voit apparaître les spectres autour des personnes hantées“. 438 Diverse sexuelle Erlebnisse werden auch im 431 Ibid.: 297f. 432 Ibid.: 301f. Ob intendiert oder nicht - diese Miniatur-Parodie liest sich vor dem Hintergrund der ‚Affäre‘ auch als ironisches politisches Statement, zählt Sarkozy doch eben Belle du Seigneur - neben Célines Voyage au bout de la nuit - zu seinen persönlichen Favoriten; vgl. die Forums-Diskussion zu Riché 2008 sowie Sarkozys erneuertes literarisches ‚Liebesbekenntnis‘ im Gespräch mit Rouart (2014): „Si j’avais à choisir un roman d’amour, je préférerais ‚Belle du Seigneur‘ d’Albert Cohen et son héroïne, Ariane. Quelle amoureuse! “ Zumindest im Fall von Anna Karenina kann sich der Ex- Präsident freilich auch für „la grandeur du mari trahi“ begeistern (ibid.). 433 Darrieussecq 2011b: 35. 434 Ibid.: 238. 435 Ibid.: 36. Ausgehend von diesem audio-diaristischen Ritual werden auch die Funktionsmechanismen der inneren Zensur reflektiert; so zögert Solange, die vertraute Wendung „fait chier“ auf Band zu sprechen, und wählt stattdessen ein eleganteres Synonym: „m’a embêtée“ (ibid.). 436 Ibid.: 37. 437 Ibid.: 134. 438 Ibid.: 119. „La photographie résume tous les fantômes, elle ouvre à nos yeux aveugles le paysage des morts“, meditiert Yves Ravey (2003: 57). Die Reflexion über die Fotografie als Kunst des ‚Geistersehens‘ (vgl. Sontag 2008: 148ff.) zieht sich leitmotivisch durch das Werk Darrieussecqs. In Naissance des fantômes (1998) - das Cover der Folio-Edition ziert ein Fragment von Francesca Woodmans House #3 (1976) - fungiert die Fotografie weniger als ‚Existenz-Verstärker‘ („À la fin du XIX e siècle, on allait se <?page no="277"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 277 Rahmen einer filmischen Metaphorik reflektiert; 439 aus Anlass eines für ihren Geschmack allzu intimen ‚Bekenntnisgesprächs‘ mit der Mutter wünscht sich Solange, der in diesem „moment de complicité“ recht unbehaglich zumute ist, sie könnte die Konversation einfach ein Stück ‚zurückspulen‘: „Elle voudrait faire rewind, c’est la mauvaise conversation […].“ 440 Höchst sensibel reagiert die jugendliche Protagonistin aber vor allem auf das erotisch geradezu elektrisierende Potential der Sprache; die Faszination für das Vokabular der Sexualität - Termini technici wie genüsslich entdeckte Vulgarismen - geht der konkreten Erfahrung voraus. ‚Clèves‘ selbst wird im Mund dieser neuen Princesse zum hyper-sexualisierten Schlüsselwort, in dem sich - zwischen Lafayette und Monique Wittig - „clitoris“ und „lèvres“ lustvoll vereinen. 441 Wie das Bewusstsein der Autorin stellt auch der Text einen Resonanzraum dar, in dem unterschiedliche Diskurse auf ihren Klang hin erprobt, neu gemixt und moduliert werden; paradigmatisch illustriert dieser Roman die Funktion von Literatur als ‚Interdiskurs‘ 442 bzw. jene des schreibenden Subjekts, „concurrently a vessel for social discourses, gathering and placing them within text, and a creative individual, choosing if, where and how they should be employed“. 443 Als postmoderner Bildungsroman erzählt Clèves, wie Darrieussecqs Gesamtwerk „réfractaire à toute ‚métaphysique du sujet‘“, 444 die Geschichte einer Subjektivität, die sich, „a product of text“, 445 in der Auseinandersetzung mit einer sie zugleich unterdrückenden und ermöglichenden Diskursmacht konstituiert. 446 Der auch sprachliche Emanzipationsprozess der Protagonistin von der „parole du groupe“ zur „parole à elle“ 447 besitzt hier eine doppelte inter- und intratextuelle Zusatzdimension; Darrieussecq knüpft sowohl an die Princesse - (Re-)Konstruktion einer „subjectivité […] toujours conçue comme une accession au langage“, 448 einer „conquête douloureuse de soi“ und parallel „lente éducation simultanée de l’héroïne et du lecteur“ 449 - als auch an ihre eigenen früheren Romane an, insbesondere faire photographier chez le photographe du village […] cela pour exister davantage“, schreibt Marguerite Duras [2012: 112]), sondern vielmehr als Medium der Desintegration einer prekären Realität und eines instabilen, inkohärenten Subjekts: Vergeblich sucht die Erzählerin angesichts des mysteriösen Verschwindens ihres Ehemannes Halt im Hochzeitsalbum, Chronik und Schauplatz eines ontologischen Desasters (Darrieussecq 1999a: 51ff.). Le Pays evoziert die amouröse Begegnung zwischen der Protagonistin und einem auf das Genre des ‚Gespensterporträts‘ spezialisierten Fotografen: „Un jour, à Paris, un photographe m’avait rendu visite. Il travaillait, m’expliqua-t-il, à une qualité de lumière qui aurait rendu mieux perceptibles, dans notre champ de vision, ces hôtes de poussière. Ces phrases avaient suffi à ce que nous devenions amants“ (Darrieussecq 2005: 154). In den neueren Romanen - Clèves wie Il faut beaucoup aimer les hommes legen davon plastisches Zeugnis ab - erscheint die Fotografie nach wie vor mit dem Tod, den Phantomen eines problematischen Familienromans assoziiert. 439 Vgl. Darrieussecq 2011b: 325. 440 Ibid.: 189. 441 Ibid.: 286. 442 Vgl. Link 1988. 443 Chadderton 2012: 140. 444 Le Men 2013: 12. 445 Chadderton 2012: 141. 446 Vgl. Butler 2001: hier insbes. 81ff. 447 Vgl. Darrieussecqs Charakteristik ihrer Heldin aus dem mit Clèves in dieser Hinsicht eng verwandten Roman Truismes (Barraband/ Gassmann 2005: 10). 448 Dubois 2011. 449 Dufour-Maître/ Milhit 2004: 45, 68. <?page no="278"?> 278 Marie Darrieussecqs Clèves Truismes (wie Lafayettes Text Narrativ einer ambivalenten Befreiung nicht zuletzt mit sprachlichen Mitteln: „plus le livre avance, plus la parole de cette femme se complexifie, elle gagne en vocabulaire, en syntaxe. C’est quelqu’un qui se libère“ 450 ), aber auch Naissance des fantômes, im Wesentlichen „le parcours d’une voix“. 451 „Un personnage de roman est fait de la langue qu’il parle“: 452 Wie Darrieussecqs Solange - Text-Wesen, 453 dessen paradoxen „récit personnel“ Suzanne Le Men als „le produit d’une sédimentation ou d’un feuilletage de discours passés“ beschreibt 454 - erscheint bereits die Heldin Lafayettes als ideologisches und diskursives Patchwork-Produkt („[…] ce qui fait l’originalité de la construction identitaire de la Princesse, c’est qu’elle est une collection de fragments issus du heurt de modèles préexistants“, bemerkt Dubois 455 ); in beiden Fällen spiegelt die jeweilige Protagonistin damit Genese bzw. Struktur des Textes insgesamt wider. In einem Metaroman, der aus dem Spiel mit parodistisch transformierten Elementen des klassischen Prätexts hervorgeht, bastelt Solange sich auf diegetischer Ebene, vorerst noch ungeschickt, aus allerlei fremden Diskursfragmenten eine ‚eigene‘ Sprache - und damit ein prekäres Selbst. Auf sprachlichem Wege erschließt sie sich allmählich eine Welt, die mit jedem neuen Wort („elle apprend, en ce moment, des mots nouveaux“ 456 ) ein Stück größer und komplexer wird. Erst durch die Aneignung der entsprechenden Vokabel erlebt sich die Heldin, von der Klassenlehrerin zunächst als „immature“ charakterisiert, 457 wahrhaft als „elle, 450 Barraband/ Gassmann 2005: 10. 451 Ibid.: 12. 452 Petit 2012: 5. 453 Körper selbst werden in Clèves zu Text-Gebilden, entfalten ihr eigenes extravagantes „Buchstabenleben“, um eine Formulierung Sibylle Lewitscharoffs (2013: 81) zu zitieren. Die vornehme Lætitia d’Urbide trägt ihre Initialen auf die Stirn geschrieben: „Des veines en L et U pulsent sous son front pâle“ (Darrieussecq 2011b: 250). Weniger ästhetisch interagieren Wort und Körper im Fall des von schwerer Akne gezeichneten Raphaël Bidegarraï, in dessen Gesicht die Tremata seines Namens fortzuwuchern scheinen (ibid.: 285). In Le Pays betrachtet die Erzählerin ihre neugeborene Tochter - noch sprachlos, doch bereits über und über beschriftet: „Sous le front bombé se croisaient des veines qui dessinaient des signes, des formes, des lettres“ (2005: 295). Die Novelle „On ne se brode pas tous les jours les jambes“ (2003; in Darrieussecq 2006a: 111-120) - mit ihrem Imaginarium textualisierter Körperlichkeit wie der menstruellen „métamorphose“ (ibid.: 116) mehrfach interessanter Paralleltext zu Clèves - setzt eine weitere Schriftsteller-Protagonistin in Szene, Nachfahrin einer Dynastie von Meisterinnen der „broderies de peau“, in der traditionell sogar das Alphabet am eigenen Leib eingeübt wurde (ibid.: 114). 454 Le Men 2013: 8. Schon „Simulatrix“ präsentiert eine ambivalente Hauptfigur, deren problematisches ‚wahres‘ Ich unter multiplen Schichten diskursiver Ablagerungen verschwindet: „Il fallait remonter très loin […] pour trouver quelque chose qui ressemble à un début, à un début d’elle, seule, non formée encore, peut-être totalement vide“ (Darrieussecq 2006a: 125). Wie später Darrieussecqs Neo-Princesse de Clèves erscheint bereits die jugendliche Chloé, „constituée de phrases empilées les unes sur les autres“, als intertextuelles Collage-Produkt: „Il fallait imaginer le froissement des pages de magazines quand un garçon tentait de l’enlacer; le glissement du papier glacé quand elle-même voulait s’approcher d’un autre corps […]“ (ibid.: 130). In einer überaus borgesianischen mise en abyme fungiert ein seltsamer Ring, „sorte de labyrinthe circulaire“, den Chloé am Finger trägt, als Sinnbild und Schlüssel zu ihrer (Non-)Persönlichkeit - und zu einem in jeder Zeile vom Bewusstsein seiner eigenen Zitationalität heimgesuchten Text: „La bague était la clé de ce simple secret: tout en elle était fait d’ajouts“ (ibid.: 124). 455 Dubois 2011. 456 Darrieussecq 2011b: 136. 457 Ibid.: 117. <?page no="279"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 279 Solange, l’individu Solange“; 458 naiv freut sie sich an neuen Wörtern und Wendungen - so anlässlich der Schilderung einer lokalen Hochzeit: „[…] elle a renoncé à comprendre les liens dans cette famille tentaculaire. […] Avec un costume qu’elle ne lui connaissait pas, et carrément un nœud papillon. […] Ils sont sur leur 31 […] Ou Bihotz. Non, trop occupé à courtiser la mère de Delphine.“ 459 Mit feiner Ironie zeichnet Darrieussecq die Zirkulation voller Stolz (und oft genug falsch) gebrauchter neuer, möglichst akademischer Ausdrücke unter den Jugendlichen nach: „[…] un antidote, le mot saute dans la tête à Solange. Antidote toi-même, elle se met à rire […].“ 460 „Elle est mégalo, renchérit Solange, ‚mégalo? ‘, oui […]“, 461 oder: „Elle a passé sur ce truc d’être maso qu’elle n’a pas bien compris […].“ 462 Ihre gebildete Freundin, „qui s’essaie elle aussi à des expressions qui lui vont comme sa nouvelle coupe de cheveux: bizarrement“, 463 provoziert Solange durch die Demonstration ihrer verbalen Überlegenheit: „‚[…] c’est une expression. Ce n’est pas littéral‘, continue Rose (incompréhensible, comme souvent).“ 464 Auch dieses verdächtige neue Wort taucht jedoch kurz darauf in Solanges eigenem Diskurs wieder auf: „[…] ce qu’on est en train de vivre littéralement n’existe pas, vous voyez? “ 465 Von Berufs der Mutter wegen hat freilich auch Solange ein gewisses Spezialvokabular zu bieten, wie mit gebührender Satisfaktion festgehalten wird: „Elle fait un beau paquet, tire au ciseau sur le bolduc. C’est un mot que Rose ne connaît pas.“ 466 Schließlich gelingt es ihr sogar, letztere mit einem bei ihrem Vater entlehnten Adjektiv zu beeindrucken: „Je suis contre le racisme. Et contre les bombes atomiques […]. Et contre la fin des animaux. Contre la fin programmée des animaux (précise-t-elle) (un adjectif de son père). Rose est réveillée par le programmé.“ 467 Aus einem Gespräch mit der adligen Lætitia bringt Solange eine andere lexikalische Trophäe mit: „Narcissiquement parlant, c’est une chose que je ne pourrais pas accepter. […] Je suis trop fière pour accepter ça. Narcissiquement parlant.“ 468 Solange - hier exemplarisch diskurs-analysiert - tritt auch als ihre eigene strenge Sprachkritikerin auf; mit bemerkenswertem humoristischem Effekt nimmt sie sich wiederholt vergeblich vor, sich endlich den inflationären Gebrauch des Adverbs tellement (und analoger Bildungen) abzugewöhnen: 469 „Tellement libre, cette Lætitia. Tellement non con- 458 Ibid.: 299. 459 Ibid.: 225f. 460 Ibid.: 233. 461 Ibid.: 249. 462 Ibid.: 269. Auch beim Besuch in der Apotheke sucht Solange verzweifelt nach der korrekten Bezeichnung für jenen dringend benötigten intimhygienischen Gegenstand: „Le mot qu’elle cherche est banal, genre assiette, suivi d’un mot plus compliqué, académique ou gymnastique. […] Elle voudrait demander, elle aimerait oser, avoir accès aux toilettes, se changer, mettre la serviette hygiénique“ (ibid.: 50f.). 463 Ibid.: 118. 464 Ibid.: 304. 465 Ibid.: 310. 466 Ibid.: 283. 467 Ibid.: 300. Diese Formel findet sich schon in Le Pays (Darrieussecq 2005: 277) - wie später in Il faut beaucoup aimer les hommes (Darrieussecq 2013b: 122). 468 Darrieussecq 2011b: 251f. 469 Dieses kleine Sprachspiel besitzt wiederum eine literarhistorische Tiefendimension: Unter Lafayettes rhetorischen „procédés au service de l’idéalisation“ in preziöser Tradition verzeichnet Esmein-Sarrazin insbesondere den „recours aux superlatifs, aux intensifs si, tant, tellement, aux adverbes en -ment et aux termes à sens superlatif“ (2014c: 1315). <?page no="280"?> 280 Marie Darrieussecqs Clèves ventionnelle. Il faut qu’elle arrête avec tellement. Généralement, avec les mots en -ment.“ 470 Mit einem kleinen Spiel rund um dieses tellement klingt der Roman aus: „[….] enfin tout ça ne l’intéresse pas tellement. (Il faut qu’elle arrête avec les tellement.) Elle a tellement d’autres choses à penser.“ 471 Einstweilen kommentiert Solange auch die Sprachticks 472 und idiosynkratischen Konversationsgewohnheiten anderer. 473 Im Rahmen dieser ihrer Initiationsgeschichte sieht sich die Protagonistin nicht nur mit der immer schon sprachlich gefilterten physiologischen Realität der Sexualität, sondern vor allem auch mit unterschiedlichen diskursiven Optionen konfrontiert, die sie quasi am eigenen Leib an- und ausprobiert, zwischen dem abstrakt-mechanisierenden Jargon der Gynäkologin, die sie wegen ihrer Menstruationsbeschwerden aufsucht („C’est la machine qui se met en route“ 474 ), und dem zugleich schockierenden und faszinierenden vulgär-animalischen Vokabular, dem sie in unterschiedlichen Lebenssituationen begegnet: „Mais ‚poule‘ veut aussi dire femme et la même chose que ‚pute‘. Et ‚chatte‘ désigne ce qu’elles ont entre les jambes.“ 475 Bei ihren männlichen Partnern sorgt Solanges ‚Wortlastigkeit‘ teilweise für Irritation; von ‚Nemours‘ Arnaud wird sie zur diskursiven Ordnung der Geschlechter gerufen bzw. vorwurfsvoll daran erinnert, dass sie als Frau doch einen ganz anderen - ‚natürlichen‘ - Bezug zu Körperlichkeit und Sexualität haben sollte: „Ne m’oblige pas à mettre des mots sur tout. C’est gênant. On peut, genre, parler sans les mots. Vous les filles vous avez un rapport au corps très spécial. Un rapport très direct.“ 476 Gerade hinsichtlich der Sprache der Sexualität kultiviert Darrieussecq die Kunst des second degré, unter systematischem Rekurs auf die Kursivierung als typografische „form of emphasis: an italicized version of what passes for the neutral or standard face“ 477 (‚feministische‘ Version eines bekanntlich auch bei Michel Houellebecq kontinuierlich eingesetzten Verfahrens 478 ). 470 Darrieussecq 2011b: 232f., vgl. auch 260, 275f., 297. 471 Ibid.: 345. 472 So ihres Liebhabers Arnaud: „‚Je suis dubitatif‘, dit Arnaud. C’est son nouveau mot“ (ibid.: 331); „[…] et Arnaud répète qu’il est dubitatif, vraiment dubitatif“ (ibid.: 334). 473 Anlässlich des gemeinsamen Besuchs auf dem Friedhof wechselt die Mutter unversehens in ein in Solanges Ohren deplatziertes sprachliches Register: „[…] c’est comme un défaut de réglage, comme si elle voulait convaincre Solange de lui acheter le stock, avec des phrases sujet-verbe-complément et un accent pointu, un accent de Paris, un accent menaçant, l’accent de la boutique“ (ibid.: 270). 474 Ibid.: 71. 475 Ibid.: 47. Neben der klassischen ‚chatte‘ sticht in Clèves die hartnäckige Assoziation von Sexualität mit einer konkreten und metaphorischen Hunde-Motivik ins Auge. Als kleines Mädchen wird die Protagonistin von einem unbekannten Pilger belästigt, der sie auffordert, zu ihm doch auch so ‚nett‘ zu sein wie zu den Hunden, die sie gerade gestreichelt hat (ibid.: 93). Das Kleid, in dem Solange ihre erste Menstruation widerfährt, ist mit roten Hündchen verziert; mit einer Mischung von Faszination und Ekel beobachtet sie eine Szene von wildem ‚Gruppensex‘ der lokalen Hundegesellschaft (ibid.: 69f.), an der in prominenter Position Lulu, die Hündin ihres pädophilen Babysitters, beteiligt ist; die Phrase „elle mouille comme une chienne“ begleitet Solange quer durch ihre sexuelle Initiationsgeschichte (ibid.: 323, vgl. auch 110). „[…] dans un moment vous verrez vous prendrez une autre chienne en remplacement“ (ibid.: 338f.): Eine zweifellos intendierte Ambivalenz gewinnt in diesem Sinne ihr unbeholfener Versuch, Bihotz in ihrem Abschiedsbrief zugleich über den Verlust Lulus hinwegzutrösten (vgl. dazu auch Hoft-March 2015: 185). 476 Darrieussecq 2011b: 213. 477 Miller 1992: 21, unter Verweis auf Irigaray 1977: 74. 478 „C’est entendu, Marie Darrieussecq est une romancière libérée - surlignage à la Houellebecq, autre auteur libéré […]“, spöttelt Peras (Ferniot/ Peras 2011). <?page no="281"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 281 Allmählich durchschaut auch ihre Protagonistin die Ambivalenzen des - echten oder falschen? - ironischen Metadiskurses in Sachen sex & gender; während sie die Macho-Sprüche ihres Kavaliers noch großzügig als erotische Raffinesse au second (oder sogar schon troisième) degré überinterpretiert, erfasst sie bereits intuitiv das komplexe Spiel mit einer hochgradig artifiziellen ‚Weiblichkeit‘: „Le charme on s’en tape. Ce qu’on veut c’est des nibards.“ Il parodie les gros lourds. Un peu comme Madonna les femmes. C’est ça le problème, avec le second degré: on ne sait jamais exactement ce qui est dit. […] Elle n’a pas le temps de méditer sur le temps qui passe, il la presse urgemment de mettre aussi la bouche, „si tu m’aimes un peu tu avales“. Second degré ou pas il lui tient bien la tête pour qu’elle n’en perde pas une goutte. 479 Nach dieser ‚Liebesszene‘ gerät Solange, in die Betrachtung des kunstvoll designten Intérieurs im Elternhaus von Arnauds offizieller Freundin vertieft (sie selbst wird mit der Fiktion hingehalten, sie besetze die beneidenswerte Position der „favorite cachée“), in einen regelrechten Schwindelzustand angesichts der allgegenwärtigen - konkret-dekorativen und metaphorisch-diskursiven - Spiegeleffekte und mises en abyme: „On dirait une peinture sur de la peinture. Ça fait un petit vertige. Comme si le tableau se représentait lui-même. Ou comme quand on voit un camion transporter un camion. Ou comme quand on pense à penser. Ça lui évoque aussi vaguement le sexe. Elle aurait du mal à dire pourquoi.“ 480 Noch vor Beginn jeglichen Sexuallebens spielt das Wörterbuch bzw. Lexikon eine zentrale Rolle als Aufklärungsinstanz und Aphrodisiakum. Der familiäre Nouveau Larousse universel - ein Jahr älter als Solange selbst und in ihren Augen derart mit ihrer eigenen Zeugung resp. (Text-)Geburt assoziiert 481 - beflügelt ihre erotische Phantasie mit Einträgen zu „Accouplement n.m.“, präzise lokalisiert „juste après accoudoir […] et avant accourir“. 482 Getreuliche Klischeereproduktion betreibt das Lexikon in Gender-Fragen: 483 „Sexe [sɛks] n.m. (lat. sexus, de secare, couper). Chacune des deux formes adultes complémentaires, dont l’union assure la reproduction. (V. tableau REPRODUCTION et encycl.) || Organe de la génération. || Le sexe faible, le beau sexe, les femmes. || Le sexe fort, les hommes.“ 484 Wie Solange rasch feststellen muss, enthält der züchtige Larousse auch bedauerliche Lücken: „Il n’y a rien du tout à pédé […]“ (im Moment dieser enttäuschenden Entdeckung betritt die Mutter mit frischer Wäsche das Zimmer, das Mädchen flüchtet schleunigst in unverfänglichere Gefilde à la „Épine-vinette“ und „ténia […] franchement dégoûtant“). Sobald jene den Raum verlassen hat, kehrt Solange zu Delikatessen à la „pénis [penis] n.m.“ („Entre péninsule et pénitence“) zurück; die lexikografische Schatzsuche führt weiter zur „verge“ - wohingegen sich statt der erhofften „bite“ lediglich die langweilige „bitte“ findet und der Eintrag zu „gland“ auch nur von botanischen Dingen zu berichten weiß. 485 479 Darrieussecq 2011b: 330f. 480 Ibid.: 332f. 481 Vgl. ibid.: 40. 482 Ibid.: 39f. (Hervorhebungen im Original). 483 Siehe dazu auch Luise F. Puschs ebenso erhellenden wie amüsanten Essay über „Das DUDEN- Bedeutungswörterbuch als Trivialroman“ (1984). 484 Darrieussecq 2011b: 40 (Hervorhebungen im Original). 485 Ibid.: 41f. (Hervorhebungen im Original). <?page no="282"?> 282 Marie Darrieussecqs Clèves Über die exakte Bedeutung jener sexualbezogenen Vulgärterminologie, die sie sich mit besonderem Eifer aneignet, muss Solange sich ebenfalls anderweitig informieren - prangt anstelle des rätselhaften Verbs „enculer“ im Larousse doch nur ein symbolischer „trou entre encroûter et encuver“. „C’est un mot très grossier“, erklärt der stets auskunftsfreudige Monsieur Bihotz - und schreitet zur plastischen Illustration („Ça c’est ton cul“); wie Solange nicht entgeht, lässt die Bekanntschaft mit diesem als obszön stigmatisierten Wort („Surtout dans la bouche d’une jeune fille“) sie in den Augen ihres Noch-Babysitters von der „petite fille“ zur „jeune fille“ avancieren 486 (auch im Paratext bezeichnet Darrieussecq, den Schlüsselcharakter dieser Passage indirekt betonend, ihre Heldin als „ancienne petite fille“ 487 ). Ihre verbalen Stimulantien bezieht Solange darüber hinaus freilich aus einer Vielzahl heterogener Quellen; auch der heimlichen Lektüre einschlägiger Magazine im väterlichen Auto verdankt sie so manche handfeste Inspiration: Dans la voiture de son père il y a des magazines […] elle entre dans une forêt de femmes nues. […] Les femmes la regardent droit dans les yeux, les doigts dans la rigole, les jambes bien écartées. […] Elle attrape deux mots, haletante et cambrée, un peu difficiles mais immédiatement efficaces. […] elle plonge la main dans son petit jean et frotte, vite, sèchement, regardée par ces femmes et haletante et cambrée et le soulagement est immédiat, et quelque chose de mouillé gagne ses doigts, c’est bizarre, elle n’a quand même pas fait pipi. 488 Das Klischee der sexuell erregten Frau, „haletante et cambrée“, begleitet Solange durch ihre ganze pubertäre Sexualkarriere („Au bord d’une piscine avec Arnaud. Haletante et cambrée“ 489 ), ähnlich eine weitere Preziose aus der Welt des Jour de France: „[…] il y a un dessin d’une dame allongée et on peut lire: ‚Rêvant à lui, un trouble délicieux l’envahit.‘ C’est exactement ça. Rêvant à Christian, un trouble délicieux l’envahit.“ 490 Besagter „trouble délicieux“ geistert ab sofort als normatives Bild ‚korrekten‘ weiblich-erotischen Empfindens durch den Text; 491 irritiert konstatiert Solange die Dissonanz zwischen ihrer Zauberformel und erlebter sexueller Realität. Nach Kräften versucht sie während ihrer ersten Fellatio, trotz allem die Rolle der raffinierten libertine zu spielen („Jouer cette fille-là, experte et désirable. Un trouble délicieux“), doch unweigerlich schleichen sich andere, weit weniger ‚ästhetische‘ Wörter in die zusehends brüchige erotische Inszenierung ein: „[…] elle à genoux devant lui à le pomper […] il lui tape sous la glotte et elle a envie de vomir […] et il pousse un cri et quelque chose d’immonde lui envahit la bouche.“ 492 Sexualität erscheint derart als Produkt einer unermüdlich arbeitenden „machine à langage“; 493 immer wieder aufs Neue kollidieren Pseudo-Romantik und Vulgärdiskurs. Mit ihrem Switching zwischen „deux discours, l’un relevant du roman-photo, l’autre, du bréviaire macho“ 494 illustriert die folgende Passage exemplarisch das interdiskursive Chaos im Be- 486 Ibid.: 67ff. (Hervorhebungen im Original). 487 Darrieussecq/ V 2011. 488 Darrieussecq 2011b: 37f. 489 Ibid.: 320, vgl. etwa auch 184. 490 Ibid.: 75. 491 „J’avais lu, n’est-ce pas? donc je savais que l’amour donne des sensations délicieuses […]“, rekapituliert auch Jacqueline Harpmans Erzählerin in L’Orage rompu die Ordnung des (Liebes-)Diskurses (1998: 292). 492 Darrieussecq 2011b: 160ff. 493 Barthes 1977: 261. 494 Leyris 2011. <?page no="283"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 283 wusstsein der Protagonistin: „Mon premier baiser, se répète-t-elle, mon premier baiser. Un peu de cet événement inouï se dépose dans ces trois mots, mon premier baiser, mon premier baiser. ‚Rêvant à lui, un trouble délicieux l’envahit.‘ Est-ce que c’est ça? ‚Elle mouillait comme une chienne‘, une autre phrase, entendue dans une bouche d’homme dans une kermesse ou une fête ou un bar […].“ 495 Eifrig versucht Solange, aus ihrem rustikalen Disco-Flirt („Je suis sortie avec un pompier. Ou J’ai rencontré un pompier et tout est allé si vite entre nous. Ou C’était un pompier expérimenté et un trouble délicieux…“ 496 ) wie aus ihrem amourösen Doppelleben eine möglichst fesselnde ‚Geschichte‘ für ihre Freundinnen zu basteln: „Elle a tout dit à Nathalie, sur Bihotz […]. Les plans cul, Nathalie comprend: comment, puisque Arnaud n’est pas là, elle couche avec Bihotz. Elle a juste changé des petits trucs (c’est avec Arnaud que j’ai découvert le plaisir) (‚c’est vrai qu’on ne jouit pas pareil, quand ça veut dire quelque chose‘ - ça crée des liens - ‚jouir comme ça c’est l’amour, c’est sûr‘).“ 497 Während sie ihr sexuelles Vokabular sukzessive erweitert - „au lieu […] de ne plus penser qu’à se l’embrocher (se le mettre, se le fourrer, se le monter, se le traire, se le braire) elle le branle un peu […]“ 498 -, beobachtet sie zwar bereits im Lauf ihrer Beziehung zu Bihotz die Entstehung einer erotischen Privatsprache („Entre deux bagarres (ils ont développé leur propre vocabulaire) […]“ 499 ); doch vor allem zeigt der Roman die ‚Kolonisierung‘ ihres psychischen Raums 500 bzw. ihrer persönlichen erotischen Phantasiewelt durch diverse hyper-konventionelle Vor-Bilder und Vor-Schriften. Auch Fragmente französischer Höhenkammliteratur werden zum Anlass kritischer Reflexion über einen chauvinistischen discours amoureux. So kann sich Solange bei der Lektüre einer ‚Liebesszene‘ Guy de Maupassants 501 einer instinktiven präfeministischen Abwehrreaktion nicht erwehren: Dans Une vie, de Maupassant, il est écrit: „Une souffrance aiguë la déchira soudain; et elle se mit à gémir, tordue dans ses bras, pendant qu’il la possédait violemment.“ C’est la mère de Rose qui leur fait lire ça. […] Ça doit faire un mal de chien, et il est hors de question qu’elle se fasse posséder. On possède un objet ou une maison, toute sa raison vient à son secours. Elle frotte la phrase dans tous les sens, 502 „il la possédait violemment“, et quelque chose bascule dans son cerveau et s’électrise: tout ce qu’elle a entre les jambes se tend vers la possession du monde. 503 495 Darrieussecq 2011b: 110. 496 Ibid.: 119. 497 Ibid.: 317. 498 Ibid.: 311f. 499 Ibid.: 297. 500 Vgl. Oliver 2004. 501 Die Ironie dieser Passage erschließt sich vor dem Hintergrund der Reflexionen Maupassants über „L’Amour dans les livres et dans la vie“ (1886): „C’est d’ordinaire dans les livres que nous acquérons la connaissance de l’amour, c’est par eux que nous commençons à en désirer les émotions. Ils nous le révèlent poétique et enflammé, ou rêveur et clair de lunesque, et nous gardons souvent jusqu’à la mort l’impression qu’ils nous en ont donnée au début de notre adolescence! Nous apportons ensuite, dans toutes nos rencontres, dans nos liaisons et nos tendresses, la manière de voir et d’être que nous avons apprise dans nos premières lectures, sans que l’expérience des faits nous donne la notion exacte des choses, l’appréciation précise des rapports amoureux, et la désillusion que traîne derrière elle la réalité.“ 502 Le Men (2013: 11) kommentiert treffend die Polyvalenz des auch poetologisch aufgeladenen Verbs frotter in diesem Kontext (wie im Roman Clèves allgemein): „[…] il exprime simultanément l’effort de compréhension d’un texte par sa répétition effrénée et le geste masturbatoire de Solange. La perfor- <?page no="284"?> 284 Marie Darrieussecqs Clèves Nach einem ersten Moment der Rebellion gibt Solange sich lustvollen Phantasien über die ‚Inbesitznahme‘ ihres gehorsam in Pose gebrachten Körpers hin: „Elle veut se donner à lui. Elle pourrait raconter à Rose: je suis tombée amoureuse et je me suis donnée à lui. Et raconter à Christian. Il la posséda violemment.“ 504 Etwas später spielt sie dasselbe Szenario - nun schon detaillierter und mit anderem Protagonisten - aufs Neue durch: „[…] et il la pénétrerait sur le capot [….] et ça rendrait vraiment bien en se cambrant […] ils la trouveraient belle et un peu salope […] elle ouvrirait la bouche et se cambrerait […] et il la posséderait violemment.“ 505 Die Eigendynamik des Liebesdiskurses (und, poetologisch gelesen, auch der réécriture) illustriert schließlich plastisch jene Szene im Resonanzraum einer überlauten Provinz-Disco, in der frau konkret und metaphorisch ihr eigenes Wort nicht versteht: Als mehr oder minder kreative Ventriloquistin imaginiert Solange (alias „Charlotte“) eine Sequenz erotischer Dialoge, die in dieser Situation stattfinden könnten; die Phantasie-Repliken, die sie anstelle der unverständlichen Äußerungen ihres Tanzpartners einsetzt, gewinnen ihren eigenen poetischen Rhythmus. 506 „Toute écriture vraie se joue contre les clichés“: Phänomenologie und Palimpsest Les clichés aident à décrire un monde compliqué. 507 In ihrer raffiniert inszenierten Naivität fungiert Solange derart als metaliterarische und präphilosophische Projektionsfigur, über die etliche Elemente der Poetik Darrieussecqs auf diegetischer Ebene reflektiert werden. 508 Sie gibt sich quasi-platonischen Überlegungen über mativité du texte littéraire, texte traité ici à la manière d’un discours, agit directement sur le corps et la formation du désir.“ 503 Darrieussecq 2011b: 64. Diese und ähnliche Passagen in Clèves knüpfen an die Demontage einer chauvinistischen Sexualmetaphorik in früheren Texten Darrieussecqs an. So erklärt Chloé aus „Simulatrix“ unter Zustimmung der Erzählerin: „Vous savez que les femmes sont morphologiquement impénétrables: il n’y a que les idiots pour se figurer qu’il [sic] les transpercent, qu’il [sic] les possèdent, qu’il [sic] les clouent ou le diable sait quoi […]“ (Darrieussecq 2006a: 133, vgl. auch 135). 504 Darrieussecq 2011b: 124. 505 Ibid.: 191f. Man beachte auch die Rekurrenz des cambrer, Schlüsselwort in Solanges persönlicher Sexual- Phantasiewelt. „‚Une souffrance aiguë la déchira soudain; et elle se mit à gémir, tordue dans ses bras, pendant qu’il la possédait violemment‘“: Anlässlich der erwähnten Hochzeitsfeier verfolgt Solange die Zwangsvorstellung der bevorstehenden „nuit de noces“, wobei sie ihre literarisierte Vision der dramatischen Deflorations-Szene selbst relativiert: „mais il faut croire qu’ils ont déjà couché, malgré qu’elle est en blanc“ (ibid.: 230). 506 Ibid.: 103ff. 507 Darrieussecq 2016: 130. 508 In ihrer Präsentation des Romans expliziert Darrieussecq den mythisch-philosophischen Subtext von Solanges sexueller Odyssee: Die „quête d’expériences sexuelles“ ihrer Protagonistin stelle zugleich „presque une quête mystique“ dar, eine „recherche de l’‚autre‘ - les garçons, mais peut-être aussi l’autre jeune fille…“ (V 2011). Im Rahmen ihrer pubertären Existenzkrise macht Solange auch die Erfahrung identitäts-konstitutiver Alterität: „À rester dans sa chambre, elle se désintègre. Sans yeux qui la regardent, sans témoin qu’elle est là, ses atomes la quittent“ (2011b: 135); „[…] tu apprends comment sont les gens, tu te construis par rapport à eux, c’est-à-dire que tu apprends qui tu es“, erklärt ihr ambivalenter Mentor Bihotz (ibid.: 139). <?page no="285"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 285 Sprache und Realität, Wort und Konzept hin („Elle s’allonge sous les arbres, dans un vert d’école primaire, le vert de quand on pense au vert“ 509 ); sie erlebt Momente seltsamer Derealisierung („À vélo au bord de la rivière, le château est là, suspendu, une décalcomanie. Comme s’il n’était pas vrai“ 510 ), leidet unter dem irritierenden Gefühl, aus dem „décor“ der Umgebung ausgeschlossen zu sein („[…] c’est comme une tromperie de la lumière […] le monde est intouchable sous une mousse de couleurs“ 511 ), meditiert über die beunruhigende „élasticité du monde“ 512 und die verstörende Vision einer potentiellen „Terre sans les humains“ 513 - auch dies ein Leitmotiv Darrieussecqs, 514 die ihre Arbeit wesentlich als Hinterfragung der für ihren ersten Roman titelgebenden truismes versteht, als phänomenologischen Versuch, die Welt mit ihren trügerischen Evidenzen ‚in Klammern‘ zu setzen. 515 In diesem Sinne betrachtet Darrieussecqs Alter Ego Marie Rivière in Le Pays „la sidération comme un point d’origine de l’écriture“. 516 Unter eigenem Namen erläutert die Autorin an anderer Stelle ihre Poetik der Verfremdung und des Anti-Klischees: Je cherche à inventer de nouvelles formes, à écrire de nouvelles phrases, parce que c’est le seul moyen de rendre compte du monde moderne, dont le mouvement sinon nous dépasse sans cesse, demeurant illisible, incompréhensible. En ce sens toute écriture exploratrice, novatrice, est politique: même apparemment éloignée du „réel“, des „événements“, elle fournit le langage moderne, elle bâtit les outils verbaux et mentaux qui permettent de penser le monde. Elle corrode les clichés, elle fait rendre gorge au prêt-à-penser, au déjà dit. Toute écriture vraie se joue contre les clichés, les „truismes“, qui retiennent en arrière le mouvement de la pensée, qui ratent le flux de la vie, qui font verser le langage et l’homme dans l’aliénation et la mort. Cette écriture peut prendre de multiples formes, des plus simples au plus complexes; tant qu’elle est habitée par son auteur, elle est par essence poétique. […] Le non-dit est ce sur quoi avance l’écriture, ce qu’elle explore comme une terre vierge ou engloutie. 517 […] Je participe au mouvement permanent des défricheurs. Je veux ouvrir des yeux sous les yeux 509 Ibid.: 111. Vgl. auch das Echo dieser Formel in Notre vie dans les forêts (Darrieussecq 2017: 149). 510 Darrieussecq 2011b: 135. 511 Ibid.: 270. 512 Ibid.: 264. 513 Ibid.: 272. 514 „Qu’est-ce qui nous fait humain? C’est peut-être le sujet de mes livres en général“, reflektiert Darrieussecq im Gespräch mit Miller und Holmes 2001. Vgl. auch Il était une fois… La plage (2000b: 7, 14): „C’est difficile, de voir la plage, de voir le sable et la mer: de les dénuder de notre histoire, de notre humain va-et-vient, de nos rêves, chansons, poèmes et parasols. […] La plage résiste à ce que je sais du monde terrestre: le passé et le présent, la vie et la mort, le masculin et le féminin, puisque le sable pas plus que l’eau n’a d’âge ni de sexe, puisque tout se mélange […].“ 515 Vgl. Natansons phänomenologische Lektüren literarischer Texte, insbesondere von Franz Kafkas Verwandlung, Thomas Manns Zauberberg und Samuel Becketts Waiting for Godot, das die Kunst des „bracketing of the axioms of existence which everyday life otherwise takes for granted as ‚real,‘ ‚true,‘ and ‚reliable‘“ illustriert (1998: 72); zum Vorgang des „bracketing of the familiar world“ siehe auch Butlers Vorwort zu The Erotic Bird (1998: XIII). Chadderton assoziiert Darrieussecqs „self-confessed desire to encourage new perceptions in her reader“ mit dem surrealistischen Impetus „to revolutionize everyday life“ (2012: 111); ausführlich untersucht diesen Aspekt der Poetik Darrieussecqs Trout 2016. 516 Darrieussecq 2005: 271. 517 „[…] rendre dicible l’indicible“: So fasst Kaprièlian Darrieussecqs poetologisches Programm zusammen. Die Autorin selbst rekurriert auf die Formulierung „non-dit“, die sie mit dem in ihren Augen fragwürdigen Begriff „indicible“, „extrêmement chargé aujourd’hui“, kontrastiert: „Il y a une sorte de <?page no="286"?> 286 Marie Darrieussecqs Clèves des lecteurs, des oreilles sous leurs oreilles, une nouvelle peau sous leur peau. À quoi sert un livre qui ne propose pas de voir le monde comme s’il se dévoilait pour la première fois? 518 Die Relation zum Klischee bleibt freilich ambivalent, ist dieses doch nicht nur Hindernis, sondern auch Baustein der kreativen Arbeit, der lieu commun - Schlüsselbegriff der Poetik Darrieussecqs - nicht nur hoffnungslos abgegrastes diskursives Terrain, sondern auch immer wieder neu umzugrabender Schauplatz einer literarischen Schatz- und Sinnsuche („interroger le lieu commun, pour moi c’est la littérature“ 519 ), Marktplatz der intersubjektiven Aushandlung von ‚Realität‘. Schon auf den ersten Seiten des Bébé („mon seul livre autobiographique“ 520 ) bekennt Darrieussecq sich zu „une forme d’amitié pour les lieux communs, ces ‚pierres‘ que l’on soulève ‚pour voir, par-dessous‘, capables d’énoncer, ‚malgré l’usure‘, une part de réalité“. 521 Eben in Bezug auf diesen schon sujetbedingt prädisponierten Text reflektiert Darrieussecq den Versuch literarischen Widerstands gegen das Stereotyp und zugleich dessen essentielle kommunikative Funktion: „Je travaille sur les moments où le langage ne peut plus rendre compte du réel. Où le langage ‚cale‘ et se tait sous les clichés, les truismes. […] Ces lieux communs sont inévitables quand le groupe humain essaie de partager une expérience aussi stupéfiante et métaphysique que la naissance. Mais écrire ce n’est pas parler, et le travail de la littérature est justement de proposer des mots là où il n’y en a pas.“ 522 croyance en l’indicible, qui est liée à la mémoire et à l’histoire désastreuse du XX e siècle: je pense qu’un des tabous qui pèse sur la littérature contemporaine, c’est la croyance en l’indicible, en l’existence de l’indicible, presque comme une substance; en la croyance que la littérature transgresserait quelque chose, à vouloir dire l’indicible. Or, je pense que l’indicible n’existe pas. J’insiste là-dessus: il y a du non-dit, du non nommé, mais il peut être nommé, et l’indicible peut être dit. On peut toujours grignoter sur l’indicible: c’est le travail de la littérature […]. Mettre des mots où il n’y en a pas, où il n’y en [a] pas encore, où il n’y en a plus, aussi“ (Kaprièlian 2010: 5ff.). In Rapport de police problematisiert Darrieussecq das Konzept des ‚Unsagbaren‘ als „pendant idéologique“ der ‚Authentizität‘, „vieux mot d’ordre, qu’on aurait pu croire définitivement rendu caduc par les courants esthétiques modernes“ (2011a: 21). Vor allem in psychoanalytisch-philosophischem Kontext gebraucht sie alternativ auch die Wendung „sans-mot“, definiert als „ce qui se passe dans le cerveau des gens, là où il n’y a plus de mots“, als jenes schwer zugängliche mentale Terrain, auf das sie sich in Auseinandersetzung mit stets idiosynkratischen Denkmustern („en fait, personne ne pense comme personne - on en arrive très vite là, surtout quand on est psy“) schreibend vorarbeitet, auf den Spuren jener teilweise noch präverbalen „réseaux de pensées qui ont entre elles des échos, des espèces d’effet de télépathie“: „[…] je cours après quelque chose d’impossible dans cette zone où il n’y a pas de mots, mais c’est ce qui me fait avancer“ (Kaprièlian 2010: 5ff.). 518 Miller/ Holmes 2001. Vgl. auch Darrieussecqs Kommentar in Rees 2005: „When someone reads one of my books, I want them to feel as if they have looked through a new window it wouldn’t have occurred to them to open before, or even known was there. […] I need to explode clichés, to see how they work from the inside.“ 519 Darrieussecq 2007b. 520 Kaprièlian 2010: 16. 521 Thomine 2011, unter Verweis auf Le Bébé. Mit dieser Metapher illustriert Darrieussecq - hier in Bezug auf Il faut beaucoup aimer les hommes - ihre Technik der „suspension du ‚bien connu‘“, des „dézingage des stéréotypes“ im Gespräch mit Petit (2012: 2): „J’aime soulever les clichés comme des pierres pour voir ce qu’il y a dessous.“ 522 Flamerion 2007. „La maternité, c’est le lieu même du lieu commun“, erklärt Darrieussecq bereits im Interview mit Barraband/ Gassmann (2005: 13); in diesem Zusammenhang betont sie auch die ‚feministische‘ Dimension des Bébé: „C’est ma part féministe, mais il y a un travail à faire pour essayer de voir comment sont bâtis ces lieux communs, ces truismes, afin de les faire sauter“ (ibid.). <?page no="287"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 287 „Dire le non-dit: l’écriture est ce projet“: 523 Im Zeichen der Arbeit am und gegen das Klischee entwickelt sich auch Darrieussecqs Lafayette-Projekt. „Comme toujours, je crois, je travaille sur les clichés“, bemerkt die Autorin 524 und betont erneut die Ambivalenz jenes stereotypen Diskurses, der ihrer heranwachsenden Protagonistin doch als einzige Artikulationsmöglichkeit zur Verfügung steht: „[…] les jeunes gens ne disposent que des clichés pour accéder à l’âge adulte […]. Des phrases toutes faites et de pauvres formules pour aborder ce qui est le plus intime, le plus culturel, le plus codifié et le plus socialisé: la sexualité. […] De ces phrases auxquelles les ados s’accrochent pour tenter de s’expliquer le monde et ce qu’ils ressentent, avec une cruauté souvent involontaire.“ 525 Die Expedition ins ‚Ungesagte‘ führt in Clèves freilich auch kreuz und quer über einen kanonischen „lieu commun“ anderer Art; 526 paradoxe ‚Originalität‘ entsteht aus der Matrix eines konkreten klassischen Prätextes. Aus dem nur scheinbaren Widerspruch zwischen einer von vornherein zitationellen écriture und der phänomenologischen Ambition, ‚neu‘ zu sehen und sehen zu lassen, entfaltet sich jene idiosynkratische postmoderne Poetik, die nicht auf Innovation durch vermeintlich ‚originelle‘ Themen, sondern auf der kreativen Rekonfiguration eines präexistenten Text-Netzwerkes beruht, auf dem spielerischen Remix eines interdiskursiven Puzzles, in dem das schreibende Subjekt die Grenzen des Sagbaren - und der ausgesagten Welt - zu erweitern strebt: „Tant qu’il restait des mots, dans quelque langue que ce soit, on pourrait encore les assembler à neuf pour décrire le monde, et en repousser les limites“, heißt es in Le Pays. 527 „… une écriture queer“? Klassik, Gender-Sprachkritik, kulturelle Alterität Dieser Versuch, scheinbar Selbstverständliches ‚in Klammern‘ zu setzen, führt uns noch einmal zur gender-kritischen Dimension dieser Lafayette-réécriture zurück. Darrieussecq, nach eigenem Bekenntnis wie zitiert „féministe dans la vie“ (s. o.), in ihrem literarischen Schaffen jedoch keinerlei „visée militante“ verpflichtet, konstatiert gleichwohl in Sachen Gender eine gewisse Rückständigkeit der Sprache - und sieht sich als Schriftstellerin auch in dieser Hinsicht als ‚défricheuse‘ potentiellen Neulands: „Comme écrivain - ou comme écrivaine… - je suis face à une langue qui m’oblige souvent à parler de moi au masculin. Pas au neutre, au masculin. J’ai la sensation récurrente de devoir imposer à mon corps de femme une langue d’homme… ou de devoir imposer ce corps de femme à cette langue d’homme, le français.“ 528 Die Gender-Logik der ‚Männersprache‘ Französisch illustriert sie an einer Reihe betont grotesker Exempla à la „Les cinq cent millions de filles et le garçon sont contents“ oder 523 Thomine 2011. 524 Darrieussecq/ V 2011. 525 Bourmeau 2011. 526 Vor dem Hintergrund der ‚Affäre‘ wird die Princesse zum „lieu commun investi par l’ensemble des acteurs du discours public“ (Dubois 2013a); auch in diesem Sinne wird in Clèves ein kultureller ‚Gemeinplatz‘ umgegraben. Als „un véritable lieu commun de notre littérature, une sorte de dégré [sic] zéro de l’objet critique, une place vide, mais éternellement offerte à la signification“ reflektiert Barthes das Werk Racines in seiner „actualité […] très riche“ (1979: 6f.). 527 Darrieussecq 2005: 135. 528 Darrieussecq 2007b. <?page no="288"?> 288 Marie Darrieussecqs Clèves „les cinq cents millions de femmes et le chien sont contents“ („C’est un peu blessant pour une petite fille de grandir dans cette langue, et d’apprendre à l’école qu’il n’y a rien que de très normal dans cet accord-là“, fügt sie ironisch hinzu). 529 Schon in Bezug auf Le Pays charakterisiert Darrieussecq ihren Schreibprozess als Gratwanderung zwischen literatursprachlicher Norm und subtiler, gerade noch akzeptabler Gender-Transgression: 530 „Le prétexte narratif du Pays, c’est une grossesse, et une grossesse de fille: une femme enceinte d’un bébé fille. Il faudrait déjà dire: d’une bébé. Mais en français on ne peut pas, ce serait faire violence à la langue.“ 531 Ausgehend von Clèves (zu diesem Zeitpunkt noch unter dem Titel La Princesse de Clèves in Arbeit) reflektiert sie wiederum Möglichkeiten und Grenzen einer kreativen „écriture queer“, die auch den klassischen Prätext nicht aus dem Spiel lässt: J’aimerais écrire des pages de ce livre en accordant les phrases selon la loi du nombre et non du genre: si le féminin domine en nombre, la phrase s’accorderait au féminin. [Ç]a donnerait, je dis au hasard: „La princesse de Clèves, Mr de Nemours et Mme La Dauphine étaient belles.“ Déjà ça fait bizarre, n’est-ce pas? Un certain changement… Une certaine révolution dans la langue, un renversement de point de vue. On peut imaginer d’aller plus loin, avec une domination linguistique totale du féminin: „Le Vidame de Chartres était ravie“, „le Roi était charmante“… Mais notre esprit français est tellement habitué à penser le monde au masculin qu’on dirait qu’il s’agit d’une écriture queer… Il faudrait une langue possible au féminin. Ou sans genre, mais sans genre pour aucun des genres. 532 529 Ibid. 530 So erklärt Darrieussecq unter Verweis auf Françoise Lhéritier: „[…] en français on commence les phrases par le masculin: on dit ‚le garçon et la fille sont contents‘ plus facilement que ‚la fille et le garçon sont contents‘. C’est une des choses auxquelles je fais attention quand j’écris“ (ibid.). 531 Ibid. Besagte „violence“ riskiert Darrieussecq einige Jahre später zumindest in Partizipialform: „Le bébé est soit en pleurs, soit endormie“ (2016: 1382f.). Ähnliche Überlegungen stellt sie in Bezug auf quelqu’un bzw. die bei Wittig gebrauchte Form quelqu’une an: „Dire ‚quelqu’une‘, comme cela se fait parfois, c’est abaisser le niveau de langue. […] Au fond il faudrait oser écrire ça. C’est ce qui me venait sous la plume, spontanément. J’y ai renoncé pour ne pas violenter la langue, et détourner l’attention du lecteur. […] Voilà où nous en sommes en français. Même chose avec le ‚on‘ soit disant [sic] neutre, qui s’accorde aussi au masculin“ (Darrieussecq 2007b). 532 Ibid. Diese Vorschläge für eine radikale Gender-Reform der französischen Grammatik wurden in Clèves dann doch weitgehend den Anforderungen jener ‚patriarchalisch korrekten‘ Literatursprache geopfert. Wie Anne Garréta (vgl. vor allem den oulipotischen Roman Sphinx [1986]; dazu Stemberger 2008), der sie mit „Simulatrix“ ihre Hommage erweist (2006a: 251), treibt Darrieussecq aber in verschiedenen Texten ein raffiniertes, nicht zuletzt grammatikalisches Verwirrspiel rund um die Geschlechtsidentität ihrer narrativen Instanzen. So wird in „Célibataire“ (2004; in Darrieussecq 2006a: 55-64) bereits mit den ersten Sätzen („Vous me posez la question de la pilule. Mais j’ai toujours vécu avec la pilule“; ibid.: 57) eine falsche Spur gelegt: Nachdem das Bild einer Erzählerin sich im Geist der Leserin gefestigt hat, folgt - Schritt für Schritt - die Enthüllung, dass dieses Ich männlich, die ‚Pille für den Mann‘ in einer medizinisch avancierten Science-Fiction-light-Welt gesellschaftliche Normalität ist. Die erste eindeutige Identifikation erfolgt über ein vermeintlich belangloses, nur in der schriftlichen Form überhaupt wahrnehmbares grammatikalisches Detail: „Ensuite j’ai aimé une femme, et une femme m’a aimé“ (ibid.: 62). Ganz zum Schluss der Novelle kommentiert der Erzähler selbstironisch seinen Status als „‚Vieux garçon‘, c’est ainsi qu’on m’aurait appelé autrefois. Garçon, je le suis, certes, et vieux, je commence à l’être“ (ibid.: 64). Diese zunächst gender-ambivalente Hauptfigur lässt Darrieussecq zurück aus der Zukunft lesen: Als pflichtbewusster Pillen-Konsument reagiert der Protagonist irritiert auf die Entdeckung einer alten „bande dessinée violemment anti-pilule“ („une bande dessinée féministe, j’ai mis du temps à le comprendre“; ibid.: 59). Aber auch die Werke der Koryphäen postmoderner Theoriebildung verstauben in großelterlichen Bücherkisten auf dem Dachboden: „[…] il y avait aussi des bouquins. Deleuze, Foucault, Barthes… ils s’appelaient Gilles, Michel, Roland…“ (ibid.). <?page no="289"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 289 Der kritische Blick auf die ‚Männersprache‘ Französisch wird eben im Zusammenhang mit Clèves - dezent im Roman selbst und explizit im paratextuellen Diskurs - kulturell kontextualisiert. Auch Clèves erscheint geprägt von der für das Werk Darrieussecqs allgemein charakteristischen „surconscience linguistique“ 533 polyglotter Schreibender; ins Spiel kommt neben dem Französischen - für Darrieussecq biografische ‚Vatersprache‘ - die vergessene ‚Muttersprache‘ der Autorin. Diese, geboren im französischen Baskenland, erklärt, ihre erste Sprache Baskisch, „la langue des femmes de la famille, langue de sorcières, langue de secrets, langue opaque, rauque et bouillonnante“, im Alter von zwei Jahren zugunsten des Französischen, „langue lumineuse et limpide, langue de la raison et de l’amour œdipien“, ‚vergessen‘ zu haben. 534 Erst später entdeckt sie ihr Interesse am Baskischen wieder; in einem Interview berichtet sie von ihrem Wunsch, baskische Schriftsteller - die den Weg auf den französischen Literaturmarkt, wenn überhaupt, auf dem Umweg über das Spanische finden - direkt ins Französische zu übersetzen, auch wenn sie selbst sich nicht in der Lage sieht, auf Baskisch (literarisch) zu schreiben. 535 Mit dieser frühen linguistischen Spaltung sei jeden- Längst gehört jene „époque où les hommes écrivaient 95 % des livres“ (ibid.: 59f.) der Vergangenheit an, scheinen auch anatomische Geschlechtergrenzen in Auflösung begriffen: „Et c’est comme si les anciennes frontières entre les sexes, que les générations du passé s’évertuaient à maintenir, se diluaient enfin comme il est naturel“ (ibid.: 61). Anstelle einer reduktiven Gender-Dichotomie imaginiert der Erzähler eine Vision multipler, fluktuierender Geschlechtsidentitäten und fröhlich polymorpher Sexualität, „un monde où il n’y aurait pas eu deux sexes mais douze, mais vingt-cinq, au gré des rencontres, des flux et des reflux, des attirances…“ (ibid.: 63). Auch in „Simulatrix“ werden die Lesenden suggestiv zur Konstruktion einer heterosexuellen männlichen Erzählinstanz eingeladen („Elle me plaisait“, lautet der erste Satz; ibid.: 123) - und damit in die Falle der eigenen heteronormativen Denkmuster gelockt; viel später im Text wird diese narrative Instanz - wiederum elegant ‚beiläufig‘ über einen dezenten grammatikalischen accord - als weiblich identifiziert: „[…] je suis tombée amoureuse de Chloé“ (ibid.: 133). Das ‚Geschlecht der Kunst‘ wird auch über andere Medien problematisiert: In „Juergen, gendre idéal“ (2006; in Darrieussecq 2006a: 91-109) fiktionalisiert Darrieussecq Leben und Werk Juergen Tellers - unter parodistischem Gender-Switching. Der eponyme (Anti-)Held Juergen, „surtout passionné de foot“ (ibid.: 94), wird zum Ehemann einer berühmten Fotografin, aus Tellers Projekt Louis XV eine nicht minder provokante „Pompadour“ (ibid.: 98f.). Über das fiktive Œuvre der Erzählerin - von der Kritik als „photo trash“, „féminisme mal compris“ und „pornographie“ attackiert - wird in ironischer Transparenz auch die kontroverse Rezeptionsgeschichte der Schriftstellerin Darrieussecq gespiegelt: „Pourquoi parlait-on de trash et de pornographie? Avais-je le pouvoir d’abolir les habitudes, les clichés sur les femmes? “ (ibid.: 97ff.). 533 Vgl. Gauvin 1997: 5ff. 534 Miller/ Holmes 2001. „In a chronological sense, I was first of all Basque, then I became French and then I became European. I lost my Basque and now I’m learning again. Two years of it and I’m at the level of a three-year-old child. It’s horrible“, erklärt Darrieussecq (Rees 2005); vgl. zu ihrem baskischen Imaginarium auch Dufay 2005. 535 Von der Auseinandersetzung Darrieussecqs mit der zeitgenössischen baskischen Literatur zeugt ihr Porträt-Essay über den Dichter Joseba Sarrionandia alias ‚Sarri‘, „un mythe vivant“ (2012b: hier 66). Unter Verweis auf Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Konzept der ‚kleinen Literaturen‘ sowie auf Pascale Casanova reflektiert Darrieussecq die baskische als quasi paradigmatische „petite littérature face aux empires littéraires français et espagnol“ (ibid.) und die Paradoxa einer ‚baskischen Identität‘, die es - Variation des „strategic essentialism“ im Sinne Spivaks (1996) - erst zu affirmieren und zu legitimieren gilt, um darauf zu ihrer Dekonstruktion zu schreiten (Darrieussecq 2012b: 68). Mit Darrieussecq - samt ihrem nach eigener Aussage ‚infantilen‘ Baskisch - und Sarrionandia stehen einander zwei Basken gegenüber, die abseits ihrer marginalisierten ‚Muttersprache‘ erst ein gemeinsames linguistisches Terrain für ihre Kommunikation aushandeln müssen: „[…] nous sommes deux Basques, et tout de suite je te demande: dans quelle langue pouvons-nous nous parler? “ (ibid.: 70). <?page no="290"?> 290 Marie Darrieussecqs Clèves falls, so Darrieussecq, von vornherein ein geschärftes Bewusstsein für die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens, für die Nicht-Natürlichkeit von Sprache im Allgemeinen und Muttersprache im Besonderen einhergegangen: Ma mère parlait basque, mon père parle français et une partie de la famille parlait espagnol puisqu’on habitait à une frontière. Très tôt, j’ai eu conscience que la langue n’était pas un état de nature mais une convention. […] On peut appeler ça „water“, „agua“, „ur“ en basque ou „eau“. Très rapidement, j’ai su ça. […] Je m’exprimais donc exclusivement en français mais je crois que les écrivains ont un rapport particulier à la langue maternelle. Ils osent y toucher, ils osent considérer ça comme quelque chose qui est extérieur à eux, qu’ils peuvent casser, avec lequel ils peuvent jouer, avec le corps de la langue. Ce n’est pas une nature, c’est une convention, ç’aurait pu être un autre corps. 536 Dieses spezifische Sprachgefühl, dieses Gefühl auch für die Körperlichkeit von Sprache teilt die Autorin mit etlichen ihrer Figuren, denen gleichfalls polyglotte Biografien auf den Leib geschrieben werden, deren Bewusstsein oft genug ein auch interlinguistisches Chaos darstellt. 537 Immer wieder spielt Darrieussecq in ihren Texten mit fremdsprachlichen Elementen, Englisch oder Spanisch - beide Sprachen sind auch in Clèves präsent, in Gestalt des Austauschschülers Terry 538 und der Spanierin Concepción, die sich nicht nur ihren katholischen Tick des ständigen Sich-Bekreuzigens, sondern auch ihren Akzent bewahrt hat. 539 Protagonistin Solange selbst wird mit einer Familiengeschichte ausgestattet, die sich mit dem franko-baskischen Hintergrund Darrieussecqs berührt. Zieht sich Lafayettes Princesse nach Südwestfrankreich zurück, um dort fern vom Hof in der relativen Freiheit ihrer Witwenschaft den zeitlich indeterminierten Rest ihrer exemplarischen Existenz zu verbringen, so wird ein mehr oder minder transparent fiktionalisiertes Baskenland bei Darrieussecq zur innerfranzösischen kulturellen - und weiblich konnotierten - Gegenwelt. Clèves parodiert einen naiven französischen Sprachchauvinismus; 540 die Mutter der Heldin lernt erneut die ungenannte, doch deutlich genug mit dem Baskischen assoziierte „langue d’ici“ („Soi-disant que ses grands-parents ne parlaient que ça, même pas français ni rien“) 541 und bricht schließlich zu einem aus der Sicht der Tochter spöttisch als „stage dans une ferme linguistique, en immersion totale (sauf qu’à cause de la boutique, elle se cogne deux heures de route par jour)“ bezeichneten Selbst(er)findungsprogramm auf. 542 Auf sprachlichem Wege inszeniert sie ihre Rebellion gegen eine unglückliche Ehe (wie für die Princesse gilt auch für Clèves: „[…] there are no happy couples in the novel“ 543 ), gegen die ihr auferlegte „amputation de ses racines“; wort- 536 Terrasse 2007: 266. Kaum zufällig rekurriert Darrieussecq mit ihrer ‚liquiden‘ Poetik hier eben auf das baskische Beispiel- und Schlüsselwort ‚ur‘: „Ur est le premier mot. Ur en yuoangui veut dire eau“ (2005: 292). Ausgehend vom Vokabular des Wassers illustriert die Protagonistin des Pays auch das mehrsprachige Bewusstsein ihres kleinen Sohnes: „[…] il savait déjà que la langue est un hasard […] Que l’on dise bonjour ou un autre mot, maman ou un autre mot, eau ou un autre mot, son cerveau de trente mois trouvait tout naturel“ (ibid.: 144f.). 537 Vgl. etwa den inneren Diskurs der kosmopolitischen Schwestern in Bref séjour chez les vivants (2001). 538 Vgl. Darrieussecq 2011b: 94ff. 539 Vgl. ibid.: 118, 257ff. 540 Als der Fotograf bei jener lokalen Hochzeitsfeier sich ein „cheese“ erlaubt, wird er sogleich zur sprachpolitischen Ordnung gerufen: „Ouistiti! […] On est en France ici! “ (ibid.: 227). 541 Ibid.: 225. 542 Ibid.: 339f. 543 Albanese 1992: 91 (über La Princesse de Clèves). <?page no="291"?> „… une réécriture à l’envers“: Zur Poetik eines Princesse-‚Remakes‘ 291 reich empört sie sich vor Solange über „le mépris de son père pour tout ce qu’elle est, toutes ses valeurs - avec sa façon touristique d’être dans la vie, sa vision colonialiste, oui! Y compris de ce qu’est une femme“. 544 Über die minoritäre Sprache, nach wie vor Objekt einer gewissen Stigmatisierung, 545 wird hier ein persönlicher ‚anti-kolonialistischer‘ Emanzipationskampf auf kulturpolitischem Ersatzterrain ausgefochten. 546 Darrieussecq reflektiert die Dynamik der Kolonisierung durch die französische „langue d’autorité“, die - ein weiteres Mal ergänzen und verstärken einander unterschiedliche Formen der domination - vor der Kontrastfolie des Baskischen auch als ‚phallogozentrisches‘ Idiom problematisiert wird: Elle avait vécu trente ans dans la vision du monde française. Elle commençait ses phrases par le sujet, puis elle énonçait le verbe, puis tous les compléments. Le français la sommait de préciser le genre des choses. Le masculin y dominait le féminin; si toutes les femmes du monde venaient en compagnie d’un chien, ils étaient contraints, les femmes et le chien, de se soumettre au masculin: les femmes et le chien étaient bien obéissants. Le français est une langue d’autorité. Le sujet, masculin, ordonne la phrase et s’appuie sur son verbe. Ce n’est en rien la langue du doute: je pense donc je suis, je reste premier. Les précisions de temps et de mode, l’espace, la couleur, la façon, l’intention, basculent en fin de phrase comme les moraines d’un glacier. 547 Dem Französischen als männlichkeits- und ich-zentrierter „langue d’autorité“ 548 stellt sie das Baskische als ‚weibliche‘ bzw. überhaupt gender-transgressive Sprache entgegen: „Le genre n’existe pas en basque. On peut parler d’un être humain pendant une heure, sans savoir si il (si elle) est homme ou femme […]. Tout ce que le genre implique d’emblée en français, les conventions sur les hommes, les femmes, et leurs relations, toute cette codification a priori tombe. Alors qu’en français c’est dès les premiers mots, dès les premiers accords, que la musique sexuée se fait entendre.“ 549 Die koloniale ‚Vatersprache‘, patriarchalische „arme géostratégique“, 550 fungiert allerdings auch als moderne Bildungssprache, Sprache der Emanzipation aus familiären Verstrickungen und restriktiven Herkunftskontexten, ‚Traumsprache‘, an deren globaler Präsenz die Erzählerin des Pays durchaus lustvoll partizipiert: „La langue maternelle est la langue que parle la mère, c’est la langue du secret de la mère. Le français, au moins, séparait de la famille. Paris - petite elle ne rêvait que de Paris. Le 544 Darrieussecq 2011b: 340. 545 Ausgerechnet „Madame Kudeshayan“ - „une Indienne (ou une Pakistanaise, enfin de par là-bas)“ - spottet über die „indépendantistes“ mit ihrem „sabir […] genre Cléviou la relèviou, déjà que personne ne sait ce que ça veut dire“ (ibid.: 284ff.). 546 Der ratlose Vater verfällt, so scheint es Solange, zur Zeit der Scheidung seinerseits in eine seltsam archaische, exotische Sprache: „‚Bah bah bah bah‘, ajoute-t-il, étrangement, comme s’il se parlait à lui-même une langue rudimentaire, la langue d’un pays désolé, avec des yourtes et des nomades. Et il secoue la tête, façon yack ou chameau“ (ibid.: 244). 547 Darrieussecq 2005: 133f. 548 In Relation zum Baskischen stellt Darrieussecq in Le Pays auch das Auto- und Heterostereotyp des Französischen als besonders logischer ‚cartesianischer‘ Sprache in Frage: „Les Yuoanguis riaient quand on leur expliquait que le français est une langue cartésienne. […] Une langue dont la logique - celle, par exemple, de l’accord des participes passés - reste impossible à maîtriser pour 90 % des scripteurs“ (ibid.: 134). 549 Darrieussecq 2007b. 550 Darrieussecq 2005: 134. <?page no="292"?> 292 Marie Darrieussecqs Clèves français était limpide, moderne, puissant. Télévisé, enseigné, imprimé. Le français poussait même ses frontières au-delà de l’océan! “ 551 Über die Konstellation Französisch/ Baskisch (alias „yuoangui“ 552 ) - dominante (Schrift-)Sprache, global gesehen freilich ihrerseits in der Defensive gegenüber dem Vormarsch eines „espéranto de cinq cents mots anglo-saxons“, 553 vs. lange Zeit marginalisierte „ancienne langue orale“ - wird hier aber auch wiederum die Problematik literarischer ‚Originalität‘ aufgeworfen: Die erst neu zu erfindende „vieille langue“ eröffnet aus der Perspektive der französisch sozialisierten Protagonistin des Pays die verführerische Vision des Neubeginns in einer noch wundervoll überschaubaren literarischen Welt („C’était un moment de l’histoire du pays où un grand lecteur pouvait dire: ‚J’ai lu toute la littérature yuoanguie‘“), in der noch nicht alles gesagt und geschrieben ist, dafür allerdings die Bürde der diskursiven Konstruktionsarbeit einer ‚nationalen Identität‘ auf einer florierenden Übersetzungs- und Literaturindustrie lastet. „Dans ses moments de fatigue, elle enviait les écrivains d’ici. Ils héritaient de la littérature mondiale, et tout leur restait à inventer. Mais sans pays à défendre, sans langue à sauvegarder, seule devant sa page, elle était libre. La langue était une contrainte à dépasser, comme le sol, comme l’histoire.“ 554 *** Stiftet in Clèves - parodistische ‚réécriture à l’envers‘, romaneske Illustration einer phänomenologischen und zugleich zitationellen Poetik - La Princesse de Clèves also vor allem den narrativen Rahmen, die motivischen ‚bornes kilométriques‘ für eine Exploration der Sprache(n) der Liebe und der Sexualität, der Widersprüche und Ambivalenzen einer postmodernen Ordnung der Geschlechter - eine Exploration, die ihrerseits so manchen Aspekt des Prätexts in neuem Licht erscheinen lässt -, so kommt über dieses ‚baskische‘ Imaginarium auch eine Dimension kultureller Alterität ins Spiel. An diesem Punkt wird Darrieussecq zwei Jahre später mit Il faut beaucoup aimer les hommes anknüpfen: Ihre Protagonistin verlässt Clèves (und Clèves); in einem multiplen Hypertext wagt Solange sich an ein neues Passions- Experiment auf den Spuren Lafayettes - dies in erweitertem postkolonialem Kontext. 555 551 Ibid.: 147. 552 Mit „Yuoangui“ (alternativ „Youangui“) kreiert Darrieussecq ihrer eigenen Erklärung nach „un mot pour désigner tous les damnés de la terre, tous les immigrants, tous ceux qui n’ont pas de place dans cette société, etc.“ (Gaudet 2002: 112, zit. nach Chadderton 2012: 69). 553 Darrieussecq 2005: 147. 554 Ibid.: 134f. 555 Auch in seiner relativ ausführlich entfalteten Film-Motivik weist Clèves bereits auf den ‚Kino-Roman‘ Il faut beaucoup aimer les hommes voraus. <?page no="293"?> Die Melancholie der Autorin oder Die suite zur réécriture: Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes L’écriture c’est l’inconnu. […] C’est l’inconnu de soi, de sa tête, de son corps. 1 L’écriture pour moi est un humanisme: il s’agit de quitter sa peau et d’aller vers l’Autre. 2 Marie Darrieussecq selbst meditiert über jene spezifische „forme de mélancolie“, die für die Autorin mit dem Abschied von einem vollendeten Text und den jeweiligen Figuren - romanesken Lebensabschnittspartnerinnen und -partnern - verbunden ist. 3 Nicht immer ist dieser Abschied endgültig: In Il faut beaucoup aimer les hommes, als „suite“ zu Clèves präsentiert, 4 lässt Darrieussecq ihre Protagonistin Solange, die pubertierende Princesse aus dem südfranzösischen Provinzstädtchen Clèves, wiederauferstehen. Im Jahr 2011 ironisiert Darrieussecq im Zusammenhang mit der - teils höchst kritischen - Rezeption von Clèves noch über ihr Duras’sches Schicksal als Schriftstellerin „hors de prix“ und allgemein über das System der literarischen concours („on croirait parler de chevaux ou de yaourts“); 5 2013 bringt Il faut beaucoup aimer les hommes ihr schließlich den Prix Médicis (zugesprochen von einer Jury unter dem Vorsitz Anne Garrétas, die sich angesichts der „plus belle liste depuis 50 ans, avec des choix qui ne sont pas les plus attendus de la saison“ geradezu enthusiastisch zeigt 6 ) und den Prix des Prix ein. Dieser Folgeroman zu Clèves steht damit auch für einen Paradigmenwechsel in der Rezeptionsgeschichte einer lange Zeit überaus kontrovers diskutierten Autorin (etikettiert unter anderem als „écrivain imprévisible“, 7 „frondeuse, provocante, excessive“ 8 ), die sich nunmehr - ähnlich wie Michel Houellebecq oder Virginie Despentes, deren Karriere ungefähr zeitgleich mit jener Darrieussecqs begonnen hat - auf dem besten Weg zur Kanonisierung bzw. in den Olymp der offiziell sanktionierten „grands romanciers“ der französischen Literatur befindet. 9 Im Gegensatz zu früheren Werken 1 Duras 1999: 52. 2 Flamerion 2007. 3 „‚Je ne choisis pas mes sujets…‘“, art. cit. 4 „Oui et non“, antwortet Darrieussecq auf die Frage, ob es sich bei Il faut beaucoup aimer les hommes um eine „suite“ zum vorhergehenden Roman handle; wie in Clèves gilt jedenfalls: „Solange, ce personnage de femme, est un peu mon alter ego“ (Villovitch 2013). 5 Kaprièlian 2011. 6 „Marie Darrieussecq reçoit le prix Médicis pour ‚Il faut beaucoup aimer les hommes‘“ (Le Monde/ AFP, 12.11.2013). 7 Chevillard 2013. 8 Pascaud 2013. 9 Symptomatisch die Begründung der Prix des Prix-Jury für die Wahl Darrieussecqs: „Le jury est heureux de couronner le plus beau livre d’une romancière qui construit peu à peu une œuvre véritable. Racontant ici une histoire de passion amoureuse, Marie Darrieussecq réussit brillamment à renouveler un thème atemporel avec une écriture et un style parfaitement ma[î]trisés“ (zit. nach URL: http: / / www.polediteur.com/ editions-pol-actualites.html). Bei ebendiesem Anlass würdigt Kulturministerin Aurélie Filippetti die Preisträgerin und ihre „peinture de cette passion au féminin, mise à nu avec l’exactitude visionnaire propre aux grands romanciers […], une tragédie antique placée sur la scène hollywoodienne“; zit. nach „Marie Darrieussecq, prix Médicis pour ‚Il faut beaucoup aimer les hommes‘“ (Le Nouvel Observateur/ AFP, 12.11.2013). <?page no="294"?> 294 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes wurde Il faut beaucoup aimer les hommes - „son plus beau roman, le plus brûlant, le plus poignant“, schwärmt etwa Fabienne Pascaud 10 - von der Kritik quasi einhellig positiv, ja euphorisch aufgenommen. Darrieussecq selbst räumt ebendiesem Text - „un livre qui me tient particulièrement à cœur. Peut-être mon préféré, un aboutissement de mon travail, bien que j’espère en écrire beaucoup d’autres“ 11 - einen besonderen Platz in ihrem Œuvre ein. Auf den Spuren von Clèves spinnt auch Il faut beaucoup aimer les hommes mit seinen „accents raciniens, proustiens, durassiens à la fois“ 12 - und nicht zuletzt lafayettiens, wie hinzugefügt sei - eine Vielzahl inter- und intratextueller Fäden fort. Bei dem - wie bereits im Fall von Clèves - auf Umwegen zustande gekommenen Titel 13 handelt es sich um ein (mehrdeutiges) Zitat aus Marguerite Duras’ La Vie matérielle; 14 eben das Werk Duras’ - im paratextuellen Diskurs Darrieussecqs immer wieder evozierte Referenzfigur, paradoxe, ihrerseits ‚marginale‘ literarische Schutzpatronin - wird auch weiterhin mannigfaltig in den Text verflochten, 15 ja ist in seinem syntaktischen Duktus (speziell in der Verwendung des style indirect libre) selbst präsent. 16 Schon mit den beiden Motti, die Darrieussecq ihrem Roman voranstellt, wird ein intertextueller bzw. intermedialer Dialog auch zwischen Höhenkammliteratur und Populärkultur eröffnet - und zugleich bereits die Ergänzung der in Clèves dominanten Gender-Problematik um eine postkoloniale Dimension skizziert. Zu Marguerite Duras - hier wird das Titelzitat expliziert: „Il faut beaucoup aimer les hommes. Beaucoup, beaucoup. Beaucoup les aimer pour les aimer. Sans cela, ce n’est pas possible, on ne peut pas les supporter“ 17 - gesellt sich Josephine Baker, aus deren Chanson J’ai deux amours Darrieussecq die erste Strophe zitiert: „On dit qu’au-delà des mers / Là-bas, sous le ciel clair / Il existe une cité / Au séjour enchanté / Et sous les grands arbres noirs / Chaque soir / Vers elle s’en va tout mon espoir.“ 18 10 Pascaud 2013. 11 Zit. nach „Marie Darrieussecq, prix Médicis…“, art. cit. 12 Pascaud 2013. 13 Wie Darrieussecq erklärt, verdankt der Roman, entstanden vorerst unter dem Arbeitstitel L’Intensité, seinen definitiven Titel einer editorialen Intervention: „[…] quand mon éditeur, Paul Otchakovsky- Laurens, a lu ‚Il faut beaucoup aimer les hommes‘, inscrit en tête d’un chapitre, il m’a dit que, pour lui, c’était le titre du livre“ (Villovitch 2013). „C’est beaucoup mieux“, bestätigt sie an anderer Stelle (Darrieussecq/ V 2013c). Auch die ‚intensité‘ bleibt freilich als Schlüsselwort einer postmodernen Passionsgeschichte im Roman präsent: „Qu’avait-elle fait, toutes ces années? Avant cette intensité? “, fragt sich Protagonistin Solange (2013b: 79); ihren Geliebten zeichnet in ihren Augen eben seine „intensité tranquille“ (ibid.: 20) aus. Zum bei Darrieussecq poetologisch stark aufgeladenen Begriff der ‚intensité‘, asymptotisches Ideal literarischen Erlebens auf auktorialer wie lektoraler Ebene, vgl. auch ihre Reflexionen über „La singularité et l’intensité“ („Rendez-vous littéraire à Berlin“, art. cit.). 14 Das Duras-Zitat im Titel des Gesamtromans findet sich - strukturelle Schachtelung - als Titel eines Kapitels wieder (2013b: 107ff.); Darrieussecq selbst (V 2013c) weist auf die intendierte Spannung zwischen verknapptem Titelzitat und der kompletten korrespondierenden Passage bei Duras hin („ça va presque à l’inverse que le titre lui-même, quoi“). 15 Vgl. z. B. auch die Schwärmereien der verliebten Solange über „cet homme impossible, Kouhouesso mon amour“ (Darrieussecq 2013b: 143). 16 Vgl. Armel 2013. 17 Vgl. Duras 2012: 52. 18 Auch dieser musikalische Intertext (vgl. URL: http: / / muzikum.eu/ de/ 123-6864-76533/ jos%C3%A9 phine-baker/ jai-deux-amours-songtext.html) wird weiter durch den Roman ausgesponnen: „J’ai deux amours“ (Darrieussecq 2013b: 175) lautet eine Kapitelüberschrift. Hier ist es allerdings der männliche schwarze Hollywood-Schauspieler und -Regisseur, der die Chanson in seinem eigenen biografischen <?page no="295"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 295 „De Clèves au Congo“: Il faut beaucoup les hommes als Crossover zwischen Conrad und Lafayette Dem durch Titel und sonstige paratextuelle Indikatoren vorgegebenen Paradigma entsprechend wurde Clèves in Literaturkritik und -wissenschaft als Princesse de Clèves-Hypertext rezipiert; in Anbetracht dessen, dass Il faut beaucoup les hommes die Geschichte der nun erwachsen gewordenen, aber eindeutig mit jener jugendlichen ‚princesse de Clèves‘ aus dem vorhergehenden Roman identifizierten Protagonistin Solange weiterspinnt, 19 mag es erstaunlich anmuten, dass der Lafayette-Bezug in der Rezeption dieses Folgeromans kaum mehr eine Rolle spielt - hier werden völlig andere Aspekte fokussiert. „De Clèves au Congo“: 20 In der Tat nimmt Darrieussecq gegenüber ersterem Text eine doppelte signifikante Erweiterung vor: Il faut beaucoup les hommes ist zugleich ein metamedialer (wobei Darrieussecq auch an die bereits in Clèves präsente medientechnische und insbesondere filmische Motivik anknüpft) und ein ‚postkolonialer‘ Roman; beide Komponenten erscheinen dabei aufs Engste verbunden, kreist Il faut beaucoup les hommes - „histoire dans l’histoire“ 21 - doch wesentlich um das Projekt der Verfilmung eines anderen Textes, Joseph Conrads Heart of Darkness, 22 mittlerweile quasi ‚klassische‘ Referenz postkolonialer Kontext re-interpretiert (aus „Ma savane est belle“ wird derart „Hollywood est belle“ etc.) und dazu, „une imaginaire ceinture de bananes autour des reins“, eine gender-invertierte parodistische Performance à la Baker liefert (ibid.: 175f.). Weniger offensichtlich geistern auch andere Fragmente aus diesem Lied durch den Text; so in jener modifizierten ‚Bekenntnisszene‘, da die Protagonistin sich endlich dazu durchringt, ihrem Geliebten von ihrem beinahe erwachsenen Sohn zu erzählen: „Elle se tourna vers les grands arbres noirs et dit qu’elle avait un fils“ (ibid.: 181). 19 Über die Namensgleichheit hinaus (die erste explizite Nennung erfolgt noch im „Générique“ dieses Kino-Romans; ibid.: 13) wird diese neue Solange mit Hilfe einer Reihe ‚biografischer‘ Indizien (Geburtsort, Alter, familiärer Background etc.) mit ihrer Vorgängerin aus Clèves identifiziert. Die Protagonistin ist im „tout premier hiver des années 1970“ geboren (ibid.: 128f.) - und damit bald nach Darrieussecq (geb. 3. Jänner 1969) selbst -, dies „[à] Clèves, très loin d’ici“ (ibid.: 129) - im Roman rekurrente und überdeterminierte Formulierung, in der nicht nur die geografische Distanz zwischen Südwestfrankreich und Los Angeles mitklingt. Neben Solanges Eltern begegnet die Leserin auch ihrer Freundin aus Jugendtagen wieder, der intellektuellen Rose, nunmehr Psychologin in Paris und via Skype eifrig konsultierter Coach in Solanges kompliziertem Liebesleben. Aber auch auf stilistischer und narrativer Ebene werden zahlreiche intratextuelle Verknüpfungen hergestellt. Der Horizont der Heldin hat sich mittlerweile erweitert, doch mancherlei diskursive Versatzstücke, die durch das Bewusstsein der Protagonistin von Clèves geistern, werden erneut aufgegriffen; so ist das Echo jener dem Vater abgelauschten Formel von „la fin programmée des animaux“, mit der die jugendliche Solange ihre gebildete Freundin zu beeindrucken versucht (2011b: 300), in Il faut beaucoup aimer les hommes im Rahmen eines pseudo-engagierten mondänen Small Talk zu vernehmen (2013b: 122). Punktuell manifestiert sich eine Reminiszenz an jene Tendenz zum inflationären Gebrauch diverser Adverbien auf -ment, die Solange in Clèves als ironische Sprachkritikerin ihrer selbst bekämpft: „L’avait-il trouvée terriblement plus jeune? “ (ibid.: 101). 20 Armel 2013. 21 Darrieussecq/ V 2013c. 22 In Il faut beaucoup aimer les hommes selbst wie im paratextuellen Diskurs Darrieussecqs ist konsequent vom ‚Roman‘ Cœur des ténèbres die Rede; ohne dass diese Frage hier weiter vertieft werden könnte, sei doch auf den durchaus nicht unumstrittenen Genre-Status des Textes verwiesen, zwischen „story“ - so Conrad in seiner „Author’s Note“ (1917) zu Youth. A Narrative; and Two Other Stories (1902, zit. nach Conrad 2000: 9f.) -, „novella“ (Goonetilleke 2007: XIIIf. et passim; Hampson 2000: XXIX), „tale“ (ibid.: XXIV), „novel“ (Nadelhaft 2007: 98) bzw. „short novel“ (Phillips 2003). „Not exactly <?page no="296"?> 296 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes Theoriebildung und im Rahmen des hier inszenierten intertextuellen Crossovers strategisch gesetzter Kontrapunkt zur Princesse de Clèves als Inbegriff kanonischer ‚weißer‘ frankofranzösischer Hochkultur. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Princesse (nun schon verdoppelt und gefiltert via Clèves) auch für Il faut beaucoup aimer les hommes einen strukturell wie motivisch zentralen Hypotext darstellt und insofern bei der Reduktion des Romans auf den postkolonialen Aspekt ein essentielles Bedeutungsmoment verloren geht: Der ‚Clou‘ des Textes besteht eben darin, dass Darrieussecq ihre ‚princesse de Clèves‘ (die, schön, blond und hellhäutig, ihrer intertextuellen Vorfahrin auch physisch ähnelt) in eine turbulente Liebesbeziehung mit einem schwarzen Künstler stürzt, schließlich zur Entdeckung eines mythischen, multiplen ‚Afrika‘ („plusieurs Afriques“ 23 ) aufbrechen und derart ihre eigene Literatur-/ Kulturgeschichte kritisch gegen den Strich lesen lässt. Als Fortschreibung einer deklarierten réécriture - und damit von vornherein palimpsestartige Kreation - gilt es Il faut beaucoup aimer les hommes in einem komplexen interwie intratextuellen Netzwerk zu situieren; auch dieser Roman - (Anti-)Liebesroman, „roman d’aventures“, postkolonialer Bildungsresp. Initiationsroman 24 - mit seinem für das literarische Universum Darrieussecqs relativ untypischen Setting greift auf den zweiten Blick etliche ihrer Leitthemen auf. 25 Die schon in Bezug auf Clèves reflektierte Frage, ob bzw. wie weit der - Darrieussecq zufolge auch ohne die Princesse im Hinterkopf zu rezipierende - Roman ohne Berücksichtigung seiner hypertextuellen Zusatzdimension ‚funktioniert‘, stellt sich bei Il faut beaucoup aimer les hommes gleich mehrfach. Die Autorin selbst identifiziert zwar klar die adoleszente Protagonistin von einst und „la Solange d’aujourd’hui“, 26 nunmehr Schauspielerin in Hollywood, 27 die im Rahmen einer symbolischen Reise nach ‚Clèves‘ zurückkehrt, 28 betont aber dennoch: „On peut évidemment lire ce roman sans avoir lu ‚Clèves‘, il est tout à fait autonome.“ 29 Diese ‚autonome‘ Lektüre des Textes ist tatsächlich ohne Weiteres möglich; a long story, and certainly not a novella“ sei Heart of Darkness, so McCrum (2014) aus Anlass der Aufnahme in die Modern Library-Liste der „100 best English-language novels of the 20th century“. 23 Darrieussecq/ V 2013c. 24 Ibid. 25 „Où sont passés ses thèmes de prédilection: la monstruosité, l’enfantement, le deuil, le Pays basque? Au fil de la conversation, on comprendra qu’ils sont tous là, sous des formes renouvelées“, konstatiert auch Villovitch (2013). 26 Ibid. 27 Nicht zufällig schlägt Solange, in all ihrer Naivität bereits in Clèves Anker- und Reflektorfigur manch poetologischer Meditation, ausgerechnet diese Laufbahn ein. Auch wenn sie nicht in die Fußstapfen diverser Schriftsteller-Protagonistinnen im Werk Darrieussecqs tritt, wählt sie doch einen Beruf, den die Autorin explizit mit ihrem eigenen Metier bzw. der Literatur als Rollenspiel assoziiert: „J’écris pour vivre les vies que je ne peux pas vivre. Et ça, c’est quelque chose de très proche du métier de comédien. Les écrivains d’imagination sont proches de certains acteurs: on se met dans la peau des autres“, erklärt Darrieussecq (Kaprièlian 2013); in sehr ähnlichen Begriffen auch im Gespräch mit Flamerion 2007 („Dans chacun de mes livres, en général à la première personne, je me mets dans la peau du personnage. C’est un état proche de celui du comédien: il faut trouver la voix juste“) und mit Villovitch (2013): „J’écris des romans pour vivre d’autres vies. C’est proche, en ce sens, du métier de comédienne.“ 28 „C’est Solange, vingt ans après, quoi. C’est la Solange de Clèves, vingt ans après“, bestätigt Darrieussecq (V 2013c) die ‚transromaneske‘ Identität ihrer Heldin samt familiärem Anhang: „c’est le père de Clèves“. 29 Villovitch 2013. <?page no="297"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 297 und doch entfaltet auch Il faut beaucoup aimer les hommes erst vor dem Hintergrund seiner intra- und dadurch gefilterten hypertextuellen Vorgeschichte sein volles interpretatorisches Potential. Umgekehrt rekonfiguriert die suite auch den vorhergegangenen Roman: Bei der (Re-)Lektüre durch das Prisma von Il faut beaucoup aimer les hommes treten auch an Clèves neue Facetten hervor. Das Wechselspiel der beiden Werke - über ein editoriales Intervall von zwei Jahren und eine punktuell aufgefüllte diegetische Ellipse von gut zwei Jahrzehnten hinweg 30 - wirft so manche intratextualitäts-, aber auch transfiktionalitätstheoretisch interessante Frage auf: Konstituieren Clèves und Il faut beaucoup aimer les hommes ein gemeinsames (trans-)fiktionales Universum, transformiert der zweite Roman nachträglich die Diegese eines bereits publizierten, rezipierten und ausführlich kritisch kommentierten Textes? Sind im ersten Roman lediglich als Potentialität, als dezente Suggestion präsente, später in Il faut beaucoup aimer les hommes explizit bestätigte Elemente schon in der Welt von Clèves diegetische ‚Realität‘ - an einem plakativen Beispiel überspitzt formuliert, ist Solange am Schluss von Clèves im Jahr 2011 ‚wirklich‘ schwanger? 31 (Nur am Rande sei hinzugefügt, dass ebendiese 30 Il faut beaucoup aimer les hommes setzt, wie aus dem Text selbst zu erschließen, im Jahr 2007 ein (die Protagonistin lebt seit vier Jahren in Los Angeles, wo sie sich 2003 niedergelassen hat; 2013b: 21). Im Paratext präzisiert Darrieussecq, die Handlung ihres Romans „en 2007, pour diverses raisons“ und damit „quasi aujourd’hui“ angesiedelt zu haben (Siméone 2013). 31 Eine mögliche Schwangerschaft Solanges wird - nachdem letztere in ihren Spekulationen über eine Zukunft mit Bihotz auch diese Eventualität erwogen und das Thema Verhütung mit einer Spur schlechten Gewissens beiseitegeschoben hat („Ils habiteraient ensemble, avec ses parents à côté. Ils feraient un bébé garçon qu’elle leur donnerait. (Il faut qu’elle pense à ça, à la pilule etc.)“; 2011b: 312f.) - bereits am Ende von Clèves in den Raum gestellt: „La mère de Rose lui a fait tout un sermon sur la contraception - ‚aucun garçon ne s’en souciera pour toi‘ - mais Monsieur Bihotz si, quand même, il est tellement responsable, il a bien dû y penser d’une manière ou d’une autre. […] De toute façon, jeune comme elle est, ce serait bien le diable - enfin tout ça ne l’intéresse pas tellement. […] Elle a tellement d’autres choses à penser“ (ibid.: 344f.). Die Heldin von Il faut beaucoup aimer les hommes hat in Clèves nicht nur ihre Eltern, sondern auch einen mittlerweile fast erwachsenen Sohn zurückgelassen, mit Befremden bis Antipathie betrachtetes Relikt ihrer adoleszenten Aberrationen. „Son fils était de plus en plus gras, de plus en plus vilain il faut bien l’avouer, il ressemblait de façon effrayante à leur ancien voisin“, konstatiert die schöne Gelegenheitsbesucherin aus Hollywood (2013b: 187). In Anknüpfung an frühere Romane Darrieussecqs - und La Princesse de Clèves - wird auch hier mit dem Motiv problematischer (abwesender, uneindeutiger) Vaterschaft gespielt. Solanges lapidare Bemerkungen über den angesichts ihrer Schwangerschaft verschwundenen „père présumé“ des ungeliebten Sohnes (ibid.: 181) situieren dieses Produkt eines amourösen Triangels zwischen zwei potentiellen Vätern; erst mit der Zeit kristallisiert sich die - freilich aus Solanges subjektiver Perspektive begutachtete - physiologische Evidenz heraus. Auch wenn diese neue Solange ihre Clèver Vergangenheit - Bihotz, Arnaud und namenlos bleibender „fils“ inbegriffen - so weit als möglich verdrängt, spukt das Gespenst dieses Sohnes doch durch ihre glamouröse Gegenwart; so etwa, als sie sich am Strand von Malibu inmitten eines Fanclubs von unverhohlen sexuell interessierten „grands ados“ wiederfindet: „Mais elle n’avait plus peur. D’ailleurs ils auraient pu être son fils“ (ibid.: 139). Erst nach langem Zögern und etlichen Ausweichmanövern („Il faudrait quand même qu’elle lui dise, pour son fils. Mais elle avait encore deux jours“; ibid.: 151) legt sie dem Geliebten gegenüber diesen ihren höchstpersönlichen aveu ab (ibid.: 181). In diesem spezifischen Handlungsstrang stellt auch Il faut beaucoup aimer les hommes eine weitere Variation über die bei Darrieussecq mit ironischer Sympathie inszenierte Schlüsselfigur der ‚mauvaise mère‘ und eine Demontage des Mythos ‚natürlicher‘ Mutterliebe dar (vgl. Badinter 1980). Schildert Darrieussecq in Clèves gleich mehrere einigermaßen katastrophale matrimoniale Konstellationen - darunter die Ehe von Solanges Eltern, die sich der Scheidung entgegenquält -, so schreibt sie mit dem Folgeroman auch eine heikle Familiengeschichte fort, die ihrerseits kaum mehr auf Fortsetzung hoffen kann. Il faut beaucoup aimer les hommes reflektiert damit nicht zuletzt eine unter- <?page no="298"?> 298 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes im Nachhinein narrativ sanktionierte Schwangerschaft auch in poetologischer Hinsicht - dies erst recht im Werk Marie Darrieussecqs, voll von problematischen Filiations- Geschichten - vielleicht nicht ganz ‚unschuldig‘ ist, trägt doch das offene Ende von Clèves derart seine noch hypothetische Fortsetzung in sich.) Ein weiteres Mal wird die Bedeutung eines literarischen Textes hier zwischen intentio auctoris, lectoris und operis, auch zwischen objektiver Publikationshistorie und individueller Lektüre-Chronologie ausgehandelt (nichts hindert die eine oder andere Leserin daran, die beiden Romane um Darrieussecqs postmodernisierte ‚princesse de Clèves‘ in umgekehrter Reihenfolge zu entdecken - in Anbetracht der viel positiveren kritischen Rezeption des mehrfach preisgekrönten und medial entsprechend präsenten Folgewerks ist dieses Szenario nicht unwahrscheinlich). Auch wenn über diese Fragen gewiss nicht auktoriale Intention bzw. nachträgliche Selbstreflexion allein entscheiden, ist es bemerkenswert, dass für Darrieussecq ihrer eigenen Aussage nach bereits zum Zeitpunkt der Redaktion von Clèves angesichts der Dichte und Fülle des hier verarbeiteten Materials, „tellement proche de ma propre enfance, de mon propre village, de mes propres origines“, „tellement riche“, die Option einer wie immer gearteten suite im Raum steht: „Je savais, oui, qu’il y aurait d’autres épisodes“, erklärt die Autorin, die im selben Interview auch noch weitere Fortsetzungs- Varianten 32 und damit die eventuelle Erweiterung des romanesken „diptyque“ zur „trilogie“ skizziert - wobei sie erneut auch die Eigendynamik dieser Textwelt, die Rolle des Unbewussten im Schaffensprozess akzentuiert: „Tout ça, je pensais pas au début… alors comme une trilogie, mais enfin, je sentais bien que c’était potentiellement présent, tout ça, c’est inconsciemment aussi.“ 33 brochene Filiation - mit parodistischer metaliterarischer und auch ‚kulturphilosophischer‘ Dimension: Aus der Nachfahrin der Princesse ist ein semi-amerikanisierter Hollywood-Star geworden; nur mehr selten und mit äußerst ambivalenten Gefühlen kehrt die Protagonistin an den Ort - in den Text? - ihrer Herkunft zurück. 32 „[…] en particulier autour d’un personnage que - que j’ai pas encore développé, qui est la femme aux bottes rouges“ (Darrieussecq/ V 2013b): Man erinnert sich an diese Nebenfigur aus Clèves und ihre das Cover der TB-Edition schmückenden, auch poetologisch symbolträchtigen Fetisch-Stiefel, in denen Figur, Autorin wie Leserin ihre transfiktionale Wanderung von Roman zu Roman unter Umständen wieder aufnehmen könnten. Wie Darrieussecq berichtet, geht die Gestalt der „femme aux bottes rouges, autrement dit la ‚reine de Clèves‘“ - potentielle Protagonistin einer anderen konfliktuellen interkulturellen Liebesgeschichte - der Redaktion von Clèves sogar voraus: „[…] dans une version précédente, elle tombait amoureuse du seul étranger du village, Monsieur Kudeshayan. […] L’histoire de la femme aux bottes rouges et de l’étranger, je ne dis pas que je ne l’écrirai pas un jour […]“ (Petit 2012: 7f.). 33 Darrieussecq/ V 2013b. Das romaneske Diptychon Clèves und Il faut beaucoup aimer les hommes verbindet auch eine gemeinsame narrative Struktur: Bereits in Bezug auf Clèves erläutert Darrieussecq ausführlich ihre Motive für den Wechsel von einer ursprünglich erprobten homozu einer heterodiegetischen Narration; diese Erzählstrategie behält sie im Folgeroman bei. Die Psyche der intern fokalisierten Protagonistin fungiert auch hier als Resonanzraum, in dem sie allerlei interdiskursive Versatzstücke und (typografisch markierte) truismes widerhallen lässt. Wie in Clèves wandern Wörter, Sätze, Textfragmente - oft erst nachträglich erkennbar - über die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt und illustrieren so immer wieder aufs Neue die Porosität eines essentiell sprachlich konstituierten Subjekts (vgl. etwa 2013b: 129f.); wie Clèves folgt auch Il faut beaucoup aimer les hommes mit seinen zahlreichen kurzen, oft fragmentarischen Sätzen, seinen assoziativen Sprüngen über weite Strecken dem Stil eines Quasi-Bewusstseins-Protokolls (vgl. etwa ibid.: 26f.). <?page no="299"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 299 „Universal Pictures présente“: Lafayette in Hollywood Im Unterschied zum Lafayette’schen Prätext bleibt die parodistische Passionsgeschichte in Clèves in der Schwebe: Alle Protagonisten überleben - (Anti-)Prince Bihotz nach seinem missglückten Suizidversuch freilich in lädiertem Zustand, während Solange euphorisch dem Beginn ihres grandiosen neuen Lebens an der Seite des angebeteten Arnaud entgegensieht. Jahre später wartet ihre intratextuelle Reinkarnation noch immer bzw. schon wieder - auf einen anderen geliebten Mann. Aus dem nicht eben hässlichen, aber doch von allerlei sexuellen wie sozialen Selbstzweifeln geplagten Entlein von einst ist nun ein Schwan geworden, als Hollywood-Aktrice - wenngleich nicht allererster Star-Kategorie - eine wahre ‚Prinzessin‘ unserer Tage; mit ambivalenten Gefühlen erinnert sich diese erwachsene Solange an jene Zeit, „quand elle se trouvait trop grosse et mal sapée, alors que - elle le savait maintenant - elle était la plus jolie, la vraie princesse“. 34 Vom französischen Königshof des 16. Jahrhunderts führt hier - durchaus stringente Re- Interpretation - ein hypertextueller Parcours nach Hollywood, quasi-royales ‚Cinelandia‘, 35 mythen- und modenbildendes Machtzentrum 36 einer anderen Epoche, nach wie vor „Traumfabrik“ 37 und „Phantasiemaschine“, 38 glamouröse (Alp-)Traumwelt, der wie der royalen cour „[t]out […] prétexte à divertissements“ ist, 39 Schauplatz professioneller wie galanter Intrigen, 40 aber auch „royaume de l’image et de l’apparence“, 41 medientechnisch aktualisiertes Gespensterreich, 42 in dem die Maskerade über die Luxusadjustierung hinaus längst die Körper selbst erfasst hat, mondänes Panoptikum, in dem - ebenso wie am Hof Lafayettes - die Akteure, hier sämtlich Profi-Schauspieler auch abseits des Sets, sich selbst in jedem Augenblick gekonnt inszenieren und zugleich mit ‚vampirischer‘ Unerbittlichkeit auf eventuelle Fehltritte in der Performance der anderen lauern. 43 Die Maxime, die Mme de Chartres ihrer bei Hof debütierenden Tochter mit auf den Weg gibt („ce qui paraît n’est presque jamais la vérité“ 44 ), gilt 34 Ibid.: 138. 35 Vgl. Ramón Gómez de la Sernas (1997) gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1923. 36 Vgl. André Malraux’ Esquisse d’une psychologie du cinéma (1939), zit. bei Albersmeier 2009a: 10. 37 Vgl. Ėrenburg 1931; dazu Albersmeier 2009a: 10. 38 Vgl. Fülop-Miller 1931; dazu Albersmeier 2009a: 10. 39 „Tout est prétexte à divertissements: ‚entrées‘ urbaines, signature de traités, réception d’ambassadeurs, visites princières, événements familiaux…“, beschreibt Solnon - unter Berufung u. a. auf Brantôme - La Cour de France (1987: 110) in ihrer geradezu frenetischen festlichen Aktivität. 40 Auch wenn hier die Rivalität um möglichst prestigeträchtige und gut dotierte Filmprojekte und -rollen jene um politisch-dynastische Vorteile bei Lafayette ersetzt (die Konkurrenz auf dem Markt der galanteries verbindet beide Milieus), stehen die Machtkämpfe und Intrigen dieser Welt jenen am königlichen Hof der Princesse nicht nach - und werden wiederholt auch in entsprechende ‚royale‘ Begriffe gefasst; so etwa, wenn Darrieussecqs Protagonistin über „le crash test obligatoire du prétendant au trône de réalisateur“ (2013b: 130) meditiert. 41 Pascaud 2013. 42 Gemeinsam mit ihrem zukünftigen Geliebten durchquert Solange Los Angeles im Auto, während eine gespenstische Stimme aus dem Navigationsgerät die Topografie der Stadt rezitiert; die Fahrt durch den mythischen Text ‚Hollywood‘ gerät zugleich zur Zeitreise (vgl. 2013b: 103). 43 „Et pas d’épaules au creux desquelles se réfugier. Rose virtuelle sur Skype, George en tournage […], Olga qui n’était pas vraiment une confidente - et tous les autres en concurrence, actrices et acteurs, prêts à boire son sang à la plaie“, klagt eine in Selbstmitleid zerfließende Solange (ibid.: 200). 44 Lafayette 2014c: 354. <?page no="300"?> 300 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes auch und erst recht in dieser postmodernen Schein- und Simulakrenwelt, „leur monde qu’ils prenaient pour l’univers. Universal Pictures présente! “. 45 Als Fortsetzung zu Clèves als „roman de classes“ 46 ist Il faut beaucoup aimer les hommes auch der Roman einer Desillusion: Der aus kleinbürgerlichem Provinzmilieu stammenden Protagonistin ist - allem gesellschaftlichen Determinismus zum Trotz - ein geradezu märchenhafter sozialer Aufstieg gelungen; und doch findet sich Solange, endlich offiziell zur ‚Princesse‘ einer anderen Ära nobilitiert, in einem nicht nur nach außen maximal exklusiven bzw. beinahe hermetisch geschlossenen, 47 sondern auch intern streng reglementierten Mikrokosmos wieder, in dem mindestens ebenso rigide ästhetische und moralische Codes gelten wie im Clèves ihrer Kindheit (und am Hof Lafayettes). 48 Der hyper-semiotisierten, 49 panoptischen Welt dieses neuen ‚Königshofs‘ werden auch hier - wie in der Princesse und in Clèves - ambivalente Evasionsräume entgegengesetzt: das Meer - analog zu Lafayettes Coulommiers bei Darrieussecq „lieu d’une fuite dans l’imaginaire, d’un arrachement au réel“ 50 -, etwa der Strand von Malibu, aber schließlich auch Clèves 45 Darrieussecq 2013b: 133. 46 Barnett 2011. 47 Sehnt sich die jugendliche Protagonistin von Clèves nach dem Ausbruch aus ihrer allzu kleinen französischen Provinzwelt, so wird in Il faut beaucoup aimer les hommes der geografisch-kulturelle Radius sehr beträchtlich erweitert - die ‚Freiheit‘, wie Solange erkennen muss, damit allerdings nicht unbedingt größer. Analog zu den Akteuren des Lafayette’schen Königshofes, weniger konkreter Ort denn mobiles Dispositiv, verlassen auch diese Figuren auf all ihren transkontinentalen Odysseen kaum jemals ihr transportables „Komforttreibhaus“ (vgl. Sloterdijk 2006: 357); ‚Hollywood‘ begleitet sie rund um den Globus. Selbst vor Ort in Afrika - auf der (vergeblichen) Suche nach ‚Authentizität‘ besteht Kouhouesso darauf, dass sein Film an Original-Schauplätzen gedreht werden müsse - formiert sich sogleich wieder das gewohnte Kino-Simulakrenreich. 48 Treffend weist Jean Delannoy, Regisseur der filmischen Erstadaption der Princesse de Clèves, darauf hin, dass die Protagonisten Lafayettes trotz ihres hocharistokratischen Status im Grunde doch lediglich „domestiques“ - wenn auch „domestiques de Roi“ - seien (1960a); Darrieussecqs Solange reflektiert ironisch die Existenz der privilegierten Hollywooder Population als „une forme d’esclavagisme ni plus ni moins“ (2013b: 33). Schon auf nur scheinbar trivialer physischer Ebene sieht sich die Heldin mit den strikten Gesetzen weiblicher Hollywood-Normkörperlichkeit konfrontiert - beinahe scheitert eine Szene der bald zu Beginn des Romans geschilderten Dreharbeiten daran, dass kein BH in passender Größe für Solange aufzutreiben ist: „Pas de soutif en bonnets B: apparemment elle est la seule de cette ville à avoir conservé un volume normal“ (ibid.: 35). Bei aller glamourös inszenierten Erotik regieren in der hier evozierten Welt aber auch nur oberflächlich camouflierte hypokrite ‚Moral‘- und ‚Tugend‘- Gebote - in diesem Punkt erscheint der erwachsene Hollywood-Star sogar weniger frei als der Teenager von einst. Intuitiv ist Solange klar, dass es auch und gerade ihrem Geliebten gegenüber die Geschichte ihrer Jugend und insbesondere diverse „épisodes sexuels“ zu zensieren („[…] elle ne le sentait pas prêt à la connaître adolescente, la petite sauvage, la jeune anthropophage“; ibid.: 192), die Existenz ihres unehelichen Sohnes so lange wie möglich geheimzuhalten gilt (ibid.: 21). Rasch genug konstatiert sie, dass ihre Liaison auch in ihrem vermeintlich so überaus ‚toleranten‘ kosmopolitischen Umfeld („Leur monde était tolérant“) nach wie vor eine subtile Transgression darstellt (ibid.: 111f.). 49 „[…] tout devient signes pour elle“, erklärt Darrieussecq zum hyper-semiotischen Semi-Delirium ihrer Heldin auf dem Höhepunkt ihres Passionsdramas (Kaprièlian 2013). 50 Dufour-Maître/ Milhit 2004: 41. Wie ihre Vorgängerin aus Clèves - und zahlreiche andere Protagonistinnen Darrieussecqs - flüchtet diese Solange in Krisenmomenten bevorzugt ans Meer. Auch der Sehnsuchtsort ihrer Jugend hat mittlerweile allerdings an Zauber verloren: „Elle roula jusqu’à la mer. […] Elle s’assit sur la murette devant l’océan stupide, gris sale et clapotant. […] On se serait cru à Biarritz hors saison, quand elle avait quinze ans et zéro avenir“ (2013b: 132). Voll transatlantischer Evasionsgelüste sieht die jugendliche Solange aus Clèves der Mutter Roses nach, die mit energischer <?page no="301"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 301 selbst. Flüchtet die Protagonistin Lafayettes aus der Île de France auf ihre Güter „vers les Pyrénées“, 51 so zieht sich auch Darrieussecqs Hollywood-Princesse im Laufe des Romans mehrmals - wenngleich mit höchst gemischten Gefühlen - in ihre südwestfranzösische Heimatstadt zurück, um dort, zu Weihnachten ebenso wie nach ihrer strapaziösen Afrika- Reise, ihre (intertextuellen? ) ‚Batterien‘ neu aufzuladen. Wie bereits in Clèves - und wie Lafayette in ihrer Princesse - mixt Darrieussecq auch in diesem Roman (Zeit-)Geschichte und Fiktion; 52 auch in diesem Fall ist eine indirekte Datierung der Handlung über allerlei am Rande eingeflochtene aktuelle Nachrichten aus der ‚realen‘ Welt - ebenso wie diverse historische Ereignisse bei Lafayette „des points de repère sur une ligne d’horizon“ 53 - möglich. 54 Als elegantes Lafayette-Strukturzitat liest sich das eklektische Neben- und Durcheinander transparent fiktionalisierter ‚historischer‘ und fiktiver Figuren. Protagonistin Solange bewegt sich zwischen illustren Kollegen „comme George ou Nicole ou Isabelle“; 55 so beim zur Hollywood-Party unter der Ägide von ‚König‘ George 56 re- Geste durch die Wellen krault; ihre erwachsene Version hat in Il faut beaucoup aimer les hommes selbst Gelegenheit, ihrem Geliebten in Malibu ihren „crawl musclé“ (ibid.: 143) zu demonstrieren - und sich ein weiteres Mal davon zu überzeugen, dass das vermeintlich perfekte Leben der anderen, von innen her betrachtet, sein Glücksversprechen niemals hält. 51 Lafayette 2014c: 476. 52 Ebendieses „blending of history (factual data) and romance (invented incredulities) into novella (the secret underside of historical reality)“ darf als die „most often cited innovation“ der Princesse gelten (Muratore 2001: 247). 53 Levillain 1995: 12. 54 So lässt Darrieussecq ihre Protagonistin auf dem Rückflug aus Afrika diverse französische Zeitungen lesen und in der entsprechenden Passage - intertextuelle Collage - im Telegramm-Stil allerlei aktuelle Ereignisse Revue passieren, von der Première Facebooks in Frankreich und dem Wahlsieg des Noch- Senators Barack Obama bei den Vorwahlen in Mississippi bis hin zu lapidar zusammengefassten „Attentats en Russie. Émeutes à Erevan. Violences au Soudan“ (2013b: 294f.). Durch das Prisma des Bewusstseins ihrer Heldin werden einzelne Nachrichten ausführlicher fokussiert, die deren eigene Situation in der einen oder anderen Weise zu kommentieren scheinen - und insofern auch die Funktion der Digressionen in Lafayettes Roman zitieren. Ausgehend von Solanges Zeitungslektüre thematisiert Darrieussecq die condition féminine in der zeitgenössischen französischen Gesellschaft, nicht zuletzt vor dem Hintergrund multikultureller Herausforderungen: „Un lycéen d’origine africaine qui avait poignardé son enseignante était condamné à treize ans de réclusion criminelle. […] Une femme présidait pour la première fois le conseil d’administration de l’École polytechnique. Une prière publique de réparation était prononcée par des militants anti-avortement à l’hôpital de la Timone. Le procès de l’hormone de croissance se poursuivait“ etc. Den Schluss dieses Presse-Panoramas bildet der Bericht des Überlebenden einer Lawinenkatastrophe im Himalaja, dessen dramatische Erzählung („Tout à coup, il a fait nuit noire“) gleichfalls in offensichtlichem Bezug zu Solanges Lage steht (ibid.). 55 Ibid.: 19. 56 Wie es einem wahren Herrscher gebührt, bleibt es bei ‚George‘ ohne Familiennamen; über im Text verstreute Allusionen wird der ‚Nespresso‘-König (vgl. ibid.: 272), stolzer Besitzer u. a. eines Luxus- Domizils am Lago di Como (ibid.: 200), mit ironischer Eindeutigkeit identifiziert. Im Paratext benennt die ‚Film(roman)produzentin‘ explizit Clooney als ihr Modell: „Je ne pouvais pas ‚produire‘ ce film sans avoir une grosse star“ (Darrieussecq/ V 2013c). Schon in „Je est unE autre“ (2007) spielt Darrieussecq - die zu dieser Zeit am Vorgängerroman Clèves arbeitet - mit dem Gedanken, George Clooney (oder alternativ Brad Pitt) zum Helden einer autofiktionalen Novelle zu machen, unter parodistischer Aneignung eines klischeehaften und quasi beliebig austauschbaren männlichen Sex-Symbols: „J’ai en tête une nouvelle qui s’intitulerait peut-être Ma vie avec George Clooney. Ou avec Brad Pitt, ça revient au même. La narratrice porterait mon nom, et serait rendue très reconnaissable […]. Bref, cette femme, moi, Brad Pitt en tomberait follement amoureux, et enverrait paître Angelina Jolie pour mes <?page no="302"?> 302 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes interpretierten Hofball: „Il y avait Kate et Mary, et Jen, et Colin, et Lloyd, et Ted, et deux ou trois amis de Steven et aussi cette fille qui jouait dans Collateral Damage. […] Floria et Lilian arrivent et saluent Ted et embrassent Solange“; 57 von Bob Evans und Michelle Pfeiffer über „les Rihanna, les Beyoncé […] Halle Berry“ bis zum „grand Steven Soderbergh“ ist in Darrieussecqs Text die Hollywood-Prominenz unserer Zeit versammelt. 58 Solanges Liebhaber lebt als Mitbewohner bzw. Luxus-Untermieter in der Villa ‚Jessies‘ (entfernter fiktionalisierter Verwandter Will Smiths, wie die Autorin erklärt 59 ), „le Jessie bien connu, celui des films, une des rares superstars noires de Hollywood. Moins connu que George, mais quand même“. 60 Solange organisiert „un dîner chez Peter Maximovitch, un ami d’assez longue date, qu’elle avait rencontré par Chabrol. Il y avait aussi David Steinberg des Sopranos, Gaspar Melchior de HBO, et les types de ClickStar […]“; 61 „Oprah Winfrey“ höchstpersönlich zeigt sich als potentielle Sponsorin an Kouhouessos Filmprojekt interessiert. 62 Kurz: „Le lecteur s’amuse des prénoms lâchés un peu partout en liberté surveillée comme autant de clins d’œil à la faune des acteurs et des réalisateurs.“ 63 Über dieses prominente Personal werden auch Fragmente der neueren Kinogeschichte in den Text integriert; 64 parodistisch wird auf diegetischer Ebene die Problematik der Literaturverfilmung und allgemeiner der intermedialen Adaption reflektiert. So kommentiert Kouhouesso missbilligend das neueste Filmprojekt John Cassavetes’ („si cool et sexy dans sa décapotable“), extravagante Dostoevskij-Adaption („Crime et châtiment en comédie musicale“): „‚What a stupid idea.‘ À l’entendre ç’aurait été un désastre de micros dans le champ, d’acteurs bourrés, Gena Rowlands hystérique, la maison beaux yeux. Et bien [sic], est-ce si invraisemblable? Je raconterais notre vie à Hollywood, les nombreux enfants que nous aurions, que sais-je.“ Ein ähnliches Text-Projekt - nun ist bereits von einem Roman die Rede - skizziert Darrieussecq im Interview mit Villovitch (2013): „Cela fait longtemps que je pense à écrire une autofiction où j’aurais, moi, Marie Darrieussecq, écrivain vivant à Paris, une histoire avec George Clooney. On se rencontrerait dans un cocktail. Là, coup de foudre, histoire d’amour, je plaque tout… Je m’amuserais beaucoup à écrire ce roman! “ Die Idee dieser George Clooney-(Auto-)Fiktion ist offensichtlich relativ direkt in den Clèves-Nachfolgeroman eingeflossen, in dem Darrieussecq ihre wiederauferstandene Protagonistin Solange („c’est moi et c’est pas moi, quoi“, bemerkt wie erwähnt die Autorin [Darrieussecq/ V 2011]) mit ‚George‘ zusammenführt, aktuell guter Freund und Gelegenheits- Mentor, aber, wie suggeriert, auch Teil ihrer amourösen Vergangenheit (2013b: 107). 57 Ibid.: 22ff. 58 Ibid.: 36, 112, 29. 59 Darrieussecq/ V 2013c. Vgl. dazu insbesondere die - von einer realen Begebenheit um Will Smith inspirierte - Episode der mit kostbarem Import-Évian gespeisten Film-Regenmaschine (Darrieussecq 2013b: 229f.). 60 Ibid.: 86. 61 Ibid.: 128. 62 Ibid.: 145. 63 Maury 2013. Nach den Quellen ihrer Expertise in Sachen Hollywood - eher untypisches Setting für die französische intellektuelle Autorin - befragt, erklärt Darrieussecq, eben ihrem mit Clèves in mancher Hinsicht eng assoziierten Debütroman Truismes bzw. dem Projekt seiner Verfilmung eine aufschlussreiche Exkursion in den Mikrokosmos Hollywood zu verdanken (und sich im Übrigen wie üblich auf die Eigendynamik ihrer literarischen Imagination verlassen zu haben): „En réalité, je connais bien mieux l’Afrique! Mais une réalisatrice de Hollywood, Floria Sigismondi, a l’intention d’adapter ‚Truismes‘, avec Scarlett Johansson dans le rôle principal. Je suis allée avec elle au Chateau Marmont. Cela m’a suffi pour imaginer le reste. Je fais énormément confiance à mon imagination! “ (Villovitch 2013). 64 So kann ‚George‘ der Filmpremière Kouhouessos nicht beiwohnen, da er gerade mit ‚Steven‘ einen neuen Film in Berlin dreht: Der - zeitlich leicht verschobene - Bezug zu Steven Soderberghs The Good German (2006, mit George Clooney in der Hauptrolle) ist transparent. <?page no="303"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 303 de Mulholland grimée en isba russe“, während er selbst bereits ein sehr viel seriöseres „projet de film musical“ anvisiert („sur Miriam Makeba“). 65 Solanges Position in diesem Milieu repliziert ziemlich exakt jene der Princesse Lafayettes; auch sie sorgt mit Schönheit und Talent für Aufsehen ‚bei Hof‘ (und ist jedenfalls berühmt genug, um „malgré son chapeau et ses lunettes noires“ von Fremden sogleich erkannt zu werden 66 ). Wie ihre klassische Vorfahrin insistiert auch sie auf ihrer Differenz: Sträubt sich Mme de Clèves dagegen, womöglich „comme les autres femmes“ betrachtet zu werden, „étant si éloignée de leur ressembler“, 67 so legt Solange Wert darauf, „pas du tout une actrice comme les autres“ zu sein; 68 dieser Singularitäts-Anspruch erstreckt sich auch auf den geliebten Mann („Et puis il n’est pas comme les autres, comme d’autres auxquels tu penses, on n’est pas dans la répétition“ 69 ), der sie freilich - aufs Neue widerfährt Solange jenes Schicksal, das Lafayettes Princesse über alles fürchtet - rasch genug zu einer Frau (fast) wie alle anderen in einer langen Serie amouröser Triumphe degradiert. ‚Princesse‘ Solange bleibt im Mikrokosmos Hollywood bei allem Erfolg ebenso eine Außenseiterin wie ihr schwarzer Liebhaber; mit sicherem Gespür für die ungeschriebenen Gesetze des Milieus identifiziert die Protagonistin Kouhouesso - „acteur prodigieux“, jedoch ohne wirklichen „statut de star“ 70 - als ihr etwa ranggleichen Partner („Un acteur comme elle, second rôle un peu connu - on connaît sa tête, pas son nom, et difficile à prononcer“). 71 Nicht zuletzt die gemeinsame Situation als ‚Fremde‘ stiftet zwischen diesen beiden anderweitig so ungleichen Figuren eine unterschwellige Solidarität: „Ils étaient deux étrangers, deux adoptés de l’Amérique. Deux étrangers bizarrement familiers l’un pour l’autre, aussi. Comme s’ils se connaissaient déjà par pays interposés.“ 72 Als Solange, die ihrerseits nostalgisch der mythischen Ära Hollywoods nachträumt, 73 ihren Geliebten mit einigen „témoins de ce temps où Hollywood était une fête“ bekannt macht, 74 provoziert sie eine heftige und wiederum in signifikanter Metaphorik formulierte Abwehrreaktion. Erbittert tobt Kouhouesso, dem in diesem Kontext auch antisemitische Anwandlungen nicht fremd sind, 75 gegen die ‚Festung‘ der weißen Herrscher dieses Kino-Königreichs, die ihm den Zutritt bzw. „les clefs“ - mit der phonetisch-orthografischen Affinität von clef(s) und Clèves wird bereits im Vorgängerroman gespielt - zu jenem räumlich wie symbolisch überhöhten Imperium „sur les hauteurs 65 Darrieussecq 2013b: 103f. 66 Ibid.: 137. 67 Lafayette 2014c: 436. 68 Darrieussecq 2013b: 27. 69 Ibid.: 62. 70 Ibid.: 19. 71 Ibid.: 12. 72 Ibid.: 21. 73 Nicht umsonst manifestiert die einstige ‚Debütantin‘ aus dem fernen Frankreich, nach wie vor - wie die Heldin Lafayettes - in mancher Hinsicht Außenseiterin in ihrem Milieu, eine besondere Affinität zur Kino-Aristokratie früherer Zeiten, dem alten französischen Feudaladel gleich entmachteten, beinahe vergessenen ehemaligen Stars - darunter ihr Freund Peter Maximovitch, der sich in verräterischem Imperfekt vorstellt („Vous vous souvenez de moi? J’étais Peter Maximovitch“) und als Überlebender seines eigenen Ruhms den Hollywood-Boulevard entlang promeniert: „[…] il avait survécu si longtemps à sa chute qu’il était devenu une icône. Personnellement, elle le vénérait“ (ibid.: 129). 74 Ibid. 75 Vgl. ibid.: 133. <?page no="304"?> 304 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes de Hollywood“ verwehren: „Il avait trouvé ses amis intolérables. Légendes de Hollywood, mon cul. Ils tenaient les clefs du château, et ils ne le laisseraient pas entrer.“ 76 (Nicht zufällig schreibt Darrieussecq ihrem Protagonisten eine ausgeprägte Obsession ausgerechnet für Jean-Luc Godard zu, dessen Charakteristik Hollywoods als „empire“ und „la seule entreprise colonialiste réussie“ sie ergänzend im Interview zitiert. 77 ) Als Französin in der US-amerikanischen Kino-Industrie wird Solange ebenso wie der schwarze Akteur Kouhouesso - kontinuierlich als „le dealer ou le boxeur, parfois le flic ou le prêtre ou le meilleur ami du héros aux idées larges“ 78 gecastet - auf ein stereotypes Bild ihrer selbst festgelegt, als „vedette frenchie“ 79 Film um Film immer wieder aufs Neue für die Rolle der „Française de service“ 80 (Kategorie „‚pas très jeune‘: pour Hollywood, exactement son âge“ 81 ) mit entsprechendem Akzent engagiert: „[…] tout le monde savait qu’elle était française. Elle pouvait travailler son accent pour jouer l’Américaine, mais la plupart du temps, c’était la Française qu’on lui demandait: la salope pointue, la froide élégante, la romantique sacrifiée. En Chanel et Louboutin, qu’on lui offrait après le tournage.“ 82 „Ils sont tous deux en première ligne aux prises avec les stéréotypes. […] Il y a une masse de stéréotypes face à un homme noir, tout comme d’elle on attend un comportement de femme française à L.A.“: 83 Um die beiden Protagonisten dieser neuen Passionsgeschichte entfaltet sich derart ein komplexes Spiel der interkulturellen regards croisés und Klischeebilder - auch abseits des Filmsets. Im Gegensatz zu seinen stereotypen Kino-Identitäten gibt Kouhouesso im Alltag gezielt den ‚Amerikaner‘, in seinem vielfältigen Repertoire lediglich eine weitere unter zahlreichen Rollen („Dans la vie il jouait l’Américain comme le reste, comme il avait joué 76 Ibid.: 19, 133. 77 Darrieussecq/ V 2013c. Der einzige Film Solanges, den er sich angesehen hat, interessiert Kouhouesso nur aufgrund des Regisseurs Godard: „Il était arrivé un soir débordant de questions: comment Godard l’avait-il dirigée? Godard fournissait-il le scénario à l’avance? Godard faisait-il répéter les scènes? Godard, Godard […]“ (2013b: 101). In diesem Kapitel werden - mit parodistischem Effekt - Kouhouessos grandioses ‚afrikanisches‘ Filmprojekt und seine geradezu infantil-kultische Verehrung Godards kontrastiert. Nachdem die ungeduldige, „Jean-Luc“ gegenüber weit weniger ehrfürchtige Solange („elle avait dix-huit ans […] elle ne savait même pas qui était ce type à l’accent suisse“) ihn mit der Erinnerung „Il s’éclipsait tout le temps pour jouer au tennis“ (ibid.) abgespeist hat, gibt Kouhouesso sich zunächst amüsiert. „Depuis que tu lui as parlé de Godard, il ne fait plus que jouer au tennis“ (ibid.: 127), berichtet freilich wenig später sein Mitbewohner Jessie. Bemerkenswert das anachronistische Moment dieser Godard-Obsession in einem diegetisch in den späten 2000er Jahren angesiedelten Werk: Zu einer Zeit, da „die intellektuelle und künstlerische Hegemonie der Nouvelle Vague, zumal des Filmautors Godard, im Bereich der Filmpraxis des Autorenfilms und der Filmtheorie […] verblasst, und die außerordentliche Prägung ganzer Nachfolgegenerationen durch einen großen Regisseur […] mittlerweile historisch geworden [ist]“ (Wagner 2009: 36), ist Darrieussecqs postkolonial engagierter Kinomacher um - zwischen Imitation und Rebellion höchst ambivalente - Selbst-Einschreibung in die große okzidentale Filmtradition bemüht. Anekdotisches Detail am Rande: Eben Godard erwarb bereits 1997 die Filmrechte an Darrieussecqs Bestseller Truismes („Quand Godard rencontre Marie Darrieussecq“, 1997); umgesetzt wurde das Projekt allerdings nicht, was Darrieussecq ein Jahrzehnt später bedauert (vgl. Clouzeau/ Le Bricquir 2006: 18, zit. bei Chadderton 2012: 11). 78 Darrieussecq 2013b: 19. 79 Pascaud 2013. 80 Mabanckou 2013. 81 Darrieussecq 2013b: 82. 82 Ibid.: 19. 83 Marie Darrieussecq, zit. nach Kaprièlian 2013. <?page no="305"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 305 Hamlet à ses débuts“ 84 ), zwischen denen er als Routinier der Metalepse, ausgestattet mit einer enigmatischen „gueule de Jedi impassible“, 85 bei Bedarf mühelos über Realitäts-/ Fiktionsgrenzen hinweg hin- und herswitcht. Unaufhörlich jongliert er - kaleidoskopartig schillerndes (In-)Dividuum 86 - mit verschiedenen Identitäten, Masken, Akzenten, ohne jemals ein wie immer geartetes ‚wahres‘ Selbst preiszugeben (wobei - wie bei Lafayette, hier freilich medientechnisch aktualisiert - bereits das Konzept dieses verborgenen ‚authentischen‘ Ich wesentlich als paradoxer Effekt bzw. Reflex der omnipräsenten gesellschaftlichen Personae erscheint); ‚Hollywood‘ insgesamt stiftet nicht nur ein überzeugendes postmodernes Äquivalent zum Lafayette’schen Königshof, sondern auch ein perfektes Experimentierfeld für die Exploration der performativen Dynamik einer immer schon multiplen, polyphonen Subjektivität. Auf Schritt und Tritt sind diese Figuren in professionellen und privaten Rollenspielen befangen; jede Geste, jedes Wort unterliegt per se dem allgegenwärtigen Inauthentizitätsverdacht („Elle voudrait lui expliquer […]. Elle aurait tant de choses à lui dire. […] Mais il ne la croira pas. Surtout venant d’une actrice“ 87 ). In Erwartung von Kouhouessos erstem Besuch erprobt Solange aufgeregt unterschiedliche Versionen ihrer selbst (samt den dazugehörigen Kostümen), unsicher, welche Inszenierung - darunter als Option auch die paradoxe, sogar besonders artifizielle Inszenierung vermeintlicher Natürlichkeit - dem Erwartungshorizont und erotischen Geschmack des begehrten Mannes am ehesten entsprechen könnte: Elle se coiffe en laissant un peu de désordre. Pas de maquillage. „Saut du lit“. Elle est nue sous son peignoir. C’est too much. […] C’est quoi, pour lui, une femme sexy? Elle va rester pieds nus, en jean, avec un pull à même la peau. Genre je bouquine tranquille. Après tout elle est chez elle. […] Est-ce qu’elle n’a pas un peu transpiré, sur ce coup de fil? Quoiqu’il y ait des hommes pour aimer ces odeurs. Elle aussi, d’ailleurs. Musique. […] Qu’est-ce qui lui plairait, quelle femme écoutant quelle musique lui plairait? 88 Auch im weiteren Verlauf des Romans wechselt Solange unermüdlich die Rollen, imitiert gelegentlich auch diese oder jene noch berühmtere Ikone des zeitgenössischen Showbusiness. Jede Alltagssituation gerät zur theatralischen bzw. kinematografischen Performance, selbst ein kurzes Bad im Meer zur Geste für Geste auf der Meta-Ebene reflektierten mise en scène: „Allez, viens! Elle ôta sa robe d’un seul trait, bikini, Raquel Welch c’est moi, plongea du même élan dans les vagues […].“ 89 84 Darrieussecq 2013b: 19f. 85 Ibid.: 22. 86 Vgl. Anders’ Reflexionen über das moderne Individuum als „‚Divisum‘“ (1992: 135, vgl. auch 141), sowie Deleuzes Konzept des durch die zeitgenössischen „sociétés de contrôle“ konditionierten ‚Dividuums‘: „Les individus sont devenus des ‚dividuels‘ […]“ (2009: 244). 87 Darrieussecq 2013b: 26f. 88 Ibid.: 56f. 89 Ibid.: 143. „Raquel Welch c’est moi“: Dergleichen Formeln werden - unter parodistischer Flaubert- Variation - leitmotivisch durch Darrieussecqs Werk ausgesponnen. In Le Pays ist es die Schriftstellerin ‚Marie Rivière‘, die mit selbstironischer Faszination die schwangerschaftsbedingte bombastische Entwicklung ihrer Brüste beobachtet: „Pamela Anderson, c’était moi“ (2005: 149). <?page no="306"?> 306 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes Coup de foudre, reloaded: Zur Psychopathologie der Passion Wie Clèves enthält auch Il faut beaucoup aimer les hommes mehrere Szenen, die zu einer direkten Parallel-Lektüre mit dem Lafayette’schen Hypotext einladen, ja geradezu herausfordern - angefangen mit dem initialen coup de foudre, den bereits die paratextuelle Präsentation des Romans (Marie Darrieussecq legt auf diese stets besonderen Wert) akzentuiert; das Backcover der P.O.L-Erstedition schmücken vier lapidare, teils fragmentarische Sätze: „Une femme rencontre un homme. Coup de foudre. L’homme est noir, la femme est blanche. Et alors? “ Die coup de foudre-Szene bei Lafayette - durch die französische Literaturgeschichte fortgeschriebener Archetyp - wird plotgemäß rekontextualisiert: Darrieussecqs nun erwachsene Princesse trifft ihren ‚Nemours‘ auf jener Party bei ‚König‘ George, im Science-Fiction-Dekor seines Festes von extraterrestrischer Schönheit („Il semblait, comme toujours, tombé du ciel, en complet immaculé, le teint halé, et son sourire de Voie lactée“ 90 ), magnetisches Zentrum einer glamourösen Gesellschaft, in dessen „champ gravitationnel“ sich die Hollywood- Prinzen und -Prinzessinnen untergeordneten Ranges bewegen. Ist es bei Lafayette Henri II, der die Protagonisten zum gemeinsamen Tanz auffordert, so fällt die mondäne Vermittlerrolle hier entsprechend ‚George‘ zu: „Il les présenta l’un à l’autre, juste les prénoms, d’un ton d’évidence, comme s’ils étaient aussi célèbres que lui. C’était l’élégance de George.“ 91 In Bezug auf die Erstkonfrontation Princesse/ Nemours bei Lafayette betont Peggy Kamuf - im Gegensatz zur Begegnung Mlle de Chartres/ Clèves - „[t]he strangeness which surfaces and which sets off this charge of unnameable energy“; 92 bei Darrieussecq wird der zur technischen „connexion“ 93 modernisierte coup de foudre in plastischer physikalischer Metaphorik geschildert - diese ‚Liebe auf den ersten Blick‘ manifestiert sich in Magnetismus und Atomen, Strahlungs- und Wellenphänomenen: „Elle l’a vu, lui et seulement lui. […] elle a pénétré dans un champ magnétique. Une sphère d’air plus dense qui les excluait tous. […] Un champ de forces irradiait de lui, palpable, éblouissant, le souffle d’une explosion fixe. Elle était traversée par une onde qui la désintégrait. Ses atomes étaient pulvérisés.“ 94 Die Metapher des magnetischen Kraftfeldes, das die Protagonisten auch ohne konkrete Berührung inmitten einer großen Gesellschaft in eine gemeinsame ‚Blase‘ 95 einhüllt, wird weiter durch den Text fortgesponnen: 96 „L’intensité du champ de force devenait telle que l’un d’eux - elle - formula quelque chose […]; et il y eut comme une respiration. […] Il lui roula une cigarette. Leurs mains ne se sont pas touchées, mais le champ de force s’est resserré si brutalement que la 90 Darrieussecq 2013b: 22. 91 Ibid. Symbolischerweise versteht mitten im Partylärm keiner der beiden den Namen des anderen: Solange vernimmt lediglich vage einen „impossible prénom à résonance osseuse“; später stellt sich heraus, dass auch Kouhouesso ihren Namen nicht gehört hat (ibid.). 92 Kamuf 1987: 77. 93 Vgl. Darrieussecq 2013b: 52: „[…] il s’est vraiment passé quelque chose, une - elle cherche le mot - une connexion.“ 94 Ibid.: 17. Dieser plastisch physikalische coup de foudre wird sogleich in einen größeren historischkulturellen Kontext eingeschrieben: „Comme si l’intensité de ce jour-là avait aussi été la conséquence logique, électrique, des mises à feu de l’Histoire“ (ibid.: 21). 95 Vgl. Sloterdijk 1998. 96 Kouhouesso insbesondere trägt dieses sein höchstpersönliches ‚Magnetfeld‘ in seiner geradezu materiell spürbaren Intensität einem Stück Text/ il gleich weiter durch den Roman: „Il était assis là avec naturel, son champ magnétique déployé autour de lui comme une cape […]“ (Darrieussecq 2013b: 64). <?page no="307"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 307 cigarette a flotté, est passée entre eux sans qu’ils sachent comment, dans l’espace vibrant et bourdonnant.“ 97 „Elle n’aurait pas cru, mais c’est peut-être le genre d’homme avec qui il faut faire le premier pas“: 98 Kritisiert Valincour die Tatsache, dass die tugendhafte Mme de Clèves sich allzu rasch in ihren schönen Tanzpartner verliebt (hätte Lafayette bzw. der anonyme „auteur“ nicht schon anstandshalber dem männlichen Part ein paar Tage amourösen Vorsprungs einräumen müssen? ), 99 so ist es hier definitiv Darrieussecqs postmoderne Princesse, die sich kopfüber in eine neue Passionsgeschichte stürzt - und in deren Namen bald auf ‚Tugend‘ wie Würde verzichtet. In der Beschleunigung des „temps hollywoodien“ 100 folgt die unerquickliche Erfahrung der jalousie dem coup de foudre auf den Fuß. Noch auf der königlichen Party beobachtet Solange eifersüchtig, wie eine vermutlich puertorikanische „starlette montante“ („Belle fille typée, comme on dit en France“) sich dem Objekt der Begierde nähert und mit ihm flirtet; ab dieser ersten Szene entfaltet sich ein subtiles Machtspiel, das Solange mit ihrer ängstlich simulierten Indifferenz von Anfang an zu verlieren scheint. 101 In Verdoppelung der re-interpretierten 97 Ibid.: 18. Coup de foudre, zwischen Feuer und Wasser: Schon mit der allerersten Geste des zukünftigen Geliebten, der für Solange eine Zigarette rollt, eröffnet Darrieussecq, die wie zitiert auch die ‚hyperphallische‘ Qualität der nächtlichen Coulommiers-Szene bei Lafayette kommentiert, ein transparent parodistisches Spiel mit der entsprechenden Motivik. Solange wartet einen atemlosen - in Syntax und Typografie der Passage gleichsam abgebildeten - Moment lang, bis Kouhouesso endlich sein Feuerzeug findet und die Flamme aufflackert („Il a cherché du feu en pantomime dans le noir […]. Il n’en avait pas - si - la flamme a jailli“), an der sie sich - dichte Symbolik ihrer bevorstehenden Selbstaufgabe in einer von vornherein als Leidensversprechen präsentierten Passion - die Haare verbrennt; unmissverständliches Omen, über das sie „à tort“ lacht, bevor sie - in Liebesdingen gebranntes Kind, das das Feuer sucht - ‚untergeht‘ (ibid.). Parallel kommt hier das in Darrieussecqs Werk leitmotivisch variierte Imaginarium des Wassers und insbesondere des Meeres zum Einsatz. Nicht nur findet die Party ‚bei Hof‘ vor einem luxuriösen Meeres-Panorama statt; die soziale Dynamik der Szene selbst wird in maritime Begriffe gefasst. Um das zukünftige Liebespaar herum bildet sich eine kleine ‚Insel‘ prekärer Intimität inmitten der stürmischen Wellen des Festes, gegen dessen unterirdische Strömungen Solange ankämpft: „La fête bat comme une vague, les cercles s’ouvrent et se referment, elle lutte contre des courants. Un petit îlot s’est à nouveau formé et elle est seule avec lui […]“ (ibid.: 24). Wie schon in Clèves (und einer Reihe anderer Darrieussecq-Texte) verspricht das Meer auch hier Freiheit und Glück; ein Glück, an dem der Geliebte freilich hartnäckig zu partizipieren ablehnt. Konsequent verweigert Kouhouesso nicht nur die geteilte ‚ozeanische‘ Ekstase, sondern auch konkret das gemeinsame Bad: „ni jacuzzi ni piscine, encore moins dans la mer“ (ibid.: 144). Allein schwimmt Solange also im Pool der von ihm mitbewohnten Luxusvilla; Kouhouessos ambivalentes Kompliment („Un vrai poisson“) kippt gleich darauf in eine andere Metapher, als die ratlose Protagonistin „debout, béante, comme un poisson hors de l’eau“ einem in ihr unverständlichem „camfranglais“ geführten Gespräch zwischen Kouhouesso und ihrem Concierge lauscht (ibid.: 97f.). Allein schwimmt Solange - die als Teenager an Bihotz’ Planschbecken im Garten vom ‚richtigen‘ großen Leben da draußen und idealerweise am Meer geträumt hat - auch in Malibu, während Kouhouesso sich im dunklen Haus vergräbt; schließlich weist er eine fusionsfreudige Solange ein weiteres Mal „si sèchement, si sévèrement“ zurück, dass sie endlich begreift: „il ne savait pas nager“ (ibid.: 290). 98 Ibid.: 31. 99 „Quand ce n’eût été que pour la bienséance, j’eusse voulu que la passion de Monsieur de Nemours eût commencé au moins quelques jours avant celle de Madame de Clèves. Cela eût été plus régulier; et Madame de Clèves n’aurait pas eu de peine à le rattraper, puisqu’elle faisait tant de chemin en si peu de temps“ (Valincour 2001: 79). 100 Darrieussecq 2013b: 104. 101 Ibid.: 22f. <?page no="308"?> 308 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes Ballszene tanzt eine exklusive kleine Gesellschaft nach Partyschluss weiter in einem Club, Solange, um Kouhouessos Aufmerksamkeit bemüht, zuerst mit ‚Ted‘, dann allein; als ersterer sich in Richtung Ausgang aufmacht, eilt sie hinterher, trotz Teds Warnung: „You’re heading for trouble“. 102 „Trouble“ - gleichsam in der Schwebe zwischen dem vorhergehenden englischen Satz und Lafayettes Schlüsselbegriff 103 - lautet denn auch die nächste Kapitelüberschrift. 104 Auch hier erscheint die Passion, von mannigfaltigem „trouble“ begleitet, von vornherein als Bedrohung rationaler Selbstkontrolle und der Souveränität eines ohnedies schon problematisch gewordenen postmodernen Subjekts, als größte und gefährlichste Feindin des „repos“ (kaum zufällig rekurriert Darrieussecq explizit auf diesen Lafayette’schen Terminus, der im Kontext jede triviale Alltäglichkeit verliert). 105 „Ni dates, ni lieux, ni repos“: Diese Formel resümiert die triste Verfassung der Protagonistin im Zustand akuter „[d]ésynchronisation“. 106 Und auch hier fungiert die Passion als Antithese zu jeglichem „calme“, 107 als „une sorte d’accident“, 108 ja als ‚Katastrophe‘, die mit aller Intensität (L’Intensité lautet wie erwähnt der erste Titel des Romans) zu erleben Solange - im Unterschied zur Princesse Lafayettes - allerdings kaum erwarten kann: „La même catastrophe, et c’est insupportable, et il faut la vivre, vite.“ 109 „[…] l’amour est vivable, la passion est invivable car il n’existe pas de passion réciproque. C’est une maladie car c’est une forme d’amour pathologique. […] L’amour, c’est accepter de s’ennuyer avec quelqu’un. L’amour, ça aide à vivre, alors que la passion, ça empêche de vivre. Solange est entrée dans une forme de vertige. Elle crée sa propre catastrophe. La passion, c’est toujours racinien, c’est vouloir celui qui échappe. Aimer, c’est aimer celui qui est là“, erklärt 102 Ibid.: 31f. 103 Zu besagtem „trouble“, neben der „surprise“ in der Princesse rekurrentes Schlüsselwort, mit dem Lafayette die Reaktionen ihrer Heldin charakterisiert, vgl. Malandain 1989: 75. 104 Darrieussecq 2013b: 33. 105 Ibid.: 25, 48, 201, 248. 106 Ibid.: 201. 107 Ibid.: 222. 108 Darrieussecq/ V 2013c. 109 Darrieussecq 2013b: 46. Auch im paratextuellen Diskurs reflektiert Darrieussecq - unter Anknüpfung an „die Grundantithese der französischen Klassik“, passion und raison (Köhler 2006: 78-84) - die Ambivalenz der Leidenschaft, „à la fois un état de grâce et de maladie mentale“, zwischen existentieller Bedrohung des souveränen Subjekts und Entfaltung höchster Lebensintensität, Katastrophe und Ekstase (Villovitch 2013). „Mais qu’est-ce qu’elle est heureuse aussi, par moments […] elle est aussi, par moments, formidablement heureuse“, kommentiert sie den instabilen Zustand ihrer Protagonistin, kurz: „c’est fabuleux, la passion“ - zumindest im Nachhinein, definiert sie besagte Passion doch als „un truc qui est insupportable au présent, par contre, avoir vécu des passions dans sa vie, mais quelle chance, quelle richesse! “ (Siméone 2013). Diese Ambiguität wird auch in einer - freilich nicht eindeutig - Lafayette zugeschriebenen, von André Beaunier auf etwa 1653 datierten Salon-Streitschrift unter dem Titel Le Triomphe de l’indifférence diskutiert (zur Problematik der Autorschaft dieses Textes vgl. Esmein- Sarrazin 2014a: XVIII; eine feministische Lesart des Triomphe als „the first seventeenth-century women’s novel with a contemporary setting“ bietet DeJean 1991: 105f., hier zit. 106): „il n’est rien de si inconstant que les hommes en matière d’amour, quoy qu’ils en veuillent dire“, erklärt ‚Mlle de St-Ange‘ als Anklägerin der Liebe (zit. nach Lawrence/ Lawrence 1992: 183). „Ce n’est pas un grand bonheur de ne rien aymer… car c’est ne vivre qu’à moitié“, entgegnet ihre Kontrahentin ‚Mlle de Tremblaye‘, worauf jene ein weiteres Mal die Lafayette’schen Trümpfe „la paix et le repos“ gegen die „amers douleurs de l’amour“ ausspielt (zit. ibid.: 190). <?page no="309"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 309 Marie Darrieussecq aus Anlass der Publikation von Il faut beaucoup aimer les hommes. 110 Als literarische Reflexion über die Sozio- und Psychodynamik der primär ‚weiblichen‘ Pathologie der Passion knüpft der Roman an Clèves ebenso wie - auch wenn hier „un amour postmoderne, avec textos, désarroi et sensations flottantes“ 111 geschildert wird - an die Princesse und allgemeiner an die Liebesskepsis Lafayettes an, wobei Darrieussecq im Gegensatz zu dieser („l’amour est une chose incommode“ 112 etc.) amour als positiv besetzten Begriff mit der passion - „espèce de mirage qui fait qu’on se cherche soi chez un autre“ und insofern „une impasse absolue“, narzisstisches Trug- und Spiegelbild („la passion, c’est un miroir“) - kontrastiert. 113 Clèves klingt mit einem offenen Ende aus; in diesem Folgeroman wagt sich eine erwachsene Solange nach einer dezent suggerierten längeren Reihe von Liaisons ohne sonderlichen Tiefgang an ein neues Experiment mit der großen - von Beginn an als asymmetrisch problematisierten - Passion. Der Konnex zu ihrem leidenschaftlichen jüngeren Selbst aus Clèves, schon „une grande amoureuse“, 114 wird von der Protagonistin selbst im Skype-Psychocoaching mit ihrer Freundin Rose hergestellt: „[…] ce que j’éprouve - admettons même que lui ne l’éprouverait pas - est rare, est précieux, ne m’est pas arrivé depuis longtemps, peut-être depuis notre adolescence, bien que […] je n’ai pas envie de revenir sur cette période.“ 115 Kouhouesso, intratextueller Nachfolger Arnauds - signifikanterweise wie dieser mit Solanges Vater assoziiert: wie Lafayettes Princesse und Clèves ist auch Il faut beaucoup aimer les hommes „un roman très œdipien“ 116 - und neue hypertextuelle Variation der Nemours- 110 Kaprièlian 2013. Zwischen amour und passion/ désir differenziert Darrieussecq auch im Interview mit France Inter. „La passion, à mon avis, n’a rien à voir avec l’amour“, erläutert die Autorin, „la passion a à voir avec le désir“, und: „toute l’histoire de la passion, c’est justement qu’on la prend pour de l’amour“ (Siméone 2013). 111 Aeschimann 2013. 112 Lafayette in einem Brief an Gilles Ménage vom 18. September 1653, zit. nach Lafayette 2014: 843-844, hier 843. 113 Darrieussecq/ V 2013c. „Sorte de narcissisme en miroir, la passion se pare du prétexte de l’amour, mais se trouve aux antipodes de l’amour véritable“, konstatieren Dufour-Maître und Milhit freilich auch in Bezug auf die Princesse (2004: 74). 114 Darrieussecq/ V 2013c. 115 Darrieussecq 2013b: 61. 116 Darrieussecq/ V 2013c. Ausführlich psycho-analysiert Darrieussecq die ödipalen Verwirrungen ihrer Protagonistin - und ironisiert parallel über derlei Anwandlungen à la „psychologie de bouquin“ (ibid.). Wie in der Princesse selbst wird hier ein - nunmehr auch auf der Ebene auktorialer psychoanalytischer Expertise reflektierter - „redundant Oedipal pattern“ (Horowitz 1998: 121) ausagiert: Angesichts des einigermaßen selbstverliebt vor dem Spiegel mit seiner komplizierten Frisur beschäftigten Kouhouesso fühlt sich Solange unvermittelt an ihren Vater erinnert (2013b: 168); später ‚verwechselt‘ sie die beiden Männer - mit dem gleichen unzugänglichen, nicht-sehenden Blick ausgestattet - erneut spontan bzw. halluziniert anstelle ihres Vaters Kouhouesso herbei (ibid.: 189). Auch in Afrika erlebt Solange neben Kouhouesso einen abrupten „flash-back de son père quand elle était petite, cette beauté, cette force, cette absolue fermeture sur soi“ (ibid.: 260). Schließlich meditiert die Heldin selbst über die nur oberflächlich getarnte ‚Seelenverwandtschaft‘ zwischen dem weißen Gelegenheitsrassisten aus Clèves und dem schwarzen Künstler, die in ihrem männlichen Chauvinismus, aber auch in ihrer Treue der jeweiligen „Grande Idée“ gegenüber zweifellos solidarisch zueinanderfänden: „Elle rêva à son père qui, face à Kouhouesso, la surprise passée, les premiers clichés racistes débités comme des politesses, en serait venu aux choses sérieuses: l’entente entre hommes, le coup de rouge, l’exclusion des femmes, les blagues viriles. Tout se serait très bien passé. Ils se seraient même excellemment <?page no="310"?> 310 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes Figur, teilt mit seinem literarischen Vorbild nicht nur die körperliche Schönheit, die galante Reputation sowie den Aplomb des allseits adorierten Frauenschwarms („Les vieilles dames adoraient Kouhouesso. Les moyennes dames aussi. Les jeunes dames. Même les petites filles“ 117 ), sondern wird wiederholt auch als metaphorischer „prince“ - Mitglied einer neuen Aristokratie des Showbusiness - beschrieben. Mit seiner schweren Haarkrone erscheint „[l]e prince au long manteau“, 118 dessen Sprechweise sie - trügerisch - an jene gewisser „aristocrates en France“ erinnert, 119 Solange bereits bei der ersten Vorstellung in der Aura seiner „spectaculaire beauté“; 120 erst nachträglich wird der französischen Hollywood- Prinzessin klar, dass ihr Weg jenen Kouhouessos - zu imposant freilich für ihr unsicheres jüngeres Selbst - schon vor Jahren in Paris gekreuzt hat: „Elle l’avait trouvé beau […] mais elle n’avait rien entrepris pour le connaître. […] Elle avait croisé le chemin de ce prince, et elle ne l’avait pas envisagé. Ou peut-être était-il trop princier pour la Solange de l’époque.“ 121 Mit fataler Verspätung begegnet Lafayettes Heldin, bereits verheiratet, dem Duc de Nemours (und ihrer eigenen Liebesfähigkeit); auf ihren Spuren bedauert auch Darrieussecqs Protagonistin ihr verzögertes Zusammentreffen mit Kouhouesso, den sie nicht nur als sehr junge Frau in Paris, sondern auch in Hollywood schon zumindest einmal verfehlt hat: „Dazzled, de Michael Mann. Elle se souvenait que son agent lui en avait touché un mot, à l’époque […] Elle l’aurait croisé. Ça aurait basculé, déjà. […] elle savait - à n’importe quel moment, à Clèves, à Paris ou à Los Angeles - à n’importe quel moment, elle l’aurait suivi.“ 122 Wenngleich verspätet, ist für diese neue Solange, sich ihres eigenen Status als ‚princesse‘ endlich bewusst, jener ‚prince‘ in amouröse Reichweite gerückt: Ausgehend von der reinterpretierten Hofball-Szene entfaltet sich eine turbulente Passionsgeschichte, die, quasi exaktes Negativ zum Plot der Princesse, spielerisch auch an deren diskreten Jansenismus anknüpft („Le crayon de Dieu n’a pas de gomme“ 123 ). Schritt für Schritt erlebt Darrieussecqs Heldin, die sich dem coup de foudre fügt, ebenjenes - in einem minutiösen Psycho-Protokoll nachgezeichnete - Schicksal, vor dem Mme de Clèves flieht. 124 Auf Seiten des männlichen entendus. […] Ce qu’ils avaient en commun c’était un monde silencieux, dur, séduisant, un monde où ils se tenaient seuls, vaincus ou triomphants, mais seuls“ (ibid.: 192f.). 117 Ibid.: 102. 118 Ibid.: 24. 119 Ibid.: 20. 120 Ibid.: 179. 121 Ibid.: 111. 122 Ibid. 123 Ibid.: 255. 124 Diese Option wird auch im Werk Lafayettes abseits der Princesse de Clèves durchgespielt, mit unausweichlich tödlichem Ende. Sowohl La Princesse de Montpensier als auch La Comtesse de Tende setzen mit den jeweiligen Titelheldinnen weniger tugendhafte intratextuelle Verwandte der Mme de Clèves in Szene, die ihrerseits den Versuchungen der Passion nachgeben und - von den jeweiligen Ehemännern, Liebhabern, aber auch der narrativen Instanz - grausam dafür bestraft werden. So muss die Princesse de Montpensier die „ingratitude“ und Untreue ihres Ex-Geliebten erleben; im Stich gelassen, krank, „la plus malheureuse du monde, d’avoir tout hasardé pour un homme qui l’abandonnait“ (Lafayette 2014a: 47), erfährt die Protagonistin von den neuen, öffentlich zur Schau gestellten „galanteries“ des immer noch geliebten Mannes mit einer anderen Frau: „Ce fut le coup mortel pour sa vie. Elle ne put résister à la douleur d’avoir perdu l’estime de son Mari, le cœur de son Amant, et le plus parfait Ami qui fut jamais. Elle mourut en peu de jours, dans la fleur de son âge, une des plus belles Princesses du monde, et qui aurait été la plus heureuse, si la vertu et la prudence eussent conduit toutes ses actions“ <?page no="311"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 311 Partners weicht die - in diesem Fall vor allem sexuelle - Leidenschaft bald überheblicher Duldung und blasierter Übersättigung („Pourquoi m’ennuierait-elle? “, antwortet Kouhouesso auf Solanges besorgte Frage, „si sa tendresse ne l’ennuyait pas“ 125 ) - bis zu dem Punkt, an dem diese neue Princesse von einem ihrer überdrüssigen ‚Nemours‘ pragmatisch via SMS verabschiedet wird: „Il faut tourner la page, Solange.“ 126 Wie in Clèves wird die Passion auch hier dem bewährten Topos folgend als ‚Krankheit‘, als ‚Wahnsinn‘ metaphorisiert („La folie c’était ça. La maladie“ 127 ). Diese Pathologie manifestiert sich auch als recht symbolträchtiges dermatologisches Problem: Tag für Tag erwacht die verliebte Solange, für die eine makellose Physis schon eine professionelle Notwendigkeit darstellt, „affligée d’une maladie de peau“: „Ses épaules, ses seins, l’intérieur de ses bras […] sa peau était creusée de lignes, de broderies. 128 Elles couraient, incrustées. Elle frottait mais ça ne partait pas. Elle se douchait mais l’eau n’y faisait rien, et dans le miroir elle voyait, sous la peau, courir les galeries étroites et régulières, de fins colliers de perles en creux.“ 129 Schließlich begreift sie, dass sie diese rätselhaften „marques […] gravées dans sa peau“ 130 Kouhouessos elaborierten Dreadlocks - für Solange am eigenen Leib neu erworbenes Wort („Elle n’a jamais dit dreadlocks de sa vie. Ou peut-être une fois à propos de Bob Marley“ 131 ) - verdankt, Inschrift einer allzu flüchtigen Passion, „alliances secrètes“, deren „lente disparition“ 132 aus ihrem persönlichen Haut-Palimpsest Solange entgegen aller Vernunft („Elle […] était censée jouer la Française diaphane, ni tatouée ni scarifiée“ 133 ) beinahe bedauert: „Sa peau ne porte plus aucune trace de lui […].“ 134 In hilfloser Luzidität verfolgt die Protagonistin selbst den fatalen Fortschritt jener (Liebes-) Krankheit, die sie am Leben hindert („L’amour, lui, empirait. L’amour idiot, celui qui empêche de vivre. Le désir qui est une des formes de l’enfer“ 135 ), ihr den Schlaf raubt und ihren Körper verändert, in deren Bann sie ihre Karriere vernachlässigt, als wohlpräpariertes (ibid.). Ein unglückliches Ende ist auch der Comtesse de Tende beschieden, die ihre Ehe und Ehre durch eine nicht nur platonisch ausgelebte Liebschaft - „le temps et les occasions avaient triomphé de la vertu et du respect“, wie es bei Lafayette mit klassischer Dezenz heißt (2014d: 70) - mit fatalen physiologischen Folgen aufs Spiel setzt. Auch diese Antiheldin lernt rasch genug, „que la honte est la plus violente de toutes les passions“, bereitet sich gehorsam auf den Tod vor - „et comme c’était une personne dont tous les sentiments étaient vifs, elle embrassa la vertu et la pénitence avec la même ardeur qu’elle avait suivi sa passion“ (ibid.: 74). Die Novelle endet mit Fokus auf den durch diesen Tod ‚gerächten‘ Ehemann, der ebenfalls seine Lehren aus den Verheerungen der Passion gezogen hat: „[…] quoiqu’il fût fort jeune il ne voulut jamais se remarier, les femmes lui faisant horreur, et il a vécu jusqu’à un âge très avancé“ (ibid.: 75) - syntaktische Einladung zum cum hoc ergo propter hoc? 125 Darrieussecq 2013b: 20. Das Echo dieser Szene klingt weiter durch den Text (vgl. ibid.: 239, 284). 126 Ibid.: 299. 127 Ibid.: 168. 128 In dieser Passage wird das im dichten Netzwerk des Darrieussecq’schen Œuvres auch anderweitig präsente Motiv des textualisierten bzw. ‚textilisierten‘, bestickten Körpers fortgesponnen; vgl. dazu die bereits zitierte Novelle „On ne se brode pas tous les jours les jambes“ (2003; in Darrieussecq 2006a: 111-120). 129 Darrieussecq 2013b: 12. 130 Ibid.: 77. 131 Ibid.: 43. 132 Ibid.: 77. 133 Ibid.: 12. 134 Ibid.: 13. 135 Ibid.: 200. Hier gleiten - im Gegensatz zu der im Paratext konstruierten Opposition - amour, passion und désir wiederum ineinander. <?page no="312"?> 312 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes Opfer auch anderer männlicher Ko-Höflinge Casting und Honorar „en dessous de ce à quoi elle pouvait prétendre“ in Kauf nimmt. 136 Solanges Agent betrachtet den Verlauf ihrer Liaison „avec une compassion résignée“, „comme s’il ne pouvait plus qu’attendre la fin, la fin d’une maladie terrible, un de ces tropicalismes effrayants qu’on attrape par simple contact“. 137 „Jungle fever“, lautet aber auch die spöttische Diagnose der einheimischen Frauen, die Solanges Interaktion mit Kouhouesso beim Dreh in Afrika beobachten: „Les filles se mirent à rire. C’était un diagnostic: ce qu’on dit quand une Blanche veut un homme noir. Et vice versa, parfois.“ 138 In diesem doppelsinnigen „roman noir des sentiments“ 139 besitzt der amouröse tropicalisme eine spezifische ethnokulturelle Konnotation. Für die Hollywood-Schauspielerin mit reicher erotischer Vergangenheit stellt der für Lafayettes Heldin moralisch inakzeptable adultère bzw. allgemeiner eine uneheliche Passion beim besten Willen keine nennenswerte Grenzüberschreitung mehr dar. Eine andere, ansatzweise auch den ethischen Bedeutungsverlust jener obsoleten Tugenden und Tabus kompensierende Dimension der Transgression kommt insofern ins Spiel, als der begehrte ‚prince‘ schwarz ist; mit Kouhouesso - in der vollen Pracht seines Namens „Kouhouesso Fulgence Modeste Brejnev Victory Nwokam-Martin“ (wie Solange - und mit ihr die Leserin - erst später beim heimlichen Studium seines Passes erfährt: „Il n’y avait qu’un seul être au monde à avoir une identité pareille, on pouvait en être sûre“) 140 - fügt Darrieussecq der selbstverständlich und damit unsichtbar weißen Welt Lafayettes, doch auch ihrem eigenen fiktiven, gleichfalls noch fast homogen weißen Clèves eine signifikante Nuance hinzu. Die Figur Kouhouesso in ihrer schillernden Ambivalenz - Kinostar zweiter Kategorie, postkolonialer Aktivist, zugleich Hollywood-Karrierist und rücksichtsloser Chauvinist - schreibt sich freilich auch in den Kontext anderer zeitgenössischer 136 Ibid. 137 Ibid. 138 Ibid.: 256. Ebendieses spezifische Stereotyp aus den in Il faut beaucoup aimer les hommes aus- und umgepackten „valises de clichés“, „le terme très péjoratif de ‚jungle fever‘“, kommentiert Darrieussecq wiederholt in ihrem paratextuellen Diskurs (Villovitch 2013), auch unter Bezug auf den gleichnamigen Film Spike Lees aus dem Jahr 1991 (Siméone 2013; Petit 2012: 3). 139 Kaprièlian 2013. 140 Darrieussecq 2013b: 184. „[…] on pouvait en être sûre“: Darrieussecq reflektiert wie erwähnt schon in Bezug auf Clèves ihr Bemühen um eine gewisse Feminisierung der ‚Männersprache‘ Französisch. Eben die Kombination eines ‚on‘ mit einer femininen Form nimmt Valincour in seiner Kritik der Princesse („Ce prince était fait de sorte qu’il était difficile de n’être pas surprise de le voir, quand on ne l’avait jamais vu“) zum Anlass einer energischen Verteidigung der Norm des generischen Maskulinums. In wenigen Sätzen schreitet er - unter Rekurs auf ein alles andere als unschuldiges Satzbeispiel - zur gleich mehrfachen remise en place womöglich nicht nur grammatikalisch transgressiver Weiblichkeit: „Par exemple, si je dis: ‚Les femmes, qui s’étaient réfugiées dans le temple, voyant entrer des soldat [sic] l’épée à la main, crurent que l’on venait pour les égorger et, se serrant les unes contre les autres, poussèrent d’horribles cris; et en vérité il est difficile de n’être pas saisi de frayeur, en voyant venir à soi des gens que l’on prend pour ses ennemis‘, je parlerais bien: et je crois au contraire que, si je disais saisies, je ferais une faute, quoique ce soit des femmes que j’entende parler“ (2001: 130f.). Nicht ganz zufällig gewählt mutet auch das zweite Beispiel an, mit dem Valincour in seinem linguistischen Geschlechterkampf en miniature - unter Berufung auf Vaugelas - kategorisch „le genre masculin comme le plus noble“ verteidigt: „Cette joie lui donnait une liberté et un enjouement dans l’esprit, que Monsieur de Nemours ne lui avait jamais vue. […] C’est comme si l’on disait: la femme et le mari la plus importune que j’aie jamais vue. Je ne crois pas que cela fût trouvé fort français“ (ibid.: 146). (Im Gegensatz zur erstzitierten Passage wird dieser accord in späteren Editionen der Princesse korrigiert.) <?page no="313"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 313 Re-Interpretationen des Lafayette’schen Nemours ein, mit bemerkenswerter Konsequenz als mehr oder minder problematischer Außenseiter, als Inkarnation des ‚Anderen‘ konstruiert. „L’amour, c’est l’altérité mise en gloire […]“, erklärt Belinda Cannone. 141 „Toute histoire d’amour est difficile car c’est une histoire de l’altérité“, bestätigt Marie Darrieussecq. 142 Il faut beaucoup aimer les hommes, „[s]ur le thème de l’altérité, un roman brûlant“ und insofern weitere Variation des unkonventionellen Darrieussecq’schen „altruisme“, 143 erkundet über die zentrale Passionsgeschichte die unterschiedlichen Facetten multipler Alterität - und lädt damit zu einer überkreuzten Lektüre aus der doppelten Perspektive der Gender und der Postcolonial Studies ein. „The discourse founded by Lafayette’s novel makes possible a new kind of interpersonal narratives of domination and colonization […]“, wie Karen Andersen betont; 144 in komplexer Verschränkung zweier Formen der domination exploriert Il faut beaucoup aimer les hommes das Phänomen der Passion - gender-sensible Pathologie, die vor allem bei den weiblichen Exemplaren der menschlichen Spezies als „animal aimant“ 145 existenzbedrohliche Formen annimmt - auch aus kritischer feministischer Sicht. Bereits die Protagonistin aus Clèves lernt bei aller jugendlichen Ungeduld ausführlich genug die lustvollen Qualen des Wartens kennen, „expérience […] originaire“ des liebenden Subjekts, 146 bei Roland Barthes - dessen Fragments d’un discours amoureux Darrieussecq als improvisierte Liebes-Theoretikerin freilich wenig enthusiastisch kommentiert 147 - als essentielles Element einer Gender-Chrono- Topografie der Liebe reflektiert. 148 Ihre erwachsene Wiedergängerin aus Il faut beaucoup aimer les hommes ist ihrerseits „avant tout une femme qui attend“; 149 auch ihr wird - um Barthes’ Formulierung aufzugreifen - „[d]ie Abwesenheit […] zur aktiven Praxis, zur Geschäftigkeit“, 150 der sukzessive sämtliche anderen Aktivitäten geopfert werden: „Elle décommandait ses amies, son coach, son yoga, sa psy, pour être sûre d’être disponible. Il apparaissait. Puis disparaissait. […] Un spectre. Elle fermait les bras sur le vide, elle serrait les poings sur rien.“ 151 Berufliche Verpflichtungen werden uneingeschränkt dem neuen Lebensprojekt dieser alles verschlingenden Passion - und zugleich den künstlerischen Plänen des geliebten Mannes - untergeordnet. 152 Derart 141 Cannone 2013: 219. 142 Zit. nach „Marie Darrieussecq, prix Médicis…“, art. cit.; vgl. auch Kaprièlian 2013; Pascaud 2013. 143 „[…] la relation à l’Autre (au tout-Autre) s’inscrit au centre des préoccupations de Marie Darrieussecq - au point où l’on devrait peut-être parler d’altruisme à son sujet“ (Marie/ Cornille 2014: 130). 144 Andersen 1998: 272. 145 Cannone 2013: 218. 146 Grimaldi 2011: 85. 147 „[…] Fragments d’un discours amoureux de Barthes ne me parle pas du tout. Ça me tombe même des mains, je ne m’identifie pas à cette fragmentation de la passion, et puis ça n’est pas assez physique […]“ (Kaprièlian 2013). 148 Barthes 1988: 27ff. („Der Abwesende“). 149 Maury 2013; zur „attente“ als zentraler „métaphore“ dieser Passion vgl. auch Darrieussecq/ V 2013c. 150 Barthes 1988: 30. 151 Darrieussecq 2013b: 91f. 152 Adressat des längst fälligen aveu ist hier der Agent, Partner einer bewährten Vernunftbeziehung, dem die Protagonistin den wahren Grund für ihre Ausweichmanöver und Verzögerungsstrategien nicht zu gestehen wagt: „Elle n’osait pas lui avouer qu’elle attendait les dates d’un film hasardeux dans un pays impossible pour un rôle incertain“ (ibid.: 135). <?page no="314"?> 314 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes kreiert die Protagonistin selbst „[l]e vide de ses journées à elle. Le manque frénétique qu’elle avait de lui“; 153 mitten in einem depressiven Strom von „journées vides - pas tant vides que dévastées“ 154 versucht Solange ratlos, sich an ihr früheres autonomes Leben zu erinnern: „Elle essayait de se souvenir d’avant comme on se souvient de la santé quand on est malade; d’un état qui va de soi. Elle avait été ambitieuse, elle avait traversé l’océan. Son agent était parmi les meilleurs, elle avait tourné pour les plus grands, de petits rôles, certes, mais dans de grands films.“ 155 Im Roman selbst wird diese „maladie mentale. Souvent féminine“ 156 aus der Perspektive Roses, beste Freundin und Psycho-Coach, analysiert; auch in diversen Paratexten thematisiert Darrieussecq diese selbst nach Jahrzehnten feministischen Engagements hartnäckig fortbestehende geschlechtsspezifische ‚Pathologie‘: „L’attente […] j’en parle beaucoup, car malgré les luttes féministes, auxquelles j’ai participé, on a toutes une Belle au Bois Dormant dans la tête! “ 157 „Elle attend. C’est féminin. Comme si les filles étaient programmées pour attendre, et je ne sais pas comment on peut se débarrasser de ça.“ 158 Wie einst der mit sich hadernde Teenager auf Arnaud, wartet nunmehr der erwachsene Hollywood-Star auf Kouhouesso; anlässlich eines tristen Weihnachtsbesuchs in Clèves werden im Bewusstsein einer betrunkenen und deprimierten Solange über zwei diegetische Jahrzehnte hinweg diese beiden Passionsgeschichten kurzgeschlossen, verschmelzen die beiden Männer zu einer allegorischen Gestalt des Geliebten par excellence, damals wie heute Glücks- und Zukunftsversprechen, dem die wartende Frau sich rückhaltlos hingibt („Elle attendait déjà Kouhouesso, mais sans le savoir […]. Elle attendait l’avenir, comme ici à Clèves à quinze ans […]“ 159 ), sich in luziden Momenten selbst darüber im Klaren, dass diese ihre Leidenschaft - wie in mancher Hinsicht schon jene ihrer Lafayette’schen Vorfahrin - weniger dem begehrten Mann als konkretem Individuum denn ihrem eigenen Konstrukt - polyvalente Projektionsfigur - gilt: „[…] elle s’imprégnait lentement de ce paradoxe: elle attendait un homme qu’elle perdait de vue, un homme comme inventé.“ 160 Während der männliche Partner in allen Lebens- und Liebeslagen auf seiner Souveränität und Selbstgenügsamkeit besteht („Et de ce jour, il n’eut plus besoin de rien ni personne“ 161 ), konsequent - und gelegentlich kapriziös - seine Grenzen absteckt (so etwa, als Solange ihn anfleht, die 153 Ibid.: 92. 154 Ibid.: 97. 155 Ibid.: 99. 156 Ibid.: 61. 157 Zit. nach „Marie Darrieussecq, prix Médicis…“, art. cit. 158 Kaprièlian 2013. Vgl. auch Darrieussecqs Reflexionen zum Warten als weiblichem Modus der Passionserfahrung in Villovitch 2013: „C’est terrible, mais nous sommes des Belles au bois dormant.“ Hinsichtlich ihrer Psycho-Analyse der liebenden, d. h. wartenden Frau verweist die Autorin auf Annie Ernaux’ Passion simple (1991) als „grand antécédent“ (Kaprièlian 2013), andere „histoire d’une maladie“ (Siméone 2013). Allgemein bezieht sich Darrieussecq wiederholt auf Ernaux, deren Werk sie zwar nicht in dem Maße, wie dies für Marguerite Duras oder auch Nathalie Sarraute gelte, ‚heimsuche‘, die aber doch als eine jener „auteurs que j’estime et que je lis régulièrement“ eine nicht unwichtige Position in ihrem persönlichen literarischen Universum besetze und darin, so scherzhaft Darrieussecq, gemeinsam mit Patrick Modiano „une espèce de couple parental spirituel“ bilde - „ce qui est complètement délirant, mais passons“ (Kaprièlian 2010: 16). Zum Ernaux-Intertext schon in Darrieussecqs früherem Werk vgl. Marrone 2006. 159 Darrieussecq 2013b: 188. 160 Ibid.: 89. 161 Ibid.: 157. <?page no="315"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 315 Nacht bei und mit ihr zu verbringen: „[…] non, il n’était pas d’humeur. Not in the mood“ 162 ), wird die mit masochistischer Wollust ausgekostete „maladie chronique“ des Wartens („Une fièvre engluante, une torpeur“ 163 ) - zugleich Sehnsucht nach unbestimmt ‚ozeanischer‘ Regression in eine prä-ödipale Zauberwelt - für Solange zum Existenzinhalt („entrer dans l’attente comme dans une mer effervescente. L’attendre merveilleusement“ 164 ), prekärer Halt, letzte „sécurité ontologique“ 165 eines weiblichen Subjekts im Bann eines „décentrement redoutable“ 166 („comme une petite Lune“ bewegt sich die verliebte Frau an der „périphérie“ eines fremden Planeten 167 ): „L’attente était la réalité […].“ 168 „[…] l’homme qu’elle aime est habité par complètement autre chose que cette femme […]. Il est assez amoureux mais elle n’est pas son problème à lui, alors que lui, il est son problème à elle“, erklärt Marie Darrieussecq die Dynamik dieser asymmetrischen Passion; 169 ein weiteres Mal wird hier auch die Opposition zwischen wohldressiert liebes-fixierter Weiblichkeit und männlichem Privileg der „transcendance“ 170 kritisch beleuchtet, dies über eine Protagonistin, die - im Gegensatz zu den Figuren Lafayettes, professionellen aristokratischen Müßiggängern, im Gegensatz aber auch zu den typischen (Anti-)Heldinnen Darrieussecqs - selbst einen (glamourösen) Beruf und ihre eigene künstlerische Berufung hat, in ihrem Privatleben jedoch trotz allem die triste Rolle ihrer Mutter aus dem fernen Clèves nachspielt. 171 162 Ibid.: 105. 163 Ibid.: 89. 164 Ibid.: 56. 165 Vgl. Illouz 2013: 130, unter Verweis auf Anthony Giddens. 166 Darrieussecq 2013b: 169. 167 Ibid.: 177. 168 Ibid.: 89. 169 Kaprièlian 2013. 170 Vgl. Beauvoir 1994: insbes. 600ff. 171 Vgl. Darrieussecq 2013b: 130. Darrieussecq selbst betont die spezielle Rolle jener ‚Hausfrauen‘, die sie in mehreren ihrer Romane in Szene setzt, verfügen diese in ihrer melancholischen Untätigkeit doch, wie Kaprièlian konstatiert, über „cet espace de vide temporel“, in dem „les fantômes, les métamorphoses, les pensées, les émotions, le ressenti“ - Leib- und Lieblingsthemen der Autorin - sich entfalten können. „C’est tout à fait cela: un travail les occuperait trop“, bestätigt letztere, die sich fünfzehn Jahre nach Truismes in Clèves - und erneut in Il faut beaucoup aimer les hommes - der Herausforderung stellt, ihre Protagonistin in einem plausiblen professionellen Kontext zu situieren: „Dans un roman, c’est très encombrant de devoir faire ce pas vers le réalisme: de faire que le personnage ait un métier, même si ce n’est pas le sujet du livre. Sauf dans Truismes, où le personnage principal est une prostituée, je ne me suis jamais préoccupée du métier de mes personnages; mais c’est un sujet qui, justement, m’occupe dans ce roman qui s’appelle peut-être Clèves“ (Kaprièlian 2010: 13). Mit der Existenz besagter „femmes au foyer“, in ihrem „vide […] extrêmement romanesque“ Gespenstern aller Art ausgeliefert, kommt nicht nur eine intertextuelle Dimension ins Spiel - „Les saintes patronnes de ces femmes-là sont bien sûr Madame Bovary et la princesse de Clèves“ (vgl. Grosjean 2015; zum „univers de fantômes“ der Princesse de Clèves, „descendue vivante au pays des ombres“, vgl. bereits Fabre 1979: 71) -, sondern auch ein Moment feministischer Reflexion: „Cette vacance de mes narratrices m’autorise, sans délivrer je l’espère de message trop lourd, à faire parler ma fibre féministe: il s’agit toujours de femmes aliénées et leur vie n’est pas follement excitante.“ Darrieussecq beschreibt diesen Typus der Roman-(Anti-)Heldinnen als „fondamentalement des ‚Madame Bovary‘“ („Imaginez que Madame Bovary ait un job: le bouquin n’existerait plus“; Kaprièlian 2010: 13); vor dem Hintergrund der Schlüsselrolle der Bovary-Referenz im auktorialen wie kritisch-kollegialen Diskurs rund um Clèves ist es umso bemerkenswerter, dass auch die Protagonistin dieser suite - wenngleich sozioökonomisch privilegiert und mit einem überaus prestigewie kapitalträchtigen ‚Job‘ ausgestattet - im Angesicht ihrer selbst- <?page no="316"?> 316 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes Nicht eine eventuelle Partnerin, sondern die mit religiöser Inbrunst verfolgte, aus Solanges Perspektive ironisch allegorisierte ‚Grande Idée‘ des Geliebten - bei allem Casanovatum eignet Kouhouesso, in erster Linie dem quasi-sakralen Dienst an dieser seiner ‚Idee‘ verpflichtet, „quelque chose de monacal“ 172 - erscheint im Rahmen eines gender-invertierten Triangels als zentrales amouröses ‚Hindernis‘ („Sans ce film, sans cette obsession, ils auraient été heureux“ 173 ), ja als misstrauisch beäugte Konkurrentin: „Et pour elle la grande idée était comme une autre femme, et elle ne voulait pas qu’il la suive.“ 174 Eifersüchtig beobachtet Solange - vom Filmprojekt bis zu seiner Wikipedia-Ko-Autorschaft - Kouhouessos extraamouröse Interessen: „C’était donc ça qu’il faisait, la nuit, au lieu d’être au lit avec elle? “ 175 Ebenso wie im Fall von Clèves wäre es jedoch verfehlt bzw. reduktiv, Il faut beaucoup aimer les hommes als feministischen Thesenroman zu lesen. Wie stets bei Darrieussecq bleiben die Dinge in der Schwebe, die Protagonisten dieser romanesken „fusion entre passions créatrices et amoureuses, visions politiques et éthiques“ 176 gleichermaßen ambivalent. Diese Passionsgeschichte ist auch eine Geschichte weiblichen Selbstbetrugs („Oui, elle était drôle, et vive, et irrésistible, et il était amoureux - il le fallait, sinon? “ 177 ); in dem Maße, in dem ihre Liebe - und schon das Wort ‚Liebe‘ („Ils faisaient l’amour. Appelons ça l’amour“ 178 ) - ihr entgleitet, verliert sich die Heldin, „zigzagante, enfermée, démultipliée, diminuant“ in einer verfremdeten afrikanischen Landschaft, immer mehr in zusehends deliranten, schließlich geradezu kannibalistischen Phantasien wollüstiger Selbstauflösung und Selbstauslöschung: „‚Mange-moi‘, songea-t-elle. Une prière, une supplique au cannibale. Mange-moi. Qu’on en finisse. Qu’il la mange à jamais.“ 179 Wie bereits bei Lafayette werden über die Passions-Problematik auch bei Darrieussecq mancherlei philosophische und poetologische Schlüsselfragen reflektiert. Das moralische Dilemma der Princesse de Clèves zwischen Ehe und Passion mag obsolet sein; aktueller denn je ist in der hier evozierten Welt austauschbarer Konsum- und Liebesobjekte ihre Insistenz auf bzw. Arbeit an ihrer singulären Individualität, die sich indirekt über die mythische Überhöhung der Passion vollzieht. 180 In einem verzweifelten Versuch, die routinierte Prokonstruierten großen Passion dennoch wieder zur postmodernen Madame Bovary (ohne letales Ende) mutiert. 172 Darrieussecq 2013b: 18. 173 Ibid.: 136. 174 Ibid.: 11. „Elle a pour rivale la Grande Idée“, erläutert Darrieussecq; auch hier ergibt sich insofern eine komplexe amouröse Konstellation à trois, als Solange sich nicht nur in Kouhouesso, sondern - Transzendenz per procurationem - auch in „la Grande Idée à travers lui“ verliebt (V 2013c). 175 Darrieussecq 2013b: 108. 176 Armel 2013. 177 Darrieussecq 2013b: 143. 178 Ibid.: 283. 179 Ibid.: 264f. Schon bei der ersten Begegnung betrachtet Solange fasziniert die etwas ambivalent blitzenden weißen Zähne des bereits einer göttlichen Majuskel gewürdigten zukünftigen Geliebten: „[…] elle veut parler avec Lui. Son rire est le seul son dans le vacarme. Son visage ouvert en deux sur des dents éclatantes […] ce rire soulève la nuit, fend le brouillard, sa moue de prince galactique est ouverte en deux par le rire destiné à la Portoricaine et elle ne voit - Solange - que la blancheur éclatante de leurs soixante-quatre dents“ (ibid.: 23). 180 „Für die französische Klassik gehört der Anspruch auf Individualität mit zur Scheinwelt der Liebenden. Auch in dieser Hinsicht ist die Liebe auf Selbsttäuschung angewiesen, und am Ende erweist sich, daß auch dies eine Illusion war. Im Geheimnisverrat des Duc de Nemours erfährt die Princesse de Clèves <?page no="317"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 317 miskuität ihres Milieus in Richtung der einen, einzigen, einzigartigen großen Liebe zu transzendieren, weigert sich Solange, Kouhouesso als ein weiteres dekoratives Exponat in ihrer persönlichen amourösen Kollektion zu kategorisieren: „[…] ce n’était pas un mec de plus dans sa vie; c’était la vie même.“ 181 Unwillkürlich nimmt sie freilich selbst ihren Liebhaber als Projektionsfigur wahr, die sie immer schon unbestimmt an jemand anderen erinnert. 182 Wenngleich auffallende Erscheinung im weiß dominierten Hollywood, wirkt doch auch Kouhouesso wie eine vage ‚Kopie‘; „cet irrésistible sentiment de déjà-vu“ sucht Solange wiederholt heim, wenn sie „cet homme qui ressemblait tant à quelqu’un“ in Filmen, auf Fotografien und Kinoplakaten, aber auch in natura betrachtet. 183 „D’étranger à étrangère“: Namenszauber, Sprachspiel, Liebescode Wie bereits in Clèves analysiert Darrieussecq auch in Il faut beaucoup aimer les hommes die Passion - durchaus im Sinne Niklas Luhmanns - als komplexen (Kommunikations-)Code („Mais c’est vrai que la passion, c’est très codifié…“ 184 ), als zutiefst sprachliches, diskursives Phänomen; unaufhörlich geistern diverse Versatzstücke eines konventionalisierten - literarischen, filmischen, musikalischen - discours amoureux durch das eklektische Bewusstsein auch ihrer erwachsenen Heldin. 185 Zwischen den Protagonisten dieser inter-ethnokulturellen Passionsgeschichte entfalten sich allerlei interlinguistische Liebesspiele: Auf Englisch kommunizieren die beiden „[d]’étranger à étrangère. En Amérique. En territoire américain“; 186 beinahe gerührt liest Solange das ‚afrikanische‘ Französisch Kouhouessos („Il n’y avait qu’un Africain pour écrire ce français si désuet, si mignon […]“ 187 ), doch befremdet lauscht sie seinem in ihren in und an Clèves schließlich, daß auch sie nur einen Mann wie jeden anderen geliebt hatte und durch ihn als Frau wie jede andere behandelt wird: Er rühmt sich ihrer Liebe! […] Und ich möchte meinen, daß dies ihr Motiv war, und nicht etwa Treue bis über den Tod hinaus, sich nicht mit diesem Manne zu verbinden“, so Luhmann (1994: 124); unter Verweis auf Brody (1969) betont Luhmann (1994: 124), dass besagter „Individualitätsanspruch […] nicht auf einer Vorwegnahme künftiger Daseinsformen, sondern auf einer Bewahrung vergangener Ideale, deren Unausführbarkeit schon evident ist“, beruht. 181 Darrieussecq 2013b: 108. 182 Vgl. ibid.: 28. 183 Ibid.: 104. 184 Kaprièlian 2013. 185 So liefern anlässlich der gemeinsamen Paris-Reise ein paar Zeilen aus einer Chanson Édith Piafs (Mon amant de Saint-Jean) den Subtext und Soundtrack zu Solanges Erfahrung ekstatischen Selbstverlusts: „Paris tournoyait, la place les emportait, comment ne pas perdre la tête, serrée dans des bras audacieux? “ (Darrieussecq 2013b: 170; präzise lautet der betreffende Refrain: „Comment ne pas perdre la tête, / Serrée par des bras audacieux“, vgl. URL: http: / / www.paroles.net/ edith-piaf/ paroles-mon-amant-desaint-jean). Die Fortsetzung des Songtextes - implizite Prolepse - nimmt den weiteren Verlauf der Liaison vorweg: „Mais hélas, à Saint-Jean comme ailleurs / Un serment n’est qu’un leurre / J’étais folle de croire au bonheur, / Et de vouloir garder son cœur. / Comment ne pas perdre la tête, / Serrée par des bras audacieux / Car l’on croit toujours / Aux doux mots d’amour / Quand ils sont dits avec les yeux / Moi qui l’aimais tant, / Mon bel amour, mon amant de Saint-Jean, / Il ne m’aime plus / C’est du passé / N’en parlons plus“, lautet die dritte und letzte Strophe der Chanson (vgl. ibid.). 186 Darrieussecq 2013b: 90. 187 Ibid. <?page no="318"?> 318 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes geschulten Ohren zunächst karikatural klingenden Akzent, „[u]n accent à la Michel Leeb. Une seconde, elle avait cru qu’il se moquait d’elle. Qu’il exagérait. Dans son village, à Clèves, dans les années 1980, il y avait toujours quelqu’un pour imiter Michel Leeb imitant les Noirs“. 188 „Die Sprache ist eine Haut: ich reibe meine Sprache an einer anderen. So als hätte ich Worte anstelle von Fingern oder Finger an den Enden meiner Worte“, heißt es bei Roland Barthes; 189 auch in Il faut beaucoup aimer les hommes geht Sprache an und unter die Haut: Ses t avaient une rondeur mouillée, à peine différents de ses d, ce qu’elle prit d’abord pour une coquetterie de bel homme et d’acteur […] alors qu’ils signaient ses origines. Elle, on lui disait souvent par blague que même vue par satellite on l’aurait sue française. […] Il paraît que les langues modèlent les visages. Son orthophoniste à Los Angeles, avec qui elle travaillait les accents, y voyait une question de stress musculaire. 190 Die hyper-korrekte sprachliche Attitüde des ‚Fremden‘ wird auch in ihrem politischen Kontext situiert: Kouhouesso kultiviert sein elegantes Französisch nicht zuletzt im Bewusstsein seiner ‚imagologischen‘ Mission im Kampf gegen das Klischeebild des ‚Afrikaners‘: „Il mettait […] une certaine emphase à parler un français plus châtié que nécessaire, comme s’il se sentait en charge de tous les Africains du monde, de leur parfaite bonne tenue.“ 191 Der sporadische Wechsel in ein stets doppelbödiges ‚camfranglais‘ fungiert dagegen als Intimitätssignal; so etwa, wenn Kouhouesso Solange - ausgerechnet auf dem gemeinsamen Weg zur Bastille und zum Einkauf bei „Zadig et Voltaire“ - fröhlich fragt: „Fais quoi fais quoi, on johnny là? “ 192 Bezeichnet jeder auf Französisch geführte Dialog, jede französische Mini-Korrespondenz für Solange eine kleine „victoire“, zumindest temporären Territorialgewinn in ihrem frankophonen Pays de Tendre („Elle l’attirait sur son terrain. Il ne l’oubliait guère. En français“ 193 ), so zieht Kouhouesso im Allgemeinen das sprachliche Niemandsland des amerikanischinternationalisierten Englisch vor - und flüchtet gelegentlich vor Solange in seine ihr unverständliche Muttersprache. 194 Die Bruch- und Konfliktlinien dieser Liaison verlaufen nicht nur zwischen verschiedenen Sprachen, sondern auch zwischen (irgendeiner) Sprache und Schweigen. „[…] Kouhouesso était silencieux“, 195 wohingegen für Solange selbst - wie schon in Clèves - Liebe auch und vor allem Sprache bedeutet: „S’il lui parlait c’est qu’il l’aimait.“ 196 Sie ist es, die von Anfang bis Ende den allergrößten Anteil auch der verbalen Liebesarbeit leistet, während der Partner seine routinierte Kommunikationsverweigerung als Waffe einsetzt, 197 Solange regelrecht um 188 Ibid.: 81. 189 Barthes 1988: 162. 190 Darrieussecq 2013b: 20. 191 Ibid.: 162. 192 Ibid.: 168. 193 Ibid.: 91. 194 Vgl. etwa ibid.: 131. 195 Ibid.: 148. 196 Ibid.: 162. 197 Aus Solanges Perspektive wird Kouhouessos passiv-aggressives Schweigen nach einem Streit in signifikantem Übergang mit einer konkreten physischen Manifestation gender-spezifischer Gewalt assoziiert: „Dans leur matin de 14 heures, Kouhouesso s’éveilla sans un ‚hey‘. À la télévision, trente-neuf collégiens avaient été tués à l’arme lourde. Par un garçon: ce n’était jamais par une fille“ (ibid.: 131). <?page no="319"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 319 Gespräche, um Sprache flehen lässt („‚Parle-moi‘, supplia-t-elle“ 198 ), jegliche „confiance amoureuse“ systematisch - und sei es durch Sex - sabotiert; so in einem Moment, da die Protagonistin sich anschickt, ihm ein heikles Stück Familiengeschichte, „un petit bout de tous ses grands secrets“ zu verraten: „[…] comme elle allait parler il l’embrassa sans question et ils refirent l’amour.“ 199 Immer wieder versucht Solange - zwischen Rachegelüst und eifrigem Gehorsam („Il n’aime pas les bavardes, ça doit être ça“ 200 ) - ebenfalls zu schweigen, allein: „[…] elle n’y arrivait pas.“ 201 Ihr bloßer Name auf den Lippen Kouhouessos kommt in den Ohren Solanges, die sich ihrerseits seinen ‚exotischen‘ Namen fasziniert über die Zunge rollen lässt („Kouhouesso. Quel nom quand même. Kouhouesso Nwokam“ 202 ), beinahe einem - lange zurückgehaltenen und stets sparsam dosierten - Liebesbekenntnis gleich: „Solange. Il avait dit son prénom: […] C’était la première fois. Quand il n’usait pas du ‚hey‘ il l’appelait ‚Sugar‘ ou ‚Babe‘, de jolis noms canailles, toujours en anglais. Mais: Solange. C’était une preuve, sinon d’amour, du moins d’attention.“ 203 Wie bereits in Clèves wird der Name zur performativen Zauberformel, Element einer ambivalenten patriarchalischen Magie, in deren Rahmen der geliebte Mann die Protagonistin - niemals umgekehrt - gleichsam (zurück) ins Leben ruft, in ihrer Existenz als Individuum sanktioniert: „‚Solange‘. Il l’appelait. Le raffut du trafic sur la place était tel qu’il avait eu besoin de dire les syllabes, Sol-ange, le ancomme dans champagne. Elle se sentit pétiller. Elle, et aucune autre: Solange. Elle se matérialisait. Elle existait […] ‚Solange! ‘.“ 204 Selbst noch in dem Moment, da Kouhouesso die Liaison beendet, fühlt die Heldin sich bei aller Verzweiflung vage geschmeichelt, immerhin noch beim Namen genannt zu werden: „‚Il faut tourner la page, Solange.‘ Solange. Il l’appelait Solange. Jusqu’au bout elle y entendait un secret rien qu’à eux.“ 205 Parallel zu bzw. in Interaktion mit diesen konfliktuellen Sprach- und Namensspielen entwirft Il faut beaucoup aimer les hommes - unter Anknüpfung wiederum an den Roman Lafayettes - eine höchst komplexe visuelle Ökonomie. 206 Schon im Moment des coup de foudre etabliert sich eine signifikante Asymmetrie: Völlig gebannt bleibt Solange stehen, Kouhouesso dagegen „ne la regardait pas. Il regardait le bas de la ravine, les lumières de Los 198 Ibid. 199 Ibid.: 159. 200 Ibid.: 27. 201 Ibid.: 148. In diesem Punkt invertiert Darrieussecq die Gender-Ordnung ihres Prätexts: Bei Lafayette ist es Nemours, der „plus d’une fois frustré par le silence de la Princesse envers ses déclarations directes“ erscheint (McGuire 1993: 385). 202 Darrieussecq 2013b: 57. 203 Ibid.: 126. Unsicher fragt sich die Protagonistin zu Beginn ihrer Liaison mit Kouhouesso, „s’il dit hey parce qu’il a oublié son prénom“ (ibid.: 55); melancholisch hört sie allein, während der Geliebte ohne sie ein Leonard Cohen-Konzert besucht, den Song Suzanne - und flicht insgeheim ihren eigenen Namen in den Text: „Elle laissait ondoyer dans sa tête la chanson de Leonard Cohen. Remplaçait Suzanne par Solange“ (ibid.: 90). 204 Ibid.: 168. 205 Ibid.: 299f. 206 Eben über diese elaborierte Motivik des Blicks tun sich auch kleine intertextuelle ‚Fenster‘ bzw. - im Sinne eines traditionellen Topos - ‚Augen‘ auf; das Zitat provoziert, wie Compagnon bemerkt, „comme un clin d’œil: c’est toujours sur un œil que j’accommode, l’œil supposé en fuite dans la perspective. Il y aura beaucoup à dire sur la citation comme œil, ainsi que la qualifient, entre autres, Quintilien et saint Jérôme“ (1979: 23). <?page no="320"?> 320 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes Angeles“. 207 Flüchtig gleitet der Blick des zukünftigen Geliebten vom Meer auf Solange, „[p]uis - sur un plan de regard parfaitement horizontal - il replonge dans la mer“. 208 Die Rivalität zwischen Solange und la mer (die sprachspezifische ödipale Konnotation wird im Werk der Psychoanalytikerin Darrieussecq mit ihrem vielschichtigen maritimen Imaginarium regelmäßig aktualisiert) um Kouhouessos Aufmerksamkeit zieht sich leitmotivisch durch den Roman, über mehrere Realitäts-/ Fiktionsebenen hinweg; so folgt Solange in ihrer diegetisch realen Gegenwart sehnsüchtig dem - mit metaleptischer Transzendenz ausgestatteten - „regard infini“, den jener in einem „film d’il y a trois ou quatre ans“ auf das Meer richtet: „Hors de là, hors du film. Un regard sur la mer et elle voudrait être la mer. Un regard sur les vagues et elle voudrait être les vagues.“ 209 Immer wieder ist es Solange, die Kouhouessos anderswohin orientierten Blick einzufangen, mit seinen Augen zu sehen, „ce qui l’occupe seul […] et qu’elle veut savoir“ zu erspähen versucht; 210 mehrmals sieht sie Kouhouesso - so in seiner Rolle als Regisseur - en abyme beim Sehen zu: „Solange le vit qui voyait: […].“ 211 Eine spezielle Dynamik beziehen diese visuellen Macht- und Verwirrspiele daraus, dass beide Protagonisten auf ihre Weise gegen die narrative Struktur des - konsequent intern auf Solange als Subjekt fokalisierten - Textes erbitterten Widerstand leisten. Kouhouesso rebelliert auf diegetischer - privater wie professioneller - Ebene gegen seinen Status als Schau-Objekt: Er nützt nicht nur sein in allerlei recht klischeehaften Filmrollen erworbenes Kapital, um endlich selbst hinter die Kamera zu wechseln; er verwehrt auch Solange, die ihrerseits beharrlich um ihren Platz vor seinem Objektiv kämpft, den (durch die narrative Hintertür zugleich wieder re-etablierten) Blick auf seinen Körper und sein Gesicht in Momenten sexueller Intimität: „Il n’aimait pas qu’elle le regarde quand ils faisaient l’amour. Si elle ouvrait les yeux, il faisait un petit bruit entre ses dents, chhhhh. Elle les refermait […]. Mais elle avait vu son visage bouleversé […]. Et ses yeux fixés sur elle, chhhhh.“ 212 Wenig später betrachtet Solange heimlich den im Schlaf nun ausgelieferten Kouhouesso: „Elle le regardait. Elle pouvait le regarder, avec le soupçon qu’il détesterait ça.“ 213 Über Solanges Perspektive vermittelt, entwirft der Roman ein plastisches - Stück für Stück ‚gestohlenes‘, mosaikartiges - Porträt des Protagonisten, exotisches „chef-d’œuvre de la nature“ 214 mit langen Dreadlocks und rätselhaften Narben auf der Haut: „Un grand front bombé. Des sortes de creux dans la peau, elle voit mal, des cicatrices? […] Un nez long et fin, aquilin. Des lèvres larges, bien closes, très en relief. Comment se fait-il, pourquoi ces éléments forment-ils une telle somme de beauté? “ 215 Die Augen - unter Interaktion diverser 207 Darrieussecq 2013b: 18. 208 Ibid.: 24. 209 Ibid.: 45. 210 Ibid.: 24. Bereits der Einstieg im „Générique“ skizziert diese (auch gender-)spezifische visuelle Ökonomie und das - sehnsüchtige, ersehnte - Verschwinden des weiblichen Subjekts im fremden Blick. Solange tritt gleichsam in die Augen des zukünftigen Geliebten - mit der kurzen vorangestellten Passage korrespondierender rätselhafter Imaginationsraum - ein: „C’était un homme avec une grande idée. Elle la voyait briller dans ses yeux. Sa pupille s’enroulait en ruban incandescent. Elle entrait dans ses yeux pour suivre avec lui le fleuve“ (ibid.: 11). 211 Ibid.: 231. 212 Ibid.: 13. 213 Ibid.: 48. 214 Vgl. Lafayette 2014c: 333. 215 Darrieussecq 2013b: 27. <?page no="321"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 321 Exotismen wird der schwarze Geliebte mit enigmatischen „yeux chinois“ ausgestattet 216 - bleiben freilich unsichtbar („Des yeux invisibles, des fentes“) bzw. schweigen in einer vielsagenden synästhetischen Metapher vor sich hin: „Ses yeux ne disent rien.“ 217 Hinter seinem permanenten „masque“ 218 verweigert Kouhouesso die wechselseitige Gabe des Gesichts: „Le visage est ce qu’on ne voit pas de soi. […] on porte devant soi son visage comme une offrande. Il la voyait. Elle ne se voyait que dans les films ou le miroir.“ 219 Wie schon in Clèves (mit seinem exklusiven Fokus auf die - im Nachhinein als deutlich verzerrt decodierte - körperliche Selbstwahrnehmung der pubertierenden Solange) und in Lafayettes Princesse mit ihren zugleich hyperbolischen und höchst abstrakten Porträts wird auch in Il faut beaucoup les hommes das physische Erscheinungsbild der Heldin selbst relativ wenig und fokalisationsbedingt stets nur indirekt konkretisiert - angesichts ihrer Profession und des hier geschilderten Milieus stark markierte Abstinenz der Erzählinstanz, die quasi stellvertretend Würde und Autonomie der Figur sogar auf dem Höhepunkt ihrer Passions-Pathologie verteidigt. Den gesamten Roman prägt auch diese Spannung zwischen der rückhaltlosen Selbstauslieferung der Protagonistin, deren ästhetische (Selbst-)Rehabilitation erst recht mit der Unterwerfung unter fremde Normen einhergeht, und einer narrativen Struktur, die dieser totalen Hingabe an den Blick und das Begehren der anderen - allen voran des mehr geliebten denn liebenden Mannes - subtilen Widerstand leistet. Klassik, Kino, SMS: Il faut beaucoup aimer les hommes als metamedialer Roman Die zitierten Passagen machen es teilweise bereits deutlich: Im Kontrast zu Lafayettes Princesse inszeniert Il faut beaucoup aimer les hommes eine längst medientechnisch aufgerüstete Welt. Nicht umsonst wird zwar in diversen Kritiken auch auf jene eminent ‚theatralische‘ Ästhetik verwiesen, die den in fünf große Abschnitte - quasi die fünf Akte der klassischen Tragödie - gegliederten Text mit Werk und Epoche Lafayettes verbindet; 220 das wichtigste Intermedium dieses an literarischen, aber auch musikalischen Referenzen 221 reichen Romans ist freilich der Film, nicht nur thematisch bedingt im Fokus, sondern auch narrative Matrix: Wiederum spiegeln einander Protagonistin - als Hollywood-Nachfahrin der Lafayette’schen Princesse erneut poetologische Schlüsselfigur - und hybride Struktur eines Textes, der in eklektischem Crossover klassische Tragödie und filmische Form verbindet, vom kinematografisch inspirierten „Générique“ 222 über „Le Début“ 223 bis „The End“. 224 216 Ibid.: 84. 217 Ibid.: 27f. 218 Ibid.: 85. 219 Ibid.: 12. 220 Vgl. Pascaud 2013. 221 In Bezug auf Clèves betont Darrieussecq die Rolle des ihr vertrauten epochenspezifischen ‚Soundtracks‘ zum Roman; auch Il faut beaucoup les hommes lässt eine Vielzahl musikalischer Intertexte mitklingen, von Leonard Cohen (vgl. 2013b: 84f.) über Queen - die Kapitelüberschrift „Un tigre qui défie les lois de la gravité“ (ibid.: 25) zitiert eine Songzeile aus Don’t stop me now (vgl. ibid.: 29) - bis Donna Summer (vgl. ibid.: 31). 222 Ibid.: 11ff. 223 Ibid.: 17ff. <?page no="322"?> 322 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes Unter Rekurs auch auf die entsprechende Fachterminologie wird die Genese eines extravaganten Filmprojekts auf verschlungenen intermedialen Wegen nachgezeichnet; fürs Erste erblickt Kouhouessos Heart of Darkness-Version im Kapitel „Story-Board à Malibu“ in Gestalt einer skizzenhaften „bande dessinée“ das Licht der Hollywood-Welt. 225 Ausschnitte aus dem in diesem fiktionalen Text in Entstehung begriffenen fiktiven Film werden in pseudoekphrastischen Passagen geschildert, aus Solanges Perspektive z. B. Kameraeinstellungen und -bewegungen („La première apparition de George en Kurtz était un gros plan sur son visage en sueur, puis un travelling sur un long corps maigre“) oder auch beleuchtungstechnische Details kommentiert. 226 Darrieussecq lässt ihre Protagonisten, sämtlich Kino-Profis, eine Reihe filmkritischer Diskussionen führen, in die mit ironischer Transparenz auch poetologische Fragen verpackt werden - so etwa, wenn Solange und Kouhouesso sich über die Ästhetik John Cassavetes’ in die kunstvoll frisierten Haare geraten; während Solange sich von dessen „brouillons de film“, „films d’avant le film“, „films ratés […] d’autant plus géniaux qu’ils s’éclairent de leurs manques“ begeistert zeigt, proklamiert Kouhouesso nicht minder kategorisch seinen „horreur du bricolage“ 227 - und erläutert bei anderer Gelegenheit mit großer Gestik sein eigenes Filmprojekt: „Il décrivait, avec des gestes circulaires, comment plan après plan, mise en abyme après mise en abyme, son film deviendrait de plus en plus claustrophobique […].“ 228 Wiederholt spielt Marie Darrieussecq mit in den literarischen Text eingebetteten Kino- Metalepsen: Das erwähnte Kapitel „Trouble“ setzt mit einer erst nachträglich als solche erkennbaren Filmszene ein. Eben noch im Begriff, in der diegetischen Realität des Romans Kouhouesso nachzueilen, läuft Solange am Anfang des nächsten Abschnitts weiter („Elle court“) - hier allerdings schon über den Drehset: „Elle se jette dans l’angle vert, elle crie, Matt Damon saute sur elle et le sang gicle, elle halète, elle meurt - coupez. […] You were great Solange you were superb I love you. Le metteur en scène en fait un peu trop.“ 229 Diese strategisch zu Beginn ihrer neuen Passionsgeschichte platzierte Szene erfüllt - insofern den Digressionen Lafayettes nicht unähnlich - zugleich eine exemplarisch-didaktische Funktion, als Fiktion in der Fiktion implizite Warnung vor dem existentiellen Desaster in verführerisch 224 Ibid.: 299ff. Mit diesem ‚Ende‘ wird wiederum ein metaleptisches Spiel getrieben: „[…] et pourquoi les mots The End s’inscrivaient-ils, comme autrefois, comme dans les vieux films, pourquoi écrire déjà que c’était fini? “ (ibid.: 306), fragt sich die immer noch verzweifelt auf ihren Auftritt wartende Solange, vor deren Augen Kouhouessos Film mit einem kinohistorischen Zitat schließt. Nach dem doppelten ‚Ende‘ der intradiegetischen Literaturverfilmung und ihres eigenen Film-Romans fügt Darrieussecq dieser ihrer ‚suite‘ zu Clèves noch ein lapidares „Ensuite“ (ibid.: 309) sowie - mehrfach endet der Text dann doch noch nicht - einen kleinen ironischen „Bonus“ (ibid.: 311f.) hinzu. Eben in die Bonus- Sektion der „DVD version longue“, kinematografisches Ausgedinge, findet sich Solange verbannt (ibid.: 311); mit dem doppelten Bonus switcht die Handlung (wie in etlichen Texten Darrieussecqs) ein Stück - freilich nicht allzu weit - in die Zukunft: „Des années après, je dirais dix […]“ (ibid.). 225 Ibid.: 141ff. 226 Ibid.: 141f. 227 Ibid.: 105. 228 Ibid.: 69f. 229 Ibid.: 33f. Auch das Echo dieser hyperbolischen Klischeeformel - kinematografisches Management mehr oder minder narzisstischer schauspielerischer Egos - klingt weiter durch den Text; ein minimal gender-adaptiertes Lob verdient sich ‚Jessie‘ beim Dreh in Afrika: „You were wild, Jessie, you were sublime, I love you“ (ibid.: 238). <?page no="323"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 323 romantischer Camouflage, das der frisch verliebten Protagonistin bevorsteht: „Et son agent qui lui a vendu le rôle en lui disant qu’elle mourrait dans les bras de Matt Damon alors que leur interaction se limite à un coup de genou (de lui) dans sa poitrine (à elle). À la première prise la fichue poche de sang n’a jamais voulu éclater, elle est une actrice battue.“ 230 Mehrmals switcht der Text derart zwischen diegetischer Realität und gerade gedrehten Filmszenen - teilweise in einem einzigen Satz überblendet - hin und her: „Et il s’était endormi (elle est empoignée par Matt Damon qui écrase son genou entre ses seins et le sang gicle), et elle pouvait le regarder.“ 231 Aber auch abseits des Sets erscheinen die Gefühls- und Gedankenwelten der Figuren - déformation professionnelle - von filmischen Kategorien samt korrespondierender Terminologie geprägt; im Munde Kouhouessos wird der Kino-Jargon zur Sprache des Lebens selbst: „Les mots du cinéma, il n’usait plus que de ceux-là, ça devenait les mots de la vie.“ 232 „[…] ma vie est un film doublé, mal monté, mal interprété, mal ajusté, une erreur en somme. Un polar sans tueries, sans flics ni victimes, sans sujet, de rien. Il pourrait être un vrai film dans ces conditions et non il est faux“, schreibt Marguerite Duras in ihrer für Il faut beaucoup les hommes titelstiftenden Vie matérielle; 233 auch Darrieussecqs Protagonistin nimmt die eigene Biografie in kinematografischen Begriffen, als Film mit allerlei Schnitt- und Montagefehlern wahr: „Le début est comme une entaille, elle ne cesse de revoir le début, net et tranché dans sa vie, alors que ce qui suit semble monté à l’envers, ou coupé, ou dans le désordre.“ 234 Wieder und wieder spielt Solange vor ihrem inneren Auge und Ohr einem Film gleich ihre diegetisch reale Liebesgeschichte ab, testet diesen oder jenen Moment parallel auf Qualität der Inszenierung und paradoxe Authentizität, die Szene einer gemeinsamen Nacht („Elle était la spectatrice au ralenti d’un film en accéléré“ 235 ) samt heiklem Erwachen („[…] entre le moment où il ouvrait les yeux et celui de son départ, le scénario se répétait […]“ 236 ) oder auch eines missglückten Abends („En se repassant le film de la soirée, elle avait honte, elle ne savait pas très bien de quoi […]“ 237 ); präzise rekonstruiert sie, in welcher Sprache diese oder jene Szene ihrer bilingualen Passion stattgefunden hat, mit welchen Untertiteln ihre private Romance jeweils zu versehen ist. 238 Neben der Film-Thematik ist im Roman aber auch eine nur auf den ersten Blick triviale postmoderne Alltags-Medialität überaus präsent. „L’amour? Sans portable? T’imagines, une love story sans SMS? “ - längst eine Unmöglichkeit im Zeitalter der elektronischen Kommunikation, wie IT-Experte Rafik in Virginie Despentes’ Apocalypse bébé (2010) feststellt; 239 zum Leitmotiv und -medium eines prekären discours amoureux wird die SMS auch in Darrieussecqs 230 Ibid.: 34. 231 Ibid.: 49f. 232 Ibid.: 284. 233 Duras 2012: 157. 234 Darrieussecq 2013b: 17. 235 Ibid.: 66. 236 Ibid.: 80. 237 Ibid.: 130. 238 Vgl. ibid.: 47f. 239 Despentes 2010: 109. <?page no="324"?> 324 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes Roman. 240 Was in Lafayettes Text mit seinen komplexen Informationskreisläufen galanter Brief und Hofklatsch, sind in der Welt dieser neuen Princesse SMS, Skype, Facebook und Wikipedia; wie im Werk Despentes’ (in Apocalypse bébé ebenso wie der Trilogie Vernon Subutex 241 ) dienen die nicht mehr ganz so neuen ‚neuen Medien‘ auch hier als regelrechte narrative Matrix. 242 Kritisiert Valincour den Brief der Mme de Thémines ob seiner exzessiven Länge und seiner artifiziellen Rhetorik, 243 so skizziert Darrieussecqs Roman eine karikatural verknappte - und fundamental asymmetrische - Ökonomie amouröser Korrespondenz. Es ist Solange, die sich nach ihrem coup de foudre fragt, wie sie wohl einigermaßen taktvoll an die Telefonnummer des Objekts ihrer Begierde gelangen könnte; 244 ihr in mehreren Anläufen und Versionen mühselig redigiertes Post-it - schüchterner postmodernisierter ‚Liebesbrief‘, den sie Kouhouesso nach der ersten gemeinsam verbrachten Nacht in der Küche hinterlässt - bleibt ebenso unbeantwortet wie ihre Anrufe und Nachrichten. 245 Der Austausch zwischen den beiden beschränkt sich auch weiterhin auf - fast immer vom weiblichen Part initiierte - Kurztelefonate und SMS. 246 Auf eine Reaktion wartet Solange wiederum vergeblich, als sie dem Geliebten - in metaleptischem Kurzschluss - das Duras-Titelzitat des gesamten Romans via SMS schickt. 247 Über ihre Einsamkeit hilft ihr die über neuntausend Kilometer hinweg kultivierte ‚amitié Skype‘ 248 mit ihrer Freundin Rose in Paris hinweg: „Texto à Rose. Réponse: rappeler plus tard sur Skype. Mais la clochette de la réponse, déjà, lui fait du bien. Elle n’a pas disparu […]. Elle ne s’est pas pulvérisée […] Le visage de Rose apparaît en haut de l’écran, bilibili. Rose est dans son bureau du Centre médico-psychologique du boulevard d’Ornano à Paris. […] Solange regarde Rose, sa meilleure amie depuis vingt ans.“ 249 Höchst interessiert - und gelegentlich eifersüchtig - lauscht Lafayettes Princesse den Erzählungen ihrer Mutter wie der Dauphine über den schönen Duc de Nemours; Darrieussecqs Protagonistin, in Hollywood relativ isoliert, ist auf einsame Online-Recherchen angewiesen. 240 Gemeinsam rekapitulieren Clèves und Il faut beaucoup les hommes mehrere Jahrzehnte Mediengeschichte. Träumt die jugendliche Heldin im ersten Roman noch von einem mobilen Telefon (Darrieussecq 2011b: 175), so fragt sich die erwachsene Solange bereits: „Comment faisait-on avant les téléphones portables? “ (2013b: 209). 241 Vgl. Despentes 2015a, 2015b, 2017. 242 Vgl. Porte 2011; Stemberger 2013b. 243 Vgl. Valincour 2001: 91f. 244 Vgl. Darrieussecq 2013b: 36. 245 Vgl. ibid.: 34ff. 246 Die digitalisierte Mini-Korrespondenz der beiden gewinnt eine komische Dimension, als Solange ihrem Geliebten eine zärtliche SMS „tu me manques“ schickt und ein lapidares „moi aussi“ zur Antwort erhält (ibid.: 186, vgl. auch 80). 247 Ibid.: 107. In mehreren Interviews geht Marie Darrieussecq auf das Leitmotiv der einseitigen SMS- Liebeskorrespondenz in ihrem Roman und „l’humiliation des textos sans réponse“ ein (de facto lautet die Formulierung im Text „l’humiliation des textos sans écho“; ibid.: 100), die ihre ewig wartende Protagonistin erlebt: „Là, c’est l’histoire d’une femme qui attend dans la passion, et c’est intemporel, sauf que l’attente, aujourd’hui, ce sont les textos. […] Si le texto arrive quinze jours après, ce n’est plus une réponse de la part de l’autre“ (Kaprièlian 2013). Auch im Interview mit Siméone (2013) kommentiert Darrieussecq die Schlüsselrolle der „téléphones portables“ und spezifisch „l’attente exacerbée que génère le texto“. 248 Wie man in Analogie zu Despentes’ „amour Skype“ formulieren könnte: „C’était frustrant d’être avec elle, sans qu’elle soit vraiment là“, klagt Ich-Erzählerin Lucie in Apocalypse bébé, deren Geliebte Zoska virtuos die Möglichkeiten elektronischer amouröser Kommunikation auf Distanz nützt: „[…] l’amour Skype paraissait lui convenir“ (2010: 322ff.). 249 Darrieussecq 2013b: 58ff. <?page no="325"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 325 Wikipedia liefert ihr die Basis-Informationen über Herkunft, Alter, Vor- und Liebesleben: „Sur Wikipédia, sa date de naissance: si elle est vraie, il a deux ans de plus qu’elle. Citoyen canadien né au Cameroun anglophone. Elle ne savait pas qu’il y avait un Cameroun anglophone.“ 250 Auch später durchforstet Solange auf den Spuren des Geliebten ihren von diesem öfters benutzten Computer samt Internet-Protokollen; wie Virginie Despentes in Apocalypse bébé oder Michel Houellebecq in La Carte et le Territoire (2010) 251 räumt auch Darrieussecq in diesem Roman Wikipedia - poetologisch ergiebiges Motiv, das nicht zuletzt die Frage nach zeitgenössischen Rekonfigurationen von Autorschaft aufwirft - beträchtlichen Raum ein, dies umso mehr, als Kouhouesso selbst als fleißiger Wikipedia-„auteur“, -Diskutant und -Korrektor porträtiert wird. 252 Auch die elaborierte pikturale Motivik der Princesse de Clèves wird hier - zwischen Film und Fotografie - technisch aktualisiert. Vergeblich versucht Solange, aus einer regelrechten Lawine von „photos sur Google Images“ 253 den ‚wahren‘ Kouhouesso herauszufiltern; 254 an die Stelle des einzelnen Gemäldes - auch dieses schon eine Kopie -, vor dem ihre literarische Vorgängerin im nächtlichen Pavillon von Coulommiers träumt, tritt ein buntes Youtube- Sammelsurium unzähliger Film- und TV-Ausschnitte. Mit Hilfe moderner Medientechnik vollzieht sich die irritierende Multiplikation eines instabilen, in einer Überfülle digital verfügbarer Bilder - Kopien ohne ‚Original‘? - unfassbaren Subjekts: „Elle revenait en arrière… là… il va le faire, il va se tourner vers la mer et la lumière reste avec lui, se voile comme son regard, et il devient le centre et la totalité… Ce bougé, cet infime bougé, comme une photo contemplée trop longtemps…“. 255 Auf Facebook betrachtet die Protagonistin die Fotos der erwachsenen Kinder ihres Geliebten, in allen Disco-Farben schillernde Zwillings-Inkarnation einer aus eurozentrischer Sicht weitgehend unbekannten „Afrique de la Jet-Set“, deren Anblick ihr auf paradox komfortablen Elendsnarrativen basierendes Afrika-Bild erschüttert; 256 in seiner „beauté interstellaire“ stellt das exotische Geschwisterpaar für Solange - eifrig bemüht, der idiosynkratischen Political Correctness Kouhouessos gerecht zu werden („Les métis, ça n’existe pas: elle connaissait le sort de ces phrases, les phrases de sa bouche à lui“) - eine spezifische deskriptive Herausforderung dar. 257 Im Gegensatz zu ihrer obsessiven Beschäftigung mit diversen Konterfeis des Geliebten zeigt sich dieser selbst - recht nachlässiger Nemours - kaum an einem eventuellen Porträtdiebstahl interessiert. Endlich greift Kouhouesso, nachdem Solange sich geradezu aufgedrängt hat, am Strand zum Smartphone: „Il leva son téléphone et la prit en photo: coucou.“ 258 Auf dem narrativen Umweg über Fotos, Spiegelreflexe und Film wird hier (im Unterschied zu Clèves) die intern fokalisierte Protagonistin punktuell - und stets aus ihrer eigenen medial gebrochenen Perspektive - sichtbar. Es ist Solange, die in der flüchtigen Spiegelung 250 Ibid.: 44. 251 Vgl. Stemberger 2011 und 2013b. 252 Darrieussecq 2013b: 108, vgl. auch 123. 253 Ibid.: 44. 254 Vgl. ibid.: 13. 255 Ibid.: 112. 256 Auch im Paratext betont Darrieussecq (V 2013c) ihr Interesse für diese alternative „Afrique qu’on ne connaît pas“, „toute cette bourgeoisie africaine qui est née du pétrole“. 257 Darrieussecq 2013b: 150f. 258 Ibid.: 143. <?page no="326"?> 326 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes eines nächtlichen Fensters für einen Moment das perfekte ‚Doppelporträt‘ ihrer selbst und Kouhouessos erhascht („Elle détourna la tête et surprit leur reflet. […] un homme et une femme penchés l’un vers l’autre, et leur beauté la saisit. La courbe de la femme et la ligne de l’homme, elle allongée, lui assis, classiquement beaux, minces et hollywoodiens, elle de face et lui de profil, clic clac, yin yang: tous les deux parfaitement assortis“ 259 ), die metier-bedingt immer wieder multiplizierten, verfremdeten öffentlichen Bildern ihrer Person begegnet, so ihrem eigenen „visage gigantesque“ in Plakatform „au croisement de Sunset Boulevard et La Cienega“. 260 Ein einigermaßen detailliertes Porträt wird auf doppeltem Umweg gezeichnet, wenn Solange eine von Kouhouesso angefertigte Skizze der Heldin seines Filmprojekts zu Gesicht bekommt und sich darin wiedererkennt (bzw. um jeden Preis wiedererkennen will): „Un visage très pâle […] La courbe exacte de son corps, les seins petits, le nez long, les pommettes et le front hauts: son portrait.“ 261 Bei anderer Gelegenheit betrachtet Solange „une photo, prise à l’iPhone“, glamouröses Reklame-Bild (nicht ganz) ihrer selbst, weniger souveränes Individuum denn Montage professionell inszenierter körperlicher Atouts und luxuriöser Marken-Accessoires: „[…] une silhouette très fine, longues jambes et petite poitrine, dans un paréo Hermès bleu et or, un grand chapeau de paille, des lunettes de soleil Chanel, les pieds nus. Au fond, ç’aurait pu être n’importe qui, n’importe quelle Blanche encore en âge de procréer, accessoirisée en grandes marques et correspondant aux critères de beauté des années 2000. Une pub Poco-Beach.“ 262 Auch wenn diese Princesse nicht im prunkvollen Hofkleid, sondern in Hermès, Chanel & Co. in Erscheinung tritt, so knüpft Darrieussecq doch unübersehbar auch in ihrer Schilderung einer durch und durch sozialisierten, kunstvoll präsentierten, damit in ihrer Nacktheit noch quasi abstrakten Körperlichkeit an den klassischen Prätext an. Via Google Earth macht sich Solange, wenngleich sie zunächst an das Projekt ihres Partners nicht recht zu glauben vermag („Ça ne se ferait jamais, en vrai. Atteint-on jamais le Congo? “ 263 ), an die virtuelle Entdeckung jener afrikanischen Traum- und Phantasiewelt; per Satelliten-Ansicht spielt sie mit der Reorganisation einer globalen Ordnung, die in den Kategorien „[d]’Est en Ouest et d’Ouest en Est, mais jamais au Sud“ funktioniert: „Elle n’avait jusque-là guère pensé à l’Afrique, sinon pour envoyer un chèque. L’Afrique et ses enfants faméliques. L’Afrique et ses massacres à la machette. […] Elle allume son ordinateur, cible l’Afrique par satellite. […] Au cap des Palmes on plonge dans l’océan. Si on part dans l’autre sens, plein Est, on entre dans le vert. On arrive au Congo. Ça descend très au Sud.“ 264 Bevor sie selbst auf den Spuren Kouhouessos nach Afrika aufbricht, verfolgt sie wiederum online die komplizierte Reiseroute des Geliebten, der zwischen „[l]es FARDC et les DPP“, 265 Bürgerkriegen und Ebola nach einem erträglichen Drehort sucht. 266 Der Afrika-Trip der Protagonistin motiviert auch eine desillusionierte Reflexion über die (Anti-)Kunst des Reisens 259 Ibid.: 69. 260 Ibid.: 27. 261 Ibid.: 144. 262 Ibid.: 289. 263 Ibid.: 11. 264 Ibid.: 59. 265 D. h. respektive den Forces Armées de la République Démocratique du Congo und der Division de Protection Présidentielle. 266 Ibid.: 197. <?page no="327"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 327 im Zeitalter virtueller Welterschließung: Bei der Landung in Douala konstatiert Solange vor allem die Diskrepanz zwischen realer Landschaft und bereits vertrauter Google Earth-Vision; während sie auf ihren Anschlussflug wartet, wünscht sie das zuvor „par satellite“ studierte Terrain zu erkunden. Mit Sunblocker geschützt, wandert diese neue blonde Princesse aus Clèves also durch eine surreale Szenerie zwischen archaischer Rural-Exotik und moderner Medientechnik; unterwegs begegnet sie allerlei Einheimischen, „contrairement à elle tous noirs. Des dames avec des objets sur la tête, dont un bloc d’ordinateur Dell. Des enfants avec des chèvres“. Solange kämpft gegen wachsende Entfremdungsgefühle an („Quelle chance que tous ces gens parlent français. Voilà le pays de Kouhouesso, c’était ici qu’il était né […]“) und gelangt, einigermaßen erschöpft, zu jener „rivière qu’elle avait repérée sur l’application satellite - un égout malheureusement, bordé d’ordures et qui sentait mauvais“. 267 Desorientiert nimmt sie kurz darauf einen Handy-Anruf entgegen: „Kouhouesso? Non, sa mère, depuis Clèves. Est-ce que tout se passait bien. D’entendre les cloches du village, il était midi ici comme là-bas, son ventre se déchira […] Est-ce qu’il n’était pas physiquement insupportable d’être à deux endroits à la fois, est-ce que la planète, dans sa rotation, ne se vengeait pas d’être ainsi dédoublée? “ 268 Immer wieder vergewissert sich die verwirrte Heldin derart ihrer Position in einer zumindest digital exakt vermessenen Welt; aus Satellitendistanz betrachtet Solange den eigenen Standort „[e]xactement dans le creux de l’Afrique. Très loin du creux où elle était née, le golfe de Gascogne, l’angle droit familier, plus petit, plus cantou, qu’elle avait laissé dans son Sud-Ouest à elle“. 269 Und auch wenn der Betreiber eines lokalen Geschäfts ihr I-Phone zum Auflade-Ritual ebenso ehrfürchtig entgegennimmt „comme son fils à Noël dernier. 2008 dans la jungle“, 270 so hat die zeitgenössische Technik doch längst auch in Afrika „la Sainte Nature“ 271 kontaminiert; „comme des milliers de téléphones portables sonnant pour personne dans l’épaisseur des arbres“ lärmen Myriaden von Insekten (und sonstigen Getiers) in der afrikanischen Nacht - „des crissements, des sifflements, des tût, des bip, des dring“ - vor sich hin 272 (Anrufe ins Nirwana, die das durch den gesamten Text ausgesponnene Motiv der ewigen Fehlkommunikation zwischen Solange und Kouhouesso parodistisch spiegeln). Das Neben- und Ineinander von Archaik und Moderne setzt sich fort: Erleichtert erreicht die Heldin „l’auberge du Droit-Chemin“, 273 deren Wirtin ihr unter viel Federlesens einen nächtlichen Liebeszauber organisiert („Ca coûterait cent mille francs, que Kouhouesso revienne“); am nächsten Morgen erwacht sie zur Geräuschkulisse des Fernsehens, „en direct de France; commençait ‚Le juste prix‘“. 274 Derart geraten die afrikanischen mésaventures der Protagonistin zwischen mit wachsender Enttäuschung inspizierten Kulissen („On pouvait difficilement appeler ça un paysage“ 275 ) zur einzigen großen (anti-)exotischen Desillusion („l’exotisme est une distraction puissante“, 267 Ibid.: 203ff. 268 Ibid.: 211. 269 Ibid.: 247. 270 Ibid.: 219. 271 Ibid.: 273. 272 Ibid.: 215. 273 Ibid.: 213. 274 Ibid.: 218. 275 Ibid.: 209. <?page no="328"?> 328 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes wie es im Text lapidar heißt 276 ). Während der Dreharbeiten wird ‚Afrika‘ zum Klischeebild seiner selbst verdoppelt („Tous ces Noirs en file indienne qui portaient des trucs sur leur tête, on avait beau savoir que c’était pour un film, le petit côté déjà vu on l’avait“ 277 ); lediglich einen Abend lang - im Rahmen der Abschiedsparty in Poco-Beach - tanzen die Mitglieder des Filmteams samt Anhang durch eine chimärische „Afrique rêvée“, in einer melancholischen, des eigenen Kitschfaktors bewussten Fiktion postkolonialer Harmonie. 278 Nicht in Afrika, sondern erst Monate später bei der Kino-Première glaubt Solange jenes vor Ort nicht existierende ‚authentische‘ Afrika zu erblicken. 279 Jenseits von Afrika: Il faut beaucoup aimer les hommes als ‚postkolonialer‘ Roman „Plusieurs trajets de ma vie m’ont mené[e] en Afrique et j’en ai donné mon image“, erklärt Marie Darrieussecq anlässlich der Publikation des Romans. 280 Das Werk dieser Autorin, die sich zu ihrer besonderen Affinität zu allen Nicht-Orten bekennt, jenen „bouts du monde, […] ces endroits où - y vivrait-on cent ans - on serait toujours fondamentalement en exil“, 281 kreist immer wieder um die Dekonstruktion des ‚Exotischen‘; nach diversen romanesken Reisen ans eine oder andere ‚Ende‘ der (bzw. einer eurozentrisch perspektivierten) Welt - die Antarktis in White, Argentinien in Bref séjour chez les vivants, der fünfte Kontinent in Tom est mort (L’Australie wäre ein noch passenderer Titel gewesen, merkt eine Rezensentin an 282 ) - legt Darrieussecq mit Il faut beaucoup aimer les hommes also ihre Version Afrikas vor und lässt mit Solange, „une femme […] déroutée, au sens propre“, eine weitere Protagonistin „jusqu’au bout du monde“ aufbrechen. 283 Der Text wurde in erster Linie eben als ‚afrikanischer‘ bzw. auch ‚postkolonialer‘ Roman rezipiert: „un roman postcolonial situé entre Hollywood et le Cameroun“, einen von den „cadavres du colonialisme“ heimgesuchten Liebesroman kündigt etwa eine Kritik im Nouvel Observateur an. 284 In einem enthusiastischen Kommentar Alain Mabanckous wird Marie Darrieussecq als „écrivaine africaine“ honoris causa einer alternativen Literatur-/ Kulturgeschichte einverleibt: L’Afrique est présente - et c’est une réjouissance de voir enfin la littérature „franco-française“ porter un autre regard sur le continent noir […]. Darrieussecq n’est-elle pas, au fond, „une écrivaine africaine“ par ricochet, elle qui a vécu au Cameroun? […] ce tournage qui se déroule enfin au Cameroun 276 Ibid.: 207. 277 Ibid.: 263. 278 Ibid.: 291. 279 Vgl. ibid.: 304. 280 Zit. nach „Marie Darrieussecq reçoit le prix Médicis…“, art. cit. Im Interview mit Elle berichtet Darrieussecq von ihren konkreten afrikanischen Reiseerfahrungen: „J’ai besoin de voir l’ailleurs. Cet étrange métier d’écrivain m’a permis de le faire. En Afrique, j’ai commencé par la Côte d’Ivoire, puis l’Éthiopie, l’Afrique du Sud et le Cameroun“ (Villovitch 2013). 281 Miller/ Holmes 2001. „Darrieussecq’s interest in borders and limits is apparent in all her texts […]“, betont auch Chadderton (2012: 67). 282 Dutton 2009. 283 Darrieussecq/ V 2013c. 284 Aeschimann 2013. <?page no="329"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 329 nous offre sans doute les plus belles pages écrites sur notre continent par un auteur français de la nouvelle génération. Loin des clichés, des lieux communs, la romancière prend le parti d’opposer l’Afrique mythique à celle de la dure réalité, l’Afrique du dedans face à celle qu’on nous vend avec un élan d’exotisme désobligeant. 285 Tatsächlich besitzt der Roman Darrieussecqs - einer in real life durchaus engagierten Schriftstellerin - auch eine „dimension politique“, 286 dies über die Erfahrungen der Protagonistin mit einem mehr oder minder subtilen Alltagsrassismus hinaus. 287 Hier kommt wiederum Nicolas Sarkozy ins Spiel, der unseren Weg in dieser literarisch-filmischen Expedition auf den Spuren der Princesse de Clèves bereits mehrmals gekreuzt hat - nun freilich nicht mit seinen Attacken gegen Lafayette und ihre Heldin, sondern mit seinem berüchtigten „discours de Dakar“, der nicht nur in Frankreich für heftige Reaktionen sorgte. 288 „Darrieussecq défend vigoureusement le peuple africain en s’attaquant au discours de Nicolas Sarkozy […]“, begeistert sich Mabanckou. 289 Im Roman selbst unterwirft Darrieussecq 285 Mabanckou 2013. 286 Armel 2013. 287 Vgl. Darrieussecq 2013b: 131ff., 164, 179. In Gesellschaft ihres schwarzen Geliebten erkennt die Protagonistin erstmals klar den eminent politischen Charakter auch des vermeintlich Privaten; so anlässlich einer gemeinsamen Paris-Reise, als das ‚gemischte‘ Paar allerorts angestarrt, mit „une pointe d’envie, ou de connivence, une sorte d’agressivité à l’envers“ betrachtet wird: „Ils étaient beaux bien sûr […] mais il y avait autre chose. Ils étaient politiques. Elle qui n’usait jamais de ce mot goûtait la provocation de se promener à son bras“ (ibid.: 169). 288 In jener am 26. Juli 2007 an der senegalesischen Université Cheikh Anta Diop gehaltenen Rede erklärt Sarkozy zwar den Kolonialismus zum ‚Fehler‘; in der gleichen Rede greift er - bzw. sein Ghostwriter Henri Guaino (vgl. zu dessen Rolle als Storytelling-Manager Sarkozys Salmon 2010: 200ff.) - allerdings auch tief in den Fundus rassistischer Stereotype rund um den ‚afrikanischen Menschen‘, so in seiner Ethno-Psycho-Analyse des „drame de l’Afrique“: „[…] l’homme africain n’est pas assez entré dans l’histoire. […] Dans cet imaginaire où tout recommence toujours, il n’y a de place ni pour l’aventure humaine, ni pour l’idée de progrès. […] Le problème de l’Afrique, c’est qu’elle vit trop le présent dans la nostalgie du paradis perdu de l’enfance“ (etc.) (Sarkozy 2007b). Wenig überraschend wird dieser Auftritt auch von der innerfranzösischen politischen Konkurrenz instrumentalisiert. Am 6. April 2009 präsentiert Ségolène Royal, selbst in Dakar geborene Antagonistin Sarkozys bei der Präsidentschaftswahl 2007, ihren eigenen ‚discours de Dakar‘, in dessen Rahmen sie sich bei ihrem Publikum im Namen Frankreichs entschuldigt: „Quelqu’un est venu ici vous dire que ‚l’Homme africain n’est pas entré dans l’histoire‘. Pardon, pardon pour ces paroles humiliantes et qui n’auraient jamais dû être prononcées et […] qui n’engagent ni la France, ni les Français […] Car bien évidemment, vous avez fait l’histoire et vous continuez à la faire et vous l’avez faite bien avant la colonisation, pendant, avant et depuis. Et c’est avec vous, que nous devons construire notre avenir“ (zit. nach „Ségolène Royal demande ‚pardon‘ pour le ‚discours de Dakar‘ de Nicolas Sarkozy“ [Le Monde/ AFP, 06.04.2009]). Bereits am 17. September 2008 verteidigt der damalige senegalesische Präsident Abdoulaye Wade seinen französischen Kollegen nicht ohne Ironie mit dem Argument, Sarkozy sei in dieser neuen Affäre lediglich „victime de son nègre“ (Correau 2008). Besagter ‚nègre‘ Guaino meldet sich auch selbst öffentlich zu Wort und rechtfertigt sein Elaborat gegen den Vorwurf des neokolonialistischen Paternalismus und des Rassismus, unter Berufung u. a. auf Aimé Césaire - auf dessen „Laissez entrer les peuples noirs sur la grande scène de l’Histoire“ er in La Nuit et le Jour (2012) seine eigene vielkritisierte Formulierung zurückführt (Brigaudeau 2012b) -, aber auch auf Fernand Braudel und Emmanuel Mounier; nachträglich bestätigt er seine kontroverse Grundthese („L’homme africain est entré dans l’histoire et dans le monde, mais pas assez. Pourquoi le nier? “) und weist darauf hin, dass seine bzw. Sarkozys Rede auch in Afrika selbst - so beim südafrikanischen Präsidenten Thabo Mbeki - auf Zustimmung gestoßen sei: „Toute l’Afrique n’a pas rejeté le discours de Dakar“ (Guaino 2008). 289 Mabanckou 2013. <?page no="330"?> 330 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes Sarkozys discours einer parodistisch-dekonstruktiven Lektüre durch ihren Protagonisten Kouhouesso, mit beträchtlichem kulturellem und ökonomischem Kapital ausgestattete schwarze Figur, die die Rhetorik des Sarkozy’schen ‚nègre‘ nach allen Regeln der Kunst demontiert. Ein nächtliches Pariser Taxi verwandelt sich in ein postkoloniales Mini-Theater, mit Kouhouesso als Performer, Solange und dem Chauffeur als Publikum: „Kouhouesso lisait des phrases très fort, et rigolait avec le chauffeur de taxi, qui s’avérait de Brazzaville.“ Es folgt ein ausführliches Zitat aus Sarkozys Rede, diskursanalytisch und auch typografisch durch Kouhouessos spöttische Kommentare interpunktiert („Des phrases en direct du XIX e siècle“, „Des phrases sans charnier. Des phrases sans la moindre petite rapine. Des phrases d’avant Léopold II“). Kouhouesso treibt sein Spiel so lange weiter, dass der zunächst amüsierte Taxifahrer schließlich verstummt und eine irritierte Solange sich ein weiteres Mal fragt: „Est-ce qu’on ne pouvait jamais parler d’autre chose? “ 290 Kouhouessos Heart of Darkness-Filmprojekt jedenfalls gewinnt - wie in anderem Sinne die neueren Princesse de Clèves-Adaptionen - vor diesem politischen Hintergrund eine zusätzliche Bedeutungsdimension, geht es dem Regisseur - von der Autorin unter Verweis auf Wole Soyinka charakterisiert als „un Africain qui veut que l’Afrique raconte ses propres histoires“ 291 - doch wesentlich auch um die Neuaushandlung historisch-kultureller Interpretationshoheit: „[…] il était temps qu’un Africain s’empare de Hollywood. Il était temps de reprendre à l’Amérique l’histoire des peuples.“ 292 In der Konzeption seines fiktiven Films, der sich - wie Christophe Honorés reale Belle Personne, wenn auch in anderem Kontext - nicht zuletzt als ‚Antwort‘ auf Sarkozy und als Hommage an „une Afrique devenant une histoire“ 293 versteht, verarbeitet Darrieussecqs Kouhouesso konkrete Fragmente des ‚discours de Dakar‘; in reflektiertem Anachronismus spielt er mit dem Gedanken, die vieldiskutierte Passage über den „drame de l’Afrique“ (etc.) der Figur seines „directeur de la Colonie“ in den Mund zu legen. 294 In metaleptischer Solidarität mit ihrem Protagonisten spinnt Darrieussecq selbst auf der Meta-Ebene die Sarkozy- Parodie durch ihren Roman fort: So ist das auf Kouhouessos nächtliche Taxi-Performance folgende Kapitel „Le problème de l’Afrique“ betitelt. 295 Diese politische ‚Affäre‘ wird jedoch 290 Darrieussecq 2013b: 178f. 291 Darrieussecq/ V 2013c. 292 Darrieussecq 2013b: 68. 293 Ibid.: 237. 294 Ibid.: 178. 295 Ibid.: 183ff. Später entspinnt sich unter den Figuren nochmals eine kurze Diskussion über die französische politische Situation: Nollywood-Star Favour erklärt unumwunden, im Falle eines Wahlsiegs des Front National „la situation serait claire au moins, la vérité serait dite sur la patrie des Droits de l’Homme, et on pourrait commencer à parler, là“ (ibid.: 277). Auch Sarkozy selbst geistert am Rande weiter durch den Text, so in jener Passage, da Solange sich auf dem Rückflug aus Afrika quer durch die französische Presse liest und dabei in bezeichnendem Kontext auf diesen alten medialen Bekannten trifft: „Le déficit de la Sécurité sociale ne se creusait pas. Nicolas Sarkozy inaugurait à Cherbourg le chantier du sous-marin nucléaire le Terrible (poids 14200 tonnes, longueur 138 m, diamètre 12,5 m, vitesse maximale 25 nœuds). L’or se négociait à 1000 dollars l’once“ (ibid.: 295). Schließlich schreibt Darrieussecq ihren Roman auch auf textexterner Ebene im Sinne ihres feministischen und antidiskriminatorischen Engagements in die politische Aktualität Frankreichs ein: Ihren Prix Médicis widmet sie der damaligen Justizministerin Christiane Taubira, die kurz zuvor öffentlich rassistisch beschimpft worden war (vgl. Darrieussecq 2013c). <?page no="331"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 331 auch mit der Clèver Familiengeschichte der Heldin verwoben, deren „comme Ségolène Royal“ in Dakar geborener Vater - wenngleich selbst gegen das rassistische Stereotyp anderweitig nicht immun - unmissverständlich seine Meinung zu Sarkozys ‚discours‘ formuliert: „Et cet homme qui ne savait pas voir un Noir sans se croire obligé de prendre l’accent Banania, […] cet homme dit ‚quel connard ce Sarkozy‘ quand ils mirent les infos avant de passer à table.“ 296 Vor dem Hintergrund ihrer neuen afrikanischen Erfahrungen und postkolonialen Erkenntnisse kehrt Darrieussecqs neue Princesse an ihren Geburtsort - in ihren Geburtstext - Clèves zurück, liest ihre eigene literarische/ kulturelle Genealogie gegen den Strich. Im Rahmen ihrer Liaison mit Kouhouesso macht sich Solange, mehrfache literarisierte Figur, ‚Eingeborene‘ von Clèves, an die kritische Lektüre eines sie selbst ko-konstituierenden weißen Diskurses, obsessiv auf sein schwarzes Anderes fixiert, dabei unfähig, dieses direkt zu adressieren: „Elle était née où elle était née, dans la peau qui était la sienne, entourée des mots qui l’entouraient. Elle découvrait ça, que sur les Noirs, ce n’est pas exactement que les Blancs n’ont rien à dire (ils n’arrêtent pas, ils n’arrêtaient depuis qu’elle était petite); non, c’est que sur les Noirs, les Blancs n’ont rien à dire aux Noirs. Même répéter, ils ne peuvent pas.“ 297 Il faut beaucoup aimer les hommes illustriert das zumindest latent stets konfliktuelle Aufeinandertreffen zweier völlig unterschiedlicher Geschichten bzw. Traditionen (wobei das Konzept als solches bereits hinterfragt wird: „Elle lui demanda si c’était un conte traditionnel. Traditionnel de quoi? rigola-t-il“ 298 ). In der Begegnung zweier Liebender, die über kein gemeinsames soziokulturelles Erbe verfügen, „dans l’absence de connivence, dans les signes de non-reconnaissance“ 299 wird das vermeintlich Selbstverständliche problematisch; Kouhouesso ist jene Figur radikaler - männlicher, schwarzer, afrikanischer - Alterität, von der aus das - weibliche, weiße, europäische - Ich am eigenen Körper und an jenem des Geliebten eine ganze „lange Geschichte der Bedeutung von Hautfarbe“ 300 dechiffriert. Wie in Clèves dient das polyphone Bewusstsein der Protagonistin in Il faut beaucoup aimer les hommes als interdiskursives Laboratorium, hier um eine interkulturelle Frequenz erweiterter Resonanzraum, in dem das Regime der truismes, die Funktion auch der Literatur als „une grande forge de stéréotypes“ 301 kritisch untersucht wird. Kreist der Vorgängerroman vor allem um diverse Stereotype der ‚Liebe‘, weiblicher Körperlichkeit, weiblicher Sexualität, so scheucht die Liaison zwischen Solange, der blonden Schönheit aus Clèves, und ihrem schwarzen Kavalier auf Schritt und Tritt alle erdenklichen „clichés bienpensants“ 302 auf, einen ganzen Schwarm jener trügerisch harmlosen „petites phrases“ - im konkreten Fall „les phrases sur les Noirs“, „les phrases sur ce qu’on appelle le ‚couple mixte‘“ -, mit deren Dekonstruktion Darrieussecq von Werk zu Werk experimentiert. 303 Immer wieder sieht die Heldin, die - auf den Spuren ihrer Lafayette’schen Vorfahrin - doch eben auf der 296 Darrieussecq 2013b: 186f. 297 Ibid.: 95. 298 Ibid.: 155. 299 Ibid.: 125, vgl. auch 191f. 300 Morrison 1994: 77. 301 Chevillard 2013. 302 Pascaud 2013. 303 Siméone 2013. <?page no="332"?> 332 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes Einzigartigkeit ihrer Person wie ihrer Passion besteht, sich selbst und den Partner auf ein holzschnittartiges Bild des schwarzen Mannes und der weißen Frau reduziert; im Bann des Klischees denken und agieren freilich nicht nur die ‚Anderen‘, sondern unweigerlich auch die beiden Liebenden selbst, ihrerseits „en butte à de petites phrases“, 304 Produkte und Reproduzenten unterschiedlicher Diskurstraditionen. Voller Schuldgefühle leistet Solange Widerstand gegen den inneren Ansturm der lieux communs, „[q]ui lui remontent d’elle ne sait où, du fond bourbeux de son village, loin de Los Angeles mais tapies dans l’occiput - et elle voudrait s’excuser, lui dire nous sommes tous pareils. Elle voudrait s’ouvrir la peau pour lui montrer l’universelle couleur Benetton de son sang“; 305 wie sie widerwillig erkennen muss, ist sie nach wie vor vom Klischee-„bazar“ 306 ihrer Jugend geprägt („À l’époque les Haïtiens, les Héroïnomanes et les Homosexuels était [sic] seuls supposés avoir le sida“ 307 ). Ängstlich fragt sie sich, zwischen allerlei ererbten truismes dahinstolpernd bzw. einem in eine signifikante Metapher gefassten Stereotypen-‚Bombardement‘ aus den tieferen Schichten ihres Bewusstseins ausgesetzt, ob diese oder jene längst inkorporierte ‚Idee‘ - diskursive Sedimentation einer (fast) durch und durch weißen Clèver Vergangenheit 308 - nun ‚rassistisch‘ sei oder nicht: Une autre des idées qui lui vient - est-ce que les Noirs n’ont pas tendance à être en retard? Est-ce que les Africains n’ont pas un rapport au temps disons un peu particulier? Le rayon la troue. Est-ce une pensée raciste? Est-elle sous un bombardement de rayons racistes? Est-ce que Kouhouesso est noir au sens de - est-ce que Kouhouesso c’est les Noirs? Comme elle, elle serait les Basques? 309 In diesem Sinne wird hier die Linie der „romans initiatiques“, in der Darrieussecq sowohl ihren Erstling Truismes als auch Clèves situiert, fortgeschrieben; mit der erwachsenen Solange inszeniert die Autorin neuerlich „un personnage […] qui se débrouille avec les clichés, les stéréo- 304 Ibid. 305 Darrieussecq 2013b: 53. 306 Petit 2012: 6. 307 Darrieussecq 2013b: 80. Von dieser Passage führt eine intratextuelle Spur direkt zurück nach Clèves: Ist es hier Solanges Vater, der seine Tochter über AIDS als Fluch der „gens en H. Les Homosexuels, les Haïtiens, les Hémophiles et les Héroïnomanes“ (2011b: 114) ‚aufklärt‘, so hat sich der rassistische wie homophobe Gemeinplatz in der Erinnerung der erwachsenen Protagonistin in Il faut beaucoup aimer les hommes längst von dieser konkreten biografischen Quelle gelöst; auch an dergleichen Details vollzieht Darrieussecq die diskursive Formation eines Bewusstseins bzw. eines ‚Weltbildes‘ nach. 308 Nicht zufällig zögert Solange lange, gegenüber ihrer besten Freundin Rose - bei aller psychologischen Expertise Produkt der gleichen ‚weißen‘ Welt - das heikle Thema der Hautfarbe ihres neuen Geliebten anzusprechen: „Elle n’a pas envie de lui dire qu’il est noir. […] Rose ne pourrait pas comprendre. Elle émettrait, au pire, un poncif. Même un étonnement serait blessant. […] Dans le village où elles étaient nées, tout le monde était blanc; sauf - quand elle y pense - Monsieur Kudeshayan, l’épicier. Qui n’était pas exactement noir: […] il était du Pakistan ou quelque part par là. On ne les dit pas noirs, ces Noirs-là. Bizarrement“ (Darrieussecq 2013b: 62). Im Schatten dieser verlegen eskamotierten Information verliert die Konversation zwischen den beiden (ehemaligen? ) „princesses de Clèves“ (2011b: 29) freilich ihre Unschuld, wird die Problematik eines auch via Idiomatik institutionalisierten, in sprachlichen Klischeeformeln sedimentierten Rassismus sichtbar: „Rose sur Skype lui expliqua que c’était très mauvais signe, un homme qui ne vous invite jamais chez lui. Il y avait quoi, là-dedans? Une autre femme? Plusieurs autres femmes? Sept femmes égorgées? Des chaussettes sales? ‚Un bazar noir‘? Solange n’avait toujours pas évoqué la couleur de Kouhouesso, ni dit son nom; mais il fallait croire que des ondes télépathes circulaient sur le réseau“ (2013b: 83). 309 Ibid.: 63. <?page no="333"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 333 types, avec les pensées prémâchées, quoi, et qui essaie de penser par soi-même…“. 310 Die amouröse Begegnung gerät derart zur kritischen Inspektion der jeweiligen ‚Klischeekoffer‘: Darrieussecq charakterisiert ihre Protagonisten als „des gens qui - qui débarquent avec une valise - de leurs petites idées, puis sont obligés d’ouvrir la valise, de voir ce qu’il y a dedans, de mettre d’autres phrases dans la valise, voilà, de… d’apprendre quasiment à parler“. 311 Während Solange ihren eigenen ‚Koffer‘ voller Clèver idées reçues aus- und umpackt, sieht sie sich selbst - so bei der ersten Begegnung mit Kouhouessos gleichfalls schwarzem Mitbewohner - auf ein stereotypes Bild weißer weiblicher francité reduziert: „Jessie jetait des coups d’œil égrillards à son pote. Elle souriait, pudique. Intimidée, non par ce type, mais par le silence de Kouhouesso, qui regardait ailleurs. Était-il contrarié d’être vu avec elle? Ou avec une Blanche? Elle écarta l’idée comme une mouche.“ Mit dem Kommentar „toutes les filles boivent du thé vert“ bietet Jessie ihr ebendieses Getränk an - und erzählt spöttisch die Geschichte seiner desaströsen Liaison mit seiner letzten französischen „petite chérie“ („J’ai dit à Kou’ […] ne sors jamais avec une Française. La dernière fois que je suis sorti avec une Française […]“). 312 Aber auch im Zwiegespräch mit dem Geliebten wird die Protagonistin von dem unbehaglichen Verdacht heimgesucht, dass sie hier weniger als Individuum Solange denn als Sprachrohr der „Blancs“ wahrgenommen wird: „Est-ce qu’elle était les Blancs? Ce rayon-là lui transperça la poitrine. Est-ce qu’il la voyait comme une Blanche? Est-ce que - pire - il était là parce qu’elle était blanche? “ 313 „C’est l’histoire d’une femme qui apprend qu’elle est blanche en vivant une histoire d’amour avec un Noir“, resümiert Darrieussecq. 314 Minutiös vollzieht sie die allmähliche Transformation der Wahrnehmung ihrer Heldin, die Reorganisation ihres soziokulturellen Koordinatensystems (bzw. ihres mentalen ‚Koffers‘) nach: Nach der ersten gemeinsamen Nacht mit Kouhouesso registriert Solange zum ersten Mal bewusst die schwarze Hautfarbe ihres Concierge sowie die Tatsache, dass sonst kein einziger Schwarzer in ihrer luxuriösen Residenz, ja im ganzen Viertel lebt - und stellt sich auch die heikle Frage nach der adäquaten Bezeichnung der ethnokulturellen Identität ihres Geliebten: „‚De couleur‘, c’est ridicule.“ 315 Kurz darauf kann sie der Versuchung nicht widerstehen, ihrer Visagistin und Vertrauten Olga 310 Darrieussecq/ V 2013b. Explizit stellt Darrieussecq in diesem Zusammenhang auch den Konnex zwischen Truismes - „l’histoire d’une femme qui s’est débarrassée des phrases toutes faites et qui a accédé à sa propre voix“ - und Il faut beaucoup aimer les hommes her: „Je crois que je continue toujours à faire ça“ (Siméone 2013). 311 Ibid. Vor dem Hintergrund der in Darrieussecqs paratextuellem Diskurs zum Roman rekurrenten Metapher der ‚valise‘ voller ‚petites idées‘ und ‚petites phrases‘ entfaltet auch eine auf den ersten Blick unauffällige kleine Szene in Il faut beaucoup aimer les hommes eine parodistische Zusatzdimension: Frisch in Afrika gelandet, macht sich Solange an eine erste Exploration dieses ‚unbekannten Kontinents‘, der ihrem medial präfabrizierten Bilderrepertoire so gar nicht entspricht; kaum hat sie den Flughafen - international-exterritoriale (relative) Komfortzone - verlassen, bricht ein Rad an ihrem konkreten Koffer ab. „[…] c’était de toute façon peu commode de traîner cette valisette“, konstatiert sie, versteckt „l’engin sous des feuilles dont elle apprendrait plus tard qu’on les nomme ‚oreilles d’éléphant‘“ - und wandert eine Weile kofferlos (und einigermaßen desorientiert) durch eine ihr unbekannte Welt (2013b: 205). 312 Ibid.: 86. 313 Ibid.: 68. 314 Aeschimann 2013. 315 Darrieussecq 2013b: 43. „C’est quoi, un Noir? Et d’abord, c’est de quelle couleur? “, zitiert Darrieussecq (V 2013c) in diesem Kontext Jean Genet (vgl. auch Petit 2012: 3). <?page no="334"?> 334 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes von ihrer neuen Liaison zu erzählen: „‚He is black.‘ Il est noir. […] ‚Il est noir, elle répète, he is a black man.‘ Pourquoi a-t-elle besoin de lui signaler ça, quel rapport avec l’histoire? “ 316 Sofort wird der Protagonistin ihr potentieller Fauxpas bewusst, ist doch auch die Asiatin Olga mit ihrer „belle tête de Hun“ in dieser ihrer ‚weißen‘ Welt markiert (ebenso wie deren Kollegin Natsumi, potentielle alternative „confidente“: „Non. Natsumi est jaune elle aussi. Elle a la peau très blanche mais elle n’est pas blanche […]“). Olga freilich reagiert ihrerseits mit der denkbar klischeehaften Rückfrage „‚Did he have a big one? ‘ […] S’il en avait une grosse.“ 317 Nachträglich wird auch die Erinnerung einer damals noch ‚farbenblinden‘ Solange („Elle était blanche et elle ne le savait pas“ 318 ) an einen früheren, ebenfalls schwarzen Geliebten recodiert („[…] elle n’avait pas vu qu’il était noir“ 319 ). Am Strand von Poco-Beach entfaltet sich unter den Augen Solanges ein interkulturelles Farben-Panorama, von der zu ihrer Empörung in Afrika allerorts als ‚Chinesin‘ adressierten Uigurin Olga, die, um ihren hellen Teint besorgt, sorgfältig die Sonne meidet, 320 bis zum schwarzen Make-up-Artisten ‚Welcome‘, der mit „sa peau de pauvre qui voulait être blanc“ 321 im Badeslip seinen Patchwork-Körper zur Schau stellt, extravagantes Hybridprodukt einer von weiß-okzidentalen Schönheitsnormen dominierten kosmopolitischen Welt: „[…] beau mais bizarre. De loin ça sautait aux yeux: contrairement à la majorité des êtres humains, il avait le visage plus clair que le reste du corps. Il était bicolore. Les crèmes à décaper le teint. Un faux air de Michael Jackson.“ 322 „[…] à parler sans cesse Congo et Conrad, forcément on a toujours la couleur en tête“: 323 Knapp dreieinhalb Jahrhunderte nach der Publikation der Princesse konstatiert Darrieussecqs Protagonistin mit ihrem mittlerweile postkolonial sensibilisierten Blick überrascht, dass auch sie als blonde weiße Frau eine - erst im Kontrast sichtbare bzw. ‚sprechende‘ 324 und ihrerseits durchaus politische - Farbe besitzt; 325 auch für diese paradoxe (Nicht-)Farbe der Heldin aus Clèves gilt es allerdings erst eine adäquate Bezeichnung zu finden: „[…] enfin comment 316 Darrieussecq 2013b: 52. 317 Ibid.: 53f. Englische Phrasen werden hier - im Gegensatz etwa zum Roman Bref séjour chez les vivants, der die polyglotte Polyphonie auf die Spitze treibt (und in der englischen Übersetzung eigens mit die Lektüre erleichternden Zusatz-Markern ausgestattet wurde; vgl. Terrasse 2007: 262f.) - den ganzen Text hindurch quasi systematisch auf Französisch gedoppelt. Über das Moment pragmatischer Rücksichtnahme auf ein französisches Lesepublikum hinaus eröffnen diese Doubletten, narratologisch betrachtet, vor allem auch einen Einblick in das doppelsprachige Bewusstsein der Protagonistin, die selbst immer wieder mit der Übersetzung ihrer Erlebnisse, dieses oder jenes amourösen Diskursfragments („I want to stay inside you for ever. Comment dirait-on une phrase pareille en français? Je veux rester à l’intérieur de toi pour toujours? “; Darrieussecq 2013b: 48), dieser oder jener Klischeeformel in die jeweils andere Sprache experimentiert. 318 Ibid.: 50; vgl. auch die Variation über diesen Schlüsselsatz in Darrieussecq/ V 2013c. 319 Darrieussecq 2013b: 171. 320 Vgl. ibid.: 290. 321 Ibid.: 301. 322 Ibid.: 290. 323 Ibid.: 171. 324 „Das Weiß allein ist stumm, bedeutungslos […]“, wie Morrison in ihrer Analyse eines ‚kolonialen‘ literarischen Corpus konstatiert (1994: 89). 325 Nur momentan gelingt es Solange, die intimen Farbenspiele ihrer Liaison auf eine ‚amüsante‘, rein ‚dekorative‘, ja kulinarische Differenz zu reduzieren: „[…] et elle était si blanche et lui si noir que ça la faisait rire, c’était charmant, appétissant, quasi pâtissier […] et on avait envie de recommencer juste pour ça, pour vérifier encore qu’ici c’est moi et là c’est toi et que nous pouvons nous trouver et jouir de ça, précisément ça, la différence décorative, inventée exprès pour faire joli“ (Darrieussecq 2013b: 74). <?page no="335"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 335 fallait-il dire: rose chair-de-blanche? “ 326 Zum ersten Mal nimmt Solange auch die ethnische ‚Färbung‘ anderer okzidentaler, in ihrer Attraktivität zertifizierter Ikonen („Il y a des femmes qui le trouvent beau, Damon. Elle le trouve blanc“ 327 ) und - so bei der Landung in Roissy nach ihrem Rückflug aus Afrika - die überwältigende, in ironischer Imitation eines ‚afrikanischen‘ Diskurses artikulierte Omnipräsenz weißer Gesichter und Körper wahr: „[…] l’innombrable présence des Blancs la surprit. Des peaux molles, rosées, piquetées, des poulets plumés qui auraient marché sérieux-sérieux.“ 328 An diesem Punkt kehrt die Protagonistin - nicht zum ersten Mal im Roman - temporär nach Clèves zurück („[…] elle ira se ressourcer comme on dit, auprès de son fils et ses parents“ 329 ). Trotz aller Ambivalenz ihrer Herkunft gegenüber fungiert ‚Clèves‘ für Solange trotz allem als möglicher Rückhalt (resp. klassischer Back-up-Text); während sie verloren neben einem indifferenten Kouhouesso samt erschöpftem Filmteam durch den afrikanischen Dschungel wandert, klammert sie sich an diverse Erinnerungsfragmente ihrer Clèver Vergangenheit: „Elle chercha quelque chose à désirer, quelque chose pour elle, autre que Kouhouesso. […] Un souvenir d’enfance d’où se rembobiner. Les après-midi à Clèves, l’été, l’ennui. Les kermesses et les éléphants, oui, ils étaient là les éléphants. […] Dans ce passé séparé d’elle par la forêt.“ 330 Bereits zuvor verbringt Solange im Rahmen einer surrealen ‚Winterreise‘ das Weihnachtsfest bei ihrer Familie: Ratlos sitzt sie in ihrem ehemaligen Kinderzimmer, groteskes Mini-Museum, in dem sie einsam und betrunken mit Playmobil-Figuren spielt (auch diese „tous blancs“, wie sie verspätet feststellt) und in ihrem amourösen Elend sehnsüchtig an das ferne Hollywood „[à] des galaxies d’ici“ denkt. 331 Der gleichfalls nach Clèves eingeladene Kouhouesso hat sie ein weiteres Mal im Stich gelassen; eben in dem Moment, da Solange in ihrer Tasche nach den Schlüsseln zu ihrer Pariser Wohnung sucht - „Elle ne trouvait pas les clefs. […] Les clefs avaient glissé dans la doublure du sac“: 332 wiederum klingt hier die Assoziation clef(s)-Clèves, doppelter Schlüssel, mit - teilt Kouhouesso ihr nonchalant mit, dass sie doch allein an ihren Geburtsort reisen müsse: „Elle avait préparé le terrain pour Kouhouesso; elle avait dit son nom. Tout ça pour ça.“ 333 Schon lange träumt Solange davon, Kouhouesso in die Geheimnisse und Geschichten ihrer Herkunft („Elle voudrait lui parler d’où elle vient“ 334 ), in ihre Welt - und sei es fürs Erste nur das Restaurant „Le Basque“ - einzuführen; der höchst symbolträchtige - und symbolträchtig scheiternde - Versuch, ihren schwarzen Geliebten endlich nach ‚Clèves‘ mitzunehmen, besitzt eine unüberlesbare poetologische Dimension: Hier wird gleichsam auf diegetischer Ebene das Projekt einer postkolonialen Recodierung des klassischen Text-Raums 326 Ibid.: 70. 327 Ibid.: 51. 328 Ibid.: 295. 329 Ibid. 330 Ibid.: 269. 331 Ibid.: 188f. 332 Ibid.: 183. 333 Ibid.: 186. 334 Ibid.: 63. <?page no="336"?> 336 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes reflektiert, indirekt auch die Frage nach Dynamik und (Miss-)Erfolg des eigenen literarischen Crossovers aufgeworfen. 335 Auch wenn Kouhouesso nie in Clèves ankommt, so stiftet doch die bloße Ankündigung seines Besuchs bereits einige Unruhe in einem provinziellen familiären Mikrokosmos, Testfeld multikultureller Toleranz: „Sa mère insista pour voir la tête du fiancé-qui-n’est-pas-venu. […] Elle montra une photo de Kouhouesso. ‚Solange nous a toujours sorti de ces numéros! ‘ dit sa mère, et son père fit le cannibale: ‚J’espèrrrre qu’il ne va pas te maaaanger.‘“ 336 Kurz darauf trifft anstelle des leibhaftigen Geliebten immerhin ein Weihnachtspaket voller Kolanüsse ein, potentielle vielschichtige „métaphore“ (mit zweideutigem Begleittext: „Ciao ma belle“), über deren korrekte Interpretation Solange sich stundenlang den Kopf zerbricht: „Si elle l’entendait avec sa voix, c’était tendre, aimablement macho. Si elle ne faisait que le lire, à plat, c’était un adieu. Est-ce que l’envoi des noix était une métaphore? Elle devenait folle.“ 337 Der Protagonist, der im letzten Augenblick die Nostalgiereise in die Heimat seiner ‚princesse de Clèves‘ verweigert, ist freilich in Sachen Frankreich (samt klassischer Literatur) ein mehrfach gebranntes Kind. Am Beispiel Kouhouesso wird hier auf den Spuren Frantz Fanons die Geschichte einer ‚schwarzen‘ Bewusstwerdung skizziert, angefangen mit der Hyper-Identifikation des Jugendlichen, der Frankreich, seine Sprache und seine Literatur - dies, etablierter Topos, in Gestalt einer Lehrerin - leidenschaftlich liebt, sich von seiner Wahlheimat, einer in ihrer allegorischen Weiblichkeit aktualisierten „France“, allerdings verschmäht sieht („Il avait voulu devenir français, sa demande avait été rejetée“) und aus „dépit amoureux“ die kanadische Staatsbürgerschaft erwirbt. 338 Vor diesem Hintergrund entfaltet sich Jahre später seine Liaison mit der Französin Solange in all ihrer Ambivalenz: Obwohl persönlich unschuldig, fungiert die Heldin auch als Repräsentantin jenes (ex-) kolonialistischen und alltagsrassistischen Frankreich, das den jungen, seiner Selbstwahrnehmung nach durch und durch französischen schwarzen Künstler damals nicht als seinesgleichen akzeptieren wollte; an Solange als symbolischer Inkarnation ihres Landes, Nachfahrin der Princesse de Clèves, die er kompensatorisch psycho-terrorisiert, schließlich unzeremoniös verlässt und aus seinem eigenen Meisterwerk eliminiert, nimmt der enttäuschte Liebhaber Frankreichs und der französischen Literatur nur allzu offensichtlich auch stellvertretende Rache. „Qu’ils le veuillent ou non, fais quoi fais quoi, ils héritaient de siècles de mains coupées, de coups de fouet et de déportation“: 339 Dieses komplexe Ineinander amouröser und interkultureller Missverständnisse wird im Rahmen eines gemeinsamen Paris-Trips besonders deutlich; hier vollzieht sich zugleich eine latent konfliktuelle Neuaushandlung des jeweiligen kulturellen Erbes, der französischen Metropolwie Kolonialvergangenheit: „Elle, elle tendit le doigt vers le Génie de la Liberté, sur la Colonne: il brandissait des chaînes, des chaînes 335 Im Interview berichtet Darrieussecq (V 2013b) von ihrer ursprünglichen Intention, diese konfliktuelle „histoire d’amour entre un homme noir et une femme blanche“ direkt in Clèves, „au village, carrément au village“, anzusiedeln. Sie verzichtet zwar schließlich auf diese Option (und damit auf ein eventuell allzu simples interkulturelles Aussöhnungs-Szenario? ), betont jedoch die Bedeutung der - wenngleich kurzen - Rückkehr Solanges an ihren Geburtsort: „C’était absolument nécessaire pour le roman qu’elle y retourne, brièvement, mais qu’elle y retourne.“ 336 Darrieussecq 2013b: 186. 337 Ibid.: 190. 338 Ibid.: 163f. 339 Ibid.: 173. <?page no="337"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 337 rompues. Il la traita d’idéaliste […].“ Solange wünscht die Goutte d’Or zu besuchen, doch Kouhouesso „n’avait aucune envie des quartiers africains, aucun goût pour cet exotisme, ni ndolè ni poulet-arachide“; er besteht vielmehr auch in kulinarischer Hinsicht auf einer geradezu karikaturalen Hyper-franco-francité: „[…] il voulait du foie gras et de la confiture de figues, des huîtres, des bulots, une sole grillée et du pouilly-fuissé.“ 340 Als Solange in einem Moment des Zorns den Impuls verspürt, Kouhouesso seinen Pass zu stehlen („[…] il ne s’échapperait plus, c’était une garantie“), legt sie das Dokument sofort wieder an seinen Platz zurück, wechselt von der Rolle der wütenden Geliebten in jene der schuldbewussten Erbin der französischen Kolonialmacht: „Voler ses papiers à un Noir, on pouvait difficilement faire plus dégueulasse.“ 341 Nicht zufällig manifestieren sich ihre Gewissensbisse wiederholt im Zusammenhang mit diversen mehr oder minder offiziellen Schriftstücken - neben jenem Pass etwa auch ein in letzter Minute zu exorbitantem Preis für Kouhouesso erworbenes Flugticket, das Solange auf dessen Verlangen in einen „billet open“ verwandelt. Unmittelbar von diesem implikationsreichen Stück (E-)Papier erfolgt der assoziative Sprung zu jenen anderen ‚Papieren‘, mit denen beide in ihren so unterschiedlichen Kindheiten lesen gelernt haben: Il avait appris à lire tout seul […] sur les caisses de bières trafiquées par le Libanais. Puis un oncle l’avait aidé à aller chez les Jésuites à Douala. Il avait écumé leur bibliothèque, voilà. 342 Elle aussi avait appris à lire toute seule, dans des Oui Oui. Quel intérêt? Il ne s’était jamais soucié de son enfance à elle - imaginait-il la connaître déjà, l’enfance des filles blanches, l’enfance identique que racontent tous les livres, tous les films? 343 Afrikanisches Scrabble: Il faut beaucoup aimer les hommes als metaliterarischer Roman „Il aime lire. Elle s’enhardit, rit de son vrai rire. ‚Il n’y a rien de plus sexy qu’un homme qui lit.‘ […] Il cite des noms d’auteurs dont elle n’a jamais entendu parler, elle attrape au vol les deux syllabes de Conrad et dégaine des noms français. Il ne rebondit pas.“ 344 Diese Passionsgeschichte ist spätestens auf den zweiten Blick auch eine Lesegeschichte, eine kritische Literaturgeschichte en miniature. Kouhouesso reist zwar nicht nach Clèves, liefert aber im Rahmen einer - in einer analeptischen Passage evozierten - Performance als Hamlet (und nicht etwa als Othello) auf einer Pariser Bühne eine postkoloniale Re-Interpretation eines Klassikers des großen, ja größten europäischen Kanons ab. 345 Solange ihrerseits erarbeitet sich im Zuge ihrer Liaison ein ihr völlig neues afrikanisches Corpus. Ihr ‚Afrika‘ stellt sich zunächst als diskursives Puzzle dar, metaphorisches Scrabble-Spiel, (inter-)textualisiertes Abenteuer, irritierend ‚andere‘ Welt, an der die Sprache selbst nicht recht haften will: „Le 340 Ibid.: 169f. 341 Ibid.: 184. 342 Zufall oder auch (eher) nicht: Erneut findet sich in diesem Resümee der persönlichen Lese- und Literaturgeschichte ihres schwarzen Protagonisten das polysemische Schlüsselwort écumer, auf das Darrieussecq wiederholt zur Charakteristik ihres hypertextuellen Prozederes in Clèves rekurriert. 343 Ibid.: 192. 344 Ibid.: 26. 345 Vgl. ibid.: 111. <?page no="338"?> 338 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes mot forêt lui-même était inefficace.“ 346 Bastelt sich die adoleszente Solange in Clèves aus allerlei disparaten Diskursfragmenten tentativ - und mit oft beträchtlichem humoristischem Effekt - ihre Sprache der Liebe und der Sexualität zusammen, so setzt die erwachsene Protagonistin anlässlich ihrer afrikanischen Reise - immer wieder sprachlos in einer fremden Umgebung voller unverständlicher „patois“, Ort babylonischer Konfusion 347 - diesen Initiationsprozess fort: „Elle apprenait des mots. Il y avait beaucoup d’arbres sans mots, qui poussaient loin de la langue française: […].“ 348 Ihrer Poetik des anti-truisme treu, lässt Darrieussecq ihre Heldin auf dem Weg durch ‚Afrika‘ unter Anleitung Kouhouessos so manchen längst eingeebneten Gemeinplatz aufs Neue aufgraben („‚Palabre‘, lui avait-il expliqué un jour, est un mot d’origine espagnole, pas africain du tout; un mot raciste“ 349 ); unübersehbar auch der psychoanalytische Subtext dieser Konfrontation mit einem sich hartnäckig entziehenden, in wirren Zungen sprechenden ‚Es‘: „Ensuite ça parlait en d’autres langues. Il y avait des éclats et des moments comme murmurés.“ 350 Doch parallel zu ihrer metaphorischen Lektüre ‚Afrikas‘ erkundet die ferne Ur-Urenkelin der Lafayette’schen Princesse auch konkrete neue Lesewelten, angefangen mit Aimé Césaire. 351 Die Protagonistin selbst reflektiert schließlich ihre literarische Prägung von einem polyvalenten ‚Clèves‘ her, ihren beschränkten kulturellen Horizont, ja ihr eigenes ‚Analphabetentum‘ abseits ihrer franko-französischen Schulbildung und späteren Hollywood-Sozialisierung: Doucement elle attrapait un livre. „Et vous fantômes montez bleus de chimie…“ Des années d’école et de profs, à Clèves puis à Bordeaux, et elle n’avait pas lu Césaire, elle n’avait pas lu Senghor; encore moins Achebe ou Soyinka. Les deux derniers elle n’avait même jamais entendu leur nom. Il avait fallu qu’il lui épelle. Elle s’était sentie analphabète. Et elle ne connaissait pas Fanon - elle, la Française? […] Elle lisait à ses côtés, en silence, des heures. 352 Die hier erwähnten Autoren und Texte infiltrieren von Solanges Lesestunden aus subtil Darrieussecqs eigenen Roman; besagtes ‚Literatur‘-Kapitel etwa ist mit einem erst nachträglich identifizierten Césaire-Zitat „Et vous fantômes montez bleus de chimie“ betitelt. 353 Höchst ambivalent bleibt Solanges postkolonialer Entdeckungseifer insofern, als sie sich diesen ihren ‚afrikanischen‘ Lektüren nicht aus abstraktem Erkenntnisinteresse, sondern primär im Rahmen und im Namen ihrer Passion für Kouhouesso hingibt („Voit les films qu’il a vus. […] Lit les livres qu’il a lus“), auf der Suche nach „des indices, des sentiers, le plan du cerveau de Kouhouesso, la forme de sa pensée“, 354 nach einer Fortsetzung ihrer persönlichen Liebesgeschichte: „Elle cherchait des réponses. Elle cherchait le livre qui raconterait leur histoire. Qui lui dirait l’avenir.“ 355 346 Ibid.: 210. 347 Ibid.: 216. 348 Ibid.: 224f. 349 Ibid.: 272. 350 Ibid.: 271. 351 Vgl. ibid.: 11. 352 Ibid.: 78. 353 Ibid.: 77; vgl. Césaire 1980: 59. 354 Darrieussecq 2013b: 201. 355 Ibid.: 78. <?page no="339"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 339 Die blonde Erbin der Princesse, voll postkolonialen Schuldbewusstseins - Kouhouesso spottet ohne Umschweife über ihren „angélisme de gauche“ 356 (womit er auch den Namensspielereien um Solange, „mon seul ange“ etc. in Clèves 357 eine neue parodistische Dimension hinzufügt) -, ist gleichzeitig bereitwillige Komplizin und Erfüllungsgehilfin der „domination masculine“. 358 Während sie sich aus den diskursiven Routinen ihrer Vergangenheit befreit, unterwirft sie sich - mit zutiefst anti-emanzipatorischem Gestus - dem selbstauferlegten Gesetz einer ebenso chimärischen wie pathologischen Passion und der Deutungshoheit des geliebten Mannes, „son expliqueur, son déplieur, son royal agenceur du monde“, 359 mit dessen Augen sie zu lesen, die gelesenen Texte - samt den darin vorkommenden Frauenfiguren - zu beurteilen sich bemüht: „Elle essayait de lire avec son regard à lui, de deviner ce qu’il avait aimé, ici, là. Ce personnage de femme? “ 360 Eindrücklich illustriert Ruth Klüger die Problematik des weiblichen Blicks auf eine ganze lange männlich dominierte, an einen prototypisch maskulinen Rezipienten adressierte Literaturgeschichte, die dem als Frau lesenden Subjekt (unabhängig vom biologischen Geschlecht) implizit stets ein beträchtliches Maß an mentaler Akrobatik abverlangt. 361 Hier versucht eine verliebte weiße Frau, ein alternatives postkoloniales, jedoch wiederum zum allergrößten Teil aus Texten männlicher Autoren bestehendes und eine ‚männliche‘ Rezipientenposition privilegierendes Corpus aus der Perspektive eines schwarzen Mannes zu lesen; der momentane Verlust dieser postkolonial-patriarchalischen Interpretationsprothesen wird in drastischen körperlichen Begriffen erlebt. 362 „À force de penser au Congo“ 363 (und an Kouhouesso) entwickelt sich Solange jedenfalls bald zur Afrika-Spezialistin, deren Expertise in ihrem diesbezüglich ignoranten Milieu für Aufsehen sorgt: „À un dîner elle se surprit à ne rien écouter, jusqu’à l’explosion du mot Kinshasa - les convives ouvrirent de grands yeux sur son savoir congologique. Avaient-ils 356 Ibid.: 94. 357 Darrieussecq 2011b: 132, 292. 358 Vgl. Bourdieu 1998. 359 Darrieussecq 2013b: 239. Noch diverse herablassende Belehrungen werden zu sehnsüchtig erwarteten Momenten der Intimität, flüchtigen Liebesbeweisen: „Son explication du monde, les trois minutes par jour qu’elle parvenait à lui arracher, c’était comme des baisers volés“ (ibid.: 277). Die erotisch aufgeladene weibliche Unterwerfung unter ein längst brüchiges männliches Welt- und Textinterpretationsmonopol inszeniert (und problematisiert) Darrieussecq auch in ihren früheren Werken, angefangen mit Truismes; in Bref séjour chez les vivants wandert die junge Nore eifrig von einem ‚Welterklärer‘ zum nächsten - eine spezielle Rolle spielt ein Literaturprofessor namens Arnold (als dessen romanesker Erbe Arnaud aus Clèves in mancher Hinsicht lesbar ist): „Elle adore l’entendre expliquer - comme Arnold, qui en a fait son métier. […] Il [Nicolas] est idéal. Elle peut imaginer sans peine toute une vie à ses côtés. Il lui expliquerait toutes sortes de choses dans toutes sortes de domaines. Avec Arnold parfois, la sensation est là, mais il faut qu’il s’adresse uniquement à elle: elle l’attrape dans le couloir, c’est ça qui est important, l’attention exclusive; c’est ça qui l’emporte […]“ (2002: 205ff.). 360 Darrieussecq 2013b: 78. 361 Vgl. Klüger 1996. 362 Vgl. Darrieussecq 2013b: 239. 363 Ibid.: 11. Darrieussecqs Protagonist rezitiert hier wiederum eine Passage aus Césaires Cahier d’un retour au pays natal: „[…] à force de penser au Congo / je suis devenu un Congo bruissant de / forêts et de fleuves / où le fouet claque comme un grand étendard […]“ (1980: 75). <?page no="340"?> 340 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes entendu parler d’une nouvelle adaptation de Cœur des ténèbres? La conversation dévia sur Coppola, 364 sa fille, ses vignobles, et elle cessa d’écouter.“ 365 Der zentrale - an der Oberfläche wie in der Tiefenstruktur am stärksten präsente - Intertext des Romans, den Solange auf den Spuren Kouhouessos entdeckt, ist Joseph Conrads Heart of Darkness, ebenso kontroverses wie mittlerweile ‚klassisches‘ Werk, dessen „lange[r] Schatten“, so Homi Bhabha, nach wie vor „auf so viele Texte der postkolonialen Pädagogik“ bzw. überhaupt „auf die Welt der postkolonialen Studien“ fällt. 366 Unter dem Einfluss Kouhouessos - der ihr Auszüge aus Heart of Darkness von seinem Handy-Bildschirm vorliest 367 - und seiner ‚grande idée‘ macht auch Darrieussecqs Protagonistin sich an die Lektüre des Textes, „un roman peuplé de visions, un roman halluciné, paludéen, mystique“, ohne Illusionen hinsichtlich der Realisierbarkeit des darauf basierenden megalomanischen Projekts: „[…] c’était de la folie. À moins de quoi, de numériser la forêt? De louer un studio green key et d’incruster les acteurs sur la jungle? “ 368 Allein das Wort ‚Congo‘ - in der folgenden Passage raffiniert kontrapunktisch mit ‚Conrad‘ und ‚Coppola‘ verwoben - beschwört in den Augen und Ohren der Verantwortlichen der Film-Produktionsfirma vielerlei Schreckgespenster herauf; allenfalls die (Neu-)Erfindung des Kongo im Rahmen eines Studio-Dekors wird für akzeptabel befunden: „En fait, personne ne voulait entendre le mot Congo. Réinventer le Congo: Hollywood était là pour ça, en studio.“ 369 Im Namen einer immer schon brüchigen ‚Authentizität‘ weigert sich Kouhouesso freilich beharrlich, sein Drehbuch zu ‚dekongolisieren‘ 370 - und verteidigt seinen Kino-Kongo gegen den von Solange geäußerten Klischee-Verdacht: „Elle ne l’avait pas lu mais est-ce que ce n’était pas un peu cliché, Cœur des ténèbres? Est-ce que ce n’était pas la tarte à la crème, pour l’Afrique? Il protesta. Ce qui l’intéressait, c’était justement le stéréotype, the ultimate cliché, ce que les Blancs voyaient quand ils pensaient Afrique: l’obscurité et les éléphants.“ 371 364 Darrieussecq (V 2013c) verweist explizit auf Francis Ford Coppolas Apocalypse Now (1979) als wichtigen filmischen ‚Prätext‘ ihres Romans. Zur realen Adaptionsgeschichte von Conrads neunfach verfilmtem Text - neben Coppola unter anderem auch Nicolas Roegs Heart of Darkness (1994) - vgl. den Abschnitt „Adaptations“ in Goonetilleke 2007: 131-136; weiters Dorall 1980; Chatman 1997; Norris 2002. Ausgehend von der intermedialen Konstellation Heart of Darkness - Apocalypse Now wirft J. Hillis Miller die Frage nach der ‚apokalyptischen‘ Dimension von Conrads Text auf, hier dem „genre of the parabolic apocalypse“ zugeordnet (2007: zit. 110). 365 Darrieussecq 2013b: 110. 366 Bhabha 2000: 317ff. Bhabha zitiert hier u. a. Saids Culture and Imperialism (1993), in dem Heart of Darkness als „Bezugspunkt für viele der zentralen Argumente“ fungiert (2000: 317); Said, der seine Dissertation bzw. sein erstes publiziertes Buch eben Joseph Conrad and the Fiction of Autobiography (1966) widmet, reflektiert später auch die „Anxiety of Influence“ (vgl. Bloom 1995), die Conrads Werk bei afrikanischen Autoren wie Ngũgĩ wa Thiong’o oder Tayeb Salih geweckt habe (vgl. Bhabha 2000: 317). 367 Vgl. Darrieussecq 2013b: 71. 368 Ibid.: 82. 369 Ibid.: 123. 370 Ibid.: 126. 371 Ibid.: 68. Die griffige Formel von Heart of Darkness als afrikanischem „roman tarte à la crème“ macht Darrieussecq (V 2013c) sich auch in ihrem paratextuellen Diskurs zu eigen: „L’Afrique: à quoi on pense? On pense à Cœur des ténèbres.“ <?page no="341"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 341 Der Kongo als kinematografischer Sehnsuchtsort Kouhouessos bleibt aus Sicherheits- und Versicherungsgründen schließlich unerreichbar; 372 sein Film wird zwar in Afrika, aber jenseits des Conrad’schen ‚Heart of Darkness‘ gedreht. 373 Afrika selbst scheint seiner mise en scène passiven Widerstand zu leisten: „comme un vapeur qui manque de bois de chauffe“ kommt auch das Filmprojekt („Tout se bloquait […]“) nicht mehr vom Fleck 374 - eine signifikante Metapher, wurde doch zuvor bereits im Spiel mit Conrads Text insbesondere das berüchtigte Porträt des Heizers auf jenem anderen Dampfer dekonstruiert. Unter dem symptomatischen Titel „Tam-tam à Soho House“ schreiten Protagonist Kouhouesso und Hollywood-Star Jessie zur kabarettistischen Lektüre ausgewählter Passagen aus Heart of Darkness; wie bei anderer Gelegenheit Kouhouesso Sarkozys ‚discours de Dakar‘, ist es hier Jessie, schon fix als besagter Heizer gecastet, der Conrads Schilderung der Figur - „deux pages seulement dans le roman, mais sans doute les plus racistes“ - mit doppelter Stimme liest und kommentiert. 375 Die beiden schwarzen Akteure amüsieren sich - im Gegensatz zu ‚König‘ George und Solange, zu etwas betretenen weißen Statisten degradiert - blendend bei dieser improvisierten postkolonialen Performance: „Jessie ne se lassait pas de lire son portrait tout fort dans Soho House: ‚un sauvage utile parce que dégrossi‘, un ‚spécimen amélioré‘, ‚un chien en culottes et chapeau à plumes qui danse sur ses pattes arrière‘! Kouhouesso et lui rigolaient. George et elle contemplaient les poissons. ‚Un putain de chef-d’œuvre raciste! ‘ clamait Jessie.“ 376 In dieser Passage parodistischer (re)lecture-écriture, die quasi das Rewriting-Projekt der Autorin selbst spiegelt, jongliert Darrieussecq auch mit den Konventionen der akademischen Exegese: Es ist Kouhouesso, der mit affichierter Souveränität die Notwendigkeit narrato- und ideologischer Kontextualisierung einfordert, zugleich implizit die klassischen Defensivstrategien der okzidentalen Literaturwissenschaft karikiert - und dabei auch die beiden 372 Mit metaleptischem Humor berichtet Darrieussecq von ihren diesbezüglichen Anfragen bei diversen Produzenten, die ihrem fiktiven Filmprojekt („Cœur des ténèbres au Congo“) sämtlich kategorisch völlige Unrealisierbarkeit attestieren, „pour des tas de raisons techniques“, von der Versorgungslogistik „au milieu de la forêt vierge“ bis hin zur exzessiven Feuchtigkeit, der die Kameras nicht gewachsen seien (ibid.). 373 Vgl. Darrieussecq 2013b: 275. 374 Ibid.: 123. 375 Ibid.: 117f. Eben Jessie, parodistischer Leser der Conrad’schen „nouvelle ‚fiction of Empire‘“ (Moura 1998: 60), dient im Text wiederholt als Impulsgeber metalinguistischer Reflexionen. So wird aus der Perspektive Solanges, intuitive Expertin in Sachen „bathmologie“ (bei Barthes konzipiert als „science des degrés de discours […] qui aurait pour objet les échelonnements de langage, les dénivelées de sens selon les chicanes de l’énonciation: le guillemet, le guillemet de guillemet, ad libitum. Au plaisir: guillemets et italiques sont des plaisirs du texte, des friandises ou des souvenirs“; Compagnon 1979: 41f.), Jessies exzessiver Hang zum inflationär entwerteten second degré kritisiert: „Au goût de Solange, il abusait des interrogatives. Et quand il ajoutait avec les doigts le petit signe des guillemets, elle plissait les yeux de douleur. ‚Est-ce que tu ne crois pas que la présence physique est l’essentiel? On ne parle pas à quelqu’un de la même façon en présence de son corps, et en absence de son corps. […] tu parles en priorité à la personne présente, au plein sens du terme…‘ Il était très prosélyte; et il lui enseignait entre autres le sens du mot prosélyte“ (Darrieussecq 2013b: 121f.). In ihrer Einsamkeit von Malibu vermisst Solange freilich sogar Jessies „prosélytisme bavard“ (ibid.: 135). 376 Ibid.: 117. Tatsächlich findet sich in besagter Passage - einer der meistkommentierten des Textes - eine extrem dichte Konzentration von Topoi des kolonialistischen Diskurses; aus Marlows Sicht entwirft Conrad unter metaphorischer Animalisierung des ‚Anderen‘ das Bild eines oberflächlich domestizierten ‚Wilden‘ im Kostüm der Zivilisation (2000: 63f.; vgl. dazu auch Goonetilleke 2007: 23f.). <?page no="342"?> 342 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes stummen Gäste dieser ambivalenten Mini-Show, das erdrückende Gewicht einer langen Kolonialgeschichte auf ihren weißen Schultern, nicht aus dem Spiel lässt („Kouhouesso, pédagogue et magnanime, parlait époque et narration: le point de vue de Marlow sur les nègres, alors que George ou Solange aujourd’hui…“), 377 während der bereits hinreichend betrunkene Jessie sich rundheraus der damit einhergehenden Entschärfung des Conrad’schen Textes verweigert („‚Un putain de chef-d’œuvre de racisme! ‘ répétait Jessie“) 378 und das seit Beginn ihrer Liaison mit Kouhouesso in ihrem Leben plötzlich allgegenwärtige Wort „nègre“ schmerzhaft „comme une cloche“ in Solanges migränösem Kopf widerhallt. 379 Aus der Perspektive Solanges, deren Bewusstsein erneut als sensibler Resonanzraum fungiert, wird die Situiertheit jeglicher Lektüre, die inhärente, kontext- und sprecherabhängige Polyphonie jeglichen Diskurses reflektiert: „Par un phénomène qui tenait au temps et à l’espace, à l’Histoire et aux lieux, à la violence, par un phénomène qui n’avait rien de magique mais qu’elle voyait distordre l’espace entre eux, les phrases dites par lui devenaient d’autres phrases dans sa bouche. Mot pour mot, les mêmes phrases prenaient un sens qu’elle ne voulait pas.“ 380 377 Darrieussecq 2013b: 117. Wenig später ist es in anderem Kontext Kouhouesso selbst, der - unter Rekurs auf dieselbe Formulierung - über den allgegenwärtigen ‚Rassismus‘ der Hollywood-Industrie schimpft: „[…] encore une putain de légende de Hollywood ou un putain de jeune producteur […]“ (ibid.: 133f.). 378 Ibid.: 117f. Jessies salopper Kommentar verweist auf eine ganze Tradition der kritischen Auseinandersetzung mit Conrad aus selbstbewusst afrikanischer Perspektive. So verurteilt Chinua Achebe - in Il faut beaucoup aimer les hommes einer jener Autoren, die Solange unter der Anleitung Kouhouessos für sich entdeckt (vgl. ibid.: 78) - Conrad als „a thoroughgoing racist“ mit einer regelrechten „fixation on blackness“, seinen Text als „a story in which the very humanity of black people is called in question“: „Can nobody see the preposterous and perverse arrogance in thus reducing Africa to the role of props for the break-up of one petty European mind? “ (Achebe 1977). Noch im Jahr 2003 bestätigt Achebe, „the father of African literature in the English language“, ausdrücklich seine Conrad-Kritik (Phillips 2003). Said befindet seinerseits, letztere ginge „not […] far enough“ (1993: 200, zit. nach Goonetilleke 2007: 18); zur signifikant verzögerten Rezeption von Achebes Attacke in der Conrad-Forschung vgl. ibid.: 60ff. Dieses kulturpolitisch zu situierende Verdammungsurteil wird freilich Conrads Werk mit all seinen „ideologischen Ambivalenzen“ (Bhabha 2000: 157) kaum gerecht, haben wir es hier doch mit einem Text zu tun, der Ian Watt zufolge „more thoroughly than any previous fiction the posture of uncertainty and doubt“ umsetzt (zit. nach Hampson 2000: XXVI). Dem Rassismus-Verdikt Achebes, der mit seinem Roman Things Fall Apart (1958) - von Darrieussecq in einem Interview nach dem Erscheinen von Il faut beaucoup aimer les hommes als eigene „trouvaille récente“ speziell empfohlen (Grosjean 2015) - auch belletristisch auf Conrad reagiert, hält Hampson - exaktes Äquivalent zu Kouhouessos doppelbödiger Argumentation bei Darrieussecq - das Gebot narratologischer und literar-/ kulturhistorischer Kontextualisierung entgegen: „Marlow is a fictional character whose consciousness operates according to contemporary codes and categories. If Marlow’s perceptions are at times racist, it is because those codes and conventions were racist“ (2000: XXXI). Aus der Sicht des okzidentalen Literaturwissenschaftlers rehabilitiert Hampson den Text als „clearly critical of colonization“, präsentiere der Autor doch „the Africans as the innocent victims of European greed and will-to-power“; allerdings räumt auch er ein, dass die ‚metaphysische‘ Ebene, eine ganze „imagery of darkness“, die das ‚Böse‘ systematisch „with the categories used in anthropological descriptions of ‚primitive‘ peoples“ assoziiert (ibid.: XXXIV), zu dieser Lesart in partiellem Widerspruch stehen. „It seems to me that Conrad, in colonial times, pointed to, even anticipated, post-colonialism but that it is unfair to expect Conrad, in his time, to be fully post-colonial“, schließt Goonetilleke sich dieser Verteidigung an (2007: 60). 379 Darrieussecq 2013b: 118. 380 Ibid.: 94. <?page no="343"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 343 „Tout le monde est innocent, et tout le monde est coupable“: Konfigurationen von Gender und Postkolonialität „Même s’ils sont très différents l’un de l’autre, ils ont des choses à se dire par rapport à cet universel de l’homme blanc: consciemment ou pas, ils s’y connaissent en faits de domination. Làdessus, il y a quand même une rencontre“, 381 betont Darrieussecq freilich auch die Parallelen zwischen den so ungleichen Protagonisten einer konfliktuellen Liebesgeschichte, die ganz im Zeichen der punktuellen Überlagerung und Interferenz unterschiedlicher Formen der domination steht. Zwischen zunächst unhinterfragtem Okzidentalo-/ Leukozentrismus der (Anti-)Heldin und männlichem Chauvinismus des (Anti-)Helden erscheinen die Figuren in ambivalente Machtverhältnisse verstrickt, in denen in letzter Instanz niemand - die ‚weiße Frau‘ ebenso wenig wie der ‚schwarze Mann‘ - (un-)schuldig ist („Tout le monde est innocent, et tout le monde est coupable“, bemerkt Alain Niderst über den Text Lafayettes 382 ). Parallel zur postkolonialen Bewusstseinsbildung Solanges vollzieht sich ihre Selbstauslieferung an eine Passion, die hier ein weiteres Mal mit an Lafayette gemahnender profunder Skepsis als soziokulturelle Konditionierung zur ‚Weiblichkeit‘, aber auch als radikale „acosmie“ 383 - geradezu aggressive Indifferenz gegenüber allem, was nicht die Liebe und der Geliebte ist - problematisiert wird. 384 Der gesellschaftspolitisch engagierte Künstler wiederum legt nicht nur seiner Gefährtin gegenüber ein naiv chauvinistisches, prononciert egoistisches Verhalten an den Tag (nur ausnahmsweise rebelliert die unterwürfig verliebte Frau gegen sein provokant affichiertes Desinteresse an ihrer Person: „[…] il pouvait peut-être s’intéresser deux minutes à ses dadas à elle? Ou était-ce une incapacité congénitale à écouter ce qu’elle avait à dire? “ 385 ); seine postkoloniale ‚Mission‘ - selbst aus der Sicht Solanges mit einiger Ironie wahrgenommen („[…] elle crut qu’il allait encore l’évangéliser avec le Congo mais non“ 386 ) - bleibt ihrerseits von unaufgelöster Ambivalenz zwischen authentischer Rebellion im Namen jener „Grande Idée“ („une idée très politique […] cette idée qui traverse cet homme, et qui le fait plus grand qu’il n’est, en fait“ 387 ) und sorgfältig inszenierter Selbstglorifikation. Zwar würdigt auch Solange „quelque chose de militant“ in der Tatsache, dass Kouhouesso sich weigert, seinen ‚komplizierten‘ afrikanischen Namen - in einem US-amerikanischen Kontext sprachlicher Stolperstein und Karrierehindernis - aufzugeben. 388 De facto ist es neben seiner Hautfarbe allerdings nur mehr dieser Name, der Kouhouesso als Sprachrohr 381 Kaprièlian 2013. 382 Niderst 1973: 133. 383 Plastisch illustriert Darrieussecqs ohne Rücksicht auf Verluste liebende Protagonistin Finkielkrauts „Critique du sentiment amoureux“ (2013b: 268): „Il y a dans l’amour une acosmie vertigineuse, un oubli du monde qui a quelque chose d’idiot et qui, dans certaines circonstances, peut verser dans l’immonde. Tout pouvoir a besoin de contre-pouvoir - on le sait depuis Montesquieu -, mais peut-être aussi que tout amour a besoin de contre-amour.“ 384 „Elle est obsédée par lui […] mon sujet, c’est une femme qui est à la poursuite d’un homme. […] C’est une femme qui, au fond, pourrait effacer le monde juste pour vivre son histoire d’amour, quoi“, resümiert Darrieussecq (V 2013c) ihr Psychoporträt einer obsessiven Passion. 385 Darrieussecq 2013b: 165. 386 Ibid.: 73. 387 Darrieussecq/ V 2013c. 388 Darrieussecq 2013b: 12. <?page no="344"?> 344 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes postkolonialer Agenden prekär autorisiert, als kinematografischen Advokaten eines Afrika bzw. ‚Afrika‘, das er selbst längst nur mehr aus recht bequemer Außenperspektive kennt: „Pour lui aussi c’était l’inconnu; pour lui aussi l’Afrique: […]“ („Kouhouesso au Congo“, scherzt Solange; „[u]n bon antidote à Tintin“). 389 Kouhouesso nützt sein als ‚Exot‘ in Hollywood erworbenes ökonomisches und symbolisches Kapital, um sich - mit ‚König‘ George als Komplizen - als geborener Afrikaner eines kanonischen europäischen Textes zu ‚bemächtigen‘, 390 jene ‚andere‘ Welt auf die Leinwand der internationalen Mainstream-Kino-Industrie zu bringen; zugleich besitzt dieser sein „processus de décolonisation par soi-même“ 391 eine ausgeprägte narzisstische Dimension („[…] il serait le premier cinéaste né en Afrique à avoir les moyens qu’il fallait, des moyens importants, des moyens professionnels! “ 392 ) und partizipiert durchaus auch - im Universum des fiktionalen Textes - an jener „cosmopolitan alterity industry“ mit ihrer „commodification of cultural difference“, die Graham Huggan in The Postcolonial Exotic kritisch reflektiert. 393 Dem selbst ernannten Herrscher über dieses „Hollywood sur jungle“ 394 ist eine gewisse Megalomanie nicht fremd: „Le budget dégagé était prodigieux, l’avenir du cinéma était en Afrique.“ 395 Sein postkoloniales Makeba-Projekt konzipiert Kouhouesso - immerhin selbst Teil des Kino-Establishments, zwischen Rivalität, Imitation und Subversion extrem ambivalent gegenüber der großen okzidentalen Filmkultur - nicht nur im Gegensatz zur ‚imperialistischen‘ Hollywood-Industrie, sondern auch zum ‚snobistischen‘ französischen Kino: „Il voulait un film populaire […], pas un film snob, pas un film français.“ 396 Seinem Programm einer ‚afrikanischen‘ kinematografischen Emanzipation eignet unverkennbar ein chauvinistisches Moment männlicher Auto-Affirmation; im Rahmen einer parodistisch-phallischen Phantasie lässt Darrieussecq ihren Protagonisten vom ‚längsten Travelling der Kinogeschichte‘ träumen - an dessen Ende dann doch wieder das exotisierte weibliche Objekt männlicher Schaulust steht: „Lui n’avait que Week-end de Godard à la bouche: le travelling le plus long de l’histoire du cinéma. Il le voulait très lisse et doux, son travelling, aussi fluide que le fleuve lui-même […] au bout du travelling il y aurait Favour, levant les bras vers le ciel.“ 397 389 Ibid.: 154. Ausgehend von der Figur eines „postcolonial Tintin“ (bzw. im imaginären Zwiegespräch mit der Statue seines „African ‚Tintin‘“, Produkt afrikanischer „tourist art“ im Sinne Christopher Steiners) und dem nur vermeintlichen Paradoxon, dass der Held von Hergés „colonialist fictions“, als „1999 European Icon of the Year“ kanonisiert, auch in Afrika Objekt eines regelrechten Kultes ist, reflektiert Huggan in seiner gleichnamigen Studie abschließend die Ambiguität des „Postcolonial Exotic“ (2001: 262ff.): „The language of resistance is entangled, like it or not, in the language of commerce; the anticolonial in the neocolonial; postcolonialism in postcoloniality. What remains […] is to lay bare the workings of commodification; for the postcolonial exotic is both a form of commodity fetishism and a revelation of the process by which ‚exotic‘ commodities are produced, exchanged, consumed; it is both a mode of consumption and an analysis of consumption“ (ibid.: 264) - ebendies zeigt auch das hoch ambivalente Hybrid-Filmprojekt von Darrieussecqs schwarzem (Anti-)Tintin (dann doch nicht) au Congo. 390 Darrieussecq/ V 2013c. 391 Ibid. 392 Darrieussecq 2013b: 105. 393 Huggan 2001: hier zit. 12. 394 Darrieussecq 2013b: 238. 395 Ibid.: 241. 396 Ibid.: 176. 397 Ibid.: 244f. <?page no="345"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 345 Nouvelle Vague au Congo: Vor Ort erwartet der Afrikaner aus Hollywood von den mit unreflektierter Herablassung behandelten Einheimischen, sich nahtlos in sein gewünschtes (Film-)Bild der Conrad’schen Kolonialwelt einzufügen. Zu seinem Ärger muss Kouhouesso - der in eigener Sache auf betont kultivierten Habitus und sprachliche Hyper-Korrektheit setzt - feststellen, dass die autochthonen schwarzen Statisten seine eigene Attitüde unter Abgrenzung gegenüber ihren Anderen teilen: „Les deux cents figurants refusaient d’être filmés nus. […] Même à moitié nus, non: quelle image voulait-on donner de l’homme noir? On les prenait pour des sauvages. Nus c’étaient les Pygmées.“ 398 Doch auch letztere geben sich nicht ohne Weiteres mit der ihnen zugewiesenen inferioren Position in einer hier aufs Neue konfliktuell verhandelten Hierarchie der Zivilisationen zufrieden; zwar entdecken Kouhouesso und sein Team in den klischeehaften Tiefen des afrikanischen Dschungels ein paar Pygmäen-Mädchen und heuern sie unverzüglich als exotische Komparsinnen an, allein: Die jungen Frauen tauchen zum Dreh nicht in der gewünschten ‚authentischen‘ Adjustierung, sondern in ihren besten westlichen (mindestens) Secondhand-Outfits auf. Verdrossen betrachtet der Regisseur seine mit der Kamera flirtenden Pygmäen-Aktricen im David Beckham- Shirt: „Dans l’eau, ça donnait un genre de concours miss Pygmée tee-shirt mouillé. […] C’était nul, inutilisable - et leur incessant regard caméra: impossible.“ 399 Nach Ende der Dreharbeiten schließt sich denn auch rasch wieder der elitäre Kreis einer privilegierten okzidentalen Kinowelt: „Le tournage était fini. Les Africains portaient les yeux sur le lointain. Le regard au large, comme assistant à leur propre absence dans les pays où ils n’étaient pas. Ce n’était que ça, finalement, un film; c’était déjà fini.“ 400 Bei der Hollywooder Premiere des Films ist - wie Solange aus der Perspektive der ihrerseits marginalisierten Frau konstatiert - kein einziges afrikanisches Mitglied des Produktionsteams anwesend. Mehr oder minder subtil auf Distanz gehalten wird nicht nur das afrikanische, sondern auch das weibliche ‚Andere‘. Vom Podest seiner exklusiven Autorität herab liest Kouhouesso - bei allem postkolonialen Engagement kompromisslos, was seine eigene Interpretationshoheit (nicht nur) in Sachen Gender betrifft - dem Team seine Version von Heart of Darkness vor; sein Kommentar verdoppelt und verstärkt die ‚Unterwerfung‘ der weiblichen Figuren in Conrads Text: Kouhouesso, avant le clap, faisait entendre à chacun la musique du roman, plusieurs pages de Cœur des ténèbres. Les passages sur les femmes, est-ce que ça parlait d’elle? […] C’était un homme littéral, Kouhouesso, et qui s’y connaissait en sujétion, qui s’y connaissait comme elle sur les faits de domination, mais personne ne protestait, pas plus Favour qu’Olga. Une question de narration, d’époque, de point de vue… 401 Während sämtliche anwesenden Frauen - ironisches Benetton-Trio: der blonde Hollywood- Star, die stolze Nollywood-Darstellerin und die diskrete Asiatin, die der gesamten Gesellschaft den adäquaten Look verpasst - die Autoritäts-Anmaßung des schwarzen männlichen Regisseurs schweigend hinnehmen, ist es bezeichnenderweise der einheimische Kamera- 398 Ibid.: 237f. 399 Ibid.: 233f. 400 Ibid.: 292. 401 Ibid.: 279. <?page no="346"?> 346 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes mann mit dem vielversprechenden Namen ‚Freeboy‘, der in mit metalinguistischer Präzision reproduziertem „camfranglais“ gegen Kouhouessos ‚Diktatur‘ rebelliert: „Je wanda… c’est qui ce Kouhouesso? Ekié, est-ce qu’il pousse les Caterpillar? Est-ce qu’il mange le piment? Il se tcha ce gars. Ce djo aime ya! Falla me i loss. Fais quoi fais quoi, il faut parler là. Je porte mes tongs et ça lui sert? Iche! Ce gars e mimba mal mauvais. Helele, il djoss quoi là? C’est l’allô! Quel thuriféraire. Macabo de ce type. Aka! Ça me ndem le contrôle. Je vais walka, moi. Quel chien vert. Un babayou, c’est tout. Mof mi dé, pardon! “ Patricien traduisait le camfranglais de Freeboy avec la neutralité d’un interprète des Nations unies. D’où il retournait que l’autorité de Kouhouesso était mise en question, la persécution avait ses limites, Freeboy se retirait du projet. 402 Solange dagegen macht gute Miene zum bösen (Schau-)Spiel; die im Doppelsinn chauvinistische Revanche ihres Gefährten ist damit allerdings noch nicht vollendet. Im Unterschied zu Kouhouesso, der die symbolische Einladung nach Clèves in letzter Minute verschmäht, kämpft die Protagonistin hartnäckig um ihren Platz in seinem afrikanischen Filmprojekt und konkret um die Rolle der ‚Zukünftigen‘, die ihr auf ihren eigenen blonden und hellhäutigen Leib geschneidert scheint: „Il lui citait la ‚Promise‘, ‚très pâle‘, blonde et diaphane (et elle se vit elle).“ 403 Zur größten Enttäuschung Solanges - die Kouhouesso auch sonst in kaum camoufliertem Sadismus durch sein Desinteresse an ihrer Karriere und sein strategisch platziertes Lob für die Konkurrenz kränkt - plant der Geliebte vielmehr Gwyneth Paltrow („Cette asperge carencée? “ 404 ) als Wunschbesetzung ein. Nach deren Absage wird Scarlett Johansson in Erwägung gezogen und als „[t]rop pulpeuse“ verworfen; Charlize (Theron) hätte zwar einen reizvollen „côté hiératique“ zu bieten, wird von Kouhouesso jedoch für „[t]rop virile“ befunden. Nach Abhandlung zusehends absurder weiterer Optionen (darunter „Catherine Deneuve, jeune“ und „Kim Wilde. Jeune“) schlägt der barmherzige George schließlich Solange vor, die der „réunion HOD“ in unklarer Funktion - für alle Fälle ihr bestes „sourire de casting“ auf den Lippen - beiwohnt, selbst unsicher, ob sie in die illustre Männerrunde nun „comme girlfriend ou comme actrice“ oder auch einfach „par inertie de groupe“ zugelassen worden sei; das ganze Projekt verschwindet freilich erneut „dans les limbes“, umso mehr, als man noch immer auf Antwort von Sean Penn - prospektiver Marlow - wartet. 405 Endlich aus den limbes des Castings erlöst, stürzt Solange sich mit Feuereifer in die perfekte Ausgestaltung der ihr mit herablassender Großzügigkeit eingeräumten Mini-Rolle in Kouhouessos (nicht nur Film-)Welt; diese ‚Promise‘ spielt auf mehreren Ebenen um ihr Leben. „[…] But when you think that no one knew him so well as I! I had all his noble confidence. I knew him best.“ […] „You knew him best,“ I repeated. And perhaps she did. But with every word spoken the room was growing darker, and only her forehead, smooth and white, remained illumined by the unextinguishable light of belief and love. 406 402 Ibid.: 280. 403 Ibid.: 67f. 404 Ibid.: 73, vgl. auch 109. 405 Ibid.: 113ff. 406 Conrad 2000: 120. <?page no="347"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 347 Diese Passage aus Heart of Darkness vor allem wird durch den ganzen Roman ausgesponnen. Motiviert bei Lafayette die - in einigen Adaptionen zur poetologischen Schlüsselszene entfaltete - Episode des verlorenen Briefes ein raffiniertes indirektes Liebesgeständnis, so lässt auch Darrieussecq ihre mehrfach intertextualisierte Heldin Conrads Werk mit doppelter Stimme, in verschiedenen Idiomen, Intonations- und Interpretationsvarianten nachsprechen, auf dem Umweg über den fremden, durch Wiederholung angeeigneten und aufs Neue verfremdeten, symptomatisch vergegenwärtigten Text ihre eigene Passion artikulieren: „Elle releva ses cheveux dans le miroir: un chignon à l’ancienne, quelques mèches échappées. Un maquillage très blanc. Une robe à corset, boutonnée jusqu’au cou mais moulante. ‚J’avais toute sa noble confiance… Personne ne le connaissait comme moi…‘ Plus doux, plus murmuré: ‚J’ai toute sa noble confiance… Personne ne le connaît comme moi…‘“. 407 Während der Dreharbeiten genießt Solange bzw. die ‚Promise‘ jene exklusive Aufmerksamkeit des Geliebten, die Kouhouesso ihr im ‚realen‘ Leben vorenthält. Über Vermittlung der Kamera vollzieht sich doch noch einmal ein nostalgischer Liebesakt, paradoxerweise - inmitten sämtlicher Filmtechnik und unter den Augen der Crew - von größerer Intimität als so mancher private Moment dieser turbulenten Liebesgeschichte: „La caméra mobile sur ses mains abandonnées, c’était doux, c’était bon. Kouhouesso, tout pour elle… Il la regardait. Il filmait ses yeux. Elle plongeait dans l’objectif.“ 408 Und so rezitiert die Protagonistin - unter lustvoller Selbstauflösung vor jenem männlichen Kamera-Blick und in imaginärer Fusion mit der Conrad’schen Figur (auch sie „une femme qui attend un homme“ 409 ), weit über das bloße Rollenspiel hinaus - ihren Text, einseitiges und einsames Liebesbekenntnis, dem die zweite Stimme fehlt; anstatt seinen Part zu übernehmen, seinen emotionalen und interpretatorischen Beitrag zu diesem doppelten Passionsnarrativ zu liefern („Elle aurait aimé des indications plus précises, qu’il lui explique cet homme et cette femme. Qu’il lui raconte leur amour, qu’il lui redise leurs promesses… Il la laissait dans le flou“ 410 ), unterbricht Kouhouesso sie abrupt - der schmerzhafte Bruch wird 407 Darrieussecq 2013b: 109. Der subtile Statuswechsel bzw. die allmähliche Aneignung des zitierten Textfragments wird auch typografisch nachvollzogen: Erscheint die betreffende Conrad-Passage zunächst als Zitat markiert, so kehrt sie später - in Kursivdruck und ohne Anführungszeichen - bereits als Teil des inneren Diskurses der Protagonistin wieder (ibid.: 304). 408 Ibid.: 253. 409 Darrieussecq/ V 2013c. 410 Darrieussecq 2013b: 253. Flou, flotter etc. ziehen sich als Schlüsselwörter durch die Beschreibung dieser afrikanischen Initiationsreise, dies unter doppelter - postkolonialer und gender-bezogener - Re- Interpretation des Conrad’schen Intertexts. Auf den Spuren von Heart of Darkness wird ‚Afrika‘ auch hier zum Schauplatz (alp-)traumhafter Auflösungserfahrungen („Au lieu de réduire le mythe exotique à un décor ou à une caricature, il suggère le vertige auquel celui-ci soumet l’esprit européen“, bemerkt Moura [1998: 67] zu Conrad). „La limite entre soi et le monde s’estompait […]“: Besagter ‚Schwindel‘, eine profunde Identitätskrise erfassen bei Darrieussecq (2013b: 216) freilich ein weibliches okzidentales Subjekt, komplizenhaftes Opfer nicht nur ‚Afrikas‘, sondern auch der eigenen mythisch überhöhten Passion. Die französisch sozialisierte Protagonistin, abseits ihrer amourösen Pathologie rationale Akteurin der westlichen Postmoderne, erlebt in Afrika eine temporäre Regression in magisch-esoterisches Denken. Solange lässt sich nicht nur auf indigene Zauberrituale zur (teuer bezahlten) Rückgewinnung des Geliebten ein; ein ganzes raumzeitliches wie kulturelles Koordinatensystem gerät in einer ‚verflüssigten‘ Welt durcheinander, so auf der Überfahrt über den Fluss Dja: „Fluide, ça s’enchaînait, le temps avait enfin la même forme que le fleuve. Elle eut un flash de Paris […] elle allait vers où? Voir qui? Dans son pays là-bas. Dans le pays de la fluidité blanche“ (ibid.: 259). Gerade in diesen Passagen <?page no="348"?> 348 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes im Text typografisch wiedergegeben - mit dem Hinweis, dass man (er) sie nicht hören könne (nicht erhören werde): Blondeur diaphane, halo cendré. Moteur. Ce rôle, c’était elle, taillé pour elle… Ça tourne. Oh, elle se sentait belle, et triste, et désolée. Son front uni et clair illuminé de foi et d’amour… „Penser que personne ne l’a connu comme moi… J’avais toute sa noble confiance… C’est moi qui le connaissais le mieux…“ „Coupez, dit Kouhouesso. On ne t’entend pas.“ 411 In ihrer Doppelrolle als Solange/ Promise 412 trauert die Protagonistin ihrem eigenen Idealbild des Geliebten - und als Liebende - nach: „Action, action. Solange: ‚J’ai été très heureuse, très fortunée, très fière… Trop fortunée, trop heureuse pendant quelque temps. Et maintenant, je suis malheureuse pour toujours…‘ Les larmes lui montaient aux yeux, elle était bonne, elle était juste, mais Kouhouesso ne la regardait plus. Coupez.“ 413 Parallel übernimmt sie freilich - lässt die Psychoanalytikerin Darrieussecq ein via sprachliche Assoziation operierendes Unbewusstes zu Wort kommen: In dem Moment, da das Kino-Team auf einem „petit bac“ den Fluss überquert, erlebt Solange einen Flashback in ihre Pariser Jugendzeit und konkret die „rue du Bac“, damalige Wohnadresse und nach wie vor Schlüsselort ihrer persönlichen Stadttopografie (ibid.). In derselben Szene - symbolische Vorwegnahme eines zumindest für die Protagonistin schmerzlichen Abschieds - flattern rings um Solange und einen schweigend rauchenden Kouhouesso „[d]es milliers de papillons jaunes“ über den Fluss (ibid.) - literarisches Augenzwinkern von Seiten Darrieussecqs, die ihre Faszination für die Farbenspiele der Princesse betont und schon in Bezug auf Clèves ihre eigene hypertextuelle ‚Abschöpfmethode‘ erläutert? In der Nacht darauf wird Solange durch eine vermeintliche „caresse“ - „[c]omme un baiser-papillon que lui faisait son père“ - geweckt: Tatsächlich handelt es sich um ein monströses Insekt, das sich nur mit Mühe abschütteln lässt (ibid.: 271). Wenig später, als sie im Fluss badet, wirbelt wiederum „un peu de sable jaune“ durch das Wasser in seiner „clarté merveilleuse“, in dem gemeinsam zu baden Kouhouesso sich ein weiteres Mal weigert (ibid.: 278). Jene gelben Schmetterlinge evozieren schließlich auch - die Frage nach der auktorialen Intention muss offenbleiben - eine andere, mittlerweile ihrerseits ‚klassische‘ intertextuelle Referenz. Ein Schwarm von „mariposas amarillas“ umgibt in Gabriel García Márquez’ Cien años de soledad (1987: 358ff. et passim) leitmotivisch jenen höchst symbolisch benannten, trotz seiner sozial inferioren „condición de menestral“ (ibid.: 358) verführerischen Mechaniker Mauricio Babilonia, der gegenüber der ihm leidenschaftlich verfallenen Renata Remedios (alias ‚Meme‘) Buendía mit nicht minder ausgeprägter chauvinistischer Arroganz auftritt als Darrieussecqs Kouhouesso gegenüber seiner ‚Princesse‘: „No se asuste […] No es la primera vez que una mujer se vuelve loca por un hombre“ (ibid.: 360). Die irrationale, gesellschaftlich transgressive Passion der jeweiligen Heldin für einen Mann, der ein Element radikaler - ethnischer, kultureller und/ oder sozialer - Alterität repräsentiert, stiftet einen feinen gelben Schmetterlingsseidenfaden auch zwischen diesen beiden Romanen (und nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass die heimlichen Rendezvous der ungleichen Liebenden von Macondo in der trügerisch sicheren Dunkelheit des lokalen Kinos stattfinden). Die kolumbianische Version dieser Mésalliance nimmt freilich ein dramatischeres Ende: Auf Betreiben der Mutter, Advokatin einer unerbittlichen anachronistischen Moral, wird die schwangere Protagonistin zurück in das Kloster ihrer Jugendjahre verbannt - diesmal auf Lebenszeit; bereits zuvor kündet ein letzter sterbender gelber Schmetterling vom Tod des Geliebten (ibid.: 367). 411 Darrieussecq 2013b: 253. 412 Diese Rollen-Verdoppelung wird - aus der Perspektive Solanges, die während ihres Afrika-Aufenthalts in permanenter metaleptischer Verwirrung zwischen diegetischer Realität und filmischer Fiktion irrlichtert - auch an der Figur Marlow-Cassel reflektiert: „‚C’est vous qui le connaissiez le mieux…‘ Cassel était Marlow et lui-même à la fois, comme on parle deux langues, comme on vient, avec évidence, de deux endroits. Dans sa réplique flottait un doute cruel, tout un Congo de brume, elle et lui n’avaient pas connu le même Kurtz…“ (ibid.: 254). 413 Ibid. <?page no="349"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 349 während ihres Aufenthalts in Afrika unaufhörlich auf der Suche nach einem unauffindbaren, sich entziehenden Kouhouesso - auch quasi den Part Marlows auf den Spuren Kurtz’. Zwischen Kurtz und Kouhouesso - für das Clèver wie Hollywooder Ohr gleichermaßen ‚exotische‘, alliterativ assoziierte Namen - entfaltet sich ein subtiles metaleptisches Verwirrspiel; während des Drehs in Afrika lässt Darrieussecq ihren Protagonisten seine spärlichen SMS an die (kaum mehr) Geliebte lapidar mit ‚K‘ signieren. 414 Kouhouesso, Ko-Akteur im neuen Passions-Experiment dieser multiplen Princesse, erscheint auch als hypertextuelle Variation des Conrad’schen Kurtz. Steht dieser paradigmatisch für einen männlichpatriarchalischen Herrschaftsanspruch, der sich auf materielle wie ideelle ‚Besitztümer‘ bezieht („My Intended, my station, my career, my ideas - these were the subjects for the occasional utterances of elevated sentiments“ 415 ), so wiederholt Kouhouesso, der als Regisseur seine Verfügungsmacht über seine ‚grande idée‘, seinen Film, sein Afrika, seine Akteure kompromisslos und ohne Rücksicht auf emotionale Kollateralschäden durchsetzt, diese Geste unterwerfender Aneignung. Wie Conrads Kurtz - in den Augen der afrikanischen Einheimischen „un être surnaturel“ 416 - wird auch Kouhouesso aus der Perspektive der mit Haut und Haar ihrem Passionskult verfallenen Solange beinahe systematisch mit religiösen Attributen versehen. 417 Fragmente aus Conrads Text, der beide Protagonisten - zugleich Heart of Darkness- Exegeten und hypertextuelle Revenants - obsessiv beschäftigt, werden derart auch abseits des intradiegetischen Films in den Roman verwoben. Die Rolle der ‚Promise‘ infiltriert Solanges diegetisch realen Diskurs und ihr Denken: Als Kouhouesso ausnahmsweise eine noch vertrauliche Information mit ihr teilt, reagiert ihr Bewusstsein sofort mit einem intertextuellen Echo aus Conrads Text, betreffend „la confiance faite à elle, la confidence“; 418 ähnlich bei der Première des endlich fertigen Films, da die einsame Solange sehnsüchtig aus der Ferne den immer noch geliebten Mann betrachtet: „Oh, elle le connaissait, personne ne le connaissait comme elle…“. 419 Aber über den verzweifelten Versuch, sich dessen Leben und Werk in prekärer Verewigung doch noch einzuschreiben, über die narzisstische Selbstüberhöhung hinaus - als doppelte hypertextuelle Reinkarnation der Lafayette’schen Princesse und der ‚Promise‘ Conrads insistiert die Protagonistin auf ihrer paradoxen Einzigartigkeit auch und gerade dort, wo sie 414 Ein Detail, das Solanges obsessivem Blick nicht entgeht, ihr allerdings eher ein Zuviel als ein Zuwenig an Identifikation zu bieten scheint: „Comme si l’ambiguïté avait été possible. K, comme si elle avait pu attendre un autre homme“ (ibid.: 247). 415 Conrad 2000: 110. „You should have heard him say, ‚My ivory.‘ […] ‚My Intended, my ivory, my station, my river, my -‘ everything belonged to him“ (ibid.: 81): Auch die ‚Zukünftige‘ findet sich hier als Objekt maskulinen Besitzdenkens inventarisiert. 416 Moura 1998: 66. 417 Zumindest in den Augen Solanges ähnelt Kouhouesso in einer seiner Filmrollen einem „archange fatigué qui secouerait ses ailes“ (2013b: 45); er verströmt ein geradezu sakrales Parfum, „comme une église, comme un temple indien“ (ibid.: 26). Ekstatisch atmet sie „l’odeur divine de ses cheveux. L’encens de sa cathédrale de cheveux“ ein (ibid.: 77), selbst sein Auto, mobile Erweiterung seines Körpers, riecht nach Weihrauch und Tabak: „Ça sentait lui. L’encens et le tabac. C’était comme se réfugier à l’intérieur de son corps“ (ibid.: 102). Doch auch der komplizierte Name des geliebten Mannes gerät zur quasi-religiösen Beschwörungsformel, die laut auszusprechen einer „profanation“ gleichkommt (ibid.: 85). 418 Ibid.: 153. 419 Ibid.: 304. <?page no="350"?> 350 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes ein vorgegebenes Drehbuch der weiblichen Passion rezitiert - besitzt Solanges persönliche Heart of Darkness-Interpretation ihre eigene kritische (und durchaus politische) Dimension: In ihrer schüchtern skizzierten réécriture bringt sie den Gender-Aspekt ins Spiel - und macht damit die impliziten patriarchalischen Prämissen von Kouhouessos exklusiv postkolonial fokussierter Lesart deutlich. Intuitiv feministische Leserin wie schon ihre adoleszente Vorgängerin aus Clèves, konstatiert Solange nicht nur die doppelte (bzw. im Fall der schwarzen weiblichen Figur sich potenzierende) Marginalisierung der Frauen 420 wie der afrikanischen Einheimischen bei Conrad („C’était frappant, à quel point ce roman laissait peu de place et aux femmes et aux Africains […]“), sondern schreitet selbst zur kreativen ‚Verbesserung‘ des Prätexts. In den ausufernden Textlandschaften von Kouhouessos Heart of Darkness- Szenario - zu großen Teilen ausgerechnet in ihrem Computer gespeichert: mehrfache Verschachtelung konfliktueller Gender-Narrationen - legt Solange, Anwältin des Deuxième Sexe, heimlich einen parallelen Ordner an; unter dem Codenamen „HOD-2“ entwirft sie eine nicht uneigennützige, deshalb freilich nicht weniger aufschlussreiche alternative Film- Version, die der ‚Promise‘ eine sehr viel gewichtigere Rolle einräumt („Un rôle sublime. Couvrant tout le film“), sie - in der wiederum recht klischeehaften Funktion der harmoniestiftenden Vermittlerin zwischen dem weißen europäischen Mann und der autochthonen Bevölkerung - gemeinsam mit ihrem Geliebten nach Afrika schickt: Elle songeait à des améliorations. Tout changeait si on décidait que la Promise accompagnait Kurtz au Congo. Elle y devenait un certain genre de femme d’expatrié: superbe et rebelle, proche des Noirs, à la fois timide et charnelle, en proie à l’ennui et à l’émerveillement. Là-bas, ils se mariaient, dans une petite chapelle évangélique. Et quand son homme rompait avec l’armée coloniale, elle le suivait, bien sûr, jusqu’au cœur des ténèbres. 421 „Le Cœur des ténèbres, c’était elle: éclairant de sa bonté, de son grand cœur, l’envoûtement infernal de la colonisation“ 422 … Euphorisch steigert sich Solange in die Glorifikation ihres filmischen Alter Ego hinein - und übersieht dabei signifikanterweise selbst die schwarze 420 Mittlerweile liegt ein beträchtliches Corpus gender-kritischer Sekundärliteratur zu Conrads Heart of Darkness vor. Die stereotype Gestaltung und die narrative Marginalisierung der Frauenfiguren - des blonden viktorianischen Fräuleins wie der exotisch-pittoresken Afrikanerin - wurden ebenso analysiert wie die subtile Quasi-Exklusion einer weiblichen Leserschaft (vgl. Hampson 2000: XXXV), letztere auch im editionshistorischen Kontext: Heart of Darkness erscheint zuerst im Blackwood’s Magazine, seinerseits klar „gendered, in that its tales were meant mainly for a male readership“ (Goonetilleke 2007: 43); vgl. zu dieser Problematik allgemein ibid.: 43ff. („Heart of Darkness and gender“), 63ff. Die „complex interrelation of patriarchal and imperialist ideologies“ untersucht Smith 1989 (hier zit. 180, nach Goonetilleke 2007: 63); siehe auch Pelikan Straus 1987. Die Position der „women in the text […] at the margins“ konstatiert Nadelhaft (2007: 99), die mit Joseph Conrad (1991) die erste umfassende feministische Studie zum Autor vorlegt und auch auf der Meta-Ebene die Conrad-Forschung als traditionelle „province of men“ reflektiert (2007: 92). Auf das Conrad’sche Imaginarium der Männlichkeit erweitert wird die Perspektive bei Roberts (2000). Wenig überraschend ist der Gender-Aspekt auch in der kreativen intermedialen Rezeptionsgeschichte präsent: So berücksichtigt Nicolas Roegs Adaption Heart of Darkness (1994) auch „current concerns regarding racism and feminism“ (Goonetilleke 2007: 135); J. F. Lawton setzt in Cannibal Women in the Avocado Jungle of Death (1988) - „a spoof of the novella, Apocalypse Now, adventure films, and also a social and political satire on the gender debate“ - eine Protagonistin namens Dr. Francine Kurtz, „feminist writer“ und „renegade ethnographer“, in Szene (ibid.: 136). 421 Darrieussecq 2013b: 109f. 422 Ibid.: 110. <?page no="351"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 351 Ko-Protagonistin des Textes, in den blinden Winkel auch ihrer ‚feministischen‘ Re- Interpretation verbannt. 423 „The African woman is the crux of Heart of Darkness“: 424 Auch Darrieussecqs Roman wirft hier zumindest implizit eine der heiklen Grundfragen eines postkolonial reflektierten kritischen Feminismus auf; Solanges Conrad-Variation - Programm der Rehabilitation und Affirmation okzidentaler weißer Weiblichkeit nicht zuletzt auf Kosten der anderen Frau - gerät nicht minder ambivalent als das Engagement Kouhouessos. Bei Conrad erscheinen die beiden weiblichen Kontrastfiguren strikt auf ihre jeweilige ethnokulturelle Sphäre festgelegt: Die aus der Perspektive Marlows zum Tugendideal überhöhte ‚Zukünftige‘ bleibt ebenso selbstverständlich ‚jenseits von Afrika‘ 425 wie die schwarze Frau, „savage and superb, wild-eyed and magnificent“, einem klassischen kolonialistischen Topos gemäß zugleich Inkarnation des exotischen fremden Landes, 426 niemals nach Europa gelangen wird; das Monopol der Reise- und Bewegungsfreiheit ist den Männern als Grenzgängern zwischen den Kulturen und den Kontinenten vorbehalten. Darrieussecqs Protagonistin - blonde Nachfahrin der Princesse de Clèves, kongeniale Darstellerin der ‚Promise‘, ihrerseits durch und durch (inter-)textualisiertes Produkt Europas 427 - bricht dagegen tatsächlich nach Afrika auf (und verweilt dort in amouröser Paralyse länger als notwendig). Die in ihrer Heart of Darkness-Version ein weiteres Mal in den Hintergrund gedrängte schwarze Frau spielt dabei eine Schlüsselrolle für die Charakteristik der ‚Promise‘ wie für Solanges Selbstreflexion als liebende Frau und als Künstlerin. In der diegetischen Realität des Romans fungiert die schöne schwarze Favour, aufsteigender Star Nollywoods, aus der Sicht Solanges zunächst als mit misstrauischer Eifersucht betrachtete Konkurrentin um die Aufmerksamkeit Kouhouessos wie eines zukünftigen Kinopublikums; im Gegensatz zu ihrer weißen Kollegin - triste ‚Zukünftige‘, die sich verzweifelt an eine einseitige Passion ohne Zukunft klammert - steht Favour, stolze „apparition of a woman“, 428 unantastbar im Film („La star de demain. On n’y couperait pas“) wie in der Realität des Romans, aber auch für 423 Vgl. dazu auch Spivaks (2003: 114ff.) kritische Lektüre von Charlotte Brontës Jane Eyre (1847) und Wide Sargasso Sea (1966), Jean Rhys’ réécriture des Romans. Spivak zeigt, wie in Brontës Text, der die Leserin subtil zu Janes „accomplice“ macht (ibid.: 119), die Konstruktion der anderen Frau - „a figure produced by the axiomatics of imperialism“ (ibid.: 121), hier in Erweiterung der Interpretation von Gilbert und Gubar (2000) nicht nur in psychologischer Hinsicht als „Jane’s dark double“ analysiert (Spivak 2003: 122) - die Subjektwerdung der europäischen Protagonistin ermöglicht: „In this fictive England, she [Bertha Mason] must play out her rôle, act out the transformation of her ‚self‘ into that fictive Other, […] so that Jane Eyre can become the feminist individualist heroine of British fiction“ (ibid.: 127). Im Gegensatz zu dieser romanesken „allegory of the general epistemic violence of imperialism“ wird in Rhys’ Text „the woman from the colonies“ nicht „as an insane animal for her sister’s consolidation“ geopfert (ibid.). 424 Torgovnick 1990: 154, zit. nach Goonetilleke 2007: 65. 425 „Oh, she is out of it - completely. They - the women I mean - are out of it - should be out of it. We must help them to stay in that beautiful world of their own, lest ours gets worse. Oh, she had to be out of it“ (Conrad 2000: 80). Ebendiese Passage liest Kouhouesso seinem Filmteam kommentierend vor (vgl. Darrieussecq 2013b: 279). 426 Conrad 2000: 99. „[…] the immense wilderness, the colossal body of the fecund and mysterious life seemed to look at her, pensive, as though it had been looking at the image of its own tenebrous and passionate soul“ (ibid.); vgl. dazu die Anmerkungen Loombas (2002: 151ff.). 427 „All Europe contributed to the making of Kurtz […]“, heißt es in Conrads Text (2000: 83) über die männliche Hauptfigur, „symbole de l’Européen“ (Moura 1998: 65). 428 Vgl. Conrad 2000: 99. <?page no="352"?> 352 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes jene Würde, die Solange an sich selbst vermisst. Mit schweigender Verachtung entzieht Favour, hier im Kontrast zur stereotypen kolonialen Konstellation und im Unterschied zur weißen Frau kein verfügbares Sexualobjekt, sich den maskulinen Besitzansprüchen des Regisseurs, während die asiatische Visagistin Olga immerhin wütend protestiert und Solange kaum die Tränen zurückhalten kann, als Kouhouesso, „très ivre“, sich als naiv chauvinistischer Pascha seines Film-Harems danebenbenimmt: Il disait ça va les filles. Il disait on fait comment. Un threesome ça vous dirait. Avec sa voix mouillée elle entendait tree-some, encore une histoire d’arbre? Olga se mettait en colère, alors elle comprenait, une proposition à trois, et même le sachant ivre, elle avait de la peine, oui. Elle avait envie de pleurer. La dignité c’est Favour qui l’avait. Favour les regardait de son air supérieur, du même regard qu’au premier jour: intacte, inentamée. 429 Eben während des Aufenthalts in Afrika gebärdet Kouhouesso sich machistischer denn je - einem „roi ancien“ gleich thront er vor seiner Hütte, an deren Schwelle Solange, „avec le sentiment d’être la vingt-cinquième épouse, à la vingt-cinquième heure, venue demander une audience“, 430 Tag für Tag demütig um Zutritt bittet. 431 Auch in sein Filmprojekt lässt er sie mit ihren ‚feministischen‘ Verbesserungsvorschlägen nur höchst widerwillig ein; bei allem antikolonialen Impetus zeigt er sich hinsichtlich der Marginalisierung seiner weiblichen Figuren mit seinem Prätext durchaus solidarisch, ja geht in diesem Punkt noch über Conrad hinaus. Der Dreh gerät derart zum Clash unterschiedlicher Lesarten des Conrad’schen Textes, wobei es Solange trotz allem gelingt, provisorisch einige Elemente ihrer HOD-2-Version in den Film zu schmuggeln. Ihren - vor dem Hintergrund ihrer eigenen amourösen Sorgen transparent motivierten - alternativen Schluss („George-Kurtz rendait son dernier souffle, 429 Darrieussecq 2013b: 292. Gender trouble in Afrika: ‚Afrika‘ - zwischen Conrads Text und dem diegetisch realen Afrika - wird auf mehreren Ebenen zum Ort der konfliktuellen Neuaushandlung von Gender-Identitäten, Ort auch der Gender-Konfusion. Wiederholt unterlaufen Solange aufschlussreiche Fehlinterpretationen, in Bezug auf ‚reale‘ Menschen („Le chauffeur s’appelait Patricia; non, Patricien“; ibid.: 210) wie auf Kunstwerke. So weckt die archaische Skulptur eines vermeintlichen Frauenkopfes in Kouhouessos Wohnung ihre Eifersucht: Die enigmatische „chose épique“ stammt freilich - auch hier wird die Problematik Original/ Kopie reflektiert - nicht von „quelque marché de savane“, sondern aus dem Shop des British Museum; die schöne Unbekannte entpuppt sich als „le roi d’Ifé. Pas une femme mais un roi. La plus célèbre tête de l’art africain […]“ (ibid.: 84). Im Rahmen ihrer ‚Entdeckungsreise‘ lernt Solange allerdings auch die konkret misogyne Seite Afrikas kennen; ein weiteres Mal erweist sich in diesem Text voller verstrickter, sich überkreuzender Dominanzrelationen, dass die Opfer kolonialer Unterdrückung und neokolonialer Exploitation in anderer Hinsicht sehr wohl auch Täter - und Täterinnen - sind. Während die einheimischen Frauen die verliebte weiße Besucherin verspotten, mahnen diverse autochthone ‚Führer‘ zur Einhaltung der Gebote des zutiefst chauvinistischen lokalen Animismus, sehen ‚unreine‘ weibliche Wesen nur ungern im mythischen Wald (vgl. das Kapitel „Les femmes sont dans la forêt“; ibid.: 267ff.) und warnen vor allem die anwesenden Männer vor „Mami wata“, „[l]’esprit de l’eau, lascif et féminin, qui veut tout de vous et vous le prend“, den es vor jedem Bad zu ‚exorzieren‘ gilt (ibid.: 290). Über den scheinbar harmlosen Aberglauben hinaus finden sich die Hollywooder Film-Touristen aber auch mit einem ernsthaften „incident“ konfrontiert: In einem der „campements de déplacés“, an denen das Team vorbeikommt, wird ein siebenjähriges Mädchen nach dem Tod des neugeborenen Bruders und der Mutter der „démonerie“ angeklagt und an den Füßen an einem Baum aufgehängt, „pour qu’elle avoue“. Jene „sorcière“, die Solanges Liebeszauber organisiert hat, weigert sich einzugreifen; Kouhouesso ist in dieser Notsituation wieder einmal „ni au bateau ni joignable au téléphone“; das kleine Mädchen stirbt (ibid.: 293). 430 Ibid.: 221. 431 Vgl. ibid.: 229. <?page no="353"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 353 et la Promise flottait devant ses yeux. C’était son idée à elle - une liberté avec Conrad, mais qu’il aille au Diable“) ruiniert Kouhouesso freilich, indem er Solange ihre ungeliebte schwarze Konkurrentin zur Seite gesellt („Favour aussi était à l’image, cette intrigante, aussi flamboyante et sauvage que Solange était pâle et languide […]“). Über ihr narzisstisches Ressentiment hinaus wirft die Protagonistin jedoch auch die angesichts der hyperästhetisierten Kontrastierung zweier allegorisch überhöhter Frauenfiguren nicht unberechtigte Frage auf, „si Kouhouesso ne tombait pas, à elles deux, dans les clichés qu’il voulait dénoncer. Elle jeta un œil sur le combo, l’image était belle pourtant […]“. 432 Kouhouesso befindet ebendieses ‚schöne‘ Bild ohnedies für misslungen; gleich parallel auf mehreren diegetischen Ebenen wird Solange aus seinem Film und seinem Leben verabschiedet: „‚Tu vois bien que ça ne marche pas.‘ À la fin de la dernière prise, il s’était tourné vers elle. Elle sentait que la phrase entrait en elle à jamais, qu’elle entendrait et réentendrait cette phrase dans le silence. Tu vois bien que ça ne marche pas.“ 433 „Il faut tourner la page“: 434 Nachdem dieser neue Nemours, seiner allzu willigen Princesse längst müde, ihr via SMS samt de-trivialisierter Buch-Metapher den Laufpass gegeben hat, fiebert die Protagonistin der Première von Heart of Darkness entgegen; über die irritierende Tatsache, dass auf dem Kinoplakat nur George (Clooney) und Vincent (Cassel) samt „des arbres et un fleuve“ zu sehen sind, tröstet sie sich vorerst hinweg: „Bon, Favour n’y était pas non plus.“ 435 Nach ihrer afrikanischen Exkursion findet Solange sich allein an ihrem Hollywooder ‚Königshof‘, Mikrokosmos von medientechnisch gesteigerter visueller Aggressivität, wieder. Allein taumelt sie unter dem erbarmungslosen Blick der Paparazzi und dem noch schärferen Auge ihrer Kameras über den roten Teppich: „Avant d’y aller, elle but quelques whiskies, peut-être un de trop, comme le lui confirmèrent les vidéos en ligne du Hollywood Reporter: elle avait comme une hésitation en sortant de la limousine; si on savait regarder elle titubait un peu, au bras de personne. […] Tapis rouge, flashes à tout hasard. Elle cherchait du regard (on devine ça, aussi, sur la vidéo) elle cherchait du regard un regard qui l’accueille.“ 436 Von Kouhouesso („seul. Superlativement beau“) ignoriert, in Ansprachen und Dankesreden unerwähnt (im Gegensatz zu jener „Lola du Surinam“, die schon am Abend der Erstbegegnung ihre Eifersucht weckte und nun in der ersten Reihe sitzt), wartet Solange ängstlich auf den Start - und muss mit wachsendem Entsetzen und unter immer heftigeren Gefühlen der Derealisierung ihrer ganzen Person feststellen, dass ihre Rolle der ‚Promise‘ nicht nur nicht im Sinne von HOD-2 erweitert, sondern vielmehr zur Gänze aus dem fertigen Film geschnitten worden ist (wohingegen der Regisseur sich selbst, mit weißem Make-up angetan, noch in die Diegese seines eigenen Films geschlichen hat). Kurtz’ legendäre letzte Worte bleiben Solange, brutal aus Kouhouessos „Congo de cinéma“ verbannt, in der Kehle stecken: 432 Ibid.: 281. 433 Ibid.: 283. 434 Ibid.: 299. 435 Ibid.: 300. 436 Ibid.: 301. <?page no="354"?> 354 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes Elle n’apparaissait pas. La forme blanche qu’elle aurait dû être. „Ce loquace fantôme.“ Le fantôme, personne. Sa voix, perdue. […] Pourquoi n’allait-on pas en „Europe“? […] Où était-elle? Où demeurait-elle, dans quels pixels s’était-elle arrêtée? […] Applaudissements, applaudissements fracassants sur son absence. Elle n’était pas là. Elle n’était pas dans le film. […] Elle s’était peut-être entrevue… le halo cendré… le teint vampirique… Kurtz disait „horreur… horreur…“ et on percevait peut-être une lueur blanche, une impression rétinienne… Non. Il avait coupé toutes ses apparitions. 437 Im Zustand akuter Auflösung sieht Solange wie in einem Alptraum - Negativ der coup de foudre-Szene - Kouhouesso sich ihr zögernd nähern. Mit beträchtlicher Verspätung rafft auch diese triste Princesse sich doch noch zur lebensrettenden Geste der Verweigerung auf: „Elle lève tout de suite la main, elle refuse, son air désolé qu’il se le garde. […] elle sait - s’il approche encore, elle va mourir. […] S’il la touche. Elle disparaîtra. S’il lui parle, même, un mot suffirait.“ 438 Darrieussecqs postmoderne Heldin wird freilich auch diese amouröse Katastrophe überleben; noch rascher erholt sich Kouhouesso-Kurtz-Nemours („Il lui parle d’une sorte de maladie qu’il a eue“). 439 Ein Jahrzehnt später begegnet Solange, die mittlerweile auf eine ansehnliche Filmkarriere zurückblicken kann („[…] elle a joué avec Soderbergh, avec Malick, avec Michel Gomez, avec Nuri Ceylan, avec Kaurismäki“ 440 ), auf einer anderen Premièren- Cocktailparty ihrem Geliebten von einst - die große Passion hat sich verflüchtigt, eine harmlose „camaraderie malgré tout“ bleibt zurück. Nachträglich erfolgt eine ironisch-nostalgische „déclaration d’amour“, 441 die sich mit der Kurzlebigkeit ewiger Liebe, der Absurdität jeglichen Exklusivitätsanspruchs in einer unverbindlichen „Optionen-Wirklichkeit“ 442 längst abgefunden hat: „‚[…] Pendant trois ans, après le tournage, je n’ai trouvé aucune femme qui te vaille. Oui, pendant TROIS ans, aucune femme ne m’a plu comme toi.‘ Et à son ton factuel, admiratif, gentil, elle sait que c’était la plus belle déclaration d’amour qu’il lui fera jamais.“ 443 Wie der restliche Roman - und das gesamte Œuvre Darrieussecqs - verzichtet auch dieses ambivalente Finale auf jede eindeutige Conclusio oder gar ‚Moral‘, dies umso mehr, als hier immer schon mehr als eine private Liebesgeschichte auf dem Spiel steht. 437 Ibid.: 303ff. Zum emotionalen Desaster kommt die soziale Blamage, hat Solange doch ihre ganze Familie aus Clèves (samt Freundin Rose und deren Ehemann) eigens einfliegen - sowie ihre nicht recht hollywoodkompatible Verwandtschaft vorsorglich vor dem großen Auftritt noch ein wenig stylen - lassen (ibid.: 300); all dies, um die Zeugen ihrer Clèver Vergangenheit der ultimativen Demütigung ihrer „absence“ beiwohnen zu sehen. „Quel beau film“, erklärt die Mutter - und fragt mit grausamer Naivität: „mais je ne t’ai pas vue ma chérie? “ (ibid.: 306). 438 Ibid.: 309. 439 Ibid.: 312. Aus der ironischen Perspektive einer bereits ‚geheilten‘ Solange wird knapp seine - üppige - weitere galante Biografie zusammengefasst. Bald nach der fatalen Première hat sich dieser neue ‚Nemours‘ von der ominösen „Lola“ um einer Affäre mit einem suizidalen Jungstar namens „Bianca Brittany“ willen getrennt; nunmehr paradiert er an der Seite einer „créature superbe, mi-canadienne mi-sud-africaine, celle qui jouait dans Battlestar Galactica. Il serait en train d’écrire un film pour elle“ (ibid.: 312). Besagte „créature superbe“ bleibt ungenannt, ihr textexternes Modell ist unschwer als Kandyse McClure identifizierbar. 440 Ibid.: 311. 441 Ibid.: 312. 442 Sloterdijk 2007: 324. 443 Darrieussecq 2013b: 312. <?page no="355"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 355 Der schwarze Regisseur, der Afrika nach Hollywood - und fürs Erste Hollywood nach Afrika - holt, das viktorianische Europa als Potemkin’sche Kulisse in Kamerun reinszeniert, schneidet mit Solanges ‚Promise‘ ebenjenes ‚Europa‘ aus seinem Film wieder zur Gänze heraus; 444 symbolisch überdeterminierte Geste, die sich nicht in der definitiven Elimination einer lästig gewordenen Ex-Geliebten erschöpft, wie ein kurzer Blick auf Status und Funktion der ‚Zukünftigen‘ in Conrads Text - und dessen kritische Rezeptionshistorie - illustriert. „The horror! The horror! “ lautet der wohl meistkommentierte Satz aus Heart of Darkness; mit diesem verdoppelten Aufschrei - „a cry that was no more than a breath“ - auf den Lippen stirbt (Anti-)Held Kurtz. 445 Im viktorianischen Salon verschweigt Marlow dessen ‚Zukünftiger‘ diese „very last words“: „Repeat them,“ she said in a heart-broken tone. „I want - I want - something - something - to - to live with.“ I was on the point of crying at her, „Don’t you hear them? “ The dusk was repeating them in a persistent whisper all around us, in a whisper that seemed to swell menacingly like the first whisper of a rising wind. „The horror! the horror! “ […] I pulled myself together and spoke slowly. „The last word he pronounced was - your name.“ 446 „I knew it - I was sure! “ ruft die Trauer tragende Verlobte angesichts dieser finalen Lüge aus. 447 Der Protagonistin Conrads bleibt im Unterschied zu Darrieussecqs ‚Promise‘ nicht 444 Conrads Text, nachträgliche Imagination eines exotischen ‚Afrika‘, schließt mit dem Besuch Marlows bei der ‚Zukünftigen‘ in einem viktorianischen Salon, in den freilich - nicht umsonst verdichtet sich in dieser Passage eine Lexik der Dunkelheit - jene (un-)heimliche andere Welt, jene „impenetrable darkness“ (2000: 111), in der Kurtz’ Agonie sich vollendet, einzudringen scheint: „L’Europe est vue aussi comme quelque chose d’obscur, de ténébreux par Conrad“, betont auch Darrieussecq (V 2013c). Kouhouesso seinerseits besteht - unter Inversion der Raum-/ Imaginationsstrukturen seines Prätexts - auf dem Dreh ‚vor Ort‘ und holt derart nicht nur seine Hollywooder Équipe, sondern auch Conrads Europa symbolisch nach Afrika; das Finale von Heart of Darkness wird „au vieux casino de Kribi“ gefilmt, in einem pseudo-europäischen, von afrikanischer Hitze und gleißendem Licht infiltrierten Dekor. „Jouer le froid était possible, pourtant, comme jouer l’Europe, comme jouer la tristesse“: Neben Vincent Cassel als Marlow spielt Solange mit heftigem Lampenfieber, mit Hilfe täglicher Imodium-Gaben einigermaßen unter Kontrolle gehaltener Dauer-Diarrhö und zerfließendem Make-up eine traurige ‚Zukünftige‘ im notdürftig improvisierten viktorianischen Outfit - nicht allzu überzeugendes Text/ il- Flickwerk -, sind doch symptomatischerweise die Kostüme für diese Szenen nicht rechtzeitig eingetroffen („Ils flottaient peut-être au milieu de l’Atlantique comme des vestiges de naufrage“; 2013b: 251f.). Nach dem Desaster der Filmpremière versucht Kosmetikerin und confidente Olga die Heldin denn auch damit zu trösten, Kouhouesso habe die Szenen der ‚Promise‘ wohl wegen dieser misslungenen Kostüme eliminiert; allerdings fühlt sich Solange vielmehr selbst als jener störende ‚Faden‘, den Kouhouesso aus dem Gewebe seines Films gezogen und gekappt hat: „Et elle était ce fil qu’il avait défait, un personnage détricoté du film, facilement, qui ne manque pas, un spectre qui ne laisse pas le creux de son absence: elle était non nécessaire et tout le monde adorait, et il irait à Cannes et aux Oscars, Kouhouesso, sans elle, coup de ciseaux“ (ibid.: 306f.). Auch mit dieser poetologisch symbolträchtigen Text/ Textil-Metaphorik knüpft Darrieussecq nicht zuletzt an den Conrad’schen Intertext an: Ausgehend von jenem rätselhaften „Stück weißen Zwirn“ am Hals einer schwarzen Figur reflektiert Bhabha „die seltsame, unstimmige, ‚koloniale‘ Verwandlung einer Textilie in ein unbestimmtes textuelles Zeichen, das möglicherweise als Fetisch fungiert“ (2000: 155). 445 Conrad 2000: 112. 446 Ibid.: 123. 447 Ibid. <?page no="356"?> 356 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes nur die Erfahrung Afrika, sondern auch die Demontage ihrer amourösen Illusionen erspart - bzw. vorenthalten; ebenso ein eigener Name, wird ‚The Intended‘ doch den gesamten Text hindurch nur über diese ihre Funktion in Kurtz’ extravaganter Existenz definiert: Auch Marlow spricht, Kurtz strategisch fehlzitierend, den Namen der Frau - metaphorischmetonymisch statt jenes doppelten „horror“ suggeriert - nicht aus, bevor der Text selbst „into the heart of an immense darkness“ mündet. 448 Aufschlussreich ist hier der Rekurs auf Homi Bhabhas Interpretation jenes „verwickelten Endspiel[s]“, jener „bürgerlichen ‚Lüge‘ der Zukünftigen gegenüber“, die das unaussprechliche, jedenfalls unausgesprochene ‚Grauen‘ in einer schwindelerregenden Lügenspirale aus einer prekär geschützten, längst brüchigen europäischen Salonwelt verbannt: „[…] die nächste Lüge und die nächste und die nächste - ‚Das Grauen! Das Grauen! ‘ […] Während er den Namen der Zukünftigen an die Stelle der Worte des Grauens setzt, lesen wir in jenem Palimpsest, weder eines noch das andere, ein Stück der peinlichen, ambivalenten, unwillkommenen Wahrheit der Lüge des Empire.“ 449 Vor dem Hintergrund der Überlegungen Bhabhas wird die ganze Ambiguität der Entscheidung Kouhouessos deutlich, der als Regisseur - in postkolonialer Widerstandsmission gegen die Machtverhältnisse und zivilisatorischen Hierarchien, die Conrads Text reflektiert - jene zentrale „Lüge des Empire“ bzw. ‚Maske‘ des Kolonialismus aus seinem Film schneidet, derart Marlows Verwandlung der „brütende[n] Landschaft einer politischen Katastrophe […] in ein melancholisches Denkmal der romantischen Liebe und der historischen Erinnerung“ verweigert, damit aber zugleich - ohne Rücksprache, ohne Vorwarnung - die Figur der weißen Frau, ihrerseits „Schatten der afrikanischen Frau“, eliminiert. 450 „Les Basques sont les Africains de l’Europe“: Variationen postkolonialer Alterität Wurde Christophe Honorés 2008 präsentierte Princesse-Adaption La Belle Personne bei insgesamt überaus positiver Rezeption zumindest vereinzelt auch aus postkolonialer Perspektive kritisiert, 451 so wird die in ihrer Selbstverständlichkeit unsichtbar weiße Welt Lafayettes bei Darrieussecq um eine ebensolche Komponente erweitert, die erwachsen gewordene Princesse aus Clèves/ Clèves dezent ‚afrikanisiert‘. Bald nach ihrer Landung in Douala erhält Solange eine scherzhafte SMS Kouhouessos mit ernstem Subtext: „Alors, l’Africaine? “ 452 Im Verlauf ihrer Reise stellt sie fest, dass der Geliebte sie ein wenig ‚gefärbt‘ habe: Kouhouesso l’avait teintée. Il l’avait rendue un peu noire. Et les autres ici le savaient. Elle s’imprégnait de leur accent chantonnant, comme à Clèves quand elle s’adaptait […] Elle s’africanisait avec une maladresse qu’ils lui pardonnaient. Oublier qu’elle était blanche, toute leur politesse était là. Et elle, elle l’oubliait. Et K., elle l’oubliait, un peu […]. Vouloir se faire aimer de tout le monde plutôt qu’un seul, ça lui faisait comme un repos. 453 448 Ibid.: 124. 449 Bhabha 2000: 317f., 158, 206. 450 Vgl. ibid.: 206, 318f. 451 Vgl. Cammas 2008. 452 Darrieussecq 2013b: 212. 453 Ibid.: 247f. <?page no="357"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 357 Eine metaphorische ‚Afrikanerin‘ war Solange freilich schon vor ihrer Begegnung mit Kouhouesso. Es bleibt in Darrieussecqs Roman nicht bei der simplen Opposition französische (bzw. mittlerweile teil-amerikanisierte) weiße Frau vs. schwarzer Mann; vielmehr manifestieren sich im Porträt der Protagonistin selbst subtile Bruchlinien, Fragmente einer marginalen, dominierten Geschichte hinter einer hegemonialen francité. „Quelque chose la reprit, la reprenait“: 454 Im Rahmen ihrer interethnischen Liaison entdeckt Solange auch die - im Doppelsinn - ‚dunkle‘ Kehrseite ihrer eigenen Identität wieder, die Tatsache zunächst, dass „[l]’Afrique où son père est né“ („mais il n’en parle jamais“) 455 auch ein bisher verdrängter Teil ihrer eigenen Familienhistorie ist: „‚Tu te souviens du Sénégal, papa? ‘ demanda-t-elle. Elle ne lui avait jamais posé la question. Il n’avait qu’un seul souvenir: l’harmattan, le vent très sec venu du Sahara: la poussière et la gorge en feu, le sang goutte sur sa petite blouse parce qu’il a ri avec un copain et ses lèvres gercées, tchac, se sont fendues. ‚C’est un genre de fœhn, quoi, dit sa mère, on a le même ici.‘“ 456 Ebendieser Wind aus der Sahara weht auch durch die Kindheitserinnerungen der Heldin an ein aus Pariser wie Hollywooder Perspektive bereits einigermaßen ‚exotisches‘ Clèves: „Elle évoqua Clèves, ses Noël du Sud, l’absence de la neige; le vent rouge, parfois, qui laissait aux fenêtres un sable dont sa mère disait qu’il venait du Sahara.“ 457 An diesem Punkt nimmt der Roman - unter Anknüpfung an das baskische Imaginarium aus Clèves - eine bemerkenswerte Wendung: Die vermeintliche okzidentale Mainstream- Identität dieser postmodernen Nachfahrin der Lafayette’schen Princesse gibt ihr eigenes Geheimnis, ihre eigene „Afrique fantôme“ 458 preis. Die Protagonistin ist nicht einfach irgendeine weiße französische Frau - und schon gar nicht die prototypische Klischee-Französin, auf die sie Hollywood und auch Kouhouesso festlegen („I like the way you say champââgne, dit-il, this is so chic, so French“ 459 ); Solange - die davon träumt, „son prénom si français“ mit dem Namen des Geliebten zum reizvollen interkulturellen Mosaik zu kombinieren, 460 und hier selbst über die Bedeutung ‚fremder‘ Namen sowie den politisch korrekten Umgang damit nachdenkt - heißt nicht einmal nur ‚Solange‘: Est-ce que „Kouhouesso“ avait un sens? 461 Un prof de français lui avait appris, à l’époque où tout le lycée portait le badge de SOS Racisme, qu’il est malpoli de demander la signification des noms. 454 Ibid.: 82. 455 Ibid.: 59. 456 Ibid.: 187. 457 Ibid.: 171. 458 Marcandier 2013 (unter Anspielung auf den Titel von Michel Leiris’ 1934 publiziertem Afrika-Journal aus den Jahren 1931-1933, L’Afrique fantôme). 459 Darrieussecq 2013b: 28. 460 Ibid.: 13. 461 Diese Frage wird im Text bald darauf positiv beantwortet, der ‚exotische‘ Name, auf den Solange bei ihren Google-Recherchen in unterschiedlicher Schreibweise stößt („[…] mais en gros on peut s’accorder sur Kouhouesso Nwokam. Ce qui n’est pas si compliqué“; ibid.: 44), im Kontext einer mythisch reinterpretierten Familiengeschichte erklärt. Wörtlich heißt ‚Kouhouesso‘ - nach drei aufgrund angeblicher ‚dämonischer‘ Interventionen verstorbenen älteren Brüdern endlich überlebender Sohn - „la Mort a planté son pieu“ (ibid.: 158); damit wird auch der enigmatische Titel des betreffenden Kapitels nachträglich als Aneinanderreihung der Namen der drei Geschwister - ‚Kouhouesso‘ nebst Schwester ‚Kosoko‘ und Bruder ‚Orukotan‘ - dechiffriert: „La mort a planté son pieu, nous avons jeté la houe, et tous les noms ont été épuisés“ (ibid.: 153ff.). <?page no="358"?> 358 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes George, ça veut dire George. Solange ne signifie ni Sol ni Ange, mais vient du latin solennel. Il n’y a que les Blancs pour supposer que les sauvages ont des noms qui veulent dire „petit nuage dans le vent“ ou ce genre de choses. À l’époque elle n’avait pas osé signaler au prof que son second prénom, Oïhana, signifiait la Forêt en basque. Les Basques sont les Africains de l’Europe. 462 Über ‚Oïhana‘, die Wald-Frau mit poetologischer Tiefendimension („Je voulais écrire un livre dense comme une forêt“ 463 ), exotisches Alter Ego der hyper-französischen ‚princesse de Clèves‘ wie der glamourösen Hollywood-Aktrice, eröffnet sich eine neue Perspektive auf die Komplexität sozialer, ethnokultureller, sprachlicher, auch gender-spezifischer Herrschaftsverhältnisse, die sich nicht auf eine bequeme Dichotomie Schwarz/ Weiß, dominant/ dominiert reduzieren lässt. Wie schon in früheren Werken Darrieussecqs fungiert eine mit doppelter Geste de/ konstruierte ‚baskische Identität‘ als auch politisch nach wie vor aktuelle und hier klar ‚weiblich‘ konnotierte Figur inner-europäischer Alterität, in einem frankozentristischen Kontext ihrerseits lange Zeit quasi-kolonialer Unterdrückung - „internal colonization“ im Kontrast zur „colonization of other spaces“ 464 - ausgesetzt. (In Clèves wird Solange kein einziges Mal bei ihrem baskischen Vornamen genannt; 465 vor dem Hintergrund der im Folgeroman nachgelieferten Information gewinnt das vermeintlich beiläufige Detail, dass ihre senile baskische Großmutter sich den französischen Namen der Enkelin beim besten Willen nicht korrekt merken kann, eine ergänzende Bedeutungsfacette.) Wird bereits in Clèves die Problematik besagter Quasi-Kolonial-Relationen innerhalb einer künstlich zum homogenen Block stilisierten ‚westlichen Welt‘ angerissen 466 und - so am zur baskischen Selbst(er)findung umcodierten Emanzipationsprozess der Mutter der Protagonistin - die metaphorisch-metonymische Substituierbarkeit unterschiedlicher Formen der domination und der Rebellion illustriert, so werden in Il faut beaucoup aimer les hommes Afrika und das Baskenland, „l’Afrique de l’Europe“, 467 als verschiedene Versionen kultureller 462 Ibid.: 118. 463 Villovitch 2013. Der Wald als Schlüsselmotiv zieht sich durch Darrieussecqs Kommentar zu ihrem eigenen „tissu romanesque très dense“ und speziell der „d’un bloc“ verfassten Urwald-Expedition ihrer Protagonisten, zugleich poetologische Exploration: „En écrivant, je cherchais un chemin à travers cette espèce de touffeur, quoi“ (V 2013c). „J’ai l’impression de démêler un écheveau, ou d’entrer dans une forêt qui va m’offrir différents paysages, différentes altitudes ou points de vue, et de devoir y défricher des sentiers“, erläutert die Autorin ihre Faszination für den Wald, nicht zuletzt „métaphore du roman“, auch im Gespräch mit Petit (2012: 7f.). Im Wald - Evasionsraum und ambivalente Zuflucht in einer dystopischen Gesellschaft der nicht allzu fernen Zukunft, prekärer „lieu sûr“, wenn auch „traditionnellement un lieu plutôt inquiétant“ (Darrieussecq 2017: 50), Märchentopos („une forêt comme dans les contes“; ibid.: 102) und auf den Spuren von Ray Bradburys (1953) resp. François Truffauts (1966) Fahrenheit 451 höchst ‚literarischer‘ Ort - situiert Darrieussecq die Erzählerin des Romans Notre vie dans les forêts (2017), Nachfahrin wiederum der Heldin der Truismes: „Je n’ai pas lu tant de livres que ça, mais dans la forêt on s’ennuie alors on lit ce qu’on peut, des livres en papier ça va de soi. Et nous sommes plusieurs à écrire. Il y a une logique à être sous les arbres avec nos cahiers old school et nos vieux bouquins gondolés d’humidité, faits de la cellulose même qui nous abrite […]“ (ibid.: 41). 464 Vgl. Spivak 2003: 172. 465 Auch dergleichen Details werfen vor dem Hintergrund des intratextuellen Konglomerats Clèves und ‚suite‘ die Frage nach den Grenzen der transfiktionalen referentiellen Illusion auf: Heißt Solange rückwirkend auch in Clèves schon ‚Oïhana‘, selbst wenn dieser zweite Vorname im ersten Roman nirgends erwähnt wird? 466 Vgl. Müller-Funk/ Wagner 2005. 467 „Le Pays Yuoangui est l’Afrique de l’Europe“, wie die Protagonistin des Pays (Darrieussecq 2005: 213) ihre Heimat - fiktionalisierte, symbolisch überhöhte Version des Baskenlandes - charakterisiert. <?page no="359"?> „De Clèves au Congo“: Die suite zur réécriture 359 Marginalität bzw. Alterität systematisch assoziiert. 468 Négritude und basquitude: 469 Nicht umsonst erinnert sich Solange nun an die vergessenen afrikanischen Souvenirs ihrer Großeltern väterlicherseits, im familiären Mini-Museum „sur une nappe basque“ zur Schau gestellte Fragmente einer un/ heimlichen, bisher verdrängten Geschichte. 470 Und nicht umsonst fühlt sich die ‚europäische Afrikanerin‘ am Strand von Malibu - in raumzeitlicher Überblendung vergangener und gegenwärtiger Lebenswelten plötzlich so vertraute „plage […] si basque, avec Los Angeles en fond brumeux“ 471 - speziell zu den zahlreichen schwarzen Familien, „armées d’énormes bouées, de parasols Fritos et de grands-mères assises sur des pliants“, hingezogen. 472 In ihrer Gesellschaft erlebt die von ihrem Geliebten vernachlässigte Heldin nicht nur „l’illusion d’être un peu avec lui“, sondern auch so manches „déjà-vu“ aus ihrer baskischen „vie antérieure“, ihrer eigenen konkret wie metaphorisch ‚peripheren‘ Jugend: La familiarité était étonnante, oui. Mais peut-être n’était-ce pas tant lié à Kouhouesso qu’au déjà-vu des souvenirs du Pays Basque, de sa propre adolescence. […] Elle se rappelait les rares journées de mer, à plus d’une heure de route, avec son disons fiancé de l’époque, qui lui faisait honte, et les autres filles de la plage, les - elle songeait: les Blanches - les Parisiennes, les touristes friquées […] elle aussi, elle avait eu un seul beau tee-shirt qu’on garde pour les grandes occasions. Très loin de là, à deux océans. 473 Wiederholt werden in Solanges Bewusstsein ein durch Kouhouesso verkörpertes ‚Afrika‘ und die baskische Vergangenheit ihrer eigenen Familie fusioniert. Ein afrikanisches Märchen rund um „la douleur des mères“ erzählt auch Solanges Geschichte bzw. jene ihrer nach dem Tod eines ersten Kindes in tiefe Depression verfallenen Mutter; 474 hier überkreuzen sich die gespenstischen Familiennarrative zweier im Schatten toter Geschwister geborener Protagonisten. 475 Die Heldin meditiert freilich auch melancholisch über ihre eigene misslungene Mutterschaft („Un enfant très jeune, comme une Africaine“ 476 ). Eben im Rahmen ihrer Afrika- Reise wird Solange-Oïhana aber auch mit der klassischen ‚Princesse‘ europäischer Märchenwelten assoziiert, die jetzt statt durch den - aus der Perspektive des kleinen Mädchens von einst genauso riesigen - Wald ihrer baskischen Kindheit durch den Dschungel irrt, auf den intertextuellen Spuren jenes „conte où la Princesse, à peine entrée dans la forêt interdite, y était comme avalée“. 477 468 Vgl. dazu vor allem das Kapitel „Black Like Me“ (Darrieussecq 2013b: 135ff.); der Titel zitiert eine Reportage John H. Griffins, der als ‚Schwarzer‘ maskiert durch die USA des Jahres 1960 reist und hier von seinen Erfahrungen berichtet (vgl. ibid.: 139). 469 „Ma basquitude me donne un sentiment d’exil et l’impression de venir d’un pays imaginaire“, erklärt Darrieussecq bereits in einem frühen Interview (Gandillot/ Busnel 1999, zit. nach Chadderton 2012: 73). 470 Darrieussecq 2013b: 82. 471 Ibid.: 142. 472 Ibid.: 137. 473 Ibid.: 138f. 474 Ibid.: 155. 475 Vgl. ibid.: 158f. 476 Ibid.: 188. 477 Ibid.: 219. Im Interview betont Darrieussecq die „points communs entre la mythologie basque et la mythologie yoruba“, die sie auf ihren eigenen afrikanischen Reisen beobachtet habe, sowie die zentrale Rolle des „regard croisé entre deux ‚tribus‘“ in ihrem Roman (Villovitch 2013). <?page no="360"?> 360 Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes *** In Darrieussecqs Re-Interpretation der Princesse de Clèves - nicht selten zur allegorischen Inkarnation der francité überhöht - kommt so auch deren versteckte exotische Doppelgängerin zum Vorschein, die baskische ‚Waldfrau‘, die blonde, hellhäutige Undercover-‚Afrikanerin‘, die in Malibu fröhlich mit ihren schwarzen ‚Verwandten‘ sororisiert und schließlich direkt nach Afrika aufbricht, während ihr Geburtsort/ -text Clèves zwar nicht (ganz) am Meer, aber doch in der symbolischen Wind-Einfallsschneise der Sahara liegt; zwischen (groß-)väterlicher kolonialer Vergangenheit und marginalisiertem, ‚weiblich‘ konnotiertem Baskentum wird die Familiengeschichte dieser neuen Princesse - paradigmatischer Auszug einer polyphonen Geschichte Frankreichs - um eine signifikante Alteritäts-Dimension ergänzt. La Princesse de Clèves au Congo: Nimmt Marie Darrieussecq in Il faut beaucoup aimer les hommes eine postkoloniale Erweiterung ihrer parodistischen Lafayette-réécriture vor, so spielt im nächsten hier zu analysierenden Text - Emmanuelle Bayamack-Tams La Princesse de. - dieses Moment ethnokultureller Differenz zwar ebenfalls eine bedeutende Rolle; nach Darrieussecqs ‚Postkolonialisierung‘ soll mit dem Roman Bayamack-Tams, erschienen ein Jahr vor Clèves, jedoch vor allem eine ‚queere‘ Variation der Princesse präsentiert werden. <?page no="361"?> Queering La Princesse de (Clèves): Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam De quoi est fait un texte? Fragments originaux, assemblages singuliers, références, accidents, réminiscences, emprunts volontaires. De quoi est faite une personne? Bribes d’identification, images incorporées, traits de caractère assimilés, le tout (si l’on peut dire) formant une fiction qu’on appelle le moi. 1 Dans l’hétérosexualité il n’y a pas de solution. 2 La Princesse de. titelt Emmanuelle Bayamack-Tam 2010 (der gleiche Verlag P.O.L publiziert wie erwähnt nur ein Jahr später Marie Darrieussecqs Clèves). Die Autorin stellt explizit den Bezug unter anderem zur Princesse de Clèves her; ihr fragmentarischer Titel evoziert auch Louise de Vilmorins Madame de. Bayamack-Tams Roman rund um eine Transgender-Princesse, die als Adoptivkind vage ‚exotischer‘ Herkunft in einer interkulturellen Familie aufwächst, über die Auseinandersetzung mit einer konfliktuellen Genealogie auch ihr Verhältnis zur großen (franko-)französischen literarhistorischen ‚Verwandtschaft‘ problematisiert, lädt vor dem Hintergrund neuerer Interpretationen des Lafayette’schen Prätexts besonders zu einer gender- und queer-kritischen Lektüre, aber nachträglich auch zur Anknüpfung an Darrieussecqs drei Jahre später erschienene ‚postkoloniale‘ Princesse-Variation Il faut beaucoup aimer les hommes ein. Wie Darrieussecq bietet auch Bayamack-Tam in ihrem fiktionalen Werk wie paratextuellen Begleitdiskurs eine elaborierte Reflexion über die hypertextuelle Genese des literarischen Textes, Resonanzkörper voller Echos und correspondances („Pour ce qui est du rapport avec les classiques, je suis avant tout une lectrice, nécessairement mon œuvre va être traversée par d’autres textes anciens“ 3 ), die Eigendynamik der (ré-)écriture („Je n’en sais rien“, antwortet sie auf die Frage nach den Umständen der ‚Geburt‘ ihrer Heldin Kimberly aus Si tout n’a pas péri avec mon innocence 4 ), aber auch über die Herausforderungen einer zeitgenössischen Literaturdidaktik im Kontext der multikulturellen französischen Gesellschaft, die Ambivalenzen literarischer ‚Hochkultur‘ zwischen symbolischer Gewalt und emanzipatorischsubversivem Potential. Über derlei Fragen äußert sich die 1966 in Marseille geborene Bayamack-Tam, Gründungsmitglied der Künstlervereinigung Autres et Pareils und Ko-Direktorin der Éditions Contre- Pied, Grenzgängerin abseits des Kanons und selbst eines „female counter-canon“, 5 nicht ‚nur‘ als Schriftstellerin und akademisch geschulte Literaturwissenschaftlerin, sondern auch auf Basis ihrer praktischen Expertise: Selbst in einer literatur-affinen Familie aufgewachsen, 1 Schneider 2011: 12. 2 Duras 2012: 45. 3 Bayamack-Tam 2010b. 4 Lançon 2013. Anlässlich der Publikation des Romans Je viens (2015) betont Bayamack-Tam erneut, dass jegliches Statement zur Struktur ihrer Texte als nachträgliche Projektion bzw. Reflexion des eigenen Schaffensprozesses zu verstehen sei: „Je n’ai pas au départ de plan aussi clair que ce que j’en dis après. Je pars de petites idées, d’images, de références qui déclenchent l’écriture“ (Nicolas 2015). 5 Vgl. Cairns 2015: 495. <?page no="362"?> 362 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam in der diverse Schreib- und Zitat-Ratespiele - später mit den Lesern der erwachsenen Autorin lustvoll fortgesetzt - an der Tagesordnung standen, 6 ist Emmanuelle Bayamack-Tam im (Nicht-nur-)Brotberuf als Lehrerin für französische Sprache und Literatur in der ‚sensiblen‘ Banlieue tätig. 7 Ihr - freilich alles andere als brachial pädagogisches - Schaffen nährt sich auch aus der Konfrontation mit dieser alles andere als privilegierten Lebenswelt; die Inspiration zu La Princesse de. verdankt sie nach eigener Aussage unter anderem ihren jahrelangen allmorgendlichen Trips mit jenem Bus Nr. 619, der als Endstation das Gefängnis von Villepinte ansteuert. 8 Auch im Nachhinein reflektiert Bayamack-Tam ihre literarische Produktion in diesem alternativen Rezeptionskontext; so kontrastiert - und parallelisiert - sie in Bezug auf ihren Romanerstling Rai-de-cœur ‚naive‘ Kommentare ihrer Schüler („En fait, madame, c’est une histoire de pédé“) sowie von Repräsentanten der offiziellen Literaturkritik und ihrer eigenen bildungsbürgerlichen Schicht („En termes plus choisis, des amis agrégés n’y ont pas vu autre chose“, bestätigt der Rezensent der Libération). 9 Wie Régis Sauders Film Nous, princesses de Clèves wirft derart auch Bayamack-Tams Werk die im letzten Jahrzehnt in Frankreich kontrovers diskutierte Frage nach Status und Sinnhaftigkeit klassischer Bildung im zeitgenössischen Schulsystem 10 - auch und gerade in defavorisierten Milieus -, die Frage der kulturellen transmission, der Rolle der Literatur bei der (De-)Konstruktion einer - mehr oder minder ‚unglücklichen‘? 11 - französischen Identität auf. In ihren Texten inszeniert Bayamack-Tam, „un réjouissant écrivain dégénéré [qui] défait les catégories et les meilleurs sentiments“, 12 „romancière inclassable“ mit einer mittlerweile solide etablierten „réputation de transgressive“, 13 bevorzugt problematische Antihelden bzw. „parias notoires“, 14 mehrfach marginalisierte Figuren, Jugendliche von der Peripherie der Gesellschaft, aus pathogenen Familienkonstellationen; Protagonisten, für die - dies wohlgemerkt abseits naiver Sozialromantik - Literatur als Prothese der diskursiven Selbstermächtigung des Subjekts gelegentlich eine überaus befreiende, potentiell lebensrettende Wirkung entfaltet. Weit über die bloße gelehrte Referenz hinaus wird damit auch auf diegetischer Ebene eine immer schon intertextuell fundierte, zitationelle Poetik widergespiegelt: 6 Vgl. Lançon 1996. 7 Einen Überblick über Werk wie Biografie Emmanuelle Bayamack-Tams bieten die Websites http: / / autres etpareils.free.fr/ artistes/ bayamack-tam.htm sowie http: / / www.pol-editeur.com/ index.php? spec=auteur& numauteur=15. Unter dem Pseudonym ‚Rebecca Lighieri‘ - „qui écrit aussi sous le nom d’Emmanuelle Bayamack-Tam“, wie es spielerisch in der Verlagspräsentation des jüngsten Lighieri-Romans heißt (URL: http: / / www.pol-editeur.com/ index.php? spec=livre&ISBN=978-2-8180-4178-9) - gibt die Autorin der Lust an der literarischen Identitätsmultiplikation („[…] je m’imagine très bien multiplier les pseudos, les avatars, pour écrire des choses encore différentes“) und konkret der „envie de s’aventurer sur le terrain du roman noir“ nach (zit. bei Tanette 2017), so mit Husbands (2013) und dem Thriller Les Garçons de l’été (2017). 8 Vgl. Bayamack-Tam 2010b. 9 Lançon 1996. 10 Vor dem Hintergrund der Ära Sarkozy betreibt Emmanuelle Bayamack-Tam ein ironisches Spiel mit der vermeintlichen ‚Nutzlosigkeit‘ der Literatur und der Literaturwissenschaft: „Je me suis inscrite en classe préparatoire littéraire: après tout, puisque j’ai d’ores et déjà une profession lucrative, je peux bien me permettre de faire des études longues et inutiles“, erklärt pragmatisch die nebenbei als Prostituierte tätige junge Protagonistin des Romans Si tout n’a pas péri avec mon innocence (2013a: 4273f.). 11 Vgl. Finkielkraut 2013a. 12 Lançon 2010. 13 Tanette 2017. 14 Bayamack-Tam 2013a: 1741. <?page no="363"?> Queering La Princesse de (Clèves) 363 Über entlehnte Sprache, im kreativ angeeigneten fremden Wort konstituieren sich Subjekt wie Text. Die Spezifik - und besondere Faszination - dieses Œuvres besteht eben in dieser Assoziation von ästhetischer wie gesellschaftskritischer „modernité radicale“ und permanentem Spiel mit der großen französischen bzw. okzidentalen Literaturgeschichte. 15 Immer wieder experimentiert Bayamack-Tam, „romancière furieusement moderne“, 16 zugleich mit der Re- Interpretation bzw. Re-Inkarnation klassischer Prätexte in einem neuen multikulturellen Kontext - ‚Inkarnation‘ in höchst plastischem Sinn. „Si la chair n’est pas triste, le corps est picaresque“: 17 Bayamack-Tams Texte entwerfen eine idiosynkratische Poetik pikaresk-karnevalesker, (nicht zuletzt gender-)transgressiver, buchstäblich monströser - und hier ohne euphemistische Ausflüchte rehabilitierter - Körperlichkeit. Nicht zufällig sieht sich die Autorin mit der Frage nach den Hintergründen ihrer offensichtlichen Präferenz für diverse „personnages […] physiquement atypiques“ konfrontiert: Dans mes livres, il y a toujours des personnages d’exclus, des personnages qui souffrent, des personnages qui re[ç]oivent peu d’amour et peu de considération, alors qu’ils en méritent. C’est vrai que ces existences un peu obscures, douloureuses, et en même temps déconsidérées, ce sont celleslà que j’ai envie de décrire, même si ça m’entraîne dans l’abjection et la déréliction, justement parce que ces vies sont inimaginables. Du coup, il y a de la place pour l’imagination. 18 Die fabelhafte Romanwelt Bayamack-Tams ist bevölkert von Figuren, die - vom wegen seiner roten Haare verspotteten Schuljungen bis zur genitalverstümmelten, adipösen dunkelhäutigen jungen Frau 19 - von der sozialen wie ästhetischen Norm abweichen, diese - inkarnierte Rebellion gegen den ‚biopouvoir‘ im Sinne Michel Foucaults - damit auch in Frage stellen. Hier entfaltet sich ein Panorama atypischer Korporalität in allen Farben, Formen und Größen, die von Text zu Text ganz und gar ‚unwahrscheinliche‘, monströs-märchenhafte Metamorphosen mitmacht. 20 15 Vgl. Bayamack-Tam 2010b (User ‚Ludovic‘). 16 Tanette 2017. 17 Lançon 2013. 18 Bayamack-Tam 2010b. Vgl. auch die Präsentation Bayamack-Tams auf der Website von Autres et Pareils: „[…] de livres en livres, les héros d’Emmanuelle Bayamack-Tam sont du genre à cumuler les tares, les disgrâces, les stigmates; ils n’arrivent à rien, ils tirent systématiquement le mauvais numéro. Parce que leurs vies sont inimaginables, ou insupportables à imaginer, il y a de la place ici pour l’imagination, et pour l’humanité“ (loc. cit.). 19 In diversen Interviews bekennt Bayamack-Tam sich ausdrücklich zu ihrer Anti-Mainstream-Präferenz für üppige Weiblichkeit („J’aime les femmes grosses, je déteste la maigreur“) und bestätigt, dass es sich bei besagter Heldin - Charonne, rekurrente Figur in ihrem Werk - um ein nicht zuletzt literarisch inspiriertes „idéal de beauté“ handle (Lançon 2013): „Quant à sa beauté, elle correspond à mes canons et à ceux de Baudelaire. C’est la Vénus Noire, le Beau Navire qui fend les flots, la foule, de sa poitrine“ (Nicolas 2015). 20 Wie bei Marie Darrieussecq (und bei Amélie Nothomb) ist die - von Ovid bis Kafka hochgradig intertextualisierte - Metamorphose auch bei Bayamack-Tam zentrales Thema und poetologisches Leitmotiv; auch hier wird mit der literarischen Überschreitung von Spezies-Grenzen gespielt. Debütiert Darrieussecq mit der extravaganten Geschichte der Wandlung einer mit allerlei ‚truismes‘ der Weiblichkeit terrorisierten jungen Frau zur ‚truie‘, so erzählt Bayamack-Tam in einem ihrer ersten publizierten Texte, der Novelle „6P. 4A. 2A.“ (1994), aus der - anfänglich enigmatischen, sich erst allmählich zur monströsen Gewissheit kristallisierenden - Perspektive eines in eine Menschenfrau verliebten Insekts (2003a: 5-9); der Titel wird in einer Anmerkung als „six pattes, quatre ailes, deux antennes“ - „formule d’identification des insectes“ - dechiffriert (ibid.: 26). Wie im Fall Darrieussecqs und ihrer metamorpho- <?page no="364"?> 364 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam „N’en déplaise à Boileau, le vraisemblable n’est pas le souci d’Emmanuelle Bayamack- Tam […]“, bemerkt Marta Krol zum Roman Une fille du feu (2008), 21 der unter souveräner Hinwegsetzung über „ce qu’on appelle la vraisemblance; la vraisemblance étant le désaveu des raisons inavouables“ 22 besagte Metamorphosen einer devianten, phantastischen und zugleich hochgradig literarisierten Körperlichkeit besonders eindrücklich illustriert. Auch hier liefert bereits der Titel den ersten Lektüreschlüssel zum Text: Kreuz und quer durch diese „histoire rudement improbable“ 23 treibt Bayamack-Tam ihr Spiel mit dem signifikant ‚singularisierten‘ Prätext Nervals, Repräsentant eines in mehreren Werken der Autorin aus gesellschaftskritischer wie poetologischer Perspektive problematisierten ‚Wahnsinns‘. Als Motto stellt sie dem Text ein Zitat aus einem als Vorwort zu den Filles du feu publizierten Brief Nervals an Alexandre Dumas voran, in dem jener einen regelrechten „Éloge de la folie“ anstimmt („Entouré de monstres contre lesquels je luttais obscurément, j’ai saisi le fil d’Ariane, et dès lors toutes mes visions sont devenues célestes“). 24 Bayamack-Tam schreitet aber auch zur parodistischen Reinkarnation ihres Prätexts, so etwa, wenn die Protagonistin ihr voluminöses, mit den Anforderungen der zeitgenössischen Mode dezidiert inkompatibles Hinterteil mit „deux truites sauvages, deux chimères insaisissables toujours prêtes à bondir et à cabrer“ vergleicht. 25 Nicht nur gegen den aktuellen okzidentalen Schönheitskanon rebellieren diese Figuren, sondern auch gegen ihre eigene Anatomie bzw. eine ihnen auf deren Basis aufgezwungene Geschlechtsidentität: So beschließt die neunjährige Kimberly in Si tout n’a pas péri avec mon innocence (2013), mit sofortiger Wirkung als Junge neu geboren zu werden. Energisch besteht das Mädchen auf der performativen Macht der Sprache - die es als solche freilich (noch) nicht zu theoretisieren vermag - und der Realität seiner „deuxième naissance“; in erbitterter Ablehnung einer zunächst durch eine physisch wie psychisch groteske Mutter repräsentierten ‚Weiblichkeit‘ („Vomir sa mère“, betitelt Clara Dupont-Monod lapidar ihre Rezension zu diesem Roman 26 ) betreibt Kim über Jahre hinweg konsequent ihr höchstpersönliches „projet de réorientation sexuelle“. 27 Kimberly ist nicht nur ein gender-transgressiver „garçon“, sondern auch und vor allem ein/ e leidenschaftliche/ r Leser/ in: Dieser Roman illustriert nicht nur das emanzipatorische Potential der Literatur, mit deren Hilfe die Heldin - die keine sein will - sich aus dem Bannkreis einer katastrophalen Familie rettet, sondern auch - und zwar auf der Ebene der Diegese wie der Textproduktion - die Geburt einer reflektiert zitationellen écriture aus dem Geist der lecture: Vor einer ausführlicheren Analyse der Princesse de., die sich im hypertischen Protagonistin wurde der Bezug zur literarischen ‚Entpuppung‘ der Autorin selbst hergestellt: „C’est peut-être un insecte qui parle. Un insecte cultivé, évidemment. Emmanuelle Bayamack-Tam, jeune professeur de lettres en banlieue parisienne, sort du cocon“ (Lançon 1996). 21 Krol 2008. 22 Genet 2015: 27. 23 Krol 2008. 24 Vgl. Lançon 2008. 25 Bayamack-Tam 2008: 303f. 26 Dupont-Monod 2013. 27 Bayamack-Tam 2013a: 490. Bemerkenswert die Antwort der Autorin auf die Frage - quasi unausweichliches kritisches Klischee - nach dem autobiografischen Background dieser kindlichen Gender- Rebellion: „Je tiens à distance l’autobiographie, mais la scène où elle [Kimberly] prend conscience de ça, je l’ai vécue. […] je ne voulais pas être un garçon: j’en étais un, contente de l’être! “ (Lançon 2013). <?page no="365"?> Queering La Princesse de (Clèves) 365 textuellen Polylog nicht zuletzt mit Lafayettes Princesses - de Clèves, aber auch de Montpensier - entfaltet, soll hier vorweg ein Blick auf diesen poetologisch besonders aufschlussreichen Text geworfen werden. Zitationelle (ré-)écriture und Poeto-Genese des Subjekts: Si tout n’a pas péri avec mon innocence Les rencontres nous signent. Nous devenons des livres d’or. Nous apprenons à parler des mots donnés par nos aimés. 28 Das Spiel der intertextuellen Referenzen - von La Fontaine bis Colette - wird bereits mit der paratextuellen Präsentation eröffnet (bei deren Gestaltung die P.O.L-Autorinnen - darunter Bayamack-Tam wie Darrieussecq - direkt involviert sind): Ce livre raconte comment l’esprit vient aux filles. On y apprendra, entre autres: - comment naître à neuf ans - comment survivre à la perte de l’innocence - comment grandir sans sombrer - comment aimer l’autre sans souhaiter sa diminution - comment faire entendre la musique de l’alexandrin - comment désirer sans fin - comment remettre sa vie dans le bon sens 29 Doch auch der Titel des Romans stellt bereits - die frappierende Syntax lässt es vermuten - ein Zitat dar, und zwar aus der französischen Übersetzung der Metamorphosen. Jedem Text sein Prätext - oder auch eine Überfülle von solchen; Si tout n’a pas péri avec mon innocence ist nicht zuletzt als Abgesang auf eine auch im poetologischen Sinne immer schon verlorene ‚Unschuld‘ zu lesen. Doch ein weiteres Mal verbindet Bayamack-Tam die klassische Referenz mit kritischer Gegenwartsreflexion: Das titelgebende Ovid-Zitat 30 verweist konkret auf die Episode der von ihrem Schwager Tereus entführten und vergewaltigten, durch Herausschneiden der Zunge gewaltsam zum Schweigen gebrachten Philomela, die - tragische Text/ il-Künstlerin - ihre Geschichte trotz allem zu erzählen vermag, indem sie sie in einen prächtigen Teppich verwebt. Das Motiv der „glossectomie“ wird durch diesen ganzen extravaganten Bildungsroman ausgesponnen, in dessen Verlauf die Protagonistin - die neben einer schweigsamen großmütterlichen „marionnette“, 31 unheimliches Gespenst aus jener Zeit „où on ne lui avait pas encore coupé la langue“, 32 in bildungs-aversem Umfeld aufwächst - mit literarischer Unterstützung ein familiäres und auch spezifisch ‚weibliches‘ Erbe der Sprach- und Machtlosigkeit überwindet: „[…] je n’en ai pas encore parlé, mais c’est une des mutilations 28 Darrieussecq 2016: 366. 29 Bayamack-Tam 2013a („Présentation“). 30 „[…] si non perierunt omnia mecum“ lautet die entsprechende Original-Passage aus dem 6. Buch (Vers 543) der Metamorphosen (vgl. P. Ovidi Nasonis Metamorphoseon Liber Sextvs). 31 Bayamack-Tam 2013a: 486. 32 Ibid.: 3530. <?page no="366"?> 366 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam que les gens s’infligent couramment entre eux: […] la glossectomie, c’est au moins aussi efficace que la castration.“ 33 Auch in diesem Kontext findet sich die bei Bayamack-Tam rekurrente Assoziation von Sprache und Sexualität: Gelingt es der Protagonistin - Überlebende mehrerer ‚Amputationsversuche‘ -, sich lesend und erzählend eine fremd-eigene ‚langue‘ zu erschaffen, so stellt sie sich auch die heikle Frage nach der Problematik eines noch so wohlmeinenden Ventriloquismus, die Frage, wie weit es legitim bzw. möglich ist, im doppelten Sinne des Bourdieu’schen „porteparole“ 34 für den anderen/ die andere zu sprechen. Nach skrupulöser Reflexion beschließt Kim, der enigmatischen Charonne, Opfer schmerzlich konkreter Klitorekto- und in ihrer Metaphorizität kaum minder gewaltsamer Glossektomie, paradigmatische Repräsentantin zwischen fremdbestimmter Marginalisierung und provokanter (Selbst-)Verweigerung hoch ambivalenter ‚Sprachlosigkeit‘, 35 ihre eigene „chanson“ zu widmen: „Je vais écrire une chanson pour toi, Charonne. […] ma chanson sera dédiée à toutes les filles à qui on a voulu couper la langue ou le clitoris - et je sais de quoi je parle, vu que j’ai survécu à plusieurs tentatives d’amputation.“ 36 Am Beispiel Charonnes, inkarnierte Herausforderung an die normative Gewalt der ästhetischen wie der gesellschaftlichen Vernunft, 37 inszeniert Bayamack-Tam an anderer Stelle die Subjektwerdung eines multipel marginalisierten weiblichen Objekts: Auf wundersame Weise wächst der Protagonistin der Fille du feu, die die Zumutung herablassenden Mitleids („Pitié pour moi jamais“ 38 ) und ihren Opferstatus verweigert, ihre amputierte Klitoris nach - und eine ‚eigene‘ Sprache zu; dass dieser Prozess der sexuellen wie diskursiven Selbstermächtigung nie ein für alle Mal vollendet, sondern ein immer wieder aufs Neue zu bestreitender Kampf gegen soziale - im Fall Charonnes konzentriert biopolitische, klassen-, gender- und ethnospezifische - Machtstrukturen ist, illustriert die Wiederkehr dieser poetologischen wie gesellschaftskritischen Schlüsselfigur in gleich mehreren späteren Romanen. 39 33 Ibid.: 3531f. 34 Vgl. Bourdieu 1997: 220ff. 35 „Elle a ça aussi, comme particularité irritante: elle ne parle pas, elle susurre, avec des pauses languides entre les mots, comme si elle n’en avait rien à foutre d’être entendue, rien à foutre non plus que son interlocuteur se lasse d’attendre la phrase ou le mot suivant“ (Bayamack-Tam 2013a: 1812f.). 36 Ibid.: 4870ff. 37 Bayamack-Tam beschreibt diese Protagonistin, die auf Schritt und Tritt „des fantasmes et des rejets, des désirs et des moqueries“ provoziert, als „une héroïne, une redresseuse de torts, une missionnaire“, aber auch als „un électron libre que je promène sur la société française. Comme une pierre de touche qui fait surgir le pire des gens qu’elle croise“ (Nicolas 2015). 38 Bayamack-Tam 2008: 431 et passim. 39 Diese Schlüsselfigur im Werk Bayamack-Tams besitzt auch eine genderwie exotismus-kritische Dimension (schon aus Anlass der Publikation ihres ‚afrikanischen‘ Romanerstlings Rai-de-cœur wendet Bayamack-Tam - wie Darrieussecq erfahrene Afrika-Reisende und mit einem aus Kamerun stammenden „animateur socioculturel“ verheiratet - sich prophylaktisch gegen den ‚Exotismus‘- Faktor in der Literaturkritik im Allgemeinen und gegen eventuelle exotisierend-biografisierende Lesarten ihres eigenen Œuvres im Besonderen (vgl. Lançon 1996). Charonnes ethnokulturelle Herkunft bleibt unklar; schon in Une fille du feu leistet sie mit ihrer massiven Körperlichkeit und ihren „origines douteuses“ (2008: 1284) Widerstand gegen die gesellschaftliche Obsession des „contrôle d’identité“ (ibid.: 35, 1278). Konsequent verweigert sie jegliche Antwort auf das ‚identitäre‘ Kreuzverhör, dem sie sich allerorts ausgesetzt sieht: „Il n’y a pas de réponse à cette question ni aux autres, celles qu’on s’est ingénié à me poser toute ma vie: ‚Tu es antillaise? sarde? mauritanienne? juive? mahoraise? <?page no="367"?> Queering La Princesse de (Clèves) 367 ‚Liebe‘ erscheint in Kims Augen auch und vor allem als Akt der Sprachgebung (oder zumindest deren Versuch): eifrig trägt sie ihren jüngeren Brüdern Baudelaire vor und stattet sie - im Gegensatz zu einer pathologisch narzisstischen Mutter und einem infantilen Vater um das schulische Fortkommen der wie einst sie selbst völlig vernachlässigten Kinder besorgt - mit möglichst verlockendem Schreibzeug für ihren ersten Schultag aus. Den kleinen Lorenzo - mit seinem flammend orangen Haar stigmatisierter Außenseiter, der sich schließlich (triste farbliche correspondance) am Marillenbaum im Garten der Familie erhängt - wird Kimberly trotz allem nicht gerettet haben; dieser „premier mort“ im Romanwerk Bayamack-Tams 40 markiert jedoch eine entscheidende Etappe in Kims eigener literarisch vermittelter Selbst- Autorisierung. „Kimberly s’invente une langue pour exister“: 41 Bevor sie andere mit ihren Liebes- und Lesegaben erlösen kann, muss die Protagonistin zu ihrer eigenen Sprache finden, dies zunächst - auf den Spuren der fernen Philomela - über intertextuelle bzw. -textile Kunst. Auch in ihrer paratextuellen Reflexion zu diesem Roman - gleich mehrfach ‚hyphologisches‘ Kunstwerk im Sinne Barthes’ 42 - rekurriert Bayamack-Tam auf diese poetologische Schlüsselmetapher: „Je tenais à ce que tous ces poèmes circulent dans le roman sans discontinuité, sans guillemets, tadjik? brésilienne? franco-guinéenne? ‘ Partout où je vais des voix me hèlent, des mains me frôlent, on me retient, on barre ma route: - Tu es kurde? […] Égyptienne? peul? samoane? vénézuélienne? libanaise? “ (ibid.: 89ff., vgl. auch 696f.). Spöttisch weist Charonne auch das naive Exotik-Bedürfnis ihrer französischen Gesprächspartner zurück, nicht gewillt, sich in „les terres brûlées, les républiques bananières et les estuaires infestés dont mes interlocuteurs ont bêtement gardé la nostalgie“ (ibid.: 97) verbannen zu lassen. Unter den ‚Weisheiten‘, die sie im imaginären Dialog mit einer abstrakten „chère opinion mondiale“ zum Besten gibt, nimmt das Plädoyer für die Akzeptanz ethnowie soziokulturell hybrider Identitäten als neue - paradox anti-normative - globale Norm der Zukunft einen privilegierten Platz ein: „[…] et je conseille à tout le monde de s’habituer à l’impureté raciale en général et à mon physique en particulier car il risque de devenir la norme […]“ (ibid.: 87ff., vgl. auch 1834f.). Das Verwirrspiel der (Non-)Identitäten rund um Charonne wird in Si tout n’a pas péri avec mon innocence fortgesetzt („T’es de quelle origine, Charonne? Elle lève sur moi ses yeux où rien ne se révèle et chuchote: - Comment ça? “; 2013a: 1810f.). Findet sich die weiße Unterschichtsfamilie der Erzählerin in ihrer Aversion gegen „cette fille de couleur“ („quelle couleur, on ne sait pas très bien“; ibid.: 1860), die sich Farbe zu bekennen weigert, ausnahmsweise vereint, so zieht sich die literaturaffine Kim „par une pirouette baudelairienne“ aus der Affäre: „Aux pays chauds et bleus où ton Dieu t’a fait naître, / Ta tâche est d’allumer la pipe de ton maître…“ (ibid.: 1818ff.). Diesen Zeilen mit ihrer transparent ‚phallischen‘ Symbolik widerfährt im Mund einer attraktiven jungen Frau, die sich als ‚garçon‘ neu erfunden hat und bald eine - lesbische? trans-heterosexuelle? - Liebesbeziehung mit Charonne eingehen wird, ein mehrfaches détournement. Eben die hier bei Baudelaire adressierte Figur der ebenso enigmatischen wie palimpsestuösen Malabaraise wird bei Gayatri Chakravorty Spivak ausführlich kommentiert. „Who are these ‚malabarians‘? “: Spivak dekonstruiert diese symptomatische ‚exotische‘ Fehlbenennung als „product[] of hegemonic false cartography“, Zeugnis einer „conventionally sanctioned carelessness about ethnic identities, which has rather little to do with the obvious ‚fact‘ that all identities are irreducibly hybrid, inevitably instituted by the representation of performance as statement“, und reflektiert die Möglichkeiten einer Lektüre, die die Leserin nicht zu „Baudelaire’s accomplice“ macht (2003: 153ff.). 40 Vgl. Lançon 2013. 41 Roy 2013. 42 „Texte veut dire Tissu; mais alors que jusqu’ici on a toujours pris ce tissu pour un produit, un voile tout fait, derrière lequel se tient, plus ou moins caché, le sens (la vérité), nous accentuons maintenant, dans le tissu, l’idée générative que le texte se fait, se travaille à travers un entrelacs perpétuel; perdu dans ce tissu - cette texture - le sujet s’y défait, telle une araignée qui se dissoudrait elle-même dans les sécrétions constructives de sa toile“ (Barthes 1994: 1527). <?page no="368"?> 368 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam parfois légèrement déformés, comme dans une tapisserie.“ 43 Ebenso wie Kimberly, „narratrice […] en lambeaux“ 44 und obsessive Leserin („Je lis comme une forcenée […]“ 45 ), sich auf diegetischem Level mit Hilfe allerlei klassischer Intertexte als Patchwork-Ich erfolgreich (re-) konstruiert, konstituiert sich der Text als ganzer im Wechselspiel inter- und intratextueller Referenzen - in diesem Roman erstmals offen zur Schau gestelltes zentrales ästhetisches Verfahren Bayamack-Tams: „Mes livres sont faits avec des autres livres, ce n’est pas nouveau mais je n’ai commencé à le montrer qu’avec Si tout n’a pas péri avec mon innocence […].“ 46 „Ce livre comprend des citations, parfois légèrement modifiées, de: Ovide, Baudelaire, Hugo, Rimbaud, Villon, Boileau, La Fontaine, Lapeyre“, heißt es im finalen auktorialen Paratext. 47 Die kanonische Literaturgeschichte ist in diesem „roman […] de l’autoengendrement“ 48 omnipräsent; durch die Lektüren und Rezitationsrituale der adoleszenten Ich-Erzählerin motiviert, geistert vor allem das Gespenst Charles Baudelaires von Seite zu Seite durch den Text („C’est par lui que je suis venue à la poésie“, betont Bayamack-Tam selbst anlässlich der Publikation des Romans 49 ). Unermüdlich zitiert Kim, bedingungslose Baudelaire-aficionada („Tu connais Baudelaire, toi? - Ouais. Je suis fan“ 50 ), die ihr Taschengeld freudig in eine beim lokalen bouquiniste erworbene Pléiade-Edition seiner Œuvres complètes - auch poetologisch symbolträchtiges Secondhand-Kultobjekt - investiert, 51 den sakrosankten „seul Charles qui vaille“ (durch den gesamten Text ausgesponnene rituelle Formel), 52 in einer Geste literarischer Selbstverteidigung zu ihrem höchstpersönlichen Schutzpatron und Alliierten im Überlebenskampf gegen ihre famille fatale (darunter ein halb-analphabetischer großväterlicher Patriarch namens Charles, „idiot aussi vaniteux qu’inculte“ 53 ) auserkoren. „Baudelaire […] m’est […] infiniment plus proche que n’importe quel membre de ma tribu ardente“, 54 erklärt Kim - und erfindet in einem eklektischen Mix hoch- und populärkultureller Referenzen ihre Genealogie neu: „Si je dois avoir une famille, alors que Baudelaire soit mon frère et Janis Joplin ma sœur. Pour les parents, on verra plus tard, mais pourquoi pas John Lennon et Yoko Ono? “ 55 43 Lançon 2013. „L’étoffe est rebrodée sans cesse par des quasi-redites partielles“, fasst auch Schlanger die Produktionslogik der réécriture in einer signifikanten Text/ Textil-Metapher zusammen (2008: 150). 44 Gavard-Perret 2013. 45 Bayamack-Tam 2013a: 2919. 46 Nicolas 2015. 47 Bayamack-Tam 2013a: 4885f. Diese paratextuelle Formel wird ihrerseits, leicht variiert, von Text zu Text fortgesponnen. „Ce livre est constamment ensemencé et parcouru par un vers de Rimbaud: ‚Pauvres morts! dans l’été, dans l’herbe, dans ta joie‘“, merkt Bayamack-Tam zu Pauvres morts an (2000: 1977f.). „Ce livre comprend des citations, parfois légèrement modifiées, de: Artaud, Belletto, Corneille, Kafka, Molière, Nijinski, Perec“, heißt es zu Le Triomphe (2005: 159), extravaganter Polylog, der Antonin Artaud (alias ‚Nanaqui‘), Vaslav Nijinsky (‚Vatza‘) und Franz Kafka (‚Amschel‘) in einem metaphysischen Niemandsland - postmortales Jenseits, „mouroir“ (ibid.: 57), „maison de correction“, „asile“ oder „purgatoire“ (ibid.: 52)? - zum philosophisch-rhetorischen und amourösen Gefecht samt mehrfach queerem „coup de foudre“ (ibid.: 140) zusammenführt. 48 Nicolas 2013. 49 Lançon 2013. 50 Bayamack-Tam 2013a: 2719f. 51 Ibid.: 1822ff. 52 Ibid.: 1335, 1733ff. et passim. 53 Ibid.: 1750. 54 Ibid.: 1276f. 55 Ibid.: 1295ff. <?page no="369"?> Queering La Princesse de (Clèves) 369 Auf den Spuren Baudelaires, „indétrônable dans mon petit Parnasse“, 56 wagt sie sich selbst an einen spielerischen Dialog mit der großen Literaturgeschichte, 57 aber auch mit dem Leser („Hypocrite lecteur, tu es peut-être mon semblable mais tu n’es sûrement pas mon frère […]“ 58 ). Doch auch auf paratextueller Ebene spiegelt Bayamack-Tam die Baudelaire- Manie ihrer Erzählerin; eine Reihe von Zwischentiteln (von „DANS LA MÉNAGERIE INFÂME DE NOS VICES“ über „L’AMOUR, C’EST LE GOÛT DE LA PROSTITUTION“ oder „FUSÉES“ bis zu „COMME UN MILLION D’HELMINTHES“ 59 ) zitiert das Werk des Dichters mit intendierter Transparenz. Angesichts der Leiche ihres Bruders rettet Kim sich durch einen regelrechten lyrischen Zitationsanfall, mit dem sie zunächst sprachlose Verzweiflung in vertrautes strenges Versmaß bannt („[…] me montent aux lèvres alexandrins et décasyllabes, pêle-mêle Baudelaire, Rimbaud, Verlaine, mes amis et ma vraie famille […]“ 60 ). Am Grab des geliebten „petit frère“ wird der verehrte ‚Charles‘ temporär durch Victor Hugo abgelöst, „ce poète que j’ai pris jusqu’ici pour un parangon d’académisme mais qui m’émeut aux larmes depuis que nous avons quelque chose en commun“. 61 „Pour les émotions fortes, la fièvre dans le sang, le diable au corps et les noces rebelles, sans compter la mort d’une fille ou d’un frère bien-aimés, Hugo vaut décidément mieux que Baudelaire […] et ça ne m’empêche pas de préférer Baudelaire à tout“, 62 erklärt Kim, hier Sprachrohr der Autorin, die aus ihrer literaturpädagogischen Praxis Ähnliches zu berichten weiß: „Je peux faire pleurer un élève en lui récitant des vers des Contemplations. Je ne peux pas le faire avec les Fleurs du mal. La mort, chez Hugo, c’est du vécu. De même que l’émotion amoureuse et la montée du désir. Baudelaire reste mon préféré […]. Mais il met l’émotion à distance.“ 63 Der Körper selbst bleibt nicht aus dem literarischen Spiel: Von ihrem Vater, mäßig erfolgreicher Betreiber eines Tattoo-Salons, lässt die Protagonistin sich zunächst eine Verszeile aus den Contemplations rund um das Handgelenk tätowieren - sorgsam kalligrafierter „bracelet“, 64 Talisman und Fessel zugleich: 65 „Est-ce que Dieu permet de ces malheurs sans nom? “ 66 Poetologisch bemerkenswertes Detail: Für ihr Victor Hugo-Tattoo wählt Kim zwar eine Schrifttype, die ihrer eigenen „écriture“ ähnelt - den Vorschlag, das gewünschte Zitat selbst zu kopieren und „à l’identique“ reproduzieren zu lassen, lehnt sie allerdings ab; 67 eine signifikante Minimaldistanz gegenüber dem leidenschaftlich angeeigneten, ja inkorporierten fremden Text bleibt trotz allem gewahrt. Immer wieder liest Kim am Grab buchstäblich am 56 Ibid.: 4618. 57 So etwa, wenn sie die Widmung der Fleurs du Mal an Théophile Gautier ihrerseits in eine Hommage an Baudelaire verwandelt: „Que les gens puissent vivre comme si de rien n’était, sans avoir lu une ligne du vrai poète impeccable, du seul parfait magicien ès lettres françaises, voilà qui continue de me surprendre“ (ibid.: 1744ff.). 58 Ibid.: 2022, vgl. auch 1874. 59 Ibid.: 1623f., 2915f., 3137, 4088f. 60 Ibid.: 2061f. 61 Ibid.: 2134f. 62 Ibid.: 4749ff. 63 Lançon 2013. 64 Bayamack-Tam 2013a: 2170f. 65 Ibid.: 2135ff. 66 Ibid.: 2146. 67 Ibid.: 2162ff. <?page no="370"?> 370 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam eigenen Leib ihren „alexandrin hugolien“; 68 von Jahr zu Jahr, Verszeile um Verszeile, schreitet die (Inter-)Textualisierung des Körpers der Heldin voran, die sich, ihrem Selbstverständnis nach bereits „poète“, in lustvoller Verzweiflung von Lyrik überwuchern lässt. 69 Auf Hugo folgt - in provokanter intertextueller Körper-Montage, in der „Dieu et le diable sur le même poignet“ sich vereinen - wiederum Baudelaire („C’est le diable qui tient les fils qui nous remuent“); 70 dieselbe Verszeile taucht im Roman schon zuvor in parodistischem Kontext auf: Eines Tages rutscht Kim, die als Escort-Girl langwierige und -weilige Séancen mit ihren Kunden übersteht, indem sie innerlich ihre Lieblingsgedichte rezitiert (die betreffenden polyphonen Passagen stellen einen wilden Mix aus lautstarker porno-inspirierter Performance und heimlicher lyrischer Wider-Rede dar), mitten im Akt mit einem antipathischen Klienten plötzlich ein temperamentvolles „C’est le diable qui tient les fils qui nous remuent“ heraus, woraufhin besagter Herr - von literarischem Wissen unbeschwert, doch von beträchtlicher Bigotterie - die Flucht ergreift, nicht ohne sich für den moralischen Weckruf zu bedanken. 71 Ihrer ersatzmütterlichen Mentorin gegenüber - ihrerseits literatur-affine Ex-Euthanasie- Pionierin und (beinahe schon Ex-)Prostituierte - rechtfertigt Kim ihren lukrativen Nebenerwerb unter Rekurs auf ein anderes Baudelaire-Zitat („L’amour, c’est le goût de la prostitution. Il n’est même pas de plaisir noble qui ne puisse être ramené à la Prostitution“ 72 ); in kreativer Abwandlung ihres Lieblingsdichters insistiert sie zugleich auf ihrer Distanz gegenüber „la ménagerie infâme des vices des adultes“. 73 Die konkrete und metaphorische Menagerie im Werk Bayamack-Tams wäre eine eigene ausführliche Studie wert; auch über ein extravagantes animalisches Imaginarium wird in Si tout n’a pas péri avec mon innocence die Problematik einer immer schon zitationellen Sprache, die Kunst des adäquaten ‚Gebrauchs‘ allerlei mehr oder minder klassischer Prätexte parodistisch illustriert. Im bizarren Domizil Gladys Espérandieus haust neben einem überaus literarischen „chat aux prunelles mystiques“ 74 auch ein gelehrter sprechender Vogel namens ‚Oreste‘, der sein umfangreiches Repertoire bei jeder passenden und vorzugsweise unpassenden Gelegenheit laut krächzend zum Besten gibt. Anscheinend mühelos deklamiert der gefiederte Literaturfan klassische Alexandriner („Oui, c’est du Racine. Il aime la poésie: il connaît plein de vers“), was Kim zu einigen zynischen Reflexionen über die neuro-kulturelle Kapazität ihrer eigenen ‚degenerierten‘ Familie inspiriert („Qu’un crâne de piaf réussisse à mémoriser des alexandrins alors qu’aucun membre de ma famille nombreuse n’y est jamais parvenu, voilà qui en dit long sur leurs cerveaux à eux“). 75 Abrupt switcht der eklektische Rezitator von seinem klassischen Programm zu sexualisiertem Vulgär-Slang („Sale pute! Je vais t’en donner, moi, d’la bite! P’tite salope! “), zum verblüfften Amüsement der Protagonistin („Je l’ai jamais entendu dire ça! D’habitude, il récite Andromaque! “ 76 ), die selbst gerade lernt, in fröhlichkreativer Respektlosigkeit über die ‚Klassiker‘ hinaus-, an ihnen vorbei- oder auch durch sie 68 Ibid.: 4209. 69 Ibid.: 4565ff. 70 Ibid.: 4236ff. 71 Ibid.: 4094ff. 72 Ibid.: 3037ff. 73 Ibid.: 2285. 74 Ibid.: 2730. 75 Ibid.: 2628ff. 76 Ibid.: 3044ff. <?page no="371"?> Queering La Princesse de (Clèves) 371 hindurchzuschreiben. Der Vogel Oreste (ein Beo, wie schließlich ornithologisch präzisiert wird) - perfekter Plagiator, paradigmatischer Anti-Autor - fungiert als Schlüsselsymbol in einem Roman, der auf diegetischer wie auf poetologischer Meta-Ebene die Kunst des literarischen Recycling reflektiert (es passt ins Bild, dass Bayamack-Tam im Interview selbst ein kurioses Wunschphantasma gesteht: „[…] elle aurait aimé être empaillée […]“ 77 ). Protagonistin Kim wächst - in der Auseinandersetzung mit jenen kanonischen Texten, die ihre paradoxe Individualität konstituieren - über den Status des enthusiastisch Hugo, Baudelaire & Co. zitierenden ‚Papageis‘ freilich rasch hinaus. Sie studiert nicht nur - ihr einträglicher Teilzeitjob macht es möglich - Literaturwissenschaft (dies in der tristen Gesellschaft diverser „créatures disgraciées, petites, maigres, bossues et aussi scrofuleuses que si elles sortaient d’un roman du XIX e siècle“ 78 ), sondern beginnt vor allem auch selbst zu schreiben. Ihr Schutzpatron ‚Charles‘ begleitet sie bis an jenen Punkt, da sie nach erfolgreicher Aneignung des fremden Textes zur literarischen Emanzipation - und parallel dazu „reconversion professionnelle“ („Au lieu d’être une travailleuse du sexe, je vais devenir poète“) 79 - bereit ist: „Je vais arrêter de lire du Baudelaire! […] Je vais arrêter d’en lire parce que je vais en écrire. Ma décision est prise: hop, je me lève […] et file illico me mettre à mes fleurs du mal.“ 80 An ihr eigenes Werk macht die frisch berufene Dichterin sich aus der schützenden Distanz der Fremdsprache Englisch, klingt jeder lyrische Versuch in ihrer Muttersprache („Vomir sa mère“, lautet wie gesagt die Devise 81 ) doch peinlich misslungen, mehr als nur Second-hand. Ein Stück weit folgt der Roman Kim in ihre fröhlich hybridisierte franko-englische Textwelt: Pour ma leçon de ténèbres, ma ballade des pendus, […] pour mes odes to a nightingale, mes freed from desire, mes come in mouth, mes may day et mes cruel summers, l’anglais, décidément, est la meilleure des langues, celle que je tiens de Patti et de Bob à défaut de l’avoir apprise chez Keats. Et pourtant, to think is to be full of sorrow, voilà une phrase que j’aurais voulu écrire moi-même vu que j’en éprouve sûrement mieux que personne la vérité tragique. 82 In buntem Mix vermengt Kim im Auftrag Bayamack-Tams derart Höhenkammliteratur und Populärkultur, Baudelaire und Bob Dylan, Rimbaud und Patti Smith; nun, da sie ihre ‚eigene‘ Sprache erfunden hat und als Autorin - auch und vor allem ihrer selbst - Anspruch auf ‚Originalität‘ erhebt, wird die Literatur von der Überlebenshilfe auch zum störenden Hindernis, das bisher lustvoll erlebte polyphone Intertext-Konzert des eigenen Bewusstseins zum Fluch der Sekundarität: 77 Lançon 2008. Ausführlich entfaltet wird dieses Phantasma im Roman Pauvres morts, in dem zwei alte Damen mit derselben „idée […] de nous faire empailler“ liebäugeln (2000: 1211). „Qu’est-ce que ça aurait été bien de conserver toute sa famille comme ça, empaillée, au lieu d’avoir simplement les tombes“, meditiert die kokette Nelly (ibid.: 1279f.), die minutiös die saisonal adäquate „gestion posthume“ ihrer farbenfrohen Outfits plant (ibid.: 1312). Die Konditionen ihrer prekären Verewigung („L’éternité, n’exagérons pas“; ibid.: 270) diskutieren die Protagonistinnen mit einem jungen Taxidermie-Liebhaber, der als passionierter ‚Interpret‘ seiner menschlichen wie animalischen Objekte („Je n’invente rien: j’interprète“; ibid.: 1338f.) auch eine poetologische Dimension besitzt und auf einigermaßen makabrem Umweg ein weiteres Mal die heikle Frage künstlerischer ‚Originalität‘ aufwirft. 78 Bayamack-Tam 2013a: 3720ff. 79 Ibid.: 4549f. 80 Ibid.: 4524ff. 81 Dupont-Monod 2013. 82 Bayamack-Tam 2013a: 4539ff. <?page no="372"?> 372 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam […] ils sont tous là, à me cavaler dans le cerveau, Hugo, Baudelaire, Rimbaud […]. Or, pour ma première fois avec Charonne, j’aimerais autant ne pas avoir la tête encombrée par les mots des autres; j’aimerais que ceux qui me monteront aux lèvres et que je déverserai dans sa petite oreille n’aient pas déjà servi; j’aimerais les inventer pour elle, pour célébrer la nouveauté bouleversante de cet instant. 83 *** Vor dem Hintergrund der einleitenden Analyse dieses „roman d’apprentissage“, 84 der - poetologische Parabel mit aufklärerischer Dimension, wenngleich ohne jeden missionarischen Charakter - auf mehreren Ebenen die Entfaltung der (ré-)écriture aus der lecture illustriert, soll nun eine andere literarische Variation über eine immer schon verlorene Unschuld genauer in den Blick genommen werden, auch sie Fragment jener dichten hypertextuellen „tapisserie“, die Emmanuelle Bayamack-Tam von Roman zu Roman fortwebt: La Princesse de. La Princesse de. … de? Transgender trouble und multiple Hypertextualität On en revient toujours là, finalement: comment reconnaître un homme d’une femme? 85 Wie Darrieussecqs Clèves fungiert auch La Princesse de. als transparente Allusion; durch die Leerstelle in einem raffiniert unvollendeten Titel - „titre choc qui fait forcément penser à La Princesse de Clèves“ 86 - wird bei einer Leserschaft mit einem Minimum an literarischer Vorbildung das Programm intertextueller ‚Autovervollständigung‘ aktiviert (und damit vom Cover an die Leserin als Ko-Autorin bzw. Ko-Akteurin des romanesken Spiels adressiert). Die Assoziation mit der zweifellos berühmtesten Princesse der französischen Literaturgeschichte - und ihrer weniger bekannten Schwester de Montpensier - stellt sich unweigerlich ein, ist der Autorin zufolge aber nicht als exklusiv zu betrachten. „En fait, je n’ai pas immédiatement pensé à La Princesse de Clèves, ce qui m’intéressait, c’est la charge poétique du mot ‚princesse‘“, erklärt Emmanuelle Bayamack-Tam zu ihrem Titel („une suggestion d’un ami proche“), den sie in einem ganzen Netzwerk intertextueller Referenzen - von der Märchenprinzessin auf der Erbse über Lafayette und Dumas bis hin zu Italo Calvino - situiert: Avec ce titre […] je m’inscrivais dans une espèce de tradition littéraire, dans la mesure où il y a pas mal de titres de romans avec des vicomtes, des princes, des ducs. Il y a Le Baron perché, d’Italo Calvino, Le vicomte de Bragelonne de Dumas. J’ai aussi pensé à La princesse de Montpensier qui est aussi de madame de Lafayette. Ce n’est pas une référence exclusive à La Princesse de Clèves. Et le point final, Princesse de., c’est aussi le petit pois de la princesse. 87 83 Ibid.: 4753ff. 84 Gavard-Perret 2013. 85 Bayamack-Tam 2008: 494. 86 Bayamack-Tam 2010b (User ‚Dodcoquelicot‘). 87 Ibid. <?page no="373"?> Queering La Princesse de (Clèves) 373 Im Unterschied zu Radiguets Bal du comte d’Orgel, Vilmorins Madame de und Darrieussecqs Clèves handelt es sich hier also um keinen exklusiven Princesse de Clèves-Hypertext. Der Titel und sonstige paratextuelle Hinweise der Autorin stiften freilich auch im Fall dieser Princesse einen Lektüreschlüssel, der von der Kritik dankbar aufgegriffen wurde; wiederholt wird Bayamack-Tams Roman durch das Prisma des Lafayette’schen Prätexts interpretiert. So parallelisiert Philippe Lançon La Princesse de. systematisch mit ihrer Vorfahrin de Clèves - dies vor dem Hintergrund der zum Zeitpunkt der Publikation noch nicht allzu lange zurückliegenden präsidentiellen ‚Affäre‘: „Contrairement à celle de Clèves, la Princesse de. ne renonce pas à l’amour et ne semble pas faire débat politique, ce qui est dommage […] Daniel est un fils de., mais, à sa façon, il est aussi raffiné que Madame de Clèves. […] Sa morale amoureuse […] n’aurait pas déplu à Madame de La Fayette: […].“ 88 Derart konstituiert sich die komplexe Hypertextualität dieser Princesse zwischen auktorialer Intention resp. nachträglicher Selbstinterpretation, literaturkritischer Einordnung und transtexueller Kompetenz bzw. Sensibilisierung der Leserin; mit Lafayettes Princesse(s) quergelesen, entfaltet auch der Roman Bayamack-Tams eine aufschlussreiche zusätzliche Bedeutungs- und literarhistorische Tiefendimension - und wirft seinerseits ein neues Licht auf manchen Aspekt des klassischen Prätexts: Dies gilt wie erwähnt insbesondere für den in neueren Studien herausgearbeiteten Queer-Faktor der Princesse de Clèves (und ihrer Rezeptionsgeschichte, angefangen mit Valincour), an den Bayamack-Tams Transgender-Variation kreativ anknüpft. Die Prinzessin auf der Erbse, die Prinzessin ohne Clèves, doch auf den Punkt gebracht: Im Lauf der Lektüre erschließen sich noch andere Facetten des polysemischen Titels. Dieser evoziert nicht zuletzt die auch in poetologischer Hinsicht interessante Motivik einer unterbrochenen Filiation, die Identitätsproblematik eines ‚entwurzelten‘ Protagonisten, der am Ende des Romans auf der Suche nach einer Perspektive jenseits des de. in die mythische Heimat der Adoptivmutter - und in einen literarischen Raum jenseits des Textes - aufbricht. Bereits der Titel deutet die transzendente Dynamik dieses Romans an, der in medias res beginnt - und ebendort endet -, von vornherein über sich selbst hinausweist, in seine hypotextuelle Vorgeschichte, aber auch in seine offene Zukunft: „J’expliquerai un jour, si je trouve les mots […] J’expliquerai un jour, si j’explique […]“: 89 Durch den gesamten Roman wird diese rituelle, immer wieder minimal variierte Formel ausgesponnen, Devise eines von Anfang bis Ende der différance verschriebenen Textes. Zeichnet sich das Prosawerk Bayamack- Tams - Herausforderung nicht nur in gender-, sondern auch in genre-theoretischer Hinsicht - allgemein durch seinen oft frappierend lyrisch-repetitiven Textduktus aus, so erscheint auch La Princesse de. wesentlich durch die melancholische Spiralbewegung und sukzessive Verdichtung derartiger obsessiv wiederkehrender Sätze strukturiert, die zugleich das unglückliche, unablässig um die gleichen Dilemmata kreisende Bewusstsein des Protagonisten 90 88 Lançon 2010. 89 Bayamack-Tam 2010a: 17, 21; vgl. auch ibid.: 38, 50 et passim. Überflüssig zu bemerken, dass all diese Versprechen einer ewig aufgeschobenen Erklärung, ja (Er-)Lösung im Text nicht mehr eingelöst werden - es sei denn eben ex negativo. 90 „[…] je n’ai rien contre le stupre, le stupre est mon métier […]“ (ibid.: 14f.); „Je n’ai rien à dire contre l’ivresse - l’ivresse est mon métier […]“ (ibid.: 21), umschreibt dieser etwa seine berufliche Identität. Die Frage bleibt offen, wie weit in dieser rekurrenten Formel intendierterweise das Echo von Robert Merles La mort est mon métier mitklingt (unter diesem Titel legt der Autor 1952 die ‚Pseudo-Memoiren‘ von Rudolf Höß alias Rudolf Lang vor). Nicht weniger obsessiv beschwört Bayamack-Tams Prota- <?page no="374"?> 374 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam und den Prozess der Textgenese selbst reflektieren. Oft stellen diese refrainartigen, poetischrhythmisierten Formeln ihre intertextuelle Provenienz gezielt zur Schau (so etwa, wenn Charonne in Si tout n’a pas péri avec mon innocence durchgehend mit den Baudelaire’schen Attributen „molle enchanteresse“ und „majestueuse enfant“ versehen wird 91 ) und verknüpfen den Text derart mit seiner literarischen Vergangenheit. Mit der Widmung des Romans, „dédicace collective à la Jules Vallès“, wird das zitationelle Spiel fortgesetzt: „Pour Ubris. / Pour tous ceux qui crèvent en prison, / ‚littéralement et dans tous les sens‘“. 92 In einem großzügig abgesteckten Rahmen intertextueller und auch intermedialer Referenzen - von Lafayette über Proust und Kafka bis zu David Cronenberg 93 - webt La Princesse de. aber auch die ‚tapisserie‘ des Œuvres Bayamack-Tams - kohärentes (Intra-)Text-Kontinuum voller rekurrenter Motivfäden und auch Figuren - fort. Ähnlich wie Darrieussecqs Clèves stellt auch diese palimpsestartige Princesse de. eine produktive Synthese zwischen hypertextueller Inspiration und idiosynkratischer Poetik dar; in bemerkenswerter Dichte konzentrieren sich hier die ‚typischen‘ narrativen Verfahren und Schlüsselthemen der Autorin, von einer literarisch (ko-)konstituierten Subjektivität über eine karnevalesktransgressive Körperlichkeit 94 (wie Darrieussecq holt auch Bayamack-Tam - in radikalem Kontrast zur abstrakten, dezent desinkarnierten Princesse Lafayettes - den Körper in seiner Kreatürlichkeit, ja Abjektion in einen Text, über dessen Seiten sich „eimerweise Blut, Sperma und Erbrochene[s]“ ergießen 95 ) bis hin zur (De-)Konstruktion stets prekärer, inkonstanter sexueller und Gender-Identitäten, paradoxe Konstante im Werk Bayamack-Tams, Spezialistin für die literarische Exploration der „flottements de l’identité sexuelle“, 96 die vermeintlich ‚natürliche‘ Körper gegen den Strich liest resp. schreibt und auch in Bezug auf ihre eigene Person jegliche simple Kategorisierung verweigert: „Je ne me considère ni comme un écrivain, gonist jedenfalls das heikle ‚Glück‘ der verehrten Adoptivmutter: „Enfin, l’essentiel c’est que Barbara soit heureuse […]“ (ibid.: 142); „L’important, c’est que Barbara soit heureuse […]“ (ibid.: 152, 154, 179, 254); „L’essentiel, encore et toujours, c’est que ma mère soit heureuse […]“ (ibid.: 263) etc. 91 Bayamack-Tam 2013a: 1738, 1754, 1804, 1867 et passim. 92 Im Tchat mit Libération erläutert Bayamack-Tam (2010b) auch die gesellschaftskritische Dimension ihres Textes: „Même si mon livre n’est absolument pas un roman engagé, ni un roman à thèse, montrer l’archaïsme de la prison française, un lieu qui engendre la folie, la maladie, la mort, c’était quand même un de mes objectifs.“ 93 Vgl. Ladreau 2010. Wenngleich hier wie im zitierten paratextuellen Kommentar der Autorin nicht erwähnt, stellt auch Jean Genets Notre-Dame-des-Fleurs (1943) einen plausiblen Prätext für La Princesse de. dar. Explizit auf Genets Werk bezieht sich Bayamack-Tam drei Jahre später in einem Interview zu ihrem in mehr als einer Hinsicht an die Princesse anknüpfenden Roman Si tout n’a pas péri avec mon innocence: „Là où il y a de l’instabilité, il y a de la vie. Jean Genet le dit quelque part. J’ai lu Notre- Dame-des-Fleurs dans les années 80. Je ne le connais pas bien, mais il est marquant pour moi. Il est dur, Genet. Sans pitié et sans merci“ (Lançon 2013). Für den Hinweis auf diese transtextuelle Relation danke ich Mechthild Albert. 94 „On me renvoie toujours le fait que j’écris sur le corps, que le corps serait pour une moi une thématique centrale. D’abord, j’ai du mal à imaginer que l’on puisse écrire sur autre chose. Tout le monde, finalement, écrit sur le corps, d’une façon plus ou moins manifeste“, erklärt Bayamack-Tam. Auch und gerade in La Princesse de. sei der Körper „central, puisqu’il est question de transsexualité, le corps entre deux sexes, avant, après l’opération. […] Oui, effectivement, comme dans mes précédents livres, le corps occupe une place importante“ (2010b). 95 Renöckl 2011. 96 URL: http: / / www.pol-editeur.com/ index.php? spec=livre&ISBN=978-2-84682-272-5 [Verlagspräsentation Une fille du feu]. <?page no="375"?> Queering La Princesse de (Clèves) 375 ni comme une femme. À vrai dire, j’ai du mal à me considérer comme quelque chose.“ 97 Bereits in einem Interview zu ihrem Romanerstling Rai-de-cœur bekennt die Autorin sich zu ihrer Vorliebe für diverse „personnages à l’identité sexuelle indéterminée“; 98 aus Anlass der quasi zeitgleichen Publikation des Romans Si tout n’a pas péri avec mon innocence und des Theaterstücks Mon père m’a donné un mari hält sie wiederum fest: „L’identité sexuelle est litigieuse chez tout le monde, on s’en arrange ou pas. L’homosexualité, la transsexualité, la bisexualité, c’est mon sujet.“ 99 Diese Einsicht wird in der minimal variierten bzw. relativierten Formulierung einer „identité sexuelle - finalement litigieuse chez à peu près tout le monde“ auch dem Protagonisten der Princesse de. gleich einleitend in den Mund gelegt. 100 Über diese Transgender-Figur - die sämtliche Kategorien sexueller, geschlechtlicher, aber auch sozioethnokultureller Identität sprengt, „mon anatomie d’origine“ 101 als ebenso willkürlich wie ein eventuelles (im konkreten Fall ohnedies unbekanntes) pays d’origine betrachtet - reflektiert Bayamack-Tam „la question de l’identité qui parcourt toute son œuvre“: „Plus que jamais, l’identité sexuelle […] devient relative et sujette à questionnements. Transformisme, transsexualité, travestissement: le roman rappelle les potentialités offertes à l’homme en ce début de XXI e siècle pour changer son appartenance, physique ou morale, mais aussi les douleurs et les interrogations qui les accompagnent.“ 102 Transformationen, Transgressionen: Karneval der Geschlechter und gesellschaftliche Gegenwelt „De toutes les femmes du bus, je suis la seule à être un homme“: 103 In La Princesse de. wird der Karneval der Geschlechter bereits mit dem ersten Satz eröffnet. Von Anfang an wird die „féminité“ des Protagonisten als Performance dekonstruiert, als solche in seinen Augen freilich 97 Lançon 1996. Die Demontage jeglicher (Gender-)Identität bei Bayamack-Tam - dezente und literarisch überaus gebildete, damit umso irritierendere Rebellin - provoziert gelegentlich symptomatische Reaktionen. Einen (vergeblichen) Versuch, dieses beträchtlichen gender trouble reflektierende bzw. generierende Werk - hier konkret Si tout n’a pas péri avec mon innocence und Mon père m’a donné un mari, mit einem ambivalenten Kompliment zu „ces deux bijoux“ verharmlost - um den Preis allerlei rhetorisch-ideologischer Verrenkungen doch noch in einer zünftigen literaturkritischen Schublade unterzubringen, unternimmt François Xavier (2013), der ausgerechnet Bayamack-Tams Œuvre als Manifestation einer vagen écriture féminine interpretiert: „J’ai en horreur les stigmatisations et les enfermements dans des genres précis mais […] on se demande tout de même si un homme aurait été capable de cela, comme si certaines démesures ne peuvent être osées que par le talent féminin qui possède une précision spécifique dans la compréhension de certaines choses… et donc dans son rendu.“ 98 Lançon 1996. 99 Lançon 2013. 100 Bayamack-Tam 2010a: 9. 101 Ibid.: 12. 102 Ladreau 2010. 103 Bayamack-Tam 2010a: 9. Derartige syntaktische Mini-Gender-Clashes - mit humoristischem Effekt und dekonstruktiver Tiefendimension - finden sich häufig bei Bayamack-Tam, so auch in Une fille du feu: Ratlos verfolgt die Protagonistin die extravagante Gender-Performance ihrer engsten Familie, die ein ganzes System vermeintlich klar definierter Identitäten ins Wanken bringt („[…] si ma tante est un homme, les repères s’effondrent et tout est possible“; 2008: 614) und in der die Rollen schließlich radikal neu verteilt werden: „Ton père, c’est ta tante“ (ibid.: 781). „Ce sont de chic filles. Surtout ton père“ (ibid.: 1239), beruhigt sie ein wohlmeinender Bekannter. <?page no="376"?> 376 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam ‚authentischer‘ als das „théâtre clinquant“ jener, deren unreflektierte Geschlechtsidentität sich lediglich dem Geburtsrecht einer vermeintlich unproblematischen weiblichen Anatomie verdankt: „J’expliquerai un jour, si j’explique, comment les hommes finissent par devenir des femmes beaucoup plus convaincantes que celles qui ont reçu in utero le petit paquet bien ficelé de leurs attributs anatomiques et y ont vu dès le départ une bonne raison pour ne rien faire, un alibi pour n’être rien.“ 104 Für Daniel alias Marie-Line ist seine ‚Weiblichkeit‘ keine biologisch sanktionierte Selbstverständlichkeit, sondern das Resultat permanenter kosmetischer, modischer, psychologischer Arbeit am eigenen Ich. In allen Lebenslagen kultiviert der Protagonist eine elaborierte ‚Maskerade der Weiblichkeit‘; 105 auch und erst recht im tristen Tross der Besucherinnen, die zur wöchentlichen Visitenzeit ins Gefängnis vor den Toren von Paris pilgern, ist er die perfekteste, weiblichste - und wohl auch die misogynste - Frau. Der Bus, „ce fameux bus de banlieue que j’ai pris pendant dix ans“, wird im paratextuellen Kommentar der Autorin als eine jener räumlichen/ narrativen Matrices identifiziert, aus denen heraus sich der gesamte Text entfaltet: „[…] comme toujours pour moi, à l’origine d’un livre, il y a plusieurs sources d’inspiration qui se croisent: il y a ce bus, l’image d’un héron dans les marais, même si cette image a quasiment disparue dans l’écriture. Après, il y a eu le projet conscient et délibéré de parler de la prison, et de parler de la transsexualité.“ 106 Jamais un bus n’a eu tant d’affreuses personnes: Bayamack-Tams Einstieg liest sich quasi als Inversion der hyberbolischen Eröffnung Lafayettes. An die Stelle von magnificence und galanterie eines von unzähligen „belles personnes“ und „hommes admirablement bien faits“ bevölkerten Hofes, 107 romaneske „concentration de […] perfections“ samt „parti pris d’excellence“, 108 tritt ein dezidiert anti-grandioses Panorama, der „troupeau hâve“ der aus der Sicht des Ich-Erzählers ästhetisch wie sozial disqualifizierten Gefängnistouristinnen, 109 lächerlich in ihrer Telenovela-Sentimentalität und ihrem geradezu wollüstigen „goût des larmes“, 110 schauerlich anzusehen „avec leurs mèches tricolores, leurs piercings infectés, leur peau martyrisée, leur maigreur souffreteuse ou leur graisse ballottante“, 111 mit ihren „gibbosités indomptables, les cheveux brûlés par les mauvais traitements, les jambes torses, les nuques voûtées, les bassins de guingois, les bouches gercées sous le rouge à lèvres mal choisi et mal appliqué - une nacre grasse qui s’écrase sur des dents abîmées -, et sachez que je n’invente rien et que je n’ai pas besoin d’exagérer vu que la vérité se suffit à elle-même et que la laideur est la chose du monde la mieux partagée“. 112 Trotz dieser einleitenden deskriptiven Orgie der Hässlichkeit bleibt die strukturelle Verwandtschaft - wenn auch ex negativo - zum Text Lafayettes bestehen: Auch hier haben wir es von Anfang an gleich mehrfach mit einem geschlossenen Dispositiv zu tun: dem Bus zunächst, fahrendes Horrorkabinett, dann dem Gefängnis, Ort institutionalisierter sozialer und visueller Kontrolle, sadistisch-panoptischer 104 Bayamack-Tam 2010a: 9. 105 Vgl. Joan Rivieres mittlerweile klassischen Text Womanliness as a Masquerade aus dem Jahr 1929 (Riviere 2000). 106 Bayamack-Tam 2010b. 107 Lafayette 2014c: 332. 108 Malandain 1989: 54. 109 Bayamack-Tam 2010a: 10. 110 Ibid.: 175. 111 Ibid.: 93. 112 Ibid.: 10f. <?page no="377"?> Queering La Princesse de (Clèves) 377 Mikrokosmos par excellence, 113 in den die Besucherinnen erst nach gebührender Warte- und Erniedrigungszeit durch die in kontextuell einigermaßen zynischem Himmelblau - „un bleu de nues, un bleu d’espaces et de rêves d’évasion“ - gehaltenen Pforten eingelassen werden. 114 Die Position des Transgender-Protagonisten, der gegenüber dem tragikomischen Chor „des K dans le 619“ 115 die spöttische Solostimme übernimmt, bleibt von extremer Ambivalenz: Daniel (alias Marie-Line), der seine eigene multiple Marginalität durch hypertrophierten Normkonformismus und bemerkenswerte diskursive Aggressivität gegenüber diesen sämtlich selbst für ihr Schicksal verantwortlich gemachten sozialen Verliererinnen kompensiert (verteidigt wird hier aus transparenten Gründen nicht zuletzt die Fiktion völliger Handlungs- und Wahlfreiheit des Subjekts), treibt die Misogynie ins parodistische Extrem - und huldigt zugleich einem anachronistischen Ideal nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch einwandfreier Weiblichkeit. Schon aus existentieller Notwendigkeit Meister des Spiels der „apparences“ (zwischen Lafayette und Jean Baudrillard 116 ), des „langage des signes“, 117 der komplexen sozialen Semiotik von Klasse und Geschlecht, besteht dieser ferne Wiedergänger der Lafayette’schen Princesse nicht nur auf einem bis zur Karikatur perfektionierten Habitus BCBG, sondern auch auf der eigenen ‚Tugendhaftigkeit‘ in einem jeglicher Tugend entschieden aversen Milieu: Dans les boxes voisins, les K se vautraient déjà sur les genoux de leurs conjoints, certaines à moitié dépoitraillées, la fermeture du jean largement ouverte sur leurs bourrelets et sur la dentelle ocre d’une horrible culotte achetée pour l’occasion. […] Les K avaient désormais enfourché leurs conjoints 113 Nicht zufällig reagiert ein psychisch destabilisierter jugendlicher Häftling auf die allgegenwärtige visuelle Gewalt des Dispositivs, indem er sich - ‚wahnsinnige‘ Geste der Selbstverteidigung - die Augenlider zuzunähen versucht (vgl. ibid.: 210, 218). 114 Ibid.: 11. 115 Ibid.: 104. Ausgehend von der quasi-allegorischen Figur einer gewissen „pauvre Katia“ - Langzeit- Routinière der allwöchentlichen Odyssee ins Gefängnis, Inkarnation all der Tristesse dieser gesellschaftlichen Gegenwelt - werden die Bus-Insassinnen als „[l]e troupeau des Katia“ und schließlich lapidar „le troupeau des K“ bezeichnet, metaphorisch animalisierter Kollektivkörper einer ästhetisch wie sozial stigmatisierten Weiblichkeit: „les K glapissantes […] les K du monde entier“ (ibid.: 10ff.). 116 Das ambivalente Spiel der apparences erkundet Bayamack-Tam bereits mit Tout ce qui brille (1997), „construit sur le paradoxe d’un homme nourri d’images télévisuelles mais qui simultanément dénonce le règne des apparences“ (La Quinzaine Littéraire, 10.1997). „Mais maintenant j’y suis: ma vie, la vraie, c’est être assis dans le noir, avec des yeux de chasseur, presque de fossoyeur, à guetter le retour de ces créatures venues à moi par voie radiale comme des sorcières bien-aimées […]“ (Bayamack-Tam 1997: 51f.). Via Satellitenfernsehen - Brücke zwischen zwei inkompatiblen Welten - verwandelt sich eine armselige Dritte-Welt-Hütte in eine neue Platon’sche Höhle, deren Bewohner, metaphorisch begraben unter wahren „tombereaux d’images“ (ibid.: 49), unablässig von den „ondes“ des quasi-magischen Geräts bombardiert (ibid.: 47ff.), aus seiner traurigen ‚Realität‘ immer tiefer in einen glamourösen Wahnsinn flüchtet und vor nichts zurückschreckt, um endlich „notre place du bon côté du monde“ zu erringen (ibid.: 740). Nach riskanter Boots-Migration erfolgreich in ‚Fénix‘ alias Paris - Metropole der Simulakren und der verlorenen Illusionen - gelandet, rächt sich der Protagonist, mittlerweile völlig megalomanischer Pseudo-Demiurg auf mythisch verklärter Vergewaltigungs-‚Mission‘, für vergangenes Elend und gegenwärtige Erniedrigung an der lokalen weiblichen Population; wie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes vermisst auch dieser Roman ein komplexes Spannungsfeld zwischen genderspezifischer (hier konkret sexueller) Gewalt, sozialer Unterdrückung und neokolonialer Exploitation. 117 Bayamack-Tam 2010a: 12. <?page no="378"?> 378 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam et ce n’étaient que plaintes et ahanements d’un bout à l’autre du parloir […]. Je me tenais devant lui, bien droit dans mon chemisier boutonné jusqu’à la glotte, les mains croisées sur le tweed bon genre de ma jupe […]. 118 „… ma princesse polak“: ‚Barbarische‘ Metamorphosen der Princesse de Clèves Die Passionsgeschichte auch dieser Princesse beginnt freilich lange vor ihrem amourösen Debüt im Pariser Vorstadtgefängnis, perfekter Kontrapunkt zum Königshof bei Lafayette. Als die stärkste „passion“ der Princesse de Clèves identifiziert Jean-Michel Delacomptée weder die einseitige Liebe des unglücklichen Prince zu einer Frau, als deren mari und amant er gleich doppelt leidet, noch die reziproke, doch unerfüllte Liebe zwischen der Princesse und Nemours, sondern vielmehr den durch die Abwesenheit des Vaters intensivierten „accord fusionnel“ zwischen Mutter und Tochter, 119 „couple originaire“ des Romans; 120 neben „la passion de la mère“ - fundamentale Passion im Wortsinn, „le socle même de ce roman, selon moi“ 121 - betont er auch dessen inzestuöse Komponente (die Liaison zwischen dem König und Diane de Poitiers, Mätresse schon seines Vaters, nähre sich etwa wesentlich aus einer „volupté teintée d’inceste“). 122 In beiden Punkten knüpft Emmanuelle Bayamack-Tam an den klassischen Prätext an, wobei die Motivik einer hoch problematischen Mütterlichkeit allgemein als Konstante im Werk der Autorin gelten darf. Über die Passion Jugendlicher beiderbzw. allerlei Geschlechts für eine meist mehr oder minder katastrophale Mutter („[…] elle n’a finalement qu’un seul amour, et c’est sa mère“, bemerkt Kim in Si tout n’a pas péri avec mon innocence über ihre schwer neurotische Schwester Svetlana 123 ) wird hier auch - wiederum auf den Spuren der Princesse - die Frage weiblicher Komplizität unter den Bedingungen des Patriarchats reflektiert; so erscheint in Une fille du feu die Mutter als Instanz ethnokulturell legitimierten Terrors gegenüber der Tochter, „successivement excisée, infibulée, torturée, gavée, pincée, pétrie“. 124 „Maman, tu es tellement belle… Oui, je t’ai menti, je te mens, mais au cœur de ce magma de mensonges, sache qu’il y a le noyau en fusion de la vérité: mon amour pour toi“: 125 Die elementare Passion auch der Princesse de. ist - und bleibt bei allen sonstigen amourösen und sexuellen Abenteuern des Protagonisten - jene für seine Adoptivmutter, „la femme de ma vie“, 126 doppelte ödipale Obsession zwischen inzestuöser Begierde und heimlicher Transgender- Identifikation. Der erste (und stärkste) coup de foudre vollzieht sich hier zwischen einer schönen, unfreiwillig kinderlosen Frau und einem kleinen Jungen aus dem Waisenhaus, mit seinem exotischen Äußeren nicht eben ein Favorit auf dem Adoptionsmarkt: „Je ne suis pas 118 Ibid.: 14ff. 119 Delacomptée 2012: 45. 120 Vgl. ibid.: 39ff. Zu diesem „closed feminine couple“, in dem die Mutter „both transitively and intransitively - an object for her daughter’s desire“ repräsentiert, vgl. auch Kamuf 1987 (hier zit. 71). 121 Delacomptée/ V 2012. 122 Delacomptée 2012: 79. 123 Bayamack-Tam 2013a: 3971. 124 Lançon 2008. 125 Bayamack-Tam 2010a: 113. 126 Ibid.: 241. <?page no="379"?> Queering La Princesse de (Clèves) 379 un bel enfant. […] mais ma mère n’est pas plus tôt arrivée que c’est moi qu’elle montre du doigt […]. Comme obéissant à un signal, j’abandonne ma pelle et mon seau poussiéreux. […] Je me dirige à pas comptés, vacillants, circonspects, vers ce couple spectaculaire […]“ 127 - inkarniertes Versprechen einer eigenen (Familien-)Geschichte, der Erlösung aus dem sozialen Nirwana. Nicht umsonst insistiert Daniel - von Kindheit an unfreiwilliger Philosoph der Gender- Performanz - auf der Superiorität der Adoptivgegenüber jeglicher biologischen Genealogie, der gewählten gegenüber der angeborenen Identität: Wie der Transsexuelle die bessere Frau, ist der in jenem magischen Moment auserkorene Adoptivsohn das ‚echtere‘ Kind, „beaucoup plus sûrement le fruit de ses entrailles que n’importe quelle progéniture biologique“. 128 Nur konsequent weist der Protagonist eventuelle Mitleidsbekundungen einer Freundin zurück: „[…] si elle veut vraiment être désolée, qu’elle le soit pour tous les petits garçons qui n’ont pas été adoptés et qui sont restés avec leur mère biologique […].“ 129 Mit seiner Leidenschaft für die schöne Barbara, „indétrônable“ 130 als Königin seiner höchstpersönlichen Märchenwelt, verbindet er einen paradox identitätsstiftenden Hass auf die unbekannte leibliche Mutter, deren Bild in denkbar schauerlichen Farben ausgemalt wird. An diesem Punkt gewinnen auch seine absurden Pilgerfahrten ins Gefängnis samt Schmähreden über jene sozialen und ästhetischen Outcasts, zu denen Daniel sich doch immer wieder gesellt, eine aufschlussreiche Zusatzdimension, ist er doch fest davon überzeugt, auch seine biologische Mutter irgendwo da draußen gehöre dem verächtlichen ‚troupeau des K‘ an. In diesem Kontext erfolgt signifikanterweise der Flashback zum eröffnenden Panorama der anti-magnificence und der grotesken Gefängnis-Galanterie: […] ma mère est une K. J’en ai eu la conviction terrible et inébranlable dès que je les ai vues pour la première fois monter une à une dans le 619 […] Je sais, je sens, que c’est de cette misère-là que je suis issu […]. Sinon, pourquoi aurais-je eu cette compréhension immédiate de l’univers des K, moi qu’une enfance et une adolescence passées dans un pavillon de banlieue, entre des parents tendrement unis par trente ans de mariage, devraient théoriquement séparer du quart-monde? 131 Zum Makel dieser - im Text niemals verifizierten, für das Selbstbild des Protagonisten allerdings entscheidenden - Herkunft aus der tristen Gegenwelt der ‚K‘ kommt jenes einer vagen ethnokulturellen Alterität: Sein undefinierbares - und umso irritierenderes - eklektischexotisches Erscheinungsbild macht Daniel in seiner Schule - in seiner Existenz neben bzw. noch vor dem Gefängnis einzige Repräsentanz des institutionellen Frankreich - von vornherein zum in den Augen der Lehrer verdächtigen Außenseiter („[…] le racisme latent de la plupart se trouvant titillé par mes joues basanées, mes cheveux d’Indien et ma bouche de nègre […]“), der unter Aneignung und provokant übertriebener Reinszenierung eines negativen Fremdbildes seinerseits alsbald auf einen sorgfältig kultivierten „look de racaille qui pouvait bluffer les adultes“ setzt. 132 Vor dem Hintergrund dieser doppelt stigmatisierten Genealogie 127 Ibid.: 34. 128 Ibid.: 37, vgl. auch 25. 129 Ibid.: 92f. 130 Ibid.: 62. 131 Ibid.: 93. 132 Ibid.: 58. <?page no="380"?> 380 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam - mit deren Rekonstruktion sich der (vermeintliche? ) Sohn einer „K toxicomane“ 133 und eines „malfrat algérien“ (oder auch „malfrat kabyle“) 134 immerhin die narrative Autorität über seine früh unterbrochene Biografie zurückholt - sehnt sich der Protagonist, bei der Kreation seines weiblichen Habitus ganz auf sich allein gestellt, vergeblich nach einer vornehmen femininen „éducation“, wie sie Lafayettes Heldin selbstverständlich zuteilwird („Je voulais une éducation. J’aurais même accepté un dressage […]“ 135 ), dieser heimlichen Princesse, fehlgecastet als männlicher Surrogat-Heros der geliebten Adoptivmutter - „le prince charmant pour son seul usage, l’enfant voué à la consoler de l’exil“ 136 - jedoch versagt bleibt. „La véritable Princesse de., c’est elle, une femme qui ne pardonne pas“: 137 Eben im Porträt dieser wiederholt explizit als solche bezeichneten mütterlichen „princesse“ 138 findet sich - kaum zufällig - so manches direkte intertextuelle Echo der Princesse de Clèves. Auch Barbara mit ihrem „chic inimitable“ 139 wird mit dem Schlüsselattribut der ‚Unvergleichlichkeit‘ versehen: „imiter mon inimitable mère“, 140 fasst der Protagonist sein paradoxes Lebensprojekt zusammen. „La blancheur de son teint et ses cheveux blonds, lui donnaient un éclat que l’on n’a jamais vu qu’à elle […]“, 141 heißt es über die Heldin Lafayettes; bei Bayamack-Tam wird ‚Princesse‘ Barbara, auch sie der Kategorie der „filles très blondes ou très rousses“ zugehörig, unter signifikanter Verschiebung der Perspektive mit einer fast unüberhörbar intertextualisierten Haarpracht ausgestattet: „[…] et les cheveux de ma mère sont d’une teinte que je n’ai vue qu’à elle […].“ 142 Verrät sich Lafayettes hellhäutige Protagonistin wiederholt durch subtile dermatologische Reaktionen (Erröten, Erbleichen), so beobachtet auch Bayamack- Tams Erzähler fasziniert die hypersensible weiße Haut der Mutter, die transparent deren jeweilige Gefühlszustände abbildet. 143 Aus der blonden Prinzessin Lafayettes wird hier freilich eine rothaarige Schönheit - und damit eine andere, ambivalenter konnotierte literarische/ kulturelle Symbolik ins Spiel gebracht. Barbaras Haarfarbe, „un roux éteint et sans tapage, tirant presque sur le vert - un roux de plante lacustre“, 144 assoziiert die Figur, in der Phantasie des Erzählers immer wieder als Fluss-Wald-Wiesennymphe in ihrer mythischen polnischen (Ex-)Heimat in Szene gesetzt, mit diesem wilden, vage ‚heidnischen‘ Kontext, jener ‚Barbarei‘, die sie bereits im vielsagenden Namen trägt 145 und die sich im „éclat fauve“ ihres Haars wie ihres Blicks 146 - kontinuierlich 133 Ibid.: 151, 261. 134 Ibid.: 244, 264. 135 Ibid.: 121. 136 Ibid.: 31. 137 Lançon 2010. 138 Vgl. etwa Bayamack-Tam 2010a: 168 („[…] ma mère est une princesse“), 217. 139 Ibid.: 177. 140 Ibid.: 32. 141 Lafayette 2014c: 338. 142 Bayamack-Tam 2010a: 25f. 143 Ibid.: 48. 144 Ibid.: 26. 145 Bedeutung und performative Macht des Namens, Symbol und Spielfeld der Subjektkonstitution zwischen familiärem/ soziokulturellem Determinismus und kreativer Selbst-Neuerfindung, werden bei Bayamack- Tam auch auf diegetischer Ebene reflektiert. „Les prénoms sont très importants pour moi. Je commence toujours par là“, erklärt die Autorin aus Anlass der Publikation des Romans Si tout n’a pas péri avec mon innocence: „[…] le prénom est la première chose qui vous tombe dessus. Vous ne l’avez pas choisi <?page no="381"?> Queering La Princesse de (Clèves) 381 wird mit den Implikationen des Attributs ‚fauve‘ gespielt - verrät; „fauve et moirée“ imaginiert der Protagonist auch „la délicate toison pubienne“ dieser - im Gegensatz zur quasi körperlosen Figur Lafayettes hochgradig sexualisierten - ‚Princesse‘; bald darauf bestätigt ein verstohlener Blick auf „l’éclat moiré“ der mütterlichen Intimbehaarung seine lustvolle Antizipation. 147 Im Unterschied zu Lafayettes blonder und tugendhafter Heldin, im Lauf der Jahrhunderte zur paradigmatischen Inkarnation der francité stilisiert, ist diese Protagonistin - auch sie eine exilierte Princesse de. mit gekappten Wurzeln („la Pologne, hop, fini, black-out là-dessus […]“ 148 ) - eine Fremde in Frankreich, mit ihrer „obsession […] du rangement“ permanent damit beschäftigt, zumindest ihre prekäre kleine Welt in Ordnung zu halten; 149 nur in seltenen aveux alias „rares confidences“ gibt sie Fragmente ihrer Vergangenheit preis, „quelques souvenirs, au compte-gouttes, toujours les mêmes“. 150 Im Porträt dieser verfremdeten Princesse kombiniert Bayamack-Tam Elemente der Lafayette’schen Protagonistin mit einer Reihe ‚exotischer‘ Details, neben ihrem roten Haar etwa „ses pommettes slaves“, „son bout de nez polak“, aber auch ihr „roucoulement slave et suave“ und „l’accent polonais dont elle n’est jamais parvenue à se débarrasser“; 151 über kulinarische und linguistische Folklore hinaus et il va vous coller“ (Lançon 2013). Nicht umsonst wird die (vor allem Gender-)Identitätsproblematik ihrer Figuren auch über den Namen ausgehandelt, rebellieren diese gegen ihnen aufgezwungene Namen. So werden in Si tout n’a pas péri avec mon innocence die abstruse ‚Namenspolitik‘ der Familie der Erzählerin, der Name als zunächst arbiträrer, dann aber fatal wirksamer Identitätsgenerator thematisiert: Ausgehend von ihrem slawischen Vornamen, den sie einer bloßen Laune der Mutter verdankt, konstruiert Kimberlys ältere Schwester Svetlana eine ganze Pseudo-Identität, folkloristische Kostümierung inklusive (2013a: 1259f.). Immer wieder versuchen Bayamack-Tams Figuren aus ihren Namens- und Identitätsgefängnissen auszubrechen, sich über neue Namen auch neue Existenzen zu kreieren. „Espérandieu: ça ne s’invente pas“, scherzt Gladys im gleichen Roman über ihren kuriosen Familiennamen. „Si, ça s’invente, les noms, les prénoms, les surnoms“, protestiert Protagonistin Kim (ibid.: 2711f.). Denselben Namen ‚erfindet‘ Bayamack-Tam noch einmal in Je viens (2015: 2062f.), auch in der enigmatisch-poetischen Namens-Rezitation der ‚wahnsinnigen‘ Clarisse aus Hymen taucht er auf (2003b: 29f., 623); „rue Espérandieu“ haust Renée Emperaire in Pauvres morts, ihrerseits ehemaliger „garçon manqué“ (2000: 1061, 1088, 263f.). Gladys, Ex-Raymonde („Alors vous vous êtes rebaptisée? “; 2013a: 4411), erläutert selbst, weshalb sie ihren ungeliebten alten Vornamen abgelegt hat - und stellt ihre eigene Theorie der Vornamensgebung als Kristallisation familiärer Dynamiken und Geschlechter- Machtverhältnisse auf: „C’était quoi, cette manie d’appeler les filles avec des prénoms de garçons, Claudette, Michèle, Françoise, Georgette? - Parce qu’on était toutes des déceptions pour nos parents: ils espéraient un garçon, et vlan, ils devaient se contenter d’une fille“ (ibid.: 4408ff.). Das performative Potential des Namens zelebriert aber auch Tout ce qui brille mit seinem metamorphotischen Antihelden („Raoul Major, Venuste Bendigo, Quine Redford, Brayanne Welles, Prince du Maurier, Emmanuel Dieu“; 1997: 1040), unermüdlich „à la poursuite de mon nom“ (ibid.: 322f.), ebenso Le Triomphe: „Les noms ont une grande importance et il faut être ferme à leur sujet“ (2005: 47). Melancholisch träumt Kafka alias ‚Amschel‘ mit seinem „nom d’oiseau“ von einer Wiedergeburt als stärkeres, klareres Ich: „Je pourrais m’appeler monsieur Diamant, par exemple; avec un nom pareil, je suis sûr que j’aurais fait mon chemin dans le monde: un nom pareil impose son scintillement et sa minéralité“ (ibid.: 50). „J’aimerais changer“, meditiert Alexandrine in Mon père m’a donné un mari: „On commencerait par le prénom“ (2013b: 461f.; vgl. auch 146ff.). 146 Bayamack-Tam 2010a: 217, vgl. auch 29. 147 Ibid.: 48ff. 148 Ibid.: 21. 149 Ibid.: 131. 150 Ibid.: 27f. 151 Ibid.: 247, 26, 21. <?page no="382"?> 382 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam steigert sich die latente ‚Barbarei‘ der Figur in Momenten der Verzweiflung zu geradezu ‚kannibalistischen‘ Anfällen: Als der zu Fortpflanzungszwecken konsultierte Arzt sie einigermaßen unsensibel mit der Hiobsbotschaft von ihrer Unfruchtbarkeit konfrontiert, schlägt Barbara dem symbolischen „infanticide“ ohne Weiteres ihre scharfen Zähne in den Arm, „passage à l’acte […] fulgurant“, der sich ihrer intuitiven Überzeugung von der ‚magischen‘ Macht des Wortes verdankt. 152 Dieser bei allem modischen Chic archaisch-exotischen Muttergottheit zur Seite gesellt sich ein von Anfang an in eine Nebenrolle gedrängter französischer Adoptivvater, polyvalente Karikatur „au profil de médaille et au port de tête à la fois impérieux et inquiet qui caractérise les hommes conscients de leur petite taille“, 153 spöttisch als „petit fiancé français“, „l’éternel mari français“, „le petit mari français“ 154 etc. bezeichnet, als stets sorgfältig kostümierter „petit marin d’opérette“ (bzw. auch „matelot d’opérette“ 155 ) Inkarnation einer immer schon vage defizitären, theatralisierten Männlichkeit. In dieser Dreier-Besetzung beginnt die Gender- Tragikomödie auf der Bühne eines kleinbürgerlichen Pariser Vorstadthauses, auf einer mehrfachen Lüge begründeter Mikrokosmos der apparences; „[…] seul le mensonge est envisageable. […] quant à moi, je vais également renoncer à la vérité“, verkündet der Protagonist, der früh begreift, „comment on peut mentir tout en étant profondément honnête, et comment mon père et moi avons mené une double vie des années durant […], chacun dissimulant son inavouable et pitoyable secret“. 156 „[…] ce qui paraît n’est presque jamais la vérité“, erklärt Mme de Chartres. 157 „Les choses sont rarement comme on dit“, bestätigt die jugendliche Heldin in Si tout n’a pas péri avec mon innocence; 158 noch expliziter knüpft die Trans-Princesse de. an den klassischen Prätext an: „Je suis […] bien placé pour savoir qu[e] […] les apparences ne veulent rien dire.“ 159 Auch hier wird die Lafayette’sche Dichotomie von vérité und apparences (unter Rekurs auf die entsprechende Lexik: dissimuler, feindre, cacher etc. 160 ) durch den ganzen Text ausgesponnen, aber auch der ambivalente Status der ‚Wahrheit‘ als performativer Effekt reflektiert. Das Ambiente, in dem dieses „enfant idéalement problématique“ 161 sozialisiert wird, steht Lafayettes Hof in puncto allseitiger „dissimulation à longueur de temps“ kaum nach. 162 Bemüht, den Rollenerwartungen anderer gerecht zu werden, bleibt der Protagonist - „petite fille […] bien décidée à donner le change à ses parents, bien résolue à mimer, et en toutes circonstances, le comportement d’un véritable garçon“ - seiner zusehends professionalisierten „comédie de 152 Ibid.: 31ff. Die mütterliche „[s]térilité primaire“ (ibid.: 30) wird in der Phantasie Daniels mit dem eigenen Wunsch nach anatomischem Geschlechtswechsel, die Szene des mütterlichen ‚Kannibalismus‘ mit jenem Moment assoziiert, da er von einem Chirurgen über die Sinnlosigkeit jeglicher Intervention in seinem konkreten Fall informiert wird (ibid.: 32). 153 Ibid.: 29. 154 Ibid.: 29, 33, 37, 118. 155 Ibid.: 125, 189, 114, 120. 156 Ibid.: 38. 157 Lafayette 2014c: 354. 158 Bayamack-Tam 2013a: 3515. 159 Bayamack-Tam 2010a: 99. 160 Vgl. etwa ibid.: 43. 161 Ibid.: 40. 162 Ibid.: 98. <?page no="383"?> Queering La Princesse de (Clèves) 383 ma virilité“ treu, 163 seiner Überzeugung nach Fundament einer prekären „fiction familiale“. 164 Hinter den Kulissen widmet der derart in seinem eigenen Leben zum Nebendarsteller degradierte Held 165 sich mit Leidenschaft einer alternativen Gender-Performance; die mütterliche Garderobe - Kostümdepartment der Weiblichkeit - wird zum geheimen Experimentierfeld und Evasionsort; auch der erwachsene Daniel schwärmt noch von jenen „cinq mètres carrés dans lesquels j’ai vécu les plus beaux moments de ma vie […] à rêver de ma mère ou à rêver d’un avatar sublime de ma propre personne: une fille en robe bustier de taffetas havane, ou en tunique de mousseline lavande brodée ton sur ton“. 166 Aus dem mütterlichen Repertoire übernimmt diese ‚Tochter seiner Mutter‘ 167 nicht nur verführerische Pastellkleidchen, sondern auch ein rigides soziokulturelles Koordinatensystem, von säuberlich gender-differenzierten Schönheitsidealen bis hin zur Kunst des korrekten Alkoholkonsums („[…] car elle m’a appris à boire comme elle m’a appris le reste […]“ 168 ). „La découverte de l’amour s’accompagne immédiatement d’un fort sentiment de culpabilité […]“, bemerkt Isabelle Rambaud zu Lafayettes Princesse. 169 Die Tabus und Tugenden, die Bayamack-Tams Held unter „l’égide voluptueuse de ma princesse polak“ 170 inkorporiert, unterscheiden sich von jenen der Mme de Chartres; doch auch diesen queeren (Anti-) Bildungsroman prägt die Assoziation von Liebe, Lust und Schuld - um eine hoch sexualisierte ödipale Trans-Dimension erweitert. Von Beginn an entfaltet sich die Sexualität des Protagonisten in einer doppelt transgressiven Schattenzone; im trivialen Setting eines Supermarkts - nicht nur bei Michel Houellebecq Paradigma und Metapher der postmodernen Gesellschaft 171 - erlebt der noch kindliche Daniel zugleich eine regelrechte Epiphanie der mütterlichen Schönheit und „ma première éjaculation“. 172 Die erwachsene Princesse freilich, deren betörende „douceur“ mit einer nicht minder prononcierten „brutalité“ korrespondiert, 173 nimmt ihrem kleinen „prince charmant“ in Verkennung der Situation - Urszene einer fetischistischen Fixierung 174 - seinen ganz und gar ‚unmännlichen‘ vermeintlichen Schwächeanfall höchst übel; eher vermöchte sie, wie der Protagonist vermutet, die Transgression seiner „désirs incestueux“ zu verzeihen als diesen Verstoß gegen ihren persönlichen Gender-Code: „À moi de comprendre que j’ai dû enfreindre l’un des articles de son code non écrit, le code noir sous lequel j’ai vécu toute mon enfance et sous lequel, à bien des égards, je vis encore.“ 175 Dieser mütterliche „code noir“ - unerbittlich wie das Tugendprogramm, das Mme de Chartres ihrer Tochter vermittelt - strukturiert über Kindheit und Jugend hinaus die Existenz dieser queeren ‚Princesse‘, die sich auf Schritt und Tritt im Schatten eines unerreichbaren 163 Ibid.: 39. 164 Ibid.: 85. 165 Vgl. ibid.: 55. 166 Ibid.: 215f. 167 Vgl. den deutschen Titel von Tahar Ben Jellouns L’Enfant de sable (1985): Sohn ihres Vaters (1989). 168 Bayamack-Tam 2010a: 21. 169 Rambaud 2006: 41 (Hervorhebungen im Original). 170 Bayamack-Tam 2010a: 44. 171 Vgl. Houellebecq 1998: 71ff.; Houellebecq 2009: 36ff. („Le monde comme supermarché et comme dérision“ aus Approches du désarroi). 172 Bayamack-Tam 2010a: 22f. 173 Ibid.: 16f. 174 Ibid.: 22. 175 Ibid.: 24f. <?page no="384"?> 384 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam Weiblichkeitsideals, im Bann des realen und/ oder imaginierten mütterlichen Blicks bewegt. „J’expliquerai un jour, si je trouve les mots, à quel point ma mère l’emporte en tout et sur tout le monde à commencer par moi“: 176 Auch als junger Erwachsener unterwirft sich Daniel noch fast uneingeschränkt der Herrschaft seiner „inflexible princesse“; 177 als ambivalente ‚Vegetation‘ durchwuchert Barbara - inkarniertes mütterliches Gesetz - metaphorisch Physis und Psyche ihres Sohnes: „J’ai vingt-cinq ans, je gagne correctement ma vie et rien ne s’oppose à ce que je parte de chez moi, mais j’aurais beau quitter ma mère, il est trop tard pour que je me débarrasse de son emprise. […] Barbara a fini par se ramifier en moi comme une sorte d’arborescence nerveuse indissociable de mes propres chairs.“ 178 Wie Lafayettes Mme de Chartres fungiert auch diese ‚barbarische‘ Princesse aus den ostpolnischen Sümpfen, Herrscherin über einen privaten matriarchalischen Mikrokosmos, als paradoxe Komplizin des Patriarchats. Gender- und (imaginierte) nationale Identität befinden sich dabei in enger Interaktion: Mitten in der kleinbürgerlichen Pariser Vorstadt bemüht Daniel sich ebenso verzweifelt wie vergeblich, dem Männlichkeitsideal der geliebten Mutter „selon sa définition personnelle et polonaise de la virilité“ gerecht zu werden. 179 Zu seinem Leidwesen ist er allerdings weder männlich noch polnisch; betrübt stellt er immer wieder fest, wie wenig er - leibhaftiger Kontrast zu jener weiblich-weißen Schönheit - der mütterlichen „altesse royale“ 180 ähnelt. In ihrem sechzehnten Lebensjahr - dem Alter der Hof- Debütantin Lafayettes - haust diese verkannte Princesse nach wie vor in der Hülle eines „garçon effarouché, trop malingre, trop efflanqué, trop noir de peau et de cheveux, bien loin de la beauté épanouie et de la force d’âme de Barbara. Dommage pour moi“. 181 Die „féminité florissante“ der Mutter 182 bleibt das für den Protagonisten unerreichbare Ziel („[…] je veux être Barbara ou rien, et […] je suis très loin de l’idéal féminin ainsi défini […]“ 183 ), trotz im Lauf der Jahre immer professionellerer modisch-kosmetischer Inszenierung seines femininen Alter Ego; ‚Marie-Line‘ entwickelt mit hormoneller Unterstützung zwar eine akzeptable Brust, „mais évidemment rien qui puisse rivaliser avec les seins crémeux, lourds, sublimes, de ma princesse polonaise“. 184 „[…] Barbara, je meurs de ne pas être toi“: 185 Die Mutter begehren, (wie) die Mutter werden - und an beidem unweigerlich scheitern; im Zeichen dieses doppelten ödipalen Dilemmas steht die Passionsgeschichte dieser Princesse, zerrissen zwischen der Angst vor und der Sehnsucht nach Demaskierung, nach dem aveu zunächst der verbotenen inzestuösen Be- 176 Ibid.: 17. 177 Ibid.: 245. 178 Ibid.: 186f. 179 Ibid.: 22. 180 Ibid.: 188. 181 Ibid.: 28. 182 Ibid.: 44. 183 Ibid.: 82. 184 Ibid.: 79. Der insistente Gebrauch des Possessivpronomens reflektiert - Phantasma ödipaler Besitzergreifung - die Aneignung der Mutter und des mütterlichen Körpers in immer neuen obsessiven syntaktischen Schleifen rund um „ma princesse“ (ibid.: 150, 153, 158, 217, 246), „ma Barbara“ (ibid.: 22, 29) oder „ma Basia“ (ibid.: 24, 153), „ma petite Polak“ (ibid.: 30), „ma princesse polak“ (ibid.: 33, 44, 49, 68), „ma sublime princesse polonaise“ (ibid.: 118) etc. 185 Ibid.: 167. <?page no="385"?> Queering La Princesse de (Clèves) 385 gierde („Je brûle de tout lui avouer […]“ 186 ), dann auch und vor allem ihrer Transgender- Identität. Nachdem er dieses bedrohlichste aller Geständnisse ein weiteres Mal aufgeschoben hat, flüchtet Daniel in den Schlaf, „pour oublier que ma princesse polonaise ne saura jamais que moi aussi je suis une princesse […]“. 187 Auch als die betrunkene Mutter schließlich den väterlichen Verdacht verrät, der seltsame Sohn sei wohl ganz einfach „pédé“, phantasiert Daniel/ Marie-Line sich eine potentielle, freilich wiederum nicht vollzogene aveu-Szene zurecht: „Maman, papa, je suis une fille: c’est comme ça, vous n’y êtes pour rien.“ 188 Als unfreiwilliger Experte für das feine Wechselspiel „du factice et du fictif dans toute identité, que ce soit celle d’une œuvre ou d’un sujet“, 189 jenes „vacillement de la personne sans lequel un sujet ne saurait se définir“, 190 für die Brüchigkeit jeglicher Subjektivität, immer wieder aufs Neue mühsam befestigtes fragiles Konstrukt (desillusioniert analysiert Daniel „le pénible attelage qui me tient lieu d’individualité physique et psychique“ 191 ), erkennt der Protagonist luzide, dass auch das ersehnte Bekenntnis nur doppelbödige ‚Wahrheiten‘ zu produzieren vermöchte, die sich im Moment ihrer kommunikativen Enthüllung ihrerseits in „un mensonge de plus“ verwandeln. 192 Wirkt die „fille folle“, die Daniel in sich trägt, 193 ‚echt‘, solange sie hinter einer Fassade ‚falscher‘ Männlichkeit geheim- und unter Kontrolle gehalten werden muss, so ist er sich doch zugleich darüber im Klaren, nicht einfach eine Frau zu sein bzw. sein zu wollen („[…] il y a bien une fille dans mes abysses, mais elle ne ressemble à aucune des filles que je connais“ 194 ). In den Abgründen dieser camouflierten Weiblichkeit verbirgt sich wiederum eine als ‚männlich‘ identifizierte (Teil-)Persona; auch in seiner Rolle als Marie-Line bleibt Daniel sich „de ce que je sens en moi d’indéfectiblement masculin“ bewusst. 195 Längst von der höheren Wahrheit des „travestissement“ überzeugt, 196 jongliert der Protagonist mit unterschiedlichen Genderrollen und den dazugehörigen Kostümen - gesellschaftlich normierten Identitätsprothesen („[…] on ne dira jamais assez l’importance des vêtements. […] On ne dira jamais assez l’importance des vêtements […]“ 197 ) -, weder fähig noch willens, sich definitiv für die eine oder die andere Version seiner selbst zu entscheiden. 198 Ratlos betrachtet das Subjekt, einem „fantôme“ gleich, 199 „tellement étranger à moi-même“ 200 - 186 Ibid.: 24. 187 Ibid.: 95f. 188 Ibid.: 110f. 189 Schneider 2011: 7. 190 Ibid.: 10. 191 Bayamack-Tam 2010a: 193. 192 Ibid.: 111. 193 Ibid.: 82. 194 Ibid.: 111. Auf den Spuren Freuds entfaltet Bayamack-Tam eine komplexe Psycho-Topologie der apparences und einer in die leitmotivischen abysses verbannten ‚Wahrheit‘: „La place de la vérité n’estelle pas toujours dans les abysses […]“ (ibid.: 40, vgl. auch 44), meditiert Daniel über jene abgründige innere Parallelwelt, in der sein weibliches Alter Ego alias „[l]a fille folle“ haust (ibid.: 82, vgl. auch 89). 195 Ibid.: 228. 196 Ibid.: 183. 197 Ibid.: 156. 198 Vgl. ibid.: 134. 199 Ibid.: 258. 200 Ibid.: 180. <?page no="386"?> 386 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam Bayamack-Tam rekurriert hier explizit auf die Formel Julia Kristevas 201 -, sich „entre deux essayages“ im Spiegel: „[…] mon visage […] me prend par surprise, tiens, c’est moi […].“ 202 Mit einer Routine, die eine latente ontologische Verunsicherung bannt, wechselt „la Marie- Line des dimanches, apprêtée, maquillée, parfumée pour son homme“ 203 auf dem Rückweg aus dem Gefängnis ins familiäre Heim die Gender-Maskerade und verwandelt sich auf der Stelle zurück in „le Daniel à usage familial, le fils à maman un peu trop convenable“: 204 […] je rentre chez moi, c’est-à-dire chez ma mère, mais auparavant, je troque la jupe bon genre et le chemisier à gorgerette contre des fringues de mec. Cela dit, si j’arrivais en fille, elle prendrait probablement ça pour une bonne plaisanterie, une nouvelle frasque de son Daniel, ce parangon de virilité - mais on ne sait jamais, je préfère ne pas prendre le risque: […]. 205 Zwischen „véritable amour“ und „vérité inavouable“: La Princesse de. als Initiations- und (Anti-)Liebesroman Mit fünfzehn Jahren - exakt im Alter Mlle de Chartres’ zum Zeitpunkt ihres Debüts bei Hof - begegnet der Protagonist Arcady, als Nachtclubbetreiber, sporadischer Kuppler und Drogenhändler in jeder Hinsicht „un professionnel de l’excitation“. 206 Nicht umsonst mündet Daniels erster Heroin-Trip, den er Arcady verdankt, in eine surreale Vision seiner Mutter; 207 bei allen geschlechts- und milieubedingten Unterschieden werden ‚Princesse‘ Barbara und Arcady hier ebenso insistent assoziiert wie bei Lafayette Mme de Chartres und M. de Clèves (der nach dem Tod ersterer als Quasi-Mentor seiner jungen Frau einige ‚mütterliche‘ Funktionen übernimmt). Auch Arcady, Nachtwelt-Äquivalent zum Prince de Clèves, bringt seinem sehr viel jüngeren Liebesobjekt („T’es vraiment trop jeune“ 208 ) nicht nur grenzenlose Verehrung, 209 sondern auch eine „tendresse soucieuse“ entgegen; 210 die jugendliche Trans-Princesse weiß seinen „air de propriétaire extrêmement excitant“ 211 wie die sonstigen Qualitäten dieses „homme d’exception“ - „un amoureux comme on s’en rêve tous, mieux qu’une mère, mieux qu’un père, mieux qu’un mentor ou un guide spirituel“ - sehr wohl zu schätzen. 212 201 Vgl. Kristeva 1988. 202 Bayamack-Tam 2010a: 180. 203 Ibid.: 85. 204 Ibid.: 132, vgl. auch 85. 205 Ibid.: 20. Die Brüchigkeit einer problematischen (Nicht-)Identität verrät sich bereits im syntaktischen Detail: Der Protagonist ist weder fille noch garçon, weder Daniel noch Marie-Line, sondern agiert - je nach sozialem Kontext - jeweils „en fille“ (ibid.), „en garçon“ (ibid.: 92), „en Daniel“ (ibid.: 108, 129) etc. 206 Ibid.: 51. 207 Vgl. ibid.: 50. 208 Ibid.: 53. 209 Vgl. ibid.: 56. 210 Ibid.: 260. 211 Ibid.: 192. 212 Ibid.: 52. Nicht nur über die phonetische Affinität ihrer Namen, sondern auch über ihren gemeinsamen Status als ursprünglich Fremde in Frankreich erscheinen Barbara und Arcady miteinander assoziiert. Beider Muttersprachen - Polnisch wie Arabisch - entfalten in den Ohren des ihrer nicht mächtigen Protagonisten geradezu ‚magisches‘ Potential. Die (Adoptiv-)Mutter-Sprache Polnisch - gleichsam Sprache vor der Sprache - steht für das ekstatische Erlebnis regressiver ödipaler Fusion (bei der allerersten Begegnung schon flüstert Barbara dem unbekannten kleinen Jungen unter dem Blick ihres <?page no="387"?> Queering La Princesse de (Clèves) 387 „[…] qu’est-ce que le sperme a à voir avec les souvenirs que j’ai de ma mère? “ 213 Der fließende Übergang zwischen Mutter und Ehemann wird über ein plastisch körperlichsexuelles Imaginarium illustriert, die an Arcady vollzogene Fellatio mit jener inzestuösen Urszene - „une vérité inavouable de plus à reléguer dans nos abysses domestiques“ - assoziiert, da die schöne, jedoch sterile Barbara ihren dem Babyalter längst entwachsenen ‚Sohn‘ mit ihrer entgegen jeder anatomischen Plausibilität plötzlich üppig sprudelnden (Adoptiv-) Muttermilch säugt; „miracle“, dessen bloße Möglichkeit der vorsichtig konsultierte „médecin de famille“ kategorisch verneint, 214 das den erwachsenen Daniel im Moment des „afflux du sperme dans ma gorge vibrante“ 215 jedoch halluzinatorisch aufs Neue heimsucht. Es ist Arcady, Liebhaber, Mutter und bei Bedarf Vater zugleich, 216 der gegen Daniels anfänglichen Widerstand seinen „nom de scène“ erfindet und jenes weibliche Alter Ego, das bis dahin versteckt in den „abysses“ seiner Persönlichkeit ein Schattendasein fristete, 217 unter dem schillernden Pseudonym ‚Marie-Line‘ auf die Bühne seines Nachtclubs mit dem symbolträchtigen Namen ‚Arcadia‘ schickt. Auch dieser nokturne Anti-Königshof, seinerseits der doppelten Dynamik der galanteries und der intrigues unterworfen, 218 erscheint als Ort theatralischer Selbstinszenierung, an dem sich die Akteure permanent einem „feu croisé de regards“ 219 ausgesetzt sehen (die harte Arbeit an der Produktion einer prunkvollen Persona hat hier auch einen geschlechts- und schönheitschirurgisch transformierten Körper erfasst). Vor allem zu festlichen Anlässen paradiert auch hier eine ganze cour de belles personnes, deren Schönheit - und erst recht deren Geschlecht - freilich nicht in allen Fällen näherer Inspektion standhält; an die Stelle des Hofballs tritt - ironisches historisches Zitat - eine „soirée ‚Bonbonnière‘“ im Ambiente eines „XVIII e siècle de pacotille“, zu der sich der Transgender-Nachtclub mit „hymnes libertins, perruques roulottées et poudrées, tulles et velours pastel, empilements de wenig enthusiastischen französischen Ehemannes „des mots d’amour en polonais“ zu; ibid.: 36), für die - lustvolle oder verzweifelte - ‚Liquidation‘ des Subjekts (die frisch verlassene Mutter „marmonne en polonais sans regarder personne“ und „débloque en polonais comme si on avait ouvert des vannes linguistiques jusqu’ici verrouillées“; ibid.: 126ff.), aber auch für das Versprechen ‚echter‘ Weiblichkeit: Zerrissen zwischen ‚Daniel‘ und ‚Marie-Line‘, erfindet sich der Held heimlich einen ‚zünftigen‘ polnischen Frauennamen, der - performativer Talisman - seine Reintegration in eine trügerisch stabile Ordnung der Geschlechter sanktionieren soll: „Une bonne opération et tout rentrera dans l’ordre: goodbye Daniel, bonjour Marie-Line. Non, pas Marie-Line, en fait, plutôt un prénom polonais, j’sais pas, moi, Wanda, ou Malgorzata“ (ibid.: 111). Als „Malgorzata la magnifique“ (ibid.: 132) - glorifizierte, ja königliche Version seines weiblichen Ich - tritt Daniel schließlich auf der Bühne des Arcadia auf. Die ihrerseits bereits deterritorialisierte Muttersprache Arcadys - „l’arabe suave et rocailleux des exilés“ (ibid.: 240) - fungiert als phantasmatische Vater-Sprache, die der selbst über seine „gueule de métèque“ ironisierende Protagonist „dans le sang“ zu haben glaubt (ibid.: 244); auch wenn Daniel kein Arabisch spricht, so singt doch Marie-Line, temporär verzauberte Transgender-Inkarnation einer chimärischen „houri sensuelle“ (ibid.: 248), mit bemerkenswerter Leichtigkeit Arcadys Lieblingslied Helwa ya baladi (ibid.: 240) - das zugleich der geliebten Mutter gilt: „la chanson préférée de mon amant […] est aussi une chanson pour elle et pour toutes les princesses en exil. […] Helwa ya baladi, c’est pour toi Barbara […]“ (ibid.: 243f.). 213 Ibid.: 113. 214 Ibid.: 45ff. 215 Ibid.: 61. 216 Vgl. ibid.: 57. 217 Ibid.: 59. 218 Vgl. ibid.: 70ff. 219 Ibid.: 232. <?page no="388"?> 388 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam macarons et de sucres d’orge en forme de houlettes pour bergères en folie“, „perruques de petit marquis“ etc. füllt. 220 In dieser nächtlichen Glamourwelt bewegt sich Bayamack-Tams Princesse in Begleitung ihres sehr viel älteren ‚Ehemannes‘ bzw. „amant attitré“, 221 als Favorit/ in des Königs Star, Trendsetter und selbst „reine de la nuit“; 222 doch auch dieses Paar holt die Tristesse einer langjährigen Beziehung ein, die zwar auf gegenseitiger Wertschätzung, Zuneigung und sexueller Begierde beruht, der es aber trotz allem zum amour-passion nicht reicht: J’ai vingt-cinq ans, mais Arcady et moi sommes déjà un vieux couple, de vieux partenaires, volages mais parfaitement loyaux l’un à l’autre. Pour des raisons que je ne m’explique pas mais qui me rendront éternellement triste, nous n’avons jamais réussi à transformer l’affection, l’estime et le désir qui nous lient en un sentiment plus intense qui nous aurait fixés exclusivement l’un à l’autre et nous aurait évité les souffrances et les déceptions que nous essuyons à chercher le véritable amour. 223 Voll Bedauern meditiert auch diese Princesse darüber, wie viel besser ihr Leben doch verliefe, gelänge es ihr nur, ihren überaus liebens-würdigen ‚Ehemann‘ auch tatsächlich zu lieben: „Si j’avais pu perdre la tête pour Arcady et lui pour moi, nos existences respectives auraient été considérablement différentes et considérablement plus heureuses, mais c’est l’une des caractéristiques de l’existence que d’être mal faite.“ 224 Einigermaßen komfortabel hat sich der Protagonist - tagsüber Daniel im adoptivelterlichen Heim, nachts Marie-Line im Königreich Arcadia und in Arcadys Armen - in der melancholischen Stabilität dieser Doppelexistenz eingerichtet: „Tout pourrait continuer comme ça, dans une sorte de quiétude où tout est assumé […]“; 225 doch auch hier lässt der Einbruch einer destruktiven Passion in all ihrer Absurdität nicht auf sich warten. Die ‚große Liebe‘ sucht den Helden allerdings in Form nicht eines fatalen coup de foudre, sondern eines selbst gewählten, ja erzwungenen Schicksals heim. La Princesse de. ist nicht zuletzt als romaneske Dekonstruktion einer durch unaufhörliches literarisches wie kinematografisches Recycling verfestigten Ideologie ‚romantischer Liebe‘ zu lesen, in deren Zauberkreis sich auch Daniel nicht mit seinem wohltemperierten Liebes- und Sexualleben zufriedengeben kann bzw. will, sondern sich schließlich mit Haut und Haar einer obsessiven Passion für ein in jeder Hinsicht unwürdiges Objekt - inkarnierter „ne-amour“ 226 - verschreibt. Mit diesem maximal antipathisch stilisierten Nemours-Wiedergänger - krimineller Soziopath von brutaler Männlichkeit und grenzenloser Egozentrik - wird die allgemein zu beobachtende Tendenz neuerer Princesse-Re-Interpretationen zu verfremdeten, oft hoch problematischen Nemours- Figuren auf einen neuen Höhepunkt getrieben. Nicht im Rahmen eines Hofballs (oder eines etwaigen postmodernen Äquivalents) vollzieht sich die erste persönliche Begegnung, deren ‚Schicksalhaftigkeit‘ der Protagonist nach allen Regeln der literarischen Kunst zu konstruieren bemüht ist. An diesem Punkt kehren wir 220 Ibid.: 227f. 221 Ibid.: 57. 222 Ibid.: 137. 223 Ibid.: 75f. 224 Ibid.: 76. 225 Nicolas 2010. 226 Vgl. Kamuf 1987: 91. „Nemours’s love, like his name, is negative and plural: ne/ amours“, merkt auch Nancy Miller an (1992: 28). <?page no="389"?> Queering La Princesse de (Clèves) 389 ans spöttisch himmelblaue Eingangstor des Pariser Vorstadtgefängnisses zurück, in dessen Besucherraum eine perfekt gestylte Marie-Line - in dieser Szene erstmals namentlich in ihrer doppelten Gender-Identität bezeichnet - sich endlich „l’élu de mon cœur“ gegenübersieht: - Marie-Line? Mon vrai prénom, c’est Daniel, mais j’avais signé toutes mes lettres avec mon nom de scène. - Armand? 227 Nicht umsonst hat der Protagonist seine sämtliche Korrespondenz „avec mon nom de scène“ unterzeichnet; das Projekt ‚Liebe‘ gerät hier von Anfang an zum theatralischen Spektakel und performativen Kraftakt. Den Spuren Lafayettes ex negativo folgend, schildert Bayamack- Tam einen grotesken anti-coup de foudre für ein charakterlich wie physisch abstoßendes ‚Liebesobjekt‘ („[…] j’ai eu envie de lui dire illico à quoi il ressemblait, lui, mais on ne m’a pas enseigné les bonnes manières pour que je dégoise à tout trac sur le physique des gens, quand bien même ils auraient échappé de très peu à l’albinisme et au gigantisme“ 228 ); aller spontanen Antipathie zum Trotz besteht Marie-Line auf ihrer absurden, ebenso arbiträren wie abstrakten Passion für den im Voraus und unbekannterweise auserkorenen „homme de ma vie“. 229 Versucht Marie-Line Armands wenig ansprechende Physis durch eifrige Beschwörung seiner „stature colossale“ und „blondeur scandinave“ ästhetisch zu rehabilitieren, 230 so gestaltet sich die positive Re-Interpretation seines „caractère difficile“ 231 weniger einfach, kann sie doch beim besten Willen die Augen nicht vor der „sécheresse de cœur“ und dem „égoïsme absolu“ 232 des Angebeteten verschließen. Sie selbst skizziert das Porträt eines Psychopathen wie aus dem Psychiatrie-Lehrbuch, 233 wobei der eiskalte und indifferente ‚Geliebte‘ sie zugleich - im Kontrast zu ihrer eigenen Verwirrung der Gefühle und der Gender-Identitäten - als „quelqu’un de très équilibré“ beeindruckt: „ni les affres existentielles ni les moyens par lesquels on y remédie habituellement“ scheint Armand zu kennen. 234 Idealer Gefängnisinsasse, der im Gegensatz zu seinen Mithäftlingen offenbar nicht im Geringsten unter der Situation leidet („Ma théorie est qu’on s’en sort d’autant mieux en prison qu’on est dépourvu de vie intérieure, de scrupules et d’états d’âme […]“, reflektiert Marie-Line als Sprachrohr Bayamack- Tams 235 ), folgt er einer strengen Hygiene (samt täglicher Gymnastik, eiskalten Duschen und strikt vegetarischer Ernährung 236 ) und widmet sich im Übrigen mit quasi-autistischer Obsessivität seinen „hobbys oiseux“, von Spezialzeitschriften „sur des sujets aussi peu engageants que la numismatique ou les porte-avions“ bis zu seiner Champagnerkorken- Sammlung. Die Information, dass seine neue ‚Freundin‘ in einer „boîte de nuit“ beschäftigt ist, weckt flüchtig sein Interesse, allerdings lediglich in seiner Eigenschaft als „collectionneur“ 227 Bayamack-Tam 2010a: 14. 228 Ibid.: 15. 229 Ibid.: 157. 230 Ibid.: 16. 231 Ibid.: 140. 232 Ibid.: 149, vgl. auch 141. 233 Vgl. ibid.: 149. 234 Ibid.: 140f. 235 Ibid.: 84. 236 Vgl. ibid.: 99. <?page no="390"?> 390 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam („Ah bon? […] Tu peux me garder des bouchons de bouteilles de champagne? “); 237 ansonsten schmollt der zweifelhafte Kavalier ganze kostbare Gefängnis-Besuchsstunden lang, weil Marie-Line vergessen hat, ihm „son putain de magazine pour autistes“ mitzubringen. 238 Ausgerechnet Armand erweist sich aber auch als Meister der Schrift in einem doppelt ‚handwerklichen‘ Sinne: „Armand écrit […] très bien. Il soigne ses formules comme son écriture: ses lettres sont calligraphiées à la perfection et on sent le garçon qui a pris un plaisir inquiétant à libeller jusqu’à son enveloppe.“ 239 Die Schreibkunst dieses Anti-Autors, der eine ebenso elaborierte wie stereotypisierte Rhetorik in kalligrafische Kreationen von anankastischer Perfektion verpackt, reicht freilich nicht über die Originalität des Beos in Si tout n’a pas péri avec mon innocence hinaus. Als Liebhaber ist Armand allerdings noch uninspirierter denn als Schriftsteller; hartnäckig verweigert er jede aktive Partizipation an jenem sorgfältig präparierten Passions-Szenario, das Marie-Line im Rahmen ihrer Besuche im Gefängnis allein ausagiert - auch wenn ihr ‚Partner‘ sie kaum eines Blickes würdigt. 240 Aus radikaler Außenperspektive - der Text bleibt konsequent auf Ich-Erzähler/ in Daniel/ Marie-Line intern fokalisiert - wird Armand, dem nicht einmal „les codes élémentaires d’une bonne communication“ 241 zu Gebote zu stehen scheinen, als absolut unzugängliche, in ihrer Trivialität unheimliche Figur konstruiert, „qui referme hermétiquement ses valves, clic-clac sur ses secrets vitreux“. 242 Auch über „les raisons qui l’ont conduit en prison“ schweigt dieser Antiheld sich aus; wäre Marie-Line vor dem Hintergrund ihrer eigenen biografischen Kalamitäten ohne Weiteres bereit, ihm die Kollektiv-Ermordung seiner ganzen Familie zu verzeihen („[…] ce n’est pas moi qui lui jetterai la pierre: en matière d’affaires familiales, mieux vaut une liquidation violente mais sans bavure, un anéantissement radical […]. Bref, si Armand a tué femme et enfants, il a, rétrospectivement, ma bénédiction“), 243 so stellt sie zugleich nicht ohne Zynismus fest, dass ein eventueller „crime passionnel“ in diesem Fall - in Ermangelung jeglicher wahrnehmbaren Gefühlsregung - jedenfalls ausgeschlossen sei. 244 „… cette vision de moi en amoureuse sublime“: Passion und Performance der Weiblichkeit Serait-il vrai que l’amour est la forme la plus violente de l’égoïsme […] 245 „[…] la passion est invivable“, 246 konstatiert Marie Darrieussecq; in La Princesse de. erscheint besagte Passion als luzider Selbstdestruktionstrip von vornherein in ihrer nackten Absurdität. Selbst Cindy, „vieille routière de l’automutilation“, 247 die, selbst treue Gefängnis-Pilgerin, 237 Ibid.: 17f. 238 Ibid.: 106. 239 Ibid.: 127. 240 Vgl. ibid.: 16. 241 Ibid.: 18. 242 Ibid.: 98, vgl. auch 128 sowie die Variation derselben Formel in Tout ce qui brille (1997: 204, 714f.). 243 Bayamack-Tam 2010a: 128f. 244 Ibid.: 253. 245 Radiguet 2011: 1512f. 246 Kaprièlian 2013. 247 Bayamack-Tam 2010a: 223. <?page no="391"?> Queering La Princesse de (Clèves) 391 ihre unbedankte „fidélité sans faille“, ihre „beauté spectaculaire“ und überhaupt „tant de magnificence“ an ein gänzlich unwürdiges Objekt verschwendet, 248 fasst illusionslos den Status quo des großen ‚Liebesromans‘ ihrer Freundin zusammen: „[…] je comprends pas ce que tu lui trouves: […] il est moche, il est gros, il est con. […] il en a rien [à] foutre de toi […].“ „Elle a raison“, gibt Marie-Line der Leserin gegenüber zu 249 - ebenso wie eine weitere „vérité […] inavouable“, nämlich dass ihre obsessive Faszination im Grunde nicht Armand, sondern ihrer eigenen glorifizierten Rolle als große Liebende und damit in ihrer neuen Gender- Identität erfolgreich bestätigte Frau gilt: „Comment faire comprendre […] que j’aime cette vision de moi en amoureuse sublime que ne découragent ni l’indifférence ni l’ingratitude; cette idée que je suis né pour aimer sans compter et souffrir mille morts? “ 250 Lafayettes Princesse braucht den schönen Duc de Nemours für ihre Liebe nicht („Pour aimer M. de Nemours, M me de Clèves paraît pouvoir se passer assez bien de lui“, wie René Pommier trocken anmerkt 251 ); der ‚reale‘ Mann erscheint eher als Störfaktor in der seligen nächtlichen Einsamkeit von Coulommiers. „[…] la plupart des gens font l’amour tout seuls; ça se passe entre eux et eux-mêmes, et d’ailleurs ça se passe dans leur tête“, erklärt bereits die Erzählerin der Fille du feu; 252 ohne Anspruch auf Reziprozität, gegen allen Widerstand und unter bewusster Vernachlässigung der „sentiments de l’autre, son libre arbitre, toutes ces conneries“ zeigt Marie-Line sich ihrerseits fest entschlossen, allein „pour deux“ zu lieben, 253 und schwelgt in allerlei reichlich konventionellen Erlösungs- und Rettungsphantasien (symptomatisch ihr Wunschbild eines invaliden und völlig abhängigen Liebesobjekts 254 ). 248 Ibid.: 85f. 249 Ibid.: 107. 250 Ibid.: 107f. Wiederholt - so auch in dieser Passage - verrät sich die brüchige Gender-Identität des Protagonisten, „né“ für seine Rolle als „amoureuse sublime“, im Detail der grammatikalischen Inkongruenz. Wird das Ich des Erzählers im Allgemeinen männlich akkordiert, so jongliert er doch selbst mit seinen diversen weiblichen Rollen und den entsprechenden Wortformen: „Comme je suis une bonne copine […]“ (ibid.: 83) etc. In seiner Exploration der Gefühls- und Gedankenwelten der gendertransgressiven Hauptfigur treibt der Roman - auf den Spuren nicht zuletzt Jean Genets („Je vous parlerai de Divine, au gré de mon humeur mêlant le masculin au féminin […]“; 2015: 37) - auch die strikt ‚gendernde‘ französische Sprache an ihre Grenzen; der Übersetzer des Romans ins Deutsche zeigt sich diesem Verwirrspiel nicht immer gewachsen, wenn er etwa „aus einem männlichen Blondschopf […] eine weibliche Blondine macht“ (Renöckl 2011). 251 Pommier 2010: 26. 252 Bayamack-Tam 2008: 1336. „Le plaisir de l’amour est d’aimer; et l’on est plus heureux par la passion que l’on a que par celle que l’on donne“, heißt es schon bei La Rochefoucauld (2005: Maxime Nr. 259); aber auch: „Il y a des gens si remplis d’eux-mêmes que, lorsqu’ils sont amoureux, ils trouvent moyen d’être occupés de leur passion sans l’être de la personne qu’ils aiment“ (ibid.: Nr. 500). 253 Bayamack-Tam 2010a: 12f. „L’amour de Mme de Clèves est bien plutôt un mouvement vers sa propre altérité, le désir d’un autre soi-même à travers le désir de l’autre, que ce désir immédiat; la voie de l’autre est une voie barrée, car la place même que l’autre semble occuper est vide, éloignée par de multiples degrés de la vérité“, konstatiert Dubois (2014); ähnlich Grande: „Durant tout le roman, M me de Clèves ne s’occupe en effet que d’elle. Même son amour pour Nemours, au lieu de la porter vers l’autre, vers l’altérité, ne fait que la ramener à elle plus sûrement et plus intimement à chaque fois. Son amour pour Nemours lui donne l’occasion de partir à la découverte d’elle-même, de plonger dans les lacis de l’ego, de découvrir […] la profondeur des sources inexplorées du moi féminin“ (1999: 102). Diese Funktion eines - hier anti-hyperbolisch porträtierten - ‚Anderen‘ als Prätext und Medium der Selbst-Exploration und Selbst-Konstruktion arbeitet auch Bayamack-Tams Roman heraus. 254 Vgl. Bayamack-Tam 2010a: 159. <?page no="392"?> 392 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam Aus ihrer Transgender-Perspektive erscheint gerade dieser zutiefst masochistisch anmutende Kult der ‚Liebe‘ - Sisyphus-Projekt par excellence - als integraler Bestandteil einer möglichst überzeugenden Inszenierung von ‚Weiblichkeit‘, als Versuch, das Chaos der eigenen Existenz in ein mehr oder minder kohärentes Narrativ - und sei es eine Passions-Geschichte im starken Sinne des Wortes - zu verwandeln; als absurder Selbstzweck gerät diese artifizielle und - wie Marie-Line selbst bekennt - egozentrische Leidenschaft umso grandioser, je nichtiger, ja widerwärtiger der als bloßer amouröser prétexte instrumentalisierte Andere ist. Nicht zufällig fungiert der antipathische Armand auch als Richter über Erfolg oder Misserfolg ihrer weiblichen mise en scène; bei der allerersten Begegnung wirft er der mit größter Sorgfalt gestylten Marie-Line ein brutales „Tu ressembles à une pute“ an den Kopf. 255 Der nächste heikle aveu ist fällig: Zu einem Zeitpunkt, da Daniel es noch nicht über sich gebracht hat, der geliebten Adoptivmutter seine ‚Weiblichkeit‘ zu gestehen, gilt es in ironischer Umkehrung dem homo- und transphoben Objekt der Begierde seinen Status als mtf samt maskuliner Rest-Anatomie zu bekennen; dank geschickter Aufklärungsarbeit im Vorfeld („je l’avais déjà passablement déniaisé concernant les trav et les trans“) erreicht diese delikate Information ihren Adressaten - wie es in einer signifikanten Metapher heißt - „comme une lettre à la poste“. 256 In der Folge fordert Armand, „globalement transphobique“, 257 freilich aggressiv die Fiktion ‚authentischer‘ Weiblichkeit, „une réfection chirurgicale en bonne et due forme“ ein: „Regarde comme t’es plate! […] Si tu veux que ça marche entre nous, tu ferais mieux de t’y mettre aussi. […] Je comprends pas ce que t’attends. Tu veux être une femme? Vas-y carrément: fais-toi couper le kiki.“ 258 Eben als paradigmatischer Repräsentant brachialer chauvinistischer Männlichkeit erscheint Armand in Marie-Lines Augen als jene Instanz, die ihr irgendwann vielleicht doch den Sanktus der ‚echten‘ Frau verleihen könnte. In geradezu lustvoller Unterwerfung unter fremde Normen („Je veux bien être tout ce qu’on voudra“ 259 ) bereitet sie sich gehorsam darauf vor, dem ‚Geliebten‘, der nach fünfzehn Jahren Haft bald auf Bewährung freikommen soll, „sa première rencontre avec mon anatomie aussi agréable que possible“ zu gestalten. 260 Doch auch diese Hass-/ Liebesbeziehung bleibt ohnedies streng platonisch: Der großzügig in Daniels/ Marie-Lines Elternhaus aufgenommene Armand lässt sich vielmehr - ultimativer Verrat - auf eine Liaison mit der Mutter ein, in deren geheime Zauberwelt er sich via Usurpation eines vermutlich fiktiven polnischen Stammbaums samt familiärer Mythologie erfolgreich einschleicht. 261 Derart entfaltet sich ein weiteres amouröses Dreieck voll ambivalenten Begehrens über Kreuz und ödipaler Eifersucht: Der Protagonist, gleich mehrfach betrogen von „cette union contre nature de la mère et de l’amant contre le fils“, 262 liebt als Marie-Line Armand, begehrt als Daniel seine Mutter - und möchte zugleich deren Platz beim temperamentvollen Analverkehr mit Armand in der elterlichen Garage einnehmen („Elle ne saura jamais, et Dieu fasse qu’elle l’ignore toujours, 255 Ibid.: 15. 256 Ibid.: 80. 257 Ibid.: 76. 258 Ibid.: 80. 259 Ibid.: 82. 260 Ibid. 261 Vgl. ibid.: 130f. 262 Ibid.: 232. <?page no="393"?> Queering La Princesse de (Clèves) 393 à quel point j’aurais aimé être à sa place […], ondulant, ployant et râlant sous les coups de reins d’Armand […]“); 263 durch eine strategische Lüge über dessen kriminelle Vergangenheit („[…] et qui me dit, d’ailleurs, que je ne suis pas tombé pile au milieu de l’insoutenable vérité? “) gelingt es ihm, diese für ihn unerträgliche „romance“ zu beenden. 264 Liebe, Tod und Auferstehung: Transfiktionale Verwirrspiele bei Emmanuelle Bayamack-Tam Währenddessen bröckelt das prekäre Gleichgewicht seines Gender-Doppellebens auch an anderer Front, reagiert doch Arcady - sonst so gelassener, sexueller Promiskuität gegenüber überaus toleranter Nachtwelt-König bzw. Rollenträger des ‚Prince‘, zusehends mit eifersüchtigem „énervement extrême“ auf die amouröse Konkurrenz durch Armand. 265 Während Daniel/ Marie-Line, unfähig, Arcady zu lieben, von Armand verschmäht, die allseits fehlende Leidenschaft mit frenetischer sexueller Aktivität zu kompensieren versucht („[…] je baise comme un dingue. […] Dommage que l’amour soit une autre histoire“ 266 ), entwickelt der vernachlässigte ‚Ehemann‘ eine depressive Lebens- und Liebesmüdigkeit, die nicht nur entfernt an den Verfall des M. de Clèves erinnert. Eines Tages sieht der Protagonist sich seinerseits mit dem schockierenden „aveu“ des alternden Arcady konfrontiert, der anlässlich seines bevorstehenden fünfzigsten Geburtstags mit Suizidgedanken spielt; 267 als Daniel schuldbewusst einen Doppel-Selbstmord vorschlägt - letzter Versuch, es via Liebestod vielleicht doch noch ins etablierte Skript der großen tragischen Passionen der europäischen Kultur- und Literaturgeschichte zu schaffen -, schickt der trotz allem fürsorgliche Arcady, auch in seiner Melancholie noch verlässlicher Mythen-De(kon)strukteur, seinen jungen Partner stattdessen zum Friseur („[…] ça te remontera le moral et tu seras tout beau pour ma fête“). 268 Daniel ist zu Recht besorgt: In La Princesse de. überlebt Arcady zwar bis auf Weiteres; den hier aufgeschobenen Suizid hat freilich sein Namensvetter und Quasi-Doppelgänger aus dem zwei Jahre vor der Princesse erschienenen Roman Une fille du feu bereits erfolgreich hinter sich gebracht, in den Tod getrieben durch seine unglückliche Passion für einen anderen Daniel, paradigmatische Inkarnation des Typus der fatalen „princesses caractérielles“ - beide Figuren lässt Bayamack-Tam in der Princesse zu einem neuen amourösen Experiment wiederkehren. Es ist an der Zeit, ausgehend von Tod und Auferstehung des Arcady ein weiteres spezifisches Merkmal der Romanwelt Emmanuelle Bayamack-Tams zu thematisieren: ihre ausgeprägte transfiktionale Dimension resp. „capillarité d’un livre à l’autre“, wie die Autorin selbst mit einer plastischen physikalischen Metapher präzisiert. 269 Abgesehen von ihren multiplen intertextuellen Referenzen schreibt sich diese Princesse auch in ein dichtes intratextuelles Netzwerk ein (jenes bereits vorangegangener Texte Bayamack-Tams, aber bemerkenswerterweise auch der romans à venir: im Licht des drei Jahre später publizierten Romans Si tout n’a pas péri 263 Ibid.: 154. 264 Ibid.: 146ff. 265 Ibid.: 161. 266 Ibid.: 166. 267 Ibid.: 189f. 268 Ibid.: 193f. 269 Zit. bei Tanette 2017. <?page no="394"?> 394 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam avec mon innocence lässt die schillernde, durch diesen Post-Intratext quasi rekonfigurierte Princesse wiederum neue Facetten erkennen 270 ). Wenngleich diese Problematik hier nicht primär im Fokus steht (und an dieser Stelle auch nicht weiter verfolgt werden soll), so sei doch angemerkt, dass eben Bayamack-Tams Werk eine Reihe literaturtheoretischer Fragestellungen rund um das Phänomen der Transfiktionalität aufwirft; nicht nur Motive, Schlüsselbilder und -phrasen, sondern auch Figuren ‚fluktuieren‘ hier von Text zu Text, 271 subtilen Metamorphosen unterworfen, aber über rekurrente Namen, biografische und auch physische Details miteinander assoziiert bzw. identifiziert. Manche Protagonisten erleben regelrechte transfiktionale Odysseen kreuz und quer durch Bayamack-Tams literarisches Paralleluniversum, in dem das Gesetz linearer und irreversibler Zeitlichkeit außer Kraft gesetzt, die romaneske Chronologie auf den Kopf gestellt, die Identität eines stets prekären und polyphonen Subjekts auf Schritt und Tritt problematisiert wird. 272 Ein unglücklicher Daniel mit Transgender-Identität („Si je n’avais qu’un seul vœu à faire, ce serait le suivant: être cette fille aux cuisses déliées, à la peau de fruit, à la cambrure de danseuse […]“ 273 ) und transvestitischen Affinitäten 274 steht schon im Zentrum des Erstlingsromans Rai-de-cœur (1996), der auch bereits die intra- und interromaneske Multiplikation der Figur skizziert. Von einem homophoben Vater als „petit pédé“ zurückgewiesen („Tu n’es plus mon fils, Daniel“ 275 ), vernimmt der Protagonist bei seiner Rückkehr ins heimische (Ex-) ‚Kandjaland‘ bestürzt die Neuigkeit von der bevorstehenden Geburt eines „Daniel numéro deux qui viendrait faire oublier que j’ai existé moi aussi ici même“, 276 eines Geschwisterchens, das, so männlichen Geschlechts, ‚Daniel‘ genannt werden soll, wie die Mutter erklärt: Je la dévisage avec stupéfaction. - Mais je m’appelle Daniel! Vous avez déjà un fils qui s’appelle Daniel! - C’est une idée de ton père. Tu sais bien que c’est un prénom qui est dans sa famille depuis des générations. 277 270 Vgl. zur nachträglichen Wirkung eines transfiktionalen Textes „sur un récit antérieur (ou plus exactement sur sa diégèse)“ Saint-Gelais 2011 (hier zit. 16). 271 Vgl. Eco 2011: 93ff. Saint-Gelais spricht seinerseits von der „émancipation transfictionnelle du personnage“ gegenüber ‚Autor‘ sowie in sich geschlossenem ‚Werk‘ (2011: 377ff.). An diesem transfiktionalen Spiel partizipieren bei Bayamack-Tam nicht nur menschliche, sondern auch animalische Protagonisten bzw. Statisten; so schleppt sich die - auch innerhalb einzelner Texte multiplizierte bzw. nach dem Hinscheiden eines Exemplars sogleich ersetzte - Hündin Fougère von Roman zu Roman fort: „[…] toutes nos Fougère […] étaient antipathiques“, macht der Held der Princesse de. kein Geheimnis aus seiner Aversion (2010a: 125); vgl. auch Une fille du feu (2008: 1239) und Je viens (2015: 1278). 272 „[…] l’intertextualité ne garantit plus l’identité du personnage, elle la subvertit. Cette homonymie intertextuelle est l’image même de la productivité du nom: […] un signifiant unique engendre des signifiés multiples et différents“, bemerkt Magné zum Werk Georges Perecs (1984: 69, zit. bei Saint-Gelais 2011: 14f.). Diese Problematik - „Qu’en est-il de l’identité de personnages dont les attributs ne sont pas les mêmes d’un texte à l’autre? “ (ibid.: 16) - ist auch an Bayamack-Tams Œuvre paradigmatisch zu studieren. 273 Bayamack-Tam 1996: 540f. 274 Wie später für den Protagonisten der Princesse de. fungiert weibliche Kleidung hier bereits als Fetisch und Sehnsuchtsobjekt. Durch eine List eignet sich Daniel alias „Nello“ (ibid.: 156) die verführerische neue „robe de princesse“ (ibid.: 220ff.) seiner Spielgefährtin an - und findet sich bei der heimlichen Anprobe vorm Spiegel zum ersten Mal „belle à couper le souffle“ (ibid.: 242f.), wohlgemerkt au féminin (ibid.: 254f.). 275 Ibid.: 307. 276 Ibid.: 1096ff. 277 Ibid.: 1046ff. <?page no="395"?> Queering La Princesse de (Clèves) 395 Aus diesem initialen Trauma eines Subjekts, dem seine Identität, ja gleichsam Existenz verweigert wird, geht eine ganze kleine Familie von intratextuellen Wiedergängern jenes ersten Daniel hervor, paradoxer Anti-Erzähler 278 eines doppelt initiatorischen Romans und als Repräsentant von „tous les M. les maudits de ce monde“ 279 direkter Vorläufer des Helden der Princesse de. Seinerseits gespalten zwischen auferlegter männlicher Persona und jener „petite femelle qui sommeillait en moi“, 280 nimmt dieser frühere Daniel nicht nur dessen einigermaßen misogynes Ideal höherwertiger Transgender-Weiblichkeit („Je veux ta beauté, espèce d’idiote! Je la comprends mieux que toi, et par conséquent, je la mérite davantage“ 281 ) samt kritischer Reflexion über diverse „princesses de pacotille“ 282 und die eigene groteske „vie de singe“ 283 vorweg, sondern auch eine traurige „histoire amoureuse“ 284 mit prononcierter ‚klassischer‘ Dimension: „Je veux gagner du temps, gagner le-moment-où, cette rive heureuse de la carte du Tendre qui s’appelle Oubli, Indifférence, Autre-Chose-en-Tête.“ 285 Hier heißt „l’élu de mon cœur de macaque“ noch ‚Kéziah‘ alias „Kes le magnifique“ 286 (als „Malgorzata la magnifique“ auf der Bühne des Arcadia erlebt der Protagonist der Princesse de. eine stellvertretende späte Revanche 287 ); wie letzterer ist auch sein anfangs noch mit „un transformisme léger“ 288 experimentierender Namensvetter aus Rai-de-cœur um seiner Passion willen zunächst zum Gender-Switching bereit: „Kéziah, je sais que tu aimes les filles, mais je peux en être une si tu veux.“ 289 Exakt an derselben Adresse („27 bis, rue d’Italie“) wie jenen ersten ‚Daniel Consolat‘, 290 der während seines Aufenthalts in der Metropole ‚Fénix‘ (mythisch überhöhte Version von Paris) als mit verzweifelter Extravaganz kostümierter „travelo en bordée“ 291 seine nokturnen „chronorythmes de prédilection“ 292 entdeckt, bringt Bayamack-Tam auch den Antihelden von Hymen unter; 293 ebenso den gleichnamigen jungen Taxidermie-Spezialisten aus Pauvres morts. 294 Immer wieder überkreuzt sich die triste Dynastie der Daniels mit den Manifestationen jener der Leserin bereits bekannten Charonne; bis in die Haarspitzen intertextualisierte „créature de Baudelaire“, 295 aber auch mit Bretons Nadja in Verbindung gebracht, 296 steht 278 „Je n’ai pas l’intention de raconter ni d’expliquer quoi que ce soit. […] Convenons donc que je n’écris ni ne raconte“ (ibid.: 24ff.). 279 Ibid.: 784. 280 Ibid.: 711f. 281 Ibid.: 545. 282 Ibid.: 628f. 283 Ibid.: 396. 284 Ibid.: 282. 285 Ibid.: 839f. 286 Ibid.: 648f. 287 Bayamack-Tam 2010a: 132. 288 Bayamack-Tam 1996: 704. 289 Ibid.: 702. 290 Ibid.: 778. 291 Ibid.: 852f. 292 Ibid.: 638f. 293 Bayamack-Tam 2003b: 493, 2928. 294 „Il s’appelle Daniel Consolat et il habite rue d’Italie“ (Bayamack-Tam 2000: 1218f.). 295 Lançon 2013. Mit besonderer Faszination betrachtet Erzählerin Kim in Si tout n’a pas péri avec mon innocence „les cheveux de Charonne […] sans doute ce qu’il y a en elle de plus baudelairien“ (2013a: 1799). Schon die erste Einführung der Figur erfolgt über ein signifikantes Missverständnis, reagieren <?page no="396"?> 396 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam diese Figur ihrerseits im Zentrum eines intratextuellen Verwirrspiels, das sich über mehrere Romane erstreckt - angefangen mit der mehrfach symbolträchtigen Anbzw. parodistisch religiösen Verkündigung ihrer Geburt in Tout ce qui brille (1997). Unter spielerischer Rekontextualisierung einer vor dem Hintergrund postmoderner globaler Machtverhälnisse re-interpretierten biblischen Narration („Pourquoi ne m’avait-on jamais dit que la Bible était un livre africain? “, fragt sich schon jener erste Daniel in Rai-de-cœur 297 ) träumt der im Elend eines vage suggerierten ‚Afrika‘ gefangene, allmählich völlig in eine TV-generierte Simulakrenwelt entgleitende Protagonist von einer Erlöserfigur namens Charonne. „Vous pourriez l’appeler Charonne“, schlägt er einer schwangeren jungen Nachbarin namens ‚Maria‘ vor: „Crois-moi, appelle-la Charonne et quand elle sera grande, tu verras, elle sera une fée et elle changera ta vie à toi aussi.“ 298 Vergeblich phantasiert er von seiner zukünftigen kleinen Gefährtin („Ils seront trop heureux de me la confier. Charonne“ 299 ); zu seiner Enttäuschung bringt Maria einen Sohn zur Welt. Als Remake jener ersten misslungenen Reinkarnation wird Charonne - parodistisch feminisierte und dunkel gefärbte Christus- Figur - schließlich im Fieberdelirium der riskanten gemeinsamen Überfahrt nach Europa bzw. ‚Fénix‘ gezeugt, Produkt jenes bizarren temporären Paares, zu dem sich ‚Maria‘ und ein zusehends wahnsinniger Protagonist - mit multiplen Identitäten und unter anderem „un passeport au nom de ‚Dieu‘“ 300 ausgestattet - zusammenfinden. Trotz aller Verachtung für Maria und ihre Tochter, „qui finira comme elle, avec elle peut-être, sur les trottoirs de Fénix“, 301 sanktioniert der mittlerweile inhaftierte ‚göttliche‘ Vater den emblematischen Status der Figur noch vor deren romanesker Geburt: „Et j’y vais, un peu à l’aveuglette d’une lèvre à l’autre: un point pour toi, May Dée, […] un point pour Maria, […] un point pour Charonne, […] et un point pour toutes les petites filles infibulées de la terre.“ 302 In einem ebenso monströsen wie symbolischen, später eben in La Princesse de. variierten Akt der Selbstverstümmelung verstummt dieser wahnsinnige, gewalttätige und vergewaltigende ‚Dieu‘ am Ende des Romans; mit von eigener Hand zugenähten Lippen entsagt er im Namen einer zukünftigen Heldin, deren Nachfahrinnen in den folgenden Texten das Wort - ein weibliches, marginales Wort - ergreifen. Kims jüngere Brüder doch einigermaßen überfordert auf die Baudelaire-Rezitationen, zu denen ihre literaturliebende Schwester sie im familiären Garten zwangsverpflichtet: „Ça veut dire quoi ‚charogne‘? - Y’a une fille dans la classe, elle s’appelle Charonne! - Elle est grosse! - Et elle pue! Comme la Charonne du poème! […] Cha-ro-gne! Pas Charonne! Alors, vous savez ou pas? “ (ibid.: 1280ff.). Der erste persönliche Auftritt der Figur findet bereits auf einer intertextuell präparierten Bühne statt: „[…] la première fois que Charonne se pointe à la maison, c’est encore à Baudelaire que je pense, avec une hésitation entre ‚Le serpent qui danse‘ et ‚Le beau navire‘“ (ibid.: 1747ff.). Freilich erweist sich die vermeintliche „charogne“ als „d’une beauté à couper le souffle“ (ibid.: 1791) - und von souveräner literarischer Ignoranz: „Non, elle ne connaît pas, la majestueuse enfant: elle est comme toutes les muses, elle n’a jamais rien lu […]“ (ibid.: 4778). 296 TGV Magazine, 09.2008. 297 Bayamack-Tam 1996: 1108. 298 Bayamack-Tam 1997: 254ff. 299 Ibid.: 280. 300 Ibid.: 690. 301 Ibid.: 805. 302 Ibid.: 1295ff. <?page no="397"?> Queering La Princesse de (Clèves) 397 Bereits im Folgeroman Hymen (2003), grotesker Anti-„conte de fées“, 303 in dem sich mehrere ‚wahnsinnige‘ Stimmen zum polyphonen Gesang vereinen, 304 wird eine erste Version der Figur inszeniert (der Name wird hier als „Sharon“ orthografiert, 305 aber ausdrücklich mit ‚Charonne‘ in Verbindung gebracht: „Je porte le nom d’une station de métro et personne ne me l’avait jamais dit“ 306 ). Schon in diesem Text fungiert Sharon/ Charonne, „énorme mais sensationnelle“, 307 als inkarnierte Anti-Norm und Sprachrohr peripherer Widerrede; von der jungen Frau und der ihr auf Schritt und Tritt widerfahrenden symbolischen Gewalt inspiriert, plant Coco eine Kollektion ‚performativer‘ Kleidung, primär adressiert an „les voyeurs, les dragueurs et les violeurs“, beschriftet mit „[d]es choses qui les forceront à réfléchir sur ce que ça fait d’être une femme dans la rue. Ou d’être une femme tout court“. 308 Mehrere Romane später ist der Parcours dieser unter Beibehaltung einiger intratextueller „invariants“ immer wieder neu variierten, 309 ihre Ko-Protagonisten und auch die Leserin produktiv irritierenden Figur noch nicht zu Ende. Tritt Charonne - stets mit einer (ihrerseits variablen) hochtraumatischen Kindheit und einer im Wesentlichen identen extravaganten Physis ausgestattet - in Une fille du feu als junge Erwachsene auf, so liefert Si tout n’a pas péri avec mon innocence die - bzw. eine potentielle - Geschichte ihrer Adoleszenz nach. In Je viens (2015), polyphon angelegter „roman comique“ (oder vielmehr tragikomischer Roman), wird ein weiteres - vorläufig letztes 310 - Mal Charonne in Szene gesetzt, unverkennbar telle qu’en elle-même (und explizit mit dem intratextuellen Prototyp aus Hymen assoziiert 311 ), doch in einem neuen sozialen Kontext resituiert und mit einer neuen, in mehreren Versionen erzählten und wi(e)dererzählten Biografie versehen; 312 diese Reinkarnation Charonnes führt 303 Villovitch 2003. 304 Vgl. Harang 2003; ausführlicher zu diesem Roman Stemberger 2017a. 305 Bayamack-Tam 2003b: 1115. 306 Ibid.: 1287. 307 Ibid.: 1099. 308 Ibid.: 2691ff. 309 Nicolas 2015. 310 Bayamack-Tam selbst interpretiert Je viens als potentiellen Abschluss einer Schaffensphase: „J’ai l’impression de boucler quelque chose avec ce roman“ (ibid.). 311 „Il y a du Sharon Stone en elle, et une allusion au métro Charonne“, erklärt die Autorin (Nicolas 2015); auf die Spötteleien der Jury des „New Star“ („Alors, Charonne? C’est bien ça, hein? Charonne? […] Il vient d’où, ce prénom? Une maman fan de Sharon Stone? “; 2015: 4385ff.), entgegnet die Heldin von Je viens ohne mit der Wimper zu zucken: „Plutôt un hommage aux morts du 8 février 1962“ (ibid.: 4390). Allen Animositäten trotzend, gewinnt sie triumphierend den Wettbewerb - Jahre später und in einer anderen Romanwelt wird die Verheißung aus Hymen, da Sharons Vater seine zunächst verleugnete Tochter zum „star“ zu machen verspricht (Bayamack-Tam 2003b: 2143), schließlich doch noch eingelöst. 312 Als ungeliebtes Adoptivkind wächst die Protagonistin in einer „grande maison marseillaise pleine de sortilèges“ auf (Bayamack-Tam 2015: 3287f.), mediterranes Geisterhaus bzw. kunst- und literarhistorisches „cabinet de curiosités“, durch das Bayamack-Tam „mes fantômes familiers“ (darunter wieder Vaslav Nijinsky) spuken lässt (Nicolas 2015) und in dem bald ihr höchstpersönliches „fantôme bleu“ (Bayamack-Tam 2015: 951) - auch hier ferne Césaire-Reminiszenz? - der einsamen kleinen Charonne hilft, das Alphabet zu meistern. Die erste eigenständige Lektüre gerät zur regelrechten „illumination“ (ibid.: 550ff.), das Lesen - wie schon in Si tout n’a pas péri avec mon innocence - zur zentralen Evasions-, aber auch Subversionsstrategie in einem hochgradig dysfunktionalen Umfeld: „À chaque fois, on a un personnage qui, face à une famille défaillante, se construit par la lecture“ (Nicolas 2015). Auch dieser Roman besitzt neben der poetologischen eine klare gesellschaftskritische Dimension: Mit Hilfe fremder Texte - Katalysator ihrer „métamorphose“ (Bayamack-Tam 2015: 579) - wird eine mehrfach stigmatisierte <?page no="398"?> 398 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam Bayamack-Tam mit einem vermeintlich philippinischen Liebhaber namens ‚Liberato‘ zusammen, der, wie sich herausstellt, eigentlich russischer Herkunft ist 313 und die Heldin bittet - hier dreht sich eine transfiktionale Spirale weiter -, ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen: „Appelle-moi Arcady, je préfère.“ 314 Die Wege von Charonne und Arcady (samt Liebhaber Daniel) haben sich freilich schon im Roman Une fille du feu gekreuzt, unmittelbarer Vorgängertext zur Princesse de.; Bayamack-Tam bestätigt den „lien évident entre les deux textes“: „Il y a un personnage qui fait le lien entre les deux, c’est le personnage d’Arcady. […] c’est le même dispositif formel et peut-être aussi le même type de personnage principal.“ Die intratextuelle Schnittmenge des jeweiligen Personals beschränkt sich jedoch nicht auf Arcady (in Une fille du feu bisexueller Fitnesstrainer); die Autorin selbst betont auch die Parallelen zwischen den jeweiligen marginalen (Anti-)Helden bzw. -Heldinnen Charonne und Daniel/ Marie-Line: „Dans Une Fille du feu, l’héroïne est une très jeune fille, très grosse, dont je fais une héroïne magnifique et méconnue. Dans La Princesse de. Daniel, qui est un transsexuel pré-opératoire, qui n’a pas franchi le cap de l’opération.“ 315 In Une fille du feu sind Charonne und Daniel erbitterte Feinde: Das homosexuelle Paar Daniel/ Arcady 316 - bereits mit ausgeprägter Queer-, aber noch ohne die Transgender-Dimension der Princesse de.: dieser frühere Daniel ist Arcady zufolge „quand même très pédé“ 317 - gerät auf der Suche nach einer „mère porteuse“ für das biologisch problematische Wunschkind an die junge Frau 318 - und findet sich alsbald in einer heiklen Dreiecks-Konstellation wieder; Charonne begegnet ihrer leihmütterlichen Rolle mit ebenso souveräner Ironie wie den Liebesdramen des homosexuellen „couple d’amoureux d’opérette“. 319 Protagonistin, als Baby buchstäblich aus der Mülltonne gefischt (ibid.: 3897f.), von der leidenschaftlichen Leserin schließlich zur ‚Autorin‘ ihrer selbst. Geschichte des Lesenlernens in einem non-trivialen Sinn, „écrit depuis cette expérience de la sidération que constituent les premières lectures“ (vgl. URL: http: / / www.pol-editeur.com/ index.php? spec=livre&ISBN=978-2-8180-3541-2 [Verlagspräsentation Je viens]), reflektiert Je viens die intertextuelle Genese des Subjekts wie des Romans auf diegetischer wie auf poetologischer Meta-Ebene. Angefangen mit dem durch Henri Michaux’ „Agir, je viens“ (Face aux verrous, 1954) inspirierten Titel konstituiert sich der Roman als extrem verdichtetes inter-/ intratextuelles Geflecht, in dem neben Dante, Dickens & Co. auch ein Echo des Bal du Comte d’Orgel erklingt: „J’ai écrit une pièce qui s’appelait Dormez, je le veux! “ (Bayamack-Tam 2015: 3060). 313 Ibid.: 1120f. 314 Ibid.: 1178. „Arcadie! “ (ibid.: 3728) wiederum (miss-)versteht die böswillige Adoptivmutter, als sie die beiden heimlich beim Sex - ‚Brève Arcadie‘ auf dem Perserteppich im Marseiller Geisterhaus - beobachtet. 315 Bayamack-Tam 2010b. 316 Im Keim ist dieses amouröse Szenario bereits in Hymen enthalten: In einem Augenblick narkoinduzierter Ekstase zeichnet sich eine potentielle Liaison zwischen Daniel und Coco, intratextueller Doppelgänger Arcadys, ab (Bayamack-Tam, 2003b: 841ff.); eine diskrete homoerotische Nuance wird weiter durch den Text ausgesponnen (vgl. ibid.: 1144). 317 Bayamack-Tam 2008: 1233. 318 Ibid.: 509f. 319 Ibid.: 1740f. Ebendiese Charakteristik als „couple d’opérette“ wird in La Princesse de. wiederholt in Bezug auf die Adoptiveltern des Protagonisten gebraucht (Bayamack-Tam 2010a: 112, vgl. auch 34). An dieser Stelle öffnet sich ein kleines intratextuelles Fenster zugleich auf Le Triomphe: In Gestalt der namenlosen „Fille“ - die sich, Opfer patriarchalischer Gewalt und eines väterlichen ‚Ehrenmordes‘, unvermutet im extravaganten Purgatorium der Herren Artaud, Nijinsky und Kafka einfindet - setzt auch dieser dramatische Text eine nicht allzu entfernte Verwandte Charonnes in Szene. Ihrerseits Repräsentantin der „réalité insoutenable“ (2005: 108f., 116), teilt diese Figur nicht nur die distinktiven <?page no="399"?> Queering La Princesse de (Clèves) 399 Während die junge Frau für eine anspruchsvolle Liebes-Ethik abseits naiver romantischer Verklärung, aber auch abseits der soziokulturellen Fixierung auf sexuelle Monogamie samt besitzergreifender Eifersucht plädiert („Et que quelqu’un m’explique un jour comment on en arrive à concevoir le partenariat sexuel comme une relation aussi odieusement exclusive“ 320 ), demonstriert das Paar Arcady/ Daniel hier schon vor der Princesse de. - und durchaus auf den Spuren der Liebesskepsis Lafayettes - die Verheerungen der Passion, „qui par définition est une erreur fatale et ne choisit pas son objet“. 321 Beider Liaison erscheint in Charonnes Augen als perfekte Illustration der Tyrannei der Schwachen, 322 „l’élégant Daniel“, 323 neurotischer Multi-Phobiker und Hypochonder, als „princesse caractérielle“: 324 „Ce mec est une princesse. Ça m’excite“, gesteht Arcady, der in wollüstiger Selbstquälerei „sous l’empire capricieux de sa princesse“ ausharrt. 325 Im Rahmen eines extravaganten Maskenspiels macht die vom eifersüchtigen Daniel heftig angefeindete Charonne ihrerseits eine temporäre Metamorphose zur schlanken, in frischer chemischer blondeur erstrahlenden „princesse“ mit; 326 parallel zu Arcadys fataler Passion entfaltet sich eine zweite homosexuelle Prinzessinnen- Affäre zwischen der Protagonistin und einer konsequent als solche identifizierten „princesse blonde“ 327 mit dem vielversprechenden Künstlernamen „Dirty Diana“, 328 auch sie schließlich in ihrer Charakter- und Gefühllosigkeit demaskiert 329 und in Charonnes Rachephantasien anstelle der realen Glamour-Figur in einen möglichst grausamen Unfalltod unter dem Pont de l’Alma geschickt. 330 Arcady, Opfer seiner „passion convulsive“, 331 verschwindet Elemente von Charonnes Physis - von der „poitrine […] monumentale“ bis zu den nicht minder spektakulären „fesses […] également parties pour une croissance sensationnelle“ (ibid.: 115) -, sondern auch deren desillusionierte Liebes- und Ehephilosophie. Radikale Queer-Advokatin („[…] c’est plutôt le mariage entre personnes de sexes opposés qui défie la nature et le bon sens“; ibid.: 118), macht sich diese Protagonistin unverzüglich an die Vermittlung einer posthumen ‚Ehe‘ zwischen Nijinsky und Kafka - und schickt sich an, recht bald auch als „la mère porteuse de vos futurs enfants“ zu fungieren (ibid.: 150). 320 Bayamack-Tam 2008: 981f. 321 Ibid.: 1807. 322 Ibid.: 934f. 323 Ibid.: 437. 324 Die homosexuelle ‚Prinzessin auf der Erbse‘ hat freilich auch eine dunkle Seite bzw. einen rätselhaften Doppelgänger im Text: Auf ihren (Irr-)Wanderungen durch Paris stößt Charonne wiederholt auf die Graffiti-Annoncen eines gewissen Daniel, der unzweideutige sexuelle Angebote macht: „BJR je m’appele Daniel et je kife lé bite [sic]“ (ibid.: 435, vgl. auch 646, 839, 1564, 1843). Schließlich wird sie in der Métro von einem Unbekannten angesprochen, der sich als ‚Daniel‘ vorstellt; ironisch fragt sich Charonne, ob es sich wohl um jenen Freund der „bites“ handle und, falls ja, ob er sie „pour un travelo des îles Fidji“ halte (ibid.: 839). 325 Ibid.: 1098. 326 Ibid.: 1104. Als intratextuelle Parallelbzw. Spiegelfigur zu Charonne kommt hier auch Alexandrine aus Mon père m’a donné un mari ins Spiel, autistische „princesse“ (2013b: 120), die - ihrerseits „blonde“ (ibid.: 703), „blanche et rose“ (ibid.: 561f.) - wie Charonne die heikle Frage der (Des-)Autorisierung eines/ einer marginalen Anderen aufwirft („C’est pas parce que je suis vierge et autiste que je n’ai pas mon mot à dire“; ibid.: 1021f.). 327 Bayamack-Tam 2008: 1219, 1222, 1409, 1455; vgl. auch ibid.: 372, 1157, 1172ff. et passim. 328 Ibid.: 1559f. Auch von dieser Figur führt eine intratextuelle Spur weiter in den Roman La Princesse de.: Eben der Michael-Jackson-Song Dirty Diana ist eine der Glanznummern Marie-Lines auf der Bühne des Arcadia (2010a: 63). 329 Bayamack-Tam 2008: 1553f. 330 Ibid.: 1539f. Lady Di und „la princesse Diana, animatrice télé-animalière qui se fait sauter dans les boîtes de nuit“ scheinen schließlich zu einer einzigen Gestalt zu verschmelzen, die Charonne zu einigen <?page no="400"?> 400 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam spurlos, nachdem Daniel ihn aus seiner Wohnung und seinem Leben geworfen hat; bald darauf wird seine Leiche „dans une canalisation d’égout sur un chantier abandonné“ entdeckt. 332 Es folgt eine verzweifelt-passionierte Hasstirade Charonnes gegen „les Daniel de tout poil, qui […] ne comprennent rien aux âmes“; 333 zu spät träumt sie von einer Allianz der wahrhaft Liebesfähigen gegenüber „toutes ces princesses caractérielles“ aller Geschlechter und Couleurs. 334 Tellement contre, c’est tout contre: Bei aller Antipathie bleibt die subtile intratextuelle Verwandtschaft zwischen ‚Princesse‘ Daniel und Charonne bestehen; 335 wie später der Protagonist der Princesse de. identifiziert auch Charonne, die ihren aus dem gescheiterten Leihmutter- Projekt hervorgegangenen kleinen Sohn „comme un prince“ 336 kleidet, ihre eigene Mutter mit jener höchst ambivalenten „princesse de mes rêves“ 337 - und nimmt in ihren Spekulationen über ihre amouröse Zukunft sogar Daniel/ Marie-Lines Passion für den Häftling Armand vorweg: „J’envisage d’ailleurs d’entamer une correspondance avec un prisonnier, voire de l’épouser, en grande pompe et en prison […]“. 338 ebenso erbitterten wie luziden gesellschaftskritischen Reflexionen über „tout un star-system emballé […] toute une aristocratie siphonnée et fragile“ (ibid.: 1942ff.) inspiriert. 331 Ibid.: 1806. 332 Ibid.: 1841f. 333 Ibid.: 1842ff. 334 Ibid.: 1854. 335 Bemerkenswert ist bei der Kontrastierung dieser beiden eng verwandten Texte bzw. Protagonisten auch der Perspektivenwechsel: Die rekurrenten Schlüsselfiguren Bayamack-Tams werden nicht nur immer wieder neu in mehr oder minder stark variierten amourösen/ erotischen/ familiären Konstellationen rearrangiert, sondern - in einer Textwelt, die nicht zuletzt ein philosophisches Exerzitium in „Realitätspluralismus“ (vgl. Esposito 2007: 68) darstellt - auch narrativ neu beleuchtet. Steht Charonne in Une fille du feu (2008) als junge erwachsene Ich-Erzählerin durchgehend im Fokus - in den polyphonen Romanen Hymen (2003) und Je viens (2015) übernimmt sie als homodiegetische Erzählinstanz jeweils einen Teil der Narration -, so wird sie in Si tout n’a pas péri avec mon innocence (2013) aus sympathisierender, doch konsequenter - und als Geste des Respekts reflektierter - Außenperspektive dargestellt. Ausgehend von dieser Figur wird hier der Umgang mit Alterität, die schwierige Suche nach einer Liebe jenseits von domination und „diminution“ des/ der Anderen thematisiert: „Sauf que moi, justement, je vais faire très attention: je vais aimer Charonne sans souhaiter sa diminution […]“, nimmt Protagonistin Kim sich vor (2013a: 4794f.; die Anleitung „comment aimer l’autre sans souhaiter sa diminution“ kündigt bereits der Paratext zum Roman an). Umgekehrt rückt Daniel - in Une fille du feu in prononciert antipathischer externer Fokalisation aus der Sicht Charonnes geschildert - in La Princesse de. als homodiegetischer Erzähler ins Zentrum; die konfliktuelle Gefühlswelt einer nach wie vor überaus ‚komplizierten‘ bzw. kapriziösen Figur wird aus der Innenperspektive empathisch erfahrbar. Frappant auch der Unterschied in der jeweiligen Adressierung: Richtet Charonne in Une fille du feu sich in selbstironischer Megalomanie an eine kollektive „chère opinion mondiale“ (2008: 24 et passim), so gilt in La Princesse de. die brüchige, um sich selbst kreisende Narration Daniels/ Marie-Lines in letzter Instanz der geliebten mütterlichen ‚Princesse‘: „Rappelle-toi, Barbara […]“ (2010a: 49). 336 Bayamack-Tam 2008: 1767. 337 Ibid.: 684. 338 Ibid.: 136f. <?page no="401"?> Queering La Princesse de (Clèves) 401 „Suis-je un fou d’avoir cru que ma mère était une princesse […]? “ Die Entzauberung des Mythos Die hier skizzierte ‚Liebes‘-Geschichte mit einem in Charonnes Phantasie noch abstrakten „prisonnier“ wird Daniel bzw. Marie-Line in La Princesse de. ausagieren - bis an den Punkt, an dem er seine ‚Ehe‘ mit Arcady ebenso wie seine unerwiderte Passion für Armand hinter sich lässt und schließlich auch jenes ambivalente mütterliche Idol von seinem Podest stürzt. An jenem anachronistischen Bonbonnière-Abend, da der Protagonist wieder einmal allerlei gute - schlechte - ödipale Vorsätze fasst („être un homme, reconquérir ma mère“, „renoncer pour toujours à mon nom de scène et à toutes les postures de pin-up“), taucht zu seinem Entsetzen die vom rachsüchtigen Armand herbeigelotste Mutter im Club auf; plötzlich sticht Marie-Line auf der Bühne „un éclat fauve et familier au fond de la salle“ ins Auge. 339 Geradezu panisch antizipiert der Star des Arcadia, „en flagrant délit de désobéissance à sa loi non écrite - au commandement qui veut que les fils soient des hommes“ ertappt, 340 die Strafe für „vingt ans de mensonges et d’impostures“. In einer halb-halluzinatorischen Vision fixiert Marie-Line das Paar Armand und Barbara, die, „raides comme la justice, vivante image du reproche et du ressentiment“, ihren Auftritt zu verfolgen scheinen, Parodie jener stolzen Eltern, auf deren bestätigenden Blick Daniel seit Jahren wartet; statt „un père et une mère tendrement enlacés et dardant leurs regards sur leur fils en plein one man show“ sieht Marie-Line sich während ihrer nächtlichen one woman show einem höchst einschüchternden Tableau vivant namens „papa et maman unis dans leur mépris pour ce fils qui n’en est pas un“ gegenüber. 341 In musikalischer Form erfolgt nun in aller Öffentlichkeit der jahrelang aufgeschobene aveu: „[…] ma mère aura droit ce soir à une vérité qui se regarde en face, et tant pis si comme toutes les vérités celle-ci est insoutenable […].“ 342 Schwankt Marie-Line fürs Erste zwischen Erleichterung und Scham („De toute façon, le pardon ne viendra jamais: […]. Finalement, je n’ai plus rien à me faire pardonner […] Sur le visage de ma princesse, je lis toute l’horreur que je lui inspire […]“ 343 ), so wird die mütterliche „princesse“ im nächsten Schritt als Projektionsfigur und phantasmatisches Konstrukt entlarvt. Nonchalant erklärt Arcady die vermeintliche mörderische Rächerin für „sympa“ sowie „une grosse chaudasse“: „[…] j’ai un peu discuté avec elle. […] je comprends pas bien pourquoi tu me racontes des histoires. Si ma mère était aussi cool que la tienne, j’aurais pas honte de la montrer.“ 344 Der Widerspruch zweier konträrer Perspektiven wird nicht restlos aufgehoben; doch Daniel selbst - nicht uneingeschränkt verlässlicher Erzähler in eigener Sache - stellt sich nun die Frage, ob er womöglich seit langem einen Kampf gegen sein eigenes Schreckgespenst einer „princesse intraitable, capricieuse et dure“ führt: „[…] car si ma mère n’a eu d’objection ni à me voir en 339 Bayamack-Tam 2010a: 230ff. 340 Ibid.: 233f. „Tous les fils ne sont pas faits pour devenir des hommes“, heißt es - in lapidarer Aufhebung des mütterlichen Heteronormativitätsgebots - im Paratext der quatrième de couverture. 341 Ibid.: 235ff. 342 Ibid.: 243. 343 Ibid.: 246f. 344 Ibid.: 262. <?page no="402"?> 402 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam drag-queen, ni à m’entendre chanter du Dalida, ni à tripoter un Arcady en robe à crinoline, il faut croire que j’ai tout inventé, que je lui ai prêté des haines et des dégoûts imaginaires […].“ 345 Mit der geradezu religiösen Ehrfurcht vor jenem „code noir“ 346 löst sich ein ganzes verklärtes Idealbild auf: Die vermeintliche Pistole unter dem Kleid Barbaras (ironisch wird mit der hyper-transparenten Psycho-Klischeesymbolik dieses ‚phallischen‘ Objekts gespielt) entpuppt sich als der schlaffe Bauch einer alternden Frau; 347 im Handumdrehen wird die jahrelang angebetete „princesse“ zur verachtenswerten - und unweigerlich auch wieder Marie Darrieussecqs Erstlingsroman evozierenden - „truie aux flancs ballottants“ degradiert. 348 In ikonoklastischer Rage zerstört Daniel die Reste des mütterlichen Götzenbilds; bitter spottet er über seine eigene „imbécile piété filiale“ und seine lächerliche Rolle als „l’esclave follement dévoué d’une petite immigrée polonaise à la fois obtuse et ingrate“: „Suis-je un fou d’avoir cru que ma mère était une princesse […]? Suis-je stupide d’avoir pensé que par un miroitant sortilège polonais ma piteuse filiation biologique pouvait se changer en dynastie royale? “ 349 Nachträglich gibt er sogar jener chimärischen „K toxicomane“, der er von Kindheit an einen innigen Hass widmet, den Vorzug gegenüber der demaskierten Pseudo-Princesse: „[…] mieux vaut descendre d’une pute que d’une truie.“ 350 Parallel zur Entthronung der Mutter vollzieht sich die Demontage Armands; der so lange eifrig umworbene Prototyp kühler, brutaler Männlichkeit verwandelt sich seinerseits in einen abstoßenden „gros verrat“. 351 In dem Moment, in dem sich die lustvoll erlittene mütterliche Diktatur als selbstkreierte Fiktion erweist, stürzt auch das soziokulturelle und moralische Koordinatensystem des Protagonisten in sich zusammen; schockartig wird Daniel klar, dass er ein Leben lang lediglich illusorischen „diktats que nul n’édictait“ gehorcht hat: „Se peut-il que pendant tout ce temps il n’y ait eu personne aux commandes - car si la reine était en fait une truie obèse et stérile, qui ai-je aimé et à quels ordres imaginaires ai-je obéi? “ 352 Allein und ohne jeglichen ‚code‘ findet der Held sich in einer kontingenten Welt wieder, in der alles und nichts möglich, seine ganze Passion - im Doppelsinn - vergeblich ist. Ein weiteres Mal widerfährt Mutter und Quasi-Ehemann, den ganzen Roman hindurch assoziiert, ein paralleles Schicksal; fast gleichzeitig werden diese beiden „modèles inégalables“ 353 unter den Augen des Protagonisten brüchig, entblößen sie ihre existentielle Vulnerabilität. An diesem Punkt nicht nur der Umwertung, sondern der schwindelerregenden Auflösung all seiner bisherigen Werte zieht der Held - Transgender-Erbe der Princesse Lafayettes - sich aus seinem bisherigen Leben (und vielleicht aus dem Leben überhaupt) zurück. Ein letztes Mal wendet er sich, nachdem er den ersten Furor überwunden hat, an das Idol seiner Kindheit: „Je te laisse ton mystère, Barbara. L’heure des explications n’arrivera jamais […].“ 354 Auch diese Princesse entschwindet - nach einigen „entre prostration, semi-délire, et 345 Ibid.: 263f. 346 Ibid.: 24. 347 Ibid.: 252ff. 348 Ibid.: 255ff. 349 Ibid.: 256. 350 Ibid.: 261f. 351 Ibid.: 257. 352 Ibid.: 256. 353 Ibid.: 193. 354 Ibid.: 264. <?page no="403"?> Queering La Princesse de (Clèves) 403 suractivité frénétique“ verbrachten Wochen - auf der Suche nach repos bzw. einer prekären „paix avec moi-même“ in eine andere Welt; „mon aller simple pour Varsovie“ in der Tasche, findet sich Daniel, „plus transgenre que jamais“, am Flughafen Roissy ein. 355 Was Lafayettes Heldin die ferne Pyrenäengegend, ist diesem Protagonisten Polen, zum Mythen- und Märchenland überhöhte alte Heimat der Mutter (der temporäre Rückzug in eine wie immer geartete „maison religieuse“ 356 stellt für diese Figur, deren Denken zwar wiederholt einer ‚magischen‘ Logik folgt, aber jeglichen religiösen Bezugs völlig entbehrt - Religion ist in dieser postmodernen Princesse weder Thema noch wie bei Lafayette unterschwellig präsent -, keine Option mehr dar). Aufbruch nach Utopia? Klassischer Prätext und post-identitäre Ethik Quant à l’action, qui va commencer, elle se passe en Pologne, c’est-à-dire Nulle Part. 357 „Le départ est propice à tous les rêves: séduction de l’aventure vécue sans calcul ni nostalgie, retour vers des origines culturelles oubliées, comme l’éprouve Elias Canetti à Marrakech, ou bien encore régression vers un état primitif à l’image du Marlow de Heart of Darkness de Joseph Conrad“: Mit diesen Reflexionen Jean-Marc Mouras 358 ist auch die Funktion Polens - innereuropäisches exotisches Andersbzw. im Wortsinn utopisches Nirgendwo 359 - in der phantasmatischen Geografie der Princesse de. treffend beschrieben. Schon lange bevor Daniel/ Marie- Line zu dieser hoch ambivalenten Initiationsreise - auch als Reise in den Wahnsinn 360 und/ oder den Tod lesbar - aufbricht, wird ein mythisches Polen der Vergangenheit, Schauplatz von Kindheit und Jugend der geliebten Adoptivmutter, immer wieder mit den Pariser Lebenswelten des Protagonisten kontrastiert - und durchgehend in einem spezifischen Textduktus evoziert: Im poetischen Präsens beschwört der Erzähler die Vision einer adoleszenten Nymphe am Ufer der fernen polnischen Biebrza, „princesse pensive“ eines exotischen „royaume“ zwischen frühlingshaftem „éden“ und sommerlichem „enfer impaludé“. 361 Vor seiner Abreise hat der Protagonist noch eine letzte selbstauferlegte Mission bzw. „formalité“ zu erfüllen; ist sein „projet d’attentats en série“ - unter anderem gegen jenes Ge- 355 Ibid. 356 Lafayette 2014c: 477f. 357 Jarry 1972: 401. 358 Moura 1998: 5. Aus psychoanalytischer Perspektive wurde Kurtz’ „régression primitive, à la fois atroce et fascinante“ in Heart of Darkness als „l’accomplissement du fantasme de possession du corps de la mère“ interpretiert (ibid.: 66); auch dieser Aspekt findet sich in La Princesse de. wieder. 359 Vgl. dazu auch die entsprechenden Interpretationen der Princesse Lafayettes, deren Protagonistin sich am Schluss des Romans in ein „utopian ‚elsewhere‘“ zurückzieht (DeJean 1992: 70); zur condition féminine im französischen 17. Jahrhundert zwischen „the ‚somewhere of patriarchy‘“ und „the ‚nowhere of utopia‘“ vgl. auch DeJean 1991: 9, unter Rekurs auf Gubar 1983: 140. 360 So die - durchaus plausible, aber nicht exklusive - Lesart des Kritikers der Neuen Zürcher Zeitung: „Zurück zu ihren mythisierten Ursprüngen im polnisch-weissrussischen Grenzsumpf, der Heimat ihrer vergötterten Adoptivmutter, bricht Marie-Line am Ende des Romans auf. Da ist schon längst nicht mehr klar, wo die Realität endet und die Scheinwelt beginnt, in die sich die Ich-Erzählerin anfangs unmerklich mehr und mehr zurückgezogen hat und aus der sie schliesslich nicht mehr herausfinden wird“ (Renöckl 2011). 361 Bayamack-Tam 2010a: 25. <?page no="404"?> 404 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam fängnis, Ausgangspunkt seiner absurden Romanze mit Armand - an der „mauvaise volonté“ bzw. der verzweifelten Narko-Resignation seiner Kompagnons gescheitert, so unternimmt er nun eine kleine Ersatz-Terror-Tournee durch den Flughafen: Mit geheimnisvoll zugeflüsterten Warnungen wird eine „petite famille infatuée de son importance“ nach der anderen um ihr bevorstehendes Urlaubs(un)glück gebracht. 362 Nach diesem symbolischen Akt der Sabotage - dessen Fortsetzung jenseits der Grenzen des Textes er bereits ankündigt („[…] il y aura d’autres voyages désespérés, d’autres aéroports où je sèmerai la panique, d’autres familles privées de vacances, d’autres avions cloués au sol tandis que le mien décollera. Il ne sera pas dit que la vie suit son cours tandis que je me détraque“) - macht der Protagonist, der seine eigene Familie wie den Glauben an eine eventuelle Erlösung verloren hat, sich zu seinem paradoxen „pèlerinage entrepris sans foi“ auf, „histoire de vérifier que les miracles n’ont plus lieu […] et que je ne me transforme ni en homme sûr de son fait, ni en femme incontestable“. 363 Dieser offene Schluss, mit dem Bayamack-Tam ein letztes Mal die Struktur der Princesse Lafayettes zu zitieren scheint, bleibt in all seiner Ambivalenz stehen. Zur Überquerung nicht nur einer Staats-, sondern auch einer diegetischen Realitätsgrenze schickt der Protagonist sich an; Daniel bricht nach ‚Polen‘ auf, imaginäres Refugium und Evasionsraum, aber vor allem auch in seine eigene Geschichte, „mon conte de fées personnel“. 364 Wie der klassische Prätext wird auch diese Princesse als Roman der „autoformation“ - oder auch finalen autodéformation - des Subjekts lesbar; 365 mit seiner polnischen Pilgerfahrt knüpft Daniel an bereits zuvor durch den Text ausgesponnene Phantasien des narrativen „autoengendrement“ 366 an. Schon zur Zeit seines sexuellen Frühlingserwachens richtet sich sein Begehren weniger auf die gegenwärtige Barbara als vielmehr - in paradoxer (A-)Temporalität - auf seine zukünftige Adoptivmutter in ihrer fernen Vergangenheit. 367 Diese Princesse de. aus dem Nirgendwo konstruiert sich selbst eine imaginäre Genealogie, einen neuen metaleptischen Ursprung als Figur in und aus einem „conte de fées polonais“: 368 „[…] car j’aime à croire que je descends directement des histoires que se racontait ma Barbara dans la vallée de la Biebzra [sic]; que je suis une pure émanation de ses rêveries enfantines […].“ 369 Dezenter Demiurg jener polnischen Märchenwelt, schwindelt der zu jener Zeit noch nicht geborene Daniel sich in die Vorgeschichte seiner Mutter; bevorzugt verweilt er in seiner Erzählung bei jenem Moment, in dem er selbst der schönen jungen Frau - bereits als „ma Barbara“ in Besitz genommen, zum passiven Medium seiner Auto-Genese reduziert (herablassend erklärt diese misogyne mtf sich zur „seule pensée métaphysique que ma mère ait jamais eue“) - in einem wollüstigen Schauder „d’allégresse biblique“ die eigene Geburt suggeriert: Barbara frémit […] et à ce stade du récit je frémis aussi, parce que j’ai fini par identifier là mon intervention, la forme perverse prise par mon désir d’être elle, commué en souffle pour souffler à ma mère l’idée d’être mère. Je ne naîtrai que quatorze ans plus tard mais je plane déjà dans la rumeur 362 Ibid.: 264f. 363 Ibid.: 267f. 364 Ibid.: 257. 365 Vgl. Coropceanu 2010. 366 Vgl. Nicolas 2013. 367 Vgl. Bayamack-Tam 2010a: 28f. 368 Ibid.: 239. 369 Ibid.: 22. <?page no="405"?> Queering La Princesse de (Clèves) 405 éclatante du marais, comme une inspiration saisie juste à temps par ma Barbara qui d’habitude laisse si peu de place aux inspirations sous son joli crâne fauve. 370 In einer ödipalen Möbiusschleife (re-)imaginiert sich der Adoptivsohn als Vater seiner selbst, Spiritus Rector seiner Mutter, ihrer neuen französischen Identität und Existenz: „Je suis l’idée consolante qui lui a permis de quitter la Pologne pour la France, devenue miraculeusement, sous le joli crâne obtus et si peu enclin à la métaphysique, le pays où naîtrait son fils […].“ 371 Mit einer Geste des Respekts, die ihrerseits den Schluss der Princesse de Clèves spiegelt, wird der Protagonist an diesem Punkt aus den diversen panoptischen Dispositiven seines bisherigen Lebens, aus dem Blick der Leserin und der Kontrolle der narrativen Instanz entlassen. Keine „exemples de vertu inimitables“ 372 wird dieses desillusionierte Kind einer längst entzauberten Welt stiften; und doch wird Daniel in Bayamack-Tams Interpretation sehr wohl zum „héros, au sens où il serait plus noble, plus courageux, que les autres“ und - auf den Spuren der Protagonistin Lafayettes, auch sie sanfte Rebellin, stille Heldin der Verweigerung 373 - nur auf den ersten Blick paradoxes Vorbild. Auch dieser „héros méconnu“ 374 - Charonne, der Erzfeindin seines Vorgängers aus Une fille du feu, in diesem Punkt eng verwandt - sprengt sämtliche etablierten sozio- und ethnokulturellen Kategorien; Repräsentant und schließlich bewusster Advokat all jener „qui n’ont ni pays, ni dignité, ni sexe identifiable“, 375 fordert er nicht nur jenen mütterlich-patriarchalischen „code noir“, 376 sondern ein ganzes System gesellschaftlicher Klassen- und Geschlechternormen heraus. Am Ende des Textes weder ‚Daniel‘ noch ‚Marie-Line‘, bricht dieses widerständige Ich allein in eine andere Welt auf, unter Verzicht auch auf die Chimäre seiner Passion, ihrerseits Produkt - und reproduktive Matrix - heteronormativer Gewalt. Entgegen den Zumutungen des Geliebten, der zumindest nachträglich wiederhergestellte Geschlechtskonformität verlangt, besteht der Erzähler - nicht nur in eigenem Namen - auf dem Recht, sich nicht zu entscheiden, in seinem persönlichen Postgender-„entre-deux“ zu verweilen: „[…] ni homme, ni femme, ni trans - trav à la rigueur et seulement si je veux.“ 377 „[…] j’ai du mal à me considérer comme quelque chose“: 378 An diesem Punkt wird das eingangs zitierte Bekenntnis der Autorin Bayamack-Tam zum potentiellen Programm einer post-identitären Ethik jenseits der Geschlechterdichotomie und sonstiger Identifikationszwänge, Antiheld Daniel - inkarnierte Verweigerung jeglicher eindeutigen Identität - zum durchaus würdigen Nachfahren der Lafayette’schen „figure queer“. 379 370 Ibid.: 29. 371 Ibid. 372 Lafayette 2014c: 478. 373 Vgl. dazu die Reflexionen Marie Darrieussecqs (2009b: VIf.). 374 Bayamack-Tam 2010b. „Par un sortilège qui n’appartient qu’à elle, la jeune romancière a su faire de ses personnages misérables et disgraciés de véritables héros“, bemerkt Villovitch (2003) schon zu Bayamack-Tams Roman Hymen. „Les vies désespérées sont aussi les plus dignes“, erklärt die Autorin selbst (zit. bei Liger 2013). 375 Bayamack-Tam 2010a: 249. 376 Ibid.: 24. 377 Ibid.: 230. 378 Lançon 1996. 379 Zoberman 2008: 32. Zugleich bewegt sich der Protagonist - in jener für Bayamack-Tams Werk so charakteristischen Verflechtung feiner inter- und intratextueller Fäden - auf den Spuren seines Namensvetters bzw. -vaters im Debütroman Rai-de-cœur; auch dieser, seiner Selbstdefinition nach „le chaînon <?page no="406"?> 406 Die fabelhafte Welt der Emmanuelle Bayamack-Tam *** Eine postmoderne Protagonistin, „pas si différente […] de la princesse de Clèves“, 380 setzt auch Amélie Nothomb in ihrem parodistischen Meta-Märchenroman Barbe Bleue (2012) in Szene; das zarte Gespenst der Mme de Clèves geistert zu diesem Zeitpunkt freilich schon seit zwei Jahrzehnten durch das Werk der erklärten Princesse-Liebhaberin Nothomb, deren - in einem ganz anderen Segment des literarischen Feldes angesiedelte und insofern im Vergleich bzw. Kontrast zur Version Emmanuelle Bayamack-Tams aufschlussreiche - Lafayette- Variationen im nächsten Kapitel betrachtet werden sollen. manquant entre l’homme et la femme“ (1996: 703), leidet zwar zunächst unter seiner Existenz in einem „stade intermédiaire entre l’homme, la femme, l’enfant, le singe“ (ibid.: 887ff.), bekennt sich aber doch bereits zu seiner „volonté de n’être rien: ni homme, ni femme, ni fantôme, ni fantasme“ (ibid.: 31f.). „[…] ce serait une erreur de croire que je suis telle que je suis: il n’y a rien de plus changeant que moimême“, konstatiert auch Alexandrine, in Ermangelung passenderer Etiketten als ‚autistisch‘ diagnostizierte extravagante Philosophin in Mon père m’a donné un mari (2013b: 644f., 841ff.), die nicht nur „les choses telles qu’elles sont“ anzuerkennen verweigert (ibid.), sondern auch die vermeintliche ‚Natürlichkeit‘ jeglicher Geschlechts-, sexueller und sonstiger Identität dekonstruiert. „Si je n’avais pas écouté autant de musique, je n’aurais jamais eu l’idée de me branler. Sans parler de celle de faire l’amour. Je ne sais même pas si j’aurais eu l’idée d’être une fille“, erklärt Rihanna-Fan Alexandrine (ibid.: 1629f.), während ihre Mutter über „la beauté de certains renoncements“ meditiert (ibid.: 1716). Über diese ironisch literarisch benannte Figur, passionierte Tänzerin „par imitation“ (ibid.: 926), wird ein weiteres Mal auch die poetologische Problematik der ‚Originalität‘ reflektiert („rien ne vient de moi“; ibid.: 931); auch dieser parallel zu Si tout n’a pas péri avec mon innocence publizierte Text spielt auf den Spuren der Princesse de. mit jenem Wunschphantasma einer „seconde naissance qui annule la première“ (ibid.: 1093f.) und klingt mit der hoch ambivalenten „disparition“ der Heldin - Tod, definitiver Selbstverlust oder Wiedergeburt? - aus (ibid.: 1777ff.). 380 Nothomb 2012: 111. <?page no="407"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“: Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb Il y a, notons-le, quelques similitudes entre Amélie Nothomb et Madame de Lafayette. 1 Le langage est pour moi le plus haut degré de réalité. 2 Wie ihre Kollegin Marie Darrieussecq hat sich auch Amélie Nothomb, „fervente admiratrice de la Princesse“, 3 in der eingangs skizzierten Polit-Debatte zu Wort gemeldet. In ihren Statements zum Thema wird La Princesse de Clèves („un livre qui n’avait jamais disparu de la culture française mais qui existe plus que jamais“ 4 ) unter Rekurs auf recht konventionelle Topoi gewürdigt („chef-d’œuvre littéraire“, „beauté littéraire absolue“ 5 etc.). Offenkundig um Komplizenschaft mit ihrem Auditorium bemüht, positioniert sich die belgische Romancière bei Gelegenheit auch als Expertin in Fragen populärkultureller Imagologie; aus kultureller (Halb-)Außenperspektive bekräftigt sie die stereotypisierte Assoziation zwischen der Princesse und einer ‚französischen Identität‘ („Parce que c’est vrai que la France reste le pays de La Princesse de Clèves“), spielt aber auch anderweitig mit tendenziell schmeichelhaften Auto-/ Hetero-Imagines: „De quoi est-il question dans La Princesse de Clèves? D’une entreprise de séduction, ce qui, je vous le confirme, est une chose totalement française - et d’une entreprise de séduction qui ne marche pas, puisque jusqu’au bout, la femme se refuse. Ça, je ne sais pas si ça se produit très souvent en France; mais, enfin, on ne peut pas l’exclure complètement.“ 6 Von größerem Interesse ist der privilegierte Status des Lafayette-Intertextes im Œuvre wie im paratextuellen Diskurs der überaus produktiven, ihrer ironischen Selbstdiagnose zufolge grafomanen „serial romancière“ 7 - dies bereits lange vor der ‚Affäre‘ Sarkozy. Von Nothombs Romanerstling Hygiène de l’assassin (1992) bis zu ihren jüngsten Werken, sämtlich eng verstrickt „avec de grands classiques de la littérature“, 8 ist La Princesse de Clèves präsent, oft in poetologischen Schlüsselpassagen. Eine Analyse der kreativen Lafayette-Rezeption Amélie Nothombs erscheint auch insofern erhellend, als die Autorin - Meisterin der künstlerischen Selbstinszenierung, sich zur ‚Mythomanie‘ bekennende Ko-Managerin der „légende Nothomb“ 9 - eine spezifische Position im literarischen Feld bzw. in der französischen Verlagslandschaft besetzt: 10 Nothomb bewegt 1 Larané 2008. 2 Nothomb 2010: 1366. 3 „La princesse de Clèves vue par…“, art. cit. 4 Nothomb/ V 2012. 5 Nothomb/ V 2010. 6 Nothomb/ V 2012. 7 Duplat 2012. Das Etikett der ‚graphomane‘ wurde auch in der Sekundärliteratur bereitwillig aufgegriffen: vgl. etwa David 2006; Rossbach 2009. 8 Liger 2012. 9 Ibid. „Ce que vous appelez mon personnage m’a créée. Avant lui, je n’existais pas. Il s’est créé tout seul et je ne me sens jamais sa prisonnière“, erklärt Nothomb im selben Interview; „[…] pourvu qu’elle ne lèse personne, la mythomanie ne me dérange absolument pas“, deklariert ihr fiktionalisiertes Alter Ego im Roman Une forme de vie (2010: 1201f.). 10 Vgl. Liger 2012. <?page no="408"?> 408 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb sich unbekümmert nicht nur zwischen der franko-französischen und der belgischen frankophonen Literatur (deren jeweilige kritische Repräsentanten sich dieses „‚enfant terrible‘ des lettres belges de langue française“ 11 mutuell streitig machen 12 ), sondern auch auf unterschiedlichen Ebenen des kulturellen Marktes. Der Höhenkammliteratur gehört ihr Werk mit seiner eher heterogenen Qualität definitiv nicht an; andererseits wird Pierre Jourde Nothomb nicht restlos gerecht, wenn er sie - nicht ohne den maliziösen Zusatz: „quand elle est en forme“ - der „bonne littérature populaire“ zuordnet. 13 „Amélie Nothomb n’a pas toujours bonne presse“, konstatiert Élise Hugueny-Léger 14 bezüglich dieser „non-conformiste aimée du public“, 15 als Autorin „à succès“ von einer intellektuellen französischen Kritik mit einigem Misstrauen betrachtet; 16 nach mehr als zwei Jahrzehnten literarischer Präsenz sind die Rollen zwischen Nothomb-‚Fans‘ (ein Phänomen, dem gegenüber die Romancière selbst eine gewisse Ratlosigkeit eingesteht 17 ) und Nothomb-Verächtern klar verteilt. 18 Kurz: „On est partagé sur ce livre-là à se manger, les uns en condamnent ce que les autres en admirent […]“ 19 - dieser Satz, mit dem die anonyme Verfasserin der Princesse de Clèves deren Rezeptionsschicksal bei ihren Zeitgenossen kommentiert, beschreibt treffend auch den kontroversen Status Amélie Nothombs (angesichts eines Œuvres, in dem sich ein extravagantes Imaginarium der Nahrung, zwischen Adipositas und Anorexie oszillierender Körperlichkeit entfaltet, besitzt die Metapher ihren speziellen Reiz), wobei sich der Anti- Nothombismus seinerseits als literarisch fruchtbar erweist. 20 11 Vgl. Helm 1996. 12 Nothomb, „la Belge à succès“ (Frédéric Beigbeder in Beigbeder/ Liger 2005), wird gelegentlich in die französische Literatur inkorporiert (vgl. etwa Clemmen 2007) - und von Seiten der belgischen Kritik für die eigenen ‚nationalen‘ lettres reklamiert: Nothomb sei, insistiert etwa Cauwe (2012), „Belge tout court malgré ce qu’avancent nos confrères français, allant de l’habituel ‚la Franco-Belge‘ au tout nouveau ‚notre Amélie Nothomb nationale‘! “. 13 Jourde 2011a: 202. 14 Hugueny-Léger 2015. 15 Le Monde, zit. bei Oberhuber 2004: 115. 16 Hugueny-Léger 2015. 17 „Ce terme me semble péjoratif […]. Mais j’ai constaté que des gens se qualifiaient ainsi, vis-à-vis de moi, vers 1996. J’en ai conçu de la perplexité“ (Liger 2012). 18 „Faut-il encore parler du roman annuel d’Amélie Nothomb? “, fragt in diesem Sinne ironisch Duplat (2012) anlässlich der Publikation von Barbe Bleue: „Après vingt ans de succès, les jeux sont faits. L’écrivaine au curieux chapeau a son armée de lecteurs fidèles qui l’achèteront, quoi qu’il arrive. Et les autres ne changeront pas leur avis négatif […]. La critique n’y changera rien.“ 19 Lafayette in einem Brief an Lescheraine vom 13. April 1678 (Lafayette 2014: 988-989, hier 989). 20 Alain Dantinne publiziert unter dem Titel Hygiène de l’intestin (2004) einen Nothomb-Pastiche, paradoxe Anti-Hommage an eine aus seiner Sicht paradigmatische Repräsentantin der „littérature industrielle“. Getreu nach dem Modell der ‚typisch‘ Nothomb’schen Figuren-Dichotomie samt unausgesetztem Dialogfeuer schreitet Erzählerin ‚Fabienne‘ (der biografische Seitenhieb ist transparent) zur Abrechnung mit der Bestseller-Autorin ‚Mély‘, die auch Nothombs Vorliebe für extravagante Hüte teilt; dies in drastisch pejorativen, bei Gelegenheit auch skatologischen Begriffen: Die Rede ist etwa von diesem oder jenem „livre pipi-caca“, von einer literarischen „chorégraphie sans musique“, einer „batterie de citations d’écrivains cathos“, „le tout assaisonné de lieux communs pris dans l’ABC du bac de philosophie“. Kurz: „La littérature, c’est tout autre chose“, wie Fabienne ihrer „amie-ennemie“ Mély an den Kopf wirft (vgl. Demoulin o. D.). Zweifellos stellt Hygiène de l’intestin - im editorialen Paratext recht harmlos als „un divertissement parodiant, dans la lignée des Queneau ou Perec, l’œuvre d’Amélie Nothomb“ präsentiert (zit. ibid.) - einen stark personalisierten literarischen An- und teilweise Untergriff dar, über dessen ‚guten Geschmack‘ sich streiten lässt. Zugleich illustriert dieser Text aber auch die profunde <?page no="409"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 409 Die Literaturwissenschaft setzt sich mit Nothomb erst in den letzten Jahren ernsthafter auseinander (wie im Fall anderer umstrittener Autoren der zeitgenössischen französischen Literatur ging dieser Annäherungsprozess zunächst vom anglo-amerikanischen Sprachraum aus 21 ); über das populäre Phänomen Nothomb hinaus wird in neueren Analysen auch die metaliterarische Dimension ihres Werkes in den Blick genommen. Hält Shirley Jordan 2003 noch fest, Nothombs Texte böten „peu de substance au-delà de leur capacité à refléter une époque ‚post-littéraire‘“, 22 so wendet Hugueny dagegen ein, dass sich in dieser „posture post-littéraire“ doch auch „un retour aux principes fondamentaux de la littérature“ abzeichne, und weist auf die Widersprüchlichkeit der Anti-Nothomb-Kritik hin: „Paradoxalement, une partie de la critique et du lectorat reprochent aux livres de Nothomb des aspects que certains qualifieraient de qualités: non seulement la capacité à produire des livres divertissants et faciles à lire, mais aussi son excès d’érudition, ses réflexions sur l’acte créateur, et la brillance des échanges entre les personnages.“ 23 Nicht zu unterschätzen ist die literarhistorische und -theoretische Komplexität von Amélie Nothombs poetologischem Diskurs, der sich auf mehreren Ebenen - in Paratexten, aber auch im fiktionalen Werk selbst - entfaltet. Nothombs Œuvre ist reich an meta-auktorialen Spielereien, von der Geburt der Autorin (in Szene gesetzt etwa in Stupeur et tremblements) bis zu ihrem Tod bzw. ihrer metaleptischen mise à mort durch eine ihrer überdrüssig gewordene Romanfigur (so in Robert des noms propres 24 ). Nach erfolgreicher Wiederauferstehung jongliert Nothomb mit dem ‚Bild des Autors‘ (das, wie Erzählerin ‚Amélie Nothomb‘ in Une forme de vie konstatiert, fatale Auswirkungen auf die Rezeption des jeweiligen Werkes haben kann 25 ), aber auch mit dem ‚Bild des Auditoriums‘ 26 - innerhalb und außerhalb des Textes. Ambivalenz des auf „une curieuse alchimie faite de dérision, d’admiration et d’intimité“ beruhenden Genres Pastiche, das bei aller Aversion doch auch „un accueil de l’écriture de l’autre“ impliziert (Fraisse/ Mouralis 2001: 255f.). Eben die ‚Affäre‘ rund um Dantinnes Anti-Hygiène zeigt freilich auch die Aggressivität, mit der die überaus einträgliche literarische Marke Nothomb von auktorialer wie editorialer Seite bei Bedarf verteidigt wird; vgl. dazu Van Hees 2008. Dantinne attackiert Nothomb, ihre ‚Lobby‘ und die gesamte ‚Literaturindustrie‘ erneut in Petite prose et grand chapeau. Essai sur la littérature industrielle (2005). 21 Vgl. den aus dem ersten internationalen Kolloquium zu Nothombs Werk in Edinburgh 2001 hervorgegangenen Sammelband: Bainbrigge/ Toonder 2003. Im Mai 2014 fand an der University of Kent in Paris eine Tagung zum Thema Identity, Memory, Place. Amélie Nothomb. Past, Present and Future statt. 22 Vgl. Hugueny-Léger 2015, unter Verweis auf Jordan 2003. 23 Hugueny-Léger 2015. Vgl. zur Spezifik der Nothomb-Rezeption auch Lee 2010a und 2010b. 24 Wohin mit der Leiche des toten Autors? Entsetzt hört ‚Amélie Nothomb‘, „une plaie de Belgique“, die Geschichte dieses „destin d’Atride“ an - und besteht auf der fatalen Dynamik einer Biografie, die in eine Katastrophe münden muss: „Comment pourriez-vous ne pas devenir meurtrière? “ (Nothomb 2002b: 168f.). In einer paradoxen Geste metaleptischer Notwehr ermordet Plectrude die Erzählerin („C’est tout ce que j’ai trouvé pour l’empêcher d’élucubrer“). Am Ende des Romans ist die heikle, dem Mord wie dem Sexualakt gemeinsame Frage „que faire du corps? “ immer noch nicht gelöst; der „cadavre bien encombrant“ der Autorin begleitet die Heldin weiter durchs Leben, fortan Ionesco- Variation unter dem Motto „Amélie ou comment s’en débarrasser“ (ibid.: 170). 25 „Il est incontestable que quelques auteurs nuisent gravement à leur œuvre. J’ai discuté avec des gens qui avaient rencontré Montherlant et le regrettaient: un homme m’a dit que suite à une brève conversation avec cet écrivain, il n’avait plus jamais été capable de lire cette œuvre qu’il admirait, tant l’individu l’avait dégoûté“ (Nothomb 2010: 888ff.). Ausgerechnet Montherlants Les Jeunes Filles (1936-1939) zitiert Nothomb selbst einige Jahre zuvor - neben Emily Brontës Wuthering Heights, die auch ihre ältere Landsfrau Jacqueline Harpman empfiehlt - unter ihren zwei privilegierten „œuvres à connaître“ <?page no="410"?> 410 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb Die Genese der Romancière aus der Briefschreiberin: „J’ai follement besoin de l’autre. […] J’aime que l’autre se manifeste sous forme de lettres, parce que c’est une belle façon d’exister“, erklärt Nothomb, die bekanntlich - längst Element ihrer schriftstellerischen ‚Legende‘ - eine intensive Korrespondenz mit ihrer Leserschaft unterhält, diese ihre epistoläre Schreibpraxis, wenn es sich auch um „deux activités très différentes“ handle, durchaus als Teil, ja sogar eigentlichen Ursprung ihrer literarischen Tätigkeit betrachtet. 27 Prinzipiell desinteressiert an jeglicher Transgression der magischen „frontière de papier“, die sie von ihrer brieffreundschaftlichen Community trennt (und zugleich mit dieser verbindet), gibt Amélie Nothomb, „lectrice de [son] lectorat“, 28 wie Raymond Radiguets moderne Princesse dem „commerce épistolaire“ gegenüber der konkreten „présence“ den Vorzug, 29 sei doch „un ami d’encre et de papier“ keinesfalls geringer zu werten als „un ami de chair“: 30 „Je me force à rester du côté de l’écriture. Les problèmes surgissent précisément lorsque les gens veulent passer de l’autre côté du papier.“ Diese philosophisch grundierte Lesehaltung empfiehlt Nothomb auch gegenüber den Autoren fiktionaler Literatur: „[…] ma tendance naturelle me pousserait à ne pas les rencontrer, moins par prudence que pour ce motif sublimement exprimé dans une préface proustienne: la lecture permet de découvrir l’autre en conservant cette profondeur que l’on a uniquement quand on est seul.“ 31 In dem für Nothomb charakteristischen chassé-croisé von fiktionalem und paratextuellem Diskurs teilt die Autorin ihre Liebe zur Epistolografie, „genre généreux“, 32 auch mit ihren literarischen Alter Egos: Als derartige épistolière zweiten Grades inszeniert wird etwa besagte ‚Amélie Nothomb‘ im Roman Une forme de vie, der - Fragment der werkübergreifenden Nothomb’schen „hyper-autobiographie“ 33 - die Anfänge ihres literarischen Schreibens schildert. Hier entfaltet sich der ‚Entwicklungsroman‘ der zukünftigen Schriftstellerin, die noch in der kindlichen Pflichtkorrespondenz mit dem Großvater - frühes Exerzitium in der Kunst der Kommentars und der réécriture - „l’angoisse de la page blanche“ 34 ein für alle Mal überwindet: À la réflexion, c’était ce que le grand-père faisait: ses lettres commentaient les miennes. Pas bête. Je l’imitai. Mes missives commentèrent son commentaire. Et ainsi de suite. C’était un dialogue bizarre et vertigineux, mais qui ne manquait pas d’intérêt. La nature du genre épistolaire m’apparut: c’était un écrit voué à l’autre. Les romans, les poèmes, etc. étaient des écrits dans lesquels l’autre pouvait entrer. La lettre, elle, n’existait pas sans l’autre et avait pour sens et pour mission l’épiphanie du destinataire. 35 (Coudray 2004b); keinen Roman habe sie seit ihrer Adoleszenz öfter gelesen („plus de cent fois“, wie Nothomb präzisiert), und zwar als „le manuel de ce qu’il ne fallait pas devenir“ (De Decker 2014b). 26 Vgl. Lotman 2002. 27 Busnel 2010. 28 De Decker 2004b. 29 Vgl. Radiguet 1986: 156. 30 Nothomb 2010: 1032. 31 Ibid.: 893ff. 32 Busnel 2010. 33 Jaccomard 2005. 34 Nothomb 2010: 751f. 35 Ibid.: 753ff. <?page no="411"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 411 Zwischen „lecture carnassière“ und „influence mosaïque“: Amélie Nothombs Poetik der réécriture Wie bei Marie Darrieussecq spielt die intertextuelle Inspiration des Schreibens auch in der Poetik Amélie Nothombs, ihrer Selbstcharakteristik nach leidenschaftliche, geradezu obsessive Wieder-Leserin, eine zentrale Rolle. Ihrer „graphomanie“ sei, wie die Autorin unter scherzhafter Auto-Pathologisierung bemerkt, eine regelrechte lektorale „boulimie“ vorausgegangen. Auf die rituelle Frage „Comment êtes-vous devenue écrivain? “ antwortet Nothomb in diesem Sinne lapidar: „En lisant.“ 36 Die intensive Produktion der selbstdiagnostizierten ‚Grafomanin‘, die sich seit mittlerweile zweieinhalb Jahrzehnten „aussi ponctuelle qu’un coucou suisse“ zur rentrée mit ihrem neuen Roman einstellt 37 - und nach eigener Aussage noch sehr viel mehr schreibt als publiziert („[…] je publie à peine le quart de ce que j’écris“ 38 ) -, nährt sich wesentlich aus klassischen Intertexten. In Abwandlung des biblischen Topos der Bibliophagie definiert auch Nothomb den Akt der Lektüre als „une forme suprême de consommation, au sens biblique du terme“, als „un acte d’appropriation extrêmement fort“, dessen fundamentale Ambiguität sie aus der doppelten Perspektive der lesenden Schriftstellerin und der schreibenden Leserin kommentiert: „Il y a, dans le fait d’être lu, quelque chose d’effrayant: j’adore être lue, mais, en même temps, je me demande comment je fais car je me laisse approprier par un grand nombre de gens. Cela dit, c’est moi qui ai commencé: je me suis approprié un très grand nombre de textes avant de donner les miens.“ 39 Dieses ambivalente Ideal einer „lecture carnassière“ 40 wird im Romanwerk Nothombs - in dem regelmäßig auch und gerade betont antipathisch konstruierte Figuren als poetologische Sprachrohre fungieren - auf diegetischer Ebene reflektiert; so bereits vom mörderischen und grotesk adipösen Literaturnobelpreisträger in Hygiène de l’assassin, der die exponierte Lektüre „sans adverbe“ seines Œuvres zugleich fürchtet und erhofft: „[…] si d’autres que vous m’avaient lu - je dis bien lire, au sens carnassier du terme -, je serais en prison depuis longtemps.“ 41 Nothomb skizziert eine intertextualitäts-basierte Poetik der disponibilité („J’ai compris comment l’inspiration fonctionnait: il faut se mettre à sa disposition“); auf die Frage nach ihren wichtigsten literarischen Einflüssen erklärt sie, weit von der Verteidigung eines naiven Konzepts literarischer ‚Originalität‘ entfernt: „En vérité, tous les écrivains que j’ai lus persistent à avoir une influence sur moi.“ Auch hier also weniger Einflussangst denn Einflusslust; der eigene Text formiert sich - wie Nothomb quasi wörtlich auf den Spuren Julia Kristevas argumentiert - immer schon als intertextuelles ‚Mosaik‘: „J’ai l’impression que 36 Busnel 2010. 37 Brigaudeau 2012a. 38 Busnel 2010. 39 Ibid. 40 Nothomb 2003a: 157. 41 Ibid.: 125ff. Es ist hier nicht der Ort, ausführlicher auf die spezifisch Nothomb’sche Ästhetik grotesker Korporalität, das idiosynkratische Imaginarium der Nahrung und des Hungers - aufs Engste mit dem poetologischen Diskurs verstrickt - einzugehen; vgl. zu dieser Thematik etwa Amanieux 2005a. Im Interview reflektiert Nothomb die Rolle massiver Körperlichkeit in ihrem Werk in ihrer ‚ödipalen‘ wie in ihrer (inter-)kulturellen und gesellschaftlichen Dimension, Fettleibigkeit als „maladie“, aber auch als Form biopolitischer „transgression“, „très admirable à une époque où nous sommes tous tenus d’être transparents. Je vois les obèses comme des résistants“ (Busnel 2010). <?page no="412"?> 412 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb chacun de mes livres se place sous le patronage principal d’un écrivain, ce qui n’exclut pas du tout l’influence mosaïque de tous les autres.“ 42 Von Seite zu Seite entfaltet sich Amélie Nothombs Werk - mit seinen omnipräsenten „stratagèmes du palimpseste“ 43 stets mindestens „à double fond“ 44 - derart im Spiel mit der großen klassischen Tradition, einer Vielzahl literarischer Referenzen und damit auch „les connaissances préétablies des lecteurs“. 45 Nicht umsonst wählt Andrea Oberhuber eben das Schaffen Nothombs als Ausgangspunkt für ihre „défense et illustration du phénomène de la réécriture au féminin“, steht dieses doch paradigmatisch für eine „réécriture au féminin érigée, en quelque sorte, en programme romanesque“: Se met alors en œuvre la fil(l)iation à travers l’acte de réécrire. La réécriture telle qu’observée chez Amélie Nothomb […] incite à la méta-lecture. Lectrice avertie elle-même, cette écrivaine insère le plus souvent ses réminiscences à d’autres textes sur le mode ironique et auto-parodique. Ses romans témoignent, somme toute, d’un travail de réappropriation de son passé culturel et des textes modèles au profit des œuvres elles-mêmes. 46 „J’adore votre façon de raconter de jolies histoires pour ensuite en poignarder la poésie“, 47 bemerkt Pflegerin und literarische Nanny Françoise in Mercure zu ihrem Schützling Hazel; als Spezialisten der anti-poetischen Demontage betätigen sich freilich auch andere Nothomb- Figuren und die Autorin selbst, die gegenüber ihren Prä- und Präferenztexten ebenfalls eine fröhliche Respektlosigkeit - adäquateste Form vielleicht der Hommage - an den Tag legt. Nothombs extravagante Romanwelt ist besonders reich an klassischen Referenzen: von Racine (so verwandelt sich in Stupeur et tremblements eine Damentoilette - professionelles Exil ‚Amélies‘, Ort ihrer Demütigung durch die schöne und grausame Fubuki - in einen „lieu clos, racinien, où deux tragédiennes se retrouvaient plusieurs fois par jour pour écrire le nouvel épisode d’une rixe enragée de passion“ 48 ) bis La Rochefoucauld, von der „carte du Tendre“ 49 bis zu Lafayette; einem sanften Schutzgespenst gleich geistert deren berühmteste Princesse durch Romanwerk wie paratextuellen Diskurs einer Schriftstellerin, die, selbst aus belgischer Adelsfamilie stammend, dem Diplomatenberuf ihres Vaters eine kosmopolitische, literarisch mehrfach recycelte Kindheit verdankt und in ihren Texten ein ironisches Spiel auch mit der ‚noblesse‘ in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen treibt. Im „interview blender“ mit der Revue Grazia nennt Nothomb - nach einem indirekten Kommentar zum ‚demiurgischen‘ Metier der Romancière („Le métier dont vous rêviez enfant: Dieu“) - auf die Frage nach ihrer persönlichen literarischen Heldin („Un héros littéraire 42 Ibid. 43 Oberhuber 2004: 114. 44 Vgl. Amanieux 2001. 45 Hugueny-Léger 2015. 46 Konkret analysiert Oberhuber vor allem Mercure - réécriture gleich dreier untereinander kombinierter und kontaminierter Märchen (La Belle et la Bête, Cendrillon und La Belle au bois dormant) - sowie den Roman Métaphysique des tubes, der mit seiner „métaphysique hétérodoxe“ die Genesis selbst einer noch komplexeren réécriture unterzieht (2004: hier zit. 117, 125). 47 Nothomb 2003b: 98. 48 Nothomb 2001b: 144. 49 Vgl. etwa Nothomb 2002a: 90. Zur Carte de Tendre, die „also acts to lay claim definitively for women writers to the new literary territory in which its tender geography would play a central role“, vgl. De- Jean 1991: hier zit. 57, siehe auch 87ff. <?page no="413"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 413 féminin“) ohne zu zögern die Princesse de Clèves; dieser zur Seite gesellt sie als männlichen Favoriten mit Raymond Radiguets Comte d’Orgel den Protagonisten eines deklarierten Princesse de Clèves-Hypertextes. Als privilegierten „moment de détente“ empfiehlt sie jene „lettre d’amour“, die bei Lafayette eine Schlüsselrolle spielt; auch mit ihrer Wahl einer Lieblingsszene zum Thema „Sexe“ kommt sie auf „la princesse de Clèves nouant des rubans en pensant à Nemours“ zurück. Als potentiellen „personnage d’une série“ bzw. clowneske Ergänzung fügt Nothomb dieser illustren literarischen Gesellschaft „Nicolas Sarkozy“ hinzu. 50 Auch an anderer Stelle zitiert Nothomb mit auffallender Konsequenz immer wieder Lafayette unter ihren „écrivains de toujours“ (neben „Nietzsche, qui m’a sauvé la vie; Diderot, qui est le Saint Patron de tous les philologues; la Bible, qui revient sans cesse; Le portrait de Dorian Gray d’Oscar Wilde […]“ 51 ), La Princesse de Clèves unter den „très régulièrement“ wiedergelesenen Schlüsselwerken, die sie als Leserin wie als Autorin besonders geprägt hätten; im Rahmen der Strasbourger Bibliothèques idéales legt Nothomb ein weiteres Mal ein Liebesbekenntnis für die Princesse ab, „un livre terriblement important pour moi […] un livre indispensable“, in ihren Augen auch - wie sie auf den Spuren Michel Butors erklärt - „le livre le plus érotique qui ait jamais existé“. 52 Unübersehbar nimmt die Princesse im literarischen Universum Amélie Nothombs einen Ehrenplatz ein; ebenso in einem von der „Association de lecteurs“ Les Filles du loir realisierten „Abécédaire“, 53 auf einer Zitat-Montage basierendes Panorama der Intertext-Landschaften Nothombs: Auf B wie Bible, Baudelaire, aber auch Paul Bowles, C wie Colette, Céline und Cendrars, D wie Duras, G wie Goethe, H wie Victor Hugo und Patricia Highsmith folgt verlässlich „L comme Madame de La Fayette“ mit einer bunten Suite von Yukio Mishima bis Zola, auf dem alphabetischen Weg u. a. über R wie Radiohead, Arthur Rimbaud und Jean-Jacques Rousseau (auch hier findet sich jener für Nothomb typische Mix von kanonischer Hoch- und Populärkultur wieder). Ein gewisses metaleptisches Potential entfaltet Nothombs Lafayette-Diskurs dort, wo die reale Schriftstellerin, deren - oft transparent genug - fiktionalisierte Alter Egos und andere fiktive Figuren in einem literaturtheoretischen Polylog durcheinandersprechen: Die bereits zitierte Formel von Frankreich als „le pays de La Princesse de Clèves“, die Nothomb in einem Interview gebraucht, legt sie auch - in elaborierterer Version - ihrer romanesken Doppelgängerin und Namensschwester in Une forme de vie in den Mund: C’est sous le règne de Louis XIV que parut La Princesse de Clèves: l’absolu du raffinement malgré le pouvoir absolu. Ce livre raconte une histoire qui aurait eu lieu cent vingt ans plus tôt. Plus personne ne remarque ce gigantesque écart d’époque. Ce vertige si peu perceptible signale le chef-d’œuvre. Les Chinois qui habitent la France n’y sont pas plus étrangers que moi. Je n’ai pas fini de m’extasier de ce pays, qui plus que jamais est celui de La Princesse de Clèves. 54 Vor diesem Hintergrund mag es kaum verwundern, dass die Lafayette-Referenz auch im literaturkritischen Diskurs zu Nothomb einigermaßen konstant präsent ist; die autobiografisch inspirierte Heldin des Romans Stupeur et tremblements etwa wird in einer Rezension - 50 Souliac 2009. 51 Busnel 2010. 52 Nothomb/ V 2010. 53 „Amélie Nothomb. L’abécédaire littéraire“ (Les Filles du loir, 2010). 54 Nothomb 2010: 736ff. Die Frage ist an dieser Stelle müßig, wenngleich literaturtheoretisch nicht uninteressant, wer hier wen zitiert: Amélie Nothomb ‚Amélie Nothomb‘ - oder umgekehrt? <?page no="414"?> 414 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb wenngleich sich in diesem Fall die Assoziation nicht zwingend aufdrängt - als „sorte de petite princesse de Clèves amoureuse de la solitude“ charakterisiert. 55 Einige dieser Spuren, die die Auseinandersetzung mit Lafayette und speziell der Princesse de Clèves in Nothombs Werk hinterlassen hat, sollen im Folgenden nachgezeichnet werden - vom Erstling Hygiène de l’assassin (1992) über Mercure (1998) bis hin zum Roman Barbe Bleue (2012), 56 der neben dem Blaubart-Märchen auch Lafayettes Text fortschreibt und damit ein weiteres Mal dessen intertextuelle Anschlussfähigkeit illustriert. Prinzessinnen, Prinzessinnen oder Grand Siècle und 1001 Nacht: Passion und Parodie Von konkreten und metaphorischen Prinzessinnen (de Clèves und sonstigen) ist Amélie Nothombs Œuvre überreich bevölkert: Auf den Metaroman Mercure wäre hier etwa zu verweisen, dessen jugendliche Heldin, in ein interkulturelles Netzwerk aus Prinzessinnen-Referenzen verstrickt, 57 auch selbst als (Geschichten-)Erzählerin, Wieder-Leserin und Text-Exegetin in Szene gesetzt wird, aber vor allem auch auf Robert des noms propres (2002). 58 Verortet Jean- 55 Amette 1999. 56 Die spezielle intratextuelle Verbindung zwischen Hygiène de l’assassin und Barbe Bleue, als 21. Roman der Autorin zum Jubiläum ihrer „vingt ans d’édition (et au passage ses 25 millions de livres vendus en France)“ veröffentlicht (Payot 2012), wurde auch in der Kritik wiederholt konstatiert; so im negativen Sinne bei Duplat (2012): Nothomb recycle in diesem „conte loufoque et abracadabrant“ im Wesentlichen die Konstellation ihres Erstlingsromans, „le face-à-face de l’ingénue et de l’assassin“. 57 Ehemalige „petite princesse de New York“ (Nothomb 2003b: 26), identifiziert Hazel sich auch als junge Erwachsene nur allzu gern mit diversen durch die Weltgeschichte und den internationalen Märchenkanon geisternden „princesses“ (ibid.: 82f.). „Il ne me déplairait pas d’être une princesse nippone: vous seriez ma demoiselle de compagnie […]“, erklärt sie der als Pflegerin engagierten, bald zur Freundin und im Rahmen der gemeinsamen literarischen Dispute zur Ko-précieuse mutierenden Françoise (ibid.: 98). 58 Viel wäre zu sagen über die Namensspiele im Werk Nothombs, die sich von Roman zu Roman mit immer neuen extravaganten, fiktiven Status wie intertextuelle Verstrickung ihrer Figuren mit ironischer Transparenz illustrierenden Namen überbietet, vom bedeutungsschweren ‚Prétextat Tach‘ in Hygiène de l’assassin (2003a: 7 et passim) bis zu ‚Jérôme Angust‘ und seinem feindlichen Alter Ego ‚Textor Texel‘, „a name doubly symbolic of the writing process - as if the character were himself a human palimpsest of his own text“ (Chevillot 2011: 215), in Cosmétique de l’ennemi (2003d: 7ff., 10 et passim). Zu ‚Plectrude‘ in Robert des noms propres - „testament“ einer suizidalen jungen Frau, die ihrer neugeborenen Tochter diesen Namen als „talisman“ und „bouclier“ hinterlässt (2002b: 20f.) - gesellen sich etwa ‚Pannonique‘ aus Acide sulfurique (2007: 9 et passim) und ‚Saturnine‘, die uns als widerspenstige intertextuelle Wiedergängerin der Princesse de Clèves im Roman Barbe Bleue (2012: 7 et passim) noch ausführlicher beschäftigen wird, aber auch ‚Passerose‘, ‚Rose‘ und ‚Trémière‘, florales Generationentrio in Riquet à la houppe (2016). Immer wieder sind es die Figuren selbst, die - untereinander oder auch im Streitgespräch mit ‚Amélie Nothomb‘ und anderen fiktionalisierten Avataren der Autorin - Geschichte, Bedeutung, performative Macht ihrer Namen diskutieren. „Je ne sais pas s’il faut s’attacher à la signification des noms. Ils nous ont été donnés à la légère“, bemerkt leichtsinnig Françoise in Mercure (2003b: 61) - und wird von ihrem literatur-affinen Schützling Hazel, Objekt einer ebenso fatalen wie zitationellen Passion von Seiten des Capitaine „Omer Loncours“ („avouez que ça prédispose à devenir marin“; ibid.: 57), eines Besseren belehrt: „Moi, je crois qu’ils sont l’expression du destin. Dans Shakespeare, Juliette dit que son Roméo serait aussi merveilleux avec un autre nom. Elle est pourtant la preuve du contraire, elle dont le prénom exquis est devenu un mythe“ (ibid.: 61). „Nommer les choses, c’est leur enlever leur danger“, erklärt die Heldin, rebellische Zeitreisende wider Willen, in Péplum (2002a: 109); es sind die Namen, die Dinge und Menschen erst wahrhaft ins Leben rufen. Die <?page no="415"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 415 Michel Delacomptée die eigentliche, die tiefste passion in Lafayettes Princesse zwischen Mlle de Chartres und ihrer Mutter, 59 so entfaltet sich auch in Nothombs Robert-Roman ein gleich mehrfaches Passionsdrama und insbesondere eine fatale Liebesgeschichte zwischen (Adoptiv-) Mutter (de facto Tante) und Tochter, geschildert in einer sehr starken - und stark klassisch konnotierten - Lexik der „passion“, des „amour sacré“: „Entre la sœur et la fille de Lucette, ce fut un ravage.“ 60 „Le conte de fées avait commencé comme un rêve […]“: 61 Am Anfang steht ein Märchen mit tragischem Ausgang. In dem Maße, in dem „les choses […] moins féeriques“ werden, der eben noch so verführerische „prince charmant“ sich im Ehealltag als trivialer „garçon normal“ entpuppt und, seinerseits „pas à la hauteur“, auch sie selbst und ihr ungeborenes Kind zur allgemeinmenschlichen Banalität zu degradieren droht 62 (der Exzeptionalitätsanspruch der Mme de Clèves, im Namen ihrer Differenz gegenüber „les autres femmes“ 63 auch ihre Liebe und womöglich ihr Leben zu opfern bereit, ist hier nicht fern), verliert die schöne junge Lucette den Verstand, erschießt ihren Mann 64 und begeht im Gefängnis nach der Geburt ihrer Tochter Selbstmord. Die kleine Plectrude macht ihrem einer „princesse gothique“ 65 würdigen Namen Ehre; unter der Ägide ihrer Tante/ Ersatzmutter wird ihr eine ‚aristokratische‘ Erziehung nach allen Regeln der Kunst zuteil. Nach ihrem Ausschluss aus der maternelle lebt das symbiotische Mutter/ Tochter-Paar in Abwesenheit der restlichen Familie in einer phantastischen Märchenwelt: Neben einer „maman belle et vêtue avec magnificence“, 66 „composé de fée et de sorcière“, einer „reine indienne“ gleich, tanzt auch Plectrude in ihrer prachtvollen „robe de princesse“ zu den Klängen einer zauberhaften „musique de princesse“ und spielt mit ihrem Schatz der „choses de princesse“, „les objets qui […] avaient été élus comme nobles, magnifiques, Verweigerung des Namens gerät insofern zur geradezu metaphysischen Sanktion - so im Roman Métaphysique des tubes: „Pour le punir, je ne le nommerais pas. Ainsi, il n’existerait pas tellement“ (Nothomb 2003c: 42) -, die bloße Benennung zum ambivalenten Liebesakt: „Dites encore mon nom, c’est agréable“ (Nothomb 2003a: 174). Ihr performatives Potential verdanken diese Namen auch ihrer intertextuellen Dimension: Hochgradig literarisierte Namen fungieren als narrative Matrix, aus der sich das Schicksal der betreffenden Figur entfaltet. Wie könnte Léopoldine - „le prénom le plus beau, le plus noble, le plus gracieux, le plus déchirant qui ait jamais été porté“, schwärmt der Protagonist der Hygiène - nicht im Wasser sterben, auch wenn ihr mörderischer Geliebter das Plagiat ängstlich zu vermeiden strebt? „Je ne connais qu’un seul prénom qui arrive à la cheville de Léopoldine: c’est Adèle. […] Le père Hugo avait bien des défauts, mais il y a une chose que personne ne pourra lui enlever: c’était un homme de goût. […] Et il avait donné à ses deux filles les deux prénoms les plus magnifiques“, konstatiert kategorisch Prétextat Tach (ibid.: 136). Im Meer sucht denn auch Adèle Langlais aus Mercure den Tod, deren Gestalt in der zusehends deliranten Phantasie Loncours’ - auch er Adèle- und Léopoldine-aficionado - mit jener Hazel Englerts zu „une seule personne“ (2003b: 126) verschmilzt; empört stellt Hazel schließlich fest, dass auch die ihr entgegengebrachte vermeintlich einzigartige Passion immer schon Recycling war. 59 Delacomptée 2012: 39ff. („Le couple originaire“). 60 Nothomb 2002b: 23f. 61 Ibid.: 7. 62 Ibid.: 8f. 63 Lafayette 2014c: 366, 436. 64 „J’ai eu raison de tuer Fabien. […] il était médiocre“, meditiert die Mörderin (Nothomb 2002b: 18): Vor dem Hintergrund der biografisch-literarischen Namensspiele Amélie (de facto Fabienne) Nothombs gewinnt dieses Szenario eine pikante poetologische Zusatzdimension. 65 Ibid.: 25. 66 Ibid.: 46f. <?page no="416"?> 416 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb insolites, rares - dignes, enfin, d’être admirés par une aussi auguste personne“ (in ihrer Evokation dieses anachronistischen Paralleluniversums mit seinem geradezu inflationären ‚Princesse‘-Imaginarium setzt Nothomb durchgehend auf ein überaus klassisches Vokabular). Über diese auf dem Orientteppich im Wohnzimmer - fliegender Teppich, der Mutter und Tochter in ihr geheimes Königreich transportiert - ausgebreiteten „choses de princesse“, eklektisches Patchwork, Mix von echt und falsch, alt und neu, von „bijoux anciens“ und „bagues moyenâgeuses en plastique bariolé“, „petit face-à-main cerclé de dorures Art nouveau“ und „couronne en carton doré de la fête des Rois“, wird hier von vornherein eine subtil verfälschte Phantasiewelt konstruiert: „On obtenait ainsi un monceau disparate que chacune trouvait merveilleux: en clignant des yeux, on eût dit un trésor véritable.“ 67 Auch nach außen hin brüchig wird dieses private Idyll, als die kleine ‚Princesse‘ - metaleptische Märchenfigur aus der Vergangenheit, die, pittoresk kostümiert „comme ne l’eussent pas osé les princesses des Mille et Une Nuits“, einem jener „livres de contes de fées du temps jadis“ entsprungen scheint 68 - in die „géhenne“ der Schule verbannt wird. 69 Den wenig brillanten pädagogischen Parcours dieser versehentlich als hochbegabt diagnostizierten cancre par (anti-)excellence säumen diverse klassische Referenzen, parodistisch verfremdete Versatzstücke des Grand Siècle - so etwa, wenn Plectrude ihre Mitschüler mit „perles surréalistes“ à la „Louis XIV devint protestant quand il épousa Édith de Nantes“ 70 erfreut, in ihrer Freizeit mit ihrer besten (und einzigen) Freundin Rose „une danse nuptiale, genre de comédie-ballet digne de Lulli“ aufführt 71 und sich in einen neuen Mitschüler mit dem vielversprechenden Namen ‚Mathieu Saladin‘ sowie dem nicht minder assoziationsreichen Spitznamen „le balafré“ verliebt. 72 Bis zum verzögerten Happy End ihrer Liebesgeschichte - beim zweiten Versuch - mit dieser Hybridfigur aus „les contes des Mille et Une Nuits“ 73 und der französischen Klassik stehen der Protagonistin, die schon im kindlichen Märchenspiel jeden glücklichen Ausgang 67 Ibid.: 31ff. Hier ist natürlich auch der Ort, auf den intermedialen Kontext des Romans - paradigmatisches Exempel der Nothomb’schen Kunst des postmodern-klassischen Patchwork - zu verweisen: Robert des noms propres fiktionalisiert den Parcours der Sängerin RoBERT (i. e. Myriam Roulet), die Nothomb 1997 im Anschluss an die Veröffentlichung des Albums Princesse de rien kennenlernt und für die sie in der Folge mehrere Songtexte verfasst, L’Appel de la succube (URL: http: / / nothomb.amelie. online.fr/ fr/ membres.lycos.fr/ fenrir/ nothomb/ succube.htm), in die zweite Auflage der Princesse (2000) integriert, sowie sechs Nummern für RoBERTs nächstes Album, Celle qui tue (2002); vgl. zu dieser künstlerischen Kooperation URL: http: / / www.robertlesite.net/ RoBERT.html. 68 Nothomb 2002b: 34ff. 69 Ibid.: 48. 70 Ibid.: 99f. 71 Ibid.: 72. 72 Ibid.: 89. Mathieu Saladin, Künstler, Musiker und Partner RoBERTs, existiert pour de vrai: Mit seinem Debüt-Soloalbum Colonel (2014) - Personnage de roman, lautet der Titel des ersten Songs (URL: http: / / www.robertlesite.net/ Read/ saladin) - reflektiert er u. a. „son identité de personnage de fiction dans le roman d’Amélie Nothomb“ und sein Verhältnis zu „mon auteur“ (Di Stefano 2014). Henri de Lorraine wiederum, Duc de Guise, genannt „le Balafré“, war historisch der zweite Ehemann der Catherine de Clèves (vgl. Rambaud 2006: 54); in Lafayettes Princesse de Montpensier (2014a: 21f.) spielt jener „Balafré“ eine zentrale (und fatale) Rolle. Der Bezug wird im Roman nicht explizit hergestellt, die Vermutung liegt freilich nahe, dass auch besagter ‚Balafré‘ sich nicht ganz zufällig in das literarische Universum der bekennenden Lafayette-Verehrerin Nothomb eingeschlichen hat. 73 Nothomb 2002b: 89. <?page no="417"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 417 als der wahrhaften Passion und ihrer selbst unwürdig boykottiert („Pourquoi ça se termine toujours mal? […] Parce que c’est beaucoup plus beau comme ça“ 74 ), allerlei mésaventures bevor. Unter dem Einfluss ihrer Ersatzmutter, die in einer unheilvollen Dynamik von Projektion und Ersatzbefriedigung stolz auf „sa différence, non, son exception! “ insistiert und noch ihr Schulversagen als „une action d’éclat […] une insolence aristocratique“ glorifiziert, 75 verschreibt sich die hochtalentierte Ballerina - auch in diesem Punkt der Heldin Lafayettes nicht unähnlich - mit Haut und Haar einem lebensverweigernden Heroismus. Getreu ihrem Programm „de se laisser mourir plutôt que d’enfreindre les lois héroïques de son personnage“, 76 entgeht Plectrude, „héroïne unique“, 77 wiederholt nur knapp dem Tod; delektiert sich Marie Darrieussecqs Solange an den aphrodisischen Qualitäten des Petit Larousse, so ersetzt der Robert - in einer weiteren Variation der für Nothombs Schaffen essentiellen Assoziation von Text und Körper, Sprache und Nahrung - für Plectrude jene „alimentation“, die die schwer anorektische junge Frau sich selbst nicht mehr zugesteht. 78 Ebenso wie der coup de foudre wird auch der aveu hier in der desaströsen Passionsgeschichte zwischen (Adoptiv-) Mutter und Tochter rekontextualisiert; mit intendierter Brutalität wird die in Ungnade gefallene, da nunmehr tanzunfähige ‚Princesse‘ von ihrer vermeintlichen Mutter verstoßen und mit dem bis dahin wohlgehüteten Geheimnis ihrer Herkunft konfrontiert: „Il fallait bien te l’avouer un jour, non? “ 79 Aus dem Zauberreich ihrer Kindheit definitiv exiliert, nimmt die gescheiterte junge Tänzerin - die die Lektüre als regelrechten Liebesakt erfährt, 80 diese Passion freilich lange Zeit mit einer nicht weniger signifikanten Aversion gegen das Schreiben verbindet 81 - endlich die Autorität über ihre eigene Geschichte selbst in die Hand; mit Hilfe ihres wiedergefundenen klassisch-orientalischen Märchenprinzen bricht sie nach einem weiteren „aveu“ 82 aus dem angeblich längst fixierten Szenario ihres Schicksals auf den Spuren ihrer beiden (selbst-) mörderischen Mütter aus, schreitet stattdessen zur Elimination der lästig gewordenen Erzählerin ‚Amélie Nothomb‘ - und verwandelt sich in ihr eigenes Text-Wesen: Ihr neues Leben und ihre neue Karriere als Sängerin beginnt Plectrude „sous un pseudonyme qui était un nom de dictionnaire […]: Robert“. 83 74 Ibid.: 72f. 75 Ibid.: 49f. 76 Ibid.: 80. 77 Ibid.: 132. 78 Ibid.: 117. 79 Ibid.: 144. 80 Ausgehend von Plectrudes mehrfacher Passion entfaltet die Erzählinstanz eine ‚platonische‘ Theorie der Lektüre als eines amourösen Akts: „Sans doute chaque être a-t-il, dans l’univers de l’écrit, une œuvre qui le transformera en lecteur, à supposer que le destin favorise leur rencontre. Ce que Platon dit de la moitié amoureuse, cet autre qui circule quelque part et qu’il convient de trouver, sauf à demeurer incomplet jusqu’au jour du trépas, est encore plus vrai pour les livres“ (ibid.: 153). 81 Vgl. ibid.: 158. 82 Ibid.: 165. 83 Ibid.: 168. <?page no="418"?> 418 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb Coup de foudre à la Lafayette: Zur Dynamik der Hypertextualität Doch nicht nur im Robert des noms propres - wie hier exemplarisch gezeigt - ergeben sich mannigfache Anknüpfungspunkte zum Œuvre Lafayettes. Immer wieder kreist auch Nothombs Werk um die Passion in ihrer Fatalität und oft genug ihrer Absurdität, um Eifersucht, Schönheit und Monstrosität, problematische Mutter/ Tochter-Beziehungen, um das Verwirrspiel von vérité und apparences, 84 aber etwa auch die erwähnte epistoläre Leidenschaft. Ähnlich wie bei Marie Darrieussecq fügt sich die Princesse-Referenz also auch in diesem Fall ziemlich perfekt in ein idiosynkratisches literarisches Imaginarium ein; auf dem Umweg über den klassischen Prätext gewinnt manches Nothomb’sche Leitmotiv eine zusätzliche historische und kulturelle Tiefendimension, während andere Aspekte eben kontrastiv in neuem Licht erscheinen (so besagte Faszination Nothombs für eine deviante, exzessive, kreatürliche Körperlichkeit vor dem Hintergrund der abstrakten, desinkarnierten Welt der Princesse de Clèves). Bei Darrieussecqs Clèves handelt es sich allerdings um eine deklarierte Lafayette-réécriture; im Werk Nothombs findet sich kein derart eindeutiges ‚Remake‘ der Princesse: Eine Lektüre ihrer Texte durch deren Prisma impliziert insofern eine gewisse Gratwanderung zwischen erhellender Dechiffrierung intertextueller Spuren und potentieller Überinterpretation. 85 Diese Gratwanderung lässt sich besonders gut an den bei Nothomb zahlreichen - und in prononciert klassischen Begriffen evozierten - coup de foudre-Szenen illustrieren. In seiner Analyse des Japan-Romans Stupeur et tremblements stellt Jean-Michel Lou seinerseits den Bezug zur Princesse her, wenn er hinter der ersten Begegnung zwischen Erzählerin „Amélie“ und ihrer Vorgesetzten „Fubuki Mori“ 86 den - bewussten oder auch unbewussten - Einfluss des Lafayette’schen Hypotextes ausmacht: Je ne sais pas si Nothomb pensait sciemment à ce passage en écrivant le sien; le moins que l’on puisse dire, c’est que la rencontre de la princesse de Clèves avec le duc de Nemours représente un archétype littéraire du coup de foudre qui agit forcément dans l’inconscient de la lectrice francophone cultivée qu’est Nothomb; ainsi la rencontre d’Amélie avec Fubuki s’inscrit-elle dans une tradition reconnaissable. 87 Bei der Frage nach den Vorgängen im „inconscient“ des schreibenden Subjekts - wie Jacqueline Harpman, Marie Darrieussecq und Emmanuelle Bayamack-Tam kommentiert auch Amélie Nothomb die partiell unbewusste Eigendynamik der Genese des literarischen Textes („Vous savez, l’idée d’un roman s’impose à moi sans que je sache forcément d’où elle vient…“ 88 ) - stößt eine literaturwissenschaftliche Theorie der Hypertextualität nun freilich an ihre Grenzen. 84 „Tout, chez elle, se situe par-delà les apparences, justement“, bemerkt Busnel (2010) über das Werk Nothombs. 85 Vgl. Eco 2002. 86 Nothomb 2001b: 12ff. 87 Lou 2011: 85. 88 Liger 2012. Im Interview mit De Decker (2004b) erläutert Nothomb, Autorin einer autobiografisch inspirierten Métaphysique des tubes (2000), nicht nur ihr Konzept des „pantubisme“, scherzhaft als persönliche postmoderne Version des Prä-Sokratismus definiert, sondern reflektiert auch das Schreiben als „recherche de cet état tubulaire“, in dem das Subjekt zum bloßen Medium bzw. „filtre“ wird. <?page no="419"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 419 In diesem Sinne ist - um beim gewählten Beispiel zu bleiben - ein potentieller Princesse de Clèves-Subtext auch hinter etlichen anderen coup de foudre-Passagen im Werk Nothombs zu verorten. Das Motiv wird von Roman zu Roman fortgeschrieben, mit der doppelten Spezifik, dass der ‚Blitz der Liebe‘ erstens meist einseitig und zweitens oft abseits der heterosexuellen Konvention zwischen zwei weiblichen Figuren einschlägt: so in Lous Exempel aus Stupeur et tremblements, so aber auch im oben kurz analysierten Robert des noms propres, in Mercure (wiederum in einer Szene, deren Diktion an Lafayette gemahnt 89 ), in Antéchrista (2003) oder schon in Le Sabotage amoureux (1993), wie Stupeur et tremblements in einem fernöstlichen (in diesem Fall chinesischen) Kontext angesiedelt. Hier ist es der bloße Anblick Elenas, als „beauté fatale“ 90 würdige Erbin ihrer trojanischen Namenspatronin, 91 der in der Psyche der Ich-Erzählerin ein Erdbeben verursacht; womöglich noch deutlicher als in der oben besprochenen Passage aus Stupeur et tremblements klingt das Echo des Lafayette’schen Prätexts mit: „Je n’avais jamais rien vu d’aussi beau. C’était la première fois de ma vie que la beauté de quelqu’un me frappait. J’avais déjà rencontré beaucoup de belles personnes mais elles n’avaient pas retenu mon attention. Pour des raisons qui m’échappent encore, la beauté d’Elena m’obsédait. Je l’ai aimée dès la première seconde. Comment expliquer de telles choses? “ 92 Die destruktiven Konsequenzen eines heterosexuellen coup de foudre wie den zutiefst zitationellen Charakter menschlicher Gedanken- und Gefühlswelten illustriert der Roman Attentat (1997) 93 mit seinem Antihelden Épiphane Otos, intertextualisiertes ‚Monster‘, in dem sich Quasimodo („Quasimodo, c’est moi“ 94 ), Cyrano de Bergerac und „mon côté Eugénie Grandet“ 95 zum eklektischen Konglomerat verbinden, doch auch männliche Anti-Prinzessin, die mit „seize ans, l’âge des princesses de conte de fées“ - und der Protagonistin Lafayettes - von einer dermatologischen „plaie d’Égypte“ biblischen Ausmaßes heimgesucht wird. 96 Auch in diesem Text mixt Nothomb zahlreiche literarische Referenzen, von Vergil 97 über Scudérys Clélie samt „carte du Tendre“, 98 Hugo, 99 Balzac und Stendhal, Nerval, 100 Baudelaire 101 89 „Quand Françoise découvrit le visage de la jeune fille, elle ressentit un choc d’une violence extrême. Fidèle aux instructions qu’elle avait reçues, elle n’en laissa rien paraître“ (Nothomb 2003b: 16). 90 Nothomb 2001a: 124. 91 Auch hier wird mit der gegenseitigen Interpretation, ja Interpenetration von Text/ Mythos und Leben gespielt. Erst Jahre später entdeckt die literatur-averse Protagonistin („Je lisais peu: j’avais beaucoup trop à faire. La lecture, c’était bon pour ces désœuvrés qu’étaient les adultes“; ibid.: 13), die in einem höchst eklektischen amourösen Dreieck mit einem gewissen Fabrice, „mon rival“ und als Französisch- Vorzugsschüler Repräsentant des „monde pourri“ der Literatur (ibid.: 78f.), um die Gunst der schönen Elena rittert, das mythische Vorbild des Objekts ihrer Begierde: „Plus tard, j’ai lu une histoire obscure, où il était question d’une guerre entre Troie et les Grecs. Tout avait commencé à cause d’une superbe créature qui s’appelait Hélène“ (ibid.: 111). Bemerkenswerterweise wird die transtextuelle Relation jedoch invertiert; es ist die eigene Passionsgeschichte, die als Leseanleitung für die Ilias dient, und nicht etwa umgekehrt: „Bizarrement, L’Iliade m’a moins renseignée sur San Li Tun que San Li Tun sur L’Iliade. […] de toutes les luttes auxquelles j’ai pris part à San Li Tun, celle qui m’a le mieux préparée à lire L’Iliade fut mon amour pour Elena“ (ibid.: 111ff.). 92 Ibid.: 38. 93 Nothomb 1999. Vgl. zu diesem Roman auch Constant 2003; Collington 2006. 94 Nothomb 1999: 13, vgl. auch 9, 56f. 95 Ibid.: 72, 126. 96 Ibid.: 13. 97 Ibid.: 40. 98 Ibid.: 127. <?page no="420"?> 420 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb und Mallarmé 102 bis Sienkiewicz, „cet écrivain polonais au nom imprononçable“, 103 Bataille 104 und Cendrars. 105 La Chartreuse de Parme - ihrerseits als Fortschreibung der Princesse interpretiert und Fixstern am intertextuellen Horizont der Autorin - nimmt einen besonderen Platz ein. Es ist die Chartreuse, „l’un de mes livres préférés“, die den Protagonisten statt der begehrten Frau ins Bett begleitet; der Aufruhr seines Körpers macht jede Lektüre unmöglich, doch zugleich vollzieht sich seine imaginäre Quasi-Fusion mit seinem Helden Fabrice del Dongo. 106 Neben der Chartreuse hinterlässt im intertextuellen Mosaik und vor allem im discours amoureux dieses Romans aber auch das Werk Lafayettes seine Spuren: Schon bei der ersten Begegnung mit dem zukünftigen Objekt seiner exklusiven - und schließlich mörderischen - Passion erfasst den Protagonisten „un trouble violent“. 107 „Rien n’est plus physique que les mots“, stellt die schöne Ethel fest, 108 die - hochgradig intertextualisierte Figur (bereits in der Szene des coup de foudre erstrahlt ihr Gesicht als „merveilleux palimpseste“ 109 ) - in all ihrer „douceur“ 110 die Liebe im Sinne Lafayettes lapidar zur äußerst ‚unbequemen‘ Angelegenheit erklärt: „L’amour, c’est des ennuis.“ 111 Diese desillusionierte Maxime bestätigt sich auch im Fall dieser neuen ‚Princesse‘, Heldin einer weiteren für zumindest zwei Parteien quälenden Dreiecksgeschichte, die die Zitationalität des Liebesdiskurses in signifikanter Schreib-/ Textmetaphorik reflektiert. „Ma copie était vierge“, 112 konstatiert der Protagonist hinsichtlich seines höchstpersönlichen ‚Liebesromans‘ - und macht sich hastig daran, seine versäumte éducation sentimentale und sexuelle mit Hilfe heterogener Lehrmittel nachzuholen. 113 Indessen verfällt Ethel einer destruktiven Passion für einen ebenso attraktiven wie arroganten Mann - ferner Wiedergänger des verführerischen Duc? „Je ne possédais pas son signalement mais, dès qu’il entra, je sus que c’était lui. Il dégageait une assurance et une aisance formidables […]“, 114 beobachtet der eifersüchtige Épiphane, der, in der undankbaren Rolle des „meilleur ami“ und Vertrauten gecastet, 115 bitter 99 Ibid.: 59. 100 Ibid.: 18. 101 Ibid.: 17, 25, 39. 102 Ibid.: 129. 103 Ibid.: 27f. 104 Ibid.: 26. 105 Ibid.: 123. 106 Ibid.: 98f. 107 Ibid.: 18. 108 Ibid.: 151. 109 Ibid.: 25. Der Protagonist fordert sie ohne Umschweife auf, Baudelaire für ihn zu rezitieren („Je suis belle et j’ordonne […]“; ibid.: 17), wechselt, in den Anblick ihres palimpsestuösen Antlitzes vertieft, darauf in ein anderes intertextuelles Register („Nervalien, je murmurai: ‚Mon front est rouge encor du baiser de la reine…‘“; ibid.: 18) und identifiziert sein Gegenüber im literarischen Semi-Delirium schließlich als „Lygie, princesse chrétienne“ (ibid.: 27). 110 Ibid.: 25. 111 Ibid.: 35. 112 Ibid.: 26. 113 „Je consultai de nombreuses instances: l’encyclopédie, mon sexe, Sade, le dictionnaire médical, La Chartreuse de Parme, les films X, ma dentition, Jérôme Bosch, Pierre Louÿs, les petites annonces, les lignes de ma main“ (ibid.: 26). 114 Ibid.: 81. 115 Ibid.: 91. <?page no="421"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 421 bedauert, sich nicht rechtzeitig der (anti-)liebespädagogischen Erziehung der jungen Frau gewidmet zu haben: „Quel âne j’avais été! J’aurais dû mettre à profit ces onze mois inespérés pour […] la dégoûter des hommes sans exception.“ 116 „Je t’ai caché mon amour pendant très longtemps parce que je le savais sans espoir. J’ai commis la bêtise de te l’avouer. Il est clair que j’ai eu tort“: 117 Attentat mündet in eine blutige „tauromachie de l’amour“ mit mehrfachem Gender-Switching. Épiphane tötet Ethel mit jenen gefährlich scharfen Kino-Hörnern, die sie in ihrer Rolle als junger Stier - ihrerseits verliebte Mörderin ihres Matadors - in einem Avantgarde-Film trägt. 118 „Chacun tue ce qu’il aime“, zitiert er Oscar Wilde, „l’un de mes saints patrons“, 119 der auch in Nothombs Galerie ihrer literarischen Schutzheiligen wiederholt in Gesellschaft Lafayettes auftaucht. Mit einem höheren Grad von Hypertextualität haben wir es dort zu tun, wo Nothomb in ihrem fiktionalen Werk explizit mit dem Lafayette’schen Prätext kokettiert, die Princesse zum Gegenstand poetologischer Miniatur-Diskussionen auf diegetischer Ebene macht und ihre Figuren sich spielerisch mit jenen Lafayettes (des-)identifizieren lässt. Die Ermordung des Autors: Prä-Textualität, Lafayette-Digest und Geschlechterkampf Écrivain, assassin: deux aspects d’un même métier, deux conjugaisons d’un même verbe. 120 So bereits in Hygiène de l’assassin, 121 offizielles Debüt Nothombs, Erstlings- und zugleich ‚zirkulärer‘ Metaroman, „qui exige un retour en arrière permanent dans un cycle infini de relectures“; 122 mit ebendiesem Text, auf den auch in späteren Werken immer wieder Bezug genommen wird, 123 definiert die junge Autorin nicht nur ihre Position auf dem Literaturmarkt, 124 sondern skizziert im Spiel mit der großen Literaturgeschichte wie der postmodernen Literaturtheorie auch ihr eigenes poetologisches Profil. „Au fond, les théoriciens du Nouveau Roman étaient d’énormes farceurs: la vérité, c’est que rien n’a changé dans la création. Face à un univers informe et insensé, l’écrivain est contraint à jouer les démiurges“, 125 erklärt der Protagonist der Hygiène, „écrivain-assassin“, 126 Literaturnobelpreisträger und Mörder, dessen Œuvre klingende Titel wie Perles pour un massacre, Viols gratuits entre deux guerres, Prière avec effraction, Crever sans adverbe, La Cruci- 116 Ibid.: 80. 117 Ibid.: 146. 118 Ibid.: 152. 119 Ibid.: 23. 120 Nothomb 2003a: 115. 121 Vgl. zu diesem Text u. a. Gorrara 2000; Vuaille-Barcan/ Rolls 2006. 122 Ibid.: 259. 123 Vgl. etwa Nothomb 2009: 180ff. 124 Es war dieser Debütroman, der Nothomb - nach der Ablehnung durch Gallimard - zum Verlag Albin Michel führte, dem sie bis heute treu geblieben ist: „J’ai l’impression d’être Robinson Crusoé, très bien sur l’île Albin Michel“, scherzt Nothomb im Interview mit Liger (2012). 125 Nothomb 2003a: 160. 126 Ibid.: 127. <?page no="422"?> 422 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb fixion sans peine 127 und - en abyme - Hygiène de l’assassin 128 umfasst, monströs fettleibiger Megalomane, der nonchalant den Standpunkt „des génies, comme Victor Hugo et moi“ 129 vertritt, im Lauf der Handlung zwar von seinem parodistischen auktorialen Piedestal - bzw. aus seinem Rollstuhl - geholt wird, sich als Regisseur seiner Bio-Mythografie freilich noch in seiner eigenen Exekution durchsetzt. Mit diesem ‚Prétextat Tach‘ - charakteristischer Repräsentant der frenetisch leiblichen Romanwelt Nothombs, inkarniertes, ja adipöses Stück Literaturtheorie - kreiert die Autorin einen Antihelden, dessen Name bereits poetologisches Programm ist. Kein Text ohne Prätext, 130 auch und erst recht ein Erstlingsroman: Schon im Namen trägt Prétextat Tach, der in seinen eigenen Werken einen autobiografischen Wiedergänger namens „Philémon Tractatus“ 131 inszeniert, den Fluch der ewigen Sekundarität, der Zitationalität selbst seiner eigenen mörderischen Lebensgeschichte, in der auf Schritt und Tritt das literarische wie existentielle Plagiat lauert. In seinem zwischen tache und tâche gleichfalls symbolisch überdeterminierten Familiennamen führt dieser Fanatiker der ‚pureté‘ und der ‚innocence‘ auch das Schicksal der ‚Unreinheit‘, die er in seiner kreativen Arbeit - Sühne und Rechtfertigung, Fort- und Umschreibung jenes Mordes - zwischen Nahrungsexzessen, Blut- und Tintenflecken ausagiert. Nun steht Prétextat Tach selbst an der Schwelle des Todes: Die Nachricht von der tödlichen Krebserkrankung des berühmten Schriftstellers lockt scharenweise Journalisten an, die - mit einer Ausnahme - rhetorisch besiegt und zutiefst angeekelt rasch wieder das Weite suchen. Dieser groteske Reigen von Visiten bietet den narrativen Rahmen für eine Serie jener sich über Seiten hinziehenden geschliffenen Dialoge voller Wortspiele, intertextueller und literaturtheoretischer Referenzen, die das Markenzeichen Nothombs werden sollten: 132 „Ne jouons pas sur les mots, voulez-vous? / C’est à un écrivain que vous dites ça? “ 133 127 Ibid.: 97ff. 128 „Hygiène de l’assassin“ lautet der Titel auch jenes autobiografischen „roman inachevé“ (ibid.: 123), in dem Prétextat Tach unverhüllt, doch undurchschaut die Geschichte seiner Jugend erzählt - von Kritikern, die mörderische Wahrheiten unbeirrt als Metaphern lesen, als „[u]n conte de fées riche de symboles, une métaphore onirique du péché originel et, par là, de la condition humaine“ dechiffriert: „Quand je vous disais qu’on me lisait sans me lire! Je peux me permettre d’écrire les vérités les plus risquées, on n’y verra jamais que des métaphores“ (ibid.: 126). 129 Ibid.: 136. 130 Vgl. Genettes Reflexionen über jene vermeintlich unhintergehbaren bzw. unhinterlesbaren Ursprungs- oder Quelltexte, deren jeweilige Prätexte vielleicht lediglich unbekannt sind, „degré, non pas zéro, mais epsilon, d’une hypertextualité tout énigmatique“ (die „pas tout à fait le privilège quelque peu fabuleux des textes très anciens“ sei): Ist nicht im Grunde auch der Hypotext immer schon Hypertext? „[…] il est des œuvres dont nous savons ou soupçonnons l’hypertextualité, mais dont l’hypotexte, provisoirement ou non, nous fait défaut. […] Nous sommes là, très vraisemblablement, en présence d’hypertextes à hypotexte inconnu, dont l’hypertextualité nous est presque certaine, mais nous reste indescriptible et donc indéfinissable“ (2003: 532f.). 131 Nothomb 2003a: 119. 132 „Quand je prends la plume, rien ne m’est plus naturel que d’écrire en dialogue. Je crois que je dois parfois me faire un petit peu violence pour écrire autre chose“, erklärt Nothomb; eben die „forme dialogique“ entspreche perfekt ihrem persönlichen „flux mental“ (De Decker 2004b). 133 Nothomb 2003a: 115. Bereits in diesem ersten Roman wird diese schillernde Wortspielerei, oft genug rhetorisches l’art pour l’art, das Nothomb in der Folge so manche Kritik eingebracht hat, zugleich auf diegetischer Ebene parodiert, ist doch auch Antiheld Tach ein Virtuose des literarischen Bluffs: „J’imagine la jubilation que vous avez dû éprouver à donner à ces parenthèses brillamment creuses, <?page no="423"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 423 In einer Sequenz parodistischer Pseudo-Dispute werden die Problematik literarischer Autorität, die Konventionen traditionellen realistischen Erzählens, 134 prinzipielle rezeptionsästhetische Fragen und spezifisch Prétextat Tachs Poetik einer „lecture carnassière“ 135 reflektiert, seine Aversion gegen den „pseudo-lecteur“, der aus seiner Lektüre unberührt und unverändert hervorgeht; 136 die debütierende Autorin karikiert nicht nur einen gewissen kulturellen Snobismus, 137 sondern lotet auch ihre eigene Relation zu den ‚Klassikern‘ aus. „N’y a-t-il pas lieu de se réjouir qu’il y ait autant de lectures qu’il y a de lecteurs? […] il y a des lectures différentes de la vôtre, c’est tout. Pourquoi la vôtre serait-elle la seule admissible? “, hält Nina, Advokatin auch rezeptionsseitiger literarischer Polyphonie, dem monströsen Schriftsteller entgegen, der auf seinem Ideal der einen und einzig richtigen Lektüre „sans adverbe“ besteht. 138 In diesem literaturtheoretischen Vexier- (und Vomitiv-)Spiel ist der Lafayette’sche Prätext gleich auf mehreren Ebenen präsent. Prétextat Tach, der selbst in kulinarischen wie verbalen Exzessen schwelgt und mit einer sadistisch detaillierten Schilderung von Zubereitung und Verzehr seiner abjekten Lieblingsspeisen einen weiteren Journalisten in die Flucht schlägt (der mitgebrachte Rekorder registriert schließlich nur mehr „le bruit du vomissement“ 139 des sich auf dem Trottoir aus Leibeskräften übergebenden Opfers: „Ça, mon cher, ça vous apprendra à m’enregistrer“ 140 ), skizziert parallel sein provokantes Programm einer radikalen literarischen ‚Diät‘: Diese verordnet der Koloss, selbst stolzer Autor von „vingt-deux gros romans“, 141 ausgerechnet der schlanken Princesse de Clèves, jener „brilliant miniature“, 142 die, bei George Steiner mit der „massiveness of the novels of Tolstoy and Dostoevsky“ kontrastiert, solennellement délirantes, les apparences de la profondeur et de la nécessité“, kommentiert seine einzige scharfsichtige Leserin (2003a: 94). 134 Nach allerlei narrativen Umwegen und Ausweichmanövern macht Tach sich endlich an die zumindest mündliche Fortsetzung seines „roman inachevé“ (ibid.: 123): „C’était le 13 août 1925“… „Voilà déjà un excellent commencement“, spottet seine literaturtheoretisch versierte junge Besucherin (ibid.: 139) auf den Spuren Paul Valérys und Gérard Genettes (1966: 152): „La marquise sortit à cinq heures“… 135 Nothomb 2003a: 157. „Qu’est-ce que vous auriez préféré? Qu’on vous lise dans un abattoir, ou à Bagdad, pendant un bombardement? “ (ibid.: 127), erkundigt sich Journalistin Nina bei ihrem schriftstellerischen Gegenüber, dem sie doch noch „une suite en bonne et due forme“ zu seinem unvollendeten Lebensroman abringt (ibid.: 158). Ebendiese Lektüresituation wird später in Une forme de vie (2010) inszeniert und als Fiktion demontiert: Erzählerin ‚Amélie Nothomb‘ korrespondiert mit einem treuen Leser, angeblich im Irak stationierter US-Soldat, der sich, in seiner monströsen Fettleibigkeit ein intratextueller Verwandter bzw. Nachfahre Tachs, seinen eigenen, von 1001 Nacht inspirierten Lebens-/ Leseroman auf den Leib schreibt - und sich schließlich als quasi-immobiler Bewohner eines banalen Vororts von Houston entpuppt. Immer wieder illustrieren derartige Details die bemerkenswerte - nicht nur retrospektive, sondern gleichsam auch prospektive - intratextuelle Kohärenz des Nothomb’schen Werkes; durch das Prisma der Forme de vie entfaltet auch die Hygiène eine neue Bedeutungsdimension. 136 Nothomb 2003a: 127. 137 „Oh, je vois. Mademoiselle est une snob de salon. Vous êtes du style à vous exclamer: ‚Cher ami, connaissez-vous Proust? Mais non, pas La Recherche, ne soyez pas vulgaire. Je vous parle de son article paru en 1904 dans Le Figaro…‘“ (ibid.: 100f.). 138 Ibid.: 127. 139 Ibid.: 38. 140 Ibid.: 35. 141 Ibid.: 33. 142 Steiner 1996: 13. <?page no="424"?> 424 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb in ihrem literarhistorischen Kontext eine markante ästhetische Innovation gegenüber den ausufernden Romanen des Barock und der précieuses darstellt. Gegenüber einem pflichtgemäß empörten Journalisten erläutert Prétextat Tach, durch seine eigene massive Körperlichkeit in seinem Rollstuhl immobilisierter Ikonoklast, seine ‚Hobbies‘, darunter - „suprême delice“ - ein intertextuelles Spiel mit oulipotischer Komponente: „[…] je déchire les mauvaises pages des classiques.“ Klassiker-réécriture à l’envers: Auf die entsetzte Rückfrage seines Gegenübers präzisiert er seine Methode am Exempel der Princesse („[…] j’expurge. La Princesse de Clèves, par exemple: voilà un roman excellent mais beaucoup trop long“) und preist im gleichen Atemzug seine persönliche Digest-Fassung an: „Je suppose que vous ne l’avez pas lu, alors je vous recommande la version raccourcie par mes soins: un chef-d’œuvre, une quintessence.“ 143 Der maximal antipathisch stilisierte Prétextat Tach artikuliert hier freilich, ins Karikaturale übersteigert, eine poetologische Position, die jener Nothombs selbst (wenngleich nicht in Bezug auf die Princesse) - und auch jener Lafayettes 144 - so unähnlich nicht ist. „Prétextat Tach, c’est moi“, erklärt Amélie Nothomb unter transparenter literarhistorischer Allusion; 145 in nur scheinbarem Widerspruch zu ihrer eigenen ‚graphomanie‘ bekennt sich die Autorin zu einem Ideal größtmöglicher narrativer Ökonomie, Indiz wahrer Meisterschaft: „Je vais vers toujours plus de concision. Plus j’écris, plus j’apprends tout ce dont je peux me passer. […] Rien ne permet de faire l’économie de ce travail-là, seul l’écoulement du temps et la pratique intense permettent de découvrir ce dont on peut se passer.“ 146 (In der Tat handelt es sich bei Nothombs zahlreichen Romanen ausnahmslos um relativ dünne, im Lauf 143 Nothomb 2003a: 35f. Tachs groteskes Digest-Projekt erinnert frappant an die bei Compagnon (1979: 27f.) referierte Episode des „homme aux ciseaux“, eines auf Umwegen in die Literaturgeschichte eingegangenen „agent forestier“, der sich, um Konventionen unbesorgt, seine Bibliothek zusammenstellt bzw. vielmehr -schneidet. Mit der Schere in der Hand definiert dieser extravagante Leser seinen höchst selektiven persönlichen Kanon: „J’ai une bibliothèque uniquement à mon usage […] Il y a des livres de toutes sortes; mais, si vous alliez les ouvrir, vous seriez bien étonné. Ils sont tous incomplets; quelques-uns ne contiennent plus dans leur reliure que deux ou trois feuillets. Je suis d’avis qu’il faut faire commodément ce qu’on fait tous les jours; alors je lis avec des ciseaux, excusez-moi, et je coupe tout ce qui me déplaît. J’ai ainsi des lectures qui ne m’offensent jamais. Des Loups, j’ai gardé dix pages; un peu moins du Voyage au bout de la nuit. De Corneille, j’ai gardé tout Polyeucte et une partie du Cid. Dans mon Racine, je n’ai presque rien supprimé. De Baudelaire, j’ai gardé deux cents vers et de Hugo un peu moins. […] De M me de Sévigné, les lettres sur le procès de Fouquet; de Proust, le dîner chez la duchesse de Guermantes; ‚Le matin de Paris‘ dans la Prisonnière“ (Le Bulletin des lettres 14 [1933]: 10f., zit. nach Cahiers Céline 1 [1976]: 52ff.). Dergestalt legt jener idiosynkratische Literaturliebhaber seinen „[a]veu terrible, intolérable“ ab: „[…] dire crûment et écrire noir sur blanc la petite cuisine à laquelle chacun se livre dans l’intimité de son cabinet, omettre les formes à ce point. Quelle sauvagerie d’homme des bois! “, kommentiert ironisch Compagnon (1979: 28). Unüberhörbar klingt in der Reaktion Célines, seinerseits Opfer dieser literarhistorischen ‚Kastrations‘-Mission, eine parodistisch-psychoanalytische Dimension mit: „Nous voici tous grands morts et minuscules vivants, déculottés par le terrible gardechasse. […] Ah! le véridique! […] L’homme des bois ne rigole pas. […] l’homme au ciseau va me couper tout ce qui me reste“ („Qu’on s’explique… Postface à Voyage au bout de la nuit“ [1933], zit. ibid.). 144 „Un liard pour un mot ôté, trente sols pour une expression, un louis d’argent pour une phrase et un autre d’or pour un paragraphe“ (vgl. Vajda 2010: 40). 145 Zit. nach „Amélie Nothomb. Biography“ (o. D.). 146 Busnel 2010. In diesem Kontext betont Nothomb auch ihre Affinität zum Altgriechischen und zum Lateinischen: „Le latin et le grec ont également été terriblement importants dans ma formation, et dans ma concision: le latin et le grec apprennent à posséder sa syntaxe à fond, donc à écrire court“ (ibid.). <?page no="425"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 425 der Jahre sich tendenziell weiter verknappende Werke, bevölkert von anorektischen Liebesobjekten und adipösen Antihelden.) In ihrem parodistischen Science-Fiction-Roman Péplum (1996) knüpft Nothomb vier Jahre später an Prétextat Tachs Digest-Kanon an. Nach einer Anästhesie zu Operationszwecken erwacht die Protagonistin am 27. Mai 2580; 147 ihr persönlicher Reiseführer durch diese fremde Welt der Zukunft macht sie unter anderem mit den Metamorphosen vertraut, die der Literatur - längst nur mehr als möglichst ‚digestives‘ Antidepressivum instrumentalisiert - widerfahren sind. Nicht zuletzt aufgrund einer „grande crise énergétique“ herrscht nun der Kult des „livre léger“; nach dem Motto „‚Les gens heureux n’ont pas d’histoire‘“ wird auch der weltliterarische Kanon, angefangen mit dem internationalen Erfolgsprojekt einer „‚happy Bible‘“, in neuen Digest-Fassungen bzw. „versions ‚happy‘ des classiques“ aufbereitet: „L’Assommoir de Zola faisait quarante pages, tout Dostoïevski tenait en deux feuillets.“ Im Sinne der neuen poetischen „économie“ schreitet man zur papiersparenden Kreation von „ouvrages composites“, abstruse intertextuelle Montage, in die Nothomb wiederum eine deklarierte Lafayette-réécriture einschmuggelt: „[…] Baudelaire, Radiguet et Roché furent regroupés en un seul volume et devinrent introuvables l’un sans les autres. Des hordes de cancres ne tardèrent pas à les confondre, parlant des Fleurs du comte d’Orgel, du Spleen de Jules et Jim…“. 148 Vernimmt die Zeitreisende amüsiert die Nachricht vom „suicide collectif“ aller vierzig Mitglieder der Académie française am 15. Jänner 2145 („Chacun s’était lesté de leur dernière édition du dictionnaire, de sorte qu’ils ont coulé à pic“ 149 ), so reagiert sie indigniert auf die Degradierung ihres - in der Vergangenheit aktuell in Entstehung begriffenen - Romans („une histoire où, entre autres choses, il y avait de l’amour“) zum „bouquin pour concierges“: „Alors pour vous, dès qu’il y a de l’amour quelque part, on est dans l’univers des concierges? Tristan et Iseut, Phèdre, c’est pour les concierges? “ 150 Oder La Princesse de Clèves womöglich auch für die mittlerweile sprichwörtliche guichetière? Die Ambivalenz der Pose Prétextat Tachs sticht ins Auge, ist es in diesem Erstlingsroman doch auch die debütierende Autorin und Lafayette-Liebhaberin selbst, die ihre persönliche Kollektion klassischer Prätexte parodistisch ausschlachtet. Nothomb lässt ihren in jeder Hinsicht monumentalen Antihelden auch stellvertretend gegen eine musealisierte literarische Kultur rebellieren; 151 zugleich karikiert sie in Gestalt Tachs, Schöpfer von und Herrscher über „quarante-six personnages féminins“, 152 der den Chauvinimus immer wieder auf neue absurde Höhen treibt 153 und „Madame de La Fayette“ von der Höhe maskuliner auktorialer Arroganz herab disqualifiziert, auch einen traditionellen misogynen literaturkritischen Diskurs: 147 Nothomb 2002a: 14. 148 Ibid.: 45f., vgl. auch 56. 149 Ibid.: 87. 150 Ibid.: 74. 151 So erklärt Tach den ihm zuerkannten Literaturnobelpreis für „un sommet dans l’histoire des malentendus“: „M’attribuer, à moi, le prix Nobel de littérature équivaut à donner le prix Nobel de la paix à Saddam Hussein“ (Nothomb 2003a: 92). 152 Ibid.: 96. 153 Auf Ninas provokante Frage „Dans votre idéologie, la femme est à la maison, avec un torchon et un balai, n’est-ce pas? “ pariert Prétextat: „Dans mon idéologie, la femme n’existe pas“ (ibid.: 92); „J’ai pitié des femmes, donc je les hais, et inversement“ (ibid.: 96). <?page no="426"?> 426 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb - Monsieur Tach, que diriez-vous si, dans trois siècles, on arrachait à vos romans des pages jugées superflues? - Je vous mets au défi de trouver une page superflue dans mes livres. - Madame de La Fayette vous eût dit la même chose. - Vous n’allez pas me comparer à cette midinette? 154 Die Figur, die schließlich über Prétextat Tachs Prätentionen triumphiert, ist - nach einer Reihe mehr oder minder grandios gescheiterter männlicher Kollegen - die detektivisch versierte Journalistin Nina, von Tach zunächst als „petite femelle prétentieuse“, „petite dinde“ 155 (etc.) attackiert; das rhetorische Duell dieser beiden Protagonisten, aus dem die schlagfertige junge Frau, vielleicht nicht ganz zufällig ihrerseits mit dem Lafayette’schen Schlüsselattribut „extraordinaire“ 156 ausgestattet, als (problematische) Siegerin hervorgeht, stiftet ein prototypisches Modell, das Nothomb immer wieder variieren wird. Abgesehen von der expliziten Lafayette-Referenz des Princesse-Digest spukt auch noch das Gespenst einer anderen ‚Princesse‘ durch den Text, jenes der schönen, zwei Jahre jüngeren Cousine des zukünftigen Autors, einst willfährige Komplizin eines ebenso ambitionierten wie absurden Pakts: Feierlich gelobt das kindliche Liebespaar, der Pubertät als „dégradation terrible“ Widerstand zu leisten und in der märchenhaften Pseudo-Ewigkeit der Kindheit zu verweilen; streng wacht Prétextat darüber, seinem Schützling den Fluch abjekter Weiblichkeit („tomber comme les autres femmes“… 157 ) zu ersparen. Doch vergeblich kultivieren die beiden verspäteten Kinder jahrelang ihre „‚hygiène d’éternelle enfance‘“, die neben Schlafentzug und „[u]ne vie essentiellement aquatique“ auch exzessiven Konsum extrem starken Tees, „noir comme de l’encre“, vorsieht 158 (systematisch wird das ‚paradiesische‘ Kindheits-Narrativ mit dergleichen Schreib-/ Papier-/ Tinten-Metaphern durchsetzt, als immer schon literarisch kontaminiert kenntlich gemacht). Die Obsession der ‚Originalität‘, die Angst vor dem Plagiat beherrscht Prétextat Tach auch noch in dem Moment, da er - am Tag ihrer Menarche - den „meurtre mystique“ 159 an seiner Cousine vollbringt, dünkt ihn das eigentliche Verbrechen doch das auch hier lauernde unfreiwillige Zitat. Aus ‚Einflussangst‘ wählt Prétextat nicht die physisch naheliegende Variante eines poetischen Todes im Wasser: „Je me suis dit que si toutes les Léopoldine devaient mourir noyées, cela tournerait au procédé, à la loi du genre, et que ce serait un peu vulgaire. Sans compter que la mémoire du père Hugo eût été peut-être outrée de ce plagiat servile.“ 160 Aus demselben Grund holt der jugendliche Mörder die Leiche aus den Tiefen des Teichs: „[…] je songe à la noyade de Villequier 161 et je me rappelle le mot d’ordre: ‚Attention, Prétextat, 154 Ibid.: 36. Dass die Degradierung Lafayettes zwar nicht gerade zur ‚midinette‘, aber doch zur Repräsentantin einer sentimental-weiblichen literarischen Kultur ihre misogyne Tradition hat, illustriert Grandes Panorama literaturkritischer Positionen gegenüber den Romancières des 17. Jahrhunderts (2000a; zu Lafayette vgl. insbes. 225ff.). 155 Nothomb 2003a: 94f. 156 Ibid.: 174. 157 Lafayette 2014c: 366. 158 Nothomb 2003a: 110f. 159 Ibid.: 170. 160 Ibid.: 150. 161 In Villequier ertrinkt Victor Hugos Tochter Léopoldine am 4. September 1843 gemeinsam mit ihrem Ehemann; dieses Unglück wird in Hugos Gedichtband Les Contemplations (1856) verarbeitet. <?page no="427"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 427 pas de loi du genre, pas de plagiat.‘ Alors je plonge […].“ 162 Ein weiteres Mal weist Nina den männlichen Möchtegern-Demiurgen darauf hin, dass er auch mit seiner vermeintlich originellen Mordmethode dem Spiel der allgegenwärtigen Referenzen nicht entkommt: „Vous avez donc renoncé à la noyade pour éviter une référence. Mais le choix de la strangulation vous exposait à d’autres références.“ 163 Auch in jenem Augenblick, da er mit der wunderschönen Leiche seiner Cousine ins großelterliche Schloss zurückkehrt, empfindet Prétextat - stets auf der Flucht vor seinem Vornamen - weder Reue noch Trauer, sondern vor allem ästhetischen Abscheu angesichts der allzu konventionellen, mehrfach vor-geschriebenen Reaktion der Angehörigen, „scène d’un kitsch digne d’un plumitif de troisième zone“. 164 Als Kontrahentin Prétextat Tachs reklamiert die bürgerliche Journalistin 165 nicht nur die fatale Zitationalität allen Erlebens und Schreibens, sondern bringt auch die delirante Misogynie ihres Gesprächspartners zur diskursiven Implosion in der unfreiwilligen Selbstparodie. 166 Ironisch inter- und kontrapunktiert sie sein monologisches chauvinistisches Narrativ rund um eine hyper-idealisierte und zugleich mortifizierte, metaphorisch und schließlich konkret desinkarnierte Weiblichkeit; unter wütendem Protest Tachs („Vous êtes immonde“ 167 ) holt sie den eskamotierten weiblichen Körper jener chimärischen Geliebten in die Erzählung zurück („Taisez-vous, par pitié! “, fleht Tach sie an 168 ), füllt die Ellipsen in jener diegetischen Hygiène de l’assassin, „roman catholique“ („Non. C’est un roman édifiant“, protestiert der Autor 169 ). In einem Akt - verspäteter und substitutiver - weiblicher diskursiver Selbstverteidigung, Akt des Widerstands gegen Prétextats männlichen Ventriloquismus, macht sie diesem derart die Interpretationshoheit über sein Werk und - zumindest nachträglich - die Lebens- und Todesgeschichte Léopoldines streitig. Wie Jahre später in Barbe Bleue mündet der verbale Zweikampf zwischen einem älteren misogynen Aristokraten und seinem jungen bürgerlichen weiblichen Gegenüber nach heftigen wechselseitigen Invektiven in ein groteskes Liebesbekenntnis: „Je vous aime, Nina“, erklärt unvermittelt der besiegte - besiegte? - Prétextat Tach, nach wie vor auf der obsessiven Suche nach (s)einer Narration „en dehors de toute référence connue“. 170 Es ist Nina, vermeintlich bloßer „avatar“ 171 der toten Geliebten, die die doppelte Hygiène de l’assassin zu Ende erzählt, 162 Nothomb 2003a: 155. 163 Ibid.: 150. Als derartige „référence“ identifizieren Vuaille-Barcan und Rolls (2006: 263) - schon dieser Erstlingsroman scheint in ein überaus Nothomb’sches Netzwerk hoch- und populärkultureller Bezüge verwoben - den ersten Roman der Série noire aus der Feder eines französischen Autors: La Mort et l’ange (1948) von Terry Stewart (i. e. Serge Arcouët); liebend und strangulierend folgt Prétextat der prätextuellen Spur des Protagonisten Ben Sweed. 164 Nothomb 2003a: 156. 165 Zwischen diesen beiden Figuren wird ein doppelter rhetorischer und ideologischer Geschlechter- und Klassenkampf ausgefochten. Der auktoriale Snob, mütterlicherseits Spross einer altadligen Familie, attackiert seine rebellische Gesprächspartnerin auch als Repräsentantin des verachteten ‚Volkes‘: „Mais non, imbécile! Qui se soucie des goûts des gens comme vous, du peuple, de la pègre, de la médiocrité, du commun? “ (ibid.: 136). 166 Vgl. ibid.: 130f. 167 Ibid.: 144. 168 Ibid.: 170. 169 Ibid.: 151. 170 Ibid.: 172. 171 Ibid.: 180. <?page no="428"?> 428 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb die im Wortsinn brachiale Conclusio zum „roman inachevé“ 172 des Protagonisten übernimmt und nun - mit vertauschten Genderrollen 173 - zum ‚klassischen‘ Mord an Prétextat schreitet: „Ce fut rapide et propre. Le classicisme ne commet jamais de faute de goût.“ 174 Im hoch ambivalenten Finale dieses als „une mise à mort de l’institution littéraire et journalistique“, 175 als „une métaphore de l’interprétation active du texte scriptible, la prise du pouvoir du lecteur aux dépens de l’auteur, et plus encore d’une auteure/ lectrice face à l’institution littéraire jugée comme un univers d’abord masculin“ 176 ausgelegten Meta-Debütromans, in dem eine junge Schriftstellerin spielerisch ihre literaturtheoretischen Positionen absteckt, wird freilich auch eine eventuelle allzu simpel ‚feministische‘ Lektüre des Textes ad absurdum geführt. Ebenso wenig wie die Princesse ist Hygiène de l’assassin als eindeutige Geschichte einer weiblichen Selbstbefreiung bzw. eines weiblichen Triumphs zu lesen: Nina rächt zwar stellvertretend die ‚midinette‘ Lafayette wie die tote Léopoldine, noch im mörderischen passage à l’acte erfüllt sie allerdings perfekt die ihr auf den Leib geschriebene Rolle in einem von Prétextat Tach sorgfältig inszenierten Setting. Der Mord provoziert eine vorhersehbare „véritable ruée“ auf das Werk des Toten; der posthume Weg Prétextats in den von ihm selbst zur hypertextuellen Plünderung freigegebenen Kanon ist vorgezeichnet: „Dix ans plus tard, il était un classique“, 177 lautet der letzte Satz dieses Romans einer Debütantin, die sich mittlerweile ihrerseits unter den ‚kleinen‘ Klassikern der zeitgenössischen französischsprachigen Literatur wiederfindet. „… le pouvoir libérateur de la littérature“: Mercure als Metaroman Die Princesse wird auch weiterhin als hypotextueller Grund- und poetologischer Prüfstein in die Architektur des Nothomb’schen Œuvres eingebaut. Ebenso gelassen wie intertextuell gewappnet sieht der Antiheld aus Attentat am Ende des Romans seiner restlichen Existenz in einer einsamen Gefängniszelle entgegen: „C’est au cachot que Julien découvre la plénitude de l’amour avec Madame de Rênal, c’est dans une geôle que Fabrice finit par posséder Clélia. Stendhal a raison: […] la prison est un lieu érotique.“ 178 Im bereits erwähnten Metaroman Mercure (1998), der aufs Neue mit der Chartreuse als privilegiertem Intertext spielt, ist es eben Lafayette, die gemeinsam mit Stendhal - unter anderer illustrer literarischer Gesellschaft - der Protagonistin beim Ausbruch aus einem luxuriösen „cachot“ behilflich ist. 179 172 Ibid.: 123. 173 Zur Motivik des Mordes bei Nothomb - insbesondere unter dem Gender-, aber auch unter poetologischem Aspekt - vgl. Amanieux 2005b; Damlé 2009; Chevillot 2013. 174 Nothomb 2003a: 180. 175 Hugueny-Léger 2015. 176 Vuaille-Barcan/ Rolls 2006: 269. 177 Nothomb 2003a: 181. Der Tod des Autors bzw. der Mord am Autor als perfekte Marketingstrategie: Dieses Motiv mit parodistischer metaliterarischer Dimension variiert auch Virginie Despentes in ihrem Roman Apocalypse bébe (vgl. Stemberger 2013b). 178 Nothomb 1999: 153. 179 Zur Intertextualität in Mercure vgl. Campagnoli 2001; Bainbrigge 2003; Dewez 2007; Dewez 2008; Signori 2013. <?page no="429"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 429 In einem weiteren huis clos, an dem selbst der Erste Weltkrieg in weiter Ferne vorüberzieht, 180 entfaltet sich in einem Setting des entre-deux-guerres eine neue hetero-/ homosexuelle amouröse Dreieckskonstellation. Die Krankenschwester Françoise, vermeintlich zur Pflege eines Greises auf eine Insel mit dem - wie stets bei Nothomb - symbolträchtigen Namen Mortes-Frontières beordert, 181 findet sich dort zwischen dem ominösen Hausherrn und ihrer eigentlichen Patientin - jugendliche ‚Princesse‘, die um ihre eigene „scandaleuse beauté“ 182 nicht weiß - wieder. Die schöne Hazel, mehrfach literarisierte Heldin, die ihr (Über-)Leben nach eigener Überzeugung allein der Lektüre verdankt („[…] sans les livres, je serais morte depuis longtemps“) und sich mit Scheherazade vergleicht, 183 stellt als leidenschaftliche Leserin und vor allem Wieder-Leserin - nicht nur, aber vor allem der Chartreuse, Kult- und Lieblingsbuch auch dieser Protagonistin - eine poetologische Schlüsselfigur im Werk Nothombs dar: „[…] j’ai la chance d’adorer lire. […] De tout. Des romans, de la poésie, du théâtre, des contes. Je relis aussi; il y a des livres qui sont encore meilleurs à la relecture. J’ai lu soixante-quatre fois La Chartreuse de Parme: chaque lecture était plus excitante que la précédente.“ 184 Auf die Rückfrage ihrer entgeisterten Pflegerin („Comment peut-on vouloir lire soixante-quatre fois un roman? “ 185 ) gibt die junge Frau - raffiniert ‚naive‘ Literaturtheoretikerin, die auf ihrer kreativen Ko-Autorschaft als Leserin besteht („Le propre des grands livres est que chaque lecteur en est l’auteur“ 186 ) - eine Antwort, die lecture und passion assoziiert: „Si vous étiez très amoureuse, voudriez-vous ne passer qu’une nuit avec l’objet de votre passion? […] Le même texte ou le même désir peuvent donner lieu à tant de variations. Ce serait dommage de se limiter à une seule, surtout si la soixante-quatrième est la meilleure.“ 187 Françoise freilich langweilt sich, „[à] sa grande honte“, schon bei der ersten Lektüre der Chartreuse; 188 dennoch entspinnt sich nach einer langen Nacht mit Stendhal zwischen den beiden Frauen bereits eine erste ‚hermeneutische‘ Diskussion über den Text: „Comme La Chartreuse de Parme est un grand livre, il y eut même une dispute“ 189 - Kriterium literarischer Größe, dem auch die Princesse de Clèves, im 17. wie im 21. Jahrhundert, mit Bravour zu genügen vermag. Rasch entwickelt sich Hazels Zimmer zum improvisierten „salon des précieuses“, wie der Hausherr - stets als versteckt lauschender Dritter präsent - spottet: „[…] L’Astrée - ma parole, Hazel est sans doute la dernière personne qui lit encore Honoré d’Urfé! […]“. 190 Bei aller préciosité gewinnt das Verhältnis der beiden Leserinnen zusehends auch an sinnlicher Intensität; Frisier-Rituale und Massagen geraten zu immer durchsichtiger sublimierten kleinen Liebesakten („Voyons, Hazel, imaginez que quelqu’un nous entende, il 180 Vgl. Nothomb 2003b: 116. 181 Vgl. ibid.: 11ff. 182 Ibid.: 180. 183 Ibid.: 129. 184 Ibid.: 83. 185 Ibid. 186 Ibid.: 105. 187 Ibid.: 83. 188 Ibid.: 86f. 189 Ibid.: 101. 190 Ibid.: 131. <?page no="430"?> 430 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb se poserait des questions…“, ermahnt Françoise ihren schönen Schützling, als dieser seiner „volupté“ allzu sonoren Ausdruck verleiht 191 ). Nach diversen missglückten Versuchen, Hazel aus dem düsteren Schloss wie aus der Lügengeschichte, in die der Hausherr sie eingesponnen hat, zu befreien, landet Françoise als Gefangene in einem Zimmer, das nur über „une fenêtre, située à une hauteur inaccessible“ verfügt. „Nous allons voir à quel point la littérature a un pouvoir subtil, libérateur et salvateur […]“: An diesem Punkt wird die bislang metaphorische Rede vom Befreiungspotential der Literatur beim Wort genommen. 192 Dringlich fleht „la prisonnière de la chambre cramoisie“ darum, doch wenigstens - und zwar exzessiv - lesen zu dürfen: „Donnez-moi tous les titres que vous pourrez. Je suis en train de découvrir le pouvoir libérateur de la littérature: je ne serais plus capable de m’en passer.“ 193 Mit einem vielversprechenden Berg von Büchern ausgerüstet, startet sie ihr literarisches Evasionsprojekt; in einer als ironische mise en abyme lesbaren Schlüsselpassage macht Françoise sich an ihren persönlichen intertextuellen Turmbau zu Mortes-Frontières, bestehend eben aus jenen Werken, die im Roman gelesen und teils hitzig diskutiert werden. In die extravagante Architektur ihrer ‚anachronistischen Treppe‘ in die Freiheit schwindelt Nothomb - ihrem Markenzeichen treu - zwischen allerlei realen literarhistorischen Bausteinen auch „les contes élisabéthains“ einer gewissen „lady Amelia Northumb“: Alors, ainsi qu’elle l’avait prévu, elle utilisa les livres. Elle commença par les plus larges et épais pour obtenir une assise stable sur la chaise: les œuvres complètes de Victor Hugo furent un matériau de premier choix. Elle continua par des compilations de poésies baroques, rendant grâce à Agrippa d’Aubigné. Après Clélie de la Scudéry vint Maupassant, sans que la maçonne se rendît compte de l’énormité d’un tel rapprochement. L’escalier anachronique comporta ensuite saint François de Sales, Taine, Villon, Madame de Staël et Madame de La Fayette (elle pensait avec plaisir au bonheur de ces deux dames à particule à se voir ainsi réunies[)], les Lettres de la religieuse portugaise, Honoré d’Urfé, Flaubert, Cervantès, le Genji monogatari, Nerval, les contes élisabéthains de lady Amelia Northumb, les Provinciales de Pascal, Swift et Baudelaire - tout ce qu’une jeune fille du début de ce siècle, cultivée, sensible et impressionnable, se devait d’entrouvrir. Il lui manquait juste un ou deux volumes pour parvenir à la fenêtre. Elle se rappela avoir laissé La Chartreuse de Parme et Carmilla dans le tiroir de la commode. La tour livresque atteignit alors la hauteur requise. „Et maintenant, si la pile s’écroule, c’est qu’il n’y a rien à espérer de la littérature“, se dit-elle. 194 Die poetologisch symbolträchtige Flucht über diesen eklektischen Turm erfolgreich angeeigneter fremder Texte gelingt. Erleichtert findet Françoise sich draußen wieder - und schreitet zur Erlösung Hazels, zunächst gegen deren Widerstand („Vous me faites le coup de Fabrice del Dongo: vous aimez votre cachot“, wirft sie der sich Sträubenden vor 195 ). Tatsächlich erzählt Mercure eine mehrfache Befreiungsgeschichte: Françoise kämpft nicht nur gegen die repressive männliche Autorität Omer Loncours’, sondern mindestens ebenso sehr gegen die Komplizenschaft Hazels, die, anderweitig routinierte Text-Exegetin, dem 191 Ibid.: 95. 192 Ibid.: 133. 193 Ibid.: 129f. 194 Ibid.: 133f. 195 Ibid.: 142. <?page no="431"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 431 chauvinistischen Narrativ der Passion - im Spiel mit dem etablierten Topos auch hier als „maladie“ metaphorisiert 196 -, in dem sie gefangen gehalten wird, bemerkenswert unkritisch gegenübersteht. Ihre Treue gegenüber ihrem vermeintlichen „bienfaiteur“, 197 manipulativer ‚Liebhaber‘ und Gefängniswärter, ihre Dankbarkeit für „un si grand amour“, 198 ja Bewunderung für seine „crimes d’amour“ schlägt erst in Hass um, als sie erfährt, dass diese ganze - trotz allem narzisstisch schmeichelhafte - angeblich exklusive und einzigartige große Passion nichts als Plagiat, sie selbst nur das Surrogat einer mythischen ersten Geliebten ist: „Si je ne suis qu’une répétition, alors oui, je vous en veux et je vous déteste.“ 199 (An dieser Stelle schließt sich ein weiterer literarischer Kreislauf, in dem eine durch und durch intertextualisierte Protagonistin gegen ihr Schicksal als ewige Kopie rebelliert - und noch dabei dem Zitat verhaftet bleibt.) Wie der Hausherr in seinen eigenen monströsen „confessions“ bekennt, 200 ist Hazel die zweite junge Schönheit, die er mit dem exakt gleichen Trick zur Gefangenen von Mortes- Frontières gemacht hat, um sie - so seine Rechtfertigung - vor dem Abstieg in die Trivialität einer Durchschnittsexistenz als reiche Ehefrau samt „comédie de l’adultère bourgeois“ zu bewahren 201 und nicht zuletzt ihren repos zu sichern („La tranquillité n’a pas de prix“ 202 ). „Grâce à moi, Adèle-Hazel a une vie de princesse romantique. Elle était faite pour ça, non pour devenir une reproductrice bourgeoise“, erklärt der finstere Hausherr, bereits Blaubart sui generis; doch sein Prinzessinnen-Mythos wird radikal demontiert: „Une femme a d’autres choix: il n’y a pas que les princesses romantiques et les reproductrices bourgeoises“, 203 wie die energische Françoise entgegnet. Zurück bleiben nach dem Suizid des Herrschers über Mortes-Frontières zwei befreite, der Männer (sämtlich „un peu cousus de fil blanc“ 204 ) und der heterosexuellen Passion überdrüssige Frauen („Hélas, il semblerait qu’au bout de quatre mois tous les hommes se mettent à se ressembler. […] J’imagine que l’amour, ce doit être autre chose“ 205 ) - und eine nun ihrerseits zum literarischen Turmbau aufgeforderte Leserin: Die auf diegetischer Ebene zwischen den Protagonistinnen erörterte Poetik der Lektüre als Ko-Autorschaft wird mit einer doppelten, der Rezipientin zur Auswahl und Ausgestaltung überlassenen „anticonclusion déroutante“ 206 in romanästhetische Praxis umgesetzt. 207 196 Ibid.: 76f. 197 Ibid.: 52. 198 Ibid.: 153. 199 Ibid.: 159. 200 Ibid.: 108. 201 Ibid.: 126. 202 Ibid.: 165. 203 Ibid.: 127f. 204 Ibid.: 39. 205 Ibid.: 38. 206 Hugueny-Léger 2015. 207 In der dazugehörigen Note de l’auteur legt Nothomb auf die Feststellung Wert, dieses ästhetische Verfahren sei nicht auf eine eventuelle „influence des univers interactifs qui sévissent aujourd’hui dans l’informatique et ailleurs“ zurückzuführen: „ces mondes me sont totalement étrangers“ (2003b: 171). Ein weiblicher Mikrokosmos voller Liebe und Literatur - ein wenig jener „salon des précieuses“, den der Capitaine missmutig sich herauskristallisieren sah - bleibt hier jedenfalls weitgehend intakt, sei <?page no="432"?> 432 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb Farbenrausch, Princesse-Couture und Gender-Clash: Zum Roman Barbe Bleue […] Et de quelque couleur que sa barbe puisse être, On a peine à juger qui des deux est le maître. 208 Qu’importait-il de donner à Monsieur de Nemours du bleu plutôt que du jaune? 209 Etwas ausführlicher soll vor diesem Hintergrund abschließend der bislang wohl stärkste Princesse de Clèves-Hypertext Nothombs in den Blick genommen werden: Auch wenn der Titel des 2012 erschienenen, in 46 Sprachen übersetzten Romans Barbe Bleue zunächst primär eine andere assoziative Richtung vorgibt, so schreibt Nothomb doch zugleich auch ihr Spiel mit dem - hier in ihre „transposition moderne“ 210 des in Literatur, Theater, Oper und Film unzählige Male variierten Perrault-Märchens 211 verwobenen - Lafayette’schen Prätext fort; 212 insofern illustriert gerade dieser Text ein weiteres Mal auch die multiple Anschlussfähigkeit der Princesse, 213 die beträchtliche transtextuelle und transfiktionale Mobilität ihrer eponymen Heldin, auch sie längst eine ‚fluktuierende‘ Figur. 214 es nun das Happy End eines ironischen Märchens („Il leur arriva bien des choses à chacune, mais elles ne se quittèrent jamais“; ibid.: 169) oder die letzte Liebesgeste im allerletzten Satz des Romans (ibid.: 189). 208 Perrault o. D.: 19 („Moralité“). 209 Valincour 2001: 53. 210 Cauwe 2012. In Riquet à la houppe experimentiert Nothomb aufs Neue mit dem Genre der Meta- Märchen-réécriture: Vor dem Horizont eines eklektischen inter- und intratextuellen Feuerwerks - von Tristan und Isolde samt „philtre“ (2016: 1457) und parodistisch-klassischem coup de foudre bis Balzac (vgl. ibid.: 1525), von Barbey d’Aurevillys Bonheur dans le crime (vgl. ibid.: 1506f.) über Baudelaire (vgl. ibid.: 1053ff.) bis zu ihrem eigenen Robert des noms propres - lässt sie nicht nur ihre Erzählinstanz allerlei poetologische Überlegungen über das Märchen mit seinem „statut étrange au sein de la littérature“ und seiner fundamentalen „ambiguïté“ (ibid.: 1497f.) im Allgemeinen sowie über Perraults Riquet, „petit conte délicieux“ (ibid.: 1356) mit seiner „exquise absence de morale“ (ibid.: 1364), im Speziellen anstellen, sondern setzt auch ihre Figuren als selbstreflexive Perrault-Leser (vgl. ibid.: 1355ff.) und Experten der hypertextuellen Kontamination in Szene: „Avez-vous lu Riquet à la Houppe? […] Ce n’est pas le seul conte de Perrault que vous m’évoquez“, erklärt Riquet-Reinkarnation Déodat seiner ‚Princesse‘ (ibid.: 1460ff.). 211 Im französischen Kontext ist hier vor allem Catherine Breillats raffiniert metaisierte filmische Barbe Bleue-Adaption (2009) von Interesse, auf die Nothombs Romanversion - nicht nur intertextuelles, sondern auch intermediales Verwirr- und Zitierspiel - wiederholt Bezug zu nehmen scheint, von den prachtvollen goldenen Gewändern des Protagonisten über das gemeinsame kulinarische Ritual des Ei- Verzehrs und die nächtliche Exkursion der jungen Frau in bzw. an die Schwelle von Blaubarts Schlafzimmer bis hin zur finalen Geste paradoxer Zärtlichkeit für einen bereits geköpften (Breillat) oder soeben sterbenden (Nothomb) Antihelden. Im Gegensatz zur klassischen Märchenversion entwickeln beide Protagonistinnen, auf ihre Weise extravagante Außenseiterinnen, im Lauf der Handlung durchaus ambivalente Gefühle für ihren makabren Gefährten, über dessen mörderische Aktivitäten sie sich längst im Klaren sind. Vgl. zu Breillat auch „Female curiosity and ‚Bluebeard‘ (2009)“ (2010). 212 Als eine der „Références culturelles majeures“ des Romans hat La Princesse de Clèves auch in den französischen Wikipedia-Eintrag zu Nothombs Barbe Bleue Eingang gefunden: Die fehldatierte Princesse („Roman de Madame de La Fayette publié en 1675“) wird in dieser Rubrik in bemerkenswerter diskursiver Gesellschaft neben „Inquisition espagnole“, „Trafic d’indulgence“ sowie „Hasselblad“ angeführt; vgl. URL: http: / / fr.wikipedia.org/ wiki/ Barbe-Bleue_(roman) [26.09.2016]. 213 Den intertextuellen (und konkret literarhistorischen) Bezug Lafayette-Perrault stellt bereits Didier in ihren Meditationen über die „magique irréalité“ der abgründigen Märchenwelt der Princesse her: <?page no="433"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 433 Der Lafayette-Bezug ist auf mehreren Levels präsent, nicht nur als gelehrte Referenz auf jenem der Romanproduktion; auch auf diegetischer Ebene - die jene der Textgenese gleichsam spiegelt - wird die Princesse im Zwiegespräch von vornherein literaturgeborener Protagonisten thematisiert, die in metaleptischer Geste ihre eigene intertextuelle Genealogie kritisch reflektieren. In diesem Punkt knüpft Barbe Bleue direkt an die Konstellation und die parodistisch mit Elementen des polar durchsetzte Struktur 215 von Hygiène de l’assassin an: Auch hier wird das hypertextuelle, in letzter Instanz mörderische Spiel mit der Aushandlung literarischer (bzw. fotografischer) Interpretationshoheit zwischen einem bis zur Karikatur anachronistischen männlichen Protagonisten und einer scharfsichtigen wie -züngigen jungen weiblichen Kontrahentin - in tieferem Sinne als komplementäre Kontrast-Inkarnationen ein und derselben Figur lesbar 216 - fortgesponnen. Wie fügt sich die Princesse in ein parodistisches postmodernes Blaubart-Narrativ? Am Beginn steht auch hier das Pariser Debüt einer attraktiven jungen Frau: Saturnine Puissant (Nothomb, Adeptin des Robert des noms propres nicht nur im gleichnamigen Roman, bleibt ihrer Präferenz für möglichst ausgefallene - und wiederum auf diegetischer Ebene diskutierte 217 - Namen treu) reist freilich nicht als Heiratsaspirantin unter Aufsicht ihrer Mutter an, sondern als Gastdozentin an der École du Louvre. Die Handlung wird zwar in der Gegenwart situiert (streng zeitgenössisch zum Publikationsjahr 2012: die am 1. Jänner 1987 geborene Heldin ist aktuell fünfundzwanzig Jahre alt 218 ); doch Saturnines Pariser Abenteuer gerät zur extravaganten Zeitreise. Als Untermieterin - die poetologische Metapher der Chambres d’hôtes wird uns im Zusammenhang mit Stéphane Denis’ Roman noch ausführlicher beschäftigen - zieht sie in die luxuriöse Residenz eines ‚Blaubart‘-Wiedergängers ein, lebendiger Mythos, 219 dem seine Reputation bereits vorauseilt und dessen Immobilien-Annonce en masse weitere voyeuristisch-sensationslüsterne WG-Anwärterinnen zum re-interpretierten Brautwerbungs- Event anlockt. Ausgewählt wird die ebenso hübsche wie als Neuankömmling in Paris uninformierte Saturnine, in ihrer Naivität bzw. intertextuellen ‚Unbewusstheit‘ („N’êtes-vous pas au courant de la réputation du maître des lieux? […] Les gens sont au courant, à part vous. Vous êtes étrangère? “ 220 ) einzig geeignete Kandidatin für das bevorstehende Recycling des Barbe Bleue-Plots. „Cette cour d’Henri II est une cour de contes de fées […] C’est un peu le début d’un conte de Perrault - ce Perrault qui justement défendait La Princesse de Clèves, dans le camp des Modernes. […] Comme dans le conte de fées, nous sommes sur le mode superlatif“ (1981: 81f.). 214 Vgl. Eco 2011: 93ff. 215 Zum metaliterarischen Spiel mit parodistisch verfremdeten Elementen des Krimi-Genres bei Nothomb, deren Romane sich nicht zuletzt „[d]ans la lignée des ‚anti-polars‘ des nouveaux romanciers“ situieren, vgl. Hugueny-Léger 2015 sowie 2014. 216 So hebt Demoulin (o. D.) „cette fausse dualité renvoyant à une seule personne“ als Charakteristikum der Romane Nothombs hervor. 217 Nothomb 2012: 77f., 169. 218 Vgl. ibid.: 41. 219 Die Protagonistin assoziiert diesen ins Jahr 2012 verirrten Blaubart zu dessen größter Empörung („Comment osez-vous me comparer à ce grossier Tudor? “) u. a. mit „Henri VIII“ (ibid.: 132); auch hier ergibt sich - über die tragische Ehegeschichte der Anne Boleyn, im Rahmen der dritten jener berühmten Lafayette’schen Digressionen der Reine Dauphine mit Mme de Clèves als Adressatin in den Mund gelegt - eine subtile Querverbindung zur Princesse de Clèves (2014c: 386ff.). 220 Nothomb 2012: 9f. <?page no="434"?> 434 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb En miniature und historisch dekontextualisiert spiegelt sich das höfische Dispositiv Lafayettes in dem gleichfalls quasi-hermetisch geschlossenen Mikrokosmos der Behausung dieses neuen Blaubart wider, „logement pharaonique“, 221 den dieser, seinem Ideal einer „existence autarcique“ treu, 222 nach eigener Erklärung „depuis vingt ans“ nicht mehr verlassen hat („Le monde extérieur me choque par sa vulgarité et son ennui“ 223 ). Von Anfang an wird hier eine traditionelle Topografie der Geschlechter invertiert: Im Gegensatz zur jungen Protagonistin, die sich unbefangen und souverän durch unterschiedliche geografische und soziale Räume bewegt, erscheint der männliche Antiheld als (halb) freiwilliger Gefangener seines noblen huis clos 224 - romaneske Bühne, auf der ein Stück große Geschichte (und Geschlechtergeschichte) nachgespielt wird. 225 Mit Don Elemirio Nibal y Milcar inszeniert Nothomb einen Blaubart ohne nennenswerten Bart, jedoch mit tiefblauem Blut (das auf dem Messer der Protagonistin in unmetaphorischem Karminrot glänzt 226 ); in der radikal anachronistischen Gestalt dieses depressiven Barbe Bleue, dem sein Bart - magisches Märchenwie Maskulinitäts-Attribut - längst abhandengekommen zu sein scheint (kein einziges Mal ist im Roman jedenfalls von einem solchen die Rede), 227 konzentriert sich zugleich die Melancholie der postmodernen réécriture. In einer - wie bei Nothomb üblich - kontrastiv überspitzten Figurenkonstellation trifft dieser schon mangels einer genealogisch halbwegs ebenbürtigen Partnerin („Toute union serait une mésalliance“) Junggeselle gebliebene Nachfahre einer angeblich „des Carthaginois et du Christ“ abstammenden hyper-elitären und hyper-katholischen Dynastie spanischer Granden, 228 „un archaïquissime personnage, comme elle [Nothomb] seule sait les inventer“, 229 seinerseits - 221 Ibid.: 82. 222 Ibid.: 89. 223 Ibid.: 22. 224 Auf diese Metapher rekurriert Nothomb selbst in ihrem Kommentar zu Barbe Bleue als exemplarischer Neuauflage ihrer in einem romanesken huis clos sich entfaltenden Kunst als mittlerweile vielfach erprobte „dialoguiste“: „Quand j’écris des dialogues, c’est toujours un espace clos […] C’est un ring de boxe“ (Jourdan 2014). 225 Im Unterschied zu Marie Darrieussecqs Clèves ist Barbe Bleue kein expliziter „roman de classes“ (vgl. Barnett 2011) - und doch besitzt auch Nothombs Konfrontation des spanischen Granden und der bürgerlich-belgischen Neo-Princesse eine parodistische soziale Dimension. Trotz aller Vorbehalte erweist Saturnine sich als überaus empfänglich für aristokratischen Komfort wie opulente Sinnlichkeit von Don Elemirios anachronistischer Gegenwelt; befriedigt konstatiert sie, frisch übersiedelt, vor dem Spiegel, dass sie zum ersten Mal seit ihrer Abreise aus Belgien nicht mehr „ce qu’elle nommait sa ‚tête exténuée de banlieusarde‘“ hat: „[…] un air de douceur qu’elle ne se connaissait pas éclairait son visage“ (2012: 35f.). Voll herablassender „perplexité“ betrachtet der Hausherr ihre allzu proletarische „amie d’enfance“, Euro-Disney-Angestellte mit dem intertextuell implikationsreichen Namen Corinne, die eines Tages - zugleich eingeschüchterter („tout la sidérait, tout l’effrayait“) und dreister („Je peux voler une soucoupe? “), jedenfalls völlig deplatzierter Gast - in seiner Residenz auftaucht (ibid.: 64ff.). 226 Ibid.: 128. 227 Bei der ersten Begegnung erblickt die Heldin hinter einem „bureau gigantesque, orné d’admirables fleurs mortes“ einen Mann mittleren Alters („j’ai quarante-quatre ans“, wie ihr höfliches Gegenüber präzisiert), an dem ihr zunächst lediglich „l’air d’un dépressif profond, le regard éteint et la voix épuisée“ auffällt (ibid.: 13). Erst später befindet Saturnine, von einem verzögerten coup de foudre getroffen, den schlafenden Elemirio zum ersten Mal für „beau“ (ibid.: 124). 228 Ibid.: 28f. 229 Brigaudeau 2012a. <?page no="435"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 435 wie einst die Princesse Lafayettes - ganz und gar ‚improbable‘ Figur, 230 auf Saturnine als selbstbewusste Repräsentantin doppelt emanzipierter Bürgerlichkeit. Der unausweichliche Clash der Klassen und der Jahrhunderte gewinnt insofern eine parodistische ethnokulturelle Zusatzdimension, als Nothomb hier zwei Fremde in Paris - Elemirio als stolzen Spanier („[…] je suis né en France et pourtant, vous ne trouverez pas plus espagnol, à part le Christ“ 231 ) und Saturnine als „obscure roturière belge“, 232 die sich in die bunte Gesellschaft romanesker Alter Egos der aristokratischen Autorin einreiht - konfrontiert. Auch dieser Text setzt ironisch auf eine gewisse belgische ‚Exotik‘, generell nicht unwesentlicher Bestandteil der vor allem auf einem und für einen französischen literarischen Markt konstruierten ‚Marke‘ Amélie Nothomb. Schon während sie gemeinsam mit den anderen Untermiet- Interessentinnen auf Einlass in die mysteriösen Gemächer Blaubarts wartet, spielt Saturnine mit ihrem karikatural hypertrophierten Außenseiterstatus: Elle en avait assez de la sempiternelle réaction („Oh! J’ai un ami belge qui…“): elle n’était pas une amie belge, elle était belge et ne voulait pas devenir l’amie de cette personne. Elle répondit: - Je suis kazakhe. - Pardon? - Je viens du Kazakhstan. Vous savez, les cosaques, les plus farouches guerriers du monde. Nous tuons dès que nous nous ennuyons. La femme n’ouvrit plus la bouche. 233 In der Folge liefern sich die beiden Protagonisten immer wieder den einen oder anderen kleinen ‚imagologischen‘ Schlagabtausch: 234 - Quel pays barbare que le vôtre! - Tout le monde ne peut pas venir de la nation du tribunal de la Sainte Inquisition. 235 Ist Saturnine mit ihrem von gelegentlichen ‚belgicismes‘ durchsetzten Diskurs 236 also „une étrangère“ in Paris (sogleich deklariert sie ihre Intention, dies jedenfalls in der Welt Elemirios auch zu bleiben 237 ), so erweist sich ihr neuer Quartiergeber als Alien in der zeitgenössischen Gesellschaft überhaupt (auf Saturnines scherzhafte Frage, ob er jemals in Erwägung gezogen haben, einen anderen Planeten aufzusuchen, gesteht Don Elemirio, „pour des raisons physiologiques“ an den Aufnahmetests der NASA gescheitert zu sein 238 ). Bereits in diversen Lafayette-réécritures aus dem 20. Jahrhundert spiegelt sich die Aushöhlung aristokratischer Lebenswelten und Wertesysteme wider (in Raymond Radiguets Le Bal du comte d’Orgel ebenso wie in Louise de Vilmorins Madame de); in Nothombs Roman sind Selbstverständnis 230 Vgl. Payot 2012. 231 Nothomb 2012: 29f. 232 Ibid.: 26. 233 Ibid.: 10f. 234 „Le Christ a le comportement le plus espagnol du monde. C’est don Quichotte, en mieux. Et vous ne nierez pas que Quichotte est archi-espagnol. […] Le Christ a inventé l’Espagne. C’est pourquoi les Nibal y Milcar sont les champions du christianisme“, erklärt Elemirio seiner verblüfften neuen Mitbewohnerin (ibid.: 30). 235 Ibid.: 38. 236 Vgl. ibid.: 38, 67. 237 Ibid.: 41. 238 Ibid.: 27. <?page no="436"?> 436 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb und -inszenierung des altadligen Protagonisten längst zur völlig absurden anachronistischen Fassade geworden, die die Heldin spöttisch demontiert. Dieser melancholisch-snobistische Blaubart - der sich bei allem grotesken Standesdünkel („Mon drame, c’est que je suis l’homme le plus noble du monde“ 239 ) seiner totalen persönlichen Mediokrität auf ganzer Linie bewusst ist: in parodistischem Modus wird hier die historische und kulturelle Rekonfiguration des Subjekts reflektiert - erscheint von vornherein als abstruser Zeitreisender mit gleichsam freischwebendem Habitus; obsessiver Semiotiker, einem sinnentleerten Ideal der Grandezza um ihrer selbst willen verpflichtet, spielt er bis ins letzte Detail die Rolle eines in postmodernem Kontext hoffnungslos deplatzierten honnête homme nach. Wenn er sich im beinahe karnevalesken langen weißen Nachtgewand - „comme les hommes du passé“ - zur Ruhe begibt, 240 nimmt dieser Antiheld, erbitterter Gegner seiner Zeit, bevorzugt Lullus’ Ars magna als Lieblingslektüre mit („Personnellement, je préfère le lire en latin“ 241 ); das Repertoire seiner literarischen Präferenzen umfasst aber auch zumindest jene „classiques français […] dont les héros revêtent la fraise, symbole du génie espagnol“ 242 (darunter La Princesse de Clèves). Während Don Elemirio, „catholique jusqu’aux dents“ 243 und „nostalgique de l’Inquisition“, 244 nach wie vor einen finanztechnisch leicht aktualisierten „trafic des indulgences“ kultiviert, 245 versteht es sich von selbst, dass moderne Medientechnik aus dieser minutiös rekonstruierten Privatwelt von vor-vor-vorgestern verbannt ist: - Vous n’avez jamais entendu parler de photo numérique? - Qu’est-ce donc? - Après tout, vous vivez très bien cette ignorance. Possédez-vous un ordinateur? - Non. - Un téléphone cellulaire? - Pour quoi faire? Je ne sors jamais. - Vous écoutez la musique sur quel support? - La collection de 33-tours des Nibal y Milcar est en parfait état. - Notez que ça revient à la mode. Regardez-vous des DVD? - Mes parents avaient un téléviseur. Je l’ai conservé. L’appareil est un support idéal pour ma collection de Vierges de Salamanque. 246 In diesen exquisit-anachronistischen Mikrokosmos - so anachronistisch, dass manche Elemente daraus im Zyklus des ewig ‚Neuen‘ 247 schon wieder modern werden - schickt Nothomb ihre bürgerliche Protagonistin, ausgestattet mit auch in poetologischer Hinsicht alles andere als unschuldiger professioneller visueller Kompetenz: Diese postmoderne Princesse sieht nicht in ratloser Komplizenschaft den Diebstahl ihres Porträts mit an, sondern verteidigt mit Verve ihr Recht auf ihr eigenes Konterfei; konsequent widersteht sie allen Versuchen ihres Gegenübers, sie mit Hilfe ambivalenter Komplimente („Vous êtes belle comme une créature de 239 Ibid.: 26. 240 Ibid.: 124. 241 Ibid.: 140. 242 Ibid.: 111. 243 Ibid.: 103. 244 Brigaudeau 2012a. 245 Nothomb 2012: 28. 246 Ibid.: 118f. 247 Zur ‚Kulturökonomie‘ des Neuen vgl. Groys 1999. <?page no="437"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 437 Khnopff. Je vous imagine pourvue d’un corps de guépard“ 248 ) und seiner ominösen Kamera auf ein dekoratives Objekt männlichen Blicks und Begehrens zu reduzieren. In Wort und Bild entwickelt sich zwischen den denkbar ungleichen Hauptfiguren ein Miniaturkrieg der Geschlechter, der in dramatisierten geschliffenen Dialogen - über weite Strecken unter Verzicht auf jegliche Verba dicendi - ausgefochten wird. 249 Auch diese Protagonistin, als Avatar eines rekurrenten Prototyps der Nothomb-Heldin mit kristalliner Eloquenz gesegnet, rückt nicht nur ihrem männlichen Kontrahenten mit messerscharfer Zunge (und bei Bedarf nicht minder scharfem Küchenmesser) zur Sprache bzw. zu Leibe, sondern fungiert im Text auch als verlässliche Produzentin ziselierter Sentences et maximes auf den Spuren des bei Gelegenheit auch explizit zitierten La Rochefoucauld. 250 Doch auch Lafayette als literarische Gefährtin des „Maximenherzog[s]“ 251 ist - neben anderen klassischen Referenzen, mit denen Nothomb ihren Roman interpunktiert 252 - hier nicht weit. „La princesse de Clèves et [S]aturnine ont une couleur en commun, laquelle? “, lautet Frage Nr. 6 in einem Online-Quiz zu Barbe Bleue. 253 Der Protagonist des Märchens wird - im Rahmen eines bei Nothomb von Roman zu Roman fortgesetzten Spiels mit der Metapher 254 - beim stets doppelbödigen Wort resp. beim (fehlenden) blauen Bart genommen: Zwischen Barbe Bleue und der Princesse entfaltet sich in diesem (Anti-)Liebesroman eine extravagante Farb-Phantasmagorie. Schon beim ersten gemeinsamen Diner führt Don Elemirio seine junge Mitbewohnerin in seine idiosynkratische Farbenlehre ein; ihre chromatische Sensibilität bringt Saturnine, „figée d’éblouissement“ vor den kulinarischen Farbenwundern in Elemirios Luxusküche, 255 sogleich nicht unbedingt willkommene enthusiastische Liebesbeteuerungen des Hausherrn ein - weitere Variation der Nothomb’schen Szene des coup de foudre bzw. des asymmetrischen „coup de foudre à retardement“, der hier zwar abseits von Juwelierladen und Hofball, jedoch nicht minder funkelnd mitten zwischen kostbarem Goldgeschirr und üppigen gelben Delikatessen einschlägt: „Don Elemirio s’éprit de Saturnine quand il la découvrit sensible à l’alliage du jaune et de l’or. On peut comprendre l’irritation de la jeune 248 Nothomb 2012: 42. 249 Von der Kritik wurde Barbe Bleue als weitere Illustration der Nothomb’schen Technik des mit der eigenen Brillanz kokettierenden Dialogs gemischt aufgenommen; würdigt etwa Brigaudeau auch an diesem Roman „l’écriture fluide“ samt „dialogue au rasoir et joutes verbales“ und „formules fulgurantes qui rachètent la sécheresse conceptuelle“ (2012a), so moniert Cauwe (2012) eine längst zum Kunstgriff stereotypisierte Dialoglastigkeit. 250 „Les femmes sont meilleures ou pires que les hommes. C’est La Rochefoucauld qui l’a écrit“ (Nothomb 2012: 54). 251 Köhler 2006: 75. 252 So scheint hinter den Ausführungen des Protagonisten über die Raffinessen jener „géographie amoureuse qui vaut les cartographies guerrières“ (Nothomb 2012: 91) transparent genug die prätextuelle Folie der bei Nothomb wiederholt zitierten Carte de Tendre durch. 253 URL: http: / / www.babelio.com/ quiz/ 5277/ Barbe-bleue-dapres-Amelie-Nothomb. 254 „Je n’aime pas les métaphores“, erklärt bereits die Ich-Erzählerin in Le Sabotage amoureux - und schreitet gleich darauf fröhlich via Praeteritio zu einer metaphorischen Winter-Meditation: „Aussi ne dirai-je pas que la neige citadine est une métaphore de la vie“ (2001a: 98). Als Objekt rhetorischer Hass-Liebe wird die poetologisch aufgeladene Schnee-Metapher hemmungslos weiter durch den Text ausgesponnen: „La neige, premier papier de l’Histoire […] De ce bouquin kilométrique et inachevé, qui pourrait s’intituler Le Plus Vaste Livre du monde, il ne nous est resté aucun fragment - c’est le contraire de la bibliothèque d’Alexandrie: tous les textes ont fondu“ (ibid.: 104). 255 Nothomb 2012: 32. <?page no="438"?> 438 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb femme: l’aimer pour cela? Pour le coup, l’Espagnol n’y était pour rien. Les causalités amoureuses sont byzantines.“ 256 Gelb ist die Farbe nicht nur der Princesse - ex negativo: mit Bedauern stellt Mme de Clèves bekanntlich fest, als Blondine gerade kein Gelb tragen zu können -, sondern auch jene Saturnines, die, weit von der Farb- und sonstigen Abstinenz ihrer Vorgängerin entfernt, genießerisch in allen erdenklichen Nuancen eines höchst sinnlich erfahrenen Spektrums von Gelb schwelgt, vom goldgelb prickelnden Champagner - synästhetische Ekstase: „Du velours doré. Incroyable“ 257 - und den (doppelt) erlesenen gelben Speisen, mit denen ihr anachronistischer Kavalier sie bewirtet, bis zu den edlen gelben Textilien, die er ihr auf den Leib schneidert. 258 Gelb ist in Barbe Bleue die Farbe der präresp. paraerotischen Sinneslust, in kulinarischer wie textiler Form. Gelb, „la couleur la plus subtile“, „la couleur métaphysique par excellence“, 259 ist aber auch die Farbe jener persönlichen Recherche de l’absolu, von der der Hausherr seinem Gast euphorisch berichtet. Don Elemirio erläutert seine Farbenlehre unter Berufung auf eine fachspezifische Koryphäe namens „Amélie Casus Belli“, in deren elaborierter „taxonomie“ („Amélie Casus Belli distingue 86 jaunes, tous nommés“) 260 er trotz allem eine Lücke ausmacht - jenes ‚asymptotische‘ Gelb, chimärische, wie das Gelb der Princesse ‚negative‘ Farbe, der er als melancholischer, in die Postmoderne verirrter Nemours in geduldigen Experimenten die materielle Manifestation abzuringen versucht: Pour vous, j’ai inventé le 87 e jaune […]. Je l’ai créé par ce procédé mathématique appelé asymptote. Une couleur est une courbe, l’asymptote est la droite qui s’en rapproche le plus. C’est ainsi que dans mon nuancier intime, j’ai forgé le jaune asymptotique. Un tel jaune relève de la métaphysique: c’est un miracle que j’ai réussi à fixer. La diaprure de l’acétate se prêtait à la matérialisation de ce jaune. „J’aurais dû parier, pensa Saturnine. Il n’a rien compris. Il s’emballe sur son jaune comme un furieux.“ - C’est fascinant, dit-elle poliment. 261 Über dieses metaphysische Gelb, ambivalent wie die Schönheit selbst („La beauté est un concept aussi ambigu que le jaune“, erklärt Elemirio 262 ), wird explizit der Bezug zur Princesse 256 Ibid.: 95. 257 Ibid.: 78. 258 Chevillot konstatiert „striking contrasts“ bzw. „two possible extremes“ in Nothombs Darstellung männlicher Figuren, „more vile, violent, and rather ‚hyper-masculine‘ the more imaginary and fictitious they are and, conversely, more sweet, subdued, and somewhat ‚effeminate‘ the more they are autobiographically inspired“ (2011: 194). Der dezidiert fiktive, indirekt mörderische, doch dabei paradox sanfte, melancholische und mit allerlei traditionell ‚femininen‘ Talenten (cuisine wie couture) ausgestattete Protagonist aus Barbe Bleue transzendiert die hier auf Basis eines von Hygiène de l’assassin bis Ni d’Ève ni d’Adam reichenden Corpus etablierte Dichotomie literarischer Männlichkeit. 259 Nothomb 2012: 110, 154. 260 Ibid.: 110. Ein weiteres Mal schmuggelt Nothomb durch eine ‚gelehrte‘ pseudo-intertextuelle Hintertür ein fiktives Alter Ego samt nicht minder fiktivem Œuvre in den Text ein. 261 Ibid.: 110f. Den ironischen intratextuellen Kommentar zu diesen Reflexionen über die Chromo- Psychopathologie eines rettungslos der Farbe Gelb verfallenen Blaubart liefert eine Passage aus Péplum: Wie der Führer der zeitreisenden Erzählerin durch die Welt der Zukunft zu berichten weiß, wurden im Jahr 2248 die außerordentlichen Qualitäten des Safran entdeckt, dessen „propriétés souveraines dans le traitement des maladies mentales“ seither erfolgreich medizinisch genützt werden (2002a: 87). 262 Nothomb 2012: 109. <?page no="439"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 439 etabliert: „Savez-vous que le jaune est la couleur de la princesse de Clèves? “ 263 An dieser Stelle wird Elemirio ein kurzes, auch poetologisch als Parabel der Dynamik kreativer Fort- und Umschreibung lesbares Resümee der Turnierszene wie der nächtlichen Szene in Coulommiers in den Mund gelegt: Bref, le duc de Nemours porte les couleurs de la princesse de Clèves, et c’est ainsi qu’elle se sait aimée de lui. Plus loin, Nemours l’observe, dans sa chambre, en train de nouer des rubans de ce même jaune autour de la canne qu’elle lui a subtilisée. Ce qui est formidable, c’est qu’il trouve aussitôt la traduction exacte de son comportement: elle est amoureuse de lui. Je suis persuadé qu’il s’agit du jaune asymptotique que je viens de réinventer. „Peut-être a-t-il compris, finalement“, pensa-t-elle. 264 Eben im Anschluss an seine Reflexion über die Princesse und sein ‚asymptotisches‘ Gelb, das er paraphrasierend in den Lafayette’schen Text projiziert, assoziiert Elemirio, um die Differenzierung unterschiedlicher Realitäts-/ Fiktionsebenen unbesorgter Grenzgänger zwischen den Welten, sein diegetisch reales weibliches Gegenüber Saturnine mit der Protagonistin Lafayettes - worauf jene unter dem höflichen prétexte der Müdigkeit Reißaus nimmt: - Vous n’êtes pas si différente, à votre manière, de la princesse de Clèves, conclut-il. Le terrain était miné. Saturnine prétexta la fatigue pour filer à l’anglaise. 265 Nothombs Heldin verweigert sich der doppelbödigen Einladung, ihrerseits eine subtile diegetische Trennlinie zu überschreiten und ihren Part in einem fertigen Narrativ zu spielen; in diesem literarischen Experiment werden derart ein weiteres Mal, nunmehr in eklektischpostmodernem Kontext, die Schlüsselfragen der Princesse - Fatalität und Freiheit, die Autorität der Protagonistin über ihre eigene Lebensgeschichte (etc.) - verhandelt: Von der Immobilien- Annonce, mit der dieser Blaubart weniger eine Untermieterin denn eine neue „femme idéale“ 266 für seine private Inszenierung sucht, bis zum Casting als potentielle Neo-Princesse de Clèves sieht Saturnine sich gleich mit einer ganzen Sequenz heterogener Prätexte konfrontiert, die ihr jeweils einen bestimmten konkreten und metaphorischen Raum, eine bestimmte Rolle vorschreiben. Wie in Hygiène de l’assassin oder auch in Mercure erprobt sich hier ein männlicher Antiheld als auktorialer Demiurg: „[…] je vous inventerai“, kündigt Elemirio ohne Umschweife an; eine megalomanische Mission, an die eine nach wie vor selbst- und widerständige Saturnine ihn im rituellen rhetorischen Schlagabtausch spöttisch erinnert: „Vous étiez censé m’inventer.“ 267 263 Ibid.: 111. 264 Ibid. 265 Ibid. 266 „La colocataire est la femme idéale. Enfin, presque“ (ibid.: 85). 267 Ibid.: 41f. <?page no="440"?> 440 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb *** Auch wenn sie sich schließlich - auf den Spuren der Princesse de Clèves, freilich brachialer als diese - aus einem möglichen Passionsnarrativ zurückziehen wird, ist Saturnine gegen die Verführungen der anachronistischen Welt Elemirios nicht immun; vorübergehend lässt sie sich auf ein hoch ambivalentes (Liebes-)Spiel mit dem klassischen Prätext ein. Der Prince de Clèves - oder der Duc de Nemours: beide Rollen übernimmt Don Elemirio sukzessive gegenüber Saturnine - als Couturier: In den Augen bzw. unter den Händen des Protagonisten, überzeugt, mit seinen Farb-Experimenten die Geschichte der Princesse de Clèves selbst fortzuschreiben, das Original mit seiner chromatologischen Methode exakt rekreiert zu haben, gerät jenes „jaune asymptotique“ zur metaleptischen, nicht nur zwischen den Epochen, sondern auch zwischen unterschiedlichen diegetischen Ebenen irrlichternden Farbe. Elemirio designt für seine Princesse ein gelbes Prachtgewand - und konstatiert befriedigt seinen temporären Triumph, als Saturnine das für sie vorgesehene Stück Text/ il bereitwillig anlegt: „[…] ma victoire de ce soir, c’est que vous portiez la jupe. Même si cela n’a sûrement pas pour vous le sens que cela a pour moi.“ 268 In der hier entfalteten Motivik wird auch jener textile Faden fortgesponnen, der sich schon durch Lafayettes Princesse zieht. 269 Unter fein raschelnder Inversion traditioneller Genderrollen ist es Saturnine, die in ihrer vom Hausherrn fabrizierten goldgelben „‚jupe champagne‘“ samt schwarzer Corsage und schwarzen Stiefeletten 270 nicht nur den schwarzgelben „contraste physiologique maximal de la rétine humaine“ 271 repräsentiert, sondern vor allem auch selbst in den Symbolfarben Nemours’ zur Fortsetzung des rhetorischamourösen Turniers mit ihrem aristokratischen Kontrahenten antritt - und kurz darauf (in parodistischer Umkehr der nächtlichen Pavillon-Szene von Coulommiers) Elemirio in seinem Schlafzimmer überrascht, ihn nach einem Augenblick amouröser Kontemplation „sans douceur“ weckt und mit dem Fleischmesser in der Hand - ambivalente Liebesgeste: „Saturnine prit son visage dans ses mains“ - zur Enthüllung seines Geheimnisses schreitet. „On dirait que vous m’avez fait perdre mon pucelage“, schwärmt ein exaltierter, sich gehorsam selbst feminisierender Blaubart angesichts der Blutspur auf der Klinge: „Carmin et argenté: le deuxième alliage de couleurs dans l’ordre de mes préférences.“ 272 Neben Farben und Prachtkleidern wird die hypertextuelle Verbindung zum klassischen Roman über ein weiteres symbolträchtiges Schlüsselmotiv fortgesponnen. In seiner Lafayette- Paraphrase eskamotiert Don Elemirio, seiner Farb-Obsession treu, dezent ein anderes essen- 268 Ibid.: 94. Mit feinen gelben Farb-Elementen bzw. -Accessoires (Haarband, Gürtel, Saum des Kleides) stattet bereits Marie Laurencin die zentrale, in symbolträchtiges Weiß gekleidete Frauenfigur ihres Gruppenporträts zur Princesse de Clèves (1941) aus. 269 So analysiert Horowitz die spezielle Rolle der Seide, „the very stuff of the book’s most haunting passages“, in mehreren Schlüsselszenen des Romans - bis hin zur auch über dieses Motiv vermittelten finalen Selbst-Autorisierung der Protagonistin: „It is silk that marks the capital scene of the tournament […], as each courtier displays through that fabric the encoded colors of his beloved; and it is with silk ribbons that the princess dreamily decorates Nemours’s India cane at Coulommiers. […] We should not be surprised, therefore, given this spiraling structure of imitation, that the silk artisan’s production gives rise to a desire on the part of the princess to re-create his work“ (1998: 124). 270 Nothomb 2012: 79ff. 271 Ibid.: 154. 272 Ibid.: 124ff. <?page no="441"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 441 tielles Element der Coulommiers-Szene: jenes Gemälde des „Siège de Metz“, das unter anderem Nemours zeigt und vor dem Mme de Clèves sich ihren amourösen Träumereien hingibt. 273 Nicht zufällig wohl lässt Elemirio, Herrscher über eine makabre Porträtgalerie, eben die ‚Bilder‘ aus dem Text Lafayettes verschwinden; erscheint - in einem insgesamt als mindestens doppelte kreative réécriture angelegten Roman - eine poetologische Lesart besagter Passage nicht unplausibel (schafft Elemirio im falsch bzw. lückenhaft reproduzierten „Schauraum“ 274 des Prätexts Platz für seine eigene Erzählung, Leerstellen, die sein eigenes Imaginarium sogleich auffüllt? ), so sind jedenfalls auch bei Nothomb die Problematik visueller Macht, die Auseinandersetzung mit dem Bild des/ der Anderen in mehrfachem Sinne zentral. Wie Lafayettes Princesse ist auch Nothombs Barbe Bleue ein Text von prononcierter, medientechnisch trotz aller anti-modernen Attitüden des Protagonisten vorsichtig aktualisierter Visualität, die hier primär über die Fotografie ausagiert wird. 275 Mit seiner majestätisch langsamen Hasselblad-Kamera leistet dieser neue Blaubart, sporadischer Fotograf, der seine mise en image mit der Feierlichkeit eines archaischen Rituals zelebriert, erbitterten - und in Anbetracht des Mediums paradox anmutenden - Widerstand gegen die Kopierbarkeit des Kunstwerks (wie der Welt überhaupt); einem kompromisslosen Ideal der Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit verpflichtet, lehnt er eine postmoderne Ästhetik des Fragments und der Skizze („Quoi de plus vulgaire que la notion de brouillon? “ 276 ) ebenso kategorisch ab wie „[l]e concept de remplacement“, in kulinarischer, amouröser wie philosophischer Hinsicht „à la base du désastre de l’humanité“. 277 Nicht nur in der Diskussion über den literarischen Prätext, sondern auch auf dem raffiniert ausgeleuchteten Umweg über das Medium der Fotografie wird die heikle, in der einen oder anderen Form bei allen Autorinnen der hier behandelten Princesse-Variationen aufgeworfene Frage künstlerischer ‚Originalität‘ - und menschlicher Singularität - thematisiert. In radikalem Kontrast zur in ihrer technisch entfesselten Hyper-Reproduzierbarkeit trivialisierten digitalfotografischen Instant-Kultur der Gegenwart besteht Elemirio auf der ästhetischen wie existentiellen Notwendigkeit des langsamen Entwicklungsprozesses in seiner sakrosankten Dunkelkammer; „[…] l’œuvre a besoin du mystère de l’attente. Il est bon, quand on crée, de ne pas nier le temps“, bestätigt auch die Erzählinstanz, 278 während der Protagonist eine regelrechte Foto-Theologie entfaltet, von der Erinnerung an die Mystik kindlicher Polaroid-Experimente, „matérialisation de la théorie catholique des limbes“ („Le Polaroïd au service des dogmes chrétiens, c’est vous tout craché“, kommentiert Saturnine), bis zu seiner imposanten Hasselblad, die - weitere theologische „évidence“, die Elemirio ohne mit der Wimper zu zucken erläutert - „[l]’immortalité de l’âme“ sowie „la résurrection des corps“ illustriert. 279 273 Lafayette 2014c: 451f. 274 Vgl. Wenzel 2005. 275 Ein interessanter intermedialer Bezug ergibt sich hier zu Andrzej Żuławskis freier filmischer Princesse-Adaption La Fidélité (2000), die in der Auseinandersetzung mit Lafayettes Text gleichfalls auf ein elaboriertes fotografisches Imaginarium - und eine als Berufsfotografin visuell autorisierte Protagonistin - setzt. 276 Nothomb 2012: 115. 277 Ibid.: 102. 278 Ibid.: 160. 279 Ibid.: 121f. <?page no="442"?> 442 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb Erst nach gebührender Wartebzw. Inkubationszeit kommt das fertige, der dem Medium quasi inhärenten Kontingenz so weit wie möglich entrückte, ästhetisch wie spirituell überhöhte fotografische Kunstwerk zum Vorschein - oder auch nicht, hält der Hausherr seine höchstpersönliche Fotokollektion doch streng verborgen; mit gutem Grund, wie sich erweist. In seiner geheimen „chambre noire“, 280 Fotolabor und zugleich Privat-Museum von maximaler Exklusivität, findet sich jeweils eine einzige und einzigartige, unwiederholbare Fotografie seiner bisherigen acht „colocataires“: 281 die respektiven Totenporträts. Systematisch werden hier magische Realitäten des Märchens durch Metaphern, Körper durch Simulakren, die Leichen der toten Ehefrauen durch deren Fotos substituiert - und der mörderische Plot damit in einen Schwebezustand, Grau- (oder vielmehr Blau-)Zone zwischen conte de fées und postmodernem Metaroman versetzt, in der unentscheidbar bleibt, ob Elemirio seine ehemaligen Gefährtinnen nun ‚wirklich‘ getötet hat oder ob es sich um eine symbolische Inszenierung, ein bloßes ‚Missverständnis‘ handelt (was die verliebte Saturnine nur zu gern glauben möchte 282 ). Auch wenn der Protagonist selbst pragmatisch erklärt, ‚seine‘ toten Frauen seien sämtlich „auprès de mes parents, au cimetière de Charonne“ bestattet, 283 und Saturnine sich ihrer sentimentalen Naivität à la Twilight anklagt („J’ai voulu que vous ne soyez pas un assassin. Je suis une idiote dans le style d’aujourd’hui. Récemment, un best-seller mondial a prétendu qu’il y avait des vampires gentils et innocents“ 284 ), wird diese Ambiguität noch in ihrer vermeintlichen Aufhebung durch die kriminologische Evidenz - unter den Augen Saturnines werden die Fotografien der Toten zum paradox materiellen Todesbeweis 285 - aufrechterhalten. Jede einzelne der in eiskalter Perfektion verewigten Schönheiten - wenn dieser Blaubart tötet, so ohne Blut: seine Kammer ist mit einem ausgeklügelten hypothermischen „dispositif de mort“ 286 ausgerüstet, das jeden Eindringling erfrieren lässt - erscheint mit ihrer eigenen, in einem luxuriösen Textil-Fetisch konkretisierten Symbolfarbe assoziiert; 287 es ist nicht überraschend Gelb, die Farbe der Princesse und Saturnines, die in diesem Chromo-Panorama ästhetisch mortifizierter Weiblichkeit - mörderisches Spektrum, das die Protagonistin selbst erfolgreich deutet: „le jaune, c’est moi“ 288 - noch fehlt. Camera obscura en abyme: Die überdeterminierte Dunkelkammer, polyvalente Metapher, bleibt das magnetische Zentrum der Behausung Blaubarts (und des Romans Barbe Bleue), Versuchung und Falle zugleich; keine bessere Strategie der Verführung zur Transgression 280 Ibid.: 15 et passim. 281 Ibid.: 85. 282 „Il ne les a pas tuées! Les colocataires ont disparu, ça les regarde, sans doute ne sait-il pas où elles sont! “ (ibid.: 98). 283 Ibid.: 155. 284 Ibid.: 127. 285 Ibid.: 163. 286 Ibid.: 139. 287 Im Rahmen dieser idiosynkratischen Modekollektion („Chaque femme appelle un vêtement particulier. Il faut une suprême attention pour le sentir […]. Surtout ne pas imposer ses goûts“, erläutert der mörderische Couturier sein Credo) wird wiederum en abyme mit dem Intertext der Perrault’schen Contes gespielt: Nostalgisch erinnert Elemirio - als Meta-Blaubart Märchenleser (nicht nur) seiner selbst - sich an Émeline (erste Geliebte, erstes Opfer), für die er einst „une robe couleur de jour“ designt hatte: „Ce détail du conte Peau d’Âne l’obsédait. Encore fallait-il décréter de quel jour il s’agissait: un jour parisien, un jour chinois, et en quelle saison? “ (ibid.: 83). 288 Ibid.: 153. <?page no="443"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 443 als das von Elemirio aufgestellte strikte Verbot, jenes geheime Zimmer - Raum gewordene Chiffre der Unzugänglichkeit des Anderen - zu betreten. Die „clef de l’énigme“ 289 ist hier metaphorischer Natur, im Gegensatz zum Perrault’schen Prätext wird auch dieses Verbot - keine versperrte Tür, kein Schlüssel mehr - psychologisiert und internalisiert: „Ceci est l’entrée de la chambre noire […]. Elle n’est pas fermée à clef, question de confiance. Il va de soi que cette pièce est interdite. Si vous y pénétriez, je le saurais, et il vous en cuirait.“ 290 Anfangs zumindest, lange vor der entrée en scène Saturnines, geht es dabei um die symbolische Verteidigung eines leeren Geheimnisses („J’avais créé le néant, le non-être“, erklärt der Protagonist die Idee hinter dieser seiner „retraite“ 291 ); erst nachdem Don Elemirios (wie Blaubarts) erstes Opfer - seinerseits der Grenzüberschreitung, ja der ‚Vergewaltigung‘ einer fragilen fremden Intimität schuldig gesprochen („Ces femmes prétendaient m’aimer […]. Viole-t-on le secret de qui l’on aime? Et même quand on n’aime pas! “ 292 ) - die Schwelle zum verbotenen Zimmer überquert hat, beginnen sich darin die Corpora bzw. vielmehr Imagines Delicti zu sammeln. Wie die Princesse lotet auch Barbe Bleue - bei aller oberflächlichen Brillanz besitzt das hier veranstaltete rhetorische Feuerwerk insofern durchaus eine gewisse Tiefendimension - die Problematik menschlicher Individualität aus, ein nicht zuletzt intertextuell inspiriertes bzw. strukturiertes Spannungsfeld zwischen Geheimnislust und Geheimnisangst, Sehnsucht nach kommunikativer Selbstoffenbarung und Verteidigung der eigenen Interiorität. 293 Die externalisierte räumliche Dunkelkammer des Hausherrn steht in überdeutlich affichierter - und wiederum von den Figuren auf diegetischer Ebene reflektierter - Symbolik auch für die innere Camera obscura, die prinzipielle Opazität eines weder sich selbst noch dem anderen jemals bis ins Letzte transparenten Subjekts. „Vous avez votre chambre noire où personne ne peut aller“, konstatiert Saturnine und nimmt, sich gegen die amourösen Avancen des nach jener gold-gelben Epiphanie plötzlich akut heiratswilligen Elemirio verteidigend, das Recht auf eine metaphorische Dunkelkammer auch für sich selbst in Anspruch: „[…] moi, je n’épouse pas. Ni vous, ni personne. […] Mon absence de désir matrimonial, c’est ma chambre noire à moi.“ 294 Parallel erkundet sie die prachtvolle Residenz - gleichsam nach außen gestülpte Subjektivität, Schutzhülle und Prothese eines hinter seinem Dekor und rigiden Zeremoniell prekären Ich - und die Persönlichkeit des Protagonisten; in dem Maße, in dem sie sich halb wider Willen in den exzentrischen Hausherrn verliebt, nähert sie sich unweigerlich der doppelten 289 Ibid.: 149. 290 Ibid.: 15. 291 Ibid.: 138. 292 Ibid.: 130. 293 In diese Richtung geht auch die Interpretation Fix’ (2014), die die Barbe Bleue-Motivik - von Perrault bis Nothomb - im Hinblick auf die im Märchen angelegte „esthétique du secret“ untersucht: „Ce qui fascine, outre la brutalité des faits, c’est qu’une part de secret résiste à la compréhension: le ‚pourquoi‘ des meurtres et des pièges nous reste opaque. Serait-ce que Barbe-Bleue est en fait la victime, de la rumeur, de médisances, mais surtout de l’indiscrétion de femmes volages, incapables de lui laisser une part d’intimité? Penser le secret de Barbe-Bleue, c’est interroger l’intimité, la confiance et l’interdit dans le couple occidental moderne“ (Présentation). 294 Nothomb 2012: 56. <?page no="444"?> 444 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb - inneren wie äußeren - Krypta, die Don Elemirio, mit der „question terrible“ nach „la juste frontière entre l’aimée et soi“ konfrontiert, 295 notfalls auch mit mörderischen Mitteln zu verteidigen bereit ist. - […] Ne pensez-vous pas que tout être humain a droit à sa chambre noire? - Ce qui me choque, c’est d’en faire une menace. - Tout droit implique une sanction en cas d’infraction. C’est ainsi. 296 Jene „satanée chambre noire“ spukt mit wachsender Intensität durch ihre täglichen und vor allem einsamen nächtlichen Phantasien; ihre Spekulationen über Schuld oder Unschuld des enigmatischen Granden geraten zusehends zur ethischen Grundsatzreflexion: „Pourquoi l’Espagnol n’aurait-il pas le droit d’avoir un secret terrifiant? Saturnine se demanda s’il était possible de cacher un secret terrifiant sans être coupable. Il lui parut que oui.“ 297 Die narrative Struktur des Textes macht die heterodiegetische Erzählinstanz - und die Leserin - zur Komplizin Saturnines in ihrer Exploration der mysteriösen Existenz Elemirios, der, konsequent extern fokalisiert und derart strategisch verfremdet, obskur wie sein geheimes Gemach erscheint, während die Gefühls- und Gedanken-, ja selbst die Traumwelt der Protagonistin aus der Innenperspektive jederzeit zugänglich ist. 298 Eine in Bezug auf Saturnine allwissende Erzählerin lässt es sich freilich auch nicht nehmen, gelegentlich dieser selbst unverfügbare Informationen zu ergänzen, 299 aus der Position abgeklärter Überlegenheit die emotionalen Turbulenzen ihrer Heldin - wie einst Mme de Clèves zunächst vergeblich bestrebt, ‚maîtresse‘ ihrer Situation und ihrer Differenz gegenüber ‚les autres‘ treu zu bleiben - zu kommentieren und dabei en passant die eine oder andere altkluge moralistische Maxime zu formulieren: La nuit entière, Saturnine pensa en partie double, afin de se donner l’illusion de peser le pour et le contre, de maîtriser la situation. Quand on tombe amoureux, on négocie après coup avec soi-même, histoire de voir si on s’autorise cette absurdité. La jeune femme avait eu la malchance de s’éprendre d’un type franchement louche: la négociation fut donc houleuse - et inutile. […] Le lendemain matin, Saturnine n’ignorait plus rien de la gravité de son mal. Elle s’était surestimée en s’imaginant qu’elle ne risquait rien à côtoyer cet homme au quotidien. „Je suis une idiote comme les autres“, enrageait-elle. 300 Unter ironischem Rekurs auf ein konventionelles Verfahren lässt die narrative Instanz Saturnine auch mit lauter Stimme monologisieren („Elle souleva les paupières et se parla à haute voix: […]“ 301 ). Die Rekonstruktion des Innenlebens der Protagonistin macht neben deren wachsender Verwirrung der Gefühle vor allem eines deutlich: den - auch bei Jacqueline Harpman, Marie Darrieussecq oder Emmanuelle Bayamack-Tam reflektierten - zutiefst (inter-) textualisierten Charakter der hier inszenierten Subjektivität. Gerade in seiner weitgehend unzensierten Form - an der Schwelle des Schlafes, schon halb im Traum - erscheint das 295 Ibid.: 156. 296 Ibid.: 92. 297 Ibid.: 99. 298 Vgl. etwa ibid.: 98. 299 „Saturnine partit sans entendre ce que marmonnait Don Elemirio: […]“ (ibid.: 93f.). 300 Ibid.: 97. 301 Ibid.: 98. <?page no="445"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 445 Bewusstsein Saturnines als interdiskursives Chaos: Erschöpft versinkt die Heldin nach einer schlaflosen Nacht endlich doch noch „dans une inconscience pleine de phrases“. 302 Bei aller Neugier ist Saturnine die erste WG-Gefährtin Blaubarts, die seine „retraite“ 303 wunschgemäß respektiert und sich, „[p]rovisoirement vivante“, 304 mit anderen Mitteln auf das diskursive und emotionale Territorium des widerwillig geliebten Mannes vorzuarbeiten versucht („J’essaie de réfléchir avec votre cerveau, ce n’est pas facile“, stellt sie desillusioniert fest 305 ). „Et si, pour la première fois de votre existence, vous photographiiez une vivante? “, schlägt sie eines Tages kühn dem bisher exklusiv das makabre Spezialgenre des hyperästhetisierten Nekro-Porträts praktizierenden Künstler vor, der auf die bloße Idee einer weiblichen Lebend-Fotografie geradezu panisch reagiert. 306 „Photographier une vivante, c’est trop difficile, cela bouge sans cesse“, beschwert sich Elemirio; 307 ebenso souverän wie suggestiv tröstet Mlle Puissant ihn über transparente Versagensängste („J’ai peur de ne pas en être capable“) hinweg: „La peur fait partie du plaisir.“ 308 Über die Kamera, Instrument der amourösen Kommunikation und Waffe zugleich, wird hier auch visuelle Autorität - zwischen temporärer Unterwerfung und Rebellion des Modells - neu verhandelt; eine doppelte (Persönlichkeits-)Entwicklung, éducation sentimentale auf fotografischem Wege, macht aber auch das männliche Subjekt hinter dem Objektiv mit: Elemirio verzichtet nicht nur auf die fotografische und konkret physische Mortifikation dieses neuen Gegenstands seiner in ihrer eigenen Absurdität schwelgenden Passion, sondern sogar auf sein Dogma auratischer Singularität. Auch mit Saturnine vor der Kamera will er sich zunächst auf „une seule photo“ beschränken („La vraie preuve d’amour ne consiste pas à multiplier les images, mais à en créer une seule, parfaite“ 309 ). Als die junge Frau - intendiert zweideutig - protestiert, dieses Verfahren tauge nur „[a]vec les mortes. Avec une vivante, il faut essayer toutes les positions“, 310 kapituliert er auch in diesem Punkt; das improvisierte Foto- Atelier wird zum hoch erotisierten literarisch-mythologischen Labor, in dem eine wolllüstig ausufernde Vielfalt von Bildern - ebenso viele Versionen bzw. potentielle Interpretationen der jungen Frau - entsteht. Verschafft Saturnine schon die erste Anprobe ihres klassischen Princesse-Luxusoutfits unverhohlen sinnlichen Genuss („[…] elle revêtit la jupe en retenant son souffle: elle épousait si parfaitement sa taille qu’elle eut l’impression d’une étreinte amoureuse. […] Elle passa un temps interminable à contempler son reflet et surtout à caresser ce velours: elle en frémissait de plaisir. L’or de la jupe chatoyait autour d’elle“ 311 ), so gerät die fotografische Séance - Orgie der Schaulust bzw. der ambivalenten Lust der weiblichen Selbstinszenierung als Schauobjekt: sukzessive posiert Saturnine als „gorgone, templier fin de siècle, pagode martienne, idole 302 Ibid. 303 Ibid.: 138. 304 Ibid.: 143. 305 Ibid.: 114, vgl. auch 148: „Voyons. Il faut penser avec la tête de l’Espagnol.“ 306 Ibid.: 158. 307 Ibid.: 129. 308 Ibid.: 158. 309 Ibid.: 115, vgl. auch 121: „Le but de l’amour me semble d’aboutir à une photo, une seule, absolue, de la femme aimée. Et le but de la photographie est de révéler l’amour que l’on éprouve en une seule image.“ 310 Ibid.: 159. 311 Ibid.: 79f. <?page no="446"?> 446 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb carthaginoise, succube, Parvati, Amaterasu, Marie-Madeleine, Lilith, Erzébeth Báthory, apicultrice intergalactique“ - zum ekstatischen Substitut eines niemals realisierten Sexualakts. Die erotische Dimension des begehrenden Blicks, in Lafayettes Text mit klassischer Dezenz behandelt, wird hier unter Zuhilfenahme von Edel-Champagner als aphrodisischem „carburant“ zur lustvollen Klimax getrieben. Selbst der Foto-Blitz verblasst, „comparé au crépitement de leur jouissance“; beide Figuren, die ‚Princesse‘ vor der Kamera und der Mann dahinter, bleiben nach vollzogener fotografischer Quasi-Vereinigung auch körperlich erschöpft zurück. 312 Staunend betrachtet Saturnine am nächsten Tag „les photos de la veille“, wiederum - suggestives Geschenk - symbolisch auf ihrem Bett arrangiertes buntes ‚Mosaik‘, das ihr über die doppelte Außenperspektive Elemirios und der Kamera ganz und gar neue Ein- und Ausblicke auf ihr eigenes metamorphotisches Ich vermittelt: Il y en avait une cinquantaine; plus stupéfiantes les unes que les autres: on eût cru que cinquante modèles différents avaient posé. „Je ne me savais pas si mosaïque“, pensa-t-elle. Comme il était bon, non pas d’être une autre, mais d’être cinquante autres! Même les clichés qui ne l’avantageaient pas la ravirent. Tout ce que l’Espagnol avait attrapé d’elle existait, le laid et le beau, le fragile et le solide. 313 Die Fotografie wird hier - wie in Amélie Nothombs poetologischer Selbstreflexion das Schreiben 314 - zum transzendenten Medium der Selbsterkenntnis und -exploration eines explosiv multiplizierten, auch sich selbst gegenüber verfremdeten Subjekts. Ein punktuell geläuterter Blaubart beschließt, Saturnine - weniger aus moralischen denn aus ästhetischen Gründen - am Leben („[…] peut-être parce que vous êtes le jaune, vous perdriez beaucoup à mourir. […] Il sied au jaune de vivre“, 315 wie er im amourösen Farb-Delirium erklärt) und sie - ultimativer Liebesbeweis - als erste und einzige „femme respectueuse des secrets d’autrui“ 316 sogar in sein unheimliches „sanctuaire de l’amour“ 317 einzulassen. Das spielerisch skizzierte Happy End - Hinterausgang aus einer grausamen Märchenwelt - findet freilich nicht statt. Die sich anbahnende Liaison zwischen Saturnine und ihrem hypothetischen „homme idéal“ (mit kleinem mörderischem „vice“) 318 scheitert daran, dass dieser trotz ihrer energischen Weigerung („Une vivante parmi les photos de mortes: vous n’y 312 Ibid.: 159f. 313 Ibid.: 161. 314 „Je est un autre“: Nothomb erklärt sich für „profondément d’accord“ mit Arthur Rimbauds berühmter Formel, schlägt aber eine signifikante Erweiterung vor („[…] il me semble que c’est incomplet: ‚Je est plusieurs autres‘, telle serait ma version de cette phrase“) und erläutert ihr (trans-)subjektives Konzept durch die Konvention des Eigennamens prekär domestizierter multipler Autorschaft: „Il y a en moi une foule d’individus qui ne demandent qu’à vivre: je les laisse s’exprimer à travers ma plume, en leur donnant la parole à tour de rôle. Ce sont tous des inconnus et je suis toujours étonnée de ce qu’ils me font écrire. C’est pourquoi mes livres n’appartiennent à aucun genre en particulier: ils sont disparates à l’image de leurs innombrables auteurs qui, en vertu d’une bizarrerie identitaire, s’appellent tous Amélie Nothomb“ (Coudray 2004b: 149). „Il y a tant de ‚moi‘ […]“, betont Nothomb auch im Interview mit De Decker (2004b). Eine sehr ähnliche Variation über das Rimbaud-Motiv - unter noch großzügigerer Vervielfältigung des Subjekts - skizziert Jacqueline Harpmans Orlanda: „Je est un autre? Je est mille autres […]“ (1996: 16). 315 Nothomb 2012: 155. 316 Ibid. 317 Ibid.: 165. 318 Ibid.: 82. <?page no="447"?> „Vous n’êtes pas si différente […] de la princesse de Clèves“ 447 pensez pas. […] Je ne veux pas que vous mettiez ma photo ici“) kategorisch darauf besteht, seiner Kollektion schöner Leichen-Fotos ein Porträt zumindest der lebendigen Saturnine hinzuzufügen: „Il me faut ma femme jaune! […] Je me passerai de votre permission. Un nuancier doit être complet.“ 319 Auch das Pariser Initiations- und (Anti-)Passionsnarrativ dieser postmodernen bürgerlichen Princesse endet mit dem Ausbruch der Heldin aus ihrem ‚höfischen‘ huis clos bzw. dem darin für sie bestimmten konkreten und metaphorischen Rahmen (von den ersten Tagen ihrer extravaganten „cohabitation amoureuse“ 320 an betrachtet Elemirio Saturnine „comme une icône dans sa châsse“; 321 angesichts der beängstigend perfekten Fotografien - „trop réussies“ - ihrer toten Vorgängerinnen begutachtet sie beunruhigt die für ihr eigenes Porträt reservierte Leerstelle an der schwarzen Wand: „Ce vide la fit frissonner […]“ 322 ). Wie bereits die poetologische Debüt-Hygiène Amélie Nothombs steuert auch Barbe Bleue auf die finale mise à mort eines frauenmörderischen männlichen Protagonisten zu: In einer radikalen Geste der Selbstverteidigung holt Saturnine sich die Verfügungsrechte über ihr eigenes Bild und die Interpretationshoheit über ihre Lebensgeschichte zurück, nun ihrerseits mit mörderischen Mitteln (und im Gegensatz zur Märchenversion ohne fremde Hilfe). Sie lässt Elemirio in seine eigene - räumliche und narrative - Falle gehen; auch ein letztes Angebot, ihn gegen Verzicht auf Vereinnahmung und Exposition ihrer Person in jenem makabren Club der toten Damen zu retten, schlägt jener in demiurgischer Megalomanie aus: „C’est comme si vous imposiez à Dieu de renoncer au jaune lors de la création de l’arcen-ciel.“ 323 Während Blaubart, Gefangener seines eigenen „dispositif meurtrier“, 324 in seiner eisigen Dunkelkammer agonisiert, bricht die junge Frau nach einer letzten symbolischen Liebesgeste („Leurs corps n’étaient séparés que par deux centimètres de bois. […] Avant de partir, elle posa ses lèvres sur la porte noire, à l’endroit où s’appuyait la nuque du condamné“ 325 ) in die Freiheit bzw. zu einem spontanen Fest in den Straßen von Paris auf, mit ihrer besten Freundin und einer Flasche Luxus-Champagner von der Farbe der Princesse de Clèves, allein: „À l’instant précis où don Elemirio mourut, Saturnine se changea en or.“ 326 319 Ibid.: 164. 320 Ibid.: 91. 321 Ibid.: 66. 322 Ibid.: 163. 323 Ibid.: 166. 324 Ibid.: 155. 325 Ibid.: 166f. 326 Ibid.: 170. Mit diesem letzten metamorphotischen Twist wird ein motivischer Faden verknotet, den Nothomb schon vorher subtil in ihren Text flicht: „Chaque fois que je passe près d’un banc public, je me demande ce qui m’empêche de m’y asseoir et d’y attendre la mort“, gesteht Saturnine ihrem Gefährten (ibid.: 151); kaum einen Augenblick später öffnet dieser eine weitere Flasche ‚magischen‘ Champagners, bevor sie sein mörderisches Enigma rund um die Farbe, „plaisir ultime“ und im Japanischen mögliches „synonyme d’‚amour‘“, entziffert (ibid.: 153). Exakt dieselben Elemente versammelt die letzte Szene des Romans. Ihren goldenen Zaubertrank in der Tasche, hat Saturnine eben ihre Freundin verständigt: „[…] elle avisa un banc public et s’y assit pour l’attendre“ - an dieser Stelle kippt mit einem schillernden Personalpronomen ein vermeintlich bereits vorhersehbares Finale in die tödliche Farb-Phantasmagorie: „Devant elle, il y avait les Invalides dont la coupole venait d’être redorée à la feuille. Un éclairage idéal en rehaussait la lumière. La jeune femme eut tout le temps d’admirer cette splendeur“ (ibid.: 170). <?page no="448"?> 448 Lafayette-Variationen bei Amélie Nothomb Am Ende dieser Märchen-Parodie in ihrer blau-gelb-gold schillernden Ambivalenz scheint sich dergestalt die magische Performativität des conte de fées trotz allem durchzusetzen. Das paradoxe Verhältnis zum klassischen Prätext bleibt auch hier - und zwar gleich mehrfach - unaufgelöst, mit den letzten Sätzen wird das skizzierte Narrativ einer weiblichen Befreiungsgeschichte demontiert. Indem sie sich weigert, die für sie vorgesehene Rolle - literarisches Zitat prêt-à-porter - in Blaubarts Welt zu übernehmen, agiert Saturnine ebenso wie Nina in Hygiène de l’assassin das Wunschphantasma ihres männlichen Kontrahenten aus; indem sie die ihr auf den Leib geschneiderte Identität als neue Princesse de Clèves zurückweist, spielt sie deren Part getreulich nach. „C’est un peu loin tout ça“, bemerkt die junge Protagonistin spöttisch angesichts der abstrus anmutenden historischen Meditationen ihres anachronistischen Hausherrn; doch es ist der dekadent-depressive Don Elemirio - wie Prétextat Tach, adipöser Literaturnobelpreisträger und Lafayette-Digestor, eine poetologische Schlüsselfigur im Œuvre Nothombs -, der schließlich recht behalten wird, wenn er erklärt: „Non. Nous n’avons jamais quitté le XVI e siècle.“ 327 *** An diesem Punkt verlassen wir Amélie Nothombs eklektische Romanwelt, in der sich die Princesse de Clèves und Blaubart ein extravagantes Stelldichein geben, verweilen aber noch für einen Moment in tendenziell populärliterarischen Gefilden. Im selben Jahr wie Barbe Bleue erscheint ein offensiv als „[u]ne sorte de Princesse de Clèves moderne“ 328 angepriesener Roman, dessen Protagonistin - im Gegensatz zu Nothombs rebellischer Heldin Saturnine - ihre im doppelten Sinne klassische Passionsgeschichte geradezu wollüstig nach- und auslebt: Françoise Hardys L’Amour fou zeugt nicht nur seinerseits von der höchst lebendigen Präsenz der Princesse in der Populärkultur des extrême contemporain, sondern lädt wie erwähnt auch zur Reflexion über die Rekonfigurationen von Hypertextualität im Spannungsfeld zwischen Autorin, Leserin, editorialem Marketing und der intentio des Textes selbst ein. 327 Ibid.: 21. 328 Dies u. a. laut der quatrième de couverture der Taschenbuchedition: Hardy 2014. <?page no="449"?> „Une sorte de Princesse de Clèves moderne“? Françoise Hardys L’Amour fou Françoise Hardy, als Chansonnière seit den frühen Sechzigern bekannt, ist in späteren Jahren auch als Schriftstellerin hervorgetreten, zunächst mit ihrer 2008 publizierten Autobiografie Le Désespoir des singes et autres bagatelles; 1 an dieser Stelle soll ein kurzer Blick auf ihren Erstlingsroman L’Amour fou geworfen werden, literarischer Flügel eines im Herbst 2012 - pünktlich zum 50-Jahr-Jubiläum Hardys - erschienenen intermedialen Diptychons, 2 von der Künstlerin selbst als Schlüsselwerk ihrer Karriere interpretiert: „La justification de mon cinquantenaire, c’est de publier l’histoire qui a été la source d’inspiration de tous mes textes de chansons. Je n’ai quasiment parlé que d’amour fou toute ma vie.“ 3 Zeichnet sich auch das mit dem Duett „L’Amour fou“ (gemeinsam mit Thierry Stremler gesungen) eröffnete gleichnamige Chanson-Album durch seine literarischen Affinitäten aus (Hardy präsentiert unter anderem Victor Hugos „Si vous n’avez rien à me dire…“ in einer Vertonung Bertrand Pierres), so wurde der - auch abgesehen von der evidenten Breton- Anspielung des Titels an intertextuellen Referenzen reiche - Roman L’Amour fou vom Verlag (Albin Michel) als „[u]ne sorte de Princesse de Clèves moderne, qui étonne par la description des ravages d’une incurable sidération amoureuse“ vermarktet. 4 Auch wenn der panegyrische Vergleich mit der Princesse im Marketing-Furor - offensichtlich setzt der Verleger auf die nicht zuletzt politisch motivierte Vogue des letzten Jahrzehnts - zweifellos über das Ziel hinausschießt, so wurde mit diesem vielfach reproduzierten editorialen Paratext doch ein dankbar, wenn auch gelegentlich nicht ohne Ironie aufgegriffenes Rezeptionsparadigma gestiftet; die geschickt platzierte Princesse-Assoziation zieht sich wie ein roter Faden durch die Auseinandersetzung mit Hardys Text - auf sehr unterschiedlichen Ebenen: „Ce roman est une analyse précise de la passion […]. Une sorte de Princesse de Clèves moderne, où la description des ravages de l’amour, ses attentes, ses déceptions, ses désillusions et ses espoirs frappent avec la même force que chez Madame de Lafayette“, verspricht die Präsentation des Romans auf der Website von Amazon France. 5 In - wie vermutet werden darf, wohlkalkuliertem - Kontrast zu paratextuellen Lobeshymnen, die die zeitgenössische Chansonnière-Romancière als neue Madame de Lafayette und ihr Werk als neue Princesse de Clèves besingen, übt Hardy selbst sich in betonter Bescheidenheit und kultiviert dabei eine frappierend anachronistische weibliche Selbstinszenierung als Autorin halb wider Willen, die - gender-symptomatische Strategie der captatio benevolentiae - die 1 Vgl. Hardy 2008. Bereits zuvor hatte Hardy in den Domänen der Astrologie und der Grafologie einige Bücher (ko-)publiziert, die uns hier freilich nicht weiter beschäftigen sollen; vgl. v. a. Le Grand Livre de la Vierge (mit Béatrice Guénin, 1979), Entre les lignes, entre les signes (mit Anne-Marie Simond, 1986) und Les Rythmes du zodiaque (2003). 2 Auf den am 31. Oktober 2012 erschienenen Roman L’Amour fou folgt am 5. November des gleichen Jahres das dazugehörige Album (EMI/ Virgin). 3 Alquier 2012a. 4 Vgl. die quatrième de couverture der Taschenbuchedition: Hardy 2014. 5 URL: http: / / www.amazon.de/ Lamour-fou-Martingale-Fran%C3%A7oise-Hardy/ dp/ 229007070X/ ref=tmm_ pap_title_0? ie=UTF8&qid=1404922979&sr=8-2. <?page no="450"?> 450 Françoise Hardys L’Amour fou Verantwortung wenn schon nicht für die Redaktion, so doch für die Publikation des eigenen Textes vorsichtig von sich weist („[…] je suis très inquiète des réactions pour mon récit. J’ai un peu peur, c’est un récit que je ne voulais pas publier. On m’a un peu forcé la main“), sich selbst präventiv den Status als ‚richtige‘ Schriftstellerin abspricht („Évidemment, je ne me considère pas du tout comme un écrivain“) und im gleichen Atemzug ihre Bewunderung für die echten „écrivains“, ihren „très très grand respect pour l’écriture“ sowie - in gewollt salopper Formulierung - ihr Bemühen um literarische ‚Korrektheit‘ unterstreicht: „[…] évidemment, je me suis donné un mal de chien pour écrire correctement.“ 6 Wiederholt insistiert Hardy mit einer gewissen Naivität - beinahe zu harmlos, um nicht inszeniert zu wirken - darauf, dass sich das gesamte Publikationsprojekt dem mehr oder minder sanften Druck diverser (männlicher) ‚Autoritäten‘ verdanke: Dans un premier temps, je n’ai pas écrit tout ça pour que cela soit publié. Depuis le succès de mon autobiographie, mon éditeur me presse un peu pour que je poursuive dans une voie littéraire. Il prétend que j’écris bien. […] Bref, mon éditeur qui avait lu un chapitre ou deux de ce récit m’a relancé avec insistance par rapport à ça. Ce qui m’a incité à accepter, c’est l’avis de Jean-Marie Périer, qui est mon premier grand amour, mais qui est mon ami depuis toujours. Il a lu quelques pages et il m’a fortement conseillé de le sortir. Je peux dire même qu’il a été catégorique. 7 In dieser Etikettierung einer mehrfach ‚weiblich‘ markierten Passionsgeschichte als Produkt eines männlichen kategorischen Imperativs werden Veröffentlichung und Erfolg von L’Amour fou schließlich demütig auf die ‚Verrücktheit‘ eines mit literarischen Lorbeeren allzu großzügigen Herausgebers zurückgeführt: „Je pense que mon livre n’est pas grand public. Mon éditeur pense le contraire, mais moi je pense qu’il est fou.“ 8 Zwischen Vermarktung einer über den kritischen Klee gelobten neuen Princesse de Clèves und Pose einer spätberufenen (Nicht-)Schriftstellerin, die - in diesem Punkt Lafayette, wenngleich in völlig anderem historischem und sozialem Kontext, nicht ganz unverwandt - allerlei Ausweichmanöver rund um ihre nach allen Regeln der Kunst unterminierte Autorität betreibt, stellt sich die Frage nach der Verortung dieses Textes in unserem Corpus zeitgenössischer Princesses. Gewiss wäre es eine - vom Verlag strategisch provozierte - Überinterpretation, wollte man diesen eher dem Genre amouröser Autofiktion zuzuordnenden Roman als Lafayetteréécriture im engeren Sinne betrachten; der hypertextuelle Konnex wird in diesem Fall - insofern lädt gerade L’Amour fou auch zu einigen theoretischen Reflexionen über die Dynamik der Transtextualität zwischen intentio auctoris, operis und nicht zuletzt lectoris ein - nicht nur auf der Ebene der Textproduktion, sondern (mindestens) ebenso sehr auf jener der editorial gesteuerten Rezeption hergestellt. Doch auch wenn sich der Rekurs auf den im Roman dezent, aber konstant präsenten Prätext der diesbezüglich nicht prä-sensibilisierten Leserin nicht so explizit aufdrängt, wie dies etwa bei Marie Darrieussecqs ein Jahr zuvor publiziertem Clèves der Fall ist, so eröffnet eine parallele Lektüre mit der Princesse - neben einer Reihe sekundärer Intertexte - neue Perspektiven, die einige Anmerkungen auch zu diesem Text rechtfertigen. 6 Alquier 2012a. 7 Ibid. 8 Ibid. <?page no="451"?> „Une sorte de Princesse de Clèves moderne“? 451 „… l’amour est une cause perdue“: Klassische Passion in einer Simulakrenwelt In zehn Kapiteln - zunächst in heterodiegetischer Narration mit interner Fokalisierung auf die Protagonistin; in den letzten drei Abschnitten übernimmt nach abruptem narrativem Switching eine Ich-Erzählerin das Wort 9 - entfaltet Hardys Roman eine weitere Version einer konfliktuellen Passionsgeschichte, dies - im Gegensatz zu Lafayette und anderen zeitgenössischen Variationen wie jenen Marie Darrieussecqs oder Emmanuelle Bayamack-Tams, aber durchaus auf den Spuren von Raymond Radiguets Bal und Louise de Vilmorins Madame de - unter weitgehender Ausblendung jeglichen gesellschaftlichen Ambientes. Kein Ehemann ist hier im Spiel, keinerlei ‚Ehebruch‘, der ein irgendwie relevantes moralisches oder soziales Tabu darstellte; in einem Kontext, in dem das zentrale Dreieck nach der polygamen Logik des zeitgenössischen Liebesmarktes bis zum Überdruss multipliziert wird und die Dichotomie von apparences und vérité in einer postmodernen Simulakrenwelt kollabiert („le paraître est indissociable de l’être“: 10 „désordonnément“ vermischen sich „le faux et le vrai, de telle sorte que le faux ne soit jamais entièrement faux, le vrai jamais entièrement vrai non plus“ 11 ), scheint das Dilemma der Heldin Lafayettes zwischen passion und devoir zunächst obsolet. Und doch knüpft auch dieses Protokoll einer destruktiven, unter Umständen ‚mörderischen‘ Passion („l’amour comme assassin“ 12 ) an die Lafayette’sche Skepsis gegenüber „des passions aussi ravageuses“ 13 an; auch L’Amour fou schreibt sich in die Linie anderer zeitgenössischer réécritures ein, in denen - im Unterschied zu Verzicht und Rückzug der Mme de Clèves - die jeweilige Liebesgeschichte zwar bis zum bitteren Ende durchgespielt, dabei freilich erst recht als fatales, ja pathologisches Phänomen, von vornherein „une cause perdue“ problematisiert wird. 14 In ihrer Beschreibung der existentiellen Erschütterung des liebenden Subjekts rekurriert auch Hardy - unentscheidbar, ob auktorial intendierte Allusion oder schwer fassbarer ‚Einfluss‘ - auf eine überaus klassische Lexik: Quer durch diese romaneske Meditation über die „violence de l’amour“ 15 wird Lafayettes hartnäckige Assoziation von amour/ passion und violence, trouble (etc.) fortgesponnen. 16 Auch stilistisch folgt der Text diesem klassischen Duktus, bis hin zum direkten Lafayette-Zitat: Wird der schöne Duc de Nemours als „ce qu’il y avait de plus aimable à la Cour“, sogar als „plus aimable homme du monde“ charakterisiert, 17 so erscheint in L’Amour fou das männliche Liebesobjekt, aus der Perspektive der Erzählerin „trop beau pour être vrai“, 18 ebenso hyperbolisch als „l’homme […] le plus aimable au monde“ 19 9 Vgl. Hardy 2014: 113. 10 Ibid.: 80. 11 Ibid.: 53. 12 Ibid.: 98. 13 Ibid.: 14. 14 Ibid.: 25. „Quand il n’y a plus de distance, il n’y a plus de désir. Et c’est pour ça que l’amour est une cause perdue“, erklärt auch die Autorin mit den Worten ihrer Heldin - oder umgekehrt? (Alquier 2012b). 15 Hardy 2014: 12. 16 Vgl. etwa ibid.: 29, 47. 17 Lafayette 2014c: 424, 476. 18 Hardy 2014: 21. 19 Ibid.: 135. <?page no="452"?> 452 Françoise Hardys L’Amour fou (auch hier wird das Attribut in starkem Sinne - weit über die Bedeutung konventioneller Liebenswürdigkeit hinaus - gebraucht). Die Verwirrung der Gefühle der Protagonistin artikuliert sich in einer Lexik und einer Syntax, in denen deutlich genug das Echo der Princesse zu vernehmen ist - so nach einer flüchtigen mondänen Begegnung mit dem heimlich geliebten Mann: „Le trouble que cet échange anodin provoqua chez elle fut si grand, qu’elle y vit avec effroi l’impossibilité de se libérer de son emprise avant longtemps.“ 20 Unter Aufbietung eines umfassenden, teilweise auch kritisch hinterfragten Repertoires traditioneller Topoi der Passion wird diese in ihrer ‚Magie‘, 21 ihrem ‚Magnetismus‘, 22 aber auch als von allerlei quälenden „symptômes“ begleitete Pathologie, 23 als massive Entzugserscheinungen provozierende ‚Droge‘ 24 metaphorisiert. Zugleich unternimmt Hardy - in einem postmodernen Kontext, der gewisse längst zum kulturellen Gemeingut gewordene psychoanalytische Einsichten zumindest abseits der trivialliterarischen Domäne kaum mehr zu ignorieren erlaubt - eine feine Exploration einer verwickelten, hochgradig neurotischen „logique amoureuse“. 25 (Psycho-)analysiert wird derart die Tendenz der Protagonistin, immer wieder „la même histoire amoureuse“ mit verschiedenen Partnern auszuagieren; die Liebes- und Leidensgeschichte der Princesse de Clèves, die auch noch - bzw. erst recht - nach dem Tod der Mutter im Namen eines von dieser vermittelten strikten Tugendgebotes und idealen Selbstbildes handelt, wird bei dieser ihrer entfernten Verwandten mit dem entsprechenden psychologischen Background versehen: „L’amour ne reposait-il donc sur rien de plus que le jeu auquel le moule des premiers liens condamne à vouloir jouer - et perdre - invariablement, indéfiniment? “ 26 Auf dieser Meta-Ebene reflektiert Hardys Heldin die - psycho- und poetologisch polyvalente - Frage nach „la vraisemblance de son amour“, 27 die „règles du jeu amoureux“, 28 eine patriarchalische Sichtweise der Liebe „comme une guerre“ 29 - ‚Krieg‘, den sie nicht zu führen wünscht -, aber auch die Dynamik des coup de foudre, der hier mit bezeichnender Verspätung einschlägt. Bei der x-ten Begegnung erfasst das plötzlich disponible Subjekt eine paradoxe ‚Liebe auf den ersten Blick‘. 30 Wiederholt hat die Protagonistin - völlig indifferent - das Objekt ihrer Passion bereits gekreuzt, worüber sie sich nachträglich nicht genug wundern kann; 31 in einem bestimmten Moment erst finden sich die Prämissen für die geradezu explosive ‚Kristallisation‘ vereint: „Elle ne pouvait plus avancer et il n’était, hélas, pas question de revenir en arrière. […] elle s’émerveilla d’avoir à portée de ses yeux une sorte d’apparition 20 Ibid.: 13. 21 Vgl. etwa ibid.: 7f. 22 Ibid.: 24. 23 Ibid.: 9. 24 Ibid.: 44. 25 Ibid.: 43. 26 Ibid.: 54. 27 Ibid.: 53. 28 Ibid.: 34. 29 Ibid.: 71. 30 Auch Hardy (ibid.: 119) meditiert auf den Spuren Stendhals über jene „faux coups de foudre“: „l’on croit aimer quelqu’un toute sa vie pendant un soir“ (zit. nach Bruckner 2013: 106). 31 Vgl. ibid.: 10f. <?page no="453"?> „Une sorte de Princesse de Clèves moderne“? 453 magique.“ 32 Wie die Heldin Lafayettes unternimmt auch diese Figur sogleich alle erdenklichen „efforts pour que rien ne transparaisse de ses orages intérieurs“. 33 Auch hier manifestiert sich die auffallende Tendenz diverser (post-)moderner Princesse- Variationen zur Multiplikation des bei Lafayette textarchitektonisch zentralen aveu. L’Amour fou enthält eine Vielzahl quasi aufgesplitteter - doch jeweils explizit mit diesem starken, inter- und kontextuell alles andere als unschuldigen Terminus bedachter - aveu- Szenen; erscheint die Heldin zunächst gespalten zwischen dem Wunsch nach und der Angst vor „un aveu de ce genre“, der sie in den Augen des Geliebten „gênante et ridicule“ wirken zu lassen droht, 34 so entfaltet sich schließlich ausgehend von einem vorerst brieflich abgelegten Liebesbekenntnis (und damit auf den Spuren Radiguets) eine heikle amouröse Korrespondenz auf mehr oder weniger sichere Distanz. Es folgt eine Sequenz krisenhafter, signifikant vervielfältigter „aveux similaires“, 35 deren Tragweite sich erst nachträglich erweist: „Là encore, elle était trop sous le coup du bouleversement provoqué par ses déclarations précédentes, pour donner à cet aveu crucial l’attention qu’il méritait.“ 36 Als Instanz bzw. Medium des aveu fungiert wie bei Lafayette auch der von den Verheerungen der Passion gezeichnete, ‚verräterische‘ Körper selbst. 37 Hardy erwägt nicht nur die Implikationen des aveu als Kapitulation und emotionale Selbstauslieferung („Me laisser aller à ce genre d’aveu revenait à te tendre l’arme pour m’abattre […]“ 38 ), sondern auch die Subtilitäten des „aveu implicite“, 39 des wortlosen 40 und des temporären aveu mit Ablaufdatum („Mais lorsqu’elle le revit et chercha à savoir si cet aveu valait toujours […]“ 41 ). Zur präzisen réécriture à l’envers des Lafayette’schen Prätextes gerät L’Amour fou dort, wo die jeden Schritt auf dem intertextuell verminten Terrain ihrer Passionsgeschichte sorgfältig kalkulierende Protagonistin sich zu einem strategisch negativen aveu durchringt: Auf die Frage ihres Gegenübers nach dem Status quo ihres Liebes- und Sexuallebens reagiert sie - wenngleich emotional wie sexuell kompromisslos treu - mit vielsagendem Zögern, im Wissen, dass dieses als „aveu de son infidélité“ ausgelegt werden muss; 42 schweigendes Pseudo-Bekenntnis einer fiktiven Untreue, das ihr die prekäre ‚Liebe‘ eines von der Exklusivität ihrer Passion beunruhigten Gefährten sichern soll. Bei aller Detailliertheit der Gefühls-Analyse bleibt L’Amour fou ein äußerst abstrakter (Anti-)Liebesroman, dessen Autorin sich in beinahe noch größerer deskriptiver Zurückhaltung als Lafayette selbst übt - und gerade in diesem Punkt frappant von der plastischen, die abjekte Kreatürlichkeit nicht scheuenden Repräsentation von Körperlichkeit und Sexualität etwa in den Princesse-Variationen Marie Darrieussecqs oder Emmanuelle Bayamack-Tams abweicht. Hardy selbst erklärt den hohen Abstraktionsgrad ihres Textes mit ihrer Intention, 32 Ibid.: 7. 33 Ibid.: 15. 34 Ibid.: 17. 35 Ibid.: 60. 36 Ibid.: 47. 37 Vgl. etwa ibid.: 65ff. 38 Ibid.: 145. 39 Ibid.: 85. 40 Vgl. ibid.: 97. 41 Ibid.: 90. 42 Ibid.: 72. <?page no="454"?> 454 Françoise Hardys L’Amour fou „une histoire prototypique“ von mehr oder minder universeller Gültigkeit zu erzählen: „On peut qualifier mon récit d’abstrait. Plus on va vers l’abstraction, plus on se rapproche de l’universel.“ 43 Diverse erotische Szenen werden en passant erwähnt, niemals expliziert, stets der Phantasie der Leserin zur Fortschreibung bzw. Ausschmückung überlassen; bemerkenswert desinkarniert bleiben auch die Figuren selbst, von denen der Text ein konkretes Bild (sich) zu machen sich weigert. Das physische Porträt der konsequent intern fokalisierten und allenfalls kontrastiv im Vergleich mit dieser oder jener Konkurrentin vage umrissenen Protagonistin gerät noch abstrakter als jenes bei Lafayette; schemenhaft auch das Objekt ihrer Begierde, nicht zuletzt poetologisch aufschlussreiche Symbol- und Projektionsfigur, die, gesichts- und namenlos, allem Anschein nach gänzlich „sans racines“, 44 die „propension à l’effacement“ als ästhetisches Verfahren des Textes insgesamt spiegelt. 45 Von Anfang bis Ende des Romans wird der enigmatische Geliebte lediglich mit der symbolträchtigen Chiffre X. bezeichnet. Nicht zu Unrecht interpretiert Véronique Mortaigne die Leidenschaft der Erzählerin für jenen rätselhaften ‚Monsieur X‘ als eine Art säkularisierte Gralssuche. 46 X steht nicht nur für die innere Ambivalenz der Figur, Objekt einer chiastischen amourösen Dynamik; X markiert auch jene Position, die - wie gleich einleitend in einer Reflexion über Passion zwischen Fatalität und Kontingenz bzw. prinzipieller Austauschbarkeit des Liebesobjekts festgehalten wird - unter bestimmten günstigen Umständen quasi von einer beliebigen Person besetzt werden kann: Leur rencontre avait tenu à des circonstances aléatoires… À si peu de chose au fond… Bien qu’au fil de ses réflexions, elle ait fini par se rendre à l’évidence que l’amour naît à la jonction de la disponibilité latente et d’une rencontre plus ou moins fortuite, se fixant sur la première personne venue, pour peu que ses fêlures présentent une symétrie suffisante avec les vôtres, les thèmes contradictoires de l’inéluctabilité du destin et de l’interchangeabilité de l’être aimé, la plongèrent dans des abîmes de perplexité. Le cours de sa vie aurait-il subi un détournement aussi radical si elle s’était trouvée au même moment dans un autre espace, en compagnie d’autres personnes? Et comment ne pas se demander devant la séduction, désormais inopérante, de tel ou tel, s’il aurait suffi qu’elle le rencontre dans le même contexte où un hasard apparent l’avait mise en présence de X., pour que ce soit celui-là au lieu de celui-ci qui entre dans sa vie? 47 X steht aber auch für einen in L’Amour fou unterschwellig stets präsenten gender trouble. Wie bereits bei Radiguet (und später bei Darrieussecq) erscheint in dieser dezenten und partiellen réécriture die Frau als leidenschaftlich, ja obsessiv Liebende, während ihr männliches 43 Alquier 2012b. 44 Hardy 2014: 39. 45 Ibid.: 10. Der Effekt dieses doppeldeutigen „effacement“ verdankt sich nicht zuletzt der narrativen Struktur des Romans: Mit seiner internen Fokalisierung auf die Protagonistin konstruiert L’Amour fou den männlichen Geliebten - seinerseits Bekenntnissen und Beichten aller Art entschieden abgeneigt (ibid.: 75) - von vornherein als rätselhafte, der Identifikations- und Empathiebereitschaft des Lesers unzugängliche (Projektions-)Figur. Bei Gelegenheit verwandelt sich ihr Gegenüber unter dem irritierten Blick der Heldin in ein beinahe antipathisches reines Simulakren-Wesen, hinter dessen schillernder Fassade sich womöglich nichts - ein paradoxes Nichts - verbirgt: „Où donc était passé l’homme sensible et vulnérable qu’elle aimait? Elle se dit qu’il ne serait en fin de compte pas si difficile de se détacher de l’être tout en façade qu’elle avait devant elle et qui d’ores et déjà l’ennuyait presque“ (ibid.: 87). 46 Mortaigne 2012. 47 Hardy 2014: 8f. <?page no="455"?> „Une sorte de Princesse de Clèves moderne“? 455 Gegenüber - weniger mondäner Kavalier als jener Comte d’Orgel - kaum mit Dankbarkeit, vielmehr mit Überdruss auf die ihm offerierte Passion reagiert; in einem doppelten Simulationsspiel flüchten beide Partner routiniert in „leur déguisement d’amabilité convenue, sauf qu’il était destiné à dissimuler l’excès de passion chez elle et l’absence de passion chez lui“ 48 . In dieser durch ein ausgeprägtes sozioökonomisches Machtgefälle verschärften 49 Konstellation ist es der Mann, der als passives, verführerisches und kapriziöses Liebes-Objekt fungiert, zusehends gegen diese invertierte Gender-Ökonomie des Blicks und des Begehrens, seine eigene Rolle als „bel objet“ potentiell „interchangeable“, 50 „l’impression lassante, voire humiliante, d’être une sorte d’homme-objet“ 51 zu rebellieren scheint - und schließlich im Bestreben, die ‚korrekte‘ Ordnung der Geschlechter wiederherzustellen, seinerseits den Service einer Prostituierten in Anspruch nimmt: „[…] dans ce rapport particulier, c’était lui qui payait et décidait, l’autre qui faisait fonction d’objet“. 52 Auch noch als vermeintlich souveräner Konsument sexueller Dienstleistungen erscheint X., „associant à parts égales le masculin et le féminin“, 53 freilich als inkarnierte Gender-Konfusion; hier ist es die männliche Figur, die sich im Stil der klassischen „hystériques“ dem verzweifelt begehrenden Blick eines weiblichen ‚Tantalus‘ darbietet 54 - und zugleich, einer „conception trop conventionnelle de la virilité“ 55 verhaftet, unter der eigenen ‚Unmännlichkeit‘ und fragilen (Geschlechts-)Identität leidet. Wie schon in Radiguets „roman homosexuel“ 56 wird auch bei Hardy die latent homosexuelle Komponente des amourösen Dreiecks herausgearbeitet - hier in der weiblichen Version. In ihrer minutiösen Selbstanalyse detailliert die Erzählerin die unterirdischen Mechanismen ihres eigenen Begehrens, das - in der Maske konventioneller Eifersucht - durchaus nicht strikt heterosexuellen Pfaden folgt: Aujourd’hui, je me demande quelle était la part de la réalité et celle de mon imagination? […] Cette belle et sombre étrangère, n’était-ce pas moi, bien plus que toi, qui avais été attirée par elle, justement à cause de cette mystérieuse ressemblance entre vous? […] Peut-on être attiré par son pareil? Le pouvais-tu? Ne m’avais-tu pas quittée une première fois pour une femme aux antipodes de toi, dont je n’aurais jamais soupçonné qu’elle puisse te plaire, pour la seule et stupide raison que j’étais insensible à sa séduction? 57 48 Ibid.: 108. 49 Wie Marie Darrieussecq in ihrem ein Jahr nach L’Amour fou erschienenen Clèves-Folgeroman Il faut beaucoup aimer les hommes inszeniert auch Hardy eine - hier unverkennbar mit einigen Zügen der Autorin selbst ausgestattete - im Kultur-Business erfolgreiche Protagonistin, deren Beruf zwar nicht konkretisiert, deren internationaler VIP-Status aber en passant dezent signalisiert wird. Im Übrigen rekurriert auch Hardy wiederholt auf eine kinematografische Metaphorik - so beobachtet die Protagonistin, einigermaßen erschüttert, ihren Geliebten mit einer anderen, aus ihrer Sicht gänzlich unwürdigen bzw. falsch ‚gecasteten‘ Frau: „L’apparente absurdité de la situation lui donna d’abord l’impression d’une erreur de casting portant atteinte à la crédibilité du film […]“ (ibid.: 48). 50 Ibid.: 80. 51 Ibid.: 39. 52 Ibid.: 80. 53 Ibid.: 40. 54 Ibid.: 87ff. 55 Ibid.: 92. 56 Pingaud 1986a: 46. 57 Hardy 2014: 119. <?page no="456"?> 456 Françoise Hardys L’Amour fou Derart reflektiert Hardy Passion als Spiel der sich überkreuzenden Phantasmen und Projektionen; noch während des Liebesakts fragt sich die Protagonistin, ob sie nicht womöglich nur „un fantôme“ in den Armen hält. 58 Zusehends findet sie Geschmack an jener „existence fantasmatique“, 59 einer heimlichen Parallelwelt, in der sie allein mit ihrer aus allerlei - nicht zuletzt literarischen - Diskursfragmenten zusammengebastelten Liebe existiert. Fragmente einer Sprache der Liebe: Zur interdiskursiven Konstitution des Subjekts Als Produkt eines diskursiven bricolage erscheint auch das Subjekt als solches; ausgehend von einem deklarierterweise autobiografisch fundierten Text wird das Konzept der ‚Autobiografie‘ problematisiert, jede Lebensgeschichte als komplexes Amalgam, hybride Narration zwischen Realität, Phantasma und intertextuell inspirierter Fiktion analysiert. 60 Wie Darrieussecqs Solange bejaht auch diese Heldin die Passion - im Doppelsinn - trotz allem als integralen Bestandteil des Lebens wie des kreativen Schaffens: „[…] la souffrance est inhérente à l’amour et […] si on la refuse, on se coupe de l’amour, de la vie et, au bout du compte, de soi-même et de ses possibilités créatrices.“ 61 Mit Darrieussecqs Clèves-Romanen verbindet L’Amour fou auch eine spezielle Sensibilität für Liebe als zutiefst sprachliches Phänomen, als „rhétorique“, 62 für die Eigendynamik eines stark literarisierten Liebesdiskurses. Mechanisch, „comme une automate“, bewegt sich Hardys Protagonistin durch ihre ohne den Geliebten leere und wüste Alltagswelt, „un flot ininterrompu de mots d’amour dans la tête“, 63 interdiskursive Flut, die sich in Momenten reduzierter Selbstkontrolle - an der Peripherie des Schlafs, aber auch in langen schlaflosen Nächten - in chaotischen Monologen ihren Weg nach außen sucht. Das Subjekt wird zum Resonanzkörper eines discours amoureux, der temporär erfolgreich den Akt der Liebe selbst ersetzt: En attendant le sommeil qui résistait de plus en plus à sa fatigue, elle s’adressait à lui sans cesse, prononçant à voix basse tous ces mots d’amour trop puérils, pompeux, galvaudés, pour qu’on ose les dire de vive voix à qui vous les inspire. Parfois, lorsqu’elle monologuait sur l’envie violente qu’elle avait de se serrer à nouveau contre lui, le simple souvenir de leurs moments d’intimité suffisait à déclencher les sensations qui les avaient toujours précédés. 64 Der amouröse Sprechakt wird in seiner geradezu ‚magischen‘ performativen Dimension reflektiert; angesichts einer an allen Ecken und Enden längst löchrigen Passionsgeschichte sucht die Protagonistin gleich zwei Wahrsagerinnen auf (wie Darrieussecq - deren Heldin im Rahmen ihrer afrikanischen Reise die Liebeszauber-Dienste einer einheimischen ‚Hexe‘ in Anspruch nimmt - schildert auch Hardy die momentane Kapitulation des vermeintlich 58 Ibid.: 60. 59 Ibid.: 108. 60 „C’est nourri de mon vécu, mais il y a aussi beaucoup de subjectivités et de fantasmes“, erklärt Hardy auf die Frage nach dem Genre-Status ihres Werkes, „vraiment entièrement autobiographique? “ (Alquier 2012a). 61 Hardy 2014: 33. 62 Schneider 2013: 171. 63 Hardy 2014: 31. 64 Ibid.: 41f. <?page no="457"?> „Une sorte de Princesse de Clèves moderne“? 457 auf- und abgeklärten postmodernen Subjekts vor der Versuchung des Irrationalen), im Bedürfnis, ihr Narrativ mit deren selbstredend positiven Prophezeiungen notdürftig wieder zu flicken: „Jamais elle n’avait ressenti à ce point le pouvoir magique des mots.“ 65 Besagter „pouvoir magique des mots“ kommt bei einer späten Romancière (und auch mit 68 Jahren insofern noch ‚jungen Schriftstellerin‘ 66 ), die sich vor allem als exzessive Leserin und nur ausnahmsweise Schreibende definiert („Je n’écris que quand je prépare un album, sinon je lis énormément. Je lis trop“ 67 ), auch in Gestalt etlicher anderer literarischer Intertexte neben der Princesse ins Spiel. Hardy selbst, ihrer eigenen Aussage nach leidenschaftliche re-lectrice („au point où j’en suis, j’ai plus envie de relire des livres que j’ai adorés étant plus jeune plutôt que de découvrir des auteurs actuels“), betont ihre Präferenz für die Literatur des 19. Jahrhunderts (und ganz besonders für Edith Wharton und Henry James, dessen Werk ihren Titelsong „L’Amour fou“ inspiriert habe). 68 Sie nennt aber auch Benjamin Constants Adolphe - den Jacqueline Harpman in ihrer selbstironischen Reflexion über ihre allzu ‚klassischen‘ Anfänge in unmittelbarer Nachbarschaft zur Princesse de Clèves situiert - sowie Juliens Greens Adrienne Mesurat („Un chef-d’œuvre absolu! “), wohingegen sie sich aus der zeitgenössischen Literatur abgesehen von Patrick Modiano („ami de très longue date“) nur für Houellebecq zu interessieren vermöge: „Quand j’ai vu la première fois Houellebecq à la télévision, il m’a touché. Il m’a donné le sentiment de percevoir à quel point il avait de la souffrance en lui. C’est pour ça que j’ai eu envie de le lire.“ 69 Unüberlesbar der Bezug zu Stendhals Armance, leidet doch auch dieser Protagonist unter den Launen einer unsicheren Potenz, „obstacle intérieur“ der Passion. 70 Saint-Exupéry wird im Text explizit zitiert (die Erzählerin liest ihrem deprimierten Geliebten „le passage […] sur l’apprivoisement du renard par le Petit Prince“ vor, woraufhin jener in noch heftigere Tränen ausbricht 71 ); eine andere Passage variiert Marguerite Duras’ Le Ravissement de Lol V. Stein und konkret jene Begegnung zwischen Anne-Marie Stretter und Michael Richardson, die ihrerseits auf die kanonische coup de foudre-Szene Lafayettes verweist. 72 Ein mindestens doppelter hypotextueller Boden tut sich hier unter den Füßen der Heldin auf; bei einem festlichen Abendessen beobachtet sie - in einer Mischung von Eifersucht und Faszination gleichsam paralysiert - die Interaktion zwischen ihrem Geliebten und einer verführerischen Fremden: Nous avons été invités un soir dans un restaurant exotique où s’activaient quelques jeunes femmes, dont l’une était pire que belle. Il y avait en elle quelque chose d’extraordinairement farouche et fier, ainsi que ce fascinant mélange de douceur et de dureté qu’il y a aussi chez toi et qui rend fous ceux qui s’en approchent trop près. J’ai pensé que vous étiez de la même race. Deux pur-sang, deux félins, magnifiques, indomptés et indomptables - sauf l’un par l’autre peut-être -, au-dessus de la mêlée… 65 Ibid.: 84. 66 Vgl. die ironische Selbstcharakteristik des fast achtzigjährigen Umberto Eco (2011: 7) als „noch ziemlich junge[r] und sicher vielversprechender[r] Romancier“. 67 Alquier 2012a. 68 Ibid. 69 Ibid. 70 Hardy 2014: 140. 71 Ibid.: 141. 72 So interpretiert Cannone (2013: 213) besagte Passage bei Duras im intertextuellen Licht der Princesse de Clèves; vgl. auch die parallele Lektüre bei Léopold 2009. <?page no="458"?> 458 Françoise Hardys L’Amour fou Que vous étiez dignes l’un de l’autre, faits l’un pour l’autre, et l’aviez tout de suite su. Vous ne pouviez pas ne pas vous être remarqués, ne pas vous être reconnus… Elle se mettait discrètement dans ton champ de mire puis venait remplir ton verre, te frôlant - avec quelle légèreté! - de son souffle et de la soie de sa robe. Te sentant tout à coup distant et tendu, j’ai cru voir dans ton regard cette intensité particulière qu’y met le désir. Je me serais damnée pour ce regard-là et ne pas te l’inspirer me détruisait. 73 Im vollen Bewusstsein, sich ein weiteres Mal zu „une descente qu’elle ne connaissait que trop“ 74 aufzumachen, liest die Protagonistin - die hier in einer gender-invertierten Konstellation selbst die Rolle der unglücklich in ein inferiores Objekt verliebten reflexiven Instanz innehat 75 - im Rahmen ihrer melancholischen Meditationen über den „circuit fermé du désir“ aber auch Prousts Un amour de Swann 76 als Kommentar ihrer eigenen Passion. All diesen - und noch anderen - literarischen Spuren entlang entfaltet sich die Narration dieses Amour fou, ein auch auf diegetischer Ebene als Bewältigungsstrategie thematisierter Schreibprozess („Sa nuit se passa à boire et à écrire pour mieux tromper la souffrance qui la terrassait“ 77 ), dessen Darstellung wiederum mit den paratextuellen Ausführungen Hardys über die Entstehungsgeschichte des Romans korrespondiert: „J’avais commencé à écrire ce texte il y a très longtemps pour me soulager, d’une certaine manière, et pour tenter d’y voir plus clair.“ 78 Das Schreiben wird dergestalt - mit einer an Barthes’ Reflexion über die Fotografie gemahnenden poetologischen Metapher 79 - zur ‚entomologischen‘ Erinnerungsarbeit, die zumindest „certains moments forts“ dieser Liebesgeschichte festzuhalten erlaubt: „Je voudrais les fixer avec des mots comme on épingle les papillons, pour que leur coloration particulière et leur beauté, même mortes, ne se désintègrent pas tout à fait…“. 80 Eine neue Princesse de Clèves, Françoise Hardy als Reinkarnation Lafayettes? Dies wohl kaum; doch bei aller hyperbolischen Reklame-Rhetorik legt auch L’Amour fou, Roman von der Geburt des Schreibens aus der amourösen Verzweiflung und der intertextuellen Inspiration, insofern als „self-begetting novel“ im Sinne Steven Kellmans 81 lesbar, von der nach wie vor ungebrochenen Produktivität der Princesse in der französischen Gegenwartsliteratur - unterschiedlicher Ebenen und Marktsegmente - in überaus klassischen Zungen beredtes Zeugnis ab. 73 Hardy 2014: 118f. 74 Ibid.: 26. 75 Eben zum Proust-Intertext findet sich den ganzen Roman hindurch so manche Korrespondenz im Detail: Wie Odette („Physiquement, elle traversait une mauvaise phase: […]. De sorte qu’elle était devenue si chère à Swann au moment pour ainsi dire où il la trouvait précisément bien moins jolie“; Proust 1995: 164) widerfährt auch diesem Liebesobjekt eine temporäre ästhetische Degradierung, die die Passion freilich nur noch verstärkt (vgl. Hardy 2014: 103). 76 Ibid.: 53. 77 Ibid.: 79. 78 Alquier 2012b. 79 Vgl. Barthes’ Meditation über die ebenso ambivalente wie prekäre ‚Verewigung‘ fotografierter Subjekte, „anesthésiés et fichés, comme des papillons“ (2008: 90). 80 Hardy 2014: 129. 81 Vgl. Kellman 1980. <?page no="459"?> „Une sorte de Princesse de Clèves moderne“? 459 *** Bevor nun im Anschluss an die Analyse einiger literarischer réécritures und Variationen der Princesse de Clèves das Corpus der bisher vorliegenden filmischen Adaptionen des Romans untersucht werden soll, sei vorweg ein Blick auf einen literarisch-filmischen ‚Hybridtext‘ geworfen, der im parodistischen Modus, „sur fond d’amnésie, de sexe, de meurtres et de vol dans un manoir anglais“, 82 das fiktive Projekt einer Verfilmung der Princesse inszeniert: Stéphane Denis’ im Jahr 1999 erschienenen Roman Chambres d’hôtes. 82 Rambaud 2006: 18. <?page no="461"?> Das Leben ein Film, der Film ein (Alp-)Traum: La Princesse de Clèves by Nightmare Productions Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes Mais la vie de la princesse forme comme un couloir, où s’ouvrent des chambres, où donnent d’autres couloirs. En avançant, on regarde à travers ces portes entrouvertes. 1 „[…] La Princesse de Clèves, mise en scène de Peter d’Assy, scénario de William Fleming, une production Nightmare“: 2 Fast vier Jahrzehnte nach der filmischen Erstadaption Delannoys, vor dem Hintergrund der Renaissance der Princesse, die zur Jahrtausendwende einsetzt und in deren Zuge 1999/ 2000 innerhalb eines knappen Jahres mit Manoel de Oliveiras La Lettre und Andrzej Żuławskis La Fidélité gleich zwei neue Adaptionen in die Kinos kommen, reflektiert Stéphane Denis in einem Roman von beträchtlichem intermedialem Witz Perspektiven und Probleme der Literaturbzw. Klassikerverfilmung im Allgemeinen und einer zeitgenössischen Princesse de Clèves-Adaption im Besonderen. Etliche der hier parodistisch erprobten Optionen werden in den Princesse-Verfilmungen des letzten Jahrzehnts tatsächlich umgesetzt: Auch wenn kein wie immer gearteter direkter Einfluss dieses kaum weithin bekannten Textes postuliert werden soll, ist es umso aufschlussreicher zu beobachten, dass bestimmte Modifikationen im Rahmen einer postmodernen - filmischen wie literarischen - Re-Interpretation nahezuliegen, ja sich geradezu aufzudrängen scheinen, von der Öffnung des Endes - frappierende Gemeinsamkeit aller hier analysierten neueren Lafayette-Variationen - bis hin zur Frage der postkolonialen Political Correctness. In bemerkenswerter Vollständigkeit werden in Chambres d’hôtes all jene - ästhetischen, ideologischen, aber auch pragmatisch-kommerziellen - Fragen aufgeworfen, mit denen sich die Regisseure der realen Adaptionen der Princesse de Clèves konfrontiert sehen. Kulturgeschichte als Palimpsest: Das Princesse-Konklave von Merlin Zu Beginn des Romans findet sich Melinda Craye - kleine subalterne Wölfin mit Kreidestimme, „dénicheuse“ im Auftrag der Alptraum-Produktionsfirma - auf der Suche nach „quelque chose d’suffisamment médiéval mais d’habitable et d’pas trop monstrueux“ auf einem englischen Landgut namens Merlin ein, um Architektur und Terrain hinsichtlich ihrer kinematografischen Verwertbarkeit zu begutachten. 3 Bei der Gelegenheit wartet die Agentin - selbst aufgrund ihrer Repräsentationspflichten im Showbusiness chronisch verschuldet (ein Aspekt, der seinerseits auf die höfische Welt Lafayettes, Mikrokosmos exzessiver, oft genug ruinöser Prachtentfaltung, zurückverweist) - mit allerlei Anekdoten aus dem Betrieb Nightmares auf, spezialisiert unter anderem auf filmisches Klassiker-Recycling („ces vieux machins sans droits à payer“ 4 ). Dieses gerät freilich ebenso regelmäßig wie symbolträchtig 1 Niderst 1973: 140. 2 Denis 1999: 31. 3 Ibid.: 11ff. 4 Ibid.: 218. <?page no="462"?> 462 Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes zum mehrfachen Desaster: So ist im Zuge der unlängst abgeschlossenen Dreharbeiten zu Jane Eyre ein Tudor-Balkon samt Techniker unversehens in die Tiefe gestürzt; 5 wie Melinda „en allumant une ultra-ultra-light“ nonchalant mitteilt, arbeitet eine kleine Armee von Nightmare-Advokaten bereits eifrig daran, die Besitzer des historischen Unglücksschlosses aus ihrem „foutu manoir“ definitiv hinauszuprozessieren. 6 Ein böses Omen für die Hausherren Merlins, die aus Finanznot dennoch das Princesse-Projekt auf ihrem Anwesen mit offenen Armen (und im Fall der jungen Erbin auch mit allerlei anderen Teilen ihrer Anatomie) willkommen heißen, während Location-Scout Melinda sich eilig zu ihrer nächsten Mission aufmacht (gefragt ist diesmal „une maison rurale avec pignons“ als Szenerie für „le dernier Jane Austen disponible“ 7 ). Eines regnerischen britischen Sommertages treffen bald darauf Akteure, Regisseur, Drehbuchautor und Produzentin der zukünftigen Princesse in dieser ambivalenten provinziellen Zauberwelt ein. Merlin, hyper-semiotisiertes Dispositiv, hybrider Querschnitt durch die europäische Literatur- und Kunstgeschichte - in diesem extravaganten Setting, „résolument troubadour pour moitié“, 8 fühlt sich jeder Agatha Christie-Fan, aber auch jede Austen- und Brontë-Leserin auf Anhieb ‚zu Hause‘ -, wird konkret geografisch und zugleich literarisch lokalisiert: Hundertzwanzig Kilometer von London entfernt, 9 „juste après la forêt d’Epting et les daims noirs du roi Richard que le London Council a transformés en Bambis“, liegt Merlin nicht weit von Cambridge 10 - wie Oxford hochgradig literarisierter Ort, 11 dem Denis seinen Autor in ironischem Spiel mit der campus novel den einen oder anderen Kurzbesuch abstatten lässt - bzw., in schriftstellerischen Distanzbegriffen, „à un jet de manuscrit de la gare de Chelwsford“ 12 (i. e. Chelmsford), seit und dank P. D. James en vogue geratene Gegend. 13 Das eklektische Schlosshotel - fruchtbarer Chronotopos 14 - fungiert als historisches und künstlerisches Palimpsest, in dem die Zimmer Namen à la „Charles X“ oder „William Morris“ tragen, 15 die Gäste von Raum zu Raum zwischen unterschiedlichen Epochen und Ästhetiken hin und her wandern - und sich schließlich im Esszimmer, von einem Vorfahren der aktuellen Besitzerin „spécifiquement à l’usage de Wagner pour des soupers intimes“ konzipiert, im Design einer „Walpurgis champêtre“ wiederfinden. 16 5 In Vorwegnahme der metaleptischen Verwirrspiele rund um die Film-Princesse stürzt auch dieser Balkon - das Unglück zitiert mit ironischer Transparenz den dramatischen (Teil-)Crash des Schlosses Thornfield Hall, der in Jane Eyre den Tod der legendären „Madwoman in the Attic“ (vgl. Gilbert/ Gubar 2000) zur Folge hat und Protagonisten Rochester frei, aber invalid und blind zurücklässt - gleich durch mehrere diegetische Realitätsebenen; auch im Fall der Princesse dringt der Plot des verfilmten klassischen Textes zusehends in die diegetische Realität erster Ebene ein. 6 Denis 1999: 13f. 7 Ibid.: 160. 8 Ibid.: 14. 9 Vgl. ibid.: 13. 10 Ibid.: 18. 11 Vgl. etwa Javier Marías’ Oxford-Roman Todas las almas (1989), ins Deutsche übersetzt unter dem einigermaßen plakativen Titel Alle Seelen oder Die Irren von Oxford (1991). 12 Denis 1999: 18. 13 Vgl. ibid.: 35. 14 Vgl. zu diesem Konzept Bachtin 2008. 15 Denis 1999: 9f. 16 Ibid.: 57. <?page no="463"?> La Princesse de Clèves by Nightmare Productions 463 In diesem symbolträchtigen Ambiente versammelt sich zum prä-filmischen Konklave eine kleine ‚Hofgesellschaft‘; wie später Marie Darrieussecq in Il faut beaucoup aimer les hommes übersetzt Stéphane Denis das höfische Dispositiv Lafayettes in die Welt der People (so der Titel eines 1998 erschienenen Denis-Romans) und auch abseits des Filmsets höchst professioneller Schauspieler, die permanent im Modus des Als-Ob bzw. des „[c]omme si de rien n’était“ 17 agieren, einander mit nicht geringerer Raffinesse als die Höflinge Lafayettes verführen, betrügen, ausspionieren. In puncto intrigues und galanteries steht der kinematografische Hofstaat von Merlin - wenngleich mit aus Kostengründen reduziertem Personal - der cour Henris II kaum nach; auch dies ist ein - medientechnisch hochgerüsteter - panoptischer Mikrokosmos mit rigidem Zeremoniell, in dem man Intimität und repos vergeblich sucht. 18 Wie bereits Lafayette (und dann auch Darrieussecq) setzt Denis auf einen Mix fiktiver und (zeit-)historischer Figuren aus jener postmodernen Glamourwelt, die die höfische Aristokratie der Princesse im doppelten Sinne re-präsentiert: „Kate Moss, Paul Smith et David Bowie“ 19 geistern ebenso durch den Text wie „Nicole Kidman“, „lord Saatchi“ und „Moe Strade“, der sich - wie wenig später Oliveiras ‚Nemours‘ Pedro Abrunhosa - prinzipiell nur im Schutz seiner „grosses lunettes noires (‚un truc de voyeur‘)“ durchs Leben bewegt; 20 Regisseur D’Assy träumt unrealistischerweise von einem Queer-Filmprojekt mit „Anthony Hopkins (pas libre jusqu’en 2035) et Annette Bening (déteste les films de pédés)“. 21 Zwischen Kunst und Kommerz: Zur Konzeption einer Kino-Princesse In diesem Rahmen also wird die neue Kino-Princesse unter psychologischen, literarhistorischen, medientechnischen, aber auch kommerziellen Aspekten reflektiert bzw. unter den Figuren auf diegetischer Ebene diskutiert; vorweg zur mehr oder minder lustlosen Lafayette- Lektüre angehalten, werden die Mitglieder des Filmteams zu kollektiven Brainstorming- Sitzungen in die Schlossbibliothek kommandiert. 22 „L’idée n’était pas mauvaise mais l’intrigue ne tenait pas la distance. […] Tout le contraire d’une bonne histoire […]“, 23 kommentiert Produzentin Sandra de Méricourt („Tu me jures que c’est son vrai nom? “ 24 ), von literarhistorischer Ehrfurcht unbelastet, den Text Lafayettes. Es ist Sandra, Advokatin der kommerziellen und karrierestrategischen Vernunft, die scharfen Blicks und Ohrs auf eventuelle „anachronismes du genre Trompettes d’Aïda au début du tournoi“ achtet; 25 es ist Sandra, die - in Berufswie Privatleben konsequente Re- 17 Denis 1999: 137. 18 Illusionslos demontiert die Produzentin das Klischeebild ländlicher Ruhe und Zurückgezogenheit: „Dans une maison de campagne il n’y a aucun coin vraiment tranquille, car tout le monde est à la recherche d’un coin tranquille et chacun pense au même. Si bien que la tranquillité de la maison de campagne vient très nettement après le nouveau terminal de Victoria et la cantine de Melrose (je veux parler de la cantine de l’équipe durant les tournages […].)“ (ibid.: 85). 19 Ibid.: 107. 20 Ibid.: 126, 114. 21 Ibid.: 135. 22 Vgl. ibid.: 31ff. 23 Ibid.: 159. 24 Ibid.: 127. 25 Ibid.: 152. <?page no="464"?> 464 Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes präsentantin eines kompromisslosen (finanziellen wie pharmazeutischen) Pragmatismus - die ‚Realität‘ gegen die Anfechtungen der Phantasie und des Traums verteidigt: „Inutile de fabriquer du rêve si vous dormez avec du Lexomil, vous voyez ce que je veux dire? “ 26 Sandra steht nicht zuletzt für eine dezidiert anti-literarische Filmtheorie („Je vais vous dire une bonne chose: écrire un scénario ne consiste pas à faire de la littérature“ 27 ); ‚ihre‘ Princesse de Clèves - d. h. jener klassische „roman merdique“, 28 den es möglichst kostensparend in einen den Anforderungen des Mainstream-Kinos entsprechenden „quatre-vingt-dix minutes honorable et sans histoires“ 29 zu verwandeln gilt - wird in (hunderttausenden) Pfund Filmbudget („Nightmare le voudrait à neuf cent mille mais moi je sais qu’on ira plus haut, tout est plus cher en costumes“ 30 ), Filmmetern („ce genre de film coûte plus de mille mètres de pellicule par jour“ 31 ), Überstundentarifen und Kostümspesen evaluiert. Systematisch werden filmästhetische Entscheidungen hier auf ihre kommerzielle Basis zurückgeführt, allzu kostspielige Szenen mit dem produktionstechnischen Sparstift eliminiert bzw. adaptiert („[…] d’Assy m’avait casé une scène de tournoi pour laquelle Sandra disposait d’un budget minimum - un cheval ou deux et une tente rayée comme on en voit sur la plage à Ramsgate“, klagt der schwer geprüfte Drehbuchautor 32 ). Die Uneindeutigkeit des vielschichtigen Romans ist in diesem Sinne ebenso ein Störfaktor wie seine Langsamkeit: „Le problème, le seul“, konstatiert der Regisseur, „c’est que ça ne va pas vite. La Princesse, je veux dire“; 33 mit einer signifikanten Metapher moniert der Szenarist seinerseits den Druck praktischer Produktionszwänge: „Le plan de tournage était tellement resserré qu’on avait l’impression d’arracher des pages à toute vitesse pour prendre rendez-vous au chapitre suivant.“ 34 Neben bzw. hinter dem klassischen Prätext - und über die Köpfe des filmischen Fußvolks hinweg - steht abgesehen von reinen Finanzfragen freilich so einiges an kinematografischer Machtpolitik auf dem Spiel. Die Fäden zieht auch hier Produzentin Sandra, aus Karrieregründen mit einem „ponte de chez Nightmare“ 35 verheiratet, der nicht nur als „la plus grande Couille Molle de l’étage de la Fiction TV“ bekannt, sondern - Gipfel der Verächtlichkeit - sogar mit „les socialistes français“ vernetzt ist („Ces types du ministère de la Culture et leur télé franco-allemande! Achtung, ou quelque chose comme ça“). 36 Diese Vernunftehe in bester dynastischer Tradition (zwanglos betrügt Sandra ihren Gatten auf Schritt und Tritt, so auch - und zwar „trois fois“, wie sie präzisiert - mit dem aktuellen Princesse-Regisseur, „il y a des années-lumière“ 37 ) motiviert wiederholt ironische Reflexionen über die respektiven Rollen der maris und der amants („[…] d’habitude, ce sont les maris qui appellent les serveurs“ 38 ). 26 Ibid.: 210. 27 Ibid.: 151. 28 Ibid.: 171. 29 Ibid.: 130. 30 Ibid.: 85f. 31 Ibid.: 62f. 32 Ibid.: 132, vgl. auch 217. 33 Ibid.: 32. 34 Ibid.: 216. 35 Ibid.: 18. 36 Ibid.: 127. 37 Ibid.: 87f. 38 Ibid.: 141. <?page no="465"?> La Princesse de Clèves by Nightmare Productions 465 Im Konzern der Nightmare Productions - Kino-Königreich unter der Herrschaft der quasiallmächtigen Gebrüder Magnus - stehen jedenfalls, wie die Leserin in einer Erzählpassage aus der (den anderen Figuren unzugänglichen) Innenperspektive Sandras erfährt, ein größeres „projet de restructuration“ und insbesondere die Reorganisation des gesamten Komplexes „Fiction“ bevor; um sich - vor allem gegenüber der erdrückenden Konkurrenz der TV- Serienwelt - weiterhin Markt- und Machtanteile zu sichern, ist ein Erfolg der Princesse für Sandra existentiell: Nous jouions gros sur la Princesse. […] Si nous pouvions prévendre la Princesse avant sa diffusion sur Channel et recommencer à Cannes au printemps, le département marquerait un point dans sa politique du Téléfilm de Qualité. Nous en avions besoin pour équilibrer les séries si nous voulions avoir une chance de diriger la Fiction. Mon mari et moi. Les Magnus n’étaient pas éternels. Nightmare valait une fortune. 39 Als Kontrahent Sandras und - freilich wenig enthusiastischer - Repräsentant der Kultur gegenüber dem Kommerz fungiert Drehbuchautor William Fleming, dessen Name in intendierter Transparenz die parodistisch-eklektische Patchwork-Ästhetik des diegetischen Filmprojekts und des Textes insgesamt widerspiegelt. Von Anfang an wird dieser William Fleming - Hybridprodukt aus William (Shakespeare) 40 und (Ian) Fleming, als James Bond-Kultautor Inbegriff des Produzenten von Unterhaltungsromanen nach bewährtem Trivialrezept 41 und mit eingeschränkter ästhetischer Ambition 42 - als literarischer Schlemihl eingeführt, professioneller Pessimist und Routinier des Selbstzweifels („J’avais tort - cela m’arrive souvent“ 43 ), der zwar von der Kunst des Drehbuchschreibens keine und von Lafayettes Roman nur eine höchst vage Vorstellung hat, sich jedoch in einer Dürreperiode seiner Karriere, von seinem Agenten überrumpelt und von der Aussicht auf das Füllhorn Nightmares verlockt, für die Princesse de Clèves engagieren lässt: „Je ne connaissais absolument rien à l’art du scénario, mais les frères Magnus voulaient pour celui-ci la patte d’un écrivain, et mon agent ne les avait pas découragés.“ 44 Zwischen la patte d’un écrivain und den interpretationshoheitlichen Ansprüchen eines Regisseurs mit dem implikationsreichen Namen ‚Peter d’Assy‘ wird in Denis’ Roman die heikle literatur- und medientheoretische Frage nach der ‚geteilten Autorschaft‘ eines Films 45 39 Ibid.: 211. 40 Speziell Shakespeare-Referenzen finden sich häufig im Text, nicht nur in Gestalt ‚William Flemings‘ raffiniert mit anderen literarischen Elementen hybridisiert. Aus Anlass der Dreharbeiten wird das gesamte Erdgeschoss Merlins mit einem „décor haute époque et shakespearien“ ausgestattet (ibid.: 162); voll Überdruss betrachtet Sandra inmitten dieses Dekors ein höchst literarisches Buffet - Exzess parodistischer kulinarischer Intertextualität - und insbesondere „une citation de Yeats gluante de ketchup ou de mayonnaise“: „J’aimerais que quelqu’un dise à la Littérature qu’elle n’est pas obligée d’en faire autant“ (ibid.: 213). 41 Vgl. Eco 1998. 42 Als sich Raymond Chandler im Rahmen einer gemeinsamen Radiosendung im Jahr 1958 bewundernd über Flemings Arbeitstempo - zwei Monate Jamaika-Urlaub pro Buch - äußert („I can’t write a book in two months! “), kontert dieser trocken: „Well, but then you write better books than I do.“ In anderem Kontext erklärt Fleming auf die Frage, „ob James Bond ihn von ernsthafterem Schreiben abhalte“, ohne Umschweife: „No, I’m not in the Shakespeare stakes. I’ve got no ambitions“ (zit. nach Stecher 2014). 43 Denis 1999: 20. 44 Ibid.: 17. 45 Vgl. Hutcheon 2006: 85. <?page no="466"?> 466 Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes - erst recht einer Literatur- und noch einmal speziell Klassiker-Adaption 46 - reflektiert, die Frage nach den respektiven auktorialen Rollen von Regisseur - Peter Wollen zufolge als „auteur […] never just another adapter“ 47 -, Szenarist und Schauspielern, nach Béla Balázs gemeinsam mit dem Regisseur „die eigentlichen Dichter des Films“. 48 Mag Denis’ Roman mit seiner Vision einer wahrhaft ‚alptraumhaften‘ Princesse - die fiktive Produktionsfirma wird ihrem Namen auf ganzer Linie gerecht - auf den ersten Blick als weitere Übung in der rituellen Devalorisierung der Adaption im Sinne einer zweifelhaften Ästhetik der ‚Originalität‘ 49 erscheinen, so wird auf tieferer Ebene literarische Autorität in diesem Text konsequent unterminiert. Lafayette wird kein einziges Mal erwähnt: „le roman avait été écrit par un ou plusieurs auteurs du XVII e siècle“, 50 erläutert William Fleming, selbst permanent in der Defensive gegenüber den Repräsentanten des Kino-Business, die sich ihrerseits allenfalls herablassend mit ein paar literarischen Extra-Federn schmücken („Mon chou, tous les acteurs de la télévision font semblant d’avoir lu au moins un livre“ 51 ), die filmische Adaption als eigentliche Krönung jedes belletristischen Werkes, Ziel und Erfüllung aller auktorialen Sehnsüchte betrachten („N’importe qui, n’importe quel auteur de merde de n’importe quel roman de merde a envie d’être adapté […]“ 52 ) und aggressiv die traditionellen Privilegien der Literatur gegenüber dem Film in Frage stellen: „Shakespeare, aujourd’hui, c’est Spielberg. Vu? Spielberg, William! “ 53 Von Shakespeare bis Spielberg: Zur Aushandlung literarisch-filmischer Autorität Weder Shakespeare noch Spielberg, macht sich denn also William Fleming auf nach Merlin, ausgestattet mit einer weitgehend unberührten Edition der Princesse de Clèves und einem hastig fotokopierten Szenario-Leitfaden, „exemplaire résumé du cours McKee“. 54 Mit einem spöttischen Zitat („L’écriture, a dit McKee, doit être abordée avec la mentalité d’un coureur de fond. Peut-être certains d’entre vous ignorent-ils qui est McKee. J’ai moi-même découvert son existence vingt-quatre heures avant de partir pour Merlin“ 55 ) eröffnet William seine doppelbödige Erzählung; systematisch werden in der Folge Passagen aus der ‚Drehbuch-Bibel‘ 46 Vgl. ibid.: 80ff. („Who Is the Adapter? “). 47 Vgl. ibid.: 82, unter Verweis auf Wollen 1969: 113. 48 „Darum sind auch die Filmregisseure bekannter und berühmter als ihre Kollegen vom Theater. Wer hingegen merkt sich den Namen (wenn er überhaupt genannt wird) eines Filmautors? […] Die Sache ist eben die, daß Regisseure und Schauspieler die eigentlichen Dichter des Films sind“ (Balázs 2009: 232). 49 Vgl. dazu Hutcheon 2006: XIff. 50 Denis 1999: 80. 51 Ibid.: 143. 52 Ibid.: 127f. 53 Ibid.: 218. 54 Ibid.: 20. Die Rede ist von Robert McKee, vor allem durch sein mit dem 1999 International Moving Image Book Award ausgezeichnetes Handbuch Story. Substance, Structure, Style, and the Principles of Screenwriting (1997) bekannt gewordener, auf seiner Website ohne übertriebene Bescheidenheit als „the Aristotle of our time“ (URL: http: / / mckeestory.com/ about/ ) glorifizierter creative writing-Spezialist und -Trainer. 55 Denis 1999: 17. <?page no="467"?> La Princesse de Clèves by Nightmare Productions 467 jenes „foutu McKee“ 56 - allesamt von erschütternder Banalität - in den Romantext eingeflochten 57 und mit Lafayettes Text parodistisch über Kreuz gelesen. Dabei erweist sich immer wieder die Widerständigkeit des klassischen Werkes gegenüber den Spielregeln des zeitgenössischen Kommerzkinos; schließlich bedauert William, dass man ihn nicht vielmehr mit der Adaption von „quelque chose dans le genre de Guerre et Paix“ 58 beauftragt habe - bei aller Monumentalität immer noch eine geringere Herausforderung als die in tückischer Sanftheit gegen seine szenaristischen Annäherungsversuche rebellierende Princesse. 59 Autorité oblige: Wiederholt macht sich William Fleming (mit Anlauf) an die Lektüre der Princesse - und wiederholt scheitert er (ironisch spielt auch Denis mit der Rezeptionsgeschichte des Romans) an deren berüchtigter Eingangshürde, jenem ausufernden höfischen Panorama, das - von Valincour bis zu heutigen schulischen Pflichtlesern Lafayettes - so manche kritische Klage provoziert hat. „Je crois qu’il y a un bal. […] Y a-t-il un bal dans La Princesse de Clèves? Ma dernière et seule lecture remontait à ma dix-huitième année, au cours de Horace W. Taupine, un fanatique du XVII e siècle français à Magdalene College“, 60 meditiert ein überforderter William, der sich auf Basis vager Reminiszenzen seine eigene Version des Romans zusammenbastelt: „[…] je suggérai la scène où le prince de Clèves croit voir ce qu’il n’a pas vu (encore un souvenir, assez vague au demeurant; il fallait absolument que je m’appuie le fichu bouquin) […].“ 61 Als vermeintlich professioneller Lafayette-Exeget fühlt er sich dennoch bemüßigt, den anderen Figuren allerlei literarhistorische Miniatur- Lektionen zu erteilen; so erklärt er seiner Hauptdarstellerin knapp den Entstehungskontext der Princesse 62 und fasst die Handlung für die junge Schlossherrin zusammen: „Cela se passe en France à l’époque des guerres de Religion. Une dame de la haute noblesse qui ne veut pas tromper son mari avec l’homme qu’elle aime.“ (Und auf die ratlose Rückfrage seiner diesbezüglich weniger skrupulösen Gesprächspartnerin: „À cause de l’idée qu’elle se fait de l’honneur. C’est une idée qui avait cours autrefois.“ 63 ) Eher aus Bequemlichkeit denn aus raffiniertem poststrukturalistischem Literaturverständnis tritt auch der Regisseur einen beträchtlichen Teil seiner Autorität nicht nur an den Rest der Crew, sondern überhaupt gleich an die Rezipienten des zukünftigen Films ab: 56 Ibid.: 60. 57 „IL N’Y A PAS DE FORMULE MIRACLE. QUAND ON GRATTE LA SURFACE D’UN BON FILM, À LA BASE IL Y A TOUJOURS UNE BONNE HISTOIRE. BIEN RACONTÉE“ („Nous en sommes tous là, McKee“, kommentiert ein nachvollziehbar zynischer William; ibid.: 20); oder auch: „UNE SEULE BONNE IDÉE, SIMPLE ET CLAIRE, EST AMPLEMENT SUFFISANTE POUR FAIRE UN BON FILM; AINSI, SOIT L’AMOUR TRIOMPHE, SOIT LA HAINE TRIOMPHE“ („Oui, mais si les deux triomphent en même temps? “, wendet wiederum William ein; ibid.: 60); und schließlich: „GRÂCE À L’ORDINATEUR […] LA CRÉATIVITÉ EST DEVENUE EXTRÊMEMENT FLEXIBLE“ („Je me sentais raide comme une vieille rame de bois“, protestiert William, der der banalen ‚Bibel‘ McKees auch physischen Widerstand leistet; ibid.: 166). 58 Ibid.: 55. 59 William schreitet zur parodistischen réécriture des Schreibratgebers selbst: Im Rahmen eines Kneipenbesuchs reproduziert er auf einem Bieruntersetzer mit Bic-Kugelschreiber McKees Modell des perfekten Drehbuchs, von trügerisch klassischer, geradezu geometrischer Perfektion: „Limpide, constata Marion“ (ibid.: 102). 60 Ibid.: 31f. 61 Ibid.: 52. 62 Vgl. ibid.: 80f. 63 Ibid.: 63. <?page no="468"?> 468 Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes „Faisons confiance au public pour déceler les motivations des personnages […]“, lautet das Passepartout-Argument, mit dem D’Assy sämtliche Einwände hinsichtlich eventueller Inkongruenzen beiseite wischt, während der Drehbuchautor, seinerseits mehr als willens, sich eines Teils seiner lästigen Verantwortung auf Kosten des ko-autorisierten Publikums zu entledigen, zugleich ebendieser ‚Plebs‘ in ihrem naiven Identifikationsbedürfnis zutiefst misstraut: „[…] pour ma part je n’ai aucune confiance dans le public. Le public est convié à entrer dans un monde féerique et piétine à l’entrée en cherchant sa monnaie. D’autre part chacun sait que le public se compose d’abord d’une multitude de filles qui prétendent toutes se reconnaître à la page 60.“ 64 Bei allen Lippenbekenntnissen zum Filmprojekt als „œuvre commune“ 65 („car l’un des plus chers principes de Nightmare était la Mise en Condition et le Travail Collectif“ 66 ) und aller Nonchalance dieses nur allzu bereitwillig seine eigene Abdankung zertifizierenden Autors wird zwischen Szenarist und Regisseur aber doch beharrlich - und ohne Einschränkung bei der Wahl der Waffen - ein subtiler Kampf um die Interpretationshoheit über den Film ausgefochten; mit bemühter Verächtlichkeit apostrophiert Regisseur D’Assy seinen „scribe“ und führt dessen Tätigkeit gezielt aus den luftigen Höhen des literarischen Genies auf die terre-àterre-Realität eskalierender Sekretariats-Überstunden und explodierender Stromrechnungen zurück. 67 Regelmäßig kommt es zum Clash der beiden ‚Autoritäten‘, so etwa, wenn William unter dem skeptischen Blick Sandras mit seiner bescheidenen literarhistorischen Expertise diversen - im konkreten Fall wetterbedingten - Fehlbzw. Überinterpretationsversuchen des Regisseurs entgegentritt: La pluie s’était arrêtée. Elle reprit le soir, s’arrêta vers deux heures et recommença le lendemain. […] D’Assy prétendait que le mauvais temps ajouterait au côté morbide de la Princesse, fin de race et décadent. Quand William lui faisait remarquer que l’aristocratie était en plein essor sous Henri II, d’Assy le regardait férocement. Non, l’aristocratie était morbide et décadente comme dans les films de James Ivory. Une sorte de bal masqué vénitien: William voyait-il ce que Peter voulait dire? Mais la Princesse n’avait rien d’un bal masqué vénitien, ripostait l’autre avec cette obstination propre aux écrivains. […] William ne pouvait-il pas faire un petit effort? 68 Der Regisseur kokettiert seinerseits mit theoretischen Raffinessen („Peter aurait adoré, oui, vraiment adoré écrire une fiction sur la fiction. Le narrateur sur qui on ne peut pas compter. Tout était là! “); bei der Princesse allerdings, so erklärt er gönnerhaft, ginge es doch „simplement - simplement, William“ nur darum, „[u]ne simple histoire d’amour“ zu erzählen - freilich mit aristokratischem Zusatztrumpf: „Tant mieux si c’est une princesse […]. Tant mieux parce que quand Melville avait écrit Moby Dick, il avait pris le plus gros animal qu’il puisse trouver: la baleine c’est l’absolu. […] Un grand sujet, il faut un grand sujet […]… Ou alors une princesse! Un grand sujet, c’est une baleine ou une princesse! […] O.K.? O. K., William? “ 69 64 Ibid.: 54. 65 Ibid.: 125. 66 Ibid.: 25. 67 Ibid.: 131f. 68 Ibid.: 191. 69 Ibid.: 192f. <?page no="469"?> La Princesse de Clèves by Nightmare Productions 469 Aber auch die Produzentin verfolgt voll Misstrauen die Aktivitäten des literarischen Außenseiters („William n’est pas l’un des nôtres. La télévision se moque des écrivains“ 70 ), verkörpert dieser - im Gegensatz zum rollenbewussten Regisseur, der, „dépressif, agressif, frileux et monomaniaque“, 71 sein Image als kapriziöses Genie nach allen Regeln der Kunst kultiviert - doch wenig überzeugend ihr Klischeebild des Schriftstellers: „Un écrivain fait généralement des manières, et celui-ci n’en faisait pas. Il ne faisait rien du tout, si vous voulez mon opinion. […] Je ne crois même pas qu’il ait jamais lu La Princesse de Clèves.“ 72 Letzteres zumindest stellt eine lässliche Sünde dar, ist Sandra doch ohnedies der Meinung, dass die Lektüre eines literarischen Werkes dessen erfolgreicher Verfilmung nur im Wege stehe: „Comment voulezvous adapter La Princesse de Clèves si vous ne l’avez pas lu? Beaucoup mieux que si vous l’aviez lu. N’importe quel réalisateur, n’importe quel acteur vous dira la même chose.“ 73 Von eventueller Detailkenntnis der Princesse unbeeinträchtigt macht sich das Team also an den mehr oder minder kreativen Remix diverser Elemente des Ausgangstextes; mit gebührendem Stolz wird das romaneske Rad neu erfunden, werden vermeintlich ‚originelle‘ neue Figuren und Handlungselemente in das Szenario integriert: „Je crois que William devra introduire un personnage nouveau. J’imagine que le prince pourrait tomber sur une lettre du duc, mais ne pas le dire à sa femme. Il chargerait son homme de confiance de la surveiller.“ 74 Derart entsteht der Film in einer Serie subtiler Machtkämpfe zwischen Drehbuchautor, Regisseur und Produzentin, die jeweils ihre Ideen - und ihr gewünschtes Personal - durchzusetzen bzw. jene der anderen hinterrücks wieder zu eliminieren versuchen („[…] je ne m’étais pas encore débarrassé des Nouveaux Personnages qui me tombaient dessus. C’était déjà assez compliqué avec ceux que j’avais en face de moi“, klagt William der Leserin sein Leid 75 ). Nicht nur die temporären Insassen Merlins, sondern auch die Figuren Lafayettes werden als Streitmacht in die von Tag zu Tag fortgesetzte intermediale Autoritätsschlacht geworfen. So wird auch das Schicksal diverser Lafayette’scher Nebenfiguren neu verhandelt (und damit ein weiteres Mal die seit Valincour kontrovers diskutierte, angesichts der Notwendigkeit filmischer Verknappung umso dringlichere Frage nach dem Status der Digressionen im Roman aufgegriffen): „D’Assy […] s’était pris de passion pour des personnages secondaires que j’avais commencé par éliminer. C’était tout un travail que de se débarrasser du vidame de Chartres ou de Madame de Martigues; leurs noms plaisaient tant à d’Assy qu’il tentait de me les refiler à la moindre occasion“, spottet William, der sich bereits als Sieger in diesem auktorialen Konflikt um die angebliche „œuvre commune“ wähnt, 76 während Sandra längst die radikale réécriture des Drehbuchs durch ihren Leibregisseur D’Assy einkalkuliert hat - und dieser sich schließlich in letzter Minute als Ko-Autor aufs Cover schwindelt. 77 Währenddessen rebellieren an anderer Front die Schauspieler gegen die doppelte auktoriale ‚Diktatur‘: „Comme s’ils n’étaient pas capables de lire tout seuls La Princesse de Clèves. 70 Ibid.: 148. 71 Ibid.: 171. 72 Ibid.: 87. 73 Ibid.: 148. 74 Ibid.: 53f. 75 Ibid.: 54. 76 Ibid.: 124f. 77 Vgl. ibid.: 169. <?page no="470"?> 470 Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes Des branlettes à la française“, 78 schimpft „Jeremy quelque chose“, 79 Darsteller des Nemours, über den Regisseur („Bon Dieu, ce que d’Assy pouvait être emmerdant […]“ 80 ) wie über „ce vieux con de scénariste“ 81 - und erklärt sich kurzerhand selbst zum einzig kompetenten ‚Autor‘ in der gesamten Geschichte: „C’est moi, le meilleur scénariste.“ 82 Eben Jeremy- Nemours - selbstbewusster Casanova auf allen Realitäts-/ Fiktionsebenen - zeigt sich auch im diegetischen real life empört, wenn ihm, „habitué à ce que le reste du monde se déplaçât autour de lui“, 83 die Regie über den ‚Film‘ seines Lebens punktuell zu entgleiten droht. So nimmt er es seiner Ex- und Wieder-Geliebten Marion äußerst übel, „même pas présente pendant le sexe“ gewesen zu sein; ebenso schnell, wie die alte Liaison wieder angeknüpft war, findet sich die junge Frau als „Quelle salope, mais quelle salope“ disqualifiziert: „Un homme peut choisir son casting, merde! “ 84 Making of: Poetik und Parodie der postmodernen Klassiker-Adaption In dieser symbolischen Figurenkonstellation werden quasi systematisch die zentralen Problematiken der Literaturverfilmung abgehandelt; Denis’ Roman liest sich als parodistisches Kompendium der postmodernen Klassiker-Adaption. Die erste Begegnung Williams mit seiner Hauptdarstellerin wirft bereits die - gerade im Fall der zugleich hyperbolischen und höchst abstrakten Princesse de Clèves besonders herausfordernde - Frage der konkreten Inkarnation dieser oder jener literarischen Figur auf der Leinwand auf, nach der potentiellen, ja wahrscheinlichen Kollision zwischen physiognomischer Realität der Schauspieler und der jeweiligen Bilder im Kopf der Leserin - bzw. hier zunächst des Princesse-lesenden Drehbuchautors. Auf den ersten Blick konstatiert William die eklatante Diskrepanz zwischen seinem persönlichen Bild der Heldin Lafayettes und der Erscheinung der für die Rolle gecasteten glamourösen Aktrice, die ihn - denkbar weit von der schüchternen jungen Mlle de Chartres in der Boutique jenes italienischen Juweliers entfernt - „avec le même sourire que les vendeuses d’Agent Provocateur“ begrüßt: „Je ne voyais pas Margot Kinder en princesse de Clèves, mais après tout je n’avais pas connu la princesse. Nous nous faisons certainement des idées sur l’aristocratie française. Margot était sensationnelle […]. Son nez court et ironique avait d’ailleurs quelque chose de français.“ 85 Am Anfang des Princesse-Konzils von Merlin steht unweigerlich die Prinzipienfrage jeglicher Verfilmung eines mehrere Jahrhunderte alten Texts: Historisierender Kostümfilm oder moderne Adaption? Die Entscheidung fällt hier klar zugunsten der - wenngleich deutlich teureren - ersten Variante aus, dies mit dem signifikanten Argument, dass eben die Modernisierung 78 Ibid.: 70. 79 Ibid.: 39. 80 Ibid.: 70. 81 Ibid.: 139. 82 Ibid.: 71. 83 Ibid.: 195. 84 Ibid.: 139. 85 Ibid.: 40f. <?page no="471"?> La Princesse de Clèves by Nightmare Productions 471 klassischer Sujets doch längst abgegriffen und anachronistisch sei. „J’ai pensé à situer l’action de nos jours“, erklärt Regisseur D’Assy: „J’y ai renoncé. Ce genre de truc est démodé.“ 86 „[…] ma Princesse, elle couchera“, kündigt Marie Darrieussecq im Vorfeld der Publikation ihrer Lafayette-réécriture an; 87 diese Devise beherzigt auch das Filmteam von Nightmare, ausnahmsweise einhellig davon überzeugt, dass Abstinenz und Verzicht der Heldin in einem zeitgenössischen Film - und sei es ein historisches Kostümdrama - hoffnungslos deplatziert wirken müssten. Der vorsichtige Einwand William Flemings („Eh bien […] ce ne sera plus tout à fait La Princesse de Clèves“) wird mit nonchalanter Geste beiseite gewischt: „[…] il faut parfois savoir dépasser les auteurs. Nous avons obtenu d’excellents résultats avec Le Moulin sur la Floss, tout dernièrement, rien qu’en introduisant un personnage auquel Eliot n’avait pas pensé.“ 88 Nach dem Motto Sexing up the Princess of Clèves wird der Roman also umgeschrieben: „Cette scène, la 32, supposait que la princesse ait les nichons à l’air. Peut-être que le duc ne les avait jamais vus dans le livre, mais il ne les voyait que mieux, est-ce que William comprenait Peter? “ 89 Freilich gerät der gesamte Dreh - strikt nach den Geboten der „morale mckeenienne“ - zum parodistischen Liebesakt („LES GRANDS CONTEURS FONT L’AMOUR AVEC LE PUBLIC“ 90 ), wobei sich speziell die als tugendhafte Heldin gecastete Schauspielerin durch bemerkenswerte Offenherzigkeit auszeichnet und die Princesse de Clèves hypothetisch auf den zoophilen Spuren von Charlotte Rampling in Nagisa Ōshimas Max mon amour (1986) wandeln lässt: „D’Assy était le seul à parler boulot. Margot venait de lui répondre qu’il pouvait bien faire coucher la princesse avec un chimpanzé, pour ce qu’elle en aurait à faire […].“ 91 Während Lafayettes Version des Porträtdiebstahls, an sich schon „wonderfully cinematic scene“, 92 weitgehend telle quelle beibehalten wird, 93 findet die nächtliche „scène du pavillon, lorsque la princesse se croit seule et regarde passionnément un portrait du duc de Nemours“ 94 - Höhepunkt der elegant zurückhaltenden Erotik des Romans - keine Gnade vor den Augen der routinierten Produzentin und wird zur kruden Sex-Szene re-interpretiert, pikanterweise in der Kapelle von Merlin, 95 die aus pragmatischen Gründen den Pavillon von 86 Ibid.: 31. 87 Darrieussecq 2009b: IX. 88 Denis 1999: 32f. 89 Ibid.: 191. 90 Ibid.: 193. 91 Ibid.: 56f. 92 Andersen 1998: 199. 93 Vgl. Denis 1999: 185. Wieder andere Szenen werden frei hinzuerfunden, so eine Begegnung der Princesse mit Nemours in Cateau-Cambrésis, die den historischen Kontext des Romans ins Spiel bringt (ibid.: 206). In Cateau-Cambrésis wurden Anfang April 1559 die Friedensverträge zwischen Frankreich einerseits und Spanien (unter König Philipp II.) wie England (Elisabeth I.) andererseits unterzeichnet; dieser geschichtliche Hintergrund ist auch in der Princesse präsent (vgl. Levillain 1995: 43, 52): Ausführlich schildert Lafayette (2014c: 438f.) die Feierlichkeiten zur Verlobung und Hochzeit (per procurationem) Élisabeth de Valois’ mit Philipp II.; die Option einer Ehe zwischen der englischen Königin und Nemours steht - zumindest bis zu dessen Bekanntschaft mit Mme de Clèves - im Raum. 94 Denis 1999: 78. 95 Literarhistorische Ironie am Rande: Valincour, Gründungsvater der kreativen Lafayette-Kritik, erklärt in seinen Lettres (2001: 36), er persönlich hätte als Szenerie für die Erstbegegnung zwischen dem Prince de Clèves und seiner Zukünftigen eventuell eine Kirche anstelle des Juwelierladens vorgezogen. Vgl. dazu auch den Kommentar Segrais’, bei Cideville („Traits, notes et remarques“ [1744-1747], in Lafayette <?page no="472"?> 472 Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes Coulommiers ersetzt. 96 All dies hindert den Regisseur nicht daran, bei den Dreharbeiten unvermittelt wieder allgemeine ‚Unschuld‘ - fernes Echo von Cocteaus Charakteristik der im Tandem mit Delannoy verfilmten Lafayette’schen „orgie de pureté“ 97 - einzufordern: „… et ce que j’aimerais vraiment […] c’est de l’innocence sur ce plateau! “ 98 Auch wenn die Figuren kollektiv Lafayettes Liebesskepsis teilen - die Passion erscheint nach wie vor als „désastre général“ 99 -, so ist Tugend doch jedenfalls kein Trumpf, eheliche Treue kein Wert mehr, der all diesen emotionalen Aufwand rechtfertigen würde; um das moralische Dilemma der Princesse, den transgressiven Charakter ihrer Leidenschaft künstlich zu verstärken, wird hier eine Innovation von überaus Hollywood’scher Sentimentalität ins Spiel gebracht. Neben der ethisch nicht mehr so recht tragfähigen Idee der Treue bedarf es auch eines Kindes, um die Heldin an der Schwelle des Ehebruchs zögern zu lassen: „Le fils de la princesse. […] Il en faut un […]. Elle le regarde dans son lit et lui trouve les traits de son père. Toutes les femmes pensent à leur fils avant de coucher. […] La fidélité, plus le fils.“ 100 Introit also „Le Petit Prince“: 101 Auch hier wird das Argument der ‚Untreue‘ dem klassischen Prätext gegenüber - in einer Passage, die in metaleptischer Ironie unterschiedliche Ebenen der fidélité miteinander verschränkt - lässig übergangen. Gegen den hartnäckigen Widerstand Williams - fest entschlossen, den lästigen kleinen Prinzen, drehbuchtechnische Zumutung, noch vor seiner kinematografischen Geburt wieder zu eliminieren („[…] je ne me voyais pas écrire un dialogue entre une jeune mère et son marmot. La part des bébés dans une conversation est des plus décevantes pour un auteur“ 102 ) - wird der intertextuelle Fremdgänger in die Film-Princesse eingeschmuggelt (und entpuppt sich als „enfant plutôt rond, désinvolte et boudeur“, das mit Videospielen mühsam bei Laune gehalten werden muss). 103 Damit nicht genug: Nicht nur in puncto Sex-Appeal und Familienkitsch gilt es die Princesse de Clèves zu postmodernisieren. Es ist Regisseur D’Assy, der die heikle „question des minorités“ aufs Tapet bringt - und damit eine Problematik, die auch in Produktion wie Rezeption der zu Beginn des 21. Jahrhunderts konkret realisierten filmischen wie literarischen Princesse-Adaptionen eine nicht unwichtige Rolle spielen wird, ist doch nicht zuletzt die selbstverständlich ‚weiße‘ aristokratische Welt Lafayettes soziokulturell zu rekontextualisieren. Im Sinne der kinematografischen Political Correctness wird bei Denis eine schwarze Alibi- Quotenfigur in den Plot der Princesse eingefügt, der Protagonistin als neues inkarniertes Klischee freilich ausgerechnet ein „page noir“ zur Seite gestellt, dessen „condition inférieure“ dem Regisseur weiter Kopfzerbrechen bereitet. 104 2014: 710) selbst als Autor der Princesse - wie der Zayde - identifiziert: „Segraisiana“ [1722], in Lafayette 2014: 709-710, hier 709. 96 Vgl. Denis 1999: 56, 170. 97 Cocteau 2003: 261. 98 Denis 1999: 168. 99 Ibid.: 238. 100 Ibid.: 33f. 101 Ibid.: 34. 102 Ibid.: 41. Lediglich bei Merlin-Manager Bo stößt Fleming mit seiner Aversion gegen den „Petit Prince“ auf freilich weniger filmästhetisch denn lebenspraktisch motiviertes Verständnis: „Toutes les filles veulent des enfants. C’est comme une épidémie“ (ibid.: 189). 103 Ibid.: 188f., 212. 104 Ibid.: 52. <?page no="473"?> La Princesse de Clèves by Nightmare Productions 473 Realität als Fiktion, Fiktion als Realität: Princesse-Metalepsen und multiples Rollenspiel Über derlei epochenspezifischen Adaptionsbedarf hinaus fungiert der Roman Lafayettes in Denis’ Text aber auch als hoch potenter Trigger individueller Interpretationen. Auch noch die literatur-aversesten Mitglieder der kleinen Hofgesellschaft von Merlin gewinnen der Princesse im Licht ihrer persönlichen Obsessionen ihre idiosynkratische Lesart ab, die sie in der Folge nicht nur gegenüber der autorisierten Trias von Regisseur, Drehbuchautor und Produzentin, sondern auch gegeneinander durchzusetzen versuchen; das Spiel ‚wilder‘ Interpretationen entfaltet sich umso hemmungsloser, als sämtliche Figuren sich auf Basis allenfalls approximativer Kenntnis des zu adaptierenden Romans an die Arbeit machen. Am eifrigsten geht noch die ‚Princesse‘ zu Werke, die immerhin eine gute Hälfte des Romans bewältigt hat („Oh, je connais cette merde à fond […]“ 105 ) und nun zur professionellen „persiflage“ schreitet. 106 Dergestalt gerät bereits das Princesse-Brainstorming zur abstrusen Performance sui generis, die plastisch das Neben- und Durcheinander einer Vielfalt divergenter Lektüren illustriert: Jeder einzelne der hier versammelten (Nicht-)Leser tritt nicht nur mit seiner eigenen Taschenbuchausgabe, sondern auch seiner eigenen mentalen ‚Edition‘ der Princesse zum Disput über eines jener klassischen „livres que l’on n’a pas lus“ an 107 (auch hier taucht in parodistischer Form wieder die eingangs reflektierte Frage nach der Spezifik des ‚Klassikers‘ auf, dessen Idee - so Italo Calvino - der eigentlichen Lektüre vorausgeht). Nicht zufällig ist es die von Erziehungs- und Babysitter-Problemen geplagte Sandra, die darauf insistiert, auch die Princesse mit einem Kind auszustatten; ebenso wenig zufällig ist es Regisseur D’Assy, der, als Spätberufener kürzlich zur Erkenntnis seiner eigenen Homosexualität gelangt, die aus seiner Sicht überaus verführerische Option eines schwulen Duc de Nemours ins Spiel bringt: Darsteller Jeremy - der als allzeit bereiter Hetero-Don Juan seinem historischen und literarischen Vorbild Konkurrenz macht - befürchtet wie die pragmatische Sandra, „que d’Assy nous colle un pédé dans la Princesse, c’était son côté prosélyte façon père de Foucauld après la conversion“. 108 Der eigentliche theoretische ‚Clou‘ der Chambres d’hôtes besteht darin, dass die Princesse de Clèves - jener vermeintlich anachronistische klassische Prätext, in dessen Aktualisierung das Nightmare-Team so viel Zeit, Nerven und gelegentlich Blut investiert - über den Filmset 105 Ibid.: 53. 106 Ibid.: 79. 107 Vgl. Bayard 2007. Auch als die Dreharbeiten bereits im Gange sind, werden immer noch weitere Perspektiven unterschiedlicher Figuren auf die Princesse de Clèves ‚eingeblendet‘; so erkundigt sich der Regisseur bei einer Austauschstudentin, die gemeinsam mit ihrem Cambridger Professor ein (be-) sinnliches Wochenende in Merlin verbringt, nach ihren Lektüreerfahrungen - worauf die junge Frau in fröhlichem internationalem Kauderwelsch, „un mélange d’anglais et de ce qui me parut être du tchèque“, antwortet und in ansteckendes Gelächter ausbricht: „Dans la poche, hoqueta d’Assy. Je l’ai toujours dit…“ (Denis 1999: 180f.). 108 Ibid.: 88, vgl. auch 52f. Das hier im parodistischen Modus vorgeschlagene Queering des Princesse-Plots wird in späteren Texten bzw. Filmen tatsächlich umgesetzt - in Emmanuelle Bayamack-Tams Transgender- Princesse ebenso wie bei Christophe Honoré, der in La Belle Personne - neun Jahre nach dem Erscheinen von Denis’ Roman - zwar die Heterosexualität des zentralen amourösen Dreiecks unangetastet lässt, dafür jedoch eine kreativ ver-queerte Re-Interpretation der Intrige rund um den Vidame de Chartres unternimmt. <?page no="474"?> 474 Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes hinaus auch die Ebene der diegetischen Realität infiltriert (und umgekehrt). Die Grenzen zwischen intradiegetischer und metadiegetischer Welt erweisen sich als ausgesprochen durchlässig; 109 ein metaleptischer Schwebezustand stellt sich - über den Produktionsjargon der Filmcrew hinaus - schon dadurch ein, dass die gecasteten Darsteller von Anfang an als „prince“ und „princesse de Clèves“ bzw. „duc de Nemours“ eingeführt werden: Nach einigen terminlichen Turbulenzen reisen immerhin „la princesse et le duc de Nemours“ zum ersten Planungstreffen nach Merlin, während „le prince de Clèves“, „prétextant un autre engagement à la télé“, sich schon bei diesem Anlass seinen Repräsentationspflichten zu entziehen weiß. 110 Elegant switchen die Protagonisten - professionelle Routiniers der Metalepse - zwischen ihren verschiedenen Masken (ihr ‚reales‘ Ich ist nur eine davon); frisch aus der Serienwelt von Melrose Place in Merlin angekommen, wechselt Jeremy in Sekundenschnelle in seine Rolle als Nemours, ohne sich unterwegs bei seiner ohnedies recht prekären ‚echten‘ Persönlichkeit aufzuhalten. Gerade Jeremy - als perfekter ‚Höfling‘ dem Lafayette’schen Nemours in einem neuen gesellschaftlichen Kontext nicht unverwandt - erscheint als vollendetes Chamäleon, reine Oberflächenfigur; in seltenen Augenblicken der Selbstreflexion stellt sich der egozentrische Akteur seiner selbst die ängstliche Frage, was - nicht nur karrieretechnisch, sondern auch existentiell - wohl nach seiner Verbannung aus dem Paralleluniversum von Melrose Place aus ihm werden solle. 111 Doch sogleich tröstet er sich wieder mit dem Gedanken an die verlockende Vielfalt zukünftiger Rollen und die völlige Irrelevanz einer eventuellen ‚Identität‘: „Savoir qui l’on était, quelle importance? Il y avait tant de rôles merveilleux à jouer! On pouvait être n’importe qui.“ 112 Auch in der diegetischen Realität außerhalb der Film-Princesse fällt die Differenzierung von „vrai“ und „faux“ hier schwer 113 - bzw. verliert jeden Sinn, sind doch alle Beteiligten unaufhörlich damit beschäftigt, selbst ihr eigenes Leben vor- und nachzuspielen: 114 „[…] je m’aperçus qu’il jouait, il ne cessait de jouer avec une disposition étonnante“, konstatiert 109 Das Drama entfaltet sich zunächst auf dem ‚falschen‘ diegetischen Niveau: Während die Arbeit an der Film-Princesse eher uninspiriert voranschreitet, ist auf der Ebene der diegetischen Realität längst eine geradezu plakativ verfilmungswürdige Handlung im Gang. Bezeichnenderweise stellt der chronisch überforderte Szenarist immer wieder fest, dass die operativen Kategorien und Strukturelemente, die ihm sein Dreh-Handbuch zur Verfügung stellt, die Vorgänge in der ‚realen‘ Welt von Merlin sehr viel adäquater zu beschreiben scheinen als das vor sich hinvegetierende Filmprojekt. So illustriert die in einem Gästezimmer entdeckte tote Touristin paradigmatisch „ce que McKee appelle un ID“ (auf Bos ratlose Rückfrage erläutert William: „Un Incident Déclencheur. Il considère que l’ID fait jaillir la Question Essentielle: comment cela va-t-il tourner? “ ibid.: 42). Wenig später sind unter dem McKeegeschulten Blick Williams seine Hauptdarsteller „tout droit vers l’Incident Déclencheur“ unterwegs (ibid.: 54); Produzentin Sandra wiederum, die ihr prokrastinierendes Team in wenig opportunem Moment überrascht, inkarniert „ce que McKee appelait les Cheap Surprises (la main qui vient soudain se poser sur l’épaule du personnage)“. In diesem Moment wechselt der Autor selbst aus der Position des Kommentators mitten ins Drehbuch - und muss auf den Spuren McKees resigniert feststellen: „DANS UN SCÉNARIO IL N’Y A PAS MOYEN DE SE CACHER“ (ibid.: 82). 110 Ibid.: 25. 111 Vgl. ibid.: 197. Die „Melancholie am Ende der Serie“, die Braidt (2016) am Beispiel der Sopranos beschreibt, sucht nicht nur deren Zuschauer, sondern auch die Darsteller selbst heim. 112 Denis 1999: 206. 113 Ibid.: 216. 114 Vgl. ibid.: 59. <?page no="475"?> La Princesse de Clèves by Nightmare Productions 475 William als präziser Beobachter von Jeremy-Nemours auch abseits des Sets; 115 ebenso in Bezug auf ‚Princesse‘ Margot: „[…] je me demandai une fois de plus si elle jouait la comédie […]. J’inclinais à croire qu’elle jouait la comédie. N’était-ce pas son métier? Je suppose qu’il est difficile de faire la part du vrai et du faux quand on a un talent égal au sien […].“ 116 Den ganzen Text hindurch wird mit der durch Kostümierung und historisches Ambiente geförderten (Kon-)Fusion und Re-Differenzierung der jeweiligen Rollen experimentiert, unter eifriger Partizipation nicht nur des Filmteams, sondern auch von Gastgebern und Hilfspersonal: „Pour le moment ils sont dans la chambre du duc […]“, 117 erklärt Merlin-Manager Bo dem Drehbuchautor auf der Suche nach seinen personaggi; im Bewusstsein der Produzentin koexistieren diegetisch reale und fiktive Filmfiguren mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit: „Il y eut une dernière réunion à Nightmare. William apporta le scénario. Peter avait eu une longue conversation avec le prince de Clèves […]. Jeremy et Margot feraient la route ensemble, et Peter et le prince avec moi.“ 118 Das kontinuierliche Switching zwischen unterschiedlichen Realitätsebenen setzt sich durch den gesamten Roman fort; nicht nur Figuren und Rollenbilder, sondern auch der konkrete Text 119 (und der philosophische Kontext 120 ) der Princesse sickern in die diegetische Realität ein. Im Rahmen der Dreharbeiten erreicht diese fröhliche Verwirrung ihren Höhepunkt; wiederholt kommt es zu parodistischen Mini-Clashs zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen diegetischer Realität und Fiktion (d. h. mehreren Fiktionen unterschiedlichen Grades, denen - wenn wir Borges’ Reflexionen über das ontologische Verstörungspotential der Metalepse folgen wollen 121 - vielleicht auch die extradiegetische ‚Realität‘ der Lesenden zuzurechnen ist). Inmitten pseudo-historischer Dekors wandeln die kostümierten Akteure während der Drehpausen durch die Jahrhunderte - und fallen immer wieder grotesk aus der Rolle; so etwa, wenn die Princesse im royalen Outfit, „merveilleuse en fraise et perles terriblement élisabéthaines“, einen der Techniker mit ihrer üblichen Direktheit um einen Gefallen bittet: „Fais-le pour moi et je t’embrasse sur la bouche avec un doigt dans le cul.“ 122 Amouröse und erotische Intrigen entfalten sich sorglos über Fiktionalitätsgrenzen hinweg. 115 Ibid.: 80. 116 Ibid.: 216, vgl. auch 134. 117 Ibid.: 42. 118 Ibid.: 160. 119 Mit zweifelhaftem Erfolg versucht William wieder einmal, sich in die Welt der Princesse de Clèves zu versetzen - und wird sogleich unsanft in die Gegenwart zurückgeholt: „Je […] tâchais de me persuader que la magnificence et la galanterie n’ont jamais paru en France avec tant d’éclat que dans les dernières années du règne de Henri Second, quand Bo frappa à ma porte“ (ibid.: 60). 120 „Dieu est un serial killer“ (ibid.: 14), wie der Erzähler die jansenistische (Anti-)Theologie dieser eklektischen Welt zwischen Lafayette und Melrose Place salopp zusammenfasst. 121 In „Magias parciales del Quijote“ verweist Borges auf Josiah Royces (The World and the Individual, 1899) Idee einer monströsen (Meta-)Meta-Karte („un mapa del mapa, que debe contener un mapa del mapa del mapa, y así hasta lo infinito“), die denselben metaleptischen Schwindel auslöse wie Tausendundeine Nacht, Don Quijote und Hamlet, diese Klassiker des metaliterarischen Verwirrspiels: „¿Por qué nos inquieta que el mapa esté incluido en el mapa y las mil y una noches en el libro de Las mil y una noches? ¿Por qué nos inquieta que don Quijote sea lector del Quijote, y Hamlet, espectador de Hamlet? Creo haber dado con la causa: tales inversiones sugieren que si los caracteres de una ficción pueden ser lectores o espectadores, nosotros, sus lectores o espectadores, podemos ser ficticios…“ (Borges 2007: 84). 122 Denis 1999: 167. <?page no="476"?> 476 Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes Der ‚Prince de Clèves‘ und ‚Nemours‘ teilen sich nicht nur ihre Filmprinzessin, sondern auch eine adrette junge französische Köchin. Neugierig fragt sich William angesichts der kursierenden Gerüchte, „s’il était vrai qu’elle s’était tapée le duc de Nemours en lui montant son petit déj’“; 123 wenig später spioniert er erneut - seinerseits Voyeur auf den Spuren Nemours’ - der koketten cuisinière nach, nun schon in neuer galanter Mission durchs nächtliche Haus unterwegs: „[…] j’entendis distinctement la petite cuisinière française rejoindre le prince de Clèves après avoir terminé son service. Elle avait gardé sa petite robe noire, son col et son tablier; ce prince était un classique, à moins que son père n’eût été pasteur.“ 124 Kurz: In mannigfacher Gestalt wandert eine multiplizierte Princesse de Clèves durch Denis’ Roman und das Bewusstsein der Figuren, aber auch konkret durch den Raum des Textes. Merlin - hyper-literarisierter Ort von beträchtlicher metaleptischer Potenz, extravagante (Alp-)Traumwelt („À Merlin rien n’était impossible“ 125 ), die ein seltsames ‚Gift‘ verströmt („Merlin agissait sur nous comme un poison“ 126 ) - erscheint nicht nur in bautechnischer Hinsicht als „un vrai chantier“ bzw. auch „un cirque“, 127 in dem diegetisch reale Figuren, kostümiertes Filmpersonal und allerlei intertextuelle Gespenster sich neben- und durcheinander tummeln („Je m’attendais à chaque instant à voir Rosencrantz et Guildenstern jaillir des portes menant à l’office, le poignard à la main“ 128 ); rasch genug werden die pseudohistorischen titelgebenden Chambres d’hôtes - anachronistische und teils recht unkomfortable ‚Gästezimmer‘ der literarischen und künstlerischen Vergangenheit, die es zumindest für die Dauer des Klassikerverfilmungs-Projekts einigermaßen adäquat zu bewohnen und zu bewirtschaften gilt - auch als poetologische Metapher lesbar. Auch abseits der Bibliothek zirkuliert der Text Lafayettes in diversen mehr oder minder gut erhaltenen Editionen quer durchs Haus. Bereits am Abend seiner Ankunft findet William ein Exemplar der Princesse - unmissverständlicher Print-Fehdehandschuh von Seiten der skeptischen Produzentin - auf seinem Nachttisch vor: „[…] Sandra avait déposé sur ma table de nuit un exemplaire de La Princesse de Clèves en format de poche. La guerre était déclarée.“ 129 Bei seiner Rückkehr nach Merlin, nun schon zu den Dreharbeiten, erwartet ihn erneut - etwas lästige alte literarische (Un-)Bekannte - „cette bonne vieille Princesse, toujours dans son édition de poche“. 130 Immer wieder wird letztere räumlich und symbolisch rekontextualisiert; Denis entwirft eine Reihe abstruser Princesse de Clèves-Stillleben, kleine künstlerische Arrangements rund um das Objekt Buch. 131 „Gabriella était étendue sur mon 123 Ibid.: 174. 124 Ibid.: 221. 125 Ibid.: 216. 126 Ibid.: 219. 127 Ibid.: 186f. 128 Ibid.: 57. 129 Ibid.: 25. 130 Ibid.: 169. 131 Durch den Roman geistern neben der Princesse auch andere Buch-Objekte, die kurze Reflexionen über die Problematik der Adaption, die Kino-Kompatibilität dieses oder jenes literarischen Werkes motivieren. Seit Jahren träumt Regisseur d’Assy vergeblich davon, Scott Fitzgeralds Tender is the Night (1934) zu verfilmen; auch nach Merlin begleitet ihn ein längst völlig zerlesenes Exemplar: „Depuis quinze ans d’Assy rêvait de l’adapter, mais quel producteur prendrait un risque sur un type qui avait mal fini en écrivant l’histoire d’un type qui finissait mal? “ (ibid.: 171). <?page no="477"?> La Princesse de Clèves by Nightmare Productions 477 lit, à côté du volume de La Princesse de Clèves. Elle portait son twin-set rose […]“: 132 Bestürzt betrachtet der unselige Drehbuchautor die Leiche der fremden Frau, die temporär auf dem Bett in seinem Gästezimmer deponiert wurde und dort neben seiner nach wie vor nicht fertig gelesenen Edition der Princesse ihres weiteren Schicksals harrt. 133 Diese einigermaßen makabre nature morte verfolgt ihn weiterhin bei seiner Arbeit; die Einbuchtung, die die Tote auf seinem Bett hinterlassen hat, aber auch der Abdruck des Körpers der schönen jungen Hausherrin, die eben noch dort gesessen ist, erscheinen assoziiert mit jener anderen (inter-)textuellen Spur, dem palimpsestuösen ‚Hohlraum‘ des zu adaptierenden Textes; vergeblich sucht der Autor nicht nur auf seinem mehrfach bespukten Bett, sondern auch auf den Seiten der Princesse nach einem Ort, an dem vor ihm noch niemand gewesen ist: „Deux femmes sur ce lit, et l’une était morte. Je m’allongeai de l’autre côté, là où il n’y avait eu personne. Le creux ne s’effaçait pas. Je pris La Princesse de Clèves. Il me fallait une idée de l’histoire […].“ 134 Bei Gelegenheit wird die Paperback-Princesse zur non-letalen intertextuellen Waffe; mit ebenso aggressiver wie reizvoll metaleptischer Geste schleudert die eifersüchtige Filmheldin ihrem Kollegen ‚Nemours‘ ihre fast noch nagelneue Edition des Romans ins Gesicht: Jeremy restait échauffé par son exploit de la matinée, que j’ignorais et Margot avec moi, mais son visage portait si irrésistiblement les signes de la satiété et de la jubilation réunies (à la façon d’un Premier ministre annonçant au Roi qu’il vient de lui gagner une colonie supplémentaire) que Margot lui dit „Je t’emmerde“ et lui envoya son exemplaire de la Princesse entre les deux yeux. C’était une édition de poche d’environ trois cents pages sans oublier l’appareil critique, mais la tranche était neuve et la cible soigneusement délimitée. Connasse et salope, telle fut la réaction de Jeremy. Faiblard, lança Margot d’un ton glacial. Il demanda ensuite s’il ne saignait pas. Je le rassurais. Dommage, dit Margot. 135 In der Tat sind die ‚Princesse‘ und ‚Nemours‘ hier in der diegetischen Realität ein Paar, das die Phase leidenschaftlicher Verliebtheit freilich seit langem hinter sich gelassen hat. Mit Augenzwinkern an die Adresse der Leser resümiert der Erzähler die Umstände ihres Kennenlernens - modernisierte Version des coup de foudre im Rahmen des höfischen Balls bei Lafayette: Hier begegnen die beiden Protagonisten einander bei einem Jetset-Event des 132 Ibid.: 55. 133 Noch vor dem Filmteam trifft in Merlin ein enigmatisches Ehepaar unklarer Nationalität ein („les Belges étaient suisses […]“; ibid.: 21), das einen parodistisch-kriminologischen, in der Folge mit dem Princesse-Plot verwobenen Nebenstrang à la Agatha Christie eröffnet. Nach dem Verschwinden des Mannes wird besagte Gabriella, ihrerseits eklektische Figur, „vêtue d’une jupe imprimée dans le style des héroïnes de Woody Allen et d’un twin-set visiblement emprunté à la princesse Ann“ (ibid.: 23), tot aufgefunden; neben der Leiche, um deren unauffällige Beseitigung Drehbuchautor und Hotelmanager als improvisierte Verschwörer sich bemühen, bleibt auch - weiterer klassischer Krimi-Topos - ein rätselhafter, verdächtig schwerer Koffer zurück, Gegenstand von allerlei Spekulationen, der - ebenso wie diverse Editionen der Princesse - ungeöffnet weiter durch den Text wandert, aus dem Zimmer des Szenaristen (der vor dem Zahlenschloss wie vor der Entschlüsselung der Princesse kapituliert) in die Merlin’sche Kapelle (alias Film-Pavillon von Coulommiers). Erst ein polizeilicher Experte vermag den ominösen Koffer zu öffnen; zum Vorschein kommen zwei geraubte Gainsborough-Gemälde (als Auftraggeber hinter dem Diebstahl der aufgrund ihrer Bekanntheit unverkäuflichen Bilder identifiziert Marion ohne zu zögern einen weiteren zeithistorischen Akteur im Society-Zirkus der internationalen Princesses: „Pas la peine de chercher. C’est Mohamed Al Fayed […]“; ibid.: 100). Die kontextuelle Ironie dieser intermedialen mise en abyme - oder auch mise en valise - klassischer ‚Raubkunst‘ ist transparent genug. 134 Ibid.: 66. 135 Ibid.: 81f. <?page no="478"?> 478 Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes Londoner Showbusiness. Neben der höfischen Ballszene - wie später bei Darrieussecq in eine moderne Glamour-Party übersetzt - wird parallel ein anderes Motiv aus der Princesse variiert: Bietet sich bei Lafayette Nemours die schmeichelhafte Perspektive einer royalen Ehe mit Elisabeth von England - eine Option, die er um seiner Passion für Mme de Clèves willen vernachlässigt -, so stellt für Jeremy als ambitionierten jungen Kino-‚Nemours‘ die prestigeträchtige Liaison mit Margot - bereits etablierte, sehr viel bekanntere Aktrice - auch eine höchst opportune Aufstiegsoption bzw. Karrierestrategie dar. Mittlerweile leben die beiden seit Jahren zusammen - und haben mehr als genug Zeit gehabt, einander gründlich überdrüssig zu werden; längst ist diese Princesse, von ihrem Nemours mit unermüdlichem donjuanesken Ehrgeiz betrogen, dem tristen Schicksal anheimgefallen, vor dem ihre Vorgängerin bei Lafayette - nachträglich gerechtfertigt - durch Rückzug und Liebesverzicht flieht. „Beau gosse“ 136 mit „son air de petite frappe séduisante“, 137 Modegeck und egozentrischer Casanova, der mit geradezu religiöser Inbrunst „son amour-propre d’acteur“, 138 seine galante Reputation und seinen penibel gestylten Luxuskörper kultiviert (das morgendliche Bodybuilding-Zeremoniell steht ebenso wenig zur Disposition wie das abendliche Brushing), treibt dieser postmoderne Nemours die Ambivalenzen der Lafayette-Figur ins karikaturale Extrem; nicht umsonst identifiziert sich Jeremy begeistert mit seiner Film-Identität und wandert auch nach Drehschluss in seinem „costume de duc“ („Ses chausses le moulaient avec précision“ 139 ) durchs Haus. Anlässlich des gemeinsamen Trips in die englische Provinz durchquert die Princesse - die sich über ihre amourösen déboires mit übermäßigem Alkoholkonsum hinwegtröstet und sich pünktlich zum Wochenende „vers les rives enchantées du gin-tonic“ 140 aufmacht - ein weiteres Mal die Abgründe der Eifersucht, vor denen ihre intertextuelle Vorfahrin zurückschreckt, während der unverbesserliche Nemours, der bei seiner Partnerin nicht nur finanziell beträchtliche Verpflichtungen hat, 141 selbst auf dem entlegenen Landsitz eine verflossene Geliebte wiederfindet und unverzüglich zur Wiederanknüpfung der Liaison von einst schreitet: „Merde, elle avait été amoureuse de lui.“ 142 Die frustrierte Princesse Margot liest Lafayettes Roman denn auch vor allem im Licht ihrer eigenen tragikomischen Passionsgeschichte: „Je crois […] que si elle ne couche pas avec lui, c’est qu’elle a peur d’être déçue.“ Aber auch Jeremy- Nemours interpretiert Lafayette in höchstpersönlicher Sache: „Explications inutiles […] puisqu’elle va coucher, d’Assy est formel là-dessus. Et puis, déçue, on ne sait pas, on ne sait jamais […].“ Wiederholt tragen Margot-Princesse und Jeremy-Nemours auf transparentem Umweg über die Princesse - freilich mit ganz und gar nicht Lafayette’scher verbaler wie brachialer Aggressivität - ihre eigenen Beziehungskonflikte aus: „Si elle couchait, ajouta Margot, était-ce une marque d’amour? Bulshit [sic] et enculages, répondit Jeremy […]; l’im- 136 Ibid.: 135. 137 Ibid.: 52. 138 Ibid.: 91. 139 Ibid.: 207. 140 Ibid.: 91. 141 Vgl. ibid.: 72. 142 Ibid.: 70. <?page no="479"?> La Princesse de Clèves by Nightmare Productions 479 portant était que William […] sente la complexité de la position d’une femme évidemment folle d’un type irrésistible. […] Irrésistible mon cul, répliqua Margot […].“ 143 Die doppelte Princesse - bezeichnenderweise auch die einzige Figur, die, in diesem Punkt getreue Wiedergängerin ihres literarischen Vorbilds, in ihrem Milieu „une profondeur véritable […] une histoire vraiment profonde“ vermisst 144 - appelliert schließlich an Drehbuchautor William, um sich über die adäquate Interpretation ‚ihrer selbst‘ klar zu werden, ihre Version der Princesse autorisieren zu lassen („Elle me demanda si la fidélité de la princesse était un usage répandu à la cour de Henri II […]“). Im Rahmen ihrer persönlichen punktuellen réécriture konfrontiert sie William mit „une phrase qui la tracassait et qu’elle avait notée d’une de ces écritures rondes et indéchiffrables quand on tente de les lire sur la liste des courses à faire au supermarché“ - wörtliches Lafayette-Zitat, das in der ungelenken Schrift und im Lebenskontext der unglücklichen Schauspielerin eine neue Bedeutung entfaltet: „Elle ne se flatta plus de l’espérance de ne le pas aimer; elle songea seulement à ne lui en donner jamais aucune marque.“ 145 Neben diesem zur Tragikomödie trivialisierten Passionsdrama holt Lafayettes Text freilich auch diverse andere Figuren ein, die ironischerweise selbst auf diegetischer Ebene diesen oder jenen Handlungsstrang der zunächst für hoffnungslos anachronistisch befundenen Princesse ausagieren (insofern wiederum Darrieussecqs Heldin Solange nicht unähnlich, die mit der Allusion auf die „princesses de Clèves“ ebenfalls nicht viel anzufangen weiß, 146 selbst jedoch deren Geschichte - wenn auch „à l’envers“ 147 - nachlebt). Rund um das erbitterte amouröse „match“ 148 zwischen Margot und Jeremy wird die Problematik der Passion, der (Un-)Treue und der Eifersucht hier gleich in mehreren ineinander verschränkten Dreiecks- Konstellationen inszeniert. Neben Margot tritt mit der jungen Schlossherrin Marion eine zweite Reinkarnation der Heldin Lafayettes; interessiert beobachtet William das Duell der beiden rivalisierenden, auch über die Konsonanz der Vornamen assoziierten ‚Princesses‘, die - in seinen Augen gleichermaßen „magnifiques“ - auf unterschiedlichen Bühnen und mit unterschiedlichen Mitteln spielen. Das Histrionentum Margots - auch und gerade abseits des Filmsets - korrespondiert mit der subtileren Performance Marions („Margot jouait à l’extérieur et Marion à l’intérieur. C’était une sensation déroutante“), deren „côté naturel“ als beinahe noch raffiniertere „composition théâtrale“ erscheint. 149 Die unterschwellige Verwandtschaft dieser zweieiigen Zwillings-Princesses wird aus der Perspektive verschiedener Figuren reflektiert: „Garder les deux? Margot et Marion? “, 150 fragt sich Jeremy-Nemours. „Je m’étais endormi en pensant à Marion et à Margot; j’avais fini par les confondre […]“, gesteht der Leserin auch William, der den anderen Figuren gegenüber seinen Status als auktorialer Demiurg verteidigt. 151 143 Ibid.: 80f. 144 Ibid.: 134. 145 Ibid.: 80f.; vgl. Lafayette 2014c: 382f. 146 Darrieussecq 2011b: 29. 147 Marie Darrieussecq, zit. nach Leyris 2011. 148 Denis 1999: 230. 149 Ibid.: 58. 150 Ibid.: 202. 151 Ibid.: 225. <?page no="480"?> 480 Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes Bo, treuer Jugendfreund und Inbegriff des provinziellen honnête homme, führt mit der attraktiven Marion - ihre Schönheit wird wie bei Lafayette weniger konkret beschrieben als auf dem Umweg über die Reaktionen anderer Figuren (das Begehren der männlichen Gäste ebenso wie die Eifersucht der offiziell gecasteten Princesse) suggeriert - eine wohltemperierte Quasi-Ehe, die recht präzise die matrimoniale Geschichte der Clèves zitiert. Mit gemischten Gefühlen verfolgt er die retrouvailles seiner Partnerin mit dem glamourösen Jeremy; 152 im Unterschied zu seinem Lafayette’schen Vorgänger hat er handfesten sexuellen Anlass zur Eifersucht - doch auch in der undankbaren Rolle des betrogenen Partners zeichnet er sich noch durch „cette honnêteté qui était sa marque de fabrique“ aus. 153 Dieser rustikale ‚Prince‘ stirbt nicht an Liebeskummer bzw. Liebestrotz; während er sich die Zeit mit allerlei transparenten Ersatzhandlungen vertreibt, wartet er auf die Rückkehr Marions und ihren längst fälligen aveu: „O.K. […]. Si tu me disais la vérité? “ 154 Der aveu misslingt allerdings, ist die zu bekennende „vérite“ doch alles andere als simpel: „Ils étaient surtout malheureux de n’avoir rien à se dire, rien qui fût avouable. Rien de solide, en tout cas.“ 155 „On ne retrouve jamais la première fois“: Amnesie und Ästhetik des Remake Von den ersten Seiten an ist klar, dass die schöne junge Erbin Merlins noch ein anderes, verstörenderes Geheimnis hat, das sie nicht zuletzt zur poetologischen Schlüsselfigur im Roman macht: Wie sich herausstellt, leidet Marion nach einem Unfall unter totaler Amnesie, die hier die Unschuld und emotionale Unerfahrenheit der jugendlichen Princesse Lafayettes ersetzt. Während ihr treuer ‚Ehemann‘ auf die Wiederherstellung ihres Gedächtnisses und ihrer Liebesfähigkeit wartet („Il avait fait tout ce qu’il était capable de faire plus le reste mais Marion ne se rappelait toujours pas à quoi cela ressemble, aimer“ 156 ), erinnert sich die amnesische Heldin, die unter Berufung auf „[m]on psy“ die Wahrheit pragmatisch zur 152 Auf der Ebene intradiegetischer Realität werden auch die fusionierten Szenen des Bilderdiebstahls und des nächtlichen Besuches Nemours’ in Coulommiers noch einmal parodistisch nachgespielt: Unbemerkt dringt Jeremy in Marions Zimmer ein, die im Bad nichtsahnend Call me Mister vor sich hin pfeift; der Kino-Narziss interessiert sich allerdings weniger für die schöne Frau hinter der offenen Badezimmertür als für sein eigenes Spiegelbild, das er durch ebendiese erblickt (ibid.: 195f.). 153 Ibid.: 178. Nicht zufällig wird das anachronistische Schlüsselattribut der honnêteté - das hier freilich nicht mehr im klassischen Gegensatz zur sincérité steht (zur Opposition „‚Honnêteté‘ und ‚Sincérité‘“, zum aveu der Princesse als „Grenzüberschreitung von der honnêteté zur sincérité“ sowie zur sukzessiven „Entfaltung des sincérité-Konzepts im 17. Jahrhundert als eine Vorgeschichte des modernen Romans“ vgl. Galle 1986: 16ff.) - auf diegetischer Ebene unter den Figuren immer wieder reflektiert; ausgerechnet Sandra verteidigt einen von Margot und Jeremy in der Luft zerrissenen Film als „[u]n travail honnête avec une histoire honnête et des acteurs honnêtes. Et même une certaine authenticité“ (Denis 1999: 133). In anderem Kontext charakterisiert das Attribut honnêteté - nur scheinbar paradox - den Kunsträuber und Märchen-Bösewicht Hans, der zu nächtlicher Stunde auf der Suche nach seinem Gainsborough-Koffer in Merlin einbricht, dem ihn auf frischer Tat ertappenden William in aufrichtiger Zitathaftigkeit direkt einem John Le Carré-Krimi entsprungen scheint - und den Autor gleich darauf mit „exactement la voix du type qui joue Barrymore dans Le Chien des Baskerville“ anspricht (ibid.: 223f.). 154 Ibid.: 173. 155 Ibid.: 176. 156 Ibid.: 180. <?page no="481"?> La Princesse de Clèves by Nightmare Productions 481 „étape inutile“ 157 in ihrem Selbst(er)findungsprozess erklärt, trotz allem an zumindest eine unbequeme „vérité“, die sie in betrunkenem Zustand ihrer Freundin von früher gesteht: „Il y a une chose dont je me souviens. Une seule. C’est à propos de Bo. […] je préférerais disparaître plutôt que de le lui dire, je ne l’ai jamais aimé.“ 158 Derart spielt auch Marion zwischen ihrem liebenswerten, doch ungeliebten Gefährten einerseits und dem verführerischen Nemours andererseits den Plot Lafayettes nach; das emotionale Dilemma präsentiert sich hier auch als identifikatorisches Problem: „Si je reste avec lui [Bo], […] je ne saurai jamais qui je suis. Mais ça n’a pas marché non plus avec Jeremy“, 159 vertraut sie ihrem Hund an, der als letzter confident übrig geblieben ist (und, würdiger Bürger Merlins, selbst als professioneller Schauspieler agiert: Jack-Jack erweist sich als durchaus auf der Höhe der allgemeinen Performance, wenn er „avec la mine martyre de La Petite Marchande d’allumettes“ an der Tür Einlass begehrt 160 ). Wie Margot sucht auch Marion nach ihrer galanten Eskapade Trost und Rat - aveu oder lieber doch nicht? - bei William (der die Funktion ihres improvisierten Beichtvaters und Adressaten ihrer erotischen Geständnisse mit ambivalenten Gefühlen übernimmt); 161 ihrem zweifelhaften Kavalier gegenüber, der Williams Autorität - über Film wie diegetische ‚Geschichte‘ - nicht anerkennt („Un type qui ne connaît rien aux scénarios, si tu veux mon avis“), verteidigt sie diesen mit dem Argument der Gestaltungsfreiheit bzw. Kontrolle über ihr Drehbuch, die ihr als (doppelter) Romanfigur eben die angebliche Unfähigkeit ‚ihres‘ Autors verschafft: „Tant mieux […]. J’ai une chance de jouer dedans.“ 162 Die auch poetologische Dimension dieser Figur, die ihr eigenes Leben und ihr eigenes Elternhaus wie eine Fremde und Usurpatorin bewohnt, „comme si elle n’y avait jamais vécu. Comme si elle n’y était pas née“, 163 die ihren Bewusstseinszustand selbst mit der symbolträchtigen Metapher der „page blanche“ resp. - dem kinematografischen Kontext adäquat - der weißen Leinwand beschreibt 164 und im Übrigen unter wiederkehrenden Kino-(Alp-) Träumen leidet, 165 ist deutlich genug. „Chacun joue le jeu et… et je le joue aussi. Je vous jure que je le joue aussi“: 166 Marion, unfreiwillige Künstlerin des autobiografischen bricolage, lebt mit einer aus den Fragmenten fremder Narrationen, möglicherweise fremder Fiktionen - mehr als eine vor allem der männlichen Figuren hat durchaus egoistische Gründe dafür, der attraktiven Amnesikerin gefälschte Bruchstücke einer gemeinsamen Vergangenheit unter- 157 Ibid.: 174. 158 Ibid.: 245f. 159 Ibid.: 231. 160 Ibid.: 236f. 161 Vgl. ibid.: 63f. Der Handlungsstrang um die junge Frau verweist auf nicht allzu entlegenen intertextuellen Umwegen auch auf Ian Flemings Roman You Only Live Twice (1964), in dem ein amnesischer Bond - ebenso wie hier Marion mit Hilfe eines subtil ‚verdoppelten‘ Autors Fleming - eine neue Existenz zu (re-)konstruieren hat. 162 Denis 1999: 117. Auch der betrogene ‚Prince‘ denkt sogleich vertrauensvoll an William, als er im Drehbuch seines Lebens nicht mehr weiter weiß: „Bo aurait aimé que ce type de Londres, William, soit là pour lui trouver une repartie; le genre de mine à laquelle on peut puiser […]. D’abord, c’était son métier“ (ibid.: 162). 163 Ibid.: 45. 164 Ibid.: 65, 201. 165 Vgl. ibid.: 200. 166 Ibid.: 93. <?page no="482"?> 482 Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes schieben zu wollen - prekär zusammengebastelten Biografie. Im inneren Diskurs wie im Dialog mit ihrer Nightmare-Freundin meditiert Marion über die Notwendigkeit, sich ihre - eine - Vergangenheit zu rekonstruieren; zugleich rebelliert sie gegen den Identitätszwang, die fremd-designten Versionen ihrer selbst, die ihr von allen Seiten allzu wohlmeinend angeboten werden. 167 Diverse Elemente der Geschichte Marions werden im Lauf des Romans sukzessive präsentiert; gemeinsam mit der Protagonistin entdeckt die Leserin ihre Antezedenzien als Halbwaise - wie die Princesse de Clèves - und Tochter eines der offiziellen Version nach auf hoher See verschollenen halbwahnsinnigen Offiziers, der de facto in der Merlin’schen Bibliothek (! ) Selbstmord begangen hat. 168 Über diese Figur wird aber auch das Spiel mit einer stets problematischen ‚Originalität‘ vermittelt; in Marions amnesie-verwüsteter Welt erscheinen auch Secondhand-Erfahrungen wie neu (so jener mehrfach zitationell anmutende coup de foudre mit Jeremy-Nemours). Umgekehrt wirft ihre Amnesie aber auch den Verdacht der Sekundarität auf all ihre vermeintlich erstmaligen Erlebnisse; alles könnte längst dagewesen, gesagt und geschrieben worden, alles immer schon Remake sein: „On ne retrouve jamais la première fois“. 169 „Les cinéastes ne tournent plus que des remakes; peut-être les écrivains allaient-ils en faire autant? “, 170 reflektiert William eine eminent postmoderne Ästhetik. Permanentes Recycling eines fremden Textes - auf dem Filmset und darüber hinaus - betreibt nicht nur das Nightmare-Team; auch die Welt außerhalb Merlins und des temporären Princesse-Clans existiert in Denis’ Roman im Modus des parodistischen Remake. Im Showbusiness-Viertel von London wandert William durch ein schillerndes Filmfassadenreich, in dem da und dort noch literarische Spuren auszumachen sind; 171 als er für ein Mittagessen aus Merlin nach Cambridge flüchtet, findet er sich neben einer Gruppe von Studenten wieder, deren eklektische Endlos-Konversation ausschließlich aus Film-Zitaten besteht: „Je ne crois pas qu’ils aient prononcé une seule phrase dont ils aient été les auteurs; chaque intervention était empruntée à un film qui les faisait glapir de rire. Scream, peut-être: le dialogue me disait quelque chose. […] ‚La vie est un film‘, lança un garçon. Ils répondirent en chœur: ‚Choisis ton rôle! ‘“ 172 Der Roman als Möbiusschleife: Auf der Suche nach dem Autor „Choisis ton rôle! “… Ebendieser Satz darf als Devise über diesem gesamten raffiniert ‚abymisierten‘ Princesse-Projekt stehen. Zwei Figuren, die zwar am universellen Rollenspiel partizipieren, zugleich jedoch, selbst (halb) au-dessus der kinematografischen mêlée angesiedelt, die Autorität über das Geschehen und die Geschichte(n) der jeweils anderen für sich beanspruchen, sorgen im kleinen Welttheater von Merlin für poeto- und ontologische Unruhe. William, „[l]e bon Dieu de scénariste“, 173 fungiert als anti-heroischer Demiurg - nicht nur der Film-Princesse, sondern auch des Mikrokosmos Merlin -, der mit ‚seinen‘ Figuren Katz 167 Vgl. ibid.: 204f. 168 Vgl. ibid.: 229. 169 Ibid.: 240. 170 Ibid.: 216. 171 Vgl. ibid.: 124f. 172 Ibid.: 166f. 173 Ibid.: 123. <?page no="483"?> La Princesse de Clèves by Nightmare Productions 483 und Maus spielt („Il avait l’air d’un chat qui joue avec les souris mais ne les mange jamais“, konstatiert Bo 174 ), ‚Gefängniswärter‘ seiner kleinen Truppe, 175 aber auch paradoxer Demonteur seiner eigenen Autorität („J’aimerais encore préciser que de cette histoire je ne serais pas le scénariste. Ils s’en chargèrent tout seuls. Je n’avais d’ailleurs, je le rappelle, aucune idée de la façon dont on écrit un scénario […]“ 176 ), der sich nach vollendetem (De-)Konstruktionswerk diskret zurückzieht: „Je jugeai opportun de m’éloigner. On leur avait demandé de s’imprégner de leurs personnages? Très bien, c’était fait.“ 177 Der Roman inszeniert schließlich jenen Moment, da der Autor mit Beginn der Dreharbeiten formell abdankt: Durch das Fenster seines Zimmers in Merlin - symbolisch transparente Trennwand zwischen zwei Welten, die das Geschehen draußen in eine groteske Pantomime verwandelt - verfolgt William die seiner Kontrolle nun schon entzogene Entstehung der filmischen Princesse, den Spuren seines doppelstimmigen Drehbuchs entlang („Jeremy avançait ‚[…] sous les saules, le long d’un petit ruisseau qui coulait derrière la maison où il était caché‘“ 178 ). Mit dem Gestus stolzer Welt- und Filmverachtung - und einer signifikanten klassisch-phallischen Metapher - zieht sich der entthronte Autor von seinem Beobachtungsposten wieder an den Schreibtisch zurück. 179 Zugleich freilich erscheint der dem Geschehen vermeintlich entrückte Schriftsteller auch als Schauspieler unter anderen, dem seine Rolle längst fertig vorgeschrieben ist: „Et quand ils me regardèrent je sentis que c’était à moi de jouer.“ 180 Schließlich wird er, „le plus neuf et vierge de l’équipe“, 181 Außenseiter im Nightmare-„clan“, 182 tatsächlich noch spontan für eine stumme Nebenrolle in der Princesse engagiert - und findet sich als „cardinal de Lorraine“ („puisqu’il y en avait un dans le roman“) in entsprechender Adjustierung wieder: „Une apparition aussi brève que muette qui faisait de moi un authentique membre du club.“ 183 Während William mit der selbstironischen Demontage seiner eigenen Autorität spielt - und diese zumindest seinem Regisseur-Rivalen gegenüber doch wieder reklamiert -, erklärt Produzentin Sandra den Autor ihrerseits mit souveräner Geste zu ihrer eigenen Kreatur, bloße Schachfigur in ihrem Meta-Drehbuch, literarisches Alibi bzw. seiner eigenen Funktion unbewusster agent provocateur, an dem sich Regisseur wie Akteure abarbeiten (sollen); es ist Sandra - so meint jedenfalls sie selbst -, die als autokratische Herrscherin über ihre kleine Filmwelt von vornherein aus übergeordneter auktorialer Perspektive sämtliche Machtkämpfe innerhalb ihres Teams inszeniert, 184 ebenso Williams Rolle für die weiblichen 174 Ibid.: 162. 175 „J’eus l’impression de leur rendre la liberté comme on place un prisonnier en liberté provisoire. Nightmare, au-dessus de nous, exigerait sa livre de chair“, wie William Fleming unter Anspielung auf den illustreren seiner beiden Namensväter bemerkt (ibid.: 105). 176 Ibid.: 20. 177 Ibid.: 84. 178 Ibid.: 169f.; vgl. Lafayette 2014c: 453 („sous des saules“, Hervorhebung MS). 179 „Il est inutile de s’intéresser de trop près à la réalisation d’un film: vous avez l’air à peu près autant dans le mouvement qu’un pénis en pierre à Herculanum, et rien n’est plus monotone que de voir l’héroïne courir dix fois sur trente mètres soigneusement délimités“ (Denis 1999: 171). 180 Ibid.: 105. 181 Ibid.: 149. 182 Ibid.: 152. 183 Ibid.: 217. 184 „Je savais que Jeremy détesterait William“, erklärt Sandra der Leserin hinter dem Rücken der anderen Figuren; auch die Antipathie zwischen Szenarist und Regisseur ist sorgfältig einkalkuliert: „Peter <?page no="484"?> 484 Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes Mitspieler (inner- und außerhalb des Films), denen sie in Gestalt ‚ihres‘ Autors eine männliche Ansprechperson, „pas comme un objet sexuel mais comme une armoire à glace attentive“, zur Verfügung stellt. 185 William erfüllt seine Aufgabe als literarischer punching ball zur allgemeinen Zufriedenheit (weshalb man ihn noch während der Princesse-Dreharbeiten für ein Nachfolgeprojekt zu engagieren wünscht 186 ), ist sich dabei allerdings über seine ambivalente Position als „romancier de service“, 187 als ein Eintrag unter anderen in Sandras Dreh- und Geschäftsbuch vollauf im Klaren. 188 Ihrem Selbstverständnis nach eigentliche Autorin resp. Regisseurin der gesamten Handlung und auch jene Instanz, die sich ebenso hartnäckig wie vergeblich bemüht, die metaleptisch durcheinander geratenden Welten zu trennen und ihr Personal zur diegetischen Ordnung zu rufen („Ou vous jouez une histoire ou vous la vivez, mais pas les deux […]“ 189 ), wird Sandra freilich selbst in dieses generalisierte Vexierspiel - und in ein ganzes Netzwerk historischer, literarischer und künstlerischer Referenzen - verstrickt. Über ihren Namen bereits mit der französischen Geschichte - ausgerechnet mit jener anderen Mme de Méricourt, berüchtigte „amazone rouge“ 190 bzw. „Amazone de la Révolution“ 191 - assoziiert, erscheint die Trash- Königin der Kinostudios in den Augen Williams auch als „un petit modèle genre Fragonard roux dans un long manteau de cavalerie“; 192 bei anderer Gelegenheit gemahnt „son petit visage crispé“ an „un Clodion sentant monter la Révolution“. 193 Doch die dauer-gestresste, mit ihren unterschiedlichen Personae (samt den dazugehörigen Mobiltelefonen) jonglierende Produzentin gibt, sich ihrer eigenen Rolle unbewusst, im Rahmen jenes subtil in die diegetische Realität des Romans eindringenden Princesse-Plots auch eine postmoderne Mme de Chartres, die ihr diverse Babysitter reihenweise in die Flucht schlagendes adoleszentes Töchterchen namens Babe („Tu veux dire le cochon? “ 194 ) via Handy einigermaßen unter Kontrolle zu halten und wenn schon nicht in der hohen Kunst der Tugend, so doch immerhin in jener der Zubereitung von Instant-Suppen in der Mikrowelle zu instruieren versucht. 195 Auf den Spuren ihrer Vorgängerin bei Lafayette ist auch Sandra bestrebt, ihren tendenziell nymphomanischen Nachwuchs, aktuell völlig im Bann von Basic Instinct, 196 vor den Gefahren des männlichen Geschlechts zu bewahren: „[…] elle n’a aucune idée des hommes. Si elle était au courant, croyez-moi, elle s’y intéresserait beaucoup moins.“ 197 Hyper-sexualisiertes „bébé n’aimerait pas William, plus âgé et célèbre. […] Il finirait par détester les écrivains et personne ne lui donnerait tort au sein de l’équipe réunie par Nightmare“ (ibid.: 148f.). 185 Ibid.: 149. 186 Vgl. ibid.: 217f. 187 Ibid.: 219. 188 Vgl. ibid.: 129f. 189 Ibid.: 88. 190 „Théroigne de Méricourt“ (L’Histoire en questions, o. D.). 191 So auch der Titel von Marianik Réveillons Theaterstück Théroigne de Méricourt. L’Amazone de la Révolution (vgl. Lamar 1995: hier zit. 17). 192 Denis 1999: 18. 193 Ibid.: 178. 194 Ibid.: 128. 195 Vgl. ibid.: 57. 196 Vgl. ibid.: 210. 197 Ibid.: 212. <?page no="485"?> La Princesse de Clèves by Nightmare Productions 485 immense, étiré, obscène“, 198 ins Karikaturale gewendete Lolita-Reinkarnation, promeniert ‚Prinzessin‘ Babe, „[b]elle fille“ mit zitationell nicht ganz unbelasteter „crinière blonde“, denn also unter einem Regenschirm mit der Aufschrift ‚N IGHTMARE ‘ am Drehort, 199 räkelt sich provokant auf den Knien ihrer Mutter 200 und geht zwischendurch ihren erotischen Vergnügungen nach („Faites gaffe […] Babe saute sur tous les hommes qui passent“ 201 ). „Elle devrait l’envoyer se faire foutre“, empfiehlt Jeremy-Nemours der chronisch überforderten Mutter 202 - unkonventionelle pädagogische Mission, die er kurz darauf, wie dezent suggeriert, höchstpersönlich erfüllen wird: Die metaleptische Ironie erreicht einen Höhepunkt, als Babe mit Nemours’ in ihrem Schlafzimmer vergessenen Kinoschwert in einem Akt temperamentvoller Notwehrüberschreitung einen nächtlichen Einbrecher ermordet. „Sa mère avait raison: elle n’était pas mûre pour l’amour. On n’a jamais su si le duc lui-même venait de quitter les lieux […]“, 203 kommentiert William, der hier wieder das Wort - und die Autorität auch über die Abenteuer Sandras und ihrer Tochter - übernimmt. Verlässlich fungiert er im Text als (Re-)Produzent postmodernisierter klassischer Maximen, Wortjongleur auf den eklektischen Spuren von La Rochefoucauld und Frédéric Beigbeder; 204 zugleich mokiert er sich selbst über die allzu billige Versuchung des Bonmots, dessen Dekonstruktion sich allerdings als ebensolches artikuliert. 205 Denis’ Roman präsentiert sich derart als narratives Verwirrspiel, in dem einander mit Drehbuchautor und Produzentin zwei überaus rollenbewusste und hyper-reflexive Ich-Erzähler abwechseln; dazwischen meldet sich jedoch auch eine allwissende heterodiegetische Instanz zu Wort, die Szenen beiwohnt und über Informationen verfügt, zu denen weder William noch Sandra Zugang haben. 206 Beide Ich-Erzähler problematisieren nicht nur ihre eigenen narrativen Strategien auf der Meta-Ebene, sondern wissen auch von der Existenz des jeweils anderen; mehrfach wird in diesem kino-romanesken Stafettenlauf mit der Übergabe prekärer 198 Ibid.: 190. 199 Ibid.: 186. 200 Vgl. ibid.: 190. 201 Ibid.: 183. 202 Ibid.: 182. 203 Ibid.: 226. 204 Vgl. etwa ibid.: 170 („Le sexe à la maison, pour un acteur, c’est un film sans cachet“) oder - in eigener drehbuch-auktorialer Sache - 225: „Un scénariste peut affronter beaucoup de choses, mais pas un soutien-gorge vide dans une chambre obscure.“ Dergleichen trouvailles werden bei Gelegenheit auch anderen Figuren in den Mund gelegt, so Sandra in Sachen ‚Liebe‘ („Qui emmène qui se résume toujours à qui baise qui. Louer des voitures, c’est créer de l’amour“; ibid.: 158) oder auch „David Bowie“: „La Mini est au parking ce que le sandwich est à l’affamé: l’image même du classicisme“ (ibid.: 107). 205 „Merlin était saisi par la profondeur historique. Même le blaireau se grattait la couenne comme Hamlet devant le crâne de Yorrick [sic]. C’était le moment de faire un mot; il passerait à la postérité et figurerait plus tard dans un de ces articles Tendance où le critique se demande si Batman a oui ou non couché avec Michelle Pfeiffer quand elle était doublée latex“ (ibid.: 167f.). 206 Dieser Erzähler weiß etwa genau, dass Marion und Bo, nachts allein in ihrem Zimmer, beide nur Schlaf simulieren (ibid.: 185); in Szenen, wo kein entsprechender Beobachter anwesend ist, stellt er den bewundernden und begehrlichen männlichen Blick au conditionnel zur Verfügung („Un homme suffisamment disponible ou amoureux aurait constaté la surprenante beauté de son visage immobile […]“; ibid.: 243); gelegentlich verzichtet er freilich auch ironisch auf seine Allwissenheit: „Pour savoir ce qu’avait écrit Marion et ce qu’avait pensé Bo, il aurait fallu interroger le blaireau“ (ibid.: 108). <?page no="486"?> 486 Stéphane Denis’ Chambres d’hôtes Autorität gespielt. So beendet Sandra, selbstredend ihrerseits mit McKees „bréviaire“ 207 vertraut, ihre Narration mit einem kleinen metaliterarischen Gag („DANS LE CINÉMA, IL FAUT ÉVITER LES MONOLOGUES“ 208 ) oder auch mit ironischer metaleptischer Geste, wenn sie den von ihr angeheuerten Drehbuchschreiber zum Weitererzählen auffordert - dafür werde er schließlich bezahlt -, woraufhin der rebellische Autor sogleich zur Widerlegung von Sandras Version anhebt („Quoi qu’en dise Sandra […]“ 209 ). Der Wechsel dieser konkurrierenden Erzählstimmen wird wiederholt lediglich durch das dezente Switching des grammatikalischen Geschlechts zu Beginn eines neuen Abschnitts markiert. 210 Gezielt wird so eine gewisse ontologische Konfusion gestiftet: Wer erzählt hier wen? Nicht nur auf thematischer Ebene, sondern vor allem auch über diese letztlich unaufgelöste Aporie reinszeniert Chambres d’hôtes einen ganzen Medien- und Kulturkonflikt, immer wieder aufs Neue variiert in der Konkurrenz zweier gegeneinander anerzählender, jeweils für Literatur bzw. Kino repräsentativer Stimmen, die in einer narrativen Möbiusschleife 211 jeweils die Imaginations- und Interpretationshoheit über das Geschehen für sich in Anspruch nehmen und darauf bestehen, den jeweils anderen ‚erfunden‘ zu haben - dies immer schon vor-geschriebenen literarischen/ filmischen Spuren entlang. Nicht zufällig wird William Fleming auch als sehr konkreter (und mit durchaus schauspielerischer Raffinesse agierender) Bücherdieb in Szene gesetzt, 212 Doppelgänger des extradiegetischen Autors, der von Anfang bis Ende augenzwinkernd mit ‚gestohlenen‘ intertextuellen Versatzstücken operiert, sich schreibend in den ‚chambres d’hôtes‘ der Literatur- und Filmgeschichte einnistet, von Shakespeare und Lafayette über Jane Austen, die Brontës und Agatha Christie bis hin zu Basic Instinct und Melrose Place - und wieder retour zur Princesse, die hier ein weiteres Mal auch durch das Prisma ihrer kritischen wie künstlerischen Rezeptionsgeschichte gelesen wird. Ob auktoriale Intention oder nicht: In den letzten Zeilen des Romans erklingt noch einmal - zumindest für das Ohr der in puncto Princesse-Variationen sensibilisierten Leserin - ein spöttisches intertextuelles Echo. „Et maintenant, Mahaut, dormez! Je le veux“, mit diesen Worten des eponymen Protagonisten schließt Radiguets Bal du comte d’Orgel; 213 „[…] mais Marion ne l’entendait plus. Elle avait fermé les yeux; elle dormait“: 214 Mit dem Fade-out der Protagonistin im Schlaf endet Denis’ parodistischer Kino-Roman. 207 Ibid.: 217. 208 Ibid.: 160. 209 Ibid.: 215f. 210 So signalisiert der diskrete Gender-Marker eines Adjektivs („Je ne suis pas idiote“; ibid.: 147) oder eines Partizips („J’étais extrêmement emmerdée“; ibid.: 209), dass soeben wieder eine Erzähl-Ablöse stattgefunden hat. 211 Vgl. zum Konzept der „Möbiusband-Erzählungen“ Klimek 2010: 187ff., 380ff. 212 Vgl. Denis 1999: 164. 213 Radiguet 1986: 207. 214 Denis 1999: 246. <?page no="487"?> La Princesse de Clèves by Nightmare Productions 487 *** Eine erotisch höchst aktive Princesse samt ‚petit Prince‘, ein womöglich homosexueller Duc de Nemours, zumindest vereinzelt schwarzes höfisches Personal: Stéphane Denis’ Parodie einer Princesse de Clèves-Verfilmung thematisiert bei allem Amüsement-Faktor auch eine Reihe prinzipieller Fragestellungen, mit denen sich die Regisseure konkreter Adaptionsprojekte konfrontiert sehen. Nach einigen zeitgenössischen literarischen Variationen - mit teilweise ausgeprägter metamedialer Dimension: dies gilt neben Chambres d’hôtes vor allem auch für Marie Darrieussecqs ‚Kino-Roman‘ Il faut beaucoup aimer les hommes - soll nun im dritten Abschnitt dieses Princesse-Triptychons das Panorama über die Literatur hinaus erweitert und insbesondere das Corpus der kinematografischen Re-Interpretationen von Lafayettes Text analysiert werden; dies mit Fokus auf den vier seit der Jahrtausendwende entstandenen Werken, die sich sämtlich durch ihre hochgradige Selbstreflexivität auszeichnen, sich neben dem klassischen Prätext und früheren literarischen réécritures auch mit ihrer filmischen Vorgeschichte (d. h. zunächst vor allem der Erstadaption Delannoys) auseinandersetzen. Dabei werden die Kino-Princesses in Relation zu den bereits besprochenen literarischen Werken zu betrachten sein: Wie weit sind eventuelle epochentypische Tendenzen, aber auch durch den Medienwechsel und/ oder idiosynkratisch motivierte Unterschiede auszumachen? Fällt einerseits manch frappierende Gemeinsamkeit zwischen den neueren literarischen und kinematografischen Variationen ins Auge, so ergeben sich andererseits signifikante medienspezifische Differenzen, hat sich doch jede Film-Adaption z. B. unweigerlich der Herausforderung der räumlich-figürlichen Konkretisierung eines bei aller prononcierten Visualität sehr abstrakten Ausgangstextes zu stellen. Die Relation zwischen literarischem Ausgangstext und diversen Filmversionen gilt es aber nicht als theoretische ‚Einbahnstraße‘ zu sehen: Auch letztere - ihrerseits vollwertige künstlerische ‚Originale‘ 215 - lassen den Prätext in immer wieder neuem Licht erscheinen, legen potentiell neue Bedeutungsschichten daran frei. Impliziert das Projekt einer kinematografischen Adaption per se stets „l’affirmation d’une actualité“, 216 so wirft der intermediale Transfer mit besonderer Virulenz die Frage nach dieser ‚Aktualität‘ in einem non-trivialen Sinne auf: „[…] l’œuvre est-elle encore actuelle, c’est-à-dire agissante ou capable de faire agir? et l’œuvre relève-t-elle d’une culture commune partagée? La première question est d’ordre éthique et esthétique; la seconde est d’ordre politique.“ 217 Aus ethischer, ästhetischer wie politischer Perspektive soll im Folgenden die intermediale - und speziell die filmische - Rezeptionsgeschichte der Princesse de Clèves beleuchtet werden. 215 „Der Film nach der Literatur ist Film“, wie Hickethier (1989) diese essentielle Prämisse auf den Punkt bringt. 216 Dubois 2013a. 217 Ibid. <?page no="489"?> La Princesse de Clèves in Theater, Musik, Malerei und Film: Aspekte einer intermedialen Rezeptionsgeschichte La Princesse de Clèves hat nicht nur ein umfangreiches kritisches Corpus und etliche literarische réécritures bzw. Variationen inspiriert; der Text besitzt auch eine vielfältige intermediale Rezeptionsgeschichte. 1 Von Anfang an wurde Lafayettes Werk hinsichtlich seiner Genre- Zugehörigkeit (Roman, Novelle, „Histoire“, 2 „Mémoires“? 3 ) diskutiert. Das Argument einer gewissen „impropriété générique“ 4 zieht sich schon durch die Lettres Valincours: Dieser betont den seiner Meinung nach eminent ‚dramatischen‘ oder jedenfalls perfekt dramatisierbaren Charakter mancher Szene (so der scène de l’aveu: „[…] ne trouvez-vous pas que cet endroit de notre histoire ferait un bel effet sur le théâtre? Et si l’on ne peut s’empêcher d’en être pénétré lorsqu’on le lit en prose et dans un simple récit, que ne serait-ce point s’il était animé par la représentation et par la voix des acteurs, et soutenu par des vers comme ceux d’Iphigénie? “)“ 5 - ambivalentes Lob, in dem zugleich die Kritik an der im Sinne der klassischen Poetik unerwünschten Genre-Transgression mitschwingt; 6 Lafayettes Protagonisten - insbesondere dem Prince de Clèves - wirft er vor, weniger als Romanfigur denn „en amant de théâtre“ zu agieren, 7 in allzu theatralischem, abseits der Tragödienbühne deplatziertem Liebeskummer zu schwelgen: „[…] ces sortes de troubles […] sont bons dans une tragédie, où ils ne durent que la longueur de la scène et finissent aussitôt.“ 8 Auch Sancerre in seiner amourösen Verzweiflung gebärdet sich Valincours Urteil nach zu sehr als „comédien“: „Tous ces jeux d’esprit […] seraient peut-être supportables sur le théâtre: mais il me semble que cela sort du caractère de l’Histoire, qui doit être simple et naturelle. Un homme affligé n’a guère le loisir de faire des pointes en parlant.“ 9 Wie zitiert assoziiert Valincour auch Lafayettes Heldin 1 Zugrunde gelegt wird im Rahmen der folgenden Reflexionen vor allem der Intermedialitäts-Begriff Wolfs (1996, 2002), der Intermedialität analog zu Intertextualität als „bewusste, intendierte Verwendung oder Einbeziehung wenigstens zweier konventionell als distinkt angesehener Medien“ definiert; im Anschluss daran bestimmt auch Rajewsky Intermedialität als „Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren“ (2002: 19, zit. nach Bohnenkamp 2012: 23). Hinsichtlich des immer wieder aufs Neue und unter Beteiligung unterschiedlicher Medien vollzogenen nachträglichen Transfers eines literarischen Prätextes stellt die Rezeptionsgeschichte der Princesse de Clèves in Theater, Musik, Malerei und Film ein besonders vielfältiges Beispiel multipler ‚sekundärer Intermedialität‘ dar (vgl. zu diesem Konzept ibid.: 21f.). 2 Dies laut der Notiz „Le Libraire au lecteur“, die die Erstpublikation der Princesse begleitet (Lafayette 2014c: 329). 3 So die raffiniert getarnte Autorin in ihrem Brief an Lescheraine vom 13. April 1678 (zit. nach Lafayette 2014: 988-989, hier 989). 4 Valincour 2001: 112 (Anmerkung der Ed.). 5 Ibid.: 99f. 6 Vgl. den Kommentar der Herausgeberin ibid.: 100. 7 Ibid.: 111f. 8 Ibid.: 117. 9 Ibid.: 86. Unmittelbar nach seiner Kritik an den allzu artifiziellen Klagen des bedauernswerten Sancerre lobt Valincour die Konversation zwischen dem König und Nemours - betreffend dessen anvisierte Heirat mit der englischen Königin - als „fort simple et fort naturelle“ (ibid.), gleichermaßen positive Schlüsselwörter seiner Poetik. <?page no="490"?> 490 Aspekte einer intermedialen Rezeptionsgeschichte explizit mit der Komödien-„innocente“ Molières. 10 Der Racine-Bezug, in der Rezeptionshistorie der Princesse ebenfalls von Beginn an präsent, wird im 20. Jahrhundert etwa bei Marcel Proust literarisch variiert, 11 aber auch bis in die postmodernen filmischen Adaptionen ausgesponnen (so nennt Christophe Honoré die bei Lafayette vornamenlose Protagonistin symbolträchtig ‚Junie‘; die auch auf diegetischer Ebene kurz erörterte Referenz auf Racines Britannicus fungiert als düsteres Omen für eine Liebesgeschichte mit intertextuell bereits vor-geschriebenem fatalem Ende). Die Metapher des universellen ‚Theaters‘ stellt im Kontext der Epoche Lafayettes einen inflationär gebrauchten Topos nicht nur der künstlerischen, sondern auch der politischen und gesellschaftlichen Reflexion dar. 12 Speziell die Handlung der Princesse entfaltet sich in einem Milieu von ausgeprägter Theatralität: Auf Schritt und Tritt bewegen sich die Angehörigen dieses aristokratischen Mikrokosmos quasi auf einer Bühne, zugleich Zuschauer und Schauspieler, dem kritischen Blick und der scharfen Zunge ihrer Ko-Akteure ausgesetzt („Dans ce roman, chacun épie chacun“ 13 ). La Princesse de Clèves auf der Theaterbühne Hinsichtlich der Frage, wie weit die Rede von der ‚Theatralität‘ der Princesse de Clèves auch abseits dieses metaphorischen Wortgebrauchs poetologisch gerechtfertigt ist, gehen die Interpretationen auseinander; 14 es bleibt jedenfalls die Tatsache, dass der Text auch eine Theater- 10 Ibid.: 76, vgl. auch 102. 11 Vgl. die Passage der Recherche (À l’ombre des jeunes filles en fleurs, 1919) über die Kunst der Berma in Phèdre, assoziiert mit „noblesse plastique, cilice chrétien, pâleur janséniste, princesse de Trézène et de Clèves, drame mycénien, symbole delphique, mythe solaire“ (zit. nach Chevalier 2000: 351; zu den Lafayette-Okkurrenzen in Prousts Recherche vgl. auch Laugaa 1971: 230f.). Philippe Sellier assoziiert die Eifersuchtsreaktion des Prince de Clèves mit jener Phèdres (vgl. Esmein-Sarrazin 2014c: 1320). 12 Zum „Theaterstaat“ als Charakteristik der politischen Zivilisation Frankreichs vom 17. bis zum 19. Jahrhundert und insbesondere zu den abgründigen „Theaterfassaden“ der Ära Louis’ XIV vgl. Schmale 2000: 133ff. 13 Werlen 2012: 93. 14 „[…] que vaudraient en elles-mêmes ces grandes scènes, si on les détachait du long travail d’analyse qui les prépare et qui, lui, ne peut relever que du roman? Jamais adaptation de roman au théâtre n’entraînerait de telles mutilations. Les arrangeurs l’ont bien senti qui ont reculé généralement […]“: Bei aller Skepsis gegenüber dem Unterfangen einer Dramatisierung der Princesse spekuliert Fabre über Perspektiven einer potentiell adäquateren kinematografischen Adaption: „Le cinéma aura peutêtre plus d’audace: attendons la scène de l’aveu et le visage de Madame de Clèves en gros plan“ (1979: 39). Levillain betrachtet als eigentlich innovatives Moment der scène de l’aveu „une forme de théâtralité pathétique qui s’inspire du sacrement de pénitence“ (1995: 74); eine „orchestration presque théâtrale“ attestiert ebendieser Szene auch Esmein-Sarrazin (2014c: 1330, vgl. auch 1321). „Le roman est empreint d’une certaine théâtralité tragique“, befinden Dufour-Maître und Milhit (2004: 48): „comme au théâtre, le lecteur est emporté dans la dynamique de la conversation“ (ibid.: 119). Bei Garapon wird La Princesse de Clèves sogar als „[u]ne tragédie dans un fauteuil“ präsentiert; sowohl Atmosphäre als auch Handlungsverlauf verwiesen klar auf „le modèle de la tragédie“: „Ainsi, toute l’action peut se découper en une suite de scènes adaptables au théâtre […]. Comme au théâtre, les dialogues sont accompagnés de beaucoup d’indications scéniques“ (1988: 54). Ähnlich bemerkt auch Dubois, die Princesse sei durchaus als „une succession de scènes marquantes que le récit relierait entre elles, archipel d’instants-clés, souvent théâtraux“ lesbar (2014). Von einem „roman dramatique“ spricht bereits Francillon (1973: 123); doch auch wenn etwa die aveu-Szene oder die finale Aussprache zwischen Mme de Clèves und <?page no="491"?> La Princesse de Clèves in Theater, Musik, Malerei und Film 491 geschichte hat - angefangen mit einer Adaption durch Boursault noch im Erscheinungsjahr. 15 Schon zu Beginn der 1680er Jahre bringt Nathaniel Lee seine Princess of Cleve auf die Londoner Bühne. Lees Komödie, die sich - aufschlussreiches Beispiel interkultureller Aneignung und Transformation eines französischen Stoffes in der englischen Restaurationszeit - inhaltlich wie sprachlich sehr weit von ihrem Prätext entfernt 16 und rund um Nemours, hier zur „exaggerated version of a recognizable social type, the swaggering Restoration rake“ 17 stilisierter zentraler Protagonist, „a much bawdier, more satirical look at marriage, virtue, and hypocrisy in society than the novel“ bietet, 18 wird zwar von der englischen wie der französischen Kritik „with near-universal condemnation“ aufgenommen, 19 ist als „the first critical reading“ der Princesse im englischen Kontext aber doch von einiger Relevanz, 20 dies vor allem auch aus genderwissenschaftlicher Perspektive: Diese derbe komödiantische Version entlarvt indirekt auch „the phallocratic nature of the society depicted by La Princesse de Clèves, and the manner in which Nemours […] faithfully reflects the sexual culture of that society“. Nicht umsonst wurde vor dem Hintergrund postmoderner gender-fokussierter Lesarten der Princesse auch Lees Adaption - quasi „a first corrective to all those interpretations that view Nemours essentially as a victim of a woman’s repressive education and repressed personality“ 21 - mit neuem Interesse und in neuem Licht rezipiert. 22 Als „Comédie en trois actes et un épilogue“, verfasst „pour madame Sarah Bernhardt“, variiert die Princesse de Clèves zwei Jahrhunderte später auch Jules Lemaître: 23 Seine vaudevilleske Gesellschaftskomödie um eine modernisierte Princesse - Dame der mondänen Pariser Society der Belle Époque, in der die moralischen Skrupel der Heldin Lafayettes ebenso deplatziert erscheinen wie ein eventueller tragischer (Liebes-)Tod, die außereheliche Passion als Anlass nicht mehr ethischer Selbstreflexion des Subjekts, sondern vielmehr bunten Klatsches und zweideutigen Humors dient - illustriert paradigmatisch „le déplacement de la fiction aristo- Nemours als „de véritables scènes de théâtre“ (ibid.: 218) gelten dürften und die Narration generell diversen „techniques proprement théâtrales“ viel verdanke (ibid.: 237), bleibe die Struktur der Princesse „proprement romanesque“ (ibid.: 123). Chapiro identifiziert als Modell hinter dem Text zwar „la forme théâtrale de la tragédie“, weist aber zugleich auf den reduktiven Charakter einer reinen „lecture dramaturgique“ hin, die den im Roman so essentiellen Aspekt der zeitlichen Entwickung, „la dimension progressive et éducative du parcours de la princesse“ vernachlässige (2009: 50). Die Princesse habe „aucune parenté avec le théâtre“, hält dagegen - kategorischer Kontrapunkt zu einer langen Interpretationstradition seit Valincour - Werlen fest (2012: 101). „[…] les auteurs de la Princesse de Clèves ne sont pas partis d’un modèle théâtral“, erklärt Niderst (1973: 188, vgl. auch 134). Siehe zu dieser Problematik auch Makropoulou/ Sivetidou-Papaioannou 2010. 15 Lafayettes Zeitgenosse Boursault verfasst eine (nicht erhaltene) fünfaktige Verstragödie unter dem Titel La Princesse de Clèves, die am 20. und am 23. Dezember 1678 im Theater des Hôtel Guénégaud ohne besonderen Erfolg aufgeführt wird. Ein Jahr später liefert er eine - diesmal erfolgreiche - antikisierte Neuauflage des Stoffes unter dem Titel Germanicus; die Princesse de Clèves tritt nunmehr als ‚Agrippine‘ in Erscheinung (vgl. Esmein-Sarrazin 2014c: 1330). Siehe dazu auch Lafayette 2014: 711 (Ouvrage collectif: „Bibliothèque universelle des romans“, Jänner 1776); Malandain 1989: 114. 16 Vgl. Campbell 2005: 60ff. 17 Ibid.: 63. 18 „‚Princess of Cleves, The‘ (Nathaniel Lee)“ (o. D.). 19 Collington/ Collington 2002: 196. 20 Campbell 2005: 67, vgl. auch 60. 21 Ibid.: 65. 22 „In recent years the critical tide has seemed to turn“, wie Campbell konstatiert (ibid.: 61). 23 Lemaître 1908 (hier zit. 299); vgl. dazu White 2012. <?page no="492"?> 492 Aspekte einer intermedialen Rezeptionsgeschichte cratique vers les polissonneries du vaudeville bourgeois […] la dérive du discours classique, et son détournement, de la part des gardiens de la tradition et du savoir“, 24 aber auch Denis de Rougemonts These von der Degradation und Trivialisierung des Liebesmythos im Lauf einer Rezeptionsgeschichte, in der eben La Princesse de Clèves - „une dernière flamme, mince et pure“ 25 - einen letzten Höhepunkt vor dem definitiven Niedergang darstellt. Jean Bastaire, „poète et philosophe chrétien“, 26 legt mit seiner fünfaktigen, Robert Bresson („qui m’a enseigné la rigueur“) gewidmeten Madame de Clèves eine katholisch-religiöse Re- Interpretation des Sujets „dans une forme tragique apparentée à celle de Racine“ 27 und in prononciert klassischem Sprachduktus vor, 28 die sich - 1980 erstmals publiziert, nach auktorialer Datierung aber bereits zwischen Juni 1963 und November 1967 entstanden 29 - in ihrem ideologischen Konservativismus an den Antipoden des ‚Zeitgeists‘ positioniert und (ebenso wie Louise de Vilmorins Madame de und Jean Delannoys filmische Erstadaption) in mancher Hinsicht - vor allem in der Gestaltung der weiblichen Hauptfigur - weit hinter die Modernität des Prätexts zurückgeht. 30 24 Laugaa 1971: 220ff. („Le vaudeville mondain“), hier zit. 222. 25 Rougemont 1979: 215. 26 Rambaud 2006: 23. 27 Bastaire 1980: 9 („Avant-propos“). 28 Klassische Selbstbemeisterung - Schlüsselmotiv in Lafayettes Roman - fordert Bastaire auch auf der Ebene der Schauspieler ein: „Aussi les interprètes doivent-ils commencer dans un état de tension qui ne fait que croître, tout en restant maîtres d’eux-mêmes. L’ardeur doit corroder l’apprêt, la flamme brûler les silences“ (ibid.: 10). 29 Vgl. ibid.: 124. 30 Diese „modeste contemplation d’une grande œuvre“ (so der Autor in einer in dem mir vorliegenden Exemplar enthaltenen handschriftlichen Widmung „À Henri E NGELMANN “), ‚Tragödie‘ im streng klassischen Sinn des Wortes (ibid.: 10), dramatische Meditation über die „voies obscures“ der Passion (ibid.: 16), bleibt in ihrem historischen Primär-Kontext verortet („en 1559, à la cour d’Henri II“; ibid.: 11); dies freilich unter stark religiöser Einfärbung der Figuren - „les personnages, en cours d’élaboration, ont dérivé assez loin de ceux de Mme de La Fayette“, räumt der Autor im „Avantpropos“ ein und betont, dass sein Text, „mises à part la scène de l’aveu et quelques phrases isolées, entièrement original“ sei (ibid.: 9) - sowie unter Modifikation der Handlung. Bastaires Prince de Clèves verweigert seiner Frau den Rückzug vom Hof im Namen der zu absolvierenden moralischen ‚Prüfung‘ (ibid.: 52); nach direkter Konfrontation mit Nemours (ibid.: 69ff.) provoziert er den Chevalier de Guise zu einem Duell, bei dem er sich willentlich tödlich verwunden lässt (ibid.: 95ff.); vor seinem Tod erteilt er seiner Frau noch den Sanktus zu Wiederverheiratung. Am Leben bleibt dagegen Mme de Chartres, die - ebenso wie die Dauphine - ihre verwitwete Tochter von einer übereilten Entscheidung zur „retraite définitive“ (ibid.: 106) abzubringen versucht, was diese, sehr viel eindeutiger als bei Lafayette zur Inkarnation einer unerbittlichen, lebens- und liebesfeindlichen Moral stilisiert („Je hais cette liberté qui va contre mes vœux. Je ne désire que vivre et que mourir dans la fidélité“; ibid.: 93), allerdings ablehnt. Von der ersten Szene an zeigt sich der Prince ratlos gegenüber seiner jungen Frau, „trop parfaite, trop pure“, ja „jaloux de votre vertu“: „Vous l’aimez plus que votre époux“ (ibid.: 16f.). „J’eusse préféré que vous fussiez coupable, à condition de demeurer dans l’ignorance“, räumt er schließlich unter Anknüpfung an die Korrespondenz im Mercure galant ein (ibid.: 102). Diese Protagonistin, die sich - wie Bastaire im „Avant-propos“ unterstreicht (ibid.: 9) - nicht um des repos, sondern um der Selbstkasteiung willen zurückzieht (besteht sie doch darauf, ihrem toten Mann in ein „commun exil“ zu folgen: „Je peux choisir d’imiter le tourment qu’il lui fût imposé de souffrir“; ibid.: 120f.), provoziert auch bei anderen Figuren moralisches Unbehagen („Vous nous estimez vaines, frivoles, affectionnant l’intrigue? Ayez égard à notre condition. Elle nous enjoint de paraître avant que d’être, d’éblouir avant que d’aimer“, rechtfertigt sich die Dauphine; ibid.: 108). Im Rahmen eines überaus konventionellen Gender-Imaginariums fungiert diese entrückte Heilige, die bei Gelegenheit ihre <?page no="493"?> La Princesse de Clèves in Theater, Musik, Malerei und Film 493 Seit 1996 tritt Marcel Bozonnet, Schauspieler, Regisseur und Ex-Direktor der Comédie française, international mit seiner 1995 uraufgeführten 31 Solo-Adaption der Princesse - „la pièce de sa vie“ - auf; nicht zuletzt unter dem Gender-Aspekt ist dieses „solo jubilatoire où, dans un parcours d’émotions funambule, un homme se fait porte[-]parole des pensées les plus intimes d’une femme“ von Interesse. 32 Dies gilt auch für Magali Montayas Inszenierung der Princesse de Clèves aus dem Jahr 2016 (gezeigt im Théâtre de l’Échangeur von Bagnolet), die ihrerseits auf einen rein weiblichen Cast setzt („peut-être par ce que [sic] je le suis et que le roman relève d’une confession féminine“, wie die Regisseurin erklärt). Neben Montaya als Prince de Clèves begleiten unter anderem Élodie Chanut als Nemours, Éléonore Briganti als Vidame de Chartres und Bénédicte Le Lamer als Titelheldin die Zuschauerin auf einer achtstündigen, von der Kritik teils enthusiastisch begrüßten Gratwanderung zwischen narrativer Prosa und Theater, „la première personne (celle du théâtre)“ und „la troisième (celle du récit)“: „Rarement on a vu aussi belle restitution de l’esprit et de la lettre de Madame de Lafayette.“ 33 Schon aus dem Jahr 2004 datiert die theatralische Adaption der Compagnie La Bao Acou: Dieses von Benoît Schwartz konzipierte „spectacle en appartement“ richtet sich explizit an ein breites Publikum („l’histoire de la princesse de Clèves touche encore aujourd’hui l’intimité de chacun dans la peur que nous avons de l’échec sentimental, de passer à côté de l’essentiel, de rater sa vie“), das in einer interaktiven Performance konkret zur Kommunikation, ja ‚Kommunion‘ eingeladen wird und, „projeté à la table et à la place des princes et princesses de la Maison de France“, selbst am royalen Theater-Mahl teilnimmt. 34 eigene Rolle als Idol reflektiert (vgl. ibid.: 122f.), vor allem als Katalysator männlicher Selbstfindung. „Êtes-vous de ce monde, ou ne m’avez-vous été donnée que pour m’inspirer la nostalgie d’un lieu plus haut? “ (ibid.: 16), fragt sich der unglückliche Ehemann. Nicht nur Guise, seinerseits Sprachrohr eines pessimistischen Weltbildes („Rien n’est stable ici-bas que le doute et la crainte“; ibid.: 57), macht sein spirituelles Heil an der Princesse fest („si vous m’aviez aimé, j’eusse été tout autre“; ibid.: 97); eine jansenistische „conversion“ (ibid.: 42) widerfährt - entgegen aller historischen und hypertextuellen Plausibilität - auch dem Duc de Nemours, der durch seine Liebe zur tugendhaften Heldin in eine tiefe Existenz- und Sinnkrise verfällt, höchst selbstkritisch seinen eigenen Status als Kreatur der apparences kommentiert („Je flatte les yeux, mais ne retiens pas l’âme. Les bontés que l’on me témoigne vont à des apparences dont le néant m’effraie“), „la médiocrité de mes pensées, la bassesse de mes ambitions“ (ibid.: 26) verflucht, darauf sein amourös-religiöses ‚Erweckungserlebnis‘ zelebriert (vgl. ibid.: 42), sämtlichen „vanités d’autrefois“ entsagt und sich mit „les ardeurs d’un néophyte“ auf „les voies d’une vraie noblesse“ begibt (ibid.: 58f.), „une noblesse qui va bien au-delà des apparences et dont l’attrait ne m’aurait pas retenu si vous ne m’en aviez offert l’image“ (ibid.: 121). Gehorsam zieht dieser bekehrte Nemours, der sich als „seul coupable“ am Tod des Prince geißelt (ibid.: 116), von dannen, nachdem die Princesse, eifrig ihre eigene Schuld proklamierend, die Option einer „union de deux criminels“ (ibid.: 119) kategorisch verworfen hat. 31 Vgl. Rambaud 2006: 23. 32 „La Princesse de Clèves. Adaptation de Marcel Bozonnet“ (o. D.). Vgl. auch Solis 2014; Thibaudat 2014a. 33 Méreuze 2016. 34 Rambaud 2006: 24. Vgl. URL: http: / / www.lamerise.free.fr/ saison_2006_2007/ 02_saison_06-07/ tout_public/ princesse_cleves.html. <?page no="494"?> 494 Aspekte einer intermedialen Rezeptionsgeschichte La Princesse de Clèves in Musik und Malerei Gerade Marcel Bozonnets Princesse situiert sich freilich in einem intermedialen Netzwerk, in dem einander nicht nur Literatur und Theater, sondern auch Musik und Malerei begegnen. Wurde verschiedentlich die - metaphorische - ‚musikalische‘ Qualität des Lafayette’schen Romans selbst betont („O livre musical! “, begeistert sich Marie-Jeanne Durry; 35 Roger Francillon analysiert die „forme en quelque sorte polyphonique“ eines Textes von ausgeprägtem „caractère musical“; 36 Jean Fabre attestiert dem Arrangement der „épisodes […] [é]crits en contre-point“ seinerseits „une sorte de valeur musicale“; 37 auch Henriette Levillain würdigt Lafayettes Kunst der „contrepoints“ 38 ), so verdankt sich die Idee zu Bozonnets Performance ursprünglich einem musikalischen Projekt: Alain Zaepffel, Leiter des Ensembles Gradiva, schlägt Bozonnet 1994 vor, die Aufnahme von Kompositionen Antoine Boëssets, „musicien préféré de Louis XIII“, 39 mit dem Vortrag ausgewählter Passagen aus Lafayettes Text zu ergänzen. Das literarische Rahmenprogramm entfaltet seine Eigendynamik: Boëssets Airs de cour untermalen in der Folge die theatralische Inszenierung Bozonnets. 40 Als Modell für das Bühnenbild dieser Princesse - und insbesondere die Lichtregie bzw. die adäquate Umsetzung der „ambiance lumineuse“ des Romans - dient ein Werk Mark Rothkos, das, wie bei diesem Künstler üblich titellos (paralysieren doch, so Rothko, konkrete verbale Titel „l’esprit et l’imagination“), hier die Kontrast- und Interpretationsfolie für den Text Lafayettes abgibt. 41 Die Musikgeschichte der Princesse de Clèves beginnt allerdings schon lange zuvor: Anfang der sechziger Jahre entsteht Jean Françaix’ gleichnamige Oper in vier Akten (1961-1965), uraufgeführt am 11. Dezember 1965 am Théâtre des Arts de Rouen; 42 die Filmmusik zu Jean Delannoys Princesse aus dem Jahr 1961 komponiert Georges Auric. La Princesse de Clèves hat auch bildende Künstler verschiedener Epochen inspiriert: 43 Hubert Robert zugeschrieben wird eine Darstellung des Cabinet de la princesse de Clèves; 44 35 Durry 1962: 41. 36 Francillon 1973: 97, 114, vgl. auch 116. 37 Fabre 1979: 29. 38 Zit. nach Werlen 2012: 56. Vgl. auch Rousset 1976: 22. 39 Solis 2014. 40 Rambaud 2006: 22. Vgl. das musikalisch-literarische Album Anthoine Boësset/ Madame de Lafayette: Airs de cour. La Princesse de Clèves (Extraits). Ensemble Gradiva (Leitung: Alain Zaepffel), Claire Antonini, Jacques Bona, Véronique Dietschy, Christophe Le Paludier, Marianne Muller. Rezitation: Marcel Bozonnet. Universal Music (Accord Baroque), 2004 [zuerst 1995]. 41 Vgl. Rambaud 2006: 24. 42 Jean Françaix: La Princesse de Clèves (Libretto: J. Françaix/ Marc Lanjean). Uraufführung: Théâtre des Arts de Rouen, 11.12.1965. Vgl. das ausführliche Dossier auf URL: http: / / www.jeanfrancaix.com/ index. php? option=com_content&task=view&id=33&Itemid, samt Hörbeispielen aus den raren Aufzeichnungen des Werkes: Orchestre Lyrique de l’ORTF (Dirigent: Pierre-Michel Le Conte), ca. 1966, sowie SWR Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (Dirigent: Reynald Giovanetti), konzertante Aufführung 1987. Auszüge aus der für Oboe adaptierten Version Lajos Lencsés’ finden sich auf dem Album La Princesse de Clèves. Französische Romantik/ Musique Romantique Française. Françaix, Fauré, Pierné, Koechlin, Grovlez (Orchestre de Chambre National de Toulouse/ SWR Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, 2003) und in der Kompilation Sunset Classics („La Princesse de Clèves: Prélude“, Dirigent: Patrick Strub, 2004). 43 Auch im Text selbst spielen Bilder bzw. konkrete Gemälde - zugleich „images et objets“ (Coste/ Castells-Faucher 2000: 331) - eine Schlüsselrolle: Dies gilt für das unter dem unfreiwillig komplizenhaften Blick der Heldin von Nemours entwendete Porträt wie für die Darstellung der Belagerung von Metz, vor der die Princesse im nächtlichen Pavillon von Coulommiers träumt; diese Szene <?page no="495"?> La Princesse de Clèves in Theater, Musik, Malerei und Film 495 von Marie Laurencin stammt ein ‚Porträt‘ der Heldin Lafayettes in nobler Damengesellschaft 45 ebenso wie eine Serie von zehn Radierungen - in einer Schwarzweiß- und einer Farbversion realisiert - für die Re-Edition des Romans bei Robert Laffont 1947. 46 Weniger im Geist der ehrfürchtigen Zelebration als der spielerischen Provokation nähert sich die zeitgenössische Künstlerin Nadia Boursin-Piraud unter dem Titel Au diable les princesses de Clèves (2003) dem Monumentalwerk der französischen Literaturgeschichte: „Mettre en opposition 2 phrases, sur deux murs, 2 typographies, deux mises en page, deux rapports d’échelle. Les grandes histoires de la littérature évoquent en nous des images qui nous confortent et nous tirent vers ailleurs… S’indentifier [sic] aux grandes héroïnes, pour mieux les revisiter.“ 47 La Princesse de Clèves im Kino: Perspektiven und Paradoxa filmischer Adaption Für jegliches Projekt einer filmischen Adaption 48 stellt La Princesse de Clèves mit ihrer reichen intermedialen Rezeptionsgeschichte in mehrfacher Hinsicht eine spezielle Herausforderung macht auch die fundamentale Ambivalenz der ‚Imagination‘ im Text sehr deutlich (ibid., vgl. dazu auch Hipp 1992). Nicht umsonst wurden ebendiese beiden Passagen wiederholt grafisch interpretiert, vgl. etwa die folgenden Princesse-Illustrationen: „Le Portrait dérobé (Mme de Clèves aperçut M. de Nemours qui prenait quelque chose sur la table)“ (Stich von Edme Bovinet nach Pierre-Jean-Baptiste- Isidore Choquet, in: La Princesse de Clèves. Paris: Veuve Lepetit, 1820); „Le portrait dérobé. Dessin préparatoire d’Alphonse Lamotte pour une gravure illustrant La Princesse de Clèves“ (Paris: Veuve Conquet, 1889), siehe Lojkine 2008; oder auch „La canne des Indes“ (Stich nach Alphonse Lamotte von Jules- Arsène Garnier, 1889), zu besichtigen auf URL: http: / / www.weblettres.net/ blogs/ article.php? w=Mon plaisirLett&e_id=17657. Eine interdisziplinäre Analyse der Variationen über den Brief als „visual object“ bzw. das Motiv der Briefleserin/ -schreiberin bei Lafayette und bei Jan Vermeer unternimmt Labio (2000). 44 Vgl. Rambaud 2006 (Cahier d’illustrations II). 45 Marie Laurencin: La Princesse de Clèves (1941), Musée d’art moderne de la ville de Paris; vgl. auch die Version Deux élégantes (La Princesse de Clèves) aus dem Jahr 1953. 46 Vgl. Rambaud 2006: 18f. 47 URL: http: / / nadia.boursinpiraud.free.fr/ princesse/ page1.html. Vgl. dazu Rambaud 2006: 22. 48 Allgemein wird hier dem Terminus der ‚Adaption‘ gegenüber jenem der ‚Literaturverfilmung‘ - vor allem von medienwissenschaftlicher Seite Objekt eines gewissen Misstrauens (vgl. Bohnenkamp 2012: 9) - der Vorzug gegeben. Freilich ist auch der Begriff der ‚Adaption‘, wie Hutcheon in A Theory of Adaptation (2006: XIff.) argumentiert, alles andere als neutral, sondern ebenfalls mit dem Odium der Sekundarität und impliziten ‚Inferiorität‘ behaftet - der Auseinandersetzung mit einer derartigen prioritäts- und originalitäts-fokussierten Ästhetik hat sich die Analyse von Produkten des intermedialen Transfers bzw. eines künstlerischen Medienwechsels (nicht nur) von der Literatur zum Film also ohnedies zu stellen. Sinnvollerweise ist die vielkritisierte ‚Literaturverfilmung‘ auch insofern nicht ganz zu verwerfen, als sie diese prinzipielle Problematik der (De-)Valorisierung des Genres direkt adressiert. Eignet dem Terminus ‚Verfilmung‘ traditionell eine gewisse pejorative Komponente gemäß dem „alten bildungsbürgerlichen Vorurteil[], ein literarisches Werk könne in seiner filmischen Version nur verfälscht oder verstümmelt erscheinen“ (Bohnenkamp 2012: 9), so ist es durchaus erhellend, die „‚Verfilmung‘“ - wie von Bohnenkamp vorgeschlagen - unter bewusster Abgrenzung vielmehr dekonstruktiv zu lesen (ibid.: 18), „als Antwort, Echo oder Fortsetzung, die das Original nicht ersetzen, sondern ergänzen, weiterführen und weiter-‚spielen‘ will“ (ibid.: 28f.). Nach der Terminologie Kreuzers (1993), der zwischen bloßer „Aneignung von literarischem Rohstoff“, „Illustration“, „Dokumentation“ und „Transformation“ differenziert, ist in Bezug auf unser Corpus von letzterer zu sprechen; nach dem Modell Schanzes (1996) wiederum liegen hier Phänomene der „Transposition“, der „Adaption“ bzw. der „‚Transfiguration‘ als einer Metamorphose des Literarischen ins Filmische“ vor (während die „Transformation“ in diesem Schema als „Orientierung an einer der medialen Realisierung vorausliegenden Tiefenstruktur“ <?page no="496"?> 496 Aspekte einer intermedialen Rezeptionsgeschichte dar, die einige prinzipielle Fragen jeder Literatur- und erst recht Klassikerverfilmung mit besonderer Virulenz aufwirft. Abgesehen von der zeitlichen Distanz, der doppelten, von jeder modernen Adaption mit ihrer jeweiligen Konstruktion des „imaginaire d’une époque au cinéma“ 49 weiter komplizierten Historizität von Lafayettes Roman selbst kommt im Fall der neueren kinematografischen Re-Interpretationen auch eine politische Dimension ins Spiel. Gerade die Filmgeschichte des Textes macht zwar einerseits deutlich, dass die Renaissance der Princesse schon zur Jahrtausendwende - vor der ‚Affäre‘ Sarkozy - einsetzt (mit Manoel de Oliveiras La Lettre und Andrzej Żuławskis La Fidélité werden 1999/ 2000 innerhalb weniger Monate gleich zwei neue freie Adaptionen präsentiert); 50 andererseits schreiben sich die beiden jüngsten Werke in diesem Corpus - Christophe Honorés La Belle Personne (2008) und Régis Sauders Nous, princesses de Clèves (2011) - unweigerlich auch in diesen politischen Kontext ein. Honoré versteht seinen Film ausdrücklich als künstlerisches „démenti“, 51 als „réponse“ auf Sarkozy; 52 paradoxe ‚Antwort‘ freilich insofern, als seine Diegese „radicalement dépolitisée“ erscheint, „à l’inverse […] du roman de Madame de La Fayette“, wie Michaël Delavaud anmerkt. 53 Régis Sauder bekennt sich ebenfalls zur zusätzlichen politischen Komponente seines bereits vor Sarkozys Princesse-Bashing und der folgenden Querelle konzipierten Projekts: Seine Dokumentation könne und solle durchaus auch als „une réponse au débat sur l’identité nationale, à la ghettoïsation de l’enseignement et à l’éducation à deux vitesses“ betrachtet werden. 54 In gewissem Grad sind beide Filme Sarkozy allerdings zumindest indirekt auch für ihre quasi einhellig sehr positive Aufnahme verpflichtet: Offizielle Kritiken wie Amateur-Diskussionen in Blogs und Webforen zeugen von der speziellen Dynamik eines Rezeptionskontextes, in dem es diese neuen Princesse-Kreationen schon aus Gründen der protestpolitischen Correctness - gegen Sarkozy (bzw. ‚Sarkozy‘) - zu lieben gilt. bestimmt wird; vgl. dazu auch Schneider 1981); siehe zu diesen unterschiedlichen Ansätzen die Übersicht bei Bohnenkamp 2012: hier 15, 37f. Gegenüber einer Tradition der Intermedialitätsforschung, die sich - so reflektierterweise etwa Rajewsky (2002) - ihrem Gegenstand ausgehend „von der Literatur als kontaktnehmendem Medium“ nähert, skizziert Birgit Wagner „eine Typologie von Film->Text- Beziehungen“ zur Erfassung der „Bandbreite formaler Verfahren, mit deren Hilfe in einem Film auf einen literarischen Prätext verwiesen werden kann“ (2009: hier zit. 35f.), dies auf Basis eines Corpus zeitgenössischer filmischer réécritures (vgl. Tcheuyap 2005, zit. bei Wagner 2009: 36). Angesichts des auch in der deutschsprachigen Forschungsliteratur „gängigen, aber unscharf definierten Begriff[s]“ der „Transformation“ (s. o.) rekurriert Wagner - im Anschluss an Genettes Transtextualitäts- und speziell Hypertextualitätsmodell - auf das Konzept der „transposition“; die „ernste Transposition“ wird als „Sonderfall der Literaturverfilmung“ samt konkreten Zitatpraktiken auf sprachlicher, visueller, narrativer Ebene etc. beleuchtet (ibid.: 38f.). 49 Böhm/ Grewe/ Zimmermann 2009: 14. 50 Brink (2009: 125) spekuliert in ihrer vergleichenden Analyse mehrerer Princesse-Adaptionen über die potentiellen Beweggründe hinter diesem sowohl Anfang der sechziger Jahre (also zur Zeit von Jean Delannoys - freilich bereits zwei Jahrzehnte zuvor ins Auge gefasster - Erstadaption) als auch um die Jahrtausendwende intensivierten Interesse an Lafayettes Text, die sie nicht zuletzt in der jeweiligen zeithistorischen Spezifik verortet: Sowohl Delannoys erste Film-Princesse als auch die späteren Adaptionen entstehen in gesellschaftlichen Umbruchsperioden, „où les sociétés européennes connaissent des changements profonds se rapportant notamment à un problème semblable, à savoir l’individualisme, le droit à la liberté individuelle“. 51 „La Belle Personne. Les secrets du tournage“ (o. D.); Debril/ Mandonnet 2009. 52 Moreau 2010: 9. 53 Delavaud 2011. 54 Zit. nach Fabre 2011. <?page no="497"?> La Princesse de Clèves in Theater, Musik, Malerei und Film 497 Zu diesen textexternen Komplikationen gesellen sich solche intrinsischer Natur. Bei der Princesse handelt es sich um einen extrem visuellen Text: voir ist mit 419 Okkurrenzen das vierthäufigste Verb, dies nach den hochfrequenten Auxiliarverben être und avoir sowie dem verhältnismäßig banalen faire; 55 voir und regarder fungieren als „appuis sémantiques récurrents“ 56 eines „par la question du regard“ 57 dominierten und insgesamt einer elaborierten „etiquette of sight“ 58 unterworfenen Romans, in dem sich in der Darstellung eines „monde courtois où le sujet est créé et réalisé à travers le regard d’autrui“ 59 von Seite zu Seite „the myriad functions of observation, voyeurism, and self-contemplation“ 60 entfalten und in dem auch die Passion als optisches Phänomen erscheint: 61 „[…] la passion naît du regard: […].“ 62 Dabei bleibt der Text jedoch bemerkenswert abstrakt: „Given the author’s predilection for verbs of perception and visual metaphors, it seems odd that Lafayette relies on formulaic hyperboles and clichéd adjectives in describing the characters […]“, hält Julia Douthwaite fest. 63 So schildert Lafayette im eröffnenden historischen Panorama unter großzügigem Rekurs auf Attribute wie „magnifique“ und „incomparable“ 64 eine von unzähligen ‚belles personnes‘ bevölkerte höfische Welt, mit Hilfe diverser „qualificatifs hyperboliques et interchangeables“ evozierter „univers idéalisé“; 65 als „hyperboles d’hyperboles“ 66 erscheinen auch ihre Protagonisten. In einem Kontext, in dem „[k]örperliche Schönheit […] nicht nur Spiegel moralischer Qualitäten oder Quelle ästhetischen Vergnügens, sondern auch ein wichtiges Element in der symbolischen Repräsentation von Macht“ ist, 67 wird die physiologische Realität des menschlichen Körpers, wird der „aspect ‚créaturel‘“ 68 zur Gänze ausgeblendet. Lafayettes Roman, „abstrait et […] pudique“, 69 inszeniert eine paradox desinkarnierte, sozialisierte Korporalität; 70 prunkvolle Kleider und Juwelen - gleichsam „organe[s] surnuméraire[s]“ 71 - konstituieren 55 Vgl. Douthwaite 1998: 112. Eine minutiöse lexikalische Analyse des Textes unternimmt Bazin (1966, 1967, 1970). 56 Levillain 1995: 111. Werlen (2012: 89) betont ebenfalls die visuelle Ökonomie des Textes und die Schlüsselrolle der Verben voir, observer, regarder, wobei sie auch auf „l’alternance fort instructive des verbes voir et regarder“ im voyeuristischen höfischen Dispositiv des Textes hinweist (ibid.: 93). 57 Roulston 1995. 58 Douthwaite 1998: 109. 59 Roulston 1995. 60 Douthwaite 1998: 112. 61 „This notion of sight as an irresistible agent of passion is a familiar topos in La Princesse de Clèves“ (ibid.: 115). Zur visuellen Ästhetik der Princesse vgl. auch De Pree 1994; zur Motivik des Voyeurismus Hülk 1995; Paulson 1998: 11ff. („The Watchers Watched or from Viewer to Voyeur“). 62 Francillon 1973: 36. Vgl. dazu auch Léopold 2009: 2, 103, 238 et passim. 63 Douthwaite 1998: 113. 64 Vgl. Delacomptée 2012: 30f. 65 Levillain 1995: 12f. 66 Ibid.: 13. 67 So Grewe in ihrer Analyse der gleichfalls mit „hyperbolischen Bilder[n]“ operierenden Schriften Brantômes (2005: 200, 198). 68 Francillon 1973: 139f., unter Bezug auf Erich Auerbachs Mimesis (1946). 69 Pommier 2010: 22. 70 „This mode of description emphasizes the social effects of appearances rather than the physical features themselves“, betont Douthwaite (1998: 113) unter Verweis auf Kusch 1976: 315. 71 Delacomptée 2012: 52. <?page no="498"?> 498 Aspekte einer intermedialen Rezeptionsgeschichte einen komplexen soziokulturellen Code, der den Akteuren dieses streng reglementierten Mikrokosmos ihre Positionen zuweist, Rolle, Status und Allianzen deutlich macht. 72 „M me de Lafayette ne décrit presque rien“, konstatiert lapidar Alain Niderst. 73 Vor allem aus der Sicht eines postmodernen Lesers mit seinen „par deux siècles de réalisme“ geprägten Rezeptionsgewohnheiten mutet „l’absence presque totale de descriptions extérieures“ bei Lafayette recht ungewöhnlich, jedenfalls ungewohnt an. 74 Dies gilt freilich nicht unbedingt für die zeitgenössischen, mit „the hyperbolic language standard for classical images of female beauty“ 75 vertrauten Leser der Princesse, deren Erwartungshorizont Lafayettes abstrakte (Non-) Porträts mit ihren „scant physical details“ 76 durchaus entsprechen. Analysiert ein Lafayette- Spezialist des 21. Jahrhunderts deren Darstellung ihrer Heldin in Kategorien der Negation, des Mangels an physischer Individualität („[…] elle manque d’une apparence physique qui l’individualise: […]. Pas de bouche, pas d’yeux, pas de nez, pas de taille. […] Une apparence réduite à une définition d’ensemble […]“), 77 so verzeichnet Valincour die aus heutiger Perspektive sehr knappe Beschreibung bzw. bloße Erwähnung der Haarfarbe der Protagonistin als Indiz besonderer deskriptiver Gewissenhaftigkeit des anonymen auteur: „En effet, je me suis étonné qu’il ait pris soin, en deux ou trois endroits, de faire remarquer qu’elle était extrêmement belle, qu’il ait décrit jusques à ses cheveux blonds, et qu’il n’ait dit nulle part qu’elle avait de l’esprit.“ 78 In verschärfter Form präsentiert sich im Fall dieses zugleich so visuellen und so abstrakten Romans die Problematik jedes Transfers eines literarischen Textes in den Film, Medium des ‚sichtbaren Menschen‘, 79 das nach „Konkretisierung“ 80 literarischer Räume, nach Inkarnation dieser „héros sans prénoms et presque sans visage“, 81 und damit nach Auffüllung so mancher Leerstelle verlangt. Wie sieht Mlle de Chartres, spätere Princesse de Clèves, nun ‚wirklich‘ aus? Abgesehen von ihrem blonden Haar, ihrer weißen Haut und ihren „traits […] réguliers“ bleibt diese „beauté parfaite“ abstrakt, 82 etwas weniger abstrakt freilich als das Bild ihres Gatten und auch des verführerischen Duc de Nemours, 83 der - Abschluss und Höhepunkt der Parade diverser männlicher Figuren im einleitenden Panorama - summarisch als „un chef-d’œuvre de la nature“ beschrieben wird; 84 eine Formulierung, die Valincour als inadäquat 72 So schildert Lafayette im Rahmen der Hochzeit der Königstochter Élisabeth die Prachtkleider, die zu diesem Anlass zum Einsatz kommen; die Gefolgsdamen erscheinen jeweils durch die Farbe ihrer Kleidung als dieser oder jener Hofpartei zugehörig markiert: „Les Reines et les Princesses avaient toutes leurs filles magnifiquement habillées des mêmes couleurs qu’elles étaient vêtues: en sorte que l’on connaissait à qui étaient les filles par la couleur de leurs habits“ (2014c: 438f.). 73 Niderst 1973: 124. 74 Levillain 1995: 47. 75 Douthwaite 1998: 113. 76 Ibid. 77 Delacomptée 2012: 27. 78 Valincour 2001: 75. 79 Vgl. Balázs 2009. 80 Bohnenkamp 2012: 34. 81 Fabre 1979: 77. 82 Lafayette 2014c: 337f. 83 Nach Francillon konstituiert das recht vage „portrait“ der Mlle de Chartres doch immerhin „une exception dans le roman où les personnages ne sont pas décrits physiquement de manière suffisamment précise pour qu’on puisse les individualiser“ (1973: 215). 84 Lafayette 2014c: 333. <?page no="499"?> La Princesse de Clèves in Theater, Musik, Malerei und Film 499 bzw. gender-inkorrekt kritisiert, 85 die aber quer durch die Jahrhunderte der Leserin jegliche Freiheit lässt, sich dieses ‚Meisterwerk der Natur‘ nach ihrem persönlichen Geschmack und Schönheitsideal auszumalen: 86 „Puisque le propre du duc de Nemours est d’être inimitable et incomparable, il n’est possible de saisir son identité personnelle que par la comparaison. Aucune qualité matérielle pour le duc de Nemours: […]. C’est au lecteur de se représenter, à partir des hommes qu’il connaît, un homme tel qu’il les surpasse tous et en toutes circonstances, c’est-à-dire un parangon, plutôt qu’un être particulier.“ 87 Doch nicht nur der Leser der Princesse, sondern auch und erst recht der Filmregisseur sieht sich unweigerlich - Tribut an die referentielle Illusion - mit der vermeintlich naiven Frage nach der physischen Erscheinung der Protagonisten konfrontiert. Schon das Casting dieser oder jener Darsteller besitzt interpretatorische Relevanz - dies gilt speziell für sehr bekannte Schauspieler mit bereits konstituierter kinematografischer Imago (in diesem Fall z. B. Jean Marais als Jean Delannoys Prince de Clèves, Sophie Marceau als Andrzej Żuławskis ‚Princesse‘ Clélia oder Louis Garrel als Christophe Honorés Nemours), die mit jener des neu zu adaptierenden Werkes, auch in dieser Hinsicht palimpsestisches Konstrukt, interferiert; 88 bei Mehrfachverfilmungen ein und desselben Textes - auch dies illustriert eindrücklich die Kinogeschichte der Princesse - wird das ‚Bild‘ der Helden in Auseinandersetzung nicht nur mit dem literarischen Prätext, sondern auch mit den jeweils vorangegangenen Adaptionen neu definiert (hier konkret etwa jede spätere Princesse in Relation bzw. im Kontrast zu Delannoys Marina Vlady). Lafayettes Text befeuert besonders effizient die „Produktion innerer Bilder“, den Prozess der „Einbildung“ 89 im Kopf jedes Adapteurs, aber auch jeder einzelnen Leserin und Filmzuschauerin; insofern überrascht es kaum, dass das Corpus filmischer Princesses wiederholt einen regelrechten Clash unterschiedlicher Imagines der Protagonisten provoziert hat (und nach wie vor provoziert). Dies zum einen im Sinne sich im Lauf der Jahrhunderte wandelnder Schönheitsideale: Beinahe unausweichlich re-interpretiert jede Epoche Lafayettes „héroïne idéalisée“ 90 nach ihrem eigenen ästhetischen Kanon. 91 Reflektiert wie zitiert bereits Ray- 85 Vgl. Valincour 2001: 126f. 86 In Bussy-Rabutins Histoire amoureuse des Gaules tritt unter dem transparenten bzw. durch die „Clé“ zum Roman klar zugeordneten Decknamen ‚Amédée‘ (vgl. 2007: 179) ein anderer Duc de Nemours (Charles-Amédée de Savoie) in Erscheinung (Duchêne/ Duchêne 2007: 22), der zwar nicht mit dem Kavalier der Princesse zu verwechseln ist, aber seinerseits im Imaginarium der Zeitgenossen Lafayettes zweifellos präsent war. Dieser andere Nemours wird im Gegensatz zum abstrakten „chef-d’œuvre de la nature“ bei Lafayette (2014c: 333) sehr viel präziser beschrieben: „Amédée avait les cheveux fort blonds, le nez bien fait, la bouche petite et de belle couleur. Il avait la plus jolie taille du monde et, dans ses moindres actions, une grâce qu’on ne pouvait assez admirer, l’esprit fort enjoué et badin“ (Bussy-Rabutin 2007: 95). 87 Dubois 2014. 88 Vgl. Bohnenkamp 2012: 34; Hickethier 2012: 169ff. („Darsteller und Rolle“). 89 Vgl. Albersmeier/ Roloff (1989: 14) zum „Begriff der Einbildung als Schlüsselwort für Intermedialität überhaupt“: „In diesem Sinne illustriert und verdeutlicht das Kino jene Prozesse, die sich auch beim Lesen von Buchliteratur - bei der Produktion innerer Bilder - abspielen; so daß Literaturverfilmungen als Transformation eben jener Einbildungen und inneren Filme erscheinen, die der Leser bei der Lektüre herstellt und die sich in der Regel von den Intentionen der Autoren und dem historischen Kontext der erzählten Geschichten weit entfernen.“ 90 Rambaud 2006: 40 (Hervorhebung im Original). <?page no="500"?> 500 Aspekte einer intermedialen Rezeptionsgeschichte mond Radiguet diese historische Diskrepanz („[…] nous nous formons un idéal si différent de la beauté des femmes, que nous ne nous retournerions peut-être pas, dans la boutique d’un joaillier, sur celle pour qui se consuma Nemours“ 92 ), so re-imaginiert André Larané die Princesse im Jahr 2008 in ironischem Anachronismus - und unter transparenter Allusion auf den aktuellen politischen Kontext - als „top-model“ unserer Zeit. 93 Zum anderen kommt - im Rahmen der und in Interaktion mit den jeweiligen epochenspezifischen Schönheitsnormen - auch die idiosynkratische Komponente dieser Bilderproduktion ins Spiel, wovon vor allem der in diversen Blogs, Online-Foren etc. lebhaft geführte und gerade in seiner relativen ‚Naivität‘ besonders aufschlussreiche Diskurs improvisierter Amateur-Kritikerinnen und -Kritiker plastisches Zeugnis ablegt. Wie alt ist der Prince de Clèves? Bei Lafayette wird dieser Punkt nicht präzisiert. Aus der lobenden Charakteristik der Figur durch die Erzählinstanz („[…] il était brave et magnifique, et il avait une prudence qui ne se trouve guère avec la jeunesse“ 94 ) und aus der Tatsache, dass auch Mme de Chartres das trotz seiner relativen Jugend so besonnene Wesen ihres zu- 91 Noch sind Filme geschmack- und geruchlos: Mit der Perspektive eines zukünftigen Kinos für alle Sinne gewänne die Problematik der filmischen Inkarnation eine Dimension hinzu. Wie gestaltete sich eine olfaktorisch adäquate Verfilmung der Princesse de Clèves? Hier gälte es nicht mehr nur unterschiedliche Schönheitsideale, sondern auch hygienische Standards historisch zu kontextualisieren. Liselotte von der Pfalz, zweite Ehefrau von Philippe I d’Orléans, zeichnet ein in dieser Hinsicht wenig erquickliches Bild des Versailler Königshofes: „There is one dirty thing at Court that I shall never get used to: the people stationed in the galleries in front of our rooms piss into all the corners. It is impossible to leave one’s apartments without seeing somebody pissing“ (zit. bei Douthwaite 1998: 110). In einer Online- Diskussion auf Pierre Assoulines Blog zum Thema „Qui veut tuer la Princesse de Clèves? “ (2006) schildert ‚Lazarillo‘ (11.12.2006) genussvoll die abjekte Kehrseite zu Delannoys märchenhaft desinkarnierter Ästhetik: „J’ai étudié La princesse de Clèves à la fac et le prof […] nous avait bien fait marrer en évoquant le film. D’après lui […] à l’époque où se situe l’action, à 20 ans même les nobles n’avaient plus un chicot sain et avaient tous l’haleine fétide. Ils évoluaient dans une atmosphère de crasse et de puanteur inimaginable […]. Et il ajoutait que faire un minou ou une fellation dans ces conditions relevait du défi. Depuis, je ne regarde plus les films historiques de la même manière.“ Dieser Kommentar erntet zwar einige Empörung: „[…] c’est de la caricature absurde et du progressisme de coiffeur“, protestiert ‚Ramiel‘ (11.12.2006) gegen dieses geradezu blasphemische Sinnes- und Sittenbild einer ‚stinkenden‘ Princesse (ibid.). Doch schon Bussy-Rabutin skizziert in seiner Histoire amoureuse des Gaules - auch als Konter-Text zu Lafayettes hyperbolischen Beschreibungen ätherisch-abstrakter Körperlichkeit von einigem Interesse - das eine oder andere ungalante olfaktorische Porträt. So scheitert der amouröse commerce zwischen der „princesse des Normands“ (Duchesse de Longueville), Geliebte des „duc de Cofalace“ (La Rochefoucauld), und „Amédée“ (Nemours) nicht zuletzt an den hygienischen Defiziten der fraglichen Dame, „qui était malpropre et qui sentait mauvais“ (2007: 108). In seiner Darstellung des „prince Tyridate“ (Prince de Condé) hebt der Autor neben dessen „physionomie d’un aigle“ auch die weniger appetitlichen „dents […] malpropres, l’air négligé, et peu de soin de sa personne“ hervor (ibid.: 109). Immer wieder werden hier Detail-Deskriptionen zum körperlichen Erscheinungsbild, den hygienischen und diätetischen Gewohnheiten dieser oder jener Figur geboten (vgl. etwa auch ibid.: 162). 92 Radiguet 1986: 108. 93 „C’est une histoire de tous les temps. On pourrait la transporter au XXI e siècle. La Princesse serait un top-model avide de passion et d’engagement. Elle aurait cédé aux avances d’un homme politique hyperactif et ambitieux, en mal de repères affectifs, puis, à un tournant de sa vie, disons, à l’approche de la cinquantaine, son cœur se serait embrasé pour un beau et grand publicitaire blond, cultivé et aimable…“ (Larané 2008). 94 Lafayette 2014c: 333. <?page no="501"?> La Princesse de Clèves in Theater, Musik, Malerei und Film 501 künftigen Schwiegersohnes zu schätzen weiß, 95 ergibt sich freilich das Bild eines noch jungen Mannes; 96 jung, aber unbestimmten Alters ist auch der schöne Duc de Nemours. 97 Angesichts dieser literarischen Vorgabe entscheiden sich die Regisseure der diversen filmischen Princesse- Adaptionen für sehr unterschiedliche Interpretationen. Delannoy kontrastiert - entsprechend einem nicht zuletzt in der klassischen comédie etablierten Topos - einen vierzigjährigen Prince und einen überaus jugendlichen Nemours, wobei die Altersfrage bereits in der ersten Szene des Hofballs gezielt akzentuiert wird. 98 Fast fünf Jahrzehnte später wählt Christophe Honoré die umgekehrte Konstellation: Seiner Nemours-Reinkarnation - verführerischer erwachsener Italienischlehrer, in mehrere parallele Liaisons verstrickter routinierter Casanova mit einigermaßen selbstverliebt affichiertem mediterranem Sex-Appeal - steht das Prince de Clèves-Äquivalent ‚Otto‘ als schüchterner, sanfter blonder Schuljunge, Klassenkamerad seiner ‚Princesse‘, gegenüber. Überflüssig beinahe zu bemerken, dass derartige Casting-Optionen die Dynamik des kinematografischen ‚Empathisierens‘ 99 stark beeinflussen - und sämtlich beim einen oder anderen Teil des Filmpublikums für temperamentvollen Protest sorgen. So befindet eine Partizipantin einer Online-Diskussion rund um den Vergleich verschiedener Princesse-Verfilmungen Delannoys Besetzung der beiden männlichen Hauptdarsteller für ‚verkehrt‘ („[…] nous avions vu en classe l’adaptation du roman avec Jean Marais et Marina Vlady. J’ai toujours trouvé que les rôles du Duc de Nemours et du Prince de Clèves auraient dû être inversés. Le Duc de Nemours est censé être un séducteur dans la force de l’âge et plein d’expérience. Jean-François Poron qui l’interprète fait tout jeunot par rapport à Jean Marais“ 100 ) und erntet damit einige Zustimmung: In der Welt bzw. vor dem Hintergrund der Lese- und Filmerfahrungen ihrer zumeist offenbar recht jungen Ko-Diskutantinnen (die Rede ist von schulischen Princesse-Pflichtlektüren, Filmséancen und dergleichen) erscheint vielmehr das Arrangement jugendlicher Partner/ Ehemann vs. älterer Verführer plausibel und kulturell sanktioniert. „J’ai vu aussi le film et je suis d’accord […]: les rôles sont mal attribués“, 95 „[…] Mme de Chartres lui dit qu’il y avait tant de grandeur et de bonnes qualités dans M. de Clèves, et qu’il faisait paraître tant de sagesse pour son âge […]“ (ibid.: 347). 96 „Mademoiselle de Chartres est mariée au Prince de Clèves, que beaucoup de lecteurs croient vieux parce qu’il n’est pas aimé, mais qui est jeune: il faut s’en souvenir pour comprendre ses réactions“, betont auch Lançon (2009a). Der reale Prince de Clèves (geb. 1544), „personnage historique […] traité très librement par la romancière“ und im Übrigen „de santé délicate“, wäre zur Handlungszeit gerade knapp fünfzehn Jahre alt (vgl. Esmein-Sarrazin 2014c: 1302). 97 Valincour, der wie manch späterer Interpret zur sympathisierenden Identifikation mit der Figur des Nemours tendiert, schreibt diesem sein eigenes aktuelles Alter zu (vgl. 2001: 50f.). Die Bedeutung des Altersaspekts unterstreicht auch Jean Bastaire im „Avant-propos“ zu seiner katholischen Madame de Clèves: „Il est indispensable enfin de souligner l’âge des héros. […] C’est une pièce de jeunes gens où, sous l’apparence de l’ordre, règne la démesure“ (1980: 10). Bastaire fixiert denn auch exakt das Alter seiner tragischen Helden: Seine Princesse ist siebzehnjährig, ebenso die Dauphine; der Prince de Clèves und Nemours, hier Altersgenossen, zählen beide jugendliche zweiundzwanzig Jahre; noch jünger ist der amouröse Rivale Guise mit einundzwanzig Jahren, während der die Position des Vidame de Chartres besetzende ‚Marquis de Luynes‘ als bereits vierzigjähriger Cousin der Princesse die Rolle des abgeklärten Beobachters und Beraters spielt (vgl. ibid.: 11). 98 Im Gespräch mit Diane de Poitiers charakterisiert der Prince de Clèves selbst voll böser Vorahnungen seine Frau als „trop belle et trop jeune“; auf Dianes Nachfrage erteilt er dieser - und der Filmzuschauerin - die präzise Auskunft, er selbst sei schon vierzig Jahre alt (La Princesse de Clèves: 06: 29-06: 39). 99 Vgl. zu diesem Begriff Braidt 2016: 128ff. 100 „Mme de la Fayette: La princesse de Clèves“ (The Inn at Lambton, 2007ff.): 1 (‚ekaterin64‘, 16.12.2007). <?page no="502"?> 502 Aspekte einer intermedialen Rezeptionsgeschichte sekundiert eine andere Userin 101 , worauf die Erst-Kommentatorin noch einmal nachsetzt und ihre Interpretation unter Verweis auf den - signifikant im Sinne des eigenen Koordinatensystems fehl-erinnerten - Text Lafayettes ‚autorisiert‘: „[…] je me souviens quand même pour avoir vu le film en même temps que j’avais lu le roman, qu’il était assez fidèle. À par[t] les âges de Nemours et du prince qui étaient inversés [sic].“ 102 In Bezug auf Oliveiras Lettre beanstandet Jean-Michel Delacomptée, als Princesse de Clèves- Experte im öffentlichen Diskurs über den Roman in Frankreich sehr präsent, die Besetzung der weiblichen Hauptrolle mit Chiara Mastroianni - zu ‚alt‘, zu dunkelhaarig, zu selbstbewusst: „Au lieu d’une toute jeune fille blonde au teint clair que la modestie fait rougir, voilà une jeune femme brune aux gestes sûrs […]. J’ignore pour quels motifs Manoel de Oliveira a vieilli l’héroïne. Nul doute que d’excellents arguments l’aient inspiré. Mais dans l’opération on perd l’enfance. Et, avec l’enfance, le cœur du roman.“ 103 Auch hier werden freilich heutige Vorstellungen auf die Epoche Lafayettes bzw. jene ihrer Romanhandlung reprojiziert, ist Alter doch nicht zuletzt eine soziohistorische Kategorie. 104 Zwar gelangt Lafayettes Protagonistin „dans sa seizième année“ an den Königshof 105 (über dieses Detail wird die Leserin ausnahmsweise konkret informiert); dennoch wäre es verfehlt, sie als Teenager in modernem Sinne betrachten zu wollen: Wie die etwa gleichaltrige Dauphine ist Mme de Clèves spätestens ab dem Zeitpunkt ihrer Eheschließung und dem bald darauf folgenden Tod ihrer Mutter ein vollwertiges erwachsenes Mitglied der Hofgesellschaft, von dem - abseits jeglicher Schutzzone einer postmodernen Kindheit - entsprechende Rollenkompetenz selbstverständlich erwartet wird. Insofern ist Oliveiras Gestaltung der Figur die Plausibilität nicht abzusprechen; auch Andrzej Żuławski entscheidet sich in seiner anderweitig radikal verschiedenen Adaption für eine etwas gealterte, melancholisch über ihren bevorstehenden dreißigsten Geburtstag meditierende ‚Princesse‘ und reproduziert derart - Treue in der Untreue - Status und Aktionsradius der Heldin Lafayettes in einem neuen historischen und sozialen Kontext. Nicht zufällig irritiert die konträre Interpretation Christophe Honorés - der neun Jahre nach Oliveira in La Belle Personne eine Teenager-Princesse, Schulmädchen in einem zeitgenössischen Gymnasium der Pariser beaux quartiers, inszeniert - wieder andere Lafayette-Leserinnen und cinéphiles. Die zitierte skeptische Reflexion über Chiara Mastroiannis allzu dunkle Schönheit verweist auf ein frappierendes Phänomen in der Filmgeschichte der Princesse: In Anbetracht 101 Ibid. (‚althea‘, 16.12.2007). 102 Ibid.: 2 (‚ekaterin64‘, 16.12.2007). 103 Delacomptée 2012: 23. 104 Die Alters-Problematik ist im Roman Lafayettes selbst von einigem Interesse - Tiefenbrun betont „the importance of age in the societal relationships of the Court“ (1976: 94) - und wird wiederholt auch auf diegetischer Ebene reflektiert. Im Lauf der Romanhandlung heiratet unter anderem die Schwester des Königs, dies - historisch betrachtet - im geradezu biblischen Alter von sechsunddreißig Jahren (vgl. dazu den Kommentar Pingauds in Lafayette 2011: 109). Mit feiner Ironie illustriert Lafayette, selbst zum Zeitpunkt der Publikation des Romans immerhin schon vierundvierzig Jahre alt, im Zusammenhang mit der königlichen Mätresse Diane de Poitiers den ‚Ageismus‘ avant la lettre ihrer jugendlichen Heldin: „Mme de Clèves qui était dans cet âge, où l’on ne croit pas qu’une femme puisse être aimée quand elle a passé vingt-cinq ans, regardait avec un extrême étonnement l’attachement que le Roi avait pour cette Duchesse, qui était grand-mère, et qui venait de marier sa petite-fille“ (2014c: 352). 105 Ibid.: 338. <?page no="503"?> La Princesse de Clèves in Theater, Musik, Malerei und Film 503 der Tatsache, dass ihr blondes Haar eines der sehr wenigen in Lafayettes Text präzisierten Attribute der Protagonistin ist, mag es auf den ersten Blick verwundern, dass es nach Delannoys Marina Vlady in diesem Corpus keine einzige blonde Princesse mehr geben wird. 106 Oliveira, Żuławski und Honoré - abgesehen von Régis Sauders Dokumentarfilm mit seiner multikulturell ‚bunten‘ adoleszenten Population - setzen mit ihren jeweils brünetten bis schwarzhaarigen Hauptdarstellerinnen (Mastroianni, Sophie Marceau, Léa Seydoux) einen Kontrapunkt zu Lafayettes Porträt, 107 aber auch oder vor allem zu Marina Vlady, Ikone im französischen kulturellen Imaginarium - und folgen dabei vermutlich unintendierter-, aber recht pikanterweise wiederum Valincour, der seinen strikten ‚grammairien‘ in einem seiner raffiniert ‚unschuldigen‘ Beispielsätze (betreffend die kontextuelle Korrektheit der Wendung „j’aime mieux“) in der dritten seiner Lettres erklären lässt: „par exemple: j’aime mieux les brunes que les blondes“. 108 Mit ihren sämtlich betont nicht-blonden Heldinnen grenzen sich diese neueren Adaptionen eventuell - die Frage nach der auktorialen Intention muss hier offenbleiben - zugleich von in der okzidentalen Literaturwie Filmhistorie traditionell etablierten Klischees der Rollenverteilung ab, wie sie bereits George Eliot in The Mill on the Floss (1860) ironisch reflektiert. Am Wort ist die - dunkelhaarige - junge Maggie, die ihren vorzeitigen Abbruch der Lektüre von Mme de Staëls Corinne (1807) mit folgendem bemerkenswerten Argument begründet: I didn’t finish the book […]. As soon as I came to the blond-haired young lady reading in the park, I shut it up, and determined to read no further. I foresaw that that light-complexioned girl would win away all the love from Corinne and make her miserable. I’m determined to read no more books 106 „Der Frage, inwieweit die Haarfarbe für Charakterzüge im Film und in der Literatur bedeutsam ist, müßte nachgegangen werden. Besonders wo, wann und warum hier Änderungen in der Vorstellung eintreten“, bemerkt Schmid in Bezug auf die konträre Metamorphose einer anderen Roman- und Filmheldin: Brünett im Text Theodor Fontanes, wird Effi Briest in gleich vier filmischen Adaptionen (Gustaf Gründgens’ Der Schritt vom Wege mit Marianne Hoppe [1939], Rudolf Jugerts Rosen im Herbst mit Ruth Leuwerik [1955], Wolfgang Luderers Effi Briest mit Angelika Domröse [1969], Rainer Werner Fassbinders Fontane Effi Briest mit Hanna Schygulla [1974]) als Blondine - im Fall Leuweriks mit dezentem „rötlichen Schimmer“ - in Szene gesetzt (1989: 123f.). Zur filmischen Adaptionsgeschichte der Effi Briest vgl. auch Villmar-Doebeling 2012. 107 Anekdotisches Detail am Rande: Auch das Cover der Princesse de Clèves-Edition in der Reihe Folio Classique (Lafayette 2011) ziert das Porträt einer prachtvoll adjustierten dunkelhaarigen jungen Frau - ein Ausschnitt aus Parmigianinos Antea (Ritratto di giovane donna) (ca. 1535). Eine melancholische junge Dame mit dunklem Haar imaginiert Marie Laurencin in ihrer Princesse-Variation Deux élégantes (1953). 108 Valincour 2001: 143. Die blonden Haare der Heldin Lafayettes werden als feiner Faden durch die Lettres ausgesponnen. Valincour ironisiert über die physiognomische Improvisationskunst des M. de Clèves in der Juweliers-Szene: „Pour moi, je voudrais de tout mon cœur savoir ce qu’il pouvait dire de l’esprit de Mademoiselle de Chartres: apparemment il en jugeait par les règles de la physionomie; il croyait qu’avec un teint fort blanc et des cheveux blonds l’on ne pouvait manquer d’avoir beaucoup d’esprit. Mais il devait songer que le plus souvent ces sortes de règles sont fausses et trompeuses“ (ibid.: 78). Das Verhalten der Princesse angesichts von Nemours’ Porträtdiebstahl samt folgender verbaler „hardiesse“ kontrastiert der Autor - im Flirt mit seiner textinternen Adressatin - zuungunsten von Lafayettes Protagonistin mit jenem einer gewissen anderen Dame, „qui est plus aimable que Madame de Clèves, quoiqu’elle ne soit ni si blonde, ni si douce“ (ibid.: 88). <?page no="504"?> 504 Aspekte einer intermedialen Rezeptionsgeschichte where the blond-haired women carry away all the happiness. I should begin to have a prejudice against them. If you could give me some story, now, where the dark woman triumphs, it would restore the balance. 109 Die Frage nach der adäquaten Inkarnation der Lafayette’schen Protagonistin in ihrer blonden und hellhäutigen Schönheit - und komplementär dazu der von Eliots Maggie monierte Status der „dark woman“ als ewige Verliererin - bringt über die ästhetisch-poetologische Dimension hinaus auch die hoch politische Thematik des Umgangs mit ethnokultureller Alterität in zeitgenössischen Re-Interpretationen der Princesse - Monumentalwerk eines ‚weißen‘ frankofranzösischen Kanons - ins Spiel. Lafayettes Frankreich ist ein exklusiv von weißen Aristokraten samt irrelevantem ‚Anhang‘ bewohntes Land; wie weiß bzw. bunt gerät „le pays de La Princesse de Clèves“ 110 in den postmodernen filmischen Adaptionen des Romans? Jedes zeitgenössische Princesse-Projekt hat sich nicht nur der generellen Problematik der Literatur- und speziell der Klassikerverfilmung zu stellen, sondern wirft auch eine ganze Reihe heikler Fragen rund um die Überlieferung eines längst nicht mehr selbstverständlich konsensuellen gemeinsamen ‚kulturellen Erbes‘, die (Re-)Definition eines verbindlichen klassischen Kanons auf: „[…] si l’on peut considérer La Princesse de Clèves comme le premier roman de la littérature française, l’on comprend comment l’étude d’un tel texte peut provoquer une mise en images essentielle de la question de la transmission culturelle et d’une présupposée identité française […]“, konstatiert Franck Robert zu Régis Sauders Nous, princesses de Clèves, nicht zuletzt gesellschaftskritische Reflexion in dokumentarfilmischer Form. 111 Unweigerlich partizipieren die in der Folge zu analysierenden Filme an dieser diskursiven Gemengelage um die Princesse, nicht nur hochgradig monumentalisierter, sondern auch in der Konstruktion und Affirmation einer traditionellen ‚französischen Identität‘ immer wieder instrumentalisierter und auch insofern primär ‚nationaler‘ Klassiker 112 - im Unterschied etwa zu Shakespeare, Paradigma eines internationalen Klassikers, dessen Werk auch einige bemerkenswerte interkulturelle Adaptionen inspiriert hat (man denke an Akira Kurosawas Das Schloß im Spinnwebwald bzw. Kumonoso-jo [1957], das den Macbeth-Stoff ins feudale Japan transponiert 113 ). Lafayettes Text war bisher nicht Gegenstand derartiger radikaler Experimente interkultureller Verfremdung; kaum zufällig sind alle fünf Princesse-Regisseure entweder französischer Herkunft oder haben zumindest eine starke persönliche und/ oder berufliche Affinität zur französischen Gesellschaft und Kultur. 114 109 Eliot 1860: 293f. Vgl. dazu den Kommentar Millers, die Eliots Text mit der Princesse de Clèves parallel liest und „Maggie’s literary instincts“ für absolut „correct“ befindet (1992: 33). 110 Nothomb/ V 2012. 111 Robert 2010: 86. 112 Vgl. Schlangers Reflexionen zum Status der „classiques nationaux“ (2008: 102ff.). Zu den ideologischen Implikationen der „Institution ‚Literaturverfilmung‘“ und ihrer „ethnozentrisch[en]“ Tradition gerade in Frankreich - „Ein französischer Filmregisseur hatte in erster Linie Vorlagen aus dem unerschöpflichen ‚patrimoine littéraire français‘ zu verfilmen“ - vgl. Albersmeier 1992 (hier 178), zit. nach Wagner 2009: 37. 113 Vgl. dazu Schmidt 2012: 65ff. 114 Dies gilt auch für die beiden Nicht-Franzosen unter den Regisseuren, für den franko-affinen Portugiesen Manoel de Oliveira - der „vor allem mit dem französischen Filmschaffen in Verbindung“ steht bzw. sich, so Gago, überhaupt „nach und nach zu einem französischen Regisseur entwickelt hat“ (2009: 93) - ebenso wie für Andrzej Żuławski, der als Sohn eines polnischen Diplomaten seine Kindheit in Paris verbracht sowie an der Sorbonne studiert hat und nicht zuletzt lange Zeit (1985-2002) mit Sophie Marceau, Hauptdarstellerin seiner Lafayette-Adaption, liiert war. <?page no="505"?> La Princesse de Clèves in Theater, Musik, Malerei und Film 505 Auch hinsichtlich der unterschiedlichen Rezeptionsdynamik je nach kulturellem Kontext erweist sich die Filmgeschichte der Princesse de Clèves als aufschlussreich. Während die jeweiligen Princesse-Adaptionen in Frankreich vom Publikum (und erst recht der professionellen Kritik) einigermaßen verlässlich als Literaturverfilmung im engeren Sinne des Wortes rezipiert werden 115 - dies auch im Fall der freien neueren Versionen -, ist anderswo das entsprechende allgemeinkulturelle Hintergrundwissen nicht unbedingt präsent und damit auch eine der traditionellen Funktionen filmischer Adaptionen, nämlich die „Popularisierung von Literatur und ihre Verbreitung in ‚literaturfernen‘ Rezipientengruppen“, 116 nicht mehr bzw. nicht in demselben Maße gegeben. In diesem Zusammenhang ist es von besonderem Interesse, einen kurzen Blick auf die Rezeption der fünf Film-Princesses außerhalb Frankreichs zu werfen: Im deutschsprachigen Raum, wo Lafayettes Werk nicht - nicht einmal La Princesse de Clèves, ganz zu schweigen von den weniger bekannten Texten - Teil des Kanons, schulischer und universitärer Pflicht-Curricula ist (und wo bei einer durchschnittlich informierten Zuseherschaft auch der aktuelle politische Kontext fehlt), werden diese Filme ganz anders ‚gelesen‘. In (auch professionellen) Kritiken zu den neueren Adaptionen wird die Lafayette-Referenz oft genug - jedenfalls signifikant häufiger als in französischen Rezensionen - als quantité négligeable behandelt; auch das Moment des kulturellen Prestiges der Princesse, das im französischen Diskurs auf die Auseinandersetzung mit den Filmversionen abfärbt, spielt hier eine sehr viel geringere Rolle. 117 So stellt ein deutscher Kommentator Oliveiras Lettre als „[p]reisgekröntes Melodram um eine Arztfrau, die sich der großen Liebe verweigert“, vor: Mme de Lafayette und La Princesse de Clèves werden nicht einmal erwähnt, der Kritiker beschränkt sich auf die Anmerkung, Oliveira habe „ein Rührstück des 17. Jahrhunderts in die Gegenwart [transportiert]“. Kommt dieser Reviewer immerhin noch zu dem Schluss, es handle sich um ein „[h]errlich stilisiertes Konversationsdrama“, 118 so weiß ein anderer Rezensent mit Oliveiras „konventionell inszenierte[m] Drama“, das mit „seinen papiernen Dialogen angestaubt“ wirke und dessen Figuren sich benähmen, „als seien sie den Salons des 19. Jahrhunderts entsprungen“, wenig anzufangen; er weist zwar kurz auf Oliveiras literarischen Quelltext hin, „La princesse de 115 „Jeder Zuschauer weiß, dass da zuerst ein Buch war, selbst wenn er den zugrunde liegenden Klassiker nicht wirklich kennt“, wie Bohnenkamp (2012: 17) die spezifische Rezeptionsdynamik der Klassikerverfilmung bzw. einer enger definierten Literaturverfilmung zusammenfasst. Basis letzterer können, so ihre Argumentation, in diesem Sinne „nicht beliebige belletristische Werke“ sein, sondern nur mehr oder minder kanonische Texte mit „hohe[m] Bekanntheitsgrad“ (ibid.: 15). Ebendieser „‚Klassiker‘- Status“ stellt jedoch eine kulturell und, wie Bohnenkamp betont, auch „historisch variable Größe“ dar (ibid.: 16). In manchen Fällen verschiebt sich im Lauf der Zeit die Gewichtung zwischen Ausgangstext und Adaption: Filme wie François Truffauts Fahrenheit 451 (1966) oder Stanley Kubricks Clockwork Orange (1971) sind bei einem breiteren Publikum zweifellos längst bekannter als die jeweiligen literarischen ‚Vorlagen‘, d. h. die respektiven Romane von Ray Bradbury (1953) und Anthony Burgess (1962); Bohnenkamp spekuliert darüber, ob dies mittlerweile nicht auch schon („orientiert man sich nicht gerade an einer literarhistorisch sehr gebildeten Rezipientengruppe“) für die mehrfach verfilmten Liaisons dangereuses oder Kubricks Eyes Wide Shut (1999) gegenüber Arthur Schnitzlers Traumnovelle (1925/ 1926) gelte (ibid.: 16f.). 116 Ibid.: 28. 117 Zur Frage nach der interkulturellen Kompetenz des Publikums von Literaturverfilmungen bzw. generell zum in der Intermedialitätsforschung oft vernachlässigten Rezeptionsaspekt vgl. auch Wagner 2009 (hier insbes. 36). 118 URL: http: / / www.cinema.de/ film/ der-brief,1326397.html. <?page no="506"?> 506 Aspekte einer intermedialen Rezeptionsgeschichte Clèves von Madame de Lafayette […], den ersten psychologischen Roman der französischen Litaratur [sic] aus dem Jahre 1672 [sic]“, gelangt aber - in eklatantem Gegensatz zum enthusiastischen Grundton der französischen Rezeption - zur Conclusio: „Selbst Anhänger traditioneller Literaturverfilmungen werden Mühe haben, sich auf 107 Minuten gepflegte Langeweile einzulassen.“ 119 Ein ähnliches Bild bietet sich bei einem Blick auf die deutschsprachige Kritik zu Żuławskis La Fidélité, in der deutschen Synchronversion auf den unverkennbaren Spuren von Filmtiteln à la Der Duft der Frauen zu einem plakativ-boulevardesken Die Treue der Frauen trivialisiert. Wird im Eintrag des Filmlexikons Zweitausendeins nach Kamera, Musik und Schnitt sehr knapp zumindest noch als „Vorlage“ Lafayette genannt, 120 so scheinen die allermeisten (Kurz-)Rezensionen, Lexika-Einträge, Programmankündigungen etc. zu dieser Adaption ohne jeglichen Verweis auf die Princesse auszukommen. 121 Bei Honorés Belle Personne gibt schon der - wie bei Żuławskis Fidélité gegenüber der schillernden Mehrdeutigkeit des französischen Originals simplifizierende - deutsche Titel Das schöne Mädchen eine reduktive Lesart vor; die Kritiken zu Sauders Nous, princesses de Clèves (das Schlüsselwort Clèves wurde auch hier aus der deutschen Fassung Wir alle sind Prinzessinnen eliminiert) fallen literarhistorisch relativ präzise aus. 122 *** Was wird aus der Princesse de Clèves, die in ihrer abstrakten Visualität, mit ihrem zugleich kanonischen und hoch politischen Status, ihrer soziokulturell kontext-sensiblen Rezeptionsdynamik eine besondere Herausforderung für jegliches Projekt einer Verfilmung darstellt, also in den bisher vorliegenden fünf kinematografischen Adaptionen des Romans, zwischen Historisierung und Aktualisierung - Grundfrage jeder Literatur- und vor allem Klassikerverfilmung -, intendiertem Anachronismus und ästhetischer wie ideologischer Modernisierung? Diese und andere Problematiken sollen im Folgenden ausgehend von der spezifischen Poetik der betreffenden Filme selbst (samt parabzw. metafilmischem Begleitdiskurs) erörtert werden, zeichnen sich die postmodernen kinematografischen Versionen der Princesse - ebenso wie die literarischen - doch sämtlich durch ihre prononcierte Meta-Dimension, ihre mediale Autoreflexivität aus. Nicht nur rezipiert jeder einzelne der involvierten Regisseure Lafayettes Roman „à travers le paradigme subjectif d’un imaginaire artistique déjà construit“; 123 verarbeitet wird - unter Auseinandersetzung auch mit der Frage der multiplen Autorschaft des filmischen Produkts 124 - neben dem Prätext eine ganze lange Interpretationssowie die jeweils vorgängige Adaptionsgeschichte. In ganz besonderem Maße gilt für dieses hetero- 119 URL: http: / / www.kino.de/ kinofilm/ der-brief/ 52794 (‚mk‘). 120 URL: http: / / www.zweitausendeins.de/ filmlexikon/ ? sucheNach=titel&wert=526492. 121 Zelluloid listet ungerührt unter „Crew“ nach Regie und „Drehbuch: Andrzej Zulawski“ auch noch „Buch: Madame de La Fayette“ auf (URL: http: / / www.zelluloid.de/ filme/ details.php3? id=12547). 122 Eine Präsentation unter dem Motto „Sind die Klassiker ‚von gestern‘? “ geht auch auf den politischen Kontext des Films ein („Die Doku von Régis Sauder beweist, wie falsch Sarkozy liegt: […]“); gegenüber den „altertümlichen Sätzen“ und hier „virtuos mit Klartext aus dem Sozialbau und der Schule“ vermischten „barocke[n] Zitate[n]“ aus dem Text Lafayettes wird dennoch skeptische Distanz gewahrt (URL: http: / / www.cinema.de/ film/ wir-alle-sind-prinzessinnen,5084529.html). 123 Langlade 2013: 20. 124 Vgl. Hutcheon 2006: 80ff. <?page no="507"?> La Princesse de Clèves in Theater, Musik, Malerei und Film 507 gene Filmcorpus, dass es „den Vorgang der Übertragung gerade mit in den Blick rückt, die Mediendifferenz zum Thema macht und den Medienwechsel ausstellt bzw. reflektiert“ 125 - und über die Relation Literatur-Film auch andere Medien und Kunstformen berücksichtigt: 126 Spielen in Manoel de Oliveiras „théâtre filmé“ 127 auch Musik und bildnerische Kunst eine zentrale, bei weitem nicht nur ornamentale Rolle, so inszeniert Andrzej Żuławskis Fidélité eine Reihe intermedialer mises en abyme zwischen Literatur, Film und vor allem auch Fotografie; Christophe Honorés Belle Personne wiederum prägt neben einer ebenfalls stark pikturalen Ästhetik u. a. der auch für andere Filme des Regisseurs charakteristische Einsatz von Musik und diegetisch integrierten ‚Gesangseinlagen‘. Das Corpus der Kino-Princesses lädt mit seinem breiten Spektrum zwischen historischem Kostümfilm und freier Adaption bzw. „proposition de lecture“ (so Honorés Definition von La Belle Personne 128 ) schließlich auch zu kritischer Hinterfragung des Konzepts ‚Werktreue‘ zwischen esprit und lettre, „Wort und Geist“ ein: 129 Wie zu zeigen sein wird, entfernt sich eine auf den ersten Blick überaus ‚treue‘, ja nach dem Urteil mancher Kommentatoren sogar zu treue 130 historisierende Verfilmung wie die Erstadaption Delannoys in mancher Hinsicht weiter von narrativer Dynamik und kontextuellem Innovationspotential des Ausgangsromans als eine radikal postmodernisierende freie Adaption wie Żuławskis Fidélité, deren Titel auch auf poetologischer Meta-Ebene zu lesen ist. 131 Aus pragmatischen wie methodischen Gründen werden sich die folgenden Filmanalysen auf die bisher vorliegenden deklarierten und expliziten Princesse-Adaptionen beschränken; Spuren der mehr oder minder evidenten, mehr oder minder intersubjektiv nachvollziehbaren Inspiration durch die Princesse macht etwa Isabelle Rambaud freilich auch in einer ganzen Reihe anderer zeitgenössischer Filme aus, die - „moins directement certes“, wie die Interpretin selbst vorsichtig anmerkt - auf den Lafayette’schen Prätext bzw. jedenfalls dessen Ausgangssituation und Grunddilemma zurückverweisen, „développant des ‚avatars contemporains‘ imprégnés d’une forme d’esprit ‚janséniste‘, voire puritain“. 132 125 Bohnenkamp 2012: 39. 126 Die „réflexion approfondie sur l’intermédialité au cinéma“ machen Böhm/ Grewe/ Zimmermann (2009: 18), die Alain Corneaus Tous les matins du monde (1991) als paradigmatisches Beispiel zitieren, als prinzipielles Merkmal zeitgenössischer kinematografischer Auseinandersetzung mit dem Grand Siècle aus. 127 Zit. bei Brink 2009: 120. 128 Honoré 2008a. 129 „Eine gute Adaption [muß] das Original in seiner Substanz nach Wort und Geist wiederherstellen können. Wir wissen aber, daß eine gute Übersetzung eine sehr vertraute Kenntnis der Sprache und des ihr eigenen Geistes erfordert“ (André Bazin: „Für ein ‚unreines Kino‘. Plädoyer für die Adaption“ [Pour un cinéma impur. Défense de l’adaptation, 1952], zit. nach Bohnenkamp 2012: 25f.). 130 Vgl. Lecompte 2009c: 312f. („Une adaptation trop fidèle? La Princesse de Clèves, de Jean Delannoy (1961)“). 131 Sehr fraglich erscheint insofern Dubois’ Feststellung, „la nouvelle originelle“ spiele hier „un rôle secondaire dans la constitution du film“ und bilde ebenso wie in Oliveiras Lettre nicht mehr „l’architecture du récit cinématographique“, sondern besitze lediglich einen mit anderen Objekten geteilten „statut de référence culturelle“ (2013a); beide Filme arbeiten sich vielmehr präzise bis ins narrative Detail am Text Lafayettes ab - und bleiben diesem in mancher Hinsicht auf anspruchsvollere Weise ‚treu‘, als dies in Delannoys prachtvoller „mise en images du récit littéraire“ (ibid.) der Fall ist. 132 Rambaud 2006: 20. Auch hier sieht sich die Film-‚Leserin‘ mit einer bereits in Bezug auf literarische Princesse-Hypertexte diskutierten Problematik konfrontiert: Wenn Rambaud in diesem Zusammenhang etwa Clint Eastwoods The Bridges of Madison County (1995) oder Robert Redfords The Horse Whisperer (1998, nach dem gleichnamigen Bestseller von Nicholas Evans) zitiert - finde sich doch auch in diesem <?page no="508"?> 508 Aspekte einer intermedialen Rezeptionsgeschichte Zunächst soll nun Jean Delannoys La Princesse de Clèves kurz vorgestellt und insbesondere hinsichtlich der delikaten Frage der ‚Werktreue‘ und unter dem Gender-Aspekt reflektiert werden. Auch wenn in dieser Studie der primäre Fokus auf den zeitgenössischen Re- Interpretationen der Princesse zur Jahrtausendwende und im frühen 21. Jahrhundert liegt, so ist es doch sinnvoll, ja der besseren Kontextualisierung halber unumgänglich, vorweg einen Blick auch auf diese Erstadaption zu werfen: Spätere Princesse-Regisseure setzen sich unweigerlich nicht nur mit dem Text Lafayettes sowie dessen kritischer Rezeptionshistorie und diversen literarischen réécritures auseinander, sondern auch mit der eigenen filmischen Vorgeschichte, d. h. vor allem mit der Verfilmung Delannoys als - fast vier Jahrzehnte lang exklusivem - kinematografischem ‚Prätext‘. Eben der Vergleich mit bzw. Kontrast zu dieser ersten Film-Princesse macht die Spezifik der folgenden postmodernen Adaptionen deutlich; umgekehrt erscheint auch die Fassung Delannoys (ebenso wie der Quelltext selbst) vor dem Hintergrund späterer Versionen in neuem Licht. 133 Film „[l]a découverte de l’amour réciproque, l’attirance mutuelle, le goût pour ‚le repos‘ […]. Comme dans La Princesse de Clèves, on retrouve la scène du bal, la scène de ‚l’aveu‘ […] et enfin la scène de la ‚retraite‘ […]“ (ibid.: 20f.) -, gerät ein extrem weit gefasstes Konzept filmischer ‚Hypertextualität‘ bzw. eher schon sehr vager Einflüsse und Parallelen, die sich vor allem dem Interpretationsfilter der Rezipientin zu verdanken scheinen, rasch an die Grenzen seiner Sinnhaftigkeit und Operabilität, mag sich auch im Einzelnen ein reizvolles assoziatives Spiel der Kreuz- und Quer-Lektüren eröffnen. 133 Zur Filmgeschichte der Princesse de Clèves vgl. auch Stemberger 2017b und 2018 (auf den hier folgenden Studien beruhende Analyse insbesondere von Honorés La Belle Personne und Sauders Nous, princesses de Clèves mit Fokus auf einen funktionalen, rezeptions-orientierten Klassiker-Begriff). <?page no="509"?> Die Princesse als Kinostar: Ästhetik und Ideologie des historischen Kostümfilms Jean Delannoys La Princesse de Clèves Vivre un conte de fées n’étonne pas. 1 Il est vrai que le conte de fées tourne court. 2 Die Karriere der Princesse de Clèves als Filmstar beginnt nach einigen früheren, nicht realisierten Projekten 3 mit Jean Delannoys gleichnamiger Adaption aus dem Jahr 1960, die 1961 in die Kinos kommt und mit dem Grand prix du cinéma français prämiert wird - einem Film von komplexer Historizität, der heute vor allem auch aus gender-kritischer Perspektive von Interesse ist. Cocteau & Co.: Die Kreation eines kinematografischen Archetyps Bei dieser ersten filmischen Princesse de Clèves handelt es sich zugleich um eines der letzten cineastischen Projekte Jean Cocteaus, Ko-Autor des sich durch seine klassische „solennité langagière“ 4 auszeichnenden Szenarios. Der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten zweiundsiebzigjährige Cocteau, „grand lecteur de M me de La Fayette“, 5 in dessen langer künstlerischer Laufbahn die Princesse eine tiefe Spur hinterlässt, 6 darf als Schlüsselfigur der produktiven Lafayette-Rezeption im 20. Jahrhundert gelten: Fast vierzig Jahre, nachdem er als Mentor des jungen Raymond Radiguet die Redaktion des Bal du comte d’Orgel begleitet und den Text nach dem frühen Tod des Autors zusammen mit Joseph Kessel zur posthumen Publikation aufbereitet, verfasst Cocteau die Dialoge für Delannoys Adaption, 7 in der sein langjähriger Lebensgefährte Jean Marais eine der beiden männlichen Hauptrollen spielt - allerdings nicht den zunächst für ihn vorgesehenen Part des Duc de Nemours. Aus pragmatischen Gründen - die Finanzierung gestaltet sich schwierig, der Regisseur ist in diesem Punkt nicht kompromisswillig (die Princesse „ne pouvait être traité autrement qu’avec de grands moyens […]. Décors, costumes devaient être aux dimensions du sujet“, wie Delannoy erklärt 8 ) - wird die Idee einer 1 Radiguet 1986: 65. 2 Campbell 2007: 69. 3 Eine schon Anfang der fünfziger Jahre von Marcel L’Herbier konzipierte Adaption des Romans für das französische Fernsehen wurde ebenso wenig realisiert wie eine geplante Princesse-Verfilmung durch Robert Bresson (vgl. Rambaud 2006: 19). 4 Chapiro 2009: 53. 5 Garapon 1988: 78. 6 „[…] La Princesse de Clèves m’habite et […] j’en voudrais parler beaucoup à ceux qui la connaissent et à ceux qui ne la connaissent pas“, erklärt Cocteau in seinem Vorwort zur Princesse de Clèves aus dem Jahr 1956 (zit. nach Laugaa 1971: 233-235, hier 233f.). 7 Zu Cocteaus Rolle in diesem Projekt siehe vor allem Steerthem 2008; zu Cocteaus réécriture-Strategien im Detail vgl. Denis 1998. 8 „Il y a seize ans, la princesse devait être Danielle Darrieux et le duc de Nemours, Jean Marais“, erläutert Delannoy im Interview mit Martine Monod (1960b, zit. nach Laugaa 1971: 346). Danielle Darrieux - <?page no="510"?> 510 Jean Delannoys La Princesse de Clèves gemeinsamen Lafayette-Verfilmung, nach Delannoy schon im Rahmen der Arbeit an L’Éternel Retour (gleichfalls in Kooperation mit Cocteau kreierte modernisierende Transposition des Tristan und Isolde-Mythos aus dem Jahr 1943) entstanden, erst knapp zwei Jahrzehnte später realisiert. Mittlerweile ist Jean Marais, jugendlich strahlender Held in L’Éternel Retour, freilich siebenundvierzig Jahre alt und der Rolle des Nemours ‚entwachsen‘ („Ce déplacement, de l’amant à l’époux, du malheureux Jean Marais, traduit donc un vieillissement du projet“, merkt Maurice Laugaa ironisch an 9 ); stattdessen wird er als gestrenger vierzigjähriger Prince de Clèves gecastet, während Jean-François Poron einen jünglingshaften Nemours übernimmt. Wie erwähnt illustriert bereits dieses Detail eindrücklich, wie sehr Adaption - auch im Fall einer zumindest auf den ersten Blick so ‚treuen‘ wie jener Delannoys - immer schon Interpretation ist: Im Gegensatz zu Lafayettes Text reinszeniert diese Version ein weiteres Mal das literarisch wie filmisch tausendfach variierte „trio stéréotypé de comédie et de mélodrame bourgeois“, 10 das eine schöne junge Frau zwischen älterem bis altem Ehemann und attraktivem jugendlichem Geliebten platziert. An der Seite von Jean Marais und Jean-François Poron spielt Marina Vlady, als Catherine Marina de Poliakoff-Baïdaroff im Milieu der weißen russischen Emigration in einer Künstlerfamilie geboren, später mit dem sowjetischen Dichter, Barden und Akteur Vladimir Vysockij verheiratet, 11 die Princesse de Clèves. Als quasi archetypische Inkarnation der Lafayette’schen Heldin besitzt diese erste Film-Princesse - zweifellos favorisiert durch die Tatsache, dass Delannoys Version fast vier Jahrzehnte lang ihr Monopol behält - im französischen kulturellen Imaginarium längst ikonischen Status; 12 mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit ziert das Porträt Vladys im Princesse-Kostüm auch das Cover eines historischen Werkes zum Thema La Princesse de Clèves et son château. 13 Nicht umsonst wurde im Rahmen der ‚Affäre‘ Sarkozy auch die Funktion Vladys als kulturelle Ikone, als trotz ihrer russischen Herkunft zur Zeit der Dreharbeiten zu Delannoys Film bereits über vierzig Jahre alt - kommt zwar nicht mehr als Princesse de Clèves zum kinematografischen Einsatz; einige Jahre zuvor spielt sie jedoch die Hauptrolle in Max Ophuls’ Madame de (1953). 9 Laugaa 1971: 346. 10 Langlade 2013: 22. 11 Nicht zuletzt aufgrund dieser Verbindung erfreut sich Marina Vlady bis heute in Russland beträchtlicher Bekanntheit; ihre Erinnerungen an Vysockij dokumentiert Vlady in dem Band Vladimir ou le Vol arrêté (1987), in der russischen Version (Vladimir, ili Prervannyj polet, 1989) noch zu Spät-Sowjetzeiten und auch auf Deutsch unter dem Titel Eine Liebe zwischen zwei Welten. Mein Leben mit Wladimir Wyssozki (1991) publiziert. 12 Es darf als Ironie der Filmgeschichte gelten, dass Vlady als spätere ikonische Princesse ihren Memoiren zufolge durch reinen Zufall gecastet wurde, dies mitten aus ihrer (Prostituierten-)Rolle in Luciano Emmers La Ragazza in vetrina/ La Fille dans la vitrine (1961) heraus (vgl. Vlady 2005: 85f.) - und, wie die deklarierte Feministin („Je suis féministe bien entendu […]“; Vlady 2013) amüsiert kommentiert, gegen den Willen Cocteaus: „Jean Cocteau, m’ayant aperçue dans ma vitrine (il avait bien vite détourné le regard), s’était vivement élevé contre mon engagement pour le rôle de la princesse. Trop femme! trop grosse! trop… trop! Et, ultime argument pour justifier son refus, son rejet: elle a des enfants, pouah! et, par-dessus le marché, elle est slave! Delannoy avait tenu bon. Il lui avait fallu bien de la ténacité, car, tout au long du tournage, Cocteau affichait une inimitié qui frisait le dégoût! J’ai dû attendre la première projection privée pour que le poète daigne admettre que j’étais l’actrice idéale pour incarner celle dont Mme de La Fayette avait écrit: ‚Il parut alors une beauté à la cour, qui attira les yeux de tout le monde. La blancheur de son teint et ses cheveux blonds lui donnaient un éclat que l’on n’a jamais vu qu’à elle.‘“ (ibid.: 91). 13 Vgl. Rambaud 2006. <?page no="511"?> Ästhetik und Ideologie des historischen Kostümfilms 511 paradigmatische Verkörperung der francité explizit erörtert. 14 Vlady selbst kommentiert nicht nur - aus der Perspektive filmgeschichtlicher komparatistischer ‚Imagologie‘ - die respektiven Rollenbilder, die ihre Rezeption in verschiedenen europäischen Ländern geprägt hätten („Suivant les pays […] le public garde de moi un souvenir différent. En France, on me parle souvent de la Princesse de Clèves. En Italie, c’est L’Ape Regina […] de Marco Ferreri. En Allemagne, c’est la Sorcière […]“ 15 ); spöttisch honoriert sie auch Sarkozys perfekte „publicité […] pour ce merveilleux livre“. 16 Wohl nicht zufällig setzen wie erwähnt die Regisseure aller späteren Adaptionen (Manoel de Oliveira und Andrzej Żuławski ebenso wie Christophe Honoré) mit der Wahl sämtlich dunkelhaariger Hauptdarstellerinnen (Chiara Mastroianni, Sophie Marceau, Léa Seydoux) einen frappierenden Kontrapunkt nicht nur zu Lafayettes Text, sondern auch oder vor allem zu Marina Vlady, unübertrefflicher Archetyp im Genre der strahlenden ‚blonden Hexe‘ - oder auch Princesse. 17 Delannoy konzipiert seine Adaption als aufwendigen Kostümfilm - eine zum damaligen Zeitpunkt in ästhetischer wie ideologischer Hinsicht einigermaßen anachronistisch anmutende (und auch im Kontext des kinematografischen Œuvres sowohl Delannoys als auch Cocteaus durchaus nicht selbstverständliche 18 ) Entscheidung: So urteilt Roger Vailland, Ko- Drehbuchautor für Roger Vadims Les Liaisons dangereuses 1960 (1959), streng über das historische Kostümdrama, das Genre jener, „qui n’ont rien à dire sur leur temps ou qui n’osent pas le dire“. 19 Im Kontrast zu besagten Liaisons dangereuses, von Regisseur Vadim nicht zuletzt als „political statement“ betrachtet, 20 illustriert La Princesse de Clèves in ihrer überaus kon- 14 „Vous semblez ignorer que Marina Vlady, toute slave qu’elle fusse est devenue l’incarnation de la France & que le film de Jean Delannoy est une porte d’entrée à la France, pays de casuistes où le déconstructivime a atteint son apogée“, belehrt User ‚Anonyme‘ (15.06.2012) einen Ko-Diskutanten im rege frequentierten Forum einer France Culture-Sendung zum Thema „La Princesse de Clèves, héroïne des bobos? “ (Couturier 2012). 15 Gomez 2011. Diese Beobachtung Vladys korrespondiert mit ihrer Präsentation in diversen deutschen Online-Filmlexika: So stellt die Seite http: / / www.digitalvd.de/ biografien/ Marina-Vlady.html [14.07.2014] die Schauspielerin gleich eingangs als „Die blonde schöne Hexe: Eine Ikone des französischen Kinos mit Herz, Hirn und Hingabe“ vor; ihre Rolle in André Michels Die blonde Hexe (frz. La Sorcière, 1956) wird als ihr „bislang größte[r] und auch bekannteste[r] Erfolg“ besonders hervorgehoben, ihre Performance als Princesse de Clèves dagegen nur beiläufig unter ihren Auftritten „in eher konventionellen Filmen“ registriert. 16 Vlady 2013. 17 „Entre le gris clair d’aujourd’hui et le blond d’hier, il n’y a pas une grande différence“, attestiert Gomez (2011) in seinem Porträt der zu diesem Zeitpunkt fast dreiundsiebzigjährigen Vlady, deren Markenzeichen auch den altersbedingten Farbwechsel unproblematisch überstanden zu haben scheint. 18 Weder Delannoy noch Cocteau sehen sich abseits des Princesse-Projekts unbedingt dem Genre Kostümfilm verpflichtet: Dies illustriert bereits ihre gemeinsame moderne Transposition des Tristan und Isolde- Stoffes im fast zwei Jahrzehnte vor der Princesse de Clèves gedrehten Film L’Éternel Retour (1943). 19 Vailland 1960: 12f., zit. nach Hagen 2012: 75. 20 Ibid.: 75. „[…] to a Frenchman, everything in life is a political statement“, so ironisch Vadim (Mancini 1988: 23, zit. nach Hagen 2012: 75f.). Zwei Jahrhunderte nach der Publikation des Romans werden Les Liaisons dangereuses in der Filmversion des Jahres 1960 unter der Präsidentschaft Charles de Gaulles erneut zensuriert, wobei die Produzenten diese Reaktion freilich schon - quasi als Teil ihrer künstlerischen Performance - einkalkulieren: „[…] well that’s a political act“ (vgl. ibid.). Hagen betont, dass die Adaption Vadims in der Tat mehr „Sprengkraft“ besitze als die späteren Kostümfilm-Versionen der 1980er Jahre; andererseits ist diese aktualisierende Variante auch stärker „an einen bestimmten <?page no="512"?> 512 Jean Delannoys La Princesse de Clèves ventionellen, wenngleich zweifellos prachtvollen Ästhetik jenen „style élaboré et académique“, 21 den Delannoy bis zum Ende seiner Karriere in den 1990er Jahren kultiviert 22 und der ihn zu einem der Lieblingsfeinde der jungen Nouvelle Vague-Kritiker und -Regisseure auf ihrem Feldzug gegen das französische ‚cinéma de qualité‘ macht. 23 In dieser ersten filmischen Princesse, von einer „critique ennuyée“ mit überschaubarem Enthusiasmus rezipierte 24 Hommage an ein Monument der französischen Literaturgeschichte, finden thematisch naheliegende „entreprise de célébration“ 25 und ‚typischer‘ Stil des Regisseurs Zeitgeist gebunden“, womit eine gewisse Reduktion der Bedeutungsvielfalt des Romans einhergeht (ibid.: 80). Sorgt nicht zuletzt die politische Dimension anfänglich für einen „Skandalerfolg“, wird das Werk später denn auch vor allem als „Unterhaltungsfilm“ rezipiert (ibid.). 21 Brink 2009: 116. 22 Mit Marie de Nazareth (1995) produziert Delannoy als Regisseur und Drehbuchautor seinen letzten Film. 23 Jean-Luc Godard verspottet Delannoy als kinematografischen ‚Versicherungsvertreter‘: „Going into Billancourt studios briefcase in hand, you would have sworn he was going into an insurance office“ (zit. nach Bergan 2008). Mit Robert Bresson verbindet Delannoy spätestens seit dem Konflikt um die Filmrechte an Georges Bernanos’ Journal d’un curé de campagne eine erbitterte Feindschaft (im Fall der Princesse setzt sich der damalige Verlierer Delannoy gegen Bresson durch). François Truffaut, damals sehr junger Filmkritiker bei den Cahiers du Cinéma, erklärt spöttisch, „[t]he worst of Jean Renoir’s movies“ sei immer noch „more interesting than the best of Delannoy’s“ (zit. nach Gates 2008), und attackiert Delannoy namentlich in seinem Essay „Une certaine tendance du cinéma français“ (1954), Plädoyer für ein neues Autorenkino und Abrechnung mit dem traditionellen cinéma de qualité der Nachkriegszeit. Truffaut ironisiert über Delannoys Selbstverständnis als „moraliste mystique“ („Mais la menue bassesse du Garçon Sauvage, la mesquinerie de La Minute de vérité, l’insignifiance de La Route Napoléon montrent assez bien l’intermittence de cette vocation“) und kritisiert ihn neben Yves Allégret, Claude Autant-Lara & Co. als Repräsentanten einer Kino-Kultur der reinen „films de scénaristes“, eklektische „entreprises strictement commerciales“, deren (Miss-)Erfolg exklusiv vom jeweiligen Drehbuch abhänge (2008: 212ff.). Auf die konstruierte Frage eines allzu großzügigen Cinephilen („Mais […] pourquoi ne pourrait-on porter la même admiration à tous les cinéastes qui s’efforcent d’œuvrer au sein de cette Tradition de la Qualité que vous gaussez avec tant de légèreté? Pourquoi ne pas admirer autant Yves Allégret que Becker, Jean Delannoy que Bresson, Claude Autant-Lara que Renoir? “) antwortet er mit einem letzten wohlkalkulierten Seitenhieb: „Eh bien je ne puis croire à la coexistence pacifique de la Tradition de la Qualité et d’un cinéma d’auteurs. Au fond, Yves Allégret, Delannoy ne sont que les caricatures de Clouzot, de Bresson“ (ibid.: 226). Der Einfluss des negativen Delannoy-Bildes der Nouvelle Vague ist im filmkritischen Diskurs bis heute unverkennbar; so ist in der Bio- und Filmografie Delannoys in der International Movie Database von seinen „overheated melodramas and overblown epics“ die Rede, von seiner „particularly undistinguished version of The Hunchback of Notre Dame“ und allgemein stark pejorativ von jenem „drivel“, als der ein Teil seiner sonstigen Filme in den Augen der rezensierenden Instanz erscheint (URL: http: / / www.imdb.com/ name/ nm0216381/ bio? ref_=nm_ov_bio_sm). Bei aller Konventionalität des Delannoy’schen Œuvres gilt es dessen ästhetische und ‚handwerkliche‘ Qualitäten freilich nicht zu unterschätzen: „Jean Delannoy. Craft-conscious French film director unfairly dismissed by new wave pioneers“, betitelt in diesem Sinne Bergan (2008) seinen Nachruf auf den im stolzen Alter von hundert Jahren verstorbenen Delannoy. 24 Laugaa 1971: 236. Hauptdarstellerin Vlady (2005: 90f.) rechnet nachträglich leidenschaftlich mit der ‚snobistischen‘ Pariser Kritik ab, die Delannoys prachtvolle Umsetzung der Lafayette’schen „histoire de cet amour éternel“ nicht zu würdigen wusste: „Ce film pour lequel nous obtînmes le plus grand succès public du début des années 60 […] fut littéralement assassiné par la grande majorité de la critique parisienne. En province et à l’étranger, nous ne recevions que des éloges. Dans la capitale du ‚bon goût‘, une cabale de snobs s’attaqua à Jean Delannoy d’une manière inique, comme si le talent se devait d’être toujours inversement proportionnel à la satisfaction des spectateurs. Qu’importe: le film a résisté à l’épreuve du temps et ceux qui l’ont dénigré ne sont déjà plus de ce monde… Bien après nous, il restera comme l’une des adaptations les plus achevées du premier roman psychologique à la française.“ 25 Dubois 2013a. <?page no="513"?> Ästhetik und Ideologie des historischen Kostümfilms 513 in ästhetisierender Komplizenschaft zusammen. Bringt Jean Cocteau das Moment einer „fantaisie poétique dont l’exubérance ne rompt pas pour autant avec la tradition“ 26 ein, so setzt Delannoy auch in den Bereichen Bildgestaltung (Henri Alekan), Musik (Georges Auric) und Schauspieler (Jean Marais) auf prestigeträchtige etablierte ‚Marken‘ bzw. „autorités“ der französischen Kulturszene: 27 Seine Adaption stellt in jeder Beziehung „un produit de l’inscription du texte La Princesse de Clèves dans le patrimoine culturel commun“ dar. 28 Marionettentheater und Märchenwelt: Zur Konstruktion einer Phantasievergangenheit In seinem Begleitdiskurs zur Princesse artikuliert Delannoy zwar eine gewisse historische Ambition: In seiner Filmversion von Lafayettes Text - nicht nur „le premier roman psychologique de la littérature française“, sondern auch „un reportage sur la vie à la Cour en 1559“ - sei es darum gegangen, neben der zentralen „histoire d’amour“ die Dimension des „document“ adäquat umzusetzen. In manchen Punkten offeriert er durchaus treffende Detail-Kommentare, so zur Rolle der hocharistokratischen Protagonisten als De-facto- „domestiques“, „[d]es domestiques de Roi, mais des domestiques tout de même“ 29 (schon seine Eröffnungsszene illustriert die Rigidität eines höfischen Dispositivs, dessen Akteure trotz bzw. gerade aufgrund ihres sehr hohen sozialen Status alles andere als ‚frei‘ sind). Seine Einführung der - bei Lafayette inexistenten - Figur eines Hofnarren (dargestellt vom berühmten kleinwüchsigen Schauspieler Piéral) motiviert Delannoy auch unter Verweis darauf, dass eben Henri II die Institution der bouffons am französischen Königshof begründet habe. 30 Vor allem freilich erfüllt diese - als Stilbruch gegenüber dem Text Lafayettes heftig kritisierte 31 - Gestalt eine narrative wie ideologische Schlüsselfunktion: Es ist der Hofnarr, der eine Reihe von Szenen verknüpft, im Roman verschiedenen Figuren zugeordnete Aufgaben bündelt (er nimmt den verlorenen galanten Brief an sich, gibt ihn weiter, holt den mittlerweile mehr oder minder überzeugend reproduzierten Brief im Auftrag der Königin im Haus der Clèves ab; er folgt Nemours anstelle des von M. de Clèves beauftragten ‚gentilhomme‘ nach Coulommiers, während jener aus Anlass der Krönungsfeierlichkeiten in Reims weilt). Es ist der bouffon, der im Rahmen seiner sprichwörtlichen Narrenfreiheit immer wieder unbequeme - und gelegentlich falsche - ‚Wahrheiten‘ ans Tageslicht bringt (mit seiner ebenso suggestiven wie schadenfrohen Mitteilung über die vermeintliche Untreue der Protagonistin provoziert er Zusammenbruch und Tod des Prince), derart die Narration vorantreibt und in dieser filmischen Adaption eines jansenistisch inspirierten Werkes als parodistische Inkarnation des ‚Schicksals‘, Repräsentant der „méchanceté du destin“ 32 fungiert. „[…] il est à la fois la 26 Coste/ Castells-Faucher 2000: 321. 27 Chapiro 2009: 53. 28 Dubois 2013a. „La référence à Mme de Lafayette devient désormais le signe vide d’une perfection, une unité de mesure désaffectée […]“, konstatiert bereits Laugaa (1971: 236) in Bezug auf die Adaption Delannoys. 29 Delannoy 1960a. 30 Ibid. 31 So beanstandet Chapiro an Delannoys Princesse diverse „inventions hors sujet“ - und insbesondere „le nain, emprunté à un autre genre, ici totalement déplacé“ (2009: 53). 32 Delannoy 1960b: 8, zit. nach Denis 1998: 291. Vgl. ibid. zur Rezeption dieser spezifischen „création“ Delannoys in der zeitgenössischen Filmkritik. <?page no="514"?> 514 Jean Delannoys La Princesse de Clèves personnification du Destin et à lui tout seul, une sorte de caricature de la Cour. Les bouffons, moyennant le divertissement qu’ils fournissaient au roi, étaient autorisés à s’exprimer en toute liberté et à critiquer ouvertement les faits et gestes de la Cour… Ainsi, par le bouffon, apprendrons-nous ce que Madame de la Fayette n’avait pu écrire“, erklärt Delannoy. 33 Patricia Oster überzieht vielleicht etwas mit ihrer Feststellung, trotz Delannoys Akzentuierung des „décalage entre le XVII e siècle et le présent“ werde „le côté historique“ doch „complètement éliminé“; 34 wenn auch nicht völlig eliminiert, wird die vom Regisseur selbst explizit betonte historische Dimension seines Films allerdings in Relation zu Lafayettes Text tatsächlich stark zurückgenommen 35 und vor allem sehr selektiv fokussiert. Hier geht es mehr um die detailverliebte Rekonstruktion ‚authentischer‘ Dekors (gedreht wurde unter anderem im Renaissance-Schloss von Chambord, für Delannoy „une des plus belles ‚découvertes‘ du film“ 36 ) sowie prunkvoller Kostüme (‚Princesse‘ Marina Vlady erinnert sich an die vestimentäre Tortur um der Ästhetik willen, die schon physisch beträchtliche Herausforderung, in um die dreißig Kilogramm schweren Prachtkleidern zu spielen 37 ) - und kaum um größere Zusammenhänge; insgesamt erscheint diese Princesse von einem prononciert personalisierten Geschichtsverständnis geprägt. In ihrem historischen „exotisme“ 38 - Effekt bereits des intermedialen Transfers 39 - evoziert Delannoys „pellicule de faux classicisme“, 40 die Anfang der 1960er Jahre ein im Text einer Autorin des Grand Siècle imaginiertes 16. Jahrhundert durch eine romantisierende Vision im Stil des 19. Jahrhunderts filtert, 41 eine anachronistische Phantasie- 33 Delannoy 1960a. 34 Oster 2009: 131. 35 Einige unmittelbar plot-relevante historische Schlüsselereignisse werden zwar beibehalten (Tod des Königs Henri II, Inthronisation seines Nachfolgers François II), andere im Roman ebenfalls einigermaßen ausführlich thematisierte Geschehnisse dagegen völlig gestrichen (die Hochzeit der Schwester des Königs ebenso wie die Eheschließung zwischen Élisabeth de Valois und Philipp von Spanien). 36 Delannoy 1960a. 37 Die Dreharbeiten zur Princesse de Clèves erscheinen in Marina Vladys Erinnerungen (2005: 87f.) als „plusieurs mois d’intense travail et de plaisir quotidien, ponctués d’évanouissements liés aux extrêmes contraintes des costumes d’époque: corsets plats écrasant la poitrine, enserrant la taille et les hanches à étouffer, fraises montées sur baleines étranglant le cou et à la longue creusant des plaies autour de la gorge, poids des robes chargées de bijoux atteignant dans les trente kilos, mais aussi jouissance de la danse […], euphorie du texte mâché pendant des heures pour en faire ressentir la pureté classique et ressortir les beautés profondes“. 38 „Madame de La Fayette au cinéma“ (Ciné-Club de Caen, o. D.). 39 Die facettenreiche Frage nach der ‚Werktreue‘ gilt es auch unter medientechnischem Aspekt zu reflektieren: Dubois betont, dass gerade der Kostümfilm bei aller intendierten Treue unweigerlich einen paradoxen Untreue-Effekt provoziert - was eben Delannoys Princesse exemplarisch illustriert. Während der streng genommen im Moment seiner Publikation bereits ‚historische‘ Text Lafayettes von einem zeitgenössischen „public galant“ offenkundig nicht als solcher rezipiert wird (die Korrespondenz des Mercure galant zeige, so Dubois, „qu’il n’y a pas de distance idéologique entre les lecteurs et le texte lu“), so etabliert das Genre des Kostümfilms aus der Sicht der Filmzuschauer des 20. Jahrhunderts - für die auch der Prätext längst Teil der (Literatur-)Geschichte ist - per se eine beträchtliche Distanz: „[…] si pour le lecteur contemporain de La Princesse de Clèves (la nouvelle), le texte faisait contemporain, pour le spectateur de La Princesse de Clèves (le film), le film fait historique. […] Le transfert d’un médium à l’autre conduit à inscrire dans le corps même de l’histoire un caractère révolu qui n’était d’abord qu’une conséquence accessoire du passage du temps“ (2013a). 40 Chapiro 2009: 53. 41 Vgl. zur komplexen Historizität postmoderner filmischer „représentations du siècle classique ‚filtré‘ par le XIX e siècle, siècle par excellence de l’historicisme“ auch Böhm/ Grewe/ Zimmermann 2009 (hier zit. 13). <?page no="515"?> Ästhetik und Ideologie des historischen Kostümfilms 515 vergangenheit, die die multiple Historizität des Prätexts in einer Atmosphäre märchenhafter Quasi-Zeitlosigkeit suspendiert. 42 Als Einstimmung auf das hier vermittelte Geschichtsbild und besagte Märchenbzw. Traum-Ästhetik fungiert der Vorspann des Films: Luxuriös präparierten Wachspuppen gleich ziehen die Protagonisten ersten und zweiten Ranges zu den Klängen der Musik von Georges Auric in groteskem Karussell an der Zuschauerin vorüber. In der ersten diegetischen Filmszene rekurriert Delannoy auf eine klassische Totale; 43 imposante Flügeltüren öffnen sich auf das Panorama jenes höfischen Balls, auf dem - unter Elimination der kompletten Vorgeschichte - die schicksalhafte Begegnung der Princesse und des Duc de Nemours (hier mit Vornamen ‚Georges‘ 44 ) stattfindet. Eindrücklich demonstriert dieser Einstieg das ideologische Potential der filmischen Perspektive: Während der Hofstaat in ehrfürchtigem Schweigen erstarrt, betritt Henri II den Raum; einige Sekunden lang ist abgesehen von feinem Kleidergeraschel lediglich das hallende Geräusch der königlichen Stiefel zu hören, wobei auch die Kamera Schritt für Schritt Bewegung und durch diese leicht erschütterten Blick des Herrschers auf die sukzessive zum Gruß sich verbeugende bzw. hof-knicksende Versammlung seiner Untertanen nachvollzieht. 45 In wenigen Momenten skizziert die Gestik des royalen Zeremonienmeisters (dargestellt von Raymond Gérôme) die zentralen Macht- und Konfliktlinien in dieser höfischen Gesellschaft. Henri geleitet Königin Catherine - nach wie vor stumm - zum Thron, nimmt kurz Platz, gibt das Signal zum Beginn der Ballmusik, lädt mit galanter Geste, sie gegenüber den anderen Anwesenden auszeichnend, seine Mätresse Diane de Poitiers ein, sich erneut zu setzen - und fordert seinerseits, „puisque ce bal est celui de vos noces“, 46 Mme de Clèves auf, den Tanz mit ihm zu eröffnen. Die folgenden Tanzszenen, alternierend mit Halbnah-Aufnahmen einzelner Figurengruppen (M. de Clèves im Gespräch mit Diane de Poitiers, Königin, Dauphin und Dauphine samt Hofnarr etc.), illustrieren mit ihrer exakt abgezirkelten Geometrie marionettenhafter Bewegungen die bei aller Pracht extrem restriktive konkrete wie metaphorische „chorégraphie“ dieses höfischen Mikrokosmos, in dessen streng reglementierten „discours de l’espace“ kein Platz für individuelle Freiheit ist. 47 Die gesamte Ballszenerie - gegenüber der Schilderung 42 Von der intendierten Märchen-Ästhetik zeugen diverse Drehbuch-Instruktionen, à la „Nemours avance sous bois, dans le style du Prince Charmant et de la Belle au Bois dormant“ (zit. nach Denis 1998: 291). Verschiedentlich wurde diese märchenhaft-magische Dimension auch schon in Bezug auf Lafayettes Text hervorgehoben; so beschreibt Albanese die „fairy-tale atmosphere“, in der sich die erste Begegnung der Princesse mit Nemours abspielt: „Magic seems to prevail in this scene, a spectacle in the highest degree […]“ (1992: 88). Für Werlen entwirft bereits der erste Absatz des Romans „un décor aussi féerique qu’irréel“; im Folgenden entführe Lafayette die Leserin in „[u]n monde doré autant qu’une légende“, die Protagonistin gleiche ihrerseits einer „princesse de conte de fées“ etc. (2012: 89ff.). Diese Charakteristik trifft allerdings weit mehr auf Delannoys Film denn auf Lafayettes Roman zu, in dem besagte ‚Märchenhaftigkeit‘ durch einen kritisch-luziden Blick hinter die Kulissen der höfischen Welt bzw. einen dezenten ironischen Unterton gebrochen erscheint und auch der konkreten Historie deutlich größeres Gewicht eingeräumt wird. 43 Vgl. Brink (2009: 116) zu Delannoys Verwendung dieses klassischen establishing shot, „typique du cinéma américain à succès“. 44 Vgl. schon das Gespräch zwischen König Henri und Nemours in Sachen englische Heiratspläne (La Princesse de Clèves: 14: 07-14: 31). 45 Vgl. ibid.: 03: 40-04: 18. 46 Ibid.: 05: 15-05: 21. 47 Dufour-Maître/ Milhit 2004: 41f. <?page no="516"?> 516 Jean Delannoys La Princesse de Clèves Lafayettes herrscht hier eine noch striktere Etikette: selbst Nemours, der im Roman mit „un assez grand bruit“ eintrifft und sich seinen Weg „par-dessus quelque siège“ auf die Tanzfläche bahnt, 48 tritt dezent, wenngleich verspätet auf - führt der Zuschauerin eine perfekt funktionierende Maschinerie mit präziser Rollenverteilung und streng ritualisierten Abläufen vor Augen. Plastisch wird die Sozio- und Psycho-Dynamik dieses exklusiven Dispositivs in Gestik und Blick übersetzt: „La sémiotisation du moi à travers les gestes, et surtout à travers les regards, prend […] toute son envergure grâce au médium du film, qui répond au texte par la création d’un système de signes secondaires visibles.“ 49 Dabei entfaltet sich ein kontinuierliches Neben- und Gegeneinander von Körpersprache und verbalem Ausdruck. Den reibungslosen Ablauf des Zeremoniells begleitet der betont beiläufige Austausch von allerlei Giftigkeiten, oft indirekt und umso raffinierter adressiert. Von der Eröffnungsszene an mokiert Catherine de Médicis sich - fortan Leitmotiv des Films - unter eifriger Assistenz des Hofnarren über Diane de Poitiers’ Alter; statt Mme de Clèves in privatem Ambiente gegenüber ihrer Mutter kommentiert hier die Dauphine öffentlich - und in Hörweite der Betreffenden - Dianes amouröse Vergangenheit und Gegenwart: „Comment le roi a-t-il pu s’attacher à une personne qui était la maîtresse de son père, et qui l’est encore de beaucoup d’autres, à ce que j’ai entendu dire? “ 50 Anstelle der bei Delannoy ersatzlos gestrichenen Mme de Chartres formuliert Königin Catherine das unerbittliche Gesetz, dem diese Welt der apparences gehorcht. Diskret ruft sie die neben ihr sitzende Dauphine, die sich in ungeduldiger Erwartung Nemours’ auf ihrem Thron an der Seite des physisch wie psychisch gehandicapten Dauphins windet, zur Ordnung und ermahnt sie, die Contenance und ihre ‚Maske‘ zu wahren: „Tous les bals sont des bals masqués, ma petite.“ 51 Wie verkleidete Luxus-Marionetten bewegen sich diese tanzenden Figuren, mit durch Apparat-Kleidung wie Etikette restringierten Gesten, durch den Saal; die Körper der Akteure verschwinden hinter bzw. in ihren Prunkgewändern, die, wie Oster treffend bemerkt, an noble „camisoles de force“ 52 erinnern und, so bereits Jean Cocteau, eine physische wie moralische „armure“ repräsentieren 53 - prachtvolle ‚Prothesen‘, die ihrerseits mehr die jeweilige Person zu tragen scheinen als umgekehrt. Besonders frappierend manifestiert sich die Diskrepanz zwischen edel kostümiertem Prestige- und Prothesenkörper und dem schwächlichen, kränklichen Menschen dahinter an der Figur des retardierten Dauphins und kurzzeitigen Königs François II, der immer wieder quasi von seinem Thron zu kippen, in seinem Paradegewand zu ersticken droht. 54 Die prinzipielle Doppelbödigkeit dieser von intrigues und 48 Lafayette 2014c: 350f. 49 Oster 2009: 131. 50 La Princesse de Clèves: 07: 01-07: 09. Vgl. die korrespondierende Passage bei Lafayette: „Est-il possible, madame, […] qu’il y ait si longtemps que le Roi en soit amoureux? Comment s’est-il pu attacher à une personne qui était beaucoup plus âgée que lui, qui avait été maîtresse de son père, et qui l’est encore de beaucoup d’autres, à ce que j’ai ouï dire? “ (2014c: 352f.). 51 La Princesse de Clèves: 08: 05-08: 13. 52 Oster 2009: 131. 53 „Notre espoir est que la noblesse d’âme et la tenue morale des personnages, correspondant à l’espèce d’armure somptueuse de leurs costumes, transporteront le public à travers les âges […]“, erklärt Cocteau (2003: 262) zu Delannoys Film. 54 Doch auch an der Princesse selbst wird das Spiel mit der höfischen Persona deutlich, so in der Szene, da die Protagonistin für ein neues Porträt posiert: Zu Repräsentationszwecken erscheint Delannoys Heldin hier mit allerlei opulentem Schmuck angetan, den sie zu Ende der Séance mit einer Geste der <?page no="517"?> Ästhetik und Ideologie des historischen Kostümfilms 517 galanteries geprägten, bei aller Privilegiertheit extrem entfremdeten höfischen Welt wird derart schon in dieser Eingangsszene deutlich; dies freilich nicht im Sinne etwaiger Gesellschaftskritik (dergleichen ist diesem Film, der in seiner luxuriösen Märchen-Ästhetik den zutiefst ideologischen Charakter auch des vermeintlich unpolitischen Kunstwerks illustriert, dezidiert fremd), sondern vielmehr aus einer Perspektive der Komplizität, wie Oster betont: „Le film ne suggère pas une rupture avec l’aliénation imposée par ce système: il y consent plutôt par une esthétisation somptueuse.“ 55 „… une très belle histoire d’amour“: Filmische (Un-)Treue, Kunst und Moral Vor diesem höfischen Panorama richtet sich der Fokus alsbald auf die Protagonisten der amourösen Intrige. Hat M. de Clèves im Gespräch mit Diane de Poitiers gerade noch seine vagen Sorgen in Bezug auf seine Eheschließung mit einer für „trop belle et trop jeune“ 56 befundenen Frau zum Ausdruck gebracht, so fordert König Henri die frischgebackene Mme de Clèves nun textgetreu zum Tanz mit dem ihr noch nicht offiziell vorgestellten Nemours auf; 57 diese Tanzszene - mit ihrem ohne Worte überaus ‚sprechenden‘ Dialog der Körper und Gesichter, der zwischen Hingabe und Verweigerung oszillierenden Gestik der Heldin - antizipiert en miniature eine ganze Passionsgeschichte. 58 Letztere wird im Wesentlichen der prätextuellen Spur Lafayettes nach erzählt. Delannoy nimmt zwar - zweifellos auch eine Frage filmischer Ökonomie - eine gewisse strukturelle Straffung vor und eliminiert vor allem einen Großteil der bereits von Valincour beanstandeten Digressionen; 59 hinsichtlich des zentralen Plots folgt diese Princesse jedoch zumindest oberflächlich ziemlich exakt dem Handlungsverlauf des Romans. So weit, so treu: Das interpretatorische Klischee von der großen, womöglich zu großen ‚Treue‘ dieser ersten Adaption sollte nicht dazu verführen, Delannoys teilweise höchst signifikante Modifikationen zu vernachlässigen. Zu Recht verortet Florence Chapiro hinter dem „faux classicisme“ dieser Princesse auch „une réelle infidélité“; 60 nirgendwo zeigt sich diese Gleichgültigkeit, ja des Überdrusses sogleich wieder ablegt (La Princesse de Clèves: 15: 40-15: 50). In radikalem Kontrast zur prunkvollen Apparat-Adjustierung in dieser Szene steht das (relativ) einfache grau-weiße Kleid mit seiner transparenten Symbolik der ‚Unschuld‘ und ‚Aufrichtigkeit‘, das sie beim aveu trägt (ibid.: 44: 43-49: 57), ebenso wie das weiße Nachthemd samt Gold-Applikationen, in dem sie als schlafende Schönheit in der nächtlichen Pavillon-Szene mit aufgelöstem Haar - bewährter erotischer Topos - figuriert (ibid.: 01: 09: 50-01: 11: 42). 55 Oster 2009: 131. „Ce n’est donc pas ici que nous constaterons l’émergence d’un contre-discours sur l’histoire; tout au contraire, le film en costumes conforte l’hégémonie culturelle du discours principal […]“, konstatiert auch Dubois bezüglich des Genres allgemein (2013a). 56 La Princesse de Clèves: 06: 29-06: 30. 57 Ibid.: 09: 54-10: 02. 58 Vgl. auch die Anmerkungen Vladys (2005: 90) zu ebendieser „[s]cène capitale“ des Films, die dessen von Henri Alekan orchestrierte „débauche de lumière et d’effets spéciaux d’époque“ illustriere. 59 Die Episode rund um den Vidame de Chartres und den verlorenen galanten Brief wird auch hier ausführlich entfaltet; gestrichen werden dagegen die eingeschobenen Narrationen über die Lebensgeschichten Diane de Poitiers’ und Anne Boleyns wie auch die Affäre Tournon-Sancerre-Estouteville. 60 Unter den „inventions hors sujet“ bei Delannoy/ Cocteau kritisiert Chapiro neben der Figur des Hofnarren auch „la morte amoureuse de la fin tirée d’un tout autre imaginaire“ - ebendiese finale Szene <?page no="518"?> 518 Jean Delannoys La Princesse de Clèves deutlicher als in der Konstruktion der weiblichen Hauptfigur, hier „une princesse sans héroïsme, plus romantique que classique“. 61 Speziell eine reflektiert anachronistische ‚Lektüre‘ dieses Films aus gender-theoretischer Perspektive lässt auch die klassische Frage nach der filmischen (Un-)Treue dem literarischen Prätext gegenüber in einem nuancierteren Licht erscheinen. Gegenüber Lafayettes Princesse, die nicht umsonst im 20. und 21. Jahrhundert auch eine Reihe feministischer und schließlich queer-fokussierter Studien inspiriert hat, zeichnet sich Delannoys Version durch eine spätestens auf den zweiten Blick offensichtliche Tendenz zur Gender-Normalisierung, zur Re- Affirmation einer patriarchalischen Geschlechterordnung aus. Diese Intention bestätigt der parafilmische Diskurs des Regisseurs selbst; im Interview mit den Lettres françaises skizziert Delannoy bereits einige Monate vor der Kino-Première das ‚pädagogische‘ Programm hinter seinem Princesse-Projekt und interpretiert seinen Film im Sinne der défense et illustration eines konservativen Idealbilds auf das Podest des „respect“ 62 verbannter Weiblichkeit: J’ai donc voulu raconter une très belle histoire d’amour […] où les femmes ne sont pas bafouées, où l’amour n’est pas une simple excitation superficielle, où la fidélité n’est pas ridicule, où le respect ne fait pas sourire… Je crois que c’est le moment de rendre aux jeunes La Princesse de Clèves! Parce que la jeunesse que je vois est très intéressante. Elle contient en puissance, beaucoup plus de ‚Princesses de Clèves‘ que de souris couchaillant n’importe où, avec n’importe qui, pour n’importe quoi! 63 Die Ambivalenz dieses Diskurses und seiner Adressierung an eine Jugend, die hier auf Kosten jener verächtlichen „souris couchaillant n’importe où“ normativ in ihrer potentiellen ‚Tugendhaftigkeit‘ rehabilitiert wird bzw. die es „par une image idéale de morale et de pureté dans un présent moralement corrompu“ 64 zu verführen gilt, ist offensichtlich: Dieser Film - auch Jean Cocteau zufolge nicht zuletzt ein Versuch, Lafayettes „orgie de pureté“ einer modernen „jeunesse très libre“ näherzubringen, 65 erscheint im Kontext der frühen sechziger Jahre sei „typique du cinéma de Cocteau où l’esthétique l’emporte sur la signification“ (2009: 53). Doch nicht nur durch dergleichen Additionen, sondern auch durch diverse Reduktionen („par exemple, l’éviction du personnage essentiel de la mère“) entferne sich der Film „terriblement“ vom Text Lafayettes. Die massiv wertende Komponente dieses Kommentars muss man sich nicht zu eigen machen; zuzustimmen ist Chapiro aber hinsichtlich des historischen wie ästhetischen Anachronismus dieser Princesse: „Le film semble vouloir nous projeter au cœur du siècle classique mais en réalité il est irrigué par un romantisme dégénéré, de pacotille […]“ (ibid.). Bereits im Erscheinungsjahr des Films problematisiert Fraisse (1961) Delannoys und Cocteaus „apparente fidélité aux incidents comme au dialogue du roman“. Vor allem dem Schluss dieser Princesse attestiert sie „une sentimentalité romanesque qui rappelle la scène finale de L’Éternel Retour, et dont l’esthétique baroque est absolument étrangère aux intentions de Mme de Lafayette“: „Cette trahison est la plus voyante. Elle permet de conclure sur une vision haute en couleurs, dont le goût discutable est certainement plus payant auprès du public moyen que la grisaille du dénouement original“ (zit. nach Laugaa 1971: 347). 61 Chapiro 2009: 53. 62 Vgl. Kofman 1982. 63 Delannoy 1960b: 1, zit. nach Denis 1998: 286. Exakt ein halbes Jahrhundert nach Delannoys Film wird Marie Darrieussecq in ihrer Lafayette-réécriture eine derartige „souris couchaillant n’importe où“ als neue ‚Princesse‘ parodistisch in Szene setzen. 64 Oster 2009: 131. 65 Cocteau 2003: 261. Mit hoch ambivalenter Geste entrückt Cocteau die Princesse, mythopoetisch überhöhter „conte de fées, divin, humain, inhumain“ (1925: 2, zit. nach Bernard/ Gauteur 2003: 9), jeglichem konkreten historischen und sozialen Kontext; mit dieser Interpretation korrespondiert seine filmische „plongée dans le mythe“ (Denis 1998: 287). Das Schlüsselwort der pureté geistert bereits durch <?page no="519"?> Ästhetik und Ideologie des historischen Kostümfilms 519 auch als Verteidigung der „valeurs traditionnelles“ 66 gerade in puncto Gender, als Gegenprogramm zur einsetzenden Emanzipation und Liberalisierung weiblicher Sexualmoral. 67 Konsequent reduziert Delannoys Film denn auch im Prätext durchaus vorhandene Aspekte weiblicher Macht, Freiheit, Souveränität. Zur Gänze eliminiert wird Mme de Chartres, im Film kein einziges Mal erwähnte Schlüsselfigur des Romans 68 (und des feministischen resp. gender-kritischen Diskurses über das Werk Lafayettes); im Rahmen seiner Princesse- Interpretation hat Delannoy offensichtlich keine Verwendung für diese Ko-Protagonistin, paradigmatische Repräsentantin weiblicher Komplizenschaft in einem männlich dominierten System, Vermittlungsinstanz patriarchalischer Wertvorstellungen und Normen, aber auch Inkarnation weiblicher moralischer und intellektueller Autorität. Unterbrochen wird damit auch eine weibliche Generationenkette bzw. Traditionslinie: Während bei Lafayette die sorgfältige - wenngleich aus feministischer Perspektive kontrovers diskutierte - Erziehung der Heldin unter mütterlicher Ägide beträchtlichen Raum einnimmt, Mlle de Chartres von ihrer Mutter in das Hofleben eingeführt, über allerlei Hintergründe informiert und auch nach ihrer Heirat noch beratend begleitet wird, agiert Delannoys Princesse, dieses freilich ambivalenten mütterlichen Rückhalts sowie - abgesehen von einem hier vom Onkel zum Cousin uminterpretierten (und derart seinerseits quasi des-autorisierten) Vidame de Chartres - jedes familiären Umfelds beraubt, von Anfang an allein in einer Männerwelt, „pion impuissant sur un échiquier à ordonnance masculine“. 69 Das Verschwinden der Mme de Chartres fügt sich stringent in die generelle Tendenz des Films zur Rücknahme weiblicher Autorität, zur Affirmation einer traditionell-patriarchalischen Ordnung der Geschlechter 70 - und damit Entschärfung bzw. Verharmlosung des literarischen Ausgangstextes: Diese manifestiert sich nicht nur auf der Ebene der Reorganisation der Figurenkonstellation und der Re-Interpretation einzelner Protagonisten, sondern vor allem auch in Radiguets réécriture der Princesse, in Cocteaus Paratext explizit als „roman de la pureté“ charakterisiert (zit. nach Pingaud 1986b: 216). Freilich bleibt Cocteaus Perspektive auf Lafayettes Roman - bei dessen Protagonisten er in seinem Vorwort aus dem Jahr 1956 eine „débauche amoureuse […] effrayante“ ausmacht (zit. nach Laugaa 1971: 235) - vielschichtiger als das von Delannoy im zitierten Interview formulierte Remoralisierungs-Programm gegen den zeitgenössischen (weiblichen) ‚Sittenverfall‘. 66 Brink 2009: 125. 67 Auch in diesem Zusammenhang ist die Gegenüberstellung mit Roger Vadims quasi zeitgleich zu Delannoys Princesse entstandenen Liaisons dangereuses 1960 von Interesse: Diese modernisierende Adaption, die Laclos’ Intrige ins „Pariser Diplomatenmilieu zur Zeit der Vor-Achtundsechziger- ‚Revolution‘“ verlegt (Hagen 2012: 78), problematisiert unter gesellschaftskritischer Aktualisierung des Ausgangstextes Liebesbegriff wie Geschlechterordnung im zeithistorischen Kontext (ibid.: 79). 68 Vgl. Forestier 1980. 69 Denis 1998: 288. Auch die Vaterlosigkeit der Protagonistin ist hier kein Thema mehr; die in der Lafayette- Sekundärliteratur diskutierte, bei Delannoy und später auch bei Oliveira völlig ausgeblendete Frage nach dem Vater der Heldin wird in Andrzej Żuławskis La Fidélité erstmals filmisch reflektiert. 70 Geradezu lustvoll wird die Demontage weiblicher Macht - nicht zuletzt im Rahmen erbitterter weiblicher Rivalitäten - in Szene gesetzt, so in dem Moment, da Diane de Poitiers nach dem Tod Henris von (Ex-)Königin Catherine öffentlich erniedrigt und von ihrem Gefolge verlassen wird: „C’est la fin“ (La Princesse de Clèves: 01: 04: 12-01: 05: 22). Plastisch evoziert Marina Vlady (2005: 90) die Konfrontation dieser beiden Frauenfiguren, „Lea Padovani, grande gueule, regard assassin, présence folle, en Catherine de Médicis, reine bafouée qui retrouve toute sa farouche énergie dès l’accident mortel du roi en cours de tournoi“ und „Mme Annie Ducaux qui, d’un seul geste las, exprime l’effondrement de sa puissance de favorite à la mort du roi Henri II“. <?page no="520"?> 520 Jean Delannoys La Princesse de Clèves narrativer Struktur und visueller Ökonomie des Films. Gewiss reflektiert auch der Text Lafayettes zunächst in erster Linie die Rolle der Heldin als Schau-, Tausch- und soziales Prestigeobjekt im Rahmen diverser prä-maritaler Transaktionen: „[…] the heroine’s first role in the novel is that of an object - observed, coveted, and scrutinized by others. […] These characters look at the heroine and discuss her as if she were a finely chiseled statue, a precious vase, or some other prize luxury object“, kommentiert Julia Douthwaite das höfische Debüt der Mlle de Chartres. 71 Auch der Verliebtheit Nemours’ wohnt ein Moment voyeuristischer Aggression inne: Nachdem er sich bereits - höchst symbolischer und bei Delannoy von der Porträtin die réécriture-Szene verschobener Diebstahl 72 - jenes Bildnis der Princesse unter deren unfreiwillig komplizenhaftem Blick angeeignet hat (Béatrice Didier betont die nicht nur phonetische Affinität zwischen diesem vol und dem Akt des viol, den jener transparent metaphorisiert 73 ), verfolgt Nemours die Heldin bis nach Coulommiers, dessen Reiz vor allem in der temporären Abschwächung der omnipräsenten visuellen und sozialen Kontrolle bei Hof besteht; in jener nächtlichen „famous scene of voyeurism“, die besonders dicht „the intensity and complexity of the gaze“ im Text illustriert, 74 überrascht er, „tout au long du roman […] en posture de spectateur indiscret“, 75 Mme de Clèves schließlich in ihrem intimen Rückzugsraum. Doch während Lafayettes Protagonistin ab dem Zeitpunkt ihrer Begegnung mit Nemours zumindest teilweise - im Lauf des Romans immer deutlicher - auch „an active, observant, and self-conscious role“ 76 übernimmt, „gradually more conscious and more active“ erscheint, 77 wird Delannoys Princesse - weit stärker bzw. exklusiver, als dies im Prätext der Fall ist - durchgehend als dekoratives passives Objekt intrawie extradiegetischer schwelgerischer Schaulust, ja einer regelrechten „invasion oculaire“ 78 inszeniert, dies mit sich gegenläufig zur Dynamik des Lafayette’schen Textes steigernder Intensität bis hin zu ihrer finalen, nicht mehr nur metaphorischen Mortifikation. Bleibt bei Lafayette die Ambivalenz der weiblichen Position zwischen „l’humiliante dépendance que lui impose le désir masculin, et la supériorité de la réflexion“ gewahrt, 79 setzt Delannoy paradigmatisch nicht nur die bei Mulvey beschriebene traditionell patriarchalisch-heterosexuelle visuelle „Arbeitsteilung“, die Spaltung der 71 Douthwaite 1998: 114. 72 Vgl. La Princesse de Clèves: 35: 02-35: 06. 73 Vgl. Didier 1981: 90. „Il y a du viol dans ce vol“, befindet auch Ferreyrolles (1979: 67, zit. nach Sellier 2005: 240). Francillon charakterisiert seinerseits die Pavillon-Szene von Coulommiers (und eine in mancher Hinsicht parallele Passage aus der Astrée) als „viols symboliques“ (1973: 235); ebenso Léopold 2009: 107, 132f., 188. 74 Douthwaite 1998: 117. 75 Rousset 1976: 26. 76 Douthwaite 1998: 115. Zur Inszenierung des weiblichen Blicks, ja ‚Voyeurismus‘ bei Lafayette vgl. DeJean 1987 und 1988. 77 Kuizenga 1992: 75. 78 Léopold (2009: 136) zum Text Lafayettes. 79 Niderst 1973: 118. „[…] la femme, plus fréquemment immobile, a une conscience réfléchie, qui s’incarne dans son visage et dans son regard“, betont Niderst zur Princesse, während die männlichen Figuren, „des ombres, instables et souvent gracieuses“, lediglich mit einer vagen „silhouette“ ausgestattet werden (ibid.: 117f.). <?page no="521"?> Ästhetik und Ideologie des historischen Kostümfilms 521 „Lust am Schauen in aktiv/ männlich und passiv/ weiblich“ um, 80 sondern auch die diskursive Rollendistribution zwischen männlichem Subjekt und weiblichem Objekt: So erhält die Filmzuseherin via erzählerisches Voice-over direkten Zugang zum Gefühlsleben Nemours’, 81 nicht jedoch zu jenem der Princesse 82 (und auch nicht des Prince). Allein mit dieser prinzipiellen Entscheidung werden bestimmte Empathie/ Sympathie-Strukturen vorgegeben; auch Delannoy reproduziert und favorisiert derart jene einleitend konstatierte Tendenz so mancher (primär männlicher) Princesse-Interpreten zur Identifikation mit Nemours. Zur Exploration der Innenwelt Nemours’ lädt Delannoys Film bezeichnenderweise unmittelbar im Anschluss an zwei Szenen, in denen die Präsentation der Protagonistin als eines „isoliert[en], glamourös[en]“ und - hier freilich dezent - erotisierten „Schaustück[s]“ 83 einen Höhepunkt erreicht, beide Male im Setting des Pavillons von Coulommiers. Zunächst unterbricht Delannoy die komplexe visuelle Ökonomie - narrative „Galerie des glaces“ 84 bzw. „chaîne voyeuristique extraordinaire“ 85 - der nächtlichen Pavillon-Szene: Seine Princesse erscheint nicht wie bei Lafayette als ihrerseits waches, wenngleich in verliebte Betrachtung jenes Gemäldes des „Siège de Metz“ versunkenes Subjekt; 86 sie wird vielmehr zur schlafenden Schönheit umgedeutet, dem Blick des Besuchers (und des Zusehers) passiv dargebotenes Objekt mit geschlossenen, nur einen flüchtigen Moment lang im Traum geöffneten Augen. 87 Nicht nur weibliche visuelle Macht und weibliches Begehren, sondern auch die erotischen Implikationen der Lafayette’schen Szene werden bei Delannoy ästhetisch entschärft, die einigermaßen suggestive ‚canne des Indes‘ mit ihrer seit Michel Butor heiß umstrittenen ‚phallischen‘ Konnotation 88 durch einen vergleichsweise harmlosen, zu diesem Zeitpunkt längst als textiles Leitmotiv des Films etablierten Schal aus dunkelrotem Samt ersetzt. Be- 80 Mulvey 2009: 397f. Den Konnex zu Mulveys Essay stellt in diesem Kontext bereits Brink her (2009: 119). Zur Blick-Ökonomie der Princesse bzw. zu dem im Roman reflektierten „régime normatif du regard dans le patriarcat“, aber auch zur Repräsentation, „médiatrice du regard“, des männlichen Protagonisten vgl. Léopold 2009 (hier zit. 11): insbes. 25ff., 123ff., 238ff. 81 So nach der aveu-Szene (La Princesse de Clèves: 49: 58-50: 12) und anlässlich des nächtlichen Besuches Nemours’ in Coulommiers (ibid.: 01: 12: 10-01: 12: 32). 82 In Bezug auf die Heldin wird das Verfahren punktuell in völlig anderer narrativer Funktion eingesetzt: post mortem rezitiert, während ein hoffnungsfroher Nemours sich dem Pavillon nähert, die Stimme der Princesse einige Zeilen aus jenem doppeldeutigen Brief, mit dem sie ihn zum makabren Rendezvous gebeten hat - im Fokus steht auch hier das Erleben des Protagonisten (vgl. ibid.: 01: 45: 48-01: 46: 10). 83 Mulvey 2009: 400. 84 Malandain 1989: 69. 85 McGuire 1993: 383. 86 Lafayette 2014c: 451f. 87 „Cependant, écrite dans un langage de rêve, rêvée par Mme de La Fayette, la princesse de Clèves ne rêve jamais“, erklärt Herrmann (1976: 77) zu Lafayettes Text; vgl. dazu auch Miller 1992: 24. Bei Delannoy wird in besagter Szene - Amalgam von Märchen, Psychoanalyse und Surrealismus - über Bewegungen und Mimik der Schlafenden eine ganze enigmatische Traumwelt suggeriert. „Que deviennent Mme de Clèves et le duc dans leurs sommeils? Sade et Freud s’ébauchent dans ces âmes qui se croyaient simples“, schreibt Cocteau in seinem Vorwort zur Princesse (zit. nach Laugaa 1971: 234f.). Die hier skizzierte psychoanalytisch inspirierte Interpretation ändert allerdings nichts daran, dass in Delannoys Film exklusiv die weibliche Hauptfigur als ästhetisiertes und erotisiertes schlafendes Objekt inszeniert wird; das Innere der Träumerin bleibt unzugänglich, während unmittelbar darauf in einer kurzen Voice-over-Erzählpassage empathisch Nemours’ Gefühle evoziert werden. Zur Relation von Film und Traum allgemein vgl. etwa Baudry 1975 sowie Metz 1975; beide zit. bei Albersmeier 2009a: 20, 28. 88 Vgl. Butor 1960: 76f. <?page no="522"?> 522 Jean Delannoys La Princesse de Clèves sagten Schal lässt Nemours als - aus Courtoisie gegen das königliche Team verlierender - Teilnehmer des bemerkenswert anachronistisch im Stil eines Tennismatches der fünfziger bis frühen sechziger Jahre inszenierten Jeu de paume-Spiels an der Bande hängen; in aller Unschuld nimmt Mme de Clèves beim vorzeitigen Aufbruch in Gesellschaft der Dauphine das noch mit dem Schweiß des Geliebten imprägnierte Kleidungsstück an sich und lässt an seiner Stelle ihren eigenen himmelblauen Schal zurück, den Nemours - Re-Interpretation des raffinierten farbigen Liebesbekenntnisses ex negativo bei Lafayette - beim royalen Turnier zu Ehren der Angebeteten tragen wird (wobei sowohl der Vidame de Chartres „les couleurs de ma cousine“ als auch der eifersüchtige Clèves die „écharpe“ Nemours’ in den Händen seiner Gattin identifiziert). 89 Und weiter wandert der rote Schal durch den Film: Als die Princesse und Nemours sich an die réécriture des fatalen Briefes machen - hier von der „lettre de rupture amère“ zum Anlass für eine „scène d’aveux passionnés“ umfunktioniert 90 -, liegt das edle Textil neben dem zu (re-)produzierenden Text auf dem Tisch. 91 Von der nächtlichen Szene von Coulommiers führt eine samtene rote Spur 92 über die retraite der Heldin schließlich auch zum Finale des Films: In der allerletzten Einstellung der Princesse prangt erneut der Schal des Geliebten, den die Protagonistin noch auf ihrem pompösen Totenbett - wiederum im Pavillon von Coulommiers - in Händen hält. 93 Schöne (weibliche) Leiche und patriarchalisches Kino: Die Zähmung der widerspenstigen Princesse? Eben mit dieser Schluss-Szene, „épilogue nécrophilique des plus étonnants“, 94 weicht Delannoys Adaption besonders eklatant vom literarischen Prätext ab. Bei Lafayette wird die Heldin - „une femme à la recherche de son propre texte, du récit de sa vie“ und damit einer „autonomie spatiale où le corps ne se trouve pas dans une position d’objet du regard masculin“ 95 - nach ihrem Rückzug ‚unsichtbar‘. Nur mehr aus großer Distanz wird ihre Lebensgeschichte zu Ende erzählt; fern vom Hof verbringt sie, nunmehr im Sinne von Domna Stantons Definition des gelungenen repos „physically independent, emotionally and morally self-sufficient“, 96 den Rest ihrer „vie […] assez courte“ („which for an eighteen-year-old could easily have meant 89 La Princesse de Clèves: 19: 15-19: 17, 21: 00-21: 03, 25: 39-26: 00, 27: 04-27: 20, 58: 41-59: 07. 90 Denis 1998: 294. 91 Vgl. La Princesse de Clèves: 33: 29-38: 47. 92 Vgl. ibid.: 01: 09: 50-01: 11: 29. Signifikante Detail-Verschiebung gegenüber dem Prätext: Bei Lafayette schmückt Mme de Clèves jene „canne“ mit bunten Bändern und spinnt damit ihrerseits das beim königlichen Turnier initiierte bunte Liebesspiel fort; der passionierte Voyeur verrät sich in dem Moment, da seine „écharpe“ sich im Fenster verheddert - woraufhin die Princesse die Flucht ergreift (2014c: 452). Bei Delannoy weckt Nemours - der durch eine hohe Glastür den Raum direkt betritt - die Protagonistin, die sich im Schlaf lächelnd an seinen Schal schmiegt, mit einem unvorsichtigen Schritt (La Princesse de Clèves: 01: 10: 58-01: 11: 00). 93 Vgl. ibid.: 01: 39: 53-01: 41: 41 und 01: 46: 25-01: 47: 35. 94 Langlade 2013: 26. 95 McGuire 1993: 383. 96 Stanton 1975: 101, zit. nach Brink 2015: 112. <?page no="523"?> Ästhetik und Ideologie des historischen Kostümfilms 523 living another twenty years“, wie Joan DeJean pointiert anmerkt 97 ), deren konkrete Dauer nicht präzisiert wird, die aber jedenfalls zumindest einige Jahre umfasst. 98 Delannoys Princesse dagegen entkommt bis zuletzt weder aus dem räumlichen Setting ihres von zwei Männern determinierten bzw. dominierten Liebes- und Ehedramas noch aus dem Blickfeld der anderen Figuren (wie der Zuschauer); sie stirbt, wie suggeriert, relativ kurz nach ihrem Abschied vom Hof, nicht im fernen Südwestfrankreich, sondern in Coulommiers, Schauplatz der zentralen Peripetien ihrer Passion. Die Biografie der Heldin Lafayettes wird bei Delannoy insofern gleich mehrfach zurechtgestutzt: Die Vorgeschichte der noch unverheirateten Mlle de Chartres wird (samt Mutter) zur Gänze gestrichen; in der ersten Szene tritt die Protagonistin bereits als frisch vermählte Mme de Clèves in Erscheinung. Ebenso wird am anderen Ende ihrer Ehe die Lebensphase ihrer Witwenschaft - die ihr, im historischen Kontext betrachtet, im Vergleich zu den konventionellen Optionen (Wieder-)Verheiratung oder Kloster deutlich größere sozioökonomische Freiheit bietet 99 - zeitlich wie räumlich maximal beschnitten. 100 Dem entspricht die ideelle Re-Interpretation der Motive für ihren Liebesverzicht: Aus der Argumentation der Princesse mit jenen „raisons […] fortes du côté de son devoir, et insurmontables du côté de son repos“ 101 werden im Film symptomatisch re-akzentuierte „raisons […] fortes du côté de son devoir, et insurmontables du côté de son amour“; 102 Frieden bzw. Seelenruhe findet diese Heldin denn auch nur im Tod. Der Schluss Delannoys - hyper-ästhetisierte Exhibition einer wunderschönen, prachtvoll gekleideten und geschmückten weiblichen Leiche, 103 Inszenierung für den intradiegetischen 97 DeJean 1991: 123. 98 Hat Mme de Clèves doch immerhin Zeit, eine jahresrhythmische Routine zu etablieren: „[…] elle passait une partie de l’année dans cette maison religieuse, et l’autre chez elle […]“ (Lafayette 2014c: 478). 99 Zum konkreten juristischen Hintergrund vgl. DeJean 1991: 122f.: Da eine junge Witwe bis zum Alter von fünfundzwanzig als minderjährig gilt, hat Lafayettes Heldin theoretisch „long years as a minor ahead of her“, jegliches Projekt einer Wiederverheiratung „would have been strenuously negotiated among three families“. „[…] it is only by not marrying Nemours that she, as a woman and widowed, can truly have a ‚chez elle‘“, betont DeJean; Mme de Clèves’ Zurückweisung Nemours’ stellt insofern nicht nur „a triumph of indifference“ (unter Anspielung auf den Lafayette zugeschriebenen gleichnamigen Text), sondern auch „a legal triumph“ dar. 100 „Une femme qui n’est pas mariée ne semble pas exister tout à fait“: Plastisch illustriert Delannoys doppelt ‚beschnittene‘ narrative Ökonomie Nidersts Reflexionen zur condition féminine im soziohistorischen Kontext des Romans (1973: 89). „[…] ce que les deux réalisateurs refusent à la Princesse, et derrière elle, à la voix de ‚l’auteur‘, c’est le nouveau territoire créé par sa parole et son exemple, c’est la construction d’une identité possible en dehors du système, c’est la lucidité de la lutte menée pour s’inscrire à travers et au-delà du logos prédominant. Leurs manipulations ramènent l’intrigue dans le cadre des normes du code patriarcal et réifient l’amour, la perfection féminine, dans une sorte de sublimation fétichiste conforme aux fantasmes et désirs masculins“, erklärt Denis (1998: 294) in ihrer feministisch inspirierten Lektüre des Films. 101 Lafayette 2014c: 475. 102 La Princesse de Clèves: 01: 37: 45-01: 37: 56. Die Elimination des „repos“ aus der entsprechenden Passage des Drehbuchs thematisiert bereits Fraisse (1961); vgl. dazu Denis 1998: 288f. 103 Brink verweist in diesem Zusammenhang auf Bronfens (1994) Ausführungen über die mise à mort des weiblichen Körpers als „incarnation de l’Autre, de la perturbation et de la division“ (2009: 118). Hier wäre auch wiederum an den filmhistorischen Kontext anzuknüpfen: In „Une certaine tendance du cinéma français“ kritisiert Truffaut (2008: 224f.) am Kino à la Delannoy speziell die Manie, um jeden Preis überall Begräbnisse und - weitgehend standardisierte - schöne weibliche Leichen unterbringen zu müssen, unter konsequenter Ausblendung der unerquicklichen physiologischen Realitäten des Todes. <?page no="524"?> 524 Jean Delannoys La Princesse de Clèves Blick der männlichen Protagonisten (hier konkret Nemours’ und des Vidame de Chartres), aber auch für die Schaulust des extradiegetischen, implizit als prototypisch männlichheterosexuell konstruierten Betrachters - erscheint nicht nur als geradezu karikaturale Illustration von Laura Mulveys Thesen zur patriarchalischen Ökonomie des traditionellen Kinos, 104 sondern steht auch in denkbar radikalem Gegensatz zu jener Geste des narrativen Respekts, mit der Lafayette ihre Protagonistin schließlich aus der sozialen und visuellen Kontrolle des höfischen Panoptikums und aus dem Sichtfeld der anderen Figuren wie der Leserin entlässt. Das letzte Wort und den letzten Blick auf eine definitiv zur ‚schönen Leiche‘ mortifizierte Heldin haben bei Delannoy die überlebenden männlichen Protagonisten. Gegenüber dem Ausgangstext nimmt der Regisseur eine signifikante Modifikation vor: Im Kontrast zur Null-Fokalisierung des Romanschlusses folgt die Kamera der Perspektive Nemours’ ins Innere des Pavillons. 105 „Elle n’a plus rien à craindre de ce monde“: 106 Bei aller Melancholie fungiert der dem Vidame de Chartres in den Mund gelegte, an Nemours gerichtete finale Satz des Films auch als maskuline Selbstvergewisserung; hier klingt, wie Margot Brink anmerkt, nicht zuletzt die umgekehrte Aussage - „Le monde n’a plus rien à craindre d’elle“ - durch. 107 Mit diesem solidarischen Blick zweier Männer auf die tote Protagonistin wird die patriarchalische Ordnung der Geschlechter und der Welt wiederhergestellt: „L’ordre semble enfin rétabli.“ 108 In diesem Sinne erweist sich die mise en scène - und mise à mort - der Heldin in dieser Adaption aus dem 20. Jahrhundert - kinematografischer Exorzismus einer zu deren Entstehungszeit bereits sich abzeichnenden Aushöhlung patriarchalischer Normen, aber auch des gender trouble, den schon Lafayettes Roman ausstrahlt - als deutlich konservativer als der klassische Prätext aus dem 17. Jahrhundert. 109 Bei aller detailverliebten Prachtentfaltung weicht Delannoys Kostüm-Princesse in dieser Hinsicht massiv vom literarischen Modell ab; die im Laufe eines literarhistorischen Domestikations- und Kanonisierungsprozesses vollzogene De-Politisierung des Prätexts erreicht hier ihren filmischen Höhepunkt. 110 Indirekt 104 Vgl. Mulvey 2009: 389ff. 105 Brink 2009: 119. 106 La Princesse de Clèves: 01: 46: 56-01: 46: 58. 107 Brink 2009: 120. 108 Ibid.: 119. Brink schlägt auch eine mögliche Lesart der Schluss-Szene des Films als „un acte sexuel symbolique“ vor: Der Pavillon, „lieu de l’intimité par excellence“, erscheint nunmehr in eine Grabstätte verwandelt, „caveau, terrifiant et fascinant en même temps, humide, lugubre et douillet comme le sexe imaginaire de la femme“ (ibid.). 109 Vgl. ibid.: 125. In ihren Memoiren nimmt Vlady viereinhalb Jahrzehnte später eine signifikante Gender- Recodierung dieser visuellen Ökonomie vor - und rekonstruiert nun ihrerseits einen selbstbewussten weiblichen Blick auf die Körperlichkeit ihrer männlichen Ko-Akteure aus der Princesse. So schwärmt sie vom „physique exceptionnel“ Jean Marais’, „l’un des plus beaux spécimens humains que j’aie eu la chance de rencontrer“: „Sa beauté mûre, encore plus troublante chez un homme proche de la cinquantaine dont je voyais souvent le corps dévêtu dans nos loges improvisées, ne présentait pas l’ombre d’un défaut. Je m’extasiais, parlais de Michel-Ange dont le Moïse se mouvait devant moi.“ Sie würdigt aber auch Jean-François Poron, „jeune premier qui a fait tourner la tête à une génération de femmes“, und vergleicht Regisseur Delannoy, „glacé, retenu, mais bouillonnant intérieurement“, mit Lafayettes „princesse qui meurt de passion contenue et de désir inassouvi“ (Vlady 2005: 88f.). Es ist frappierend, mit welcher Intensität in der filmischen Adaptionsgeschichte der Princesse de Clèves - von Delannoy über Żuławski bis Honoré - auf Produktionswie auf diegetischer Ebene (und im metaleptischen Verwirrspiel dazwischen) immer wieder auch Gender-Normen und -Rollen neu verhandelt werden. 110 Vgl. Denis 1998: 285f., unter Rekurs auf DeJean 1991. <?page no="525"?> Ästhetik und Ideologie des historischen Kostümfilms 525 bestätigt dieses Projekt kinematografischer Gender-Normalisierung freilich erst recht das subversive Potential des Ausgangstextes: „Sans le savoir ou le vouloir, soumise à une sorte de justice poétique, la version cinématographique de Cocteau et Delannoy contribue à révéler et à renforcer le caractère exceptionnel du chef-d’œuvre de Mme de Lafayette en même temps que sa complexité.“ 111 *** Wie diese Erstadaption eindrücklich illustriert, stellt sich die Geschichte der produktiven Princesse-Rezeption keinesfalls als linearer ‚Fortschritts‘- und Modernisierungsparcours, sondern vielmehr als komplexes, epochenspezifisch wie idiosynkratisch bedingtes Wechselspiel subversiver und affirmativer Momente dar, das die schillernde Ambivalenz des literarischen Prätexts jeweils im einen oder anderen Sinne vereindeutigt. So klar Delannoys Finale von Lafayettes Version abweicht, so frappant erinnert es, wie bereits erwähnt, an den Schluss von Louise de Vilmorins gegenüber Raymond Radiguets réécriture aus den frühen zwanziger Jahren sehr viel konservativerer Madame de: Vilmorins sentimentales Unhappy End - hier findet der Nemours-Rollenträger seine Geliebte gerade noch lebend auf ihrem Sterbebett vor - könnte, wie Claude Coste und Michèle Castells-Faucher vermuten, Delannoy und Cocteau als (Ko-)Inspiration für die Conclusio ihrer Film-Princesse gedient haben. 112 Ob man nun soweit gehen will, einen konkreten Einfluss zu postulieren oder nicht: Symptomatisch ist auf jeden Fall der gemeinsame ‚Zeitgeist‘ dieser beiden Werke, die sich - im Kontext der fünfziger bzw. beginnenden sechziger Jahre - sowohl gegenüber vorangegangenen Variationen als auch gegenüber den im Rahmen der zur Jahrtausendwende einsetzenden Princesse-Renaissance entstandenen filmischen wie literarischen Re-Interpretationen durch ihre prononcierte Tendenz zur Re-Affirmation einer von Lafayettes Text subtil unterminierten patriarchalischen Geschlechterordnung auszeichnen. Vor diesem Hintergrund ist eine Analyse der späteren filmischen Princesse-Adaptionen unter dem Gender-Aspekt von besonderem Interesse. In den Versionen Manoel de Oliveiras, Andrzej Żuławskis und Christophe Honorés entfalten sich jeweils sehr unterschiedliche Ökonomien des Blicks und des Begehrens, Imaginarien weiblicher resp. männlicher Körperlichkeit - die ihrerseits nicht in das allzu simple Schema einer sukzessiven Modernisierung zu fassen sind: Nach Oliveiras auch in dieser Hinsicht relativ konservativer und Żuławskis radikal postmoderner Re-Interpretation, bislang mit Abstand gender-sensibelste Adaption der Princesse, kehrt Honoré mit La Belle Personne zu einem vergleichsweise traditionellen visuellen Regime zurück; in ihrer (auch im Begleitdiskurs des Regisseurs kommentierten) betont passiven Inszenierung der weiblichen Hauptfigur - im Sinne Laura Mulveys „Maskerade des perfekten, zum Angeschautwerden verurteilten Bildes“ 113 - nähert diese freie Adaption sich wiederum der Version Delannoys an. 114 111 Denis 1998: 294; vgl. auch Brink 2009: 120. 112 Vgl. Coste/ Castells-Faucher 2000: 330. 113 Mulvey 2009: 405. 114 Auch wenn die in diesem oder jenem Film reproduzierte oder kritisch reflektierte Ordnung der Geschlechter selbstverständlich keinesfalls linear mit der Gender-Identität des respektiven Künstlers in Verbindung zu bringen ist, so ist am Rande doch auch die Tatsache von Interesse, dass die bisherigen <?page no="526"?> 526 Jean Delannoys La Princesse de Clèves Über die Gender-Problematik hinaus sind alle weiteren filmischen Princesses nach Delannoy unweigerlich bereits das Resultat eines multiplen Adaptionsprozesses; nicht zufällig zeichnen sich alle vier im Folgenden zu besprechenden Versionen durch ihre metamediale Selbstreflexivität aus. Anknüpfungspunkte dafür bietet freilich auch schon Delannoys historisierende Feerie. So wird die Briefszene zur poetologischen Mini-Meditation über réécriture und Adaption ausgestaltet: Mme de Clèves, zur Reproduktion der mittlerweile verbrannten lettre aufgefordert, erklärt sich vorweg für „incapable de déguiser mon écriture“ - und vergisst im Zuge jener doppelt codierten Redaktion dann auch tatsächlich, ihre Schrift zu verstellen. „L’exactitude n’est pas absolument nécessaire, c’est le sens qui importe“, beruhigt sie Nemours - intendiert doppelbödig - angesichts ihrer Sorge, das ‚Original‘ nicht adäquat wiedergeben zu können; eigenhändig überzeugt er sich von der Schwierigkeit, „une écriture de femme“ zu imitieren. 115 Auch wenn die neueren kinematografischen Re-Interpretationen des Romans sich ästhetisch wie ideologisch stark von Delannoys Version - sowie untereinander - unterscheiden, bleibt diese Erstadaption als immer wieder durchscheinende Kontrastfolie in den späteren Filmen präsent. Nicht nur werden deren Darsteller - und vor allem Hauptdarstellerinnen - mit Delannoys protobzw. archetypischer Princesse-Besetzung im Hinterkopf gecastet; 116 zwischen bewusstem Kontrapunkt und spielerischer Aneignung erweisen die späteren Regisseure Delannoy mit dem einen oder anderen kleinen Zitat ihre - durchaus kritische - Reverenz. Die nächsten filmischen Schichten des intermedialen Princesse-Palimpsests gilt es nun in den folgenden Kapiteln zu erschließen. filmischen Princesse-Adaptionen im Gegensatz zu den bereits analysierten literarischen réécritures ausnahmslos das Werk männlicher Regisseure sind, die in ihre Interpretation des klassischen Prätexts - davon legt der Begleitdiskurs aller involvierten Cineasten Zeugnis ab - auch ihre jeweiligen ‚Geschlechterbilder‘ einfließen lassen. 115 La Princesse de Clèves: 33: 22-33: 25, 36: 09-36: 17, 35: 34-35: 39, 36: 56-36: 59. 116 Die von Delannoy und Cocteau gestifteten Archetypen scheinen sogar dort verlässlich zu funktionieren, wo die Rezipientin diese erste Adaption gar nicht aus eigener Anschauung, sondern lediglich indirekt - z. B. aus mit Szenenbildern aus diesem Film illustrierten Editionen der Princesse - kennt. So kommentiert User/ in ‚Mo‘ in einer Online-Diskussion die kinohistorischen Interferenzen, die sie/ ihn daran hindern, Honorés Adaption unvoreingenommen zu betrachten: „[…] j’ai dans la tête les images de l’adaptation avec Jean Marais et Marina Vlady, que je n’ai certes jamais vue, mais qui étaient dans mon édition de La princesse de Clèves […]“ („Une belle et ennuyeuse jeune personne“, art. cit.). <?page no="527"?> Literatur auf der Leinwand und théâtre filmé: Manoel de Oliveiras La Lettre Rien d’humain ne paraît rapprocher nos amants, bien au contraire. 1 Auf Jean Delannoys Werk folgt in der Filmgeschichte der Princesse de Clèves - nach einer Pause von beinahe vier Jahrzehnten - Manoel de Oliveiras La Lettre/ A Carta (1999), im selben Jahr mit dem Jurypreis des Festival de Cannes ausgezeichnete franko-hispano-portugiesische Koproduktion. Auch von der französischen Kritik wurde diese Adaption - in puncto Regie, Besetzung, Prätext wie Ästhetik klar im hochkulturellen Register angesiedelter, 2 eminent textualisierter Meta-Film, der nicht nur metaphorisch, sondern auch konkret ‚gelesen‘ werden will, mit einer Fülle intermedialer Referenzen spielt und in ideologischer Hinsicht die bei Lafayette überaus dezente spirituelle bzw. religiöse Dimension stark akzentuiert - geradezu hymnisch aufgenommen, dabei gelegentlich auch als Exempel eines „cinéma inclassable et ultra portugais“ exotisch verfremdet. 3 Zwischen Modernisierung und Anachronismus: Zur Rekontextualisierung der Princesse Im Unterschied zu Delannoys historisierendem Kostümfilm wagt sich Oliveira an eine - partielle, intendiert brüchige - Modernisierung (nicht unbedingt primär, aber auch ökonomisch motivierte Entscheidung: „Une reconstitution d’époque aurait été hors de prix. Mais surtout je trouve intéressant de situer le récit aujourd’hui […]“, wie der Regisseur erklärt 4 ); er transponiert die Intrige Lafayettes ins Paris der Gegenwart, d. h. der Entstehungszeit des Films. 5 In einem „film contemporain dans lequel les agissements et les propos des personnages sont 1 Rougemont 1979: 40 (zum Tristan und Isolde-Mythos). 2 Vgl. Dubois 2013a. 3 Chapiro 2009: 54. Chapiro kontrastiert Oliveiras in höchsten Tönen gelobte „véritable adaptation“ positiv nicht nur mit der lediglich oberflächlich erwähnten Version Andrzej Żuławskis, sondern auch mit Jean Delannoys „pellicule de faux classicisme“ und mit Christophe Honorés späterer Re- Interpretation: „Tandis que chez Christophe Honoré la mise en place de l’intrigue dans un lycée des beaux quartiers […] verse dans les lieux communs de notre époque, l’adaptation d’Oliveira garde à l’œuvre toute sa distance et son sublime. […] Manuel [sic] de Oliveira touche au cœur de la signification de l’œuvre classique […]“ (ibid.: 53f.). Zur französischen Rezeption Oliveiras, dessen Filme in Frankreich traditionell bei Publikum wie Kritik besonders erfolgreich - erfolgreicher als in Portugal selbst - waren, vgl. Gago 2009: 93. 4 Frodon 1999. 5 Eine ziemlich konkrete Datierung bzw. zeithistorische Kontextualisierung der Handlung ermöglicht indirekt und quasi en passant eine Szene, in der Oliveira seine Protagonisten eine aktuelle TV- Nachrichtensendung verfolgen lässt und dabei auf den Spuren Lafayettes (Zeit-)Geschichte und Fiktion mixt: Die Information über das von der Turnierverletzung zum Autounfall modernisierte Unglück seines Nemours-Rollenträgers wird mitten unter Neuigkeiten aus der realen politischen Welt Frankreichs (Diskussion um die 35-Stunden-Arbeitswoche, Erwähnung der Ministerin Martine Aubry etc.) platziert (vgl. La Lettre: 44: 11-47: 47). <?page no="528"?> 528 Manoel de Oliveiras La Lettre constamment en porte-à-faux avec cette époque“ 6 setzt er gezielt auf den Anachronismus als ästhetische Strategie, auf den Effekt des Kontrasts zwischen zeitgenössischem Ambiente und ‚klassischem‘ Moral- und Verhaltenscodex wie Sprachduktus seiner Protagonisten (bzw. vor allem Protagonistinnen). 7 Inhaltlich wie formal gerät diese mehrdeutige, bei aller Heterogenität doch bemerkenswert kohärente Lettre derart zum regelrechten kinematografischen Palimpsest, Resümee auch der jahrzehntelangen Filmhistorie des Regisseurs selbst: „On ne sait plus très bien aujourd’hui de quel espace-temps nous parle le cinéaste. Oliveira catapulte le roman de nos jours, mais toutes les strates de temps qu’il a traversé[es] dans sa vie de presque un siècle s’y trouvent sédimentées. […] Le système formel d’Oliveira est tellement fort et articulé qu’il peut multiplier les scories et les anachronismes, faire ânonner la langue du XVII e à un Stanislas Mehrar au phrasé de rappeur, métamorphoser le Duc de Nemours en rocker portugais chaussé de rangers bleus, sa cohérence reste inentamable“, konstatiert Jean-Marc Lalanne. 8 Auf den Spuren Lafayettes riskiert, ja kultiviert auch Oliveira die eine oder andere vor dem Hintergrund seiner Epoche frappierende invraisemblance. So verzichtet er bei seiner Version von Agonie und Tod des M. de Clèves (dargestellt von Antoine Chappey) - der eine zeitgenössische Interpretin explizit einen Mangel an „vraisemblance“ attestiert 9 - kühn auf jegliche Modernisierung: Etwas melodramatisch siecht der Antiheld, hier auch noch selbst als renommierter Arzt eingeführt, abseits aller medizinischen Plausibilität dahin. 10 Mit der affichierten Inkongruenz dieser Chronik eines zwar literarisch angekündigten, im modernen Kontext der Filmhandlung jedoch dezidiert deplatzierten Todes wirft Oliveiras christlichkatholisch gefärbte Adaption nicht zuletzt die Frage nach der Dialektik von Religion und Rationalismus, Glauben und Wissenschaft, menschlicher Souveränität und Fatalität auf. 6 „Manoel de Oliveira. La Lettre“ (Ciné-Club de Caen, o. D.). 7 Exemplarisch illustriert diesen Clash der Epochen, den intendierten Konflikt zwischen klassischem Dialog und moderner urbaner Umgebung wie Kostümierung der Figuren - auf denselben Effekt setzt im Rahmen einer anderen Klassikerverfilmung etwa auch Baz Luhrmanns Romeo + Juliet (1996) - in La Lettre die Szene der Konfrontation Mme de Clèves’ mit ihrem verschmähten und eifersüchtigen Verehrer Guise: Adjustiert mit Jeans und Lederjacke, rezitiert der junge Mann seinen nur minimal modifizierten Part aus Lafayettes Text - bevor die ‚Princesse‘ in ihrem Cabrio temperamentvoll von dannen fährt (und der ihr nachstürzende Guise - für das Publikum hör-, jedoch unsichtbar - unter den Rädern eines heranrasenden Autos ein trauriges Ende findet); vgl. zu dieser Szene auch den Kommentar Gagos (2009: 101). 8 Lalanne 1999. 9 „Le film se veut tellement fidèle au roman, tout en adaptant l’histoire à l’âge moderne, qu’il manque souvent de vraisemblance, surtout en ce qui concerne la mort du Prince de Clèves“, konstatiert Oster (2009: 132f.). Vgl. zur Frage der (Un-)Wahrscheinlichkeit respektive bei Lafayette und Oliveira auch Segarra 2004. 10 Die Profession des M. de Clèves wird - ähnlich wie das diplomatische Metier der Nemours-Figur in Louise de Vilmorins Madame de - freilich nur beiläufig erwähnt; der Film enthält keine weiteren Szenen oder Gespräche, die damit in Zusammenhang stünden. Auch diese Protagonisten erscheinen primär über ihre Schichtzugehörigkeit definiert und werden der Zuschauerin - mit der signifikanten Ausnahme Abrunhosa/ Nemours - niemals bei der Ausübung eventueller beruflicher Aktivitäten, sondern exklusiv als Mitglieder einer distinguierten leisure class vor Augen geführt. <?page no="529"?> Literatur auf der Leinwand und théâtre filmé 529 Mit seiner Protagonistin Chiara Mastroianni - ursprünglich war auch für diesen Film Andrzej Żuławskis ‚Princesse‘ Sophie Marceau als Hauptdarstellerin im Gespräch 11 - setzt Oliveira schon optisch einen Kontrapunkt zu Delannoys archetypischer Film-Princesse Marina Vlady. Moniert Jean-Michel Delacomptée nicht nur Mastroiannis dunkle Schönheit, sondern auch ihr Alter 12 (Mastroianni war zur Zeit der Dreharbeiten siebenundzwanzig Jahre alt; ihrer Filmfigur wird zwar kein präzises Alter zu-, aber der Habitus einer u. a. routiniert selbst chauffierenden, beruflich nicht ganz unerfahrenen Mittzwanzigerin auf den Leib geschrieben), so besitzt diese Re-Interpretation der Heldin angesichts des Statuswandels einzelner Lebensalter wie gesagt ihre historische Plausibilität. Oliveiras erwachsene Princesse ist im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin bei Lafayette auch in Sachen Liebe kein gänzlich unbeschriebenes Blatt; vielmehr hat sie bereits eine erste Liaison hinter sich, gescheitert - wie die Zuschauerin aus dem Dialog zwischen Mme de Chartres und deren Freundin sowie später zwischen der Protagonistin und ihrer Vertrauten erfährt - an der durchaus Lafayette’schen Kollision zwischen kompromisslosem, von der Mutter forciertem moralischem Anspruch und den Beziehungsvorstellungen jenes ungenannten jungen Mannes, der schon vor der bzw. ohne Ehe allzu viele ‚Freiheiten‘ eingefordert habe („Il voulait juste tout se permettre et nous n’étions pas encore fiancés“ 13 ). In ihrer anachronistischen ‚Tugendhaftigkeit‘ ist diese in eine postmoderne Welt transferierte Princesse, „préoccupée par la pureté, la sincérité, la fidélité et l’honneur dans une société qui ne s’en soucie guère plus“, 14 in ihrer Epoche eine nicht minder ‚unwahrscheinliche‘ Figur als ihre literarische Vorfahrin 15 - ideologische Zeitreisende in umgekehrter Richtung. 16 Neben dieser Vorgeschichte stattet Oliveira seine Princesse mit einem in mehrfacher Hinsicht interessanten Vornamen aus: Aus Lafayettes vornamenloser Heldin wird hier Catherine de Chartres bzw. de Clèves. Dieser Name lädt nicht nur zur phonetisch-alliterativen Assoziation mit Clèves ein (Andrzej Żuławski setzt mit seiner Protagonistin Clélia - abgesehen von der transparenten multiplen literarischen Allusion - ebenfalls auf diesen Effekt), sondern verweist auch auf den historischen Kontext von Lafayettes Roman: auf Königin Catherine de Médicis (mit der Oliveiras Princesse-Darstellerin der italienische Background verbindet), aber auch Catherine de Gonzague, Duchesse de Clèves, Bewohnerin des Lafayettes Zeitgenossen wohlbekannten realen Schlosses Coulommiers, deren Name im Rahmen diverser Spekulationen 11 „Paolo [Branco, MS] m’a contactée pour me proposer d’être la princesse de Clèves pour Manuel [sic] de Oliveira. Je lui ai dit qu’Andrzej était en train d’écrire lui aussi sa version du roman“, berichtet Marceau selbst im Interview (Lalanne 2000). 12 Vgl. Delacomptée 2012: 23. 13 La Lettre: 40: 18-40: 21. 14 Oster 2009: 132. 15 Insofern ist Esmein-Sarrazin (2014a: XXXV) nicht zuzustimmen, wenn sie in ihrem knappen Überblick über die zeitgenössischen filmischen Adaptionen der Princesse de Clèves feststellt: „[…] les films récents visent […] une modernisation qui fait le plus souvent perdre de vue le caractère exceptionnel des héros pour ne conserver que la problématique de la trahison et de la fidélité“; die Exzeptionalität vor allem der jeweiligen weiblichen Hauptfigur wird bei Oliveira ebenso wie bei Żuławski und bei Honoré vielmehr gezielt herausgearbeitet. 16 „[…] pour ainsi dire, Mme de Clèves n’est pas assez une femme du XVI e siècle ‚magnifique et galant‘ […] elle est trop une femme du XVII e , moraliste et tourmenté […]“ (Malandain 1989: 113f.). <?page no="530"?> 530 Manoel de Oliveiras La Lettre über den ‚richtigen‘ Vornamen der Princesse (illusion référentielle oblige) 17 wiederholt ins Spiel gebracht wurde, sowie Catherine de Clèves, Duchesse de Guise. 18 Mit royalem Vornamen versehen wird auch der Rollenträger des Prince: Mit der königlichen Paarung Louis 19 / Catherine reflektiert La Lettre die komplexe Historizität von Lafayettes Text selbst, der über eine Distanz von mehr als einem Jahrhundert hinweg die französischen Königshöfe unter Henri II (bzw. seinem Nachfolger François II) und Louis XIV überblendet. Königin Catherine selbst wird aus dieser modernen Film-Princesse ebenso eliminiert wie Henri II und dessen Mätresse Diane de Poitiers, der Rest der Königsfamilie und des Hofstaats. Nur sehr vereinzelt werden historische Figuren aus Lafayettes Roman übernommen: So tritt als unglücklicher amouröser Rivale ‚François de Guise‘ in - wenig imposante - Erscheinung; der stolze Höfling wird zum schüchternen und schmächtigen jungen Mann, der seine engen Jeans immer noch überzeugender trägt als seinen geschichtsschweren Namen und von Catherine - um deren Gunst er sich bereits vor ihrer Begegnung mit Clèves erfolglos bemüht - als „trop jeune“ abgelehnt wird. 20 Oliveira selbst erklärt in einem Interview, gezielt „tout ce qui concernait la cour et les intrigues annexes“ gestrichen zu haben, „pour me concentrer sur l’histoire principale“; 21 auch abseits film-ökonomischer Überlegungen stellt dieser radikale Einschnitt eine signifikante Re-Interpretation dar. Das macht- und selbstbewusste royale huis clos Lafayettes gehört längst der Vergangenheit an: Aus dem höfischen Dispositiv der Princesse - magnetisches Zentrum des Textes wie der darin repräsentierten Gesellschaft - wird ein frei flottierender, de-zentrierter Mikrokosmos, deterritorialisierte Enklave der Vergangenheit, 22 17 Zu diversen Spekulationen über die Identität der „véritable princesse de Clèves“ vgl. Laugaa 1971: 223f.; Esmein-Sarrazin 2014c: 1302f. 18 Vgl. Rambaud 2006: 51ff. 19 Oster unterläuft hier ein bezeichnendes Missverständnis, wenn sie den Protagonisten als „Jacques de Clèves“ registriert (2009: 132) und derart mit dem Vornamen des historischen Prince de Clèves (Jacques de Nevers) - wie des realen Duc de Nemours (Jacques de Savoie) - ausstattet. Ausgehend von dieser (Vor-)Namensbruderschaft argumentiert Horowitz die unterschwellige Affinität dieser beiden vermeintlichen Kontrastfiguren (1998: 123). 20 La Lettre: 05: 19-05: 20. 21 Frodon 1999. 22 Aufschlussreich ist in dieser modernen Adaption auch das Re-Arrangement der Raumstrukturen des Lafayette’schen Textes: Spielt die Handlung der Princesse zwischen mobiler königlicher cour, Coulommiers als semi-intimer Gegenwelt, den südwestfranzösischen Besitzungen der Heldin und jener „maison religieuse“, in der sie nach ihrem Rückzug vom Hof einen Teil des Jahres verbringt (Lafayette 2014c: 477f.), so bewegen Oliveiras aristokratische Protagonisten - denen ein eventueller Hof als Schwerpunkt und gesellschaftliches Machtzentrum längst abhandengekommen ist - sich im Wesentlichen zwischen einem zwar noblen, von royalem Prunk jedoch weit entfernten Pariser Domizil und einem Landhaus von gleichfalls unaufdringlicher Distinktion, auch hier zum privaten Refugium stilisiert und in mehrfacher Hinsicht signifikant re-interpretiert. Die bereits an Lafayettes Roman herausgearbeitete ‚feminine‘, ja proto-feministische Dimension der anachronistischen Konstruktion Coulommiers, „a feminocentric space for her heroine’s projected ‚retirement‘“, aber auch „a political reference“ (DeJean 1991: 249; vgl. dazu auch Rambaud 2006; Brink 2009: 121; allgemein Beasley 1990), wird bei Oliveira konsequent fortgeschrieben: Der ‚Coulommiers‘ repräsentierende großzügige Landsitz ist im Unterschied zum Roman kein gemeinsames Projekt (vgl. Lafayette 2014c: 417: „une belle maison à une journée de Paris, qu’ils faisaient bâtir avec soin“) bzw. „community property“ (DeJean 1991: 120; zu den ehe-/ erbgesetzlichen Implikationen vgl. ibid.: 251) der Eheleute Clèves, sondern geht aus dem Eigentum der Mme de Chartres in jenes ihrer Tochter und Erbin Catherine über. Der aveu findet bei Oliveira nicht in ‚Coulommiers‘ statt; dafür werden mehrere andere Schlüsselszenen an diesen Schauplatz - Ort weiblich-mütterlicher Autorität, doch auch Ort des Todes - verlegt: Hier erteilt <?page no="531"?> Literatur auf der Leinwand und théâtre filmé 531 deren Bewohner sich unweigerlich mit der prinzipiellen Frage nach Tragfähigkeit und Substanz des eigenen aristokratischen Wertesystems konfrontiert sehen. Nach wie vor ist das hier evozierte Milieu einer strengen Etikette verpflichtet. In modernem Ambiente und moderner Kostümierung vollführen die Akteure dieser hoch theatralischen kleinen Welt ein ritualisiertes Rollenspiel, das in manchen Szenen - so im mondänen Präludium zum klassischen Klavierkonzert, Ersatz höfischer Festivitäten bei Lafayette - auch Delannoys Choreografie vornehmer Marionetten zu zitieren scheint; dies freilich ohne deren Opulenz bei Kostümen und Dekor. Diese postmodernisierte Aristokratie hat sich von der Norm ostentativer Prachtentfaltung an den Höfen Henris II oder erst recht Louis’ XIV verabschiedet: Zwar wird gelegentlich in einer Cartier-Boutique eingekauft, doch in Kleidung wie Wohnkultur zeichnen sich Oliveiras Protagonisten durch dezente, beinahe düstere Endzeit-Eleganz und exklusives Understatement - „conspicuous consumption“ 23 à l’envers - aus. ‚Adel‘ hat, so die eingangs von Mme de Chartres formulierte Prämisse, weniger mit materieller magnificence (Wohlstand ist eine Selbstverständlichkeit, Geld der Rede nicht wert) denn mit moralischer Distinktion zu tun; eine anachronistisch-aristokratische Identität bleibt - abgesehen von der Beibehaltung markierter Adelsnamen werden Mutter und Tochter Chartres explizit als „deux dames de grande famille“ 24 vorgestellt - für die Konzeption der Figuren allerdings so zentral, dass es etwas verwunderlich scheint, wenn Margot Brink La Lettre „dans le milieu de la haute bourgeoisie parisienne“ verortet und als Auseinandersetzung mit der „société bourgeoise“ interpretiert. 25 Wie die Helden Lafayettes verfügen jene Oliveiras über beträchtliche Selbstreflexivität. Problematisieren erstere - unter Antizipation der entsprechenden Argumentation kritischer Zeitgenossen - auf diegetischer (Meta-)Ebene selbst die Unwahrscheinlichkeit des aveu, so machen auch Oliveiras Protagonisten die eigene Exzeptionalität zum Thema; der Ausnahmestatus dieser neuen Princesse wird aus unterschiedlicher Perspektive kommentiert. 26 Es ist Mme de Chartres (Françoise Fabian), die - bei Delannoy/ Cocteau ersatzlos gestrichen, bei Oliveira als Schlüsselfigur und weibliche moralische Autorität wieder in ihre Rechte eingesetzt - ihr soziales Selbstverständnis und die ethischen Prinzipien hinter der sittenstrengen „éducation“ ihrer Tochter erläutert, die als kompromisslose Repräsentantin einer längst in die sterbende Mme de Chartres ihrer Tochter jene letzten moralischen Lektionen, hier siecht wenig später auch der vom aveu tödlich getroffene M. de Clèves dahin. Das Lafayette’sche Kloster schließlich wandert von der französischen Peripherie retour nach Paris: Mit ‚Port-Royal‘ - dort sucht die Protagonistin regelmäßig Rat bei einer befreundeten Nonne - wählt Oliveira ein symbolträchtiges religiöses Setting, das in der Geschichte des für Lafayettes Werk und Weltanschauung (mit-)prägenden Jansenismus eine zentrale Rolle gespielt hat. 23 Vgl. Veblen 1994. 24 La Lettre: 04: 34-04: 36. 25 Brink 2009: 120, 122. Auch Chapiro charakterisiert Oliveiras Princesse als „bourgeoise“ (2009: 53), Oster dagegen korrekt als „une jeune fille noble ayant reçu une éducation aristocratique“ (2009: 132). 26 So konstatiert Catherines klösterliche Vertraute - selbst Außenseiterin, die sich freiwillig ins Abseits der postmodernen kapitalistischen Gesellschaft begeben hat - die Exzeptionalität der jungen Frau: „Dans un monde comme celui d’aujourd’hui, une telle attitude devient très exceptionnelle […]“ (La Lettre: 01: 06: 28-01: 06: 33). „Elle est très étrange. Elle a toujours été quelqu’un de différent“, bestätigt Mme Da Silva als mütterliche Freundin (ibid.: 01: 28: 16-01: 28: 20). <?page no="532"?> 532 Manoel de Oliveiras La Lettre die gesellschaftliche und ideologische Defensive geratenen konservativ-katholischen Aristokratie auf der Notwendigkeit des ‚Widerstands‘ beharrt: „[…] il faut nous défendre.“ 27 Die Princesse und der Popstar: Passion als Non-Kommunikation In radikalem Kontrast zur Welt der Chartres und Clèves besetzt die Position eines „très moderne Monsieur de Nemours“ 28 der portugiesische Rocksänger Pedro Machado Abrunhosa, gecastet als Darsteller ‚seiner selbst‘: „Pedro Abrunhosa (Lui-même)“ 29 lautet der korrespondierende Eintrag in den Dramatis personae - raffinierte Geste, die nicht nur den Mix historischer und fiktiver Figuren bei Lafayette zitiert, sondern über den ganzen Film hinweg einen metaleptischen Schwebe- und Schwindelzustand erzeugt. 30 Dieser durchaus stringenten Umdeutung des Nemours - der, wie Oliveira argumentiert, am Königshof Lafayettes quasi die Rolle eines Popstars avant la lettre spielt 31 - werden diverse Details der höfischen Bio- 27 Ibid.: 05: 57, 06: 51-06: 52. Auch in diesem Punkt knüpft Oliveira gleich mehrfach an den doppelten historischen (Handlungswie Rezeptions-)Kontext der Princesse de Clèves an, evoziert der Roman Lafayettes - entstanden in der Hochphase des royalen Absolutismus - doch eine aus der Sicht der Zeitgenossen der Autorin teilweise durchaus nostalgisch konnotierte frühere Blütezeit feudalaristokratischer Macht. Wenige Jahre nach der Handlungszeit der Princesse de Clèves (1558-1559) wird Frankreich von den Religionskriegen heimgesucht (die Lafayette in La Princesse de Montpensier zum Thema macht). Lafayettes eigene Generation ist von der Erfahrung der Fronde und der folgenden Entmachtung der Aristokratie geprägt; als „a member of a frondeur family“ (DeJean 1991: 243), außerdem „certes devenue grande dame, mais […] pas née grande dame“ (Grande 2000a: 227), vielmehr „[p]resque une roturière“ (Grande 1999: 190f.), dürfte Lafayette, wie Grande vermutet, aufgrund ihrer Herkunft besonders für „la perte de pouvoir et de prestige qui affecta la noblesse louis-quatorzième“ sensibilisiert gewesen sein (ibid.: 110). Nicht umsonst wurde ihre bei aller Sanftheit rebellische Heldin, die der höfischen Gesellschaft ihr eigenes moralisches Koordinatensystem entgegensetzt und schließlich dezent den Rückzug antritt, auch in diesem spezifischen geschichtlichen Zusammenhang resituiert (vgl. zum historischen Hintergrund der Princesse de Clèves und zur konsequenten „evacuation of the political and social content of her fiction“ im Rahmen der Kanonisierung Lafayettes insbes. DeJean 1991: hier zit. 103). 28 Rambaud 2006: 19. 29 Vgl. „Manoel de Oliveira. La Lettre“, art. cit. 30 „Dans le film, il s’incarne lui-même, ce qui mène à une confusion déconcertante entre les dimensions réelles et fictives“, hält auch Brink fest (2009: 120). 31 „Il m’a semblé qu’une vedette de la chanson était l’équivalent le plus approprié au statut social mais aussi à la séduction d’un prince comme Nemours“, erklärt der Regisseur auf die Frage „Pourquoi avoir fait de Nemours une star du rock? “ (Frodon 1999). Die Assoziation zwischen dem Königshof Lafayettes und der postmodernen Welt der Stars, Schauspieler, Mannequins wird in so manchem zeitgenössischen Kommentar zur Princesse hergestellt; einige Jahre nach Oliveiras Film re-interpretiert auch Marie Darrieussecq - die diese Analogie bereits für Clèves in Erwägung zieht - die cour Lafayettes im Folgeroman Il faut beaucoup aimer les hommes (2013) als Mikrokosmos ‚Hollywood‘. Während Oliveira selbst auf jegliche billige Denunziation der ‚oberflächlichen‘ Welt des Showbusiness (etc.) verzichtet, schleicht sich hier im kritischen und akademischen Diskurs gelegentlich ein simplifizierendmoralisierender Tonfall ein: Oster kontrastiert die Heldin der Lettre mit „le monde superficiel des spectacles, de la légèreté et des amours faciles qu’elle-même cherche à éviter“ (2009: 132); Langlade reduziert Oliveiras ‚Nemours‘ aus betont antipathischer Perspektive auf die Rolle des „séducteur sans envergure“, des „séducteur professionnel égocentrique et clinquant qui apparaît aussi ridicule que ses pitreries musicales“ (2013: 25); überflüssig zu bemerken, dass dieses Porträt Oliveiras ab- und hintergründiger Filmfigur - samt poetologischer Tiefendimension - nicht annähernd gerecht wird. Im Gegensatz zu Lafayettes Nemours, jenem bei Hof brillierenden „chef-d’œuvre de la nature“ (2014c: 333), <?page no="533"?> Literatur auf der Leinwand und théâtre filmé 533 grafie des Lafayette’schen Protagonisten sorgfältig angepasst: Lässt sich dessen Status als notorischer „séducteur“, dessen galante Vergangenheit „beaucoup de maîtresses“ bevölkern, ohne Weiteres auf seinen postmodernen Wiedergänger übertragen 32 (die Befürchtungen auch dieser Heldin bezüglich der zukünftigen Untreue ihres Liebesobjekts erscheinen nicht ganz unbegründet: gleich nach dem coup de foudre schlägt der heimtückische Blitz der Eifersucht ein, als sie noch am Abend der ersten Begegnung Abrunhosa/ Nemours inmitten einer euphorisierten Menge autogrammjagender Groupies beobachtet), so wird aus der Affäre um Nemours’ brillante Aussichten auf eine Ehe mit der englischen Königin bei Oliveira eine höchst erfolgversprechende Konzerttournee in den USA, die Abrunhosa um Mme de Clèves’ willen verfrüht abbricht. Während allerdings die Protagonisten Lafayettes sämtlich der gleichen höfischen Kaste angehören, vollzieht bei Oliveira nur ‚Nemours‘ - bei Lafayette paradigmatische Inkarnation des perfekten Höflings - diesen frappierenden Milieu- und Habituswechsel, der sich im Detail der Namensgebung widerspiegelt: Die Damen Chartres, MM. de Clèves und de Guise behalten ihre aristokratischen Originalnamen, der Name ‚Nemours‘ verschwindet dagegen aus Oliveiras Film. Die Implikationen dieser Rekonfiguration des zentralen Romanpersonals reichen über die Analogie zwischen höfischer Aristokratie und postmodernem Showbusiness hinaus. Auch Oliveira partizipiert mit seinem schillernden Pop-Helden an einem in mehreren zeitgenössischen literarischen und filmischen Versionen auszumachenden Trend zur Re-Interpretation des Nemours als Repräsentant einer jeweils unterschiedlich gefassten, hier primär sozialen, in zweiter Linie auch ethnokulturellen Alterität. Als portugiesischer Rocksänger verkörpert Abrunhosa im Milieu der Chartres und Clèves eine gleich mehrfache Fremdheit - durch Beruf, Habitus, aber auch Herkunft und Sprache; wie sein reales Modell singt auch der diegetische ‚Abrunhosa‘ auf Portugiesisch und spricht ein zurückhaltendes Französisch mit leichtem Akzent. Ein weiteres Mal bestätigt sich die bereits formulierte Hypothese: Die gezielte Verfremdung der Figur trägt wesentlich dazu bei, das Transgressionspotential einer vor dem Hintergrund heutiger okzidentaler Wertvorstellungen kaum mehr sonderlich skandalösen außerehelichen Passion zu sichern, die philosophische Dimension des Prätexts - Liebe nicht zuletzt als Auseinandersetzung mit dem Skandal des Anderen und als Selbst(de)konstruktion des Subjekts - ohne dramatischen Intensitäts- und Relevanzverlust in einen postmodernen Kontext zu übertragen. 33 Diese markante Variation der Nemours-Figur - in beträchtlicher sozialer Distanz gegenüber der Heldin und ihrem Milieu verortet - bleibt nicht ohne Folgen für den Verlauf der amourösen Intrige. Haben Lafayettes Princesse und Nemours nach dem beiderseitigen coup de foudre mehr als genug Gelegenheit, das jeweilige Liebesobjekt im höfischen Mikrokosmos mit seinen rigiden Präsenz- und Repräsentationspflichten zu frequentieren (auch wird Abrunhosa, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten knapp vierzig Jahre alt (geb. 1960), vielmehr relativ unscheinbar in Szene gesetzt; abseits der Konzertbühne wirkt der vermeintliche „séducteur professionnel“ zurückhaltend und schüchtern bis zur Unbeholfenheit. 32 La Lettre: 43: 28-43: 32. 33 Auf diesen Aspekt weist auch die Kritik des Ciné-Club de Caen hin: „[…] l’attirance qu’éprouve Mlle de Chartres [kleines chronologisches Missverständnis: auch Oliveiras Protagonistin lernt Abrunhosa erst als schon verheiratete Mme de Clèves kennen, MS] envers Pedro n’est pas l’amour du même déguisé mais l’amour de l’autre. […] Oliveira confer [sic] donc à ce personnage une altérité totalement absente du roman“ („Manoel de Oliveira. La Lettre“, art. cit.). <?page no="534"?> 534 Manoel de Oliveiras La Lettre wenn Mme de Clèves Nemours auszuweichen sucht, kommt es doch unweigerlich zu einer ganzen Reihe von Begegnungen, Besuchen, Gesprächen und - Schlüsselszene des Romans - zur gemeinsamen réécriture jenes galanten Briefs), so steht die Passion der Protagonisten Oliveiras in ihrer nackten Absurdität da. Kaum jemals bietet sich der jungen Aristokratin und dem Popstar die Chance zur legitimen sozialen Interaktion: Catherine de Clèves ist in Abrunhosas Welt ebenso ein Fremdkörper wie Abrunhosa in der ihren; sein unangekündigter Besuch im Landhaus der Chartres - wo er sich, willkommener prétexte, nach dem Wohlergehen der erkrankten Mutter erkundigt - gerät nicht wie in der analogen Szene bei Lafayette zur nach außen unverdächtigen Geste mondäner Höflichkeit unter gleichrangigen Akteuren, vielmehr zur allseits mit deutlichem Unbehagen wahrgenommenen - und wiederum durch die kontextuell inkongruente ‚Maskerade‘ der Figur unterstrichenen - gesellschaftlichen Transgression; auch dem Begräbnis der Mme de Chartres wohnt Abrunhosa nicht als geladener Gast, sondern hinter einem Friedhofsdenkmal versteckt bei. Bezeichnenderweise wird auch die aveu-Szene an einen neutralen öffentlichen Ort - symbolisches Niemandsland zwischen den so verschiedenen sozialen Welten, in denen die Protagonisten agieren - verlegt: Oliveira lässt Mme de Clèves ihre Passion auf einer Bank im Jardin du Luxembourg bekennen - und den nach seinem Autounfall noch teil-invaliden Abrunhosa zu Regenerationszwecken in ebendiesem Park spazieren gehen, so dass er komfortabel dem Geständnis der geliebten Frau auf der anderen Seite einer wohlgestutzten Hecke lauschen kann. 34 (Auch anderweitig erlaubt die Re-Situierung des aveu im öffentlichen Raum die Einführung einer sozialen und ethischen Zusatzdimension: Das Gespräch der Eheleute stört ein offenkundig drogensüchtiger junger Mann, auf dessen wenig überzeugendes Bettel-Narrativ M. und Mme de Clèves signifikant unterschiedlich reagieren - Catherine mit Empathie, ihr Ehemann mit Verachtung und einem übertrieben großzügigen Almosen, mit dem er den lästigen Eindringling möglichst rasch wieder loszuwerden versucht. 35 ) So getreu Oliveira ansonsten den aveu reinszeniert, so konsequent eliminiert, ver- und entfremdet er Momente der Begegnung, der Annäherung zwischen seiner Heldin und ihrem postmodernen Nemours. Zwischen Mme de Clèves und Abrunhosa werden im ganzen Film kaum ein paar Worte gewechselt; der klärende Dialog rund um den - hier doppelt verlorenen, da einfach gestrichenen - Liebesbrief findet ebenso wenig statt wie dessen gemeinsame réécriture. Verzichtet wird auch auf die finale Aussprache der beiden: Diese Princesse legt ihren zweiten großen aveu - zugleich Liebesgeständnis und Abschied - gegenüber Nemours niemals ab; jene Schlüsselkonversation, in der sie das konfliktuelle Verhältnis zwischen passion, devoir und repos sowie ihre eigenen Zukunftsoptionen reflektiert, führt Catherine nicht mit dem ihr nach wie vor fremden Abrunhosa, sondern mit ihrer klösterlichen Vertrauten. Plastisch wird die Fremdheit, die Non-Kommunikation, das ewige Sich-Verfehlen zwischen diesen Figuren, die einander auf Distanz und in fast völliger Unkenntnis der Person bzw. Persönlichkeit des jeweils anderen mit potentiell verheerender Leidenschaft ‚lieben‘ (Passion gerät hier zur Projektion in Reinkultur), auch auf filmtechnischer Ebene umgesetzt. Auf den 34 Nach dem Tod ihres Mannes sucht Mme de Clèves den Ort des aveu, Schauplatz ihres ‚Verbrechens‘ aus allzu großer Tugend, erneut auf, trifft dort wiederum auf Abrunhosa - und ergreift die Flucht: Die Szenerien des aveu und der verfehlten Begegnung der verwitweten Princesse mit Nemours in den Gärten vor der Stadt werden hier fusioniert. 35 Vgl. zu dieser Szene auch Brink 2009: 122. <?page no="535"?> Literatur auf der Leinwand und théâtre filmé 535 Spuren Lafayettes inszeniert Oliveira im Medium Film ein abgründiges Spiel der Blicke, „un jeu merveilleusement sophistiqué d’enchâssement de regards“; 36 in bewusstem Kontrast zum Text Lafayettes wird freilich die Reziprozität vor allem zwischen den beiden Protagonisten jener fatalen Passion gezielt gestört: „De scène en scène, à grands renforts de miroirs, de déplacements, de ruptures syntaxiques dans le montage, Oliveira organise un jeu d’évitement des regards. On peut ainsi contempler le film simplement accroché aux yeux de ses protagonistes et s’amuser sans fin de leurs chassés-croisés. Le champ-contrechamp, figure élémentaire du raccord sur le regard, est proscrit.“ 37 In diesem Punkt spiegelt der Regisseur die Strategie seiner Heldin, die ihrerseits wiederholt - das Motiv wird durch den ganzen Film fortgesponnen - den Blickkontakt abbricht, sich auch dem visuellen Austausch mit Abrunhosa/ Nemours systematisch entzieht. 38 Sind es in Lafayettes Roman mit seiner „guerre perpétuelle de regards interdits et de regards dérobés“ 39 immer wieder unwillkürlich vielsagende Blicke, die von Liebe künden und diese weiter gedeihen lassen, so verweigert Oliveira seinen Figuren auch diese subtile amouröse Kommunikation. Abrunhosa sieht nicht, dass Catherine ihn beim - hier in ‚Coulommiers‘ verorteten - Diebstahl ihres Porträts beobachtet, womit im Gegensatz zum Text Lafayettes ein zentrales Moment der - auf Seiten der Princesse (halb) unfreiwilligen - Komplizenschaft abhandenkommt. Ebenso wenig wird er Zeuge ihrer heftigen, nur durch gute Erziehung einigermaßen abgefederten emotionalen Reaktion auf seinen Unfall, von dem Catherine - im Unterschied zur Heldin Lafayettes, die gemeinsam mit der restlichen Hofgesellschaft selbstverständlich live dem königlichen Wettkampf beiwohnt - erst nachträglich aus den Fernsehnachrichten erfährt (der TV-Bildschirm ist dabei für die Filmzuschauer nicht sichtbar: die ganze Szene konstruiert eine raffinierte chiastische Struktur samt medialer mise en abyme); dies in Anwesenheit ihres Ehemannes und eines zwar befreundeten, doch momentan befremdeten portugiesischen Ehepaars. 40 Vor dem Hintergrund dieser visuellen Versteck- und Verwirrspiele, aber auch der Quasi- Absenz verbaler Kommunikation zwischen den Protagonisten gewinnt die ‚Sprache‘ der Körper und Gesichter besonderes Gewicht. Von Szene zu Szene prägen den Film - nicht umsonst auch als „une réponse inattendue à Eyes Wide Shut“ 41 interpretiert - die in Verwunderung, Schrecken oder flüchtiger Seligkeit weit geöffneten dunklen Augen Chiara 36 Lalanne 1999. 37 Ibid. Vgl. dazu auch Segarra 2004. 38 So in einer Szene, da Mme de Clèves, bereits verwitwet, aus dem Fenster ihrer Pariser Stadtwohnung unvermittelt Abrunhosa erblickt, zunächst auf der Straßenseite gegenüber, darauf im Fenster der Wohnung vis-à-vis, in der sich jener - auf den Spuren seines Lafayette’schen Vorgängers - eingemietet hat; für einen Moment finden sich die beiden Figuren, in den jeweiligen Fensterrahmen zu Porträts ihrer selbst erstarrt, einander gegenüber, bevor die Protagonistin symbolisch den Vorhang zuzieht (auch das folgende beharrliche Läuten des Telefons - diesem neuen Nemours stehen modernisierte kommunikationstechnische Stalking-Methoden zu Gebote - wird konsequent ignoriert). 39 Rousset 1976: 26. 40 Wenig später stellt M. de Clèves seine Frau wegen dieses verräterischen Fauxpas zur Rede; auch François de Guise als eifersüchtiger Beobachter tritt hier zeitversetzt auf den Plan, als er Catherine bei ihrem spontanen - und schon im Foyer an der Begegnung mit Bekannten scheiternden - Versuch, Abrunhosa im Krankenhaus zu sehen, ertappt. 41 Lalanne 1999. <?page no="536"?> 536 Manoel de Oliveiras La Lettre Mastroiannis, Miniatur-Projektionsflächen einer paradoxen Passionsgeschichte. 42 Damit korrespondieren wiederum leitmotivisch die gleichfalls omnipräsenten dunklen Sonnenbrillen Abrunhosas, die dieser - in metaleptischer Treue gegenüber dem Markenzeichen seines extradiegetischen Doppelgängers 43 - den ganzen Film hindurch trägt. Dieser Neo-Nemours - mit seinem hinter der obligatorischen Brille verborgenen Blick, seiner hochgeschlossenen Kleidung, seinen diversen extravaganten Kopfbedeckungen, unter denen bei Gelegenheit ein fast kahl geschorener Kopf zum Vorschein kommt - fungiert als uneinsehbare Reflektor- Figur, die, selbst völlig opak, ihrer Umgebung deren eigene Phantasmen, Ängste und Sehnsüchte offenbart; wiederholt - und höchst symptomatisch - erschrickt Mme de Clèves angesichts dieses enigmatischen Verehrers, der sich im Vergleich zu seinem literarischen Vorgänger zwar weniger aggressiv-voyeuristisch gebärdet, aber doch durch seine bloße Gegenwart allerlei unbequeme ‚Wahrheiten‘ allzu klar widerspiegelt. Es ist Abrunhosa, dessen erster Auftritt vor den Damen Chartres und Clèves ein unüberhörbar doppelbödiges konversationelles Spiel um eine schillernde sincérité - Schlüsselbegriff der Princesse - provoziert: Der Austausch trivialer Höflichkeitsfloskeln gerät zur improvisierten Meditation über zwischenmenschliche Authentizität und persönliche Wahrhaftigkeit, als Abrunhosa und Mme de Chartres - deren situationsadäquates Kompliment ersterer nicht so einfach akzeptiert - in Anwesenheit der Protagonistin in einem bedeutungsschweren Mini-Dialog mit dem zusehends aufgeladenen Adverb „sincèrement“ jonglieren (und dabei den kommunikativen Code des jeweils anderen ausloten). 44 In Anbetracht seiner sonstigen Szenen- und Detailtreue ist es bemerkenswert, dass Oliveira seinen Film - signifikante Akzentverschiebung - nicht etwa mit ‚Princesse‘ Catherine, sondern mit dieser seiner modernen Nemours-Figur eröffnet und schließt: Anfang wie Ende der Lettre - gleichermaßen metafilmische Hochspannungszonen, in denen sich der Übergang von einer Realitätsebene auf die andere vollzieht - bleiben dem doppelten Abrunhosa im Spagat zwischen extra- und intradiegetischer Welt vorbehalten. Der Film setzt mit einem Blick hinter die Kulissen der bevorstehenden Performance ein - und konkret auf das Spiegelbild Abrunhosas (nicht zufällig wird dieses zum Einstieg in ein postmodernisiertes Spiel der apparences noch vor der Figur selbst fokussiert), der in der Garderobe auf seine entrée en scène - auf der Konzertbühne und im Film - wartet, symbolisch - und stellvertretend auch für die anderen Akteure - seine rituelle Maskerade (Sonnenbrille und Hut) anlegt, bevor er sich auf die Bühne begibt: Aus Abrunhosa wird ‚Abrunhosa‘, das doppelte Spektakel kann beginnen. Erst nach dieser metaleptischen Ouvertüre - die auch mit musikalischen Mitteln operiert: subtil gleitet der den Vorspann untermalende Abrunhosa-Song mit dem Konzert in die filmische Diegese hinüber - wird die Zuschauerin in den aristokratischen Mikrokosmos der Damen de Chartres und des M. de Clèves eingeführt. Am offenen Schluss der Lettre steht wiederum ein Ausschnitt aus einer Bühnenperformance Abrunhosas, der seine Passionsgeschichte auf künstlerischer Meta-Ebene fortschreibt (bzw. 42 Zu diesem für Oliveiras Werk charakteristischen, vom Regisseur selbst kommentierten Einsatz des „camera eye“ und der dadurch provozierten „sehr spezifischen Dynamik von Bild und Zuschauer“, in der „mehr noch als der Blick das Auge potenziert“ wird, vgl. Gago 2009: 98, 102. 43 Vgl. etwa das Porträt Pedro Abrunhosas von Henrique Matos (2008). URL: https: / / commons.wiki media.org/ wiki/ File: Pedro_Abrunhosa_Henrique_Matos.jpg. 44 La Lettre: 18: 18-18: 43. <?page no="537"?> Literatur auf der Leinwand und théâtre filmé 537 -singt). In ihrer spezifischen, von der ‚eigentlichen‘ Handlung klar differenzierten Ästhetik stiften diese beiden Konzertszenen den Rahmen für das Geschehen dazwischen, in (meta-) mediale Parenthese gesetzter filmischer Lafayette-Hypertext. Wie die Augen Mastroiannis fungieren auch die Sonnenbrillen Abrunhosas, Matrix gleichsam des ganzen Werkes, als en miniature verdoppelte kleine Leinwand, auf die das Narrativ dieser neuen Princesse projiziert wird; es scheint nicht allzu abwegig, die Figur Abrunhosa - diegetischer Grenz- und soziokultureller Fremdgänger - auch als leicht selbstironische Repräsentanz des Regisseurs selbst zu lesen, der sich kühn - und als erster Nicht-Franzose - an die kinematografische ‚Reflexion‘ eines der Monumente der französischen Literarhistorie wagt. Allerlei Lettres: Metatextualität und Metamedialität La Lettre ist, mit einem Wort, ein hochgradig selbstreflexiver Meta-Film, 45 der konstant mit seiner eigenen Medialität - zwischen Kino, Literatur, Theater, Musik und Malerei - sowie, angefangen mit dem Titel, auch seiner konkreten wie metaphorischen Textualität spielt. Ähnlich wie im Fall mancher literarischer réécritures der Princesse (dies gilt für Raymond Radiguet wie für Marie Darrieussecq) spiegelt die vorsichtige Emanzipation vom Prätext sich auch hier in der Benennung des Werkes wider: An die Stelle des ersten Arbeitstitels La Princesse de Clèves tritt schließlich das auf den ersten Blick enigmatische La Lettre, das die literarische Quelle nicht mehr explizit zitiert bzw. sogar ‚maskiert‘, 46 zugleich freilich den (meta-)textuellen Aspekt in den Vordergrund rückt - und die bereits eingeweihte Film- ‚Leserin‘ strategisch auf eine falsche Fährte lockt (der titelgebende Brief ist nicht jene verlorene lettre galante, die in Lafayettes Roman für allerlei Turbulenzen sorgt). 47 Als Leserin gefragt und gefordert ist die Betrachterin der Lettre aber auch in einem buchstäblichen Sinn: Zentrales Strukturelement des Films sind die zahlreichen, ästhetisch betont minimalistisch gestalteten schwarz-weißen Schrift-Inserts, mit denen Oliveira auf die Frühzeit des Kinos (und seine eigenen kinematografischen Anfänge) zurückverweist. Pragmatische Konvention der Stummfilmära, wird diese Technik in der Epoche des Tonfilms - und erst recht im hochgerüsteten Kino der Jahrtausendwende - zum stark markierten ästhetischen Verfahren, per se bereits Faktor der Metaisierung; mit jedem Wechsel zwischen Szenenbild und eingeblendeter Textsequenz wird das Medium als solches aufs Neue ‚ausgestellt‘ und ein gezielter Illusionsbruch vollzogen. Werden derartige Schrift-Tafeln in manchen postmodernen 45 Insofern ist Oster nicht recht zu geben, wenn sie in ihrer Analyse von La Lettre und La Fidélité bemerkt, Żuławski sei unter den Princesse de Clèves-Adapteuren „le premier à mettre l’accent sur la différence de médium“ und „le seul à avoir réfléchi et mis en relief la différence des médias qui permet à un réalisateur de cinéma du XX e siècle de répondre à l’écriture de la romancière du XVII e siècle“ (2009: 134f.); die - mit verschiedenen filmischen Mitteln eingeführte - metamediale Dimension verbindet vielmehr die Versionen Oliveiras und Żuławskis mit ihrer ansonsten völlig anders angelegten Ästhetik. „Wie in einer Art Labor untersucht Oliveira die speziellen intermedialen Bezüge der unterschiedlichsten Medien und Kunstformen […]. Intermedialität stellt für ihn ein Experimentierfeld des Films dar, wobei intermedial hier heißt, dass die spezifischen medialen Bedingungen und Möglichkeiten des anderen Mediums in Bezug zu denen des eigenen gesetzt werden“, konstatiert auch Gago zu Oliveiras Werk, das sich insgesamt durch sein „Hyperbewusstsein von der Konstruiertheit des Films“ auszeichnet (2009: 95, 99). 46 Vgl. Oster 2009: 132. 47 Vgl. zu den Implikationen des Titels auch Segarra 2004. <?page no="538"?> 538 Manoel de Oliveiras La Lettre Klassikerverfilmungen zur Integration von Zitaten aus dem literarischen Prätext genützt, 48 so entscheidet sich Oliveira für eine andere Strategie. Auch wenn er programmatisch nach „une langue actuelle mais dépourvue de tout idiotisme contemporain“ 49 strebt - die Dialoge, zunächst in der Auseinandersetzung mit Lafayettes Text auf Portugiesisch verfasst, dann von Jacques Parsi ins Französische (zurück-)übertragen, machen einen gleich mehrfachen sprachlichen und kulturellen Translationsprozess mit -, rekurriert er in etlichen Schlüsselszenen (Agonie der Mme de Chartres, scène de l’aveu) doch auf quasi wörtliche Übernahmen aus der Princesse. So wird der Dialog der aveu-Szene nur insofern minimal modernisiert, als Oliveira das höfisch-höfliche ‚Sie‘ der Eheleute Clèves durch ein auch im hier repräsentierten aristokratischen Milieu mittlerweile plausibleres ‚Du‘ ersetzt: „Eh bien, je vais te faire un aveu qu’on n’a jamais fait à son mari […].“ 50 Diese Konzession an moderne Kommunikationsgewohnheiten findet sich an anderer Stelle wieder: Mme de Chartres duzt ihre Tochter, auch wenn sie ansonsten (so auf ihrem Krankenbzw. bald Sterbebett) weitgehend textgetreu - abgesehen von punktueller grammatikalischer Aktualisierung und subtiler Akzentuierung des religiösen Moments via biblische Metaphorik („chemins“ statt „partis […] rudes et […] difficiles“) - aus Lafayette zitiert: […] je te vois au bord du précipice. Je sais que tu dois faire des efforts d’une extrême violence… Songe à ce que tu dois à ton mari, songe à ce que tu te dois à toi-même. […] Aie de la force et du courage. Choisis les chemins qui te semblent longs au premier abord, les plus rudes et les plus difficiles; ils seront plus doux par la suite que les malheurs d’une aventure amoureuse avec Pedro Abrunhosa, qui t’oublierait bien vite. Si quelque chose doit perturber la sérénité que j’espère en sortant de ce monde, c’est de te voir sombrer comme les autres femmes… Si ce malheur devait t’arriver, je reçois la mort avec joie pour ne pas en être le témoin. 51 48 So etwa in Rainer Werner Fassbinders Fontane Effi Briest (1974); vgl. Villmar-Doebeling 2012: 156f. 49 Frodon 1999. 50 La Lettre: 58: 05-58: 07. Bei Żuławski provoziert ebendieses Detail - Schlüsselmoment einer konfliktuellen ehelichen Kommunikation - eine kleine metalinguistische Diskussion auf diegetischer Ebene. Marie Darrieussecq spinnt in Clèves ihrerseits dieses Motiv weiter fort: „Il faudrait lui dire tu pour que ce soit plus vache“ (2011b: 195), reflektiert ihre aufmüpfige jugendliche Protagonistin im Wortgefecht mit ihrem (Ex-)Babysitter; rasch genug verschiebt sich die emotionale und konversationelle Dynamik: „Tu vas mettre combien de temps à me tutoyer? “, erkundigt sich der verliebte Bihotz vorwurfsvoll (ibid.: 310). 51 La Lettre: 26: 22-27: 48; vgl. die korrespondierende Passage bei Lafayette: „[…] vous êtes sur le bord du précipice: il faut de grands efforts et de grandes violences pour vous retenir. Songez ce que vous devez à votre mari; songez ce que vous vous devez à vous-même […]. Ayez de la force et du courage, ma fille […]; ne craignez point de prendre des partis trop rudes et trop difficiles, quelque affreux qu’ils vous paraissent d’abord, ils seront plus doux dans les suites, que les malheurs d’une galanterie. […] si quelque chose était capable de troubler le bonheur que j’espère en sortant de ce monde, ce serait de vous voir tomber comme les autres femmes; mais si ce malheur vous doit arriver, je reçois la mort avec joie, pour n’en être pas le témoin“ (2014c: 366). Es ist nicht zufällig der Ehemann, schon bei Lafayette nach dem Tod Mme de Chartres’ deren Substitut als Mentor und moralische Instanz, der später an diese jansenistisch gefärbte Metaphorik des ‚Abgrunds‘ (vgl. MacKenzie 1998: 41f.) anknüpft und diese im Sinne der für Oliveiras Film insgesamt charakteristischen sozialen Kontextualisierung individueller ethischer Problematiken erweitert, wenn er angesichts der aktuellen TV-Nachrichten kommentiert: „Le mal n’est pas d’être pessimiste. Le mal, c’est d’avoir des raisons de l’être. […] Nous marchons vers l’abîme“ (La Lettre: 44: 35-44: 38, 47: 16). <?page no="539"?> Literatur auf der Leinwand und théâtre filmé 539 Die Text-Inserts dagegen sind in betont ‚neutral‘ stilisierter, jedoch moderner Sprache gehalten - und bilden nicht nur den medialen Rahmen für die jeweils dazwischen ausagierten Szenen, sondern konstituieren, en suite gelesen, auch ein Mini-Prosa-Resümee der Handlung. Mittels Schrift-Inserts informiert der Film die Zuschauerin lapidar über Eheschließung und (kurze) Flitterwochen der Protagonistin („Catherine de Chartres resta indifférente à la passion de François de Guise. Elle épousa Louis de Clèves“; 52 „La lune de miel fut brève et, moins d’un mois plus tard, le couple s’installait à Paris“ 53 ), über die Krankheit der Mme de Chartres, über den New Yorker Erfolg Abrunhosas etc.; beschränken manche Inserts sich auf die raumzeitliche Kontextualisierung der folgenden scène („Quelques jours plus tard“ 54 etc.), so erzählen andere in extrem verknappter Form kleine ‚Geschichten‘: „Dès son retour, Abrunhosa voulut avoir des nouvelles de Mme de Clèves, mais celle-ci avait disparu et personne ne savait plus rien d’elle. Il se rendit alors chez Mme da Silva.“ 55 Dieser Film, der die lettre(s) schon im Titel führt - und in dieser sorgfältig orchestrierten Interaktion zwischen Bild und Text zur Reflexion über einige prinzipielle theoretische Fragestellungen der Analyse der Literatur- und spezifischer Klassikerverfilmung zwischen Literatur- und Filmwissenschaft einlädt -, ist auch als poetologische Parabel lesbar, nicht ‚nur‘ Adaption der Princesse selbst, sondern auch Kommentar zu und Dialog mit deren langer Rezeptionsgeschichte. Als aufschlussreich erweist sich die ‚Lektüre‘ von Oliveiras Film durch das Prisma der kreativen Kritik Valincours: Einige ‚Korrekturen‘ zu Lafayettes Text, die dieser in seinen Lettres vorschlägt, werden in dieser postmodernen Lettre tatsächlich realisiert. So schreitet Oliveira konsequent zur narrativen ‚Strukturbereinigung‘ und fast vollständigen Elimination der bei Valincour als überflüssig inkriminierten Digressionen des Romans. 56 Eine frappante - und nicht einfach mit den Erfordernissen erzählerischer Verknappung im Medium Film 57 zu erklärende - Korrespondenz zu Valincour ergibt sich bereits in der Umsetzung jener Szene, da Lafayettes Mlle de Chartres, noch vor ihrem offiziellen Debüt bei Hof, allein einen Juwelierladen aufsucht - Schauplatz eines asymmetrischen coup de foudre, der den Prince de Clèves angesichts der schönen Unbekannten trifft. Ebendiese Szene wird bei Valincour im Rahmen eines kleinen metatextuellen Rollenspiels als mehrfacher Verstoß gegen die Regeln 52 Ibid.: 15: 48-15: 55. 53 Ibid.: 15: 56-16: 01. 54 Ibid.: 55: 58-56: 00. 55 Ibid.: 01: 24: 40-01: 24: 50. 56 Entgegen der Feststellung Brinks, besagte Digressionen seien sämtlich gestrichen worden („Les narrations intercalées dans le roman ne sont pas reprises dans le film d’Oliveira“; 2009: 120), erwähnt M. de Clèves seiner Frau gegenüber sehr wohl knapp die Episode einer modernen Mme de Tournon; wie der Prince Lafayettes erklärt auch er ‚die Frauen‘ für rätselhafte, vage suspekte Wesen („Les femmes sont tellement incompréhensibles“) - der Misogynie nicht unverdächtiges Kollektivurteil, von dem er lediglich seine eigene tugendhafte Gefährtin ausnimmt (La Lettre: 53: 00-53: 41, vgl. auch wiederum 56: 52-57: 00). Eliminiert werden dagegen die Geschichte der Diane de Poitiers und jene Anne Boleyns, aber auch die - bei Delannoy beibehaltene, bei Honoré einige Jahre später signifikant verqueerte - Intrige rund um den Vidame de Chartres. 57 Vgl. zur Ökonomie des Films im theoretischen Kontext etwa Albersmeier 2009a. Im Vergleich zum Roman (selbst einem ‚dünnen‘ Roman wie der Princesse) stellt ein Film (selbst ein mit 107 Minuten Spielzeit relativ langer Film wie La Lettre) unweigerlich immer noch eine stark gestraffte Version dar. <?page no="540"?> 540 Manoel de Oliveiras La Lettre der bienséance, der vraisemblance und der Textökonomie kritisiert 58 - und bei Oliveira im Sinne Valincours adaptiert: Seine Heldin macht sich gehorsam auf Initiative und in Begleitung ihrer Mutter zum Juwelenkauf bei Cartier auf. Es ist Mme de Chartres, Sponsorin und strenge Geschmacksrichterin, die ein Schmuckstück für ihre Tochter wählt, wiederum peinlich darauf bedacht, exzessiven Prunk zu vermeiden („Pour ma fille, je souhaiterais quelque chose d’un petit peu plus simple“ 59 ). Protagonistin Catherine selbst bleibt in dieser Szene bezeichnenderweise völlig stumm; wortlos probiert sie vor einem Spiegel das von der Mutter für adäquat befundene Collier an, wortlos nickt sie auf die - kontextuell doppeldeutige, hat sie doch soeben auch M. de Clèves als noch anonymen Bewunderer im Hintergrund flüchtig begutachtet - Frage „Il te plaît? “. 60 Das großzügige Geschenk - intendiert als Trost und Aufmunterung für die nach ihren amourösen mésaventures etwas deprimierte junge Frau, zugleich Symbol massiver (ästhetischer, finanzieller, sozialer) Fremdbestimmung - illustriert plastisch die Dynamik dieser heiklen, radikal unzeitgemäßen Mutter/ Tochter-Relation. „Clèves, the model husband appropriate for the princess, will be selected by Mme de Chartres to inhibit her daughter’s self-expression“, konstatiert Harriet Stone in ihrer inauguralen Studie zu Lafayettes Text. 61 Mit sanfter, aber unerbittlicher Autorität sucht Oliveiras Mme de Chartres nicht nur den passenden Schmuck, sondern kurz darauf auch den passenden Ehemann für ihre erwachsene Tochter aus; nicht umsonst trägt die junge Frau bei der ersten offiziellen Vorstellung der zukünftigen Eheleute das von der Mutter geschenkte Collier - luxuriöse Fessel - um den Hals („Comment peut-elle être aussi triste avec un si beau bijou autour du cou? “, fragt die Vertraute und Verbündete der Mme de Chartres - und empfiehlt ihr unmittelbar darauf den sich nähernden M. de Clèves als potentiellen „très bon mari pour ta fille“ 62 ). Anders als sein Lafayette’scher Vorgänger, der erst bei Hof über die Identität jener „belle personne qu’il ne connaissait point“ 63 aufgeklärt wird, erkundigt sich Oliveiras M. de Clèves 58 „Je n’ai vu personne qui n’ait été surpris de cette aventure du joaillier: mais chacun en raisonne à sa manière“: In seiner Kritik der betreffenden Passage lässt Valincour sowohl die „femmes prudes“ als auch die „femmes habiles“ zu Wort kommen. Machen erstere Mme de Chartres ihren geradezu sträflichen Leichtsinn zum Vorwurf, ihre Tochter allein „dans un lieu où l’on ne la connaissait point, et où elle ne connaissait personne“ zu schicken, dies auch noch ohne jeglichen halbwegs triftigen Grund („Pourquoi ne pas aller avec elle? Quelle affaire si importante l’en empêchait? Du moins l’auteur lui devait donner une légère indisposition pour ce jour-là“), so wird aus der Sicht der „femmes habiles“ die Unwahrscheinlichkeit der Szene aus pragmatischer Perspektive beanstandet. Nicht nur moralisch, sondern auch sozio-ästhetisch handelt Mme de Chartres völlig unverantwortlich: Wer sei jemals auf die abstruse Idee verfallen, ein sechzehnjähriges Mädchen mit einer so delikaten Aufgabe wie der adäquaten Zusammenstellung ihrer persönlichen Juwelen-Kollektion zu betrauen? „[…] tout ce que l’on peut faire à cet âge-là, c’est de choisir des rubans et des garnitures“; selbst eine erfahrene Dame ziehe in einer derartigen Angelegenheit alle Freundinnen und Bekannten zu Rate, kurz: „cela n’est pas vraisemblable“ (2001: 35f.). In eigenem Namen kritisiert Valincour die Juweliers-Szene - als „aventure extraordinaire“ für seinen Geschmack zu konstruiert und insofern zu ‚kostspielig‘ - unter dem Gesichtspunkt der narrativen Ökonomie: „Il m’a paru que cela était trop concerté; et que cela ressemblait trop à une entrevue méditée. Enfin je pense que, la dévotion à part, j’aurais presque autant aimé les faire trouver à l’église que dans cette maison, où il semble que l’auteur les ait menés l’une et l’autre par la main“ (ibid.: 36). 59 La Lettre: 03: 35-03: 39. 60 Ibid.: 04: 26. 61 Stone 1988: 249. 62 La Lettre: 05: 28-05: 31, 07: 39-07: 40. 63 Lafayette 2014c: 338. <?page no="541"?> Literatur auf der Leinwand und théâtre filmé 541 nicht nur direkt beim Juwelier diskret nach den beiden fremden Damen (und erhält sogleich eine auch in Sachen Sozialprestige befriedigende Auskunft), sondern wird überdies selbst mit einem konkreten - und überdeterminierten - Motiv für seinen Abstecher zu Cartier ausgestattet. Die Symbolik der diversen eleganten Herrenuhren, die der Protagonist sich ebendort vorführen lässt, ist klar genug: Mit dem auch hier einseitigen coup de foudre beginnt in dieser Szene ein fataler Countdown, nur allzu bald wird die Lebenszeit des unglücklich verliebten Ehemanns abgelaufen sein. 64 Oliveira schickt seine Heldin nicht nur unter mütterlichem Begleitschutz zum Juwelier, sondern stellt ihr auch eine aus der klassischen Tradition wohlvertraute confidente - deren Elimination bei Lafayette samt Verzicht auf die damit verbundenen narrativen „credentials“ 65 in Valincours Lettres moniert und nachträglich hypothetisch ‚repariert‘ wird 66 - zur Seite; mit der (Wieder-)Einführung einer derartigen Funktionsfigur - hier in Gestalt einer Freundin Catherines, junge Nonne im zu Kinozwecken reanimierten Kloster von Port-Royal - wird, poetologisch betrachtet, in diesem postmodernen Film ein innovativer Zug (bzw. in der Wahrnehmung kritischer Zeitgenossen eine weitere invraisemblance) der Princesse rückgängig gemacht. 67 Neben Catherine werden punktuell auch andere Protagonisten mit derartigen confidents versehen: Auch der ansonsten recht schweigsame Abrunhosa wendet sich nach dem Verschwinden Mme de Clèves’ an die gemeinsame portugiesische Bekannte, die bei der Re-Etablierung des Kontakts behilflich sein soll (und insofern in die Rolle des Vidame de Chartres bei Lafayette schlüpft). Nicht zu vernachlässigen ist jedoch auch das kontinuierliche Spiel Oliveiras - unter Anknüpfung an die entsprechende Motivik bei Lafayette - mit Referenzen aus dem Bereich der bildenden Kunst bzw. (medientechnisch aktualisiert) der Fotografie. Auch in La Lettre zirkulieren allerlei symbolisch aufgeladene Bilder - samt den dazugehörigen Szenen: Wird der Porträt- 64 Auch Żuławski führt bereits in die Szene der Erstbegegnung zwischen seiner Princesse und Clève [sic], hier in einen Blumenladen verlagert, ein Memento mori-Motiv ein: Die Protagonistin verwechselt den Brautstrauß, den Clève für seine Verlobung abzuholen erschienen ist, mit einem Begräbnisbouquet - und wird damit recht behalten. 65 Kamuf 1987: 68. 66 Valincour wirft die pragmatische - bzw. pragmatisch getarnte - Frage nach der Ökonomie der Information in der Princesse auf: Woher bezieht der Autor resp. der Erzähler des Romans sein Wissen über die Gefühls- und Gedankenwelt seiner Protagonisten, denen doch die bewährten confident(e)s als Vermittlungsinstanz fehlen? „Puisque l’auteur voulait imiter les grands romans dans les aventures extraordinaires, il devait aussi les imiter dans le reste, et donner à chacun de ses héros un confident de qui l’on eût pu apprendre leurs aventures secrètes“ (2001: 73). Etwas unbeholfen, aber bezeichnend fällt hier die Entgegnung Charnes’ aus - Nemours wie die Princesse hätten wohl jeweils ihre ‚Memoiren‘ geschrieben, aus denen der Autor der Princesse seine intime Kenntnis der Figuren schöpft: „Le Critique, qui a tant lu Brantôme, n’ignore pas que M. de Nemours était un homme bien écrivant, autant en Vers qu’en Prose, et qui sans difficulté peut avoir laissé de bons Mémoires, et Mme de Clèves eut assez de loisir de rêver à ses aventures dans sa retraite, et assez de penchant à penser à celui qui les avait causées, pour avoir voulu les écrire de son côté. C’est sur ces Mémoires, sans doute, que l’Auteur de La Princesse de Clèves a travaillé“ (2014: 653). In Hepps Interpretation (1993) wird Lafayette selbst, deren Haltung von prinzipieller „connivence“ gegenüber ihrer Heldin geprägt erscheint, zu deren „confidente“ (zit. bei Esmein-Sarrazin 2014c: 1310). 67 Es ist bemerkenswert, wie teilweise auch die zeitgenössische Filmkritik (so jene des Ciné-Club de Caen) die Einführung dieser Figur geradezu als strukturelle Notwendigkeit argumentiert (vgl. „Manoel de Oliveira. La Lettre“, art. cit.). <?page no="542"?> 542 Manoel de Oliveiras La Lettre diebstahl durch Abrunhosa-Nemours ins Landhaus der Chartres/ Clèves verlagert, so wird jene andere Schlüsselszene seines nächtlichen Besuchs im Park von Coulommiers - wie bereits die scène de l’aveu - an einem neutralen öffentlichen Ort rekontextualisiert. Mit seine Annäherung verratendem und transparent die berüchtigte „canne des Indes“ zitierendem Krückstock angetan (Lafayettes Nemours wird seine sich im Fenster verheddernde „écharpe“ zum Verhängnis), 68 überrascht der rekonvaleszente Abrunhosa Catherine in den Räumlichkeiten einer ihm gewidmeten Ausstellung, wo sie vor einer Vielfalt von Fotografien des begehrten Mannes schuldbewusst vor sich hin träumt - und beim Anblick des realen Geliebten, der sie noch zu verweilen anfleht, sofort die Flucht ergreift, schreckhafter beinahe noch als ihre Vorgängerin bei Lafayette, wird das transgressiv-voyeuristische Moment des plötzlichen Auftauchens Abrunhosas/ Nemours’ hier gegenüber dem Prätext doch deutlich zurückgenommen: Der Protagonist überrumpelt die geliebte Frau nicht als nächtlicher Eindringling in der Intimität des Pavillons von Coulommiers, sondern betritt - gezähmte Version des galanten Duc - lediglich eine allgemein zugängliche Exposition. Mit bemerkenswerter Präzision übersetzt Oliveira die komplexe Dynamik der Bilderwelten Lafayettes ins Medium des Films: Auch hier bleibt der gender-spezifische Kontrast zwischen passiv-privatem weiblichem und aktiv-öffentlichem männlichem Bildnis aufrecht. 69 Abrunhosa entwendet im Landhaus aus doppelt intimem ‚Rahmen‘ eine dem Ehemann gehörende Porträtfotografie, die das Antlitz Catherines - dekontextualisiertes Objekt amouröser Schaulust - in Großaufnahme zeigt; Catherine dagegen besichtigt im Ambiente jener Galerie die Dokumentation der modernisierten Heldentaten des Geliebten (aus Nemours’ Partizipation an der Belagerung von Metz wird die Performance des Popstars, ihrerseits ‚kämpferische‘ Leistung), dessen Bild sie im Gegensatz zur Protagonistin Lafayettes nicht in ihr privates Lebensumfeld zu schmuggeln wagt (auch in diesem Punkt wird die vergrößerte Distanz zwischen den sozial ungleichen Akteuren deutlich). Handelt es sich schon bei jenem Gemälde, das Lafayettes Princesse in der nächtlichen Einsamkeit von Coulommiers betrachtet, um eine Kopie - höfisches Zirkulationsobjekt, dessen Original sich im Besitz Diane de Poitiers’ befindet -, so wirft Oliveiras fotografisches Kaleidoskop, das Catherine eine ganze Serie unterschiedlicher Facetten des Geliebten - medientechnisch multiplizierte populärkulturelle Projektionsfigur - bietet, erst recht die Frage nach der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks (und des repräsentierten Subjekts) auf. Über das diegetische Spiel der Bilder hinaus haben etliche Szenen des Films als solche quasi pikturalen Charakter. So erinnert die sehr lange statische Szene, in der Catherines Vertraute im Chiaroscuro ihrer abendlichen Klosterzelle die lettre der verschwundenen Heldin vorliest, frappant an die Ästhetik eines Georges de la Tour; mehrere Minuten Filmzeit verstreichen bei abgesehen von einem einzigen Einstellungswechsel durchgehend fixer Kamera, 70 bis die Nonne, den Zuschauer bzw. Zuhörer erlösend, den Brief faltet, das Licht - damit 68 Vgl. Lafayette 2014c: 451f. 69 Diese signifikante Opposition arbeitet Trzebiatowski heraus: „The portrait of the princess is private and individualistic, and it was painted for her husband. […] In contrast, the duke’s portrait is public, and Nemours is painted as part of a group. […] the princess gazes at a representation of his public persona, in a private space“ (1998: 588, zit. nach Léopold 2009: 135); in diesem Sinne wirkt der Blick Mme de Clèves’ auf das Bildnis Nemours’ weit weniger aggressiv-transgressiv als vice versa. 70 La Lettre: 01: 28: 53-01: 35: 40. Vgl. zu dieser Szene auch Brink 2009: 121. <?page no="543"?> Literatur auf der Leinwand und théâtre filmé 543 auch das improvisierte Gemälde - löscht und den zum Gottesdienst rufenden Glocken folgt. Diese Szene, die in ihrer meditativen Langsamkeit die Rezeptionsgewohnheiten eines zeitgenössischen Kinopublikums auf eine harte Probe stellt, treibt jene Anti-Mainstream-Ästhetik auf die Spitze, die Oliveira für sein Werk, explizit als „le contraire d’un cinéma commercial américain“ konzipiert, in Anspruch nimmt. 71 Über weite Strecken zitiert der Film mit seiner geradezu lustvoll ausgekosteten „lenteur du rythme“, seiner „narration déconstruite“, 72 seiner ausgeprägten Tendenz zu „des prises très longues, des images souvent sombres et figées dans des cadres somptueux mais sans vie“ unübersehbar die Nouvelle Vague. 73 Mit ihrer betont theaterhaften Stilisierung knüpft La Lettre - plastisches Beispiel für Oliveiras „théâtre filmé“ 74 - einerseits an die Rezeptionsgeschichte der Princesse (deren mehr oder minder ‚dramatischer‘ Charakter wie erläutert über die Jahrhunderte kontrovers diskutiert wurde), andererseits an eine traditionelle französische Ästhetik der theatralisierten Literaturverfilmung an; 75 literarhistorischer Kontext, französische Filmkultur und idiosynkratische Ästhetik des Regisseurs gehen hier eine produktive Synthese ein. Nicht nur mit jenen Schrift-Inserts, sondern auch mit dieser theatralischen Verfremdung - Strategie zugleich metamedialer Selbstreflexion - arbeitet Oliveira der filmischen Illusion konsequent entgegen; in diesem Sinne bezeichnet Brink die Lettre in Analogie zu Bertolt Brechts epischem Theater als „cinéma […] épique“ sui generis. 76 Auch abseits der offiziellen Performancebzw. Konzert-Szenen im Film bewegen sich die Figuren in einer Reihe durch besagte Schrift-Inserts gerahmter scènes durch einen strikt abgezirkelten (Bühnen-)Raum. Oliveira setzt auf zahlreiche fixe Frontalaufnahmen, prononciert ‚theatralische‘ Auf- und Abtritte; 77 dem entspricht der klassisch-deklamatorische Stil der Dialoge. Insgesamt handelt es sich bei La Lettre freilich um einen ziemlich ‚schweigsamen‘ Film; in sprechendem Gegensatz zu den Akteuren der nächsten zeitgenössischen Princesse-Adaptionen (dies gilt für Andrzej Żuławskis Medienimperium und erst recht die Schul-‚Höfe‘ Christophe Honorés und Régis Sauders) ist Oliveiras noblem Personal - wie dem enigmatischen Abrunhosa-Nemours - jegliche Geschwätzigkeit fremd. Wo so viel geschwiegen wird, zählt jedes Wort; neben Mimik und Körpersprache wird auch über ein anderes Medium kommuniziert - die Musik, die, diegetisch durch die Profession des doppelten ‚Abrunhosa‘, aber auch durch die mondänen Routinen des kulturaffinen Milieus der Chartres/ Clèves motiviert, in La Lettre eine strukturelle Schlüsselrolle spielt. Über Musik werden zwei gesellschaftliche Gegenwelten konstruiert: Auf die Eröffnung mit einem Konzert Abrunhosas samt vor Begeisterung tobenden Fans folgt ein abrupter Wechsel in einen quasi diametral entgegengesetzten musikalischen Kontext. Unversehens findet sich die Filmzuschauerin im vornehm gedämpften Ambiente eines klassischen Klavierkonzerts wieder, bei dem Maria Jo-o Pires - gleichfalls Darstellerin ‚ihrer selbst‘ - Schuberts Drei Klavierstücke D 946 darbietet; mit der asketischen 71 Frodon 1999. 72 Dubois 2013a. 73 Oster 2009: 133. 74 Vgl. Brink (2009: 120) sowie Gago (2009: hier insbes. 95ff.), die die ironische Äußerung einer Figur aus Oliveiras Claudel-basiertem Soulier de satin (1985) zitiert: „Kino, Theater; Theater, Kino: Es ist alles dasselbe“ (ibid.: 97). 75 Vgl. Albersmeier 1989: 24ff.; Albersmeier 2009b. 76 Brink 2009: 123. 77 Vgl. ibid. <?page no="544"?> 544 Manoel de Oliveiras La Lettre Eleganz der Interpretin korrespondiert der Habitus des distinguierten Publikums, das, nach rituellem Höflichkeitsaustausch mit streng kontrollierter Gestik und Mimik während des Konzerts zu hochkultureller Bewegungslosigkeit erstarrt, einen maximalen Kontrast zum vorangeschnittenen popmusikalischen Event bildet. Die Grenzüberschreitung zwischen diesen beiden Welten vollzieht sich in dem Moment, da Abrunhosa - trotz zurückgenommener Musik- und Körpersprache etwas skeptisch, wenngleich tendenziell wohlwollend beäugter ‚Außerirdischer‘ in diesem Milieu - sich zu einem Recital im Portugiesischen Kulturinstitut einfindet; im Rahmen dieses Konzerts - Ersatz für den Hofball bei Lafayette - wird die Erstbegegnung mit ‚Princesse‘ Catherine samt reziprokem coup de foudre verortet. An die Stelle des gemeinsamen Tanzes auf königlichen Befehl tritt die einseitige, spontan zum heimlichen Minnesang re-interpretierte musikalische Performance des Mannes, der Mme de Clèves als wohlerzogene Konzertbesucherin reglos auf ihrem Sitz beiwohnt. Ein weiteres Mal kommuniziert die zusehends verzückte junge Frau lediglich über ihren leuchtenden Blick, bis ein unwillkürlich strahlendes Lächeln ihr ganzes Antlitz erfasst; dies unter der misstrauischen Aufsicht ihrer im Gegensatz zum Text Lafayettes auch in dieser Schlüsselszene präsenten Mutter, die die plötzliche Metamorphose ihrer Tochter sogleich registriert und beim Small Talk nach dem Konzert mit eleganter Beiläufigkeit eine potentiell bedrohte gesellschaftliche Grenze befestigt: Mit ihrem einigermaßen ambivalenten Kompliment gegenüber Abrunhosa - seine Musik, wenn auch eigentlich nicht ‚ihr Stil‘, habe ihr sehr wohl gefallen - verweist Mme de Chartres alle Anwesenden auf ihren Platz in einem festgeschriebenen, zumindest prekär noch religiös untermauerten soziokulturellen Gefüge. Retour à Port-Royal: Jansenismus und postmoderne Ethik Inhaltlich bzw. ideologisch ist an Oliveiras Adaption, „très fidèle à une lecture augustinienne de l’œuvre“, 78 die gegenüber dem literarischen Quelltext, aber auch und erst recht gegenüber anderen postmodernen literarischen und filmischen Variationen viel stärker akzentuierte religiöse Dimension bemerkenswert. In dieser Hinsicht wird hier besonders deutlich, wie sehr jede Adaption unweigerlich schon Interpretation ist; im Medium Film partizipiert auch La Lettre an einer langen Rezeptionsgeschichte, in der die Frage nach dem religiösen Gehalt der Princesse de Clèves kontrovers debattiert wird. In diesem Punkt sieht sich der Regisseur einer zeitgenössischen Film-Princesse mit der mehrfachen Herausforderung nicht nur des Medien-, sondern auch eines radikalen weltanschaulichen Paradigmenwechsels konfrontiert: Widerspricht es der klassischen Poetik, einen belletristischen Text zur Plattform für theologisches Gedankengut zu machen - in diesem Sinne wurde der dezente Jansenismus der Princesse als charakteristische Signatur einer ‚selbstverständlich‘ und damit gleichsam unsichtbar christlich fundierten Kultur erklärt 79 -, so geraten in jeder modernisierenden Adaption Präsenz oder Absenz des religiösen Moments zum ideologisch markierten Statement. Im Gegensatz zu Andrzej Żuławskis Fidélité (in der Religion allenfalls als Element einer nicht un-neurotischen Mutter/ Tochter-Beziehung eine periphere Rolle spielt) und zu Christophe Honorés Belle Personne (in der das Thema zur Gänze ausgeblendet wird), setzt Oliveira auf eine 78 Grande 2010: 62. 79 Vgl. etwa Henry 1992a: 125ff. <?page no="545"?> Literatur auf der Leinwand und théâtre filmé 545 prononciert religiöse Lesart der Princesse; die im Ausgangstext zwischen mondäner und moralischer Bedeutung oszillierenden ‚valeurs‘ der vertu, fidélité etc. werden explizit in einem christlich-katholischen Wertesystem verankert. Oliveiras Princesse selbst fasst ihre Liebes-/ Ehegeschichte in spirituelle Begriffe: Nicht nur die religiöse Komponente des schillernden aveu wird durch die Alternativbezeichnung als „confession“ betont, 80 auch ihre Passion beschreibt Protagonistin Catherine wörtlich als „mon calvaire“. 81 Brink interpretiert La Lettre insofern als „peut-être le signe d’un retour et d’une réhabilitation de la religion qu’on peut observer depuis quelques années“; 82 dem wäre allerdings entgegenzuhalten, dass Oliveira den katholischen Konservativismus seiner Heldin gerade nicht als epochentypisches Merkmal, sondern vielmehr gezielt als anachronistische - und auch milieu-spezifische - exzeptionelle Attitüde reflektiert. Nicht zufällig sind die religiösen Elemente in Oliveiras Film zugleich stark historisch konnotiert bzw. verweisen konkret auf den ideologischen Kontext der Ära Lafayettes zurück. In der Klosterzelle jener Nonne, bei der Catherine Trost und Rat sucht, hängt ein Bildnis der eng mit der Geschichte Port-Royals und des Jansenismus verbundenen Angélique Arnauld; die entsprechende religionshistorische Information, die bei einem heutigen Publikum kaum vorausgesetzt werden kann, wird im Film selbst geboten: Catherines Freundin erläutert ihrem Gast - und damit den Zuschauern - kurz, was es mit dem Porträt auf sich hat, „la mère Angélique Arnauld“ 83 wohnt in der Folge als Schutzpatronin - quasi-mütterliche spirituelle Autorität - den Gesprächen der beiden Frauen bei. Die junge Nonne fungiert über ihre Rolle als Gefährtin (insofern auch religiös eingefärbte Erbin der Dauphine 84 ) und confidente hinaus als Sprachrohr diverser philosophischtheologischer Meditationen. Punktuell finden derartige Grundsatzdiskussionen - stets zu Schlüsselproblematiken der Princesse de Clèves - zwar auch zwischen anderen Figuren statt; 85 doch es ist vor allem die klösterliche Freundin - der ‚Welt‘ halb entrückte Kommentatorin, gleichsam mit einem Fuß in der Diegese des Films, mit dem anderen auf einer interpretatorischen Meta-Ebene -, die im Rahmen ihrer Gespräche mit Catherine über menschliche Freiheit (und sei es die Freiheit zur Abkehr von ‚Gott‘: „Dieu a créé les hommes libres. Ils vont plutôt vers les choses du monde“ 86 ), über Liebe und Ehe philosophiert und dabei, ihrer- 80 La Lettre: 25: 49-25: 50 (Mme de Chartres), 57: 12-57: 15 (Catherine de Clèves in der aveu-Szene). Zu den auch gesellschaftlichen bzw. juristischen Facetten des „aveu“ gegenüber der „confession“ vgl. DeJean 1991: 118ff. 81 La Lettre: 44: 08-44: 09. 82 Brink 2009: 124. 83 La Lettre: 37: 33-37: 41. 84 Das Moment einer zunächst durchaus säkularen Freundschaft zwischen den beiden Frauen scheint in den Szenen ihrer Begegnung noch durch: Bei ihrem ersten Besuch begrüßt Catherine die junge Nonne mit einem Kompliment über ihr blendendes Aussehen - das diese gelassen, doch geschmeichelt, als angesichts ihres aktuellen Status nicht mehr weiter relevant abwehrt. 85 So motiviert jene von den Ehepaaren Clèves und Da Silva gemeinsam verfolgte Nachrichtensendung eine kurze Diskussion über menschliche Subjektivität zwischen Determinismus und Freiheit, über die Frage, ob und wie weit das Individuum das soziale System, das es konstituiert und in dem es agiert, jemals zu transzendieren vermöge - „[…] à l’intérieur de ce système il n’y a pas d’issue possible“, erklärt M. de Clèves (ibid.: 47: 11-47: 13) -, aber auch über die condition féminine bzw. frauenrechtliche Themen (vgl. ibid.: 46: 46-46: 50). 86 Ibid.: 39: 18-39: 22. <?page no="546"?> 546 Manoel de Oliveiras La Lettre seits Propagandistin einer konservativen Gender-Ordnung, den mütterlichen Moral-Diskurs fortsetzt. Wie Mme de Chartres auf dem Sterbebett warnt sie vor einer Affäre mit Abrunhosa-Nemours, vor der früher oder später unausweichlichen Untreue des männlichen Geschlechts im Allgemeinen und des begehrten Popstars im Speziellen; in Abgrenzung gegenüber dem modernen Kult der Liebesehe plädiert sie - durchaus in der Tradition Lafayettes - für ein „pas sur l’amour et encore moins sur la passion“, sondern auf Vernunft, Respekt und „consentement“ begründetes Ehe-Konzept. 87 Wiederholt fordert die Nonne - inkarnierte christliche Stimme des Gewissens und Adressatin diverser Beichten - die Protagonistin nach dem Tod ihres Mannes dazu auf, sich über ihre eigentliche „vocation“ klar zu werden; sobald Catherines Entscheidung gegen eine Kloster- Karriere mangels besagter „vocation“ gefallen ist, 88 wechselt jene erneut in die Rolle der Advokatin der gesellschaftlichen Vernunft. In einer letzten großen Aussprache übernimmt ausgerechnet die religieuse - dies bis ins Detail der Argumentation - als Fürsprecherin einer Wiederverheiratung den Part zunächst des Vidame de Chartres; schließlich fügt sie ihrem Repertoire auch noch die rhetorische Vertretung Abrunhosas/ Nemours’ hinzu (eine ähnliche Zirkulation bzw. partielle Fusion von Figurenattributen und -funktionen, Rollen und Repliken wird auch in den folgenden Princesse-Adaptionen zu beobachten sein). Beschwört Lafayettes Nemours bei jener letzten Begegnung die Geliebte, ihr - bzw. vor allem sein - Glück doch nicht einem chimärischen „fantôme de devoir“ 89 zu opfern, so opponiert bei Oliveira die junge Klosterfrau - ihrerseits aus offenbar altruistischen Motiven - gegen einen „sacrifice inutile“ und erteilt Catherine die moralische Absolution samt Segen für eine neue Ehe („Tu es libre maintenant“). 90 Nichts spreche mehr dagegen, einer „énorme passion“ endlich Genüge zu tun: „Vous êtes libres tous les deux.“ 91 Verteidigt wird hier freilich zugleich eine traditionelle Geschlechterordnung, die Lafayettes - gerade auch vor dem Hintergrund zeitgenössischer Re-Interpretationen erstaunlich modern anmutender - Text aus dem 17. Jahrhundert bereits in Frage stellt: Aus der Sicht der confidente, deren Sanftheit einen konservativ-normativen Subjekt- und Gesellschaftsbegriff allenfalls oberflächlich camoufliert, beschränken sich die akzeptablen Optionen einer weiblichen Biografie nach wie vor im Wesentlichen auf die Alternative Ehe oder Kloster. Wie ihre Lafayette’sche Vorgängerin verweigert aber auch Oliveiras Princesse sowohl den definitiven Weg ins Kloster als auch die Wiederverheiratung, letztere weniger aus Schuldgefühl gegenüber dem toten Ehemann (diese postmoderne Mme de Clèves hat sich womöglich noch weniger kompromittiert als ihr unschuldiges literarisches Vorbild), sondern vor allem aus Angst vor den Verheerungen der Passion, die sie in harmloserer Form - Generalprobe der amourösen Katastrophe - schon vor ihrer Ehe mit Clèves erlebt hat. Explizit erklärt sie ihrer Freundin, sich nicht „une troisième fois“ auf das heikle Terrain der Liebe wagen zu wollen, fürchte sie doch „une souffrance bien plus grande encore et peut-être même fatale“. 92 Auf den Spuren der Protagonistin Lafayettes - und unter Anknüpfung an die eben von der 87 Ibid.: 41: 01-41: 09. 88 Ibid.: 01: 21: 57-01: 22: 15. 89 Lafayette 2014c: 469. 90 La Lettre: 01: 19: 11-01: 19: 16. 91 Ibid.: 01: 18: 19-01: 18: 28. 92 Ibid.: 01: 19: 48-01: 20: 07. <?page no="547"?> Literatur auf der Leinwand und théâtre filmé 547 Princesse antizipatorisch perfekt illustrierte Liebestheorie Denis de Rougemonts - philosophiert auch Catherine über das passions-generierende und -perpetuierende „obstacle“, dessen Elimination die größte Passion zumindest männlicherseits auf Dauer nicht zu überleben vermöge; luzide (psycho-)analysiert sie die Anziehung zwischen ihr selbst und Abrunhosa als potentiellen „envoûtement créé par l’impossibilité de notre amour“. 93 Der Ausweg aus diesem teils künstlich konstruierten Dilemma führt Oliveiras Heldin nicht in eine wie immer geartete ‚maison religieuse‘, sondern zu praktischem karitativem Engagement. Bereits zuvor wird die Problematik individueller Ethik hier in einem größeren gesellschaftlichen Kontext verortet; eine auch in den Augen dieser postmodernen Protagonistin destruktive Passion bedroht nicht nur ihre Ehe und - wiederum in der Tradition Lafayettes - persönliche Souveränität, sondern stellt in ihrer „acosmie“ (um Alain Finkielkrauts Formulierung aufzugreifen 94 ) auch „une concentration exagérée, et donc maladive, sur des intérêts subjectifs“ dar. 95 Verzichtet Lafayette auf jegliche - für ihren Text im Endeffekt irrelevante - Konkretisierung der Lebensführung voller „exemples de vertu inimitables“ und der vagen „occupations […] saintes“, denen Mme de Clèves bis zu ihrem Tod nachgeht, 96 so schließt sich Oliveiras Princesse - schon früher im Film Fürsprecherin der christlichen caritas, die angesichts des drogensüchtigen Bettlers im Park Mitleid für den „pauvre garçon“, „victime“ sozialer Umstände, einfordert 97 - einem katholischen Missionsprojekt „quelque part en Afrique, en pleine brousse“ an. 98 Dies erfährt die Zuschauerin aus dem langen Brief Catherines an ihre confidente („Quelque temps après, la religieuse reçut une lettre d’Afrique“, wie ein weiteres Text-Insert ankündigt 99 ), in dem jene - mitten im Elend ‚Afrikas‘ an die Grenze ihrer Passions-Fähigkeit gelangt - zugleich von ihrer eventuellen Rückkehr spricht. 100 93 Ibid.: 01: 20: 23-01: 20: 27. 94 Finkielkraut 2013b: 268. 95 Brink 2009: 122. 96 Lafayette 2014c: 478. 97 La Lettre: 01: 02: 58-01: 04: 18. 98 Ibid.: 01: 30: 23. „[…] at the end of the novel caritas has definitively replaced eros“, konstatiert Henry (1992c: 178) hinsichtlich des Lafayette’schen Prätexts. 99 Die titelgebende Lettre stiftet nachträglich eine subtile Verbindung zwischen dem Finale des Films und der ethisch aktualisierten Szene des aveu, der, stumme Zeugin, neben dem versteckten Abrunhosa- Nemours auch eine steinerne Statue samt Brief in der Hand beiwohnt (La Lettre: 56: 01-56: 25). 100 Der Brief gibt keine präzise Auskunft über Catherines Verbleib: Skizziert wird ein mythisches, wenngleich dezidiert anti-märchenhaftes (und einigermaßen klischeehaftes) ‚Afrika‘, geografisch wie politisch dekontextualisierter Schauplatz zeit- und geschichtslosen Elends von quasi biblischen Dimensionen, der nicht nur ein ideales Betätigungsfeld für karitative Evasionsprojekte aller Art bietet, sondern auch die Grenzen der Repräsentierbarkeit sprengt: „la triste réalité de chaque jour que nous passons ici n’est pas de celles qu’on peut photographier“, wie Catherine erklärt (ibid.: 01: 33: 02-01: 33: 07). <?page no="548"?> 548 Manoel de Oliveiras La Lettre Subjekt als/ im Text: Die Dematerialisierung der Princesse Das Ende bleibt - im Unterschied zur Fassung Delannoys und wie in sämtlichen späteren filmischen Adaptionen - offen; mit dem ‚afrikanischen Brief‘ Catherines werden mindestens ebenso viele Fragen aufgeworfen wie beantwortet. 101 Mit diesem poetologisch symbolträchtigen epistolären (Prä-)Finale schreibt Oliveira den Text Lafayettes in einem anderen Medium fort: Wie ihre literarische Vorfahrin, die mit ihrem Liebesverzicht erfolgreich aus dem Bannkreis des Hofes und damit auch aus dem Sichtfeld der Erzählinstanz flieht, entkommt Oliveiras Princesse schließlich dem Blick der anderen Figuren, aber auch jenem der Kamera und der Zuseher, all jenen konkreten und metaphorischen, permanenten und improvisierten ‚Rahmen‘, in denen sie sich zuvor als Objekt fremder (intra- und extradiegetischer) Schaulust immer wieder gefangen findet. 102 Wie Lafayette respektiert auch Oliveira diesen hier in Form eines stringenten „Narrations-Zitat[s]“ 103 filmästhetisch nachvollzogenen Rück- und Selbstentzug, 104 den „abrupt fade-out“ 105 bzw. die ‚Dematerialisierung‘ 106 der Protagonistin: Mit ihrer auch in einem postmodernen Kontext polyvalenten retraite verschwindet diese buchstäblich aus dem Film - und überlässt Abrunhosa/ Nemours in seiner amourösen Verzweiflung die (Konzert-)Bühne. Anstelle der jungen Frau bleibt lediglich jene Lettre - mehrfach portugaise 107 - zurück, Präsenz/ Absenz zugleich; unter Anknüpfung an den und in Abgrenzung gegenüber dem klassischen Prätext, an dessen Ende die Heldin „the order of written discourse“ transzendiert, 108 verweist Oliveira mit dieser metonymischen Geste noch einmal auf die (inter-) textuelle Genese seiner Figur: „La lettre prend la place de l’héroïne dans un mouvement métonymique. […] Mme de Clèves se transforme entièrement en sujet d’écriture dans un double sens: […].“ 109 Dieser Schluss skizziert nicht nur „la transformation de la jeune fille effacée du début en un personnage de légende“; 110 Oliveiras literaturgeborene Protagonistin (des-)inkarniert sich nur folgerichtig wieder in einem Text - allerdings in ihrem eigenen 101 Es ist bezeichnend, dass zwei Interpretinnen des Films im gleichen Band zu unterschiedlichen Versionen des Endes gelangen: Zieht sich Catherine nach Brink (2009: 120) in ihr von der Mutter geerbtes Landhaus - strukturelles Äquivalent zu Coulommiers - zurück, so schließt Oster: „L’engagement humanitaire semble être une solution définitive et assure la vertu inégalable d’une princesse de Clèves moderne“ (2009: 134). 102 „La Princesse se met enfin hors de tout encadrement“, erklärt Mc Guire (1993: 391) zu Lafayettes Finale. 103 Vgl. zu dieser Variante filmischer Zitatpraxis Wagner 2009: 39. 104 „[…] her sole action is her withdrawal“, bemerkt Desan (1992: 121) über die passiv-widerständige Heldin Lafayettes. 105 DeJean 1991: 123. 106 Vgl. Lalanne 1999. 107 Nach Francillon darf es als gewiss gelten, dass Lafayette die 1669 anonym erschienenen Lettres portugaises gelesen hat; nicht umsonst gebrauche Mme de Sévigné in ihrer Korrespondenz den Ausdruck „‚portugaise‘ comme un néologisme pour désigner une lettre passionnée“ (1973: 287). 108 Racevskis 1996: 33. 109 Brink 2009: 123. Den metonymischen Konnex zwischen Protagonistin und verlorenem Brief, potentielle „figure for the princess herself, whose legibility is also at stake in the novel“, arbeitet in Bezug schon auf Lafayettes Text Chang (2012) heraus. 110 Langlade 2013: 25. <?page no="549"?> Literatur auf der Leinwand und théâtre filmé 549 Text, auch sie nunmehr wie die Heldin Lafayettes tentative Autorin ihrer selbst und ihrer Geschichte, die sich freilich - unaufgelöste Ambivalenz - im Rahmen eines konservativen, jedoch durchaus kritisch-selbstreflexiven filmischen Narrativs entfaltet. 111 111 Sowohl Brink als auch Oster betonen den ideologischen Konservativismus dieser Film-Princesse auch und gerade unter dem Gender-Aspekt: So ortet Oster in La Lettre im Grunde genommen die gleiche moralisierende Tendenz wie bei Delannoy („[…] l’intention reste la même. Le texte du XVII e siècle sert d’exemple à une époque de dégénération morale“), allerdings ohne dessen ästhetisierende Komplizenschaft mit den repräsentierten Machtverhältnissen: „À la différence de Delannoy, Oliveira se sert de l’esthétique pour refléter l’attitude morale de son époque“ (2009: 132f.). Brink zufolge gerät der Rückzug der Heldin, zur Zeit Lafayettes eine „provocation“, bei Oliveira vielmehr zur „tournure conservatrice tant l’héroïne est stylisée en ‚sexe moral‘ aux traits un peu trop catholiques“ (2009: 124f.). Freilich hat die Leserin bzw. Filminterpretin es in beiden Fällen mit jener fundamentalen Ambivalenz zu tun: Lafayettes ‚Lösung‘ ist ebenso wenig auf besagte prä-feministische ‚Provokation‘ zu reduzieren wie jene Oliveiras auf eine unleugbar präsente, in diesem selbstreflexiven Meta-Film jedoch zugleich historisch wie sozial kritisch kontextualisierte katholische ‚Morallehre‘ - ihrerseits nicht ideologischer Selbstzweck, sondern (doppelter) prétexte eines kinematografischen Kunstwerks, dessen Modernität nicht zuletzt „sur un retour fécond vers l’archaïque comme mise en crise des codes de représentation admis“ gründet (Bonnaud 1999). <?page no="551"?> La Princesse en abyme: Blick, Begehren, Macht und Medien in Andrzej Żuławskis La Fidélité Et puis, infidèle? Qu’est-ce que c’est que ce vocabulaire conjugal appliqué aux arts? 1 Nur wenige Monate nach Manoel de Oliveiras La Lettre kommt Andrzej Żuławskis unter der Ägide der gleichen Firma (Paulo Branco) produzierter Film La Fidélité (2000), radikal postmodernisierte Adaption Lafayettes, in die Kinos. Ästhetisch wie ideologisch bilden Oliveiras und Żuławskis bemerkenswert zeitnahe Kreationen - frappantes Indiz einer bereits mehrere Jahre vor der ‚Affäre‘ Sarkozy einsetzenden Princesse de Clèves-Renaissance bzw. eines gegen Ende des 20. Jahrhunderts allgemein verstärkten Trends zur Klassiker-Neuverfilmung 2 - einen denkbar extremen Gegensatz; auch wenn Żuławskis parallel zu Oliveiras entstandene Version angesichts der Drehchronologie nicht als direkte ‚Antwort‘ auf La Lettre betrachtet werden kann, 3 erweist sich doch die kontrastive Analyse dieser beiden kinematografischen Re-Interpretationen als besonders erhellend. Hochkultur vs. ‚barbarisches‘ Kino: Zur Dynamik der (Anti-)Żuławski-Kritik Wurde Oliveiras ideologisch konservative, dabei formal innovative Version quasi unisono sehr positiv aufgenommen, so war Żuławskis Projekt, nach L’Amour Braque (1985), Mes nuits sont plus belles que vos jours (1988) und La Note Bleue (1990) der vierte gemeinsam mit Sophie Marceau realisierte Film, 4 schon aufgrund des kontroversen Status des Regisseurs - „cinéaste des passions fiévreuses et destructrices, […] connu pour son goût de l’outrance et son style convulsif, à la lisière de l’hystérie“ 5 und traditionelle bête noire einer sich seriös wollenden französischen Filmkritik - eine zumindest gemischte, großteils skeptische bis negative Aufnahme sicher. Auch wenn La Fidélité sich durch Casting, Ästhetik und zahlreiche relativ freizügige erotische Szenen, „autant de marques d’un cinéma qui n’est pas celui du grand public“, 6 klar abseits eines rein kommerziellen Kino-Mainstreams positioniert, wurde der Film vielfach - instruktives Beispiel von klassischem „fidelity criticism“ 7 - als „a vulgar 1 Dantzig 2005: 173-178 („Cinéma“), hier 178. 2 In ähnlich knappem Abstand von nur einem halben Jahr kommen bereits 1988/ 1989 gleich zwei neue filmische Adaptionen von Choderlos de Laclos’ Les Liaisons dangereuses - Stephen Frears Dangerous Liaisons und Miloš Formans Valmont - heraus (vgl. Hagen 2012: 82). 3 Vgl. Oster 2009: 134. 4 Vgl. Rambaud 2006: 20. 5 Guichard 2000. 6 Dubois 2013a. 7 Vgl. Hutcheon 2006: 6f. <?page no="552"?> 552 Andrzej Żuławskis La Fidélité desecration of the source text“, 8 kinematografische „plongée dans un monde barbare, chaotique et corrompu“ 9 heftig attackiert. So hält der eben zitierte Kommentator „une impression mitigée“ fest, wenngleich er Żuławskis „film d’erreurs et d’éclats“ vorsichtig auch einige positive Aspekte abgewinnt; 10 in den Augen eines Kritiker-Duos von Le Monde verdient in einem rundum misslungenen Film („[…] les personnages et situations tournent à la caricature exacerbée et à l’artificialité. Le jeu des acteurs est forcé, certaines scènes sont invraisemblables et ennuyeuses“, „[…] tout y est forcé, exacerbé, le jeu des acteurs y est caricatural, les personnages tourmentés à l’extrême“) lediglich Sophie Marceau - „seul personnage du film qui ne soit pas exaspérant“ - relative Gnade. 11 Nicht weniger signifikant fällt die Rezension der Inrockuptibles aus, fühlt sich deren Verfasser doch trotz der Reputation des Regisseurs veranlasst, La Fidélité, „un beau film de couple“, quasi wider Willen eine gewisse Anerkennung zu zollen. 12 Kaum ein Kommentator, der La Fidélité zumindest partiell zu loben wagt, verabsäumt es, kontrastiv auf die etablierten Negativklischees des ‚typischen‘ Żuławski-Films zu verweisen und bei der Gelegenheit - zur Absicherung der eigenen Autorität wie zur Information der Leser - ein Stück Film(kritik)geschichte zu rekapitulieren: Durant la première moitié des années 80, ses années de gloire et de succès, Żuławski était avec Alan Parker le cinéaste le plus méprisé par les cinéphiles un peu raisonnables. Et ce n’était que justice tant ses films étaient prétentieux, d’une outrance facile […]. Ça hurlait beaucoup, ça mangeait parfois du verre, ça forniquait dans le drame avec force grimaces, ça se voulait vachement excessif et ce n’était finalement que très ennuyeux et bien vain. 13 Erst nach dieser Intro räumt auch Frédéric Bonnaud ein, La Fidélité als „une belle et heureuse surprise, un film passionnant et entêtant“ wahrgenommen zu haben, dies „malgré la présence de certains tics zulawskiens des plus irritants“; nicht minder ambivalent das Lob für die Hauptdarstellerin, „grande comédienne qui semblait abonnée aux couillonnades francointernationales“. 14 Mit einiger Selbstironie reflektiert der Rezensent die in puncto Żuławski alles andere als unvoreingenommene Rezeptionshaltung der französischen Kritik bzw. die auch angesichts dieses neuen Films eifrig fortgeschriebenen Vorurteile jener „anti-zulawskiens primaires que nous sommes depuis toujours“. 15 8 Vgl. Duffy 2009: 91. 9 Langlade 2013: 20. Das Schlüsselwort ‚barbare‘ zieht sich durch diverse kritische Reaktionen auf die Adaption des kontroversen polnischen Regisseurs: „Les Invasions barbares“, betitelt Duffy nicht umsonst ironisch den ersten Abschnitt ihrer Analyse der Fidélité (2009: 91ff.). 10 Guichard 2000. 11 „La Fidélité (2000) de Andrzej Zulawski“ (Le Monde/ Blog cinéma: LŒil sur l’écran, 01.02.2006). 12 Bonnaud 1999. 13 Ibid. 14 Ibid. 15 Ibid. In bemerkenswertem Gegensatz zu den massiven Abgrenzungsstrategien der französischen (Anti-) Żuławski-Kritik steht die Analyse eines polnischen Kommentators, der La Fidélité vielmehr betont in der französischen Filmgeschichte verortet und konkret die Żuławski verschiedentlich vorgeworfene Dehistorisierung seines Prätexts „by the director’s fidelity to the nouvelle vague, which nourished Żuławski’s artistic imagination during his time in Paris in the late 1950s“ erklärt (vgl. Duffy 2009: 93, unter Verweis auf Wojciechowskis Rezension [o. D.]). <?page no="553"?> La Princesse en abyme: Blick, Begehren, Macht und Medien 553 Wiederholt wird der direkte Vergleich zwischen La Lettre und La Fidélité angestellt, der - wenig überraschend - verlässlich zuungunsten Żuławskis gerät; an dessen Film, verortet im Register des „contemporain le plus échevelé et le plus trivial“, würdigt Bonnaud allenfalls vereinzelte „petites touches oliveiriennes“. 16 Es ist unübersehbar (und höchst aufschlussreich), wie hier doppelt die Positionen der ‚seriösen‘ Hochkultur - vertreten durch „l’immortel roman de Mme de La Fayette“ 17 und „la magnifique Lettre d’Oliveira“ 18 - gegenüber Żuławskis „tableau furieusement chaotique […] de la société d’aujourd’hui“ samt üblichen „excès kamikazes“ des Regisseurs befestigt werden. 19 Kritisiert wird die Länge des Films („2 h 45, mais pourquoi? “) wie die ‚Lächerlichkeit‘ der Dialoge; wenn La Fidélité „malgré tout ce fatras zulawskien trop explicite“ nicht völlig der Verdammnis anheimfällt, so liegt dies neben Marceau an jener metamedialen Selbstreflexivität, die Żuławskis Werk, „un film entièrement consacré à sa propre maladie plutôt qu’un ‚grand film malade‘“, mit Oliveiras Lettre verbindet: „Quand on y repense après coup, on s’aperçoit qu’on en a oublié le pire pour ne se souvenir que de ses bouffées de réflexivité godardienne […], ses citations farceuses de Madame de Lafayette avec le ‚petit classique‘ en main […].“ 20 Uneinigkeit herrscht bei Filmkritikern wie wissenschaftlichen Interpreten auch in der ewigen heiklen Frage nach der ‚Werktreue‘. Margot Brink charakterisiert La Fidélité als „film qui ne s’inspire que très librement du texte littéraire“; 21 auch Patricia Oster erklärt, diese Adaption entferne sich zumindest „[à] première vue […] beaucoup du roman de Mme de La Fayette“. 22 Auf den zweiten oder dritten Blick ist jedoch Isabelle Rambaud recht zu geben, der zufolge Żuławskis Version trotz „de nombreuses modifications“ im Grunde „assez proche du roman originel“ bleibt; 23 nicht umsonst hebt auch Helena Duffy hervor, La Fidélité sei „essentially faithful“ bzw. „largely faithful to the original and at the same time engaging in an insightful re-reading of Lafayette’s text“ 24 und arbeite - auch hier ergibt sich so manche Querverbindung zwischen kritischer und kreativer Rezeptionsgeschichte - etliche „aspects of the novel overseen by Lafayette’s contemporaries“ 25 heraus. Auch wenn sich diese freie Adaption weiter von der lettre Lafayettes entfernt, so ließe sich doch argumentieren, dass sie ihrem esprit mindestens so gerecht wird wie die Versionen Oliveiras und erst recht Delannoys, die insbesondere hinsichtlich einer filmisch reinszenierten Geschlechterordnung teils hinter den Prätext aus dem 17. Jahrhundert zurückgehen. Diese - in der zeitgenössischen Lafayette-Forschung wie in postmodernen literarischen Re- Interpretationen akzentuierte - gender-subversive resp. ‚queere‘ Dimension der Princesse wird in Żuławskis Film dagegen ausführlich entfaltet: Bei allen potentiellen Kritikpunkten ist und bleibt La Fidélité bis auf Weiteres die mit Abstand gender-sensibelste Auseinander- 16 Bonnaud 1999. 17 Guichard 2000. 18 Bonnaud 1999. 19 Guichard 2000. 20 Bonnaud 1999. 21 Brink 2009: 115. 22 Oster 2009: 134. 23 Rambaud 2006: 20. 24 Duffy 2009: 94, 115. 25 Ibid.: 101. <?page no="554"?> 554 Andrzej Żuławskis La Fidélité setzung mit Lafayettes Roman bzw. „the gender inequalities pertinent in the novel“, 26 Sophie Marceau die ebenfalls mit Abstand ‚stärkste‘, mit beträchtlicher sozialer wie sexueller Bewegungsfreiheit, aber auch visueller Autorität ausgestattete Protagonistin 27 (dies im Vergleich nicht nur zu Delannoys blonder Märchen-Heldin und Oliveiras konservativ-katholischer Hauptfigur, sondern auch gegenüber Christophe Honorés acht Jahre später kreierter, in Anknüpfung an Delannoy und Oliveira wiederum tendenziell zum passiven Objekt intrawie extradiegetischer Schaulust reduzierter Schulmädchen-Princesse). 28 26 Ibid.: 108. 27 Zu etwas abweichenden Schlussfolgerungen gelangt Duffy in ihrer Kristeva-inspirierten Lesart der Fidélité, wie bereits Lafayettes Princesse verstanden als „a story of melancholia provoked by an unresolved mourning for the lost maternal object“ (ibid.: 105). In diesem Sinne akzentuiert sie „Clélia’s unhealthy relationship with her mother“ (ibid.); die relative Freiheit der Protagonistin gegenüber ihrer männlichen Umgebung scheint ihr durch ihre tiefe neurotische Verstrickung mit einer dominanten Mutterfigur konterkariert. Die Motivik des Films wird systematisch in psychoanalytische Kategorien (und teilweise Klischees) gefasst - so hinsichtlich der ‚uterinen‘ Symbolik der einleitenden Szene einer Zugfahrt, aber auch hinsichtlich der unter Rekurs auf Lacan reflektierten problematischen Vaterbeziehung der Heldin (ibid.: 104). Konsequent wird auch die bei Lafayette wie in diversen Re-Interpretationen zwischen Selbstbefreiung und Weltentsagung oszillierende retraite der weiblichen Hauptfigur etwas einseitig als „a sign of melancholia“, ihr Aufenthalt in einem esoterisch-eklektisch variierten Kloster als „return to the maternal pre-verbal and pre-œdipal realm“ gedeutet (ibid.: 106f.). Wenn auch in manchem Detail erhellend, gerät diese psychoanalytisch fokussierte Lektüre des Films zugleich etwas reduktiv, auf Kosten der nach wie vor produktiven Polyvalenz der vielschichtigen, hier dem Register einer „écriture féminine“ (ibid.: 100) zugeordneten Princesse wie dieser ihrer zeitgenössischen Adaption. 28 In diesem Zusammenhang mag die anekdotische Information von Interesse sein, dass angeblich ‚Princesse‘ Sophie Marceau zunächst selbst Regie-Intentionen hegte (und damit die einzige Frau in der Reihe der bisherigen Princesse-Regisseure gewesen wäre), schließlich jedoch Żuławski den Stoff ‚überließ‘ (vgl. Stiglegger 2006; auch Grosskopf [o. D.] führt Żuławskis Projekt auf eine Anregung Marceaus zurück). Im parafilmischen Begleitdiskurs liefern Żuławski und Marceau jeweils teils divergente Versionen der Entstehungsgeschichte: Żuławski thematisiert im Audiokommentar zum Film (La Fidélité: 03: 26-05: 46) die anderweitigen künstlerischen Ambitionen der Aktrice Marceau, der er abgesehen von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit durchaus eine Zukunft als Regisseurin zutraut (dies freilich mit dem ambivalenten Zusatz, seine Gefährtin werde sich wohl schon aus Altersgründen früher oder später vom Bildschirm zurückziehen wollen). Konkret zu La Fidélité berichtet Żuławski, er habe Sophie Marceau - auf der Suche nach einem Sujet für ein Drehbuch - auf die Spur Lafayettes gebracht („je lui avais suggéré de lire La Princesse de Clèves“). „Elle s’est totalement reconnue dans… dans le personnage de la Princesse“, erzählt Żuławski; nach einigen vergeblichen Bemühungen habe Marceau sich aber für diesbezüglich „incapable“ erklärt, woraufhin er übernommen habe: „[…] donc j’ai pris la machine à écrire et j’ai commencé à faire ça, un peu pour elle, et je me suis rendu compte en écrivant […] qu’au fond c’est moi qui voulais faire le film et au fond elle ne voulait jouer que le rôle“ (ibid.). Marceau selbst spricht im Interview zum Film von einer „recommandation littéraire“ Żuławskis (vgl. „Extras: Interview mit Sophie Marceau“, 00: 04-00: 08); an anderer Stelle bemerkt sie allerdings, ihrerseits nach der Relektüre der Princesse ihrem Partner deren Adaption für seinen nächsten Film suggeriert zu haben: „J’avais un peu de temps et je cherchais une histoire à écrire. J’ai fouillé dans les classiques et je suis tombé sur la Princesse de Clèves. […] J’en ai parlé à Andrzej […] à partir du moment où je lui ai soumis l’idée, je l’ai laissé écrire. C’est vraiment son film“ (Lalanne 2000). Kurz: Die latent leicht konfliktuelle Aushandlung visueller und diskursiver Autorität zwischen den Geschlechtern prägt dieses Projekt gleich auf mehreren Ebenen; auch im fertigen Film erscheint die Problematik zentral. <?page no="555"?> La Princesse en abyme: Blick, Begehren, Macht und Medien 555 Vom Königshof zum Medienimperium: Das schauderhafte Reich des MacRoi Verortet Oliveira seinen ‚Nemours‘ in der Welt des zeitgenössischen Showbusiness, so absolviert Żuławskis emanzipierte Princesse ihr Debüt an einem zum postmodernen Medienimperium umgedeuteten Hof, seinerseits „siège du pouvoir“, „un endroit qui […] impose un style, une mode, une façon d’être“, 29 aber auch Hochburg der Intrigen, der - recht brutal sexualisierten - Galanterie und der trügerischen apparences bzw. der „fraudulence of representations“, 30 panoptischer, potentiell ‚paranoider‘ Mikrokosmos 31 von medientechnisch verschärfter aggressiver Visualität, wie Lafayettes cour ein komplexes „spy system“ samt prothetisch verstärkten „collective eyes and ears“, 32 in dem mit den schmutzigen Geheimnissen der anderen so manch gutes Geschäft gemacht 33 und - metadiskursiver Gag - Tag für Tag in plakativen Riesenlettern La Vérité verkündet wird (so der Titel des hauseigenen Sensations- und Revolverblatts). 34 Im Gegensatz zu Oliveira, der Lafayettes cour streicht und seine aristokratischen Protagonisten als isolierte Repräsentanten einer längst anachronistischen Welt von (vor-)gestern inszeniert, rekonstruiert Żuławski präzise das höfische Dispositiv - samt royaler Figurenkonstellation - der Princesse: Seinem Trash-König ‚Lucien MacRoi‘, 35 in dessen Namen Louis XIV und Macbeth, Balzacs Lucien de Rubempré und McDonald’s eine ironische Verbindung eingehen, stellt der Regisseur eine drogensüchtige und psychisch labile ‚Königin‘ zur Seite, wüst geschminkte Marionette mit kokain-bepuderter Nase und wirrem Blick, die 29 Żuławski über den Königshof bei Lafayette; vgl. die Erläuterungen des Regisseurs zu seiner Re- Interpretation der cour, zu seinem Film als kino-fotografischer Konstruktion en abyme und zur Aktualität des klassischen „bouquin“, den nicht gerade ‚massakriert‘ zu haben er hoffe, im Audiokommentar zu La Fidélité (hier insbes. 05: 49-16: 46). 30 Duffy 2009: 111. Żuławski ist nicht der einzige Klassiker-Adapteur, der diese Analogie herstellt: So wird auch in Michael Almereydas - von Baz Luhrmanns Romeo + Juliet (1996) inspirierter - Hamlet- Adaption (2000) der dänische Königshof zum zeitgenössischen New Yorker Medienkonzern („Denmark Corporation“), der eponyme (Anti-)Held und Erbe dieser postmodernisierten Dynastie auch noch zum Filmstudenten (vgl. Bohnenkamp 2012: 39). 31 Greenberg beschreibt den Hof Lafayettes als „a locus of paranoia“ (1992: 180, zit. bei Seifert 1998: 63). 32 Albanese 1992: 91. Vgl. zu diesem Aspekt in Żuławskis Film auch Oster: „Le regard omniscient des courtisans auxquels n’échappait pas le moindre signe, la moindre rougeur, le moindre geste, se trouve actualisé de nos jours dans les photos des paparazzi qui pénètrent l’intimité des gens avec leurs caméras. […] De nos jours, la diffusion de la presse à scandales crée un espace public sans bornes et multiplie les regards à travers les médias“ (2009: 136). 33 Auch auf diesen postmodernen ‚Hof‘ trifft Kaps’ Charakteristik des Lafayette’schen Dispositivs zu: „Each member of court society is quick to capitalize on the others’ lack of control, quick to deduce possible motives and possible implications. In playing the deadly game of intrigue, each character is concerned with maintaining his own mask, while unmasking those who surround him“ (2001: 9). 34 „This is the life of the court… a tabloid-type of psychology, interspersed with platitudinous maxims and arbitrary rules“, konstatiert Simon (1966: 282, zit. nach Andersen 1998: 266) zur häufig mit der Princesse de Clèves in Verbindung gebrachten zweiten Novelle aus Villedieus Désordres de l’amour. 35 Bezüglich des Vornamens der Figur, im Film (samt Nachspann) als ‚Lucien‘ identifiziert, herrscht in Kritik wie Sekundärliteratur gelegentlich eine gewisse Verwirrung: Oster switcht in ihrer Studie zwischen „Lucien Mac Roi“ und - via Kontamination mit Rupert Murdoch - „Rupert Mac Roi“ (2009: 135f.); auch die Online-Filmdatenbank OFDb verzeichnet einen „Rupert MacRoi“ (URL: http: / / www.ofdb.de/ view.php? page=film_detail&fid=17247). Die Assoziation mit dem australischstämmigen Medienmogul wird im Film selbst suggeriert, dies bereits in der Eingangsszene, da Clélias Mutter sich an MacRoi als ‚Australier‘ zu erinnern glaubt (bzw. vorgibt), bevor sie ihrer Tochter ihre frühere Liaison bekennt. <?page no="556"?> 556 Andrzej Żuławskis La Fidélité nach dem Tod ihres Gatten 36 von der resoluten Tochter und Thronfolgerin - modernisierte ‚Reine Dauphine‘, hier direkte dynastische Erbin ihres Vaters, aber wie ihr historisches Vorbild mit einem gesundheitlich beeinträchtigten, schwächlichen Ehemann ausgestattet - unverzüglich entmündigt und in ein luxuriöses Ausgedinge („tu vivras pouponnée comme tu veux“) verbannt wird. 37 Neben Dauphine Julia, als aktive - und hinter sanfter Fassade bemerkenswert skrupellose - Geschäftsfrau in die Administration des väterlichen Imperiums involviert, herrscht über diesen extravaganten Hof MacRois Mätresse Diane, transparente Reinkarnation der Diane de Poitiers, stets sorgfältig gestylte, doch schwer alkoholkranke und gealterte Frau, „âme damnée“. 38 Wie sie selbst in einer Kurzfassung der entsprechenden Digression des Romans berichtet, diente auch diese Diane dem Vater des aktuellen ‚Königs‘ einst als noch sehr jugendliche Gespielin (schon mit fünfzehn Jahren, wie sie präzisiert, und damit exakt dem Alter, in dem Lafayettes Heldin bei Hof debütiert). Von MacRoi wird sie nach wie vor sans façon zu diversen sexuellen Services herangezogen, nach seinem Tod als Leiterin einer neuen Niederlassung des Konzerns ins US-amerikanische Exil geschickt; bis auf Weiteres verteidigt sie freilich ihre hart erkämpfte Machtposition mit Zähnen, wohllackierten Klauen und ihrer sie leitmotivisch begleitenden Flasche in der Hand. MacRois Schwester Genièvre, princesse-getreu porträtiert als robuste Dame mittleren Alters, fungiert ihrerseits als Schachfigur und Tauschobjekt in einem männlich dominierten Machtspiel; im Zuge der geplanten Allianz zwischen dem Clan MacRoi und der editorialen Dynastie Clève mit dem gleichnamigen Erben eines renommierten, jedoch bankrotten Traditionsverlags verlobt, wird sie noch vor der Hochzeit schmählich in aller Öffentlichkeit im Stich gelassen (mit den Worten „c’était un joli rêve“ gibt sie Clève den Verlobungsring zurück, bevor sie ihm mit ihrer Handtasche einen gezielten Hieb auf den Hinterkopf versetzt). 39 Mit dieser Parade auf den ersten Blick mächtiger, sozioökonomisch höchst privilegierter Frauen, die sich spätestens auf den zweiten als Opfer und - ihren männlichen Ko-Akteuren in puncto Skrupellosigkeit und Intrigantentum nicht nachstehende - bereitwillige Komplizinnen eines patriarchalischen Systems entpuppen, adressiert La Fidélité die auch in der Lafayette- Sekundärliteratur kontrovers diskutierte Frage nach der Ordnung der Geschlechter in der 36 Die Umstände dieses royalen Todes werden ebenfalls radikal modernisiert, unter Beibehaltung der in einer ‚okular-imperialistischen‘ Welt höchst symbolischen Augenverletzung (zum „‚ocular imperialism‘“ der Princesse und der kontextuellen „profound irony“ der spezifischen Verwundung des Königs vgl. Albanese 1992: 92). An die Stelle des höfischen Turniers tritt ein öffentlicher Showbzw. Shootdown: MacRoi wird vor seiner Belegschaft von einem Auftragskiller, Handlanger der Konkurrenz, erschossen; mit einem technisch modernisierten ‚Pfeil‘ im Auge - transparentes Zitat der Turnierszene Lafayettes - stirbt dieser Mc-König eines schnelllebigen Zeitalters noch auf der Straße. 37 La Fidélité: 02: 22: 44-02: 22: 45. 38 Bonnaud 1999. 39 La Fidélité: 25: 55-26: 03. Hinsichtlich der bei Oliveira, Żuławski wie Honoré immer wieder zu beobachtenden Zirkulation resp. Re-Montage einzelner Figuren-Attribute und Sujet-Elemente bemerkenswertes Detail: Ist es bei Lafayette Nemours, der um Mme de Clèves’ willen auf die brillante Perspektive einer Ehe mit der Königin von England verzichtet (und auch die Dauphine vernachlässigt, mit der er zuvor einen galanten Flirt unterhalten hat), so lässt Żuławski stattdessen Clève nach seiner Begegnung mit der Protagonistin ohne Zögern seine pragmatisch vorteilhafte, längst offizialisierte Verlobung mit der Schwester des ‚Königs‘ lösen. <?page no="557"?> La Princesse en abyme: Blick, Begehren, Macht und Medien 557 Princesse - zwischen angeblichem höfischem „matriarcat“ 40 und männlicher Herrschaft, deren Gesetzmäßigkeiten die Heldin mit ihrer ambivalenten retraite sich zugleich unterwirft und entzieht. An diesen ‚Königshof‘ gelangt nun Żuławskis neue Princesse, begabte Fotografin, deren Arbeit der mac-royalen Boulevardpresse als kulturelles Alibi dienen bzw. ihr zwecks Anwerbung eines potenten Geschäftspartners eine „image plus distinguée“ verleihen soll. 41 Von Anfang an wird in dieser Adaption, nicht zuletzt selbstreflexiver Künstlerfilm, die heikle, im Fall des Kinos als kommerzträchtiger und -abhängiger Kunstform besonders virulente Frage nach der Relation von art und affaires auch auf der Figurenebene thematisiert: „Il faut bien qu’elles mangent“, erklärt pragmatisch die Protagonistin, in einem Interview auf die zweifelhafte Tätigkeit der journalistischen ‚Hyänen‘ MacRois angesprochen, 42 und rechtfertigt damit indirekt auch ihre eigene Rolle als ästhetisch elitäre Künstlerin, die sich doch von jenem Konzern instrumentalisieren lässt. In Gesellschaft ihrer Mutter - mit religiösen Affinitäten ausgestattete ehemalige Revue-Sängerin, die wie Lafayettes Mme de Chartres ihre hier bereits erwachsene Tochter 43 auf dem Weg zu ihrem Debüt in einer neuen Welt begleitet - reist diese verbürgerlichte Princesse, über ihre kanadische Herkunft von vornherein als Außenseiterin eingeführt, zu Beginn des Films nach Paris; im Reich MacRois erscheint auch sie als „the consummate stranger“, 44 ja als regelrechte „‚extraterrestre‘“. 45 Über das berufliche Engagement hinaus etabliert Żuławski noch eine andere signifikante Verbindung zwischen seiner Heldin und dem Königshof. Im Dialog mit der langen Rezeptionsgeschichte der Princesse beleuchtet La Fidélité einen in den vorhergehenden filmischen Adaptionen ausgeblendeten ‚blinden Fleck‘ des Prätexts: die - vor allem in psychoanalytisch inspirierten Lesarten erörterte - Frage nach dem Vater der Protagonistin, jenem großen Unbekannten des Romans, „at once absent and present“ im Text. 46 Wurde hinter jener rätselhaften Geliebten des Prince d’Orléans, deren Diskretion die Mutter der Heldin in der ersten großen Digression mit dem Gebaren der Diane de Poitiers kontrastiert, im sekundärliterarischen Spiel der Spekulationen eben Mme de Chartres selbst vermutet, 47 so stellt Żuławski einen mütterlichen aveu an den Anfang seines Films: Etwas peinlich berührt gesteht die Mutter der Protagonistin dieser eine vergangene Liaison mit MacRoi (und zugleich eine ungewisse Vaterschaft). Zwar weist sie die enttäuschte Replik ihrer Tochter, sie habe ihren neuen Job also nur aus Protektionsgründen erhalten, zurück, deren Interaktion mit ihrem königlichen Chef gewinnt vor diesem Hintergrund jedoch von vornherein eine gewisse ödipale Ambiguität. Mit der doppeldeutigen Bemerkung „je pourrais être votre fille“ wehrt die junge Frau 40 Vgl. Delacomptée 2012: 84. 41 La Fidélité: 14: 02-14: 03. 42 Ibid.: 05: 33-05: 34. 43 Wie Oliveira entscheidet sich auch Żuławski für eine gegenüber der Figur Lafayettes deutlich ältere Princesse: Die Protagonistin geht schon auf die dreißig zu; vom sozialen Alter her entspricht ihre Position freilich durchaus dem Status der jugendlichen Hofdebütantin Lafayettes. 44 Muratore (2001: 250) zu Lafayettes Heldin, der auch DiPiero eine prinzipielle „inability to reproduce court discourse and appearances in convincing fashion“ attestiert (1992: 206, zit. nach Peterson 2012: 240). 45 Oster 2009: 136. 46 Longino 1998: 78. 47 Vgl. Hirsch 1981: 85f. <?page no="558"?> 558 Andrzej Żuławskis La Fidélité MacRois sexuelle Avancen ab; 48 dieser, in jeder Hinsicht transgressive Figur, setzt seine Nachstellungen - mindestens ebenso sehr Machtwie sexuelles Manöver - freilich auch noch nach der Konfrontation mit seiner früheren Geliebten und ungeachtet des sich konkretisierenden Verdachts seiner eigenen Vaterschaft fort. Es ist gegen Ende des Films schließlich Dauphine Julia, die die Identität ihrer unehelichen Halbschwester bestätigt - und diese per sofortige Entlassung (samt verächtlich hingeworfener „compensation“) aus dem väterlichen Imperium verjagt. 49 Clélia, Clève, Nemo: Figurenkonstellation und Namenscode Wie Oliveiras Catherine lädt auch der Name Clélia, abgesehen von seinem multiplen intertextuellen Allusionscharakter (unüberhörbar klingt Scudérys Clélie mit, aber auch Clélia aus Stendhals ihrerseits in der Tradition Lafayettes situierter Chartreuse de Parme), 50 schon phonetisch zur Assoziation mit Clève(s) ein. Auf den Spuren ihrer Lafayette’schen Vorgängerin trifft auch ‚Princesse‘ Clélia noch vor ihrem offiziellen Antritt bei Hof auf ihren zukünftigen Ehemann Clève [sic], dessen verstümmelter Name - insofern mehr als eine „coquetterie“ 51 - die sekundärliterarisch sensibilisierte Leserin an Peggy Kamufs psychoanalytisch inspirierte Interpretation von Chartres mit seinen (hier gender-reprojizierten) ‚Kastrations‘-Implikationen (châtrer) erinnert. 52 Die Begegnung der beiden vollzieht sich in einem Blumenladen, Schauplatz improvisierter und von Beginn an latent konfliktueller amouröser Hermeneutik: Während Clélia - symbolträchtiges Missverständnis - den Verlobungsstrauß, den Clève in eigener Sache abzuholen erschienen ist, mit einem Begräbnisbouquet verwechselt (und damit recht behalten wird), konstatiert Clève entzückt den trügerisch vielversprechenden Zufall alliterativer Harmonie mit der schönen Unbekannten, die er kurz darauf bei einem Bankett unter der Ägide MacRois - Äquivalent eines Lafayette’schen Hoffestes - wiedersieht und um deretwillen er ungeachtet seiner ‚dynastischen‘ Verpflichtungen auf der Stelle seine Verlobung löst (wie bei Lafayette stirbt Vater Clève in opportunem Moment und macht derart den Weg für die Liebesehe des Sohnes frei). Ist Lafayettes Prince de Clèves bei allem privaten Unglück ein kompetenter Akteur des höfischen Intrigenspiels, so wird die Figur bei Żuławski vom wohlintegrierten courtisan zum Außenseiter in der Welt MacRois: Clève endet nach nicht ganz freiwilliger Fusion des ererbten Verlags mit dem Imperium MacRois als dessen subalterner Mitarbeiter; seine beiden Brüder - der homosexuelle Literaturprofessor Antoine und Bischof Bernard, ‚gefallener‘, schließlich samt Frau und Familie aus seinem Amt flüchtender geistlicher Würdenträger, um den sich eine weitere exemplarische Passions-Parabel entfaltet - vervollständigen das 48 La Fidélité: 21: 28-21: 30. 49 Ibid.: 02: 24: 28-02: 24: 38. 50 Vgl. zu diesem intertextuellen Netzwerk Léopold 2009: 175ff. („La Princesse de Clèves, Julie et Clélia“). 51 Bonnaud 1999. 52 „It may be indeed at this level of ambiguous conjunction that the proper names of Mme de Lafayette’s protagonists suggested themselves to her. Chartres would reside in the castrated (châtré) realm of no desire while the lover’s name figures the negativity of passion - ne-amour. As for Clèves, if one hears the verb cliver, to split, to sever, then what of its other, intransitive, usage which survives in English: to cleave, that is, to adhere to, to cling, to be faithful to? “ (Kamuf 1987: 91). <?page no="559"?> La Princesse en abyme: Blick, Begehren, Macht und Medien 559 Panorama. Treffend stellt Oster den Konnex zum historischen Kontext von Lafayettes Roman her, wenn sie diese Geschichte von Untergang bzw. kommerzieller Unterwerfung des Hauses Clève als „allusion à la vieille noblesse de France qui perd son pouvoir en se transformant en courtisans de Louis XIV“ interpretiert. 53 Auch Clève wird den zum kulturellen Anspruch umgedeuteten aristokratischen Wertecodex seines Vaters („Respectez! “, mahnt der sterbende Patriarch im Angesicht eines triumphierenden MacRoi 54 ) gegen den Medienmogul als neuen absolutistischen Monarchen nicht verteidigen können. Raffiniert überblendet Żuławski historische Tiefendimension und postmodernen Medienkonflikt: Der Büchermensch und Literaturliebhaber Clève - mit dieser mehrfach literarisierten Figur werden über Lafayette hinaus diverse sekundäre intertextuelle Referenzen in den Film integriert: so bereitet Clève eine Edition der Lyrik W. H. Audens vor, diegetische Motivation entsprechender Lektüren und Mini-Rezitationen - bleibt ein Fremd-Körper am Hof MacRois; die Verlagsräumlichkeiten voller alter Möbel und Bücher, aber auch Clèves privates Domizil mit altmodischem Arbeitszimmer und Bibliothek stehen in maximalem Kontrast zur antikontemplativen und anti-intimen, von den Materialien Glas und Metall dominierten, von Spiegelflächen, Bildschirmen und Kameras beherrschten Hochglanzwelt MacRois, deren eiskalte Glätte die Unvollkommenheit der darin zirkulierenden, stets etwas verloren wirkenden menschlichen Körper unbarmherzig betont. In diesen dezidiert - und ironischerweise, da nach Lafayette’schem Modell konstruierten - literatur-aversen ‚höfischen‘ Mikrokosmos schmuggelt Żuławski diegetisch ein einziges Buch, eine Taschenbuchausgabe der Princesse: Diese - literarisches Gegengift gegen die mac-royale Korruption - liest Clélias neuer Kollege Jean (Äquivalent des Chevalier de Guise), schüchterner, kleinwüchsiger und bebrillter junger Mann, der sich seinerseits - klassischer coup de foudre in gänzlich anti-klassischem Ambiente - sogleich unglücklich in die junge Frau verliebt. „[…] son intérêt l’avait rendu plus clairvoyant que les autres […]“: 55 Wie sein intertextueller Vorgänger „one of her most perspicacious observers“, 56 jedoch gutmütiger als jener, begleitet Jean fortan den Parcours Clélias. Schicksalsergeben nimmt er ihre Verlobung zur Kenntnis und stellt sich sogar als Trauzeuge zur Verfügung; auf die sich abzeichnende Passion zwischen der für ihn unerreichbaren Princesse und Żuławskis ‚Nemours‘ reagiert freilich auch er mit Eifersucht und transparent zitationellen Denunziationsversuchen: „Il avait un nombre infini de maîtresses“, 57 ruft er Clélia hilflos nach, als diese in Gesellschaft des überlegenen Rivalen die Redaktion verlässt, um nach einem ersten Konflikt ‚Frieden‘ - samt sportlichem Aggressionsabbau - zu schließen („Vous allez où comme ça? … Faire la paix“). 58 Aus Nemours wird ein gleichfalls phonetisch reduzierter und radikal re-interpretierter ‚Nemo‘, „[m]i-paparazzo, mi-reporter de choc, terriblement jeune et amoral“, 59 abgebrühter jugendlicher Rebell mit Unterschichts-Background und proletoid-promiskuitivem Charme, routinierter Verführer wie weiland Nemours („il baise génialement bien“, attestiert Diane 53 Oster 2009: 136. 54 La Fidélité: 29: 38-29: 39. 55 Lafayette 2014c: 386. 56 Andersen 1998: 255. 57 La Fidélité: 01: 12: 53-01: 12: 54; vgl. die entsprechende Passage bei Lafayette (2014c: 364). 58 La Fidélité: 01: 12: 47-01: 12: 48. 59 Guichard 2000. <?page no="560"?> 560 Andrzej Żuławskis La Fidélité ihrem Favoriten, „le meilleur“ nicht nur in Sachen Fotografie - woraufhin wiederum Jean nicht ungiftig präzisiert: „il baise tout ce qui bouge“ 60 ); als inkarnierte Antithese zu höfischer Raffinesse wie bürgerlicher Distinktion ist Nemo eine perfekte Kontrastfigur zum deutlich älteren, kultivierten, höchst sensibel bzw. etwas neurotisch porträtierten „intello“ (so Diane 61 ) Clève. 62 Auch hier wählt Żuławski einen implikationsreichen Namen (entgegen Bonnauds Kommentar mehr als eine weitere kleine „coquetterie“ 63 ), zwischen der Verne-Referenz und der lateinischen Etymologie: ‚Nemo‘ stammt nicht nur aus dem gesellschaftlichen Abseits - vor seiner Entdeckung durch Diane, der er seine Karriere verdankt und immer noch loyal verbunden ist („j’aime bien Diane, elle m’a fait“), 64 hat er am eigenen Leib das Jugendgefängnis kennengelernt; nach wie vor trägt er einen symbolischen Stacheldraht rund um den Oberkörper tätowiert -, sondern bleibt auch psychologisch wie fotografisch unfassbar (vergeblich versucht Clélia in Żuławskis Version der nächtlichen Szene von Coulommiers, eine Fotografie des vor ihren Augen verschwimmenden Nemo auf ihrem Computerbildschirm zu fokussieren). Ein weiteres Mal wird die Figur Nemours/ Nemo zum Repräsentanten einer gleich mehrfachen - sozialen wie ontologischen - Alterität umgedeutet. Aus der Sicht Clélias erscheint dieser Nemo - der, unbesorgt um triviale Rivalitäten, Clève für ‚sympathisch‘ erklärt - als Inkarnation auch einer fatalen Passion, die die Willensfreiheit eines souveränen Subjekts in Frage stellt, und einer möglicherweise illusorischen Freiheit jenseits der Etikette ihres Milieus: In Begleitung Nemos - verführerischer Führer durch die Unterwelt - erkundet Clélia nicht nur die einigermaßen klischeehaft stilisierten bas-fonds von Paris, Hundekämpfe, wilde Schlägereien, Schießereien und Verfolgungsjagden inklusive (als proletarisiertes Substitut des königlichen Turniers bei Lafayette fungiert ein Motocross-Rennen durch Schmutz und Schlamm 65 ), sondern vor allem auch ihre eigenen Abgründe; es ist Nemo, der sie durch seine bloße Präsenz mit ihren eigenen Widersprüchen konfrontiert, sie an die Grenzen ihrer amourösen wie professionellen Ethik, an die Grenzen intersubjektiver Kommunikabilität bzw. der Sprache überhaupt treibt. Nemo bewegt sich konsequent abseits mondäner wie juristischer Konventionen. Ohne Weiteres dringt er - in einer medientechnisch aktualisierten und gegenüber Lafayette viel aggressiver voyeuristischen Version der Coulommiers-Szene - ins Domizil der Clèves ein, verfolgt Clélia mit seiner Kamera durchs Haus und fotografiert das Ehepaar beim Geschlechtsakt; ratlos steht er daneben, als Clélia die frisch ausgedruckten Beweise dieser massiven Vergewaltigung ihrer Privatsphäre zerreißt und die wütend eingeforderte CD mit den ‚Negativen‘ zerbricht. Der Frage nach seinen Motiven setzt dieser provokant antiintellektuell sich gerierende Sprachskeptiker - wie in etlichen anderen Szenen - lediglich ein 60 La Fidélité: 47: 20-47: 22. 61 Ibid.: 47: 34. 62 Wojciechowski interpretiert auch diese soziale Differenzierung von Ehemann und Liebhaber, mit der Żuławski - noch stärker als Oliveira - vom Lafayette’schen Prätext abweicht, als „a sign […] of the director’s indebtedness to both the nouvelle vague and the work of Louis [sic] Buñuel“ (Duffy 2009: 93). 63 Bonnaud 1999. 64 La Fidélité: 01: 11: 58. 65 Ironisches filmhistorisches Detail am Rande: Als „sous des airs de petit voyou à moto, un garçon doux et sérieux“ figuriert Delannoys ‚Nemours‘ Jean-François Poron in den Memoiren Marina Vladys (2005: 89). <?page no="561"?> La Princesse en abyme: Blick, Begehren, Macht und Medien 561 monotones „je sais pas“, „à rien“ oder auch „pour rien“ - Standardsatz seiner nihilistischen Philosophie - entgegen. 66 Zumindest altersmäßig steht Nemo der Protagonistin freilich näher als ihr Ehemann Clève (in diesem Punkt knüpft Żuławski deutlicher als Oliveira - und im Gegensatz zu Honoré - an die Konstellation Delannoys an); über alle sozialen Grenzen und Habitus-Differenzen hinweg beginnen Clélia und Nemo einander sehr bald spontan zu duzen, wohingegen jene ihren älteren Verlobten und Ehemann lange Zeit betont asymmetrisch mit einem im Unterschied zum Text Lafayettes stark markierten ‚vous‘ adressiert. Im Spiel mit dem klassischen Prätext inszeniert Żuławski hier eine metalinguistische Mini-Diskussion auf diegetischer Ebene: Angesichts von Clèves Eifersucht wechselt Clélia nach einer platonisch mit Nemo verbrachten Nacht erstmals zu einem informellen ‚tu‘ - ein Detail, das Clèves aufmerksamem Ohr nicht entgeht („c’est la première fois que tu me tutoies“) und das Clélia sogleich unverblümt mit „c’est la première fois que je ne te respecte pas“ erklärt. 67 „Je pense que tout est de la merde et j’ai envie de coucher avec vous“: Galanterie und Moral à rebours Gegenüber dem klassisch-dezenten Register Lafayettes, dem auch Delannoy und Oliveira treu bleiben, erweitert Żuławski das diskursive Spektrum um allerlei Sozio- und Idiolekte, Slang und auch prononciert, ja affichiert ‚vulgäre‘ Sprach-Elemente; letztere werden neben der dauer-alkoholisierten Diane vor allem Nemo in den Mund gelegt. Schon der reziproke coup de foudre schlägt hier in entschieden weniger brillantem Ambiente und weniger distinguierter Lexik ein als bei Lafayette: Vor den Augen der erstaunten Clélia kriecht ein übernächtiger, nach exzessivem Tabakkonsum heftig hustender Nemo in abgewetzter schwarzer Lederjacke und einem Outfit von generell zweifelhafter Sauberkeit unter einem Tisch in der Foto-Redaktion hervor, unter dem er ein wenig dringend benötigten Schlaf nachgeholt hat, und bietet der attraktiven neuen Kollegin einen Zug aus der eben angesteckten Zigarette - transparent parodistisches ‚phallisches‘ Symbol - an. Ungerührt bemerkt er, Clélia bereits bei ihrem TV-Auftritt gesehen zu haben 68 - und befindet ihre Fotografien 66 La Fidélité: 01: 11: 13, 01: 11: 27, 01: 12: 11. 67 Ibid.: 01: 56: 54-01: 56: 58. 68 Kaum zufällig hebt Żuławski die Synchronizität des Erstkontakts auf Lafayettes höfischem Ball auf: Nemo, im Studio anwesend, jedoch für Clélia unsichtbar, verfolgt auf einem Bildschirm ihren Interview- Auftritt und kommentiert einem Kollegen gegenüber die Attraktivität der neuen Princesse - medial aktualisierte Anknüpfung an den Text Lafayettes, in dem das verführerische, durch Hofklatsch und mondäne Mythenbildung plastisch ausgeschmückte Bild des Anderen ebenso den diegetisch realen Helden vorauseilt. „C’est pour elle une légende avant d’être une réalité“, beschreibt Werlen den Status Nemours’ für die Princesse: „[…] elle va aimer son image avant d’aimer sa personne. Il va donc s’agir de se faire aimer avant tout de cette si belle personne dont tout un chacun parle… Il y a là, au départ, une sorte de mythe. Serait-elle en effet tombée amoureuse de lui autrement? Pas forcément“ (2012: 77f.). Vgl. dazu auch die - in Żuławskis filmischer Interpretation gleichfalls eindrücklich illustrierten - Reflexionen Dubois’: „[…] M. de Nemours et Mme de Clèves sont d’abord l’un pour l’autre des idées de second degré, des idées d’idées deux fois éloignées de la vérité de la chose elle-même […] En reconnaissant Monsieur de Nemours en Monsieur de Nemours, la Princesse procède aussi à une méconnaissance: […]. Le même phénomène se produit naturellement pour Monsieur de Nemours, de sorte que les deux amants, avant de se découvrir, figent le désir qu’ils ont l’un de l’autre.“ In diesem Sinne konstatiert <?page no="562"?> 562 Andrzej Żuławskis La Fidélité im Übrigen für „de la merde“; auf Clélias leicht irritierte Rückfrage („pourquoi vous me dites ça? “) präzisiert der jeglicher höfischen Galanterie dezidiert abholde Anti-Kavalier: „[..] je pense que tout est de la merde et j’ai envie de coucher avec vous“ - recht unkonventionelle ‚Liebeserklärung‘, die ihre Wirkung auf Clélia trotzdem oder gerade deshalb nicht verfehlt. 69 Żuławski nimmt eine signifikante Verschiebung in der Chronologie seines Prätexts vor. Lafayettes Heldin geht ihre pragmatische Ehe vor der Begegnung mit Nemours ein; die zeitliche Priorität der Bekanntschaft mit dem Rollenträger des Prince wird in allen hier analysierten literarischen und filmischen Re-Interpretationen gewahrt, so auch in La Fidélité. Doch während sowohl bei Delannoy als auch bei Oliveira die jeweiligen Princesses ihren Nemours lafayettegetreu erst nach der Hochzeit zu Gesicht bekommen (ebenso bei Honoré, der bei seiner Teenager-Version des unglücklichen Paares auf eine offizielle Heirat verzichtet), führt Żuławski seine Protagonistin noch am Tag vor ihrer Eheschließung mit Nemo zusammen und räumt ihr damit einen zusätzlichen Handlungsfreiraum ein, den Clélia - aus Pflichtgefühl, Ratlosigkeit bzw. auch im Licht des coup de foudre zwar verblassender, aber realer Zuneigung zu Clève - allerdings nicht nützt. Im Unterschied zu Lafayette und sämtlichen anderen Princesse-Adaptionen ist weder dynastische Strategie noch familiärer Druck im Spiel: Auch Clève ist ein frei gewählter und zunächst zufällig getroffener Partner (erst nachträglich tritt auch die Mutter auf den Plan, deren schwere Krankheit an Clélias Entscheidung für Clève und sein komfortables Domizil nicht ganz unbeteiligt scheint und die ihre Tochter ihrerseits eindringlich - und unter partiell wörtlicher Lafayette-Variation - vor dem „précipice“ einer fatalen außerehelichen Passion warnt 70 ). Für diese Protagonistin - die, anders als die Princesse Lafayettes oder Oliveiras Heldin, von vornherein auch über die Option freiwilliger Ehelosigkeit verfügt - lautet das Dilemma nicht primär Ehe vs. Liebe, sondern vielmehr eine gegen die andere Liebe, wohltemperierter amour-affection für den sanften, ihr intellektuell nahestehenden, eine gewisse Sicherheit und Stabilität bietenden älteren Clève vs. irrationaler amour-passion für den jugendlichen Nemo, Repräsentant einer ihr völlig fremden sozialen Welt, mit dem Clélia freilich auch die Passion der Fotografie, beider Beruf und Berufung, verbindet. Żuławskis Re-Interpretation der Ehegeschichte der Clève(s) samt Reorganisation der Chronologie macht in besonderem Ausmaß die Ambivalenz der Freiheit deutlich; seine Heldin erscheint nicht mehr als Gefangene dynastischer bzw. familiärer Zwänge - und vollzieht schließlich doch den Parcours der Princesse nach, bis hin zur finalen, hier allerdings nicht durch den Tod der Protagonistin besiegelten retraite. 71 Dubois (2014) bereits bei Lafayette eine „scission de la substance simple du sujet“, für die eben Nemours, „par excellence le personnage qui comble le manque à être entre son être propre et son être pour les autres“, paradigmatisch steht. 69 La Fidélité: 48: 21-48: 30. 70 Ibid.: 01: 05: 53-01: 06: 08. 71 Wie Oliveira und einige Jahre später auch Honoré schickt Żuławski seinen ‚Prince‘ allein in den Tod, hier im Gegensatz zu La Lettre durch eine symbolträchtige Herzkrankheit motivisch präpariert und medizinisch plausibilisiert. In melodramatischer Antizipation seines Schicksals wirft Clève - Opfer zugleich der professionellen Demontage durch MacRoi und einer fatalen Passion, der auch sein bischöflicher Bruder verfällt - während einer gemeinsamen Bootsfahrt mit Clélia die Ruder weg, verzichtet auf die Kontrolle über sein eigenes Leben und lässt sich fortan dem Tod entgegentreiben. Auf nicht allzu verschlungenen intertextuellen Umwegen erinnert diese Szene an eine Schlüsselpassage aus einem anderen Werk Lafayettes: die Bootsfahrt in La Princesse de Montpensier, Wendepunkt einer anderen Passionsgeschichte mit tragischem Ausgang (in dieser Szene begegnet die eponyme Heldin aufs Neue <?page no="563"?> La Princesse en abyme: Blick, Begehren, Macht und Medien 563 Über seine heterogene Figurenkonstellation entfaltet Żuławskis Film derart eine weit komplexere Reflexion über persönliche wie professionelle Ethik, Willensfreiheit, Subjektivität und Alterität, als die von einer gewissen vorgefassten Verächtlichkeit getragene Filmkritik vermuten ließe. „La morale, c’est une chose importante“, erklärt ein enthusiastischer Clève seiner Princesse nach dem ersten Sex: 72 Im Gegensatz zu Delannoys filmischer „orgie de pureté“, 73 im Gegensatz aber auch zu Oliveiras konservativ-katholischer Interpretation lässt sich Żuławski auf die Herausforderungen einer postmodernen Ethik abseits eines traditionellen religiösen Wertesystems ein. Die ‚Tugend‘ seiner erwachsenen Heldin - die diesem leicht lächerlich anmutenden altmodischen Begriff eine neue Dimension eröffnet und wie ihre Lafayette’sche Vorgängerin selbst auf ihrer Andersartigkeit insistiert („Je suis pas comme tout le monde“ 74 ) - hat nichts mehr mit mädchenhafter Unschuld, Keuschheit bzw. sexueller Abstinenz zu tun: Als bisher einziger Princesse-Regisseur inszeniert Żuławski nackte - weibliche wie männliche - Körperlichkeit, Sex - und zwar eine ganze Menge Sex, teils in genussvoller Zeitlupe. Clélia - zwar selbst deklarierte Novizin der Liebe („Je n’ai jamais aimé personne“, gesteht sie ihrer Mutter zu Beginn des Films 75 ) - führt ein höchst aktives Sexualleben (schon ein Jahrzehnt vor Marie Darrieussecqs Roman Clèves setzt Żuławski dessen Devise - „ma Princesse, elle couchera“ 76 - in seinem Film recht plastisch um). Bereits bei der ersten Begegnung landet Clélia mit ihrem zukünftigen Gatten zwanglos im Bett (bzw. auf einer alten Ledercouch im familiären Verlagshaus). Gegen ihre außereheliche Passion verteidigt sich diese Protagonistin nicht zuletzt mit intensivierter matrimonialer Sexualität: So stürzt sie sich, in jener ‚Coulommiers‘-Szene von Nemo überrascht, geradezu verzweifelt ins Schlafzimmer zu ihrem Mann - und ohne weitere Präludien auf diesen selbst („Aide-moi…. aide-moi… conduis-moi… […] fais-moi un enfant“); 77 kurz: „Elle semble même chercher l’étreinte physique, soigneusement évitée par Delannoy et Oliveira, avec une véritable férocité - surtout dans des moments de crise“, wie Oster beobachtet. 78 Doch zugleich erscheint die Heldin in ihrer persönlichen Integrität als durchaus ‚tugendhafte‘ Figur am korrupten Hof des Medienkönigs; 79 nach ihrer Eheschließung hält auch sie an einem selbstauferlegten Ideal unbedingter Treue fest, aus heutiger Perspektive nicht weniger markiert ihrem Jugendgeliebten Guise in Gesellschaft des Duc d’Anjou) und - gerade in dieser Passage - mit interessanter metaliterarischer Dimension: „Cette aventure donna une nouvelle joie à ces jeunes Princes, et à tous ceux de leur suite. Elle leur parut une chose de Roman“ (Lafayette 2014a: 26). 72 La Fidélité: 11: 54-11: 56. 73 Cocteau (2003: 261) zu Lafayettes Roman. 74 La Fidélité: 28: 17-28: 18. 75 Ibid.: 01: 36. Ebendiesen Satz lässt - leicht nuanciert - auch schon Manoel de Oliveira seine Princesse sprechen: „En fait, je n’ai jamais aimé personne véritablement“ (La Lettre: 39: 43-39: 46). 76 Darrieussecq 2009b: IX. 77 La Fidélité: 01: 09: 22-01: 09: 34. 78 Oster 2009: 134. In diesem Punkt manifestiert sich gelegentlich auch im wissenschaftlichen Diskurs ein leicht moralisierend-pathologisierender Unterton; so diagnostiziert Duffy bei Żuławskis Protagonistin mit ihren „erotic excesses“ und ihrer „quasi-pornographic photography“ eine Tendenz zum „semi-nymphomaniac behaviour“ bzw. eine „paroxysmal sexuality“, die flugs psychoanalytisch zur potentiellen „flipside of frigidity“ umgedeutet wird (2009: 93, 107). 79 Vgl. Oster 2009: 134f. <?page no="564"?> 564 Andrzej Żuławskis La Fidélité als Attitüde und ethischer Anspruch der Princesse de Clèves in den Augen der kritischen Zeitgenossen Lafayettes. 80 „La ‚noblesse‘ de Mme de Clèves 2000 est proportionnelle à l’abjection de (presque) tout ce qui l’entoure“, bemerkt Guichard. 81 Bei aller plakativen Repräsentation eines maximal unmoralischen Medienimperiums samt zynischem König wird spätestens auf den zweiten Blick klar, dass auch hier keine klaren Fronten zwischen Gut und Böse verlaufen. Es ist ‚Princesse‘ Clélia selbst, die - nicht unter allen Umständen über irdische Intrigen erhaben - zum Telefonhörer greift und MacRoi & Co. über den Aufenthaltsort des mit Familie untergetauchten Bischofsbruders Clève informiert (nicht nur im medientechnischen Sinn fungiert die junge Fotografin wiederholt als Expertin der ‚Entwicklung‘, die in ihrer Dunkelkammer die Geheimnisse der anderen, die fundamentale Ambiguität sämtlicher Figuren um sie herum zum Vorschein bringt). Clève, der sensible, intellektuelle Erbe eines edlen Traditionsverlags, lässt seine Ehefrau von einer heimlich angeheuerten ‚Hyäne‘ bespitzeln und beschuldigt sie zu Unrecht jenes Ehebruchs, zu dem er sich selbst mit einem transvestitischen Prostituierten in einem Hotelzimmer trifft (in sein ebendort situiertes Telefonat mit Saint-André, Faktotum der MacRois, verpackt Żuławski eine vage Anspielung auf eine konfliktuelle Beziehungsvergangenheit der beiden „à la fac“, die Clève zusätzlich in ein gewisses Zwielicht abseits konventioneller heteronormativer ehelicher Tugend rücken 82 ); derart wird hier auch die Gestalt des „mari sympathique“ - literarische Innovation Lafayettes 83 - von ihrem Podest vertrieben. Doch auch bei anderen zunächst oberflächlich sympathisch angelegten Figuren - so der Dauphine mit ihrem gut getarnten geschäftlichen Killer-Instinkt - tun sich nachträglich Abgründe auf; umgekehrt werden prononciert antipathische Charaktere wie MacRoi oder Diane unversehens in ihrer Menschlichkeit und Verletzlichkeit sichtbar (so in jener Szene, da die wie stets betrunkene Diane einen Einblick in ihre triste Vorgeschichte gewährt, oder in einem Gespräch mit Clélia, da der über Vergänglichkeit und Tod philosophierende Medien-Tycoon für einen Moment seine zynische Maskerade vergisst). Der skrupellose und sexuell omnivore Nemo wiederum geht unter größtem persönlichem Risiko seiner Tätigkeit als Enthüllungsreporter nach, wobei seine Aufdeckungen allerlei mafiöser Machenschaften freilich zugleich der Profitmaximierung des nicht minder korrupten bis kriminellen MacRoi dienen; auch seine Rolle bei Hof - ebenso ambivalent wie jene Clélias - lädt zur Reflexion über die kommerzielle Vereinnahmung von Kunst wie Gesellschaftskritik ein. Im Rahmen der Exkursionen in Nemos (Unter-)Welt schwelgt La Fidélité - hart an der Grenze des second degré und der Selbstparodie - in jener Brachial-Ästhetik (Zeitlupen- Schießerei, splitterndes Glas, Verfolgungsjagd etc.), die die ‚Marke‘ Żuławski in den Augen der französischen Filmkritik stigmatisiert. Zu Recht weist Duffy darauf hin, dass Żuławskis eigene Bildersprache dem Universum MacRois nicht unverwandt ist: 84 Insofern stellt gerade La Fidélité zwischen klassischem Prätext und Action-Kino auch eine etablierte Hierarchie von Hochvs. Populärkultur zur Schau - und potentiell in Frage. 80 Vgl. Duffy 2009: 97. 81 Guichard 2000. 82 La Fidélité: 02: 05: 53-02: 07: 28. 83 Haussonville (1891), zit. nach Laugaa 1971: 202. 84 Vgl. Duffy 2009: 115. <?page no="565"?> La Princesse en abyme: Blick, Begehren, Macht und Medien 565 Kino „en poupée russe“: Metamedialität und Gender-Transgression In dieser wie anderer Hinsicht ist La Fidélité ein hochgradig selbstreflexiver bzw. selbstreferentieller Film, 85 „construit un tout petit peu en poupée russe“, 86 der unablässig mit seiner eigenen Medialität spielt, den dem Projekt der Literaturverfilmung inhärenten Medienwechsel, die Relation zum literarischen Ausgangstext, aber auch die eigene Sekundarität in der Rezeptions- und spezifisch Filmgeschichte der Princesse de Clèves explizit zum Thema macht. Mit La Fidélité wählt Żuławski einen mehrfach symbolträchtigen, auch als „a statement of self-irony“ 87 lesbaren Titel, der nicht nur auf einen heiklen persönlichen Hintergrund verweist, 88 sondern auch die poetologische Frage adaptiver (Un-)Treue zwischen esprit und lettre aufwirft 89 (2001 erscheint - ironischer Kontrapunkt - Żuławskis Roman Niewierność; 90 schon der Film hätte, so der Regisseur und Autor, ebenso gut L’Infidélité heißen können 91 ). Als kinematografischer Spezialist unter anderem für das Genre der Klassikerverfilmung hatte Żuławski bereits vor der Princesse de Clèves unter anderem Puškins Boris Godunov und Dostoevskijs Idiot adaptiert; seine von ihm selbst reflektierte Ambivalenz gegenüber dieser seiner Welt der ‚Kultur‘, 92 jene für sein Schaffen charakteristische konfliktuelle Intertextualität bzw. Intermedialität prägen auch seine Statements zu seinem französischen Modell, zwischen betonter „admiration“ für Lafayettes Werk und affichierter Indifferenz („[j]e n’ai rien à voir avec Madame de Lafayette […] [t]out est bon pour un film“ 93 ). Diese sporadische ikonoklastische Attitüde hindert Żuławski freilich nicht daran, sich akribisch an seinem Prätext abzuarbeiten und diesen wiederholt - vor allem über Lafayette- Leser und -Sprachrohr Jean, aber auch in der Sterbeszene der Mutter - direkt zu zitieren: Die Princesse wird hier Teil eines schillernden „jeu des médias“ 94 zwischen Text, Film und Fotografie (auf deren enger Verwandtschaft, ja Quasi-Identität Żuławski insistiert 95 ). Roman im Film, Film im Roman im Film: La Fidélité entfaltet eine Sequenz intermedialer mises en 85 Vgl. ibid. 86 Żuławski im Audiokommentar zu La Fidélité: 10: 39-10: 41. 87 Duffy 2009: 114. 88 In Marceaus nur zwei Jahre nach La Fidélité präsentiertem autobiografischen Film Parlez-moi d’amour (2002) wird die Trennung von Żuławski mit der obsessiven Eifersucht des deutlich älteren Partners erklärt (vgl. ibid.: 94). 89 Diese essentielle poetologische Komponente (wie ‚treu‘ kann, darf, soll eine Literaturverfilmung sein? ) fehlt dem deutschsprachigen Titel Die Treue der Frauen, der - als interpretatorisch reduktive Übersetzung nicht einmal besonders schöne infidèle - mit seinem banalisierenden Geschlechtsplural auch einer wie bei Lafayette in ihrer Exzeptionalität reflektierten Protagonistin nicht gerecht wird. 90 Żuławski 2001; frz. Fassung: L’Infidélité (2003). 91 Vgl. Duffy 2009: 94. 92 „My life is woven with literature, paintings, music. It’s inbred from my family, from the whole story of my life. […] What I profoundly know is this world of culture - I hate this word, okay? - which is still my world, and therefore I worked against it almost as much as I was for it in my films“ (Barton- Fumo 2012). 93 Zit. nach Duffy 2009: 94. 94 Oster 2009: 139. 95 „But film is photography. […] Film is in fact frozen photography […] you see I always wanted dearly to include the theater, to include photography, to include TV in the films I was making because it’s the same message. The medium is very slightly different, but in fact it belongs to the same area of expression […]“ (Barton-Fumo 2012). <?page no="566"?> 566 Andrzej Żuławskis La Fidélité abyme. Gleich bei der Ankunft am ‚Hof‘ sieht sich Żuławskis Princesse nicht nur mit dem Text Lafayettes, sondern auch mit ihrer filmischen Vorgeschichte konfrontiert: Kollege Jean begrüßt sie mit einem wörtlichen Lafayette-Zitat: „Il parut alors une beauté à la Cour […].“ 96 Etwas zerstreut durchblättert Clélia die Princesse-Taschenbuchedition auf seinem Schreibtisch, bis einige Illustrationen - ein Porträt Lafayettes und ein in Großaufnahme eingeblendetes Standbild aus der Adaption Jean Delannoys 97 - ihre Aufmerksamkeit fesseln: In dieser Mini- Szene - dichtes Konzentrat unterschiedlicher filmisch-literarischer Zitatpraktiken 98 - kreiert Żuławski derart ein Exempel einer „double intertextualité où texte et transposition filmique antérieure se rencontrent dans le médium du livre“ 99 bzw. ein ganzes intermediales Princesse- Palimpsest (Roman-Film-Screenshot-Roman-Film etc.). Lafayettes Text bleibt im Film weiterhin präsent, dies insbesondere im Munde Jeans, 100 der - mehrere Jahre vor der ‚Affäre‘ Sarkozy - die Princesse explizit auf der Meta-Ebene als Symbol seines persönlichen Widerstands gegen die Vulgarität des korrupten und zynischen Mikrokosmos MacRoi kommentiert („Se cultiver, c’est résister“). 101 Żuławski spielt aber auch mit der Princesse Delannoys als kinematografischem Prätext: So wird ausgehend von jenem Samtschal Nemours’, der bei Delannoy die ‚canne des Indes‘ in der Coulommiers-Szene ersetzt, ein feiner roter Faden durch seinen Film ausgesponnen, dies wiederum unter Re-Akzentuierung der Geschlechterordnung. Bei Delannoy ist es ein dekorativ erhitzter Nemours, der sich - auch mit rotem Béret und passenden Handschuhen angetan - mit diesem Schal etwas Schweiß abwischt (während die Princesse dem königlichen Turnier an der Seite der Dauphine als passive Zuschauerin samt Gesichtsschutz beiwohnt); Żuławski schickt seine Protagonistin - nicht nur sexuell die bei weitem körperlich aktivste aller bisherigen Princesses - selbst in die Arena. Nach dem durch seine fotografische Grenzüberschreitung von ‚Coulommiers‘ provozierten Streit erkundigt Nemo sich bei Clélia nach ihren sportlichen Interessen - Ablenkungsmanöver und naheliegendes Ventil; als sie in bester intertextueller Tradition ein bewusst altmodisches „jeu de paume“ nennt, 102 bricht er unverzüglich mit ihr zum Squash auf. Das improvisierte 96 La Fidélité: 13: 36-13: 38; vgl. Lafayette 2014c: 337. 97 La Fidélité: 13: 54-13: 56. Konkret zeigt besagte Aufnahme das Ehepaar Clèves in seiner Loge anlässlich des königlichen Turniers (vgl. La Princesse de Clèves: 55: 42-55: 54). 98 Auf das „wortwörtliche Zitat“ aus der Princesse de Clèves folgt - im Sinne von Birgit Wagners Modell filmischer Zitierweisen literarischer Prätexte - hier eine Kombination von „Objekt-Zitat“ und „sekundäre[m] Zitat“ bzw. inter-/ intramedialer Zitatverdoppelung (2009: hier 39). 99 Oster 2009: 136. 100 Vgl. etwa „[…] pour être son mari, il ne laissa pas d’être son amant“ (La Fidélité: 46: 52-46: 54; Lafayette 2014c: 349) oder auch „L’honneur de vous séduire: fin de citation“ (La Fidélité: 02: 08: 16-02: 08: 19): Żuławski legt seiner Figur als verknapptes, gleich mehrfach als solches markiertes Zitat die Worte des Prince de Clèves auf seinem Sterbebett in den Mund („[…] vous connaîtrez la différence d’être aimée comme je vous aimais, à l’être par des gens, qui en vous témoignant de l’amour, ne cherchent que l’honneur de vous séduire“; Lafayette 2014c: 459) - hier ist es der von Anfang an erfolglose Rivale, der die mahnende Rolle des Ehemannes übernimmt. „C’est bien toi“, fügt Jean nach vielsagendem Blick auf seine Lafayette-Taschenbuchedition hinzu; wie Amélie Nothombs Heldin verweigert Clélia das literarische Identifikationsangebot: „Je suis moi“ (La Fidélité: 02: 08: 24-02: 08: 30). In subtiler Abwandlung ebendieser Passage gesteht sich Clève wenige Filmminuten zuvor in einem Brief an seine (Noch-)Ehefrau melancholisch ein: „J’ai eu le bonheur de te séduire, pas celui d’être aimé de toi“ (ibid.: 02: 04: 25-02: 04: 28). 101 Ibid.: 34: 53-34: 55. 102 Ibid.: 01: 12: 33-01: 12: 36. <?page no="567"?> La Princesse en abyme: Blick, Begehren, Macht und Medien 567 Mini-Turnier, Fortsetzung des fotografischen Duells mit anderen Mitteln, gerät zugleich zur doppelt spielerischen Neuaushandlung der Gender-Ordnung der (multiplen) Princesse: Clélia als temperamentvolle Heldin in T-Shirt und Shorts lässt sich nicht widerstandslos voyeuristisch jagen, sondern schlägt und schießt - mit der Kamera wie beim Squash - erfolgreich zurück. Jener Moment, da die beiden nun schon wieder versöhnten Protagonisten elegant synchronisiert mit ihren Rackets jonglieren, scheint den gemeinsamen Tanz auf dem Hofball Lafayettes zu variieren, auf den - da dezidiert zu weit abseits von ‚Nemos Welt‘ angesiedelt - Żuławski anlässlich der Szene der Erstbegegnung verzichtet. Verschwitzt entschwindet Clélia endlich in Richtung Dusche, nicht ohne sich zuvor mit einem dunkelroten Handtuch - manifestes textiles Zitat - unter ihrem Shirt abzutrocknen; zurück bleibt ein an ebendiesem Stück Stoff schnuppernder, dann ekstatisch sein Gesicht darin vergrabender Nemo. 103 Die in modernen und postmodernen literarischen Versionen der Princesse mannigfach transformierte und multiplizierte, in den filmischen Adaptionen Delannoys wie Oliveiras - bei letzterem unter sozio-spatialer Rekontextualisierung - quasi wörtlich beibehaltene aveu- Szene wird bei Żuławski signifikant umgestaltet: Anders als in La Lettre wandert der aveu in das Landhaus Clèves (‚Coulommiers‘) zurück, findet aber außer Sicht- und Hörweite Nemos statt und wird im Übrigen auf mehrere Mini-Szenen aufgesplittet; wütend und verzweifelt greift Clève auf der Suche nach einem Indiz („Il est là-dedans? “) 104 nach Clélias Aufnahmen, verweigert doch auch diese Princesse die Auskunft auf die Frage „tu me diras qui? “. 105 Es ist das Medium der Fotografie, das Żuławskis Re-Interpretation der Heldin Lafayettes wie die metamediale Dimension seines Films wesentlich trägt: Eben in ihrer Eigenschaft als Fotografin wird diese Princesse - Kontrapunkt zu den passiv-dekorativen Protagonistinnen Delannoys und Oliveiras, aber (nachträglich) auch Honorés - mit beträchtlicher, professionell legitimierter visueller Macht ausgestattet; über Fotografie werden aber auch unterschiedliche Welt-Anschauungen und Welt-Bilder in konkretem wie metaphorischem Sinne reflektiert. Gleich am Tag ihres Debüts wird Clélia von Diane mit der anti-moralischen Philosophie des Systems MacRoi konfrontiert; „[…] toute bonne photo est une photo méchante“, 106 erklärt ihrerseits die junge Fotografin, deren eigene Kunst, einer völlig anderen Ästhetik und Ethik verpflichtet, sich freilich in ihrer hochkulturellen Alibi-Funktion als sehr wenig kommerzkompatibel erweist und die Auflagenzahlen der Vérité einbrechen lässt (wie Dauphine Julia mit giftiger Liebenswürdigkeit präzisiert). Die Aufnahmen Clélias, Adeptin des fotografischen wie existentiellen flou, erscheinen stets diffus, vernebelt, fragmentarisch. Im Gegensatz zu den grellen Schock- und Skandalbildern, den plakativen (Pseudo-)vérités, die das Sensationsblatt MacRois zum einträglichen Geschäft machen, tasten sich diese Fotos zurückhaltend, misstrauisch an eine problematische, in ihrer trügerisch einfachen Reproduzierbarkeit in Frage gestellte ‚Realität‘ heran; ihre gespenstische De-Fokussierung und Dezentrierung lässt einen 103 Ibid.: 01: 12: 56-01: 13: 46. 104 Ibid.: 01: 26: 38. 105 Ibid.: 01: 25: 01. „Si je savais qui c’était, je pourrais quitter le rôle de mari, d’amant, pour te consoler, pour te plaindre“ (ibid.: 01: 25: 07-01: 25: 17), stellt Clève in Aussicht, unter transparenter Variation des Lafayette’schen Prätexts: „[…] car la sincérité me touche d’une telle sorte, que je crois que si ma maîtresse et même ma femme m’avouait que quelqu’un lui plût, j’en serais affligé sans en être aigri. Je quitterais le personnage d’amant ou de mari, pour la conseiller et pour la plaindre“, erklärt M. de Clèves in Bezug auf die Affäre Tournon (2014c: 372). 106 La Fidélité: 15: 00-15: 01. <?page no="568"?> 568 Andrzej Żuławskis La Fidélité verfremdeten menschlichen Körper - symptomatischerweise häufig kopflos fotografiert -, das menschliche Subjekt in seiner prekären Kohärenz selbst nicht aus dem Spiel. Schon anlässlich ihres Einstands bei ‚Hofe‘ wird - in einer der für den Film so charakteristischen multipel medial gerahmten Szenen - Clélias neues „album sur l’absence“ samt TV-Interview mit der Künstlerin präsentiert. 107 In den Augen bzw. vor der Kameralinse der Heldin gerät auch ihr per se recht triviales erstes „assignment“ - von Diane höchstpersönlich wird Clélia zu einem Freundschaftsturnier der Eishockey-Mannschaft MacRois beordert 108 - zum surrealen Fotoprojekt: Entgeistert betrachten die anderen ‚Höflinge‘ das Resultat dieser extravaganten Sportreportage, verschwommenes Chaos aus Eis, Hockeyschlägern und isolierten Körperteilen, das MacRoi - gegen den Willen der wütenden Diane - in Verfolgung seiner eigenen Agenden trotz allem auf das Cover der Vérité zu drucken befiehlt. Im Rahmen resp. am Rande jenes Turniers vollzieht sich auch eine erste massive Gender- Grenzüberschreitung mit fotografischen Mitteln, mit der Żuławski seine Princesse, professionelle Bilderproduzentin und gelegentlich Bilderdiebin, von der Rolle eines passiven Objekts männlicher Schaulust in eine aktive, ihrerseits voyeuristische Subjekt-Position versetzt. Gegen den Widerstand der Security verschafft sich Clélia entschlossen Zugang zur Garderobe des Eishockey-Teams; die Präsenz der - vollständig bekleideten, mit einem langen weiten Mantel angetanen - jungen Frau mit ihrer Kamera mitten unter einer ausgelassenen Gruppe nackter, in ihrer körperlichen Intimität preisgegebener Männer löst als auch in einem postmodernpostfeministischen Kontext durchaus noch wirkmächtige Transgression, ja Inversion einer traditionellen Gender-Ökonomie strategisch - diegetisch bei den Spielern wie extradiegetisch bei den Zuschauern - eine diffuse Irritation (und damit bei letzteren potentiell auch einen Prozess der Selbstreflexion) aus. Die attraktive Protagonistin - Störfaktor nicht nur in der kommerziell orientierten Bilderwelt des Hauses MacRoi, sondern auch in der etablierten visuellen ‚Arbeitsteilung‘ der Geschlechter - kommt hier auf der ‚falschen‘ Seite der Kamera zum Einsatz; nachdem sie, die Mannschaft höflich herumkommandierend, die Sportler ohne Umschweife aufgefordert hat, ihren Post-Match-‚Kriegstanz‘ samt Gesang (und mit baumelnden Genitalien) zu wiederholen („sans les mains, sans les mains! “ 109 ) - fotografischfilmische Inszenierung menschlicher Nacktheit an den Antipoden der Pornografie -, wehrt sie die brachialen Avancen des ‚Herrschers‘ selbst ab, der in einer sexualisierten Machtdemonstration zur Re-Affirmation der erschütterten Gender-Ordnung schreitet. Im Dialog zwischen Clélia und MacRoi wird der ‚Skandal‘ dieser weiblichen Selbst-Autorisierung via Fotografie deutlich: Gezielt provokant erklärt MacRoi, bereits „vos photos“ gesehen zu haben - und präzisiert auf Clélias fragenden Blick: „Je veux dire… […] j’ai vu des photos de vous“; 110 dieses syntaktische Verwirrspiel zwischen Genitivus subiectivus und obiectivus resümiert prägnant den transgressiven Status der Protagonistin als weibliches Subjekt des Blicks und des Begehrens (unmittelbar darauf zeigt Żuławski Clélia beim spontanen Sex mit einem charmanten jungen Sportler in der Dusche). Es bleibt freilich nicht bei der eindeutigen und einseitigen Konstruktion einer blick- und kamera-mächtigen Heldin: Eben über das Motiv der Fotografie wird auch deren Ambivalenz 107 Ibid.: 04: 06. 108 Ibid.: 14: 39-14: 51. 109 Ibid.: 20: 30. 110 Ibid.: 20: 51-20: 56. <?page no="569"?> La Princesse en abyme: Blick, Begehren, Macht und Medien 569 zwischen Gender-Offensive und Defensive, souveräner Distanz und ängstlichem Selbstschutz illustriert. Fotografie ist für Clélia nicht nur Profession und Passion, sondern universelle Kontingenz- und Konfliktbewältigungsstrategie; auf starke Emotionen, Probleme und Provokationen aller Art reagiert sie stereotyp mit der leitmotivisch durch den Film wiederholten gleichen Geste: Konfrontiert mit einer Realität, die sie im einen oder anderen Sinne zu überwältigen droht, zückt diese Protagonistin ihre Kamera, existentielle Prothese, essentielles und womöglich einziges Instrument der Selbstverteidigung und Selbsttherapie. Clélia fotografiert am Krankenbett ihrer Mutter ebenso wie angesichts des coup de foudre; sie fotografiert den heimlich begehrten Nemo wie MacRoi und Diane, als sie die beiden beim ‚öffentlichen‘ Sexualakt im Studio überrascht. 111 Clélia fotografiert aber auch Clève, mit dem sie schon bei der ersten Begegnung via Kamera und durch die Vitrine jenes Blumenladens in grotesker Pantomime (fehl-)kommuniziert 112 - symbolischer Auftakt einer Beziehungsgeschichte der Missverständnisse, die über das Privatdrama hinaus eine prinzipielle Problematik intersubjektiver Inkommunikabilität und Intransparenz, der Undurchschaubarkeit und Unfassbarkeit des Anderen - auch und gerade mit den Mitteln moderner Medientechnik - adressiert. Ebenso symptomatisch misslingt kurz darauf Clélias Versuch eines fotografischen Doppelporträts; gespenstisch entzieht sich das vage Spiegelbild eines zum Scheitern verurteilten Paares in einem Fenster von ‚Coulommiers‘ dem Zugriff der Kamera. Im Kontext dieser unglücklichen Ehe spielt La Fidélité auch mit der fatalen (Un-)Treue der Fotografie: Der engagierte Spion legt Clève schließlich ein scheinbar eindeutig kompromittierendes Foto von Clélia und Nemo vor. Während die Zuschauerin weiß, dass die angebliche Evidenz trügt, die Protagonistin - auf den Spuren ihrer intertextuellen Vorgängerin - ihrem Mann sexuell sehr wohl treu geblieben ist, nimmt Clève - seinerseits in Imitation der bei Valincour heftig kritisierten irrationalselbstdestruktiven Reaktion seines literarischen Modells - den gebotenen Beweis für bare Münze (bzw. bares Bild), trennt sich von Clélia und stirbt bald darauf an einem Herzanfall (sein öffentlicher Tod, der sogleich allerlei fotografische ‚Hyänen‘ anlockt, reißt erneut eine hier aus unterschiedlichen Perspektiven reflektierte medien-ethische Thematik an). Auf der Meta-Ebene gelesen, konstruiert La Fidélité derart ein melancholisches Lehrstück des adäquaten Umgangs mit den Tricks und Täuschungen des - nicht nur fotografischen - Augenscheins, gegen die auch Clélia nicht ganz immun ist: Selbst zwar nicht unsichtbar, doch ungesehen, beobachtet sie Nemo beim vermeintlichen Rendezvous mit einer attraktiven jungen schwarzen 111 Mit dem Imperium MacRois, postmodernes Äquivalent der panoptischen cour Lafayettes, konstruiert Żuławski zugleich eine radikale Gegenwelt auch zur „poésie de l’intériorité, de l’intimité“ der Princesse (Rambaud 2006: 77). Weinstein resümiert die Handlung von Lafayettes Roman als „massive assault on privacy, a transformation of intimacy into public spectacle“ (1981: 73, zit. nach DeJean 1992: 63); auch in La Fidélité wird die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum permanent überschritten bzw. aggressiv-voyeuristisch aufgehoben, das Subjekt in seiner Intimität exponiert. Von einem systematisch transgressiven ‚König‘, boulevardisierter Louis XIV, dessen Existenz vom lever bis zum coucher des (Mac)Roi eine einzige öffentliche Inszenierung ist, wird bei Bedarf auch das Studio zum improvisierten ‚Schlafzimmer‘ voller Kameras und Bildschirme umfunktioniert. 112 „The inalterable nature of the obstacle is figured by the glass of the window, which simultaneously promises and prohibits by the material insurmountability that coexists with its visual transparency“, bemerkt Racevskis bereits zur Princesse de Clèves und konkret zur visuellen Struktur der salopp etikettierten nächtlichen „Coulommiers ‚peeping-Tom‘ scene“ (1996: 29). <?page no="570"?> 570 Andrzej Żuławskis La Fidélité Frau (de facto Informantin im Rahmen eines aktuellen Reportage-Projekts) durch die Glasscheibe eines Lokals - adaptierte Version der Lafayette’schen Eifersuchtsszene rund um den aus der Existenz dieses literaturfernen Nemours eliminierten Brief. Nemo ist auch jene Figur, die in ihrer ‚proletarischen‘ Körperlichkeit, ihrer ‚vulgären‘ Sprache diese allgegenwärtigen transparenten Trennwände zu durchbrechen versucht; in ihrer kruden, schmutzigen und gelegentlich blutigen Materialität, ihrer als solche freilich schon wieder problematisierten Authentizität steht seine Welt in frappantem Kontrast zum kultivierten Biblio-Mikrokosmos Clèves wie zur plakativen Fassaden-Ästhetik MacRois. Die - auch hier konsequent platonische - Liebesgeschichte zwischen Clélia und Nemo ist nicht zuletzt ein extravaganter ‚Foto-Roman‘. Die nächtliche Szene von Coulommiers - in einer voyeuristischen Blick-Kaskade en abyme attackiert Nemo die in die Betrachtung seines verschwimmenden Bildes 113 versunkene Clélia mit seiner Kamera: es ist deren Klickgeräusch, das jene aus ihrer Träumerei aufschrecken lässt - mündet in ein regelrechtes fotografisches Duell, bemerkenswert aggressiver Liebesakt auf Distanz 114 samt nicht minder aggressivem ‚Bilderdiebstahl‘. 115 Doch die Entwicklung dieser konfliktuellen Passion spiegelt sich auch im künstlerischen Schaffen beider Protagonisten wider. Repräsentieren Clélia und Nemo, die abstrakte Kunstfotografin und der auf den zugleich sozialkritisch intendierten Foto-choc spezialisierte Sensationsreporter, zunächst radikal unterschiedliche Ästhetiken, so vollzieht sich in der Folge eine subtile Annäherung, bis hin zum Punkt der niemals sexuell, sehr wohl aber fotografisch realisierten Fusion: Zur allseitigen Verwunderung legen beide schließlich neue Arbeiten vor, die vom jeweils anderen zu stammen scheinen - Zeugnis einer auf medialen Umwegen trotz allem gelungenen amourösen Kommunikation, in der am offenen Ende des Films womöglich noch nicht das letzte Wort gesprochen bzw. das letzte Foto geschossen ist. Nach dem Tod ihres Mannes und ihrer Verbannung aus dem Imperium MacRoi (die Entscheidung zum Rückzug vom ‚Hof‘ bleibt hier nicht der Protagonistin selbst überlassen: unzeremoniös wird Clélia von ihrer neu inthronisierten Halbschwester von dannen gejagt) zieht Żuławskis Princesse sich temporär in ein recht unkonventionelles ‚Kloster‘ zurück, das als gleich mehrfache - und exklusiv weiblich besiedelte - Heterotopie im Sinne Michel Foucaults 116 diverse „characteristics of a Buddhist monastery, a prison and a mental hospital“ 117 eklektisch vereint und an dessen esoterischem Alltag Clélia lediglich als Gast partizipiert: Wie Lafayettes Mme de Clèves, die - im Kontext der Epoche innovatives Moment - nicht den Schleier nimmt, erscheint auch Clélia durch Kleidung wie Aktivitäten klar von klösterlicher 113 Wie bei Lafayette und bei Oliveira handelt es sich auch hier um eine öffentliche Aufnahme, die Nemo unter anderen Personen zeigt - und von Clélia heimlich als intimes Porträt des Liebesobjekts zweckentfremdet resp. re-interpretiert wird. 114 Vgl. Oster 2009: 139. 115 Der Status der Kamera als Waffe wird auch ex negativo deutlich: Als Clélia, offiziell für dieses mondäne Event engagiert, bei der Hochzeit der ‚Dauphine‘ eintrifft und den ihr entgegenkommenden Nemo prophylaktisch als erste fotografisch attackiert, öffnet dieser seine Jacke, um ihr zu demonstrieren, dass er diesmal ‚unbewaffnet‘, d. h. ohne Kamera erschienen ist. 116 Vgl. Foucault 2005. 117 Duffy 2009: 106. <?page no="571"?> La Princesse en abyme: Blick, Begehren, Macht und Medien 571 Uniform und spirituellen Ritualen der anderen Insassinnen differenziert. Wie Lafayettes Heldin durch „une maladie violente“ 118 gezeichnet (ob sterbend oder rekonvaleszent, lässt der Film offen 119 ), fotografiert Clélia, nunmehr mit etwas angegrauter Kurzhaarfrisur und hartnäckigem Husten, unermüdlich weiter, unter Rekurs auf bis an die Grenze der Selbstparodie ‚bedeutungsschwere‘ Motive (Blumen, tränengleiche Tautropfen etc.). Es ist vielleicht ihre Kamera, kleine Gespenstermaschine, die auch einen anderen überraschenden Gast heraufbeschwört: Neben Clélia taucht plötzlich der Geist Clèves (stilgerecht im Frack) auf, erteilt seiner jungen Witwe, die im Gegensatz zur Protagonistin Lafayettes die Chance zur Aussöhnung erhält, auf ihre sanfte Bitte „Pardonne-moi“ lächelnd die Absolution, nimmt höchst symbolisch die Eheringe in sein Jenseits mit - und ebnet Clélia mit diesem onirischhalluzinatorischen Happy End den Weg zu einem potentiellen amourösen Neuanfang. 120 In einer finalen mise en abyme sucht Nemo seine Princesse an ihrem Zufluchtsort zunächst in Form einer metadiegetischen Film-Erzählung heim. Auf einem TV-Bildschirm im Gemeinschaftsraum des Klosters - ein weiteres Mal verschachtelt Żuławski Medium in Medium - sieht eine verblüffte Clélia sich mit der sprachlich ins Englische verfremdeten Geschichte ‚ihrer selbst‘ konfrontiert, angefangen mit der Einstiegsszene der Fidélité (leicht parodistisches Spiel mit dem denkbar klassischen, hier mehrfach medial gebrochenen kinohistorischen Topos der Eisenbahnfahrt). Der Nachspann präzisiert, dass es sich bei dem eben präsentierten Werk The Princess of Cleve [wiederum sic] - in einem dynamischen metaleptischen Palimpsest werden real existierender Roman La Princesse de Clèves, real existierender Film La Fidélité und fiktiver bzw. auszugsweise metadiegetisch realisierter Film The Princess of Cleve überblendet - um eine Kreation der „MacRoi Productions“ handelt. „Directed by Fernand NEMO“: 121 Mit dieser Wendung gerät La Fidélité quasi zum ‚self-begetting film‘, 122 Nemo zum Autor resp. Regisseur dieser neuen Princesse. Clélia jedenfalls, die zum ersten Mal den Vornamen Nemos erfährt, bricht in fröhliches Lachen aus („Fernand? Fernand? “); 123 in diesem Moment gewinnt - wenngleich auf Distanz - die Non-Liaison der beiden Protagonisten eine neue Qualität. An die Stelle des enigmatischen, nicht nur fotografisch unfassbaren ‚Niemand‘, Symbol- und Projektionsfigur radikaler Alterität, tritt ein diegetisch sehr realer junger Mann mit ein wenig ‚lächerlichem‘ altmodischem Vornamen, der Clélia - und den Clélia - noch nicht unbedingt definitiv aufgegeben hat, wie die letzte Szene des Films suggeriert: Vor einem vage mediterranen Meer-Gebirgs-Panorama (Christophe Honoré wird für den Schluss der Belle Personne ein nicht unähnliches maritimes 118 Lafayette 2014c: 476. 119 Auch in diesem Punkt spinnt Żuławski eine bereits im Prätext angelegte Ambivalenz fort: Interpretiert Stanton Verzicht und Krankheit der Princesse als „une sorte de mort symbolique“ (1975: 97), so lässt sich diese „maladie violente“ samt folgender Genesung, wie McGuire anmerkt, doch auch als kathartisches Geschehen, „une sorte de renaissance indéchiffrable“ lesen: „Sa maladie sert alors à purger tout un système de valeurs, de vertu ‚imitable‘, pour que la Princesse puisse vivre sans un exemple lui permettant de s’écrire elle-même“ (1993: 388). 120 La Fidélité: 02: 34: 38-02: 35: 55. 121 Ibid.: 02: 33: 44-02: 33: 45. 122 Vgl. Kellmans Konzept der Self-Begetting Novel (1980). 123 La Fidélité: 02: 33: 47-02: 33: 58. <?page no="572"?> 572 Andrzej Żuławskis La Fidélité Ambiente wählen) rast ein Motorradfahrer im schwarzen Lederdress - die Identifikation mit Nemo wird deutlich genug nahegelegt - über eine kurvenreiche Straße bergauf, offenbar zur freilich schon jenseits der Grenzen des Films angesiedelten Wiedervereinigung mit der geliebten Frau - letzter Abschied oder Neubeginn? - unterwegs. 124 Les jeux ne sont pas faits, die Princesse und die Princesse bis auf Widerruf lebendig: Das kinematografische Spiel kann weitergehen. 124 Im Rahmen ihrer Kristeva-basierten Lektüre interpretiert Duffy auch das Ende dieses filmischen Princesse-Narrativs mit seiner „univocally pessimistic resonance“ in entsprechend melancholischem Licht; die abschließende mise en abyme wird als Zeichen des bevorstehenden Todes einer (Anti-) Heldin gelesen, die längst die Kontrolle „over her story, which, unlike the princess […] she can neither shape nor exit“ verloren hat (2009: 113). Dies ist freilich nur eine mögliche Lesart: Żuławski erhält die Ambivalenz eines offenen Schlusses bis zuletzt aufrecht; es bleibt der Zuschauerin überlassen, La Fidélité zu Ende zu erzählen - oder eben auch nicht. <?page no="573"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? Christophe Honorés La Belle Personne „Amours adolescentes dans un lycée parisien BCBG et aussi amour passion d’un prof d’Italien pour une de ses élèves et vice-versa“, lautet Pierre Lagiers 1 ebenso lapidares wie leicht giftiges Resümee der modernisierenden - wenngleich ursprünglich als „film d’époque en costumes“ projektierten 2 - Princesse-Adaption Christophe Honorés, an anderer Stelle ironisch als „Teenage movie des quartiers chics“ charakterisiert. 3 Etwas mehr hat der Spielfilm La Belle Personne (2008), „[l]ibrement inspiré par La Princesse de Clèves de Mme de Lafayette“, 4 der das höfische Dispositiv des Romans durch ein zeitgenössisches Pariser Lycée - seinerseits geschlossenes Panoptikum - ersetzt, freilich doch zu bieten. Im Œuvre des Regisseurs (der gemeinsam mit Gilles Taurand auch das Drehbuch verfasste) erscheint La Belle Personne, gedreht in Zusammenarbeit mit Honorés bewährter filmischer „famille“ 5 (Louis Garrel als Nemours, Grégoire Leprince-Ringuet als Rollenträger - ausgerechnet - des Prince 6 etc.) und von Interesse nicht zuletzt als Schnittpunkt mehrerer künstlerischer Biografien, 7 als Übergangswerk, deshalb allerdings keinesfalls als „œuvre mineure“, wie der Autor einer Rezension in Les Inrockuptibles feststellt, auch er - wie ein beträchtlicher Teil der kritischen Kollegenschaft - voll des Lobes für „l’un des plus beaux films de Christophe Honoré“. 8 Diesem zufolge bildet La Belle Personne mit Dans Paris und Les Chansons d’amour „une trilogie, un portrait en trois volets de la jeunesse, de l’amour et de Paris“; bereitwillig stimmt der Regisseur auch der Interpretation als „une version noire de Les Chansons d’amour“ zu: „Oui, La Belle Personne est beaucoup plus noir et tragique dans sa manière d’appréhender l’absolu de l’amour.“ 9 1 Lagier 2008. 2 Bourdais 2008. 3 Vgl. Lecompte 2009c: 316. 4 La Belle Personne: Nachspann. 5 Honoré 2008a. 6 Louis Garrel war auch für Bertrand Taverniers historisierende Kostümfilm-Adaption der Princesse de Montpensier (2010) im Gespräch (vgl. URL: http: / / louisgarreladdict.free.fr, 08.04.2009), in der eben Grégoire Leprince-Ringuet - Prince-Akteur in La Belle Personne - die Rolle eines weiteren unglücklichen und eifersüchtigen Lafayette’schen Ehemanns übernimmt. Honorés La Belle Personne und Taverniers La Princesse de Montpensier untersucht parallel Forment 2015. 7 Vgl. zu diesem Aspekt allgemein Hickethier 2012: 169ff. Der Online-Diskurs der jeweiligen Fan- Communities zeugt von der gleich mehrfachen (Kon-)Fusion zwischen Honorés Schauspielercrew und Filmpersonal; so wird in einer Notiz zu La Belle Personne Honorés ‚Prince‘ (im Film explizit ‚Otto‘) nach dem Darsteller der Figur kurzerhand in ‚Grégoire‘ umgetauft: „Junie, Grégoire et Nemours sont les avatars respectifs de mademoiselle de Chartres, du prince de Clèves et du duc de Nemours dans le roman original paru en 1678“ („Christophe Honoré est une belle personne“, 2008). 8 Kaganski 2008. 9 Honoré 2008a. <?page no="574"?> 574 Christophe Honorés La Belle Personne „… une réponse au dénigrement présidentiel“: Zum Produktions- und Rezeptionskontext Partizipieren die Adaptionen Manoel de Oliveiras und Andrzej Żuławskis an einer allgemeinen Princesse-Renaissance, die sich zur Jahrtausendwende abzeichnet, so situiert La Belle Personne sich von vornherein in einem hoch politischen Entstehungskontext: Vor dem Hintergrund der ‚Affäre‘ Sarkozy konzipiert Honoré seinen Film, Illustration der ungebrochenen Aktualität des Romans, 10 als strategisches „démenti“ 11 bzw. „comme une réponse au dénigrement présidentiel“ 12 - paradoxe ‚Antwort‘ insofern, als dieser auf diegetischer Ebene betont apolitische, der Intention des Regisseurs nach ‚zeitlose‘, von einer gewissen „nonchalance bourgeoise“ geprägte Kunstfilm erst durch den parafilmischen Begleitdiskurs (und sekundär das Protest- Engagement einzelner Akteure 13 ) eine Zusatzdimension als „manifeste politique“ gewinnt. 14 Auch unter anderem Aspekt lädt La Belle Personne zur Reflexion über die gesellschaftlichen Implikationen des Genres Literatur- und speziell Klassikerverfilmung ein. Im Gegensatz zu den Adaptionen Delannoys, Oliveiras und Żuławskis wird Honorés Version zunächst als TV-Film projektiert; unmittelbar nach der Erstausstrahlung auf Arte am 12. September 2008 kommt der Film in die französischen Kinos. Auf den ersten Blick besitzt die Entscheidung für das TV-Genre ihre Logik, erklärt Honoré doch explizit, „l’idée qui traînait derrière les mots de Nicolas Sarkozy: que la culture n’est pas pour tout le monde, qu’elle est socialement déterminée, réservée aux nantis“ widerlegen und „l’accessibilité, mais aussi l’inaltérable modernité de cette tragédie amoureuse publiée en 1678“ demonstrieren zu wollen. 15 „Tout le monde devrait s’y retrouver, les guichetières comme les présidents“, bestätigt eine wohlmeinende Rezensentin. 16 Diesem zumindest nachträglich affichierten Programm läuft allerdings die konsequente diegetische Ausblendung sozialer Realitäten - auch Honoré situiert seine Intrige in einem höchst privilegierten und in dieser Privilegiertheit nicht ansatzweise reflektierten großbürgerlich-aristokratischen Milieu, wie Lafayettes Hof „un monde protégé“ bzw. „huis clos“ 17 - sowie der eigenen gesellschaftlichen Produktions- und Rezeptionsbedingungen zuwider; entgegen den ‚demokratischen‘ Absichtserklärungen des Regisseurs perpetuiert La Belle Personne den Status der Princesse als „une référence patrimoniale […] un objet privilégié 10 „Rien de plus actuel, en effet, selon lui que ce texte du XVII e siècle considéré comme le premier des romans modernes et devenu, depuis que le président de la République l’a cité comme exemple d’une forme d’érudition inutile au commun des mortels, un symbole de résistance à l’idéologie dominante“, notiert Regnier (2008). 11 „Je ne peux m’empêcher d’être blessé et accablé par ce type d’ignorance. Que certains puissent défendre l’idée qu’aujourd’hui n’a rien à apprendre d’un roman écrit il y a trois siècles est le signe d’une méconnaissance de ce qui fait l’existence même et de la nécessité de l’art pour l’expérience humaine. Je me suis lancé dans l'aventure avec la hargne de celui qui veut apporter un démenti“, erklärt Honoré („La Belle Personne. Les secrets du tournage“, o. D.); vgl. auch Honorés Kommentar zu La Belle Personne als antisarkozystischem „démenti en forme de film“ in Debril/ Mandonnet 2009. 12 Moreau 2010: 9. 13 So eröffnet ‚Nemours‘ Louis Garrel - samt gelber Blume, florale Hommage an die Heldin Lafayettes, am Revers - als Stargast gemeinsam mit Marcel Bozonnet die Princesse-Marathon-Lesung vor dem Pariser Panthéon (vgl. „La Princesse de Clèves en marathon contre Sarkozy“, art. cit.). 14 Grande 2010: 62. 15 Bourdais 2008. 16 Ibid. 17 Werlen 2012: 71, 50. <?page no="575"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? 575 du discours hégémonique de l’élite cultivée“. 18 Während im Fall des Kostümfilms (Delannoy) und des anspruchsvollen Autorenkinos (Oliveira, Żuławski) der „élitisme social de l’univers représenté“ mit den „caractéristiques du genre“ korrespondiert, macht, so François-Ronan Dubois’ Argumentation, Honorés paradox ‚elitärer‘ TV-Film diese sozialen Bedingtheiten und Widersprüche erst recht sichtbar: […] La Belle Personne montre-t-elle que la guichetière de la poste peut s’intéresser à La Princesse de Clèves sans qu’il soit nécessaire de faire autre chose que de la lui montrer, c’est-à-dire sans que le discours culturel en charge de véhiculer l’œuvre ait à se modifier considérablement? C’est ce qu’on a pu affirmer pour les besoins de la polémique, mais cette position ne résiste guère à l’analyse. […] Un texte adapté en film, même en téléfilm, peut au contraire devenir plus spécifique socialement qu’il ne l’était à l’origine. Non seulement de semblables adaptations ne réduisent-elles pas l’élitisme patrimonial exhibé dans des films en costumes tels que La Princesse de Clèves de Delannoy […] mais encore perpétuent-elles le dangereux mythe de l’évidence culturelle, qui voudrait que toute œuvre classique entre nécessairement et immédiatement en résonnance avec les préoccupations du lecteur contemporain. Or, cette évidence culturelle est un effet de classe. 19 Auch wenn, wie der Fall der Belle Personne deutlich macht, die Kino- oder TV-Adaption eines klassisches Textes nicht unbedingt dessen effektive „modernisation“ im Sinne einer „démocratisation“ impliziert, wurde Honorés Film sogleich vom Anti-Sarkozy-Diskurs vereinnahmt (und damit „de facto annexé[] au discours culturel dominant, ou plus exactement au discours dont la domination est concurrencée“ 20 ); paradoxerweise ist es nicht zuletzt Sarkozy (bzw. ‚Sarkozy‘), dem er seine überaus positive Aufnahme verdankt. Von „[d]eux heures de grâce et de passion“ schwärmt Christophe Bataille in Libération; 21 betroffen gesteht dagegen die Besucherin eines Online-Literaturforums ein, La Belle Personne („un peu trop ‚bobo arty‘“) trotz allerbester Absichten leider nicht mit dem programmierten - quasi kompensatorischen, will sich die obligate Begeisterung direkt für den Roman Lafayettes doch nicht recht einstellen - Enthusiasmus rezipiert zu haben: „Je dois dire que je voulais vraiment aimer le film (même si le livre bof bof) parce que j’ai lu qu’il l’avait fait en réaction au discours de notre Président […].“ 22 Eine gewisse Glätte und Oberflächlichkeit stört auch Userin ‚Bonnie‘ („ça reste assez superficiel, de belles images comme sur du papier glacé“ 23 ), während eine andere Amateur-Kritik den „parisianisme beau quartier“ des Films missbilligt. 24 In offiziellen Rezensionen wiederum - hier erscheint die prinzipiell positive Rezeption jeglicher Princesse-Produktion in allen medialen Aggregatzuständen als Ehrensache für jeden auf sich haltenden anti-sarkozystischen intellectuel - wird der ‚sozialen Frage‘ beträchtliche Aufmerksamkeit zuteil - und speziell der ‚Mut‘ Honorés zum (vermeintlichen? ) „cinéma bourgeois“ gewürdigt; Les Inrockuptibles honorieren „le panache à rebours d’un film qui se passe entièrement dans le XVIe arrondissement“: 18 Dubois 2013a. 19 Ibid. 20 Ibid. 21 Bataille 2008. 22 ‚Camille Mc Avoy‘ (12.09.2008) im Literaturforum The Inn at Lambton („Mme de la Fayette: La princesse de Clèves“: 3). 23 Ibid. (‚Bonnie‘, 12.09.2008). 24 „Une belle et ennuyeuse jeune personne“, art. cit. (‚FB! ‘, 30.09.2008). <?page no="576"?> 576 Christophe Honorés La Belle Personne Nul militantisme pour la haute bourgeoisie, les beaux quartiers ou l’ordre ancien chez Honoré, mais peut-être le refus inconscient de mélanger la peinture universelle des êtres et des sentiments avec l’injonction sociologique, le désir plus ou moins formulé de séparer la création de l’actualité […]. Les fractures sociales ne sont pas le sujet de La Belle Personne, ce qui ne le rend pas moins légitime ou moins nécessaire qu’un Entre les murs […]. Le cinéma français doit plutôt se réjouir de compter un Honoré aux côtés d’un Kéchiche ou d’un Cantet, comme on est heureux de constater que, bien que situé dans la haute bourgeoisie parisienne, La Belle Personne est un film superbe. 25 Aufs Neue begegnet uns hier eine Frage, die uns bereits im Zusammenhang mit Oliveiras Lettre beschäftigt hat: In mehreren Kritiken wird Honorés Filmpersonal in der „haute bourgeoisie parisienne“ angesiedelt, die Diskrepanz gegenüber den hochadligen Akteuren Lafayettes, aber auch die Beibehaltung prononciert aristokratischer Namen kaum reflektiert - auch dies ein Indiz dafür, wie sehr dieser Film seine Protagonisten in einem trügerischen gesellschaftlichen Vakuum situiert. Während Oliveira den anachronistischen Aristokratismus seiner Chartres und Clèves ausdrücklich zum Thema macht (und durch die Einführung der Kontrastfigur Abrunhosa/ Nemours betont), verzichtet Honoré - an jeglichem „portrait sociologiquement exact de la jeunesse d’aujourd’hui“ deklarierterweise desinteressiert 26 - auf jede konkrete soziale Zuordnung. „Je me méfie du côté sociologique des films, de l’idéologie qu’ils véhiculent. Pour moi, La Belle Personne n’est pas un film destiné à démontrer quoi que ce soit sur la jeunesse d’aujourd’hui mais porté par ce qu’il y a d’éternel dans la jeunesse“, erklärt der Regisseur (scheint „cette histoire de Madame de Lafayette“ in seinen Augen doch „écrite depuis toute éternité à l’usage des nouveaux prétendants“), 27 dies unter - von der Kritik bereitwillig nachvollzogener 28 - Ausblendung der Tatsache, dass diese affichierte Ideologieabstinenz samt soziokultureller Dekontextualisierung eines klassischen Sujets ihrerseits zutiefst ideologisch ist, besagter Appell an „ce qu’il y a d’éternel dans la jeunesse“ die gesellschaftlichen Prämissen der Intrige gleich doppelt camoufliert: Wie Lafayettes Hof konstituiert die kleine Welt der hier inszenierten Pariser jeunesse dorée ein Laboratorium von materiellen Sorgen unbeeinträchtigter Passion und ungestörter Introspektion. 29 Diese Problematik - Schlüsselfrage jeglicher postmodernen Adaption eines in puncto Autorin, Plot wie Figuren durch und durch höfisch-aristokratischen Romans aus dem 17. Jahrhundert - wird in den Rezensionen zum Film kaum thematisiert, La Belle Personne aber 25 Kaganski 2008. 26 Bourdais 2008. 27 Honoré 2008a. Nicht nur in seinem eigenen Film, sondern auch in seinem Princesse-Kommentar vollzieht Honoré derart ebenjene problematische „evacuation“ politisch-sozialer Inhalte, die im Fall Lafayettes mit der Kanonisierung einhergeht und der gegenüber DeJean auf der Notwendigkeit insistiert, auch „Lafayette’s tender geographies“ in ihrem Produktions- und Rezeptionskontext - sowie in der „economy of literature“ ihrer Epoche - zu resituieren und in die Interpretation der Princesse statt jener Aura trügerischer ‚Ewigkeit‘ vielmehr wieder verstärkt „a sense of its timeliness“ einzubringen (1991: 100, 103). 28 So hebt Kaganski (2008) Honorés „façon de rendre le film intemporel, en même temps de son temps et étranger à son temps“ hervor; ähnlich Regnier (2008) über die jugendlichen Protagonisten: „Les deux pieds dans le monde d’aujourd’hui, ils dégagent en même temps quelque chose d’intemporel qu’accentue l’ancrage littéraire du film.“ 29 Auch in diesem postmodernen Film herrscht damit jene privilegierte „[a]tmosphère utile au déploiement de certains sentiments“, in der Raymond Radiguet seine réécriture ansiedelt; zit. nach Radiguet 1993b: 864 („Le Bal d’Orgel“). <?page no="577"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? 577 vereinzelt mit einem anderen gesellschaftskritischen Argument attackiert. Alexandre Cammas’ ironischer Titel „La blanche personne“ resümiert lapidar die Grundaussage einer ‚postkolonial‘ inspirierten Abrechnung, deren Verfasser die (pseudo-)universelle blancheur des Films („Dans la Belle Personne tout le monde est blanc. Tout le monde est ‚blanchement‘ beau“) 30 ebenso beanstandet wie Honorés ‚ethnologische‘ Cinémathèque-Exkursion und die klischeehafte Besetzung einiger weniger Nebenbzw. Statistenrollen mit farbigen Akteuren: Dans la Belle Personne j’ai vu deux Noirs jouer au basket dans la cour de récré avec plein de Blancs, mais, je te jure, c’est le Noir qui met le panier! J’ai vu un autre Noir sortir très vite du lycée, en second plan. Un Noir du genre Renoi, tu vois ce que je veux dire? Dans le même film, à un moment, la prof, pendant son cours, elle regarde dans le couloir. Et qu’estce qu’elle voit? Le dernier Noir du film, en train de rouler une pelle à une Blanche. Le plan dure une ou deux secondes. Impossible de vérifier que la Blanche est une vraie Blanche, peut-être une Gris clair après tout, qui sait? Ah, j’oubliais, dans le film, à un moment, on voit aussi des Noirs qui font golo-golo dans la case, vrai! Ça se passe dans la brousse, ou plutôt non, à la cinémathèque: les profs ont emmené leurs élèves voir un film. […] Des extraits choisis pour nous rappeler quoi? Qu’en Africa aussi, ça y va? 31 Cammas’ Polemik mag über das Ziel hinausschießen (besagter „film filmé“, 32 ein Ausschnitt aus Idrissa Ouedraogos Yaaba aus dem Jahr 1989, wäre bei wohlwollenderer Betrachtung auch als kleine Hommage an den burkinischen Regisseur, „un peu le Aimé Césaire du cinéma“, 33 deutbar), 34 signalisiert jedoch einen reflexions- und diskussionswürdigen Aspekt dieser und anderer postmoderner Princesse de Clèves-Verfilmungen: Die selbstverständlich homogen ‚weiße‘ Welt Lafayettes wird vor der Kontrastfolie einer zeitgenössischen multiethnischen und -kulturellen Gesellschaft überaus sichtbar, Honorés Entscheidung, seine im Paris der Gegenwart angesiedelte Adaption zwar nicht exklusiv, aber sehr dominant ‚weiß‘ zu besetzen, zum klarerweise nicht illegitimen, aber markierten Statement: „Question: la faute à qui tous ces clichetons? À la Princesse de Clèves écrite à l’encre blanche en son temps? 35 À son adaptateur? Qui sait? “ 36 30 Honoré ersetzt Lafayettes blonde Heldin durch eine dunkelhaarige, freilich mit betont - und im Film explizit kommentiertem - strahlend weißem Teint ausgestattete Princesse („T’as la peau tellement blanche“, bemerkt der Schulkollege, der sie anlässlich ihres ‚Debüts‘ foto-porträtiert; La Belle Personne: 10: 51-10: 52). Blond ist hier der jugendliche ‚Prince‘ Otto - in frappierendem und nicht klischeefreiem Kontrast zum düster-byronesken Schwarz der Haare, Augen und Kleidung Nemours’. 31 Cammas 2008. 32 Ibid. 33 Tylski 2004. 34 Cammas übersieht im Übrigen seinerseits, dass Honoré neben den inkriminierten schwarzen männlichen Klischeeträgern auch eine farbige Schülerin mit dem literarhistorisch nicht uninteressanten Namen ‚Émilie‘ in Szene setzt, dies in durchaus empathischer Großaufnahme und - wenngleich kurzer - aktiver Sprechrolle. 35 Die doppelbödige Formulierung der „encre blanche“, bei Cixous für das Phänomen der écriture féminine gebraucht (vgl. Cixous/ Clément 1975: 172, zit. nach Duffy 2009: 100), etabliert eine subtile Verbindung zwischen unterschiedlichen Strukturen symbolischer Dominanz, einer gender- und einer postkolonial fokussierten Perspektive; vgl. dazu im Zusammenhang mit der Princesse auch DeJeans Reflexionen über Lafayettes ‚elliptische‘ literarische Produktion als „a type of écriture blanche or nonwriting, a negative discourse“ (1992: 39). Am Beispiel Lafayettes erläutert DeJean auch an anderer Stelle „the second style of salon writing“, als dessen „finest examples“ La Princesse de Montpensier und jene de Clèves gelten dürfen: Beide Texte illustrieren „the excessively neutral écriture blanche produced <?page no="578"?> 578 Christophe Honorés La Belle Personne „… tant de belles personnes“: Vom klassischen Roman zum Teenager-Drama Soweit zum politischen und gesellschaftlichen Entstehungs- und Rezeptionskontext der Belle Personne. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Honorés Film - analog zu Lafayettes Hof in jedem Detail symbol- und interpretationsträchtiger „espace sémiotique“ 37 - seine gelegentlich etwas selbstverliebt anmutende Meta-Ästhetik im Spiel mit der Princesse (nebst einer Reihe sekundärer literarischer Intertexte, von Stéphane Mallarmé bis Boris Pasternak), aber auch mit anderen Medien (Fotografie wie Musik) und nicht zuletzt seiner eigenen kinematografischen Vorgeschichte entfaltet. Identifiziert Marie Darrieussecq den Satz „Il parut alors une beauté à la Cour […]“ 38 als Initialzündung ihrer persönlichen Passion für die Princesse 39 (ebendiesen Satz lässt auch Andrzej Żuławski seinen ‚Guise‘-Rollenträger anlässlich des höfischen Debüts seiner Heldin wörtlich zitieren), so verweist Honoré auf eine andere Schlüsselpassage als ausschlaggebenden „déclic“ 40 seines Adaptionsprojekts: „‚Jamais cour n’a eu tant de belles personnes…‘ Tout a débuté avec ces quelques mots de Madame de Lafayette, mots qui ont entraîné dans mon esprit l’idée d’une autre cour, celle d’un lycée parisien, et d’autres belles personnes, la jeunesse d’aujourd’hui.“ 41 Besagte Formel der belle/ s personne/ s, bei Lafayette durch den ganzen Text ausgesponnen und bereits bei Valincour mehrfach aufgegriffen, 42 bezieht sich - und hier ist die von Honoré im Unterschied zu Darrieussecq und Żuławski fokussierte pluralische Wendung aufschlussreich - freilich nicht nur auf die Princesse selbst, sondern auch auf die sonstige Population eines in hyperbolischen Begriffen beschriebenen Hofes. In der Tat oszilliert - im Gegensatz zum auch in diesem Fall reduktiven deutschen Titel Das schöne Mädchen - die eponyme Belle Personne zwischen mehreren ästhetischen wie ethischen Bedeutungsfacetten und Figuren: Nicht nur aus der Perspektive der online höchst aktiven Louis Garrel-Groupies ist Hauptdarstellerin Léa Seydoux nicht die einzige und vielleicht nicht einmal die wichtigste ‚belle personne‘ des Films. Charakterisiert der Rezensent der Libération großzügig alle drei Akteure des zentralen amourösen Triangels als „belles personnes“, 43 so identifiziert Regisseur Honoré nicht etwa die Princesse, sondern vielmehr M. de Clèves als „la vraie belle personne du roman, by a generation of intellectuals disabused by political repression“; diese Art von „white writing“ attestiert DeJean auch „such cautious authors as La Rochefoucauld and Sévigné“, bei denen „political content […] always ambiguous“ bleibt (1991: 101). 36 Cammas (2008) wirft Honoré auch abseits der Belle Personne eine Tendenz zur ‚Entfärbung‘ bzw. ‚Einweißung‘ der zeitgenössischen französischen Gesellschaft vor; auch die Chansons d’amour inszenierten bereits - so Cammas - exklusiv weiße Protagonisten vor dem Hintergrund einer zum pittoresken Dekor degradierten ‚Exotik‘. 37 Oster 2009: 127f. (zum Hof bei Lafayette). 38 Lafayette 2014c: 337. 39 Darrieussecq 2009b: II. 40 Vgl. Guichard 2008. 41 Honoré 2008a. Vgl. auch den Kommentar Honorés bei Bourdais 2008 („Dès que j’ai pensé à la transposition […] j’ai entendu au présent cette phrase de Mme de Lafayette: ‚Jamais cour n’a eu tant de belles personnes‘“) sowie in „La Belle Personne. Les secrets du tournage“, art. cit. 42 Vgl. etwa Valincour 2001: 37. 43 Bataille 2008. <?page no="579"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? 579 la principale victime de l’amour“; während Ko-Drehbuchautor Gilles Taurand der Heldin Lafayettes als in ihrer „passionnante opacité“ widerständiger Figur („Elle a toujours été, hier comme aujourd’hui, un personnage à contre-courant“) seine Hommage erweist, manifestiert sich im Diskurs Honorés eine dezente Spur jenes auch anderweitig bis in die Lafayette- Kritik der Gegenwart präsenten (männlichen) Ressentiments gegenüber der Protagonistin: „La princesse, je la vois plutôt comme un tyran. Elle souffre peut-être de son incapacité à incarner ses sentiments, mais elle jouit aussi de la terreur que son amour peut inspirer.“ 44 Kurz: „La belle personne du film n’est donc pas celle que l’on croit! “ 45 Die Formel entfaltet in einem Film, der sich zumindest an das partielle Queering des Lafayette’schen Plots wagt, ihre ganze „ambiguïté sexuelle“. 46 Auf der Ebene inhaltlicher Re-Interpretation, aber auch jener der Ästhetik lädt diese Adaption zur Reflexion über die Gender-Dimension des literarischen Prätexts und seiner zeitgenössischen Rezeption ein - aber auch zur Anknüpfung an diverse vraisemblance-Diskussionen rund um Lafayettes Princesse, wird die Geschichte einer ‚unmöglichen‘ großen Passion hier doch in einem artifiziellen sozialen und ideologischen Vakuum durchgespielt (unter völliger Ausblendung z. B. auch jener bei Oliveira stark akzentuierten religiösen Komponente: von Tugendbegriff und Liebesverzicht der Protagonistin bleibt nicht viel mehr übrig als ein etwas melodramatisch überhöhter Singularitäts- und amouröser Absolutheitsanspruch) und damit in mancher Hinsicht an die Grenzen der Implausibilität (oder auch darüber hinaus) getrieben. „La question de l’adaptation littéraire m’ennuie, c’est une question vaine, surtout dans le cinéma français où tous les bons cinéastes ont couché avec la littérature“, erklärt ausgerechnet Honoré, seines Zeichens Spezialist für überaus literarische Filme, der mit Ma mère (2003) bereits eine Georges Bataille-Adaption vorlegt, in seinem Werk - intermediales „laboratoire“ - ein extravagantes Biblio-Universum konstruiert 47 und immer wieder auf die Konfrontation klassisch-kanonischer Texte aus seinem „panthéon personnel“ mit jungen Schauspielern und einem modernen Ambiente setzt. 48 Dubois siedelt Honorés Fassung unter dem Gesichtspunkt der ‚Texttreue‘ in der Mitte „entre la reproduction de Delannoy et la mise en référence d’Oliveira et Zulawski“ an; 49 der Regisseur selbst betrachtet seine Princesse- Version weniger als „adaptation“ denn als „une proposition de lecture du roman“. 50 Nicht um die systematische Transposition des Prätexts in die Gegenwart sei es, so Honoré, gegangen, sondern darum, gemeinsam mit seinem Ko-Autor „la mémoire de notre lecture“ auf die Leinwand zu bannen. „[…] le cinéma c’est, possiblement et aussi, autre chose qu’une nouvelle écriture. Le cinéma est une lecture“, bekräftigt ein weiteres Mal Honoré, der in diesem Kontext auch auf die Metapher intermedialer ‚Infusion‘ rekurriert: „Il n’y a pas d’adaptation, il y 44 Bourdais 2008. 45 „Une belle et ennuyeuse jeune personne“, art. cit. (Hervorhebung im Original). 46 „La Belle Personne“ (Blog: Rue des Douradores, 20.09.2008). 47 „Les livres y traînent partout, sur les lits défaits, les coins de table, sur les lèvres - des citations, des clins d’œil…“ (ibid.). 48 Regnier 2008. 49 Dubois 2013a. 50 Vgl. Honoré 2008a. Langlade reflektiert im Kontext diverser Princesse-Verfilmungen seinerseits „ces adaptations comme des ‚textes de lecteurs‘“ (2013: 18, unter Verweis auf Mazauric/ Fourtanier/ Langlade 2011a und 2011b). <?page no="580"?> 580 Christophe Honorés La Belle Personne a des romans qui infusent les films et dont la mise en scène offre une lecture personnelle.“ 51 Ergebnis dieser ‚Infusion‘ ist im Fall der Belle Personne ein hochgradig selbstreflexives, beinahe hyper-semiotisiertes filmisches Konstrukt, das sich sehr bewusst mit der kritischen und kreativen Rezeptionsgeschichte der Princesse auseinandersetzt: „Comme Radiguet, Honoré a placé son chevalet devant le grand tableau.“ 52 Regisseur und Drehbuchautor Honoré, der selbst auch anderweitige literarische Ambitionen hegt, devalorisiert im Rahmen eines relativ konventionellen poetologischen (Vor-)Urteils (prägnant resümiert bei Gerald Peary und Roger Shatzkin: „all the directorial Scheherazades of the world cannot add up to one Dostoevsky“ 53 ) die „forme pauvre“ des Szenarios im Gegensatz zu ‚echter‘ Literatur; 54 hinsichtlich seiner Lafayette-(Non-)Adaption erhebt er zwar Anspruch auf weitgehende Emanzipation vom Prätext („La langue du film ne vient pas du roman et je ne crois pas du tout qu’elle soit littéraire mais c’est une langue de la pensée. C’est une langue à la fois simple et construite“ 55 ), folgt dabei jedoch in etlichen Schlüsselszenen (scène de l’aveu, finale Verweigerung und Rückzug der Protagonistin) bemerkenswert detail- und auch textgetreu den Spuren Lafayettes. Während die professionelle Rezensentenschaft sich Honorés Selbsteinschätzung im Wesentlichen zu eigen macht („Sans coller au texte original, ils [Honoré und Taurand, MS] ont joué avec ses contraintes, en conservant à leur manière ses moments-clés […]“, erklärt Sophie Bourdais 56 ), wird in ano- und pseudonymen Online-Kommentaren - in frappierendem Kontrast zu autorisierter Kritik wie auktorialem Diskurs des Regisseurs - die übertriebene Textnähe bzw. sogar schulmäßige Pedanterie des intermedialen Transfers moniert: „Honoré souligne et surligne son roman de Madame de Lafayette comme un lycéen en préparation du baccalauréat. Et sa jeune personne, toute jolie qu’elle soit, nous ennuie ferme. Surtout lorsqu’Honoré n’hésite aucunement à plaquer dans la bouche de Léa Seydoux des passages entiers du livre, que la jeune actrice, malheureusement, restitue avec une platitude effarante“, spottet eine Bloggerin über La Belle Personne, paradigmatische Illustration der Fallstricke der Literaturverfilmung, „un genre des plus casse-gueule, de ceux qui dérapent en un tournemain“. 57 Die schulische Assoziation kommt freilich nicht von ungefähr: Re-interpretiert Żuławski das höfische Dispositiv der Princesse als postmodernes Medienimperium, so verwandelt Honoré Lafayettes cour in den Schul-‚Hof‘ eines zeitgenössischen Lycée der Pariser beaux quartiers. Konkreter Drehort war das im 16. Arrondissement gelegene Lycée Molière, 58 das mit seinen „airs de théâtre à l’italienne“, 59 seinen der Schaulust, ja dem Voyeurismus überaus günstigen 51 Honoré 2008a; vgl. auch Regnier 2008. 52 Bataille 2008. 53 Peary/ Shatzkin 1977: 2, zit. nach Hutcheon 2006: 3. 54 Rigoulet/ Pomares 2009. 55 Honoré 2008a. 56 Bourdais 2008. 57 „Une belle et ennuyeuse jeune personne“, art. cit. (Hervorhebung im Original). 58 Die Dreharbeiten fanden, wie Honoré betont, „dans un lycée en activité, pendant les heures de classe“ statt; das reale schulische Dispositiv beeinflusst nicht nur Entstehungsprozess und Struktur des Films („C’était intéressant de tourner au rythme du lycée, d’arrêter quand ça sonnait, d’aller en récréation avec les élèves et d’y tourner quelques scènes […]“), sondern liefert auch eine Reihe vor Ort rekrutierter Nebendarsteller bzw. Statisten (Honoré 2008a). 59 Bourdais 2008. <?page no="581"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? 581 Rundgalerien und Guckfenstern ein nahezu perfektes architektonisches Dispositiv für die Reinszenierung eines panoptischen Mikrokosmos 60 mit strengen - hier schulisch motivierten - Präsenz- und Repräsentationspflichten 61 abgibt. Abgesehen von der lexikalischen wie strukturellen Affinität der beiden cours - auf die bald darauf auch Régis Sauder mit seinem künstlerischen Dokumentarfilm Nous, princesses de Clèves setzt - und der vor dem Hintergrund der ‚Affäre‘ reklamierten bildungspolitischen Relevanz des Projekts schließt sich Honoré mit seiner Princesse-Version auch einem etwa ab den 1990er Jahren sich verstärkenden Trend zur Neu-Adaption einer ganzen Reihe kanonischer Klassiker als Teenager/ Schüler- Filme an („weg vom Kostümfilm, hin zu modernisierenden Teenagerdramen“, wie Kirsten von Hagen diese nicht zuletzt kommerziell bedingte Mode resümiert 62 ). Unter der Regie Michael Almereydas wird Hamlet zum New Yorker Filmstudenten; 1999 - im gleichen Jahr wie Oliveira seine Lettre - legt Roger Kumble unter dem Titel Cruel Intentions (der deutsche Titel Eiskalte Engel übertrifft auch hier das Original mühelos in puncto alliterativ intensivierter Plakativität) eine Neuverfilmung der Liaisons dangereuses als „Teenager-Drama im Manhattan der 1990er- Jahre“ vor, 63 erweitert um für aktuell befundene „Themen wie Rassismus, die Borniertheit der Neureichen, die Perspektivlosigkeit reicher High-School-Kids, Drogen und das Internet als rechtsfreier Raum“. 64 60 Von der ersten Schulstunde an, der die Protagonistin beiwohnt, entfaltet sich ein Spiel mehrdeutiger Blicke, denen die Kamera kreuz und quer durch den Raum folgt; weder Schüler noch Lehrer sind gegen voyeuristische Verlockung und amouröse Spionage gefeit. 61 „À la Cour, comme au lycée, on ne tolère pas d’absence sans motif“, konstatiert bereits Pingaud (1959: 97), wobei Lafayette in den Augen ihres zeitgenössischen Kritikers Valincour den bei Hof herrschenden Präsenzdruck womöglich sogar etwas untertreibt; so hält Valincour die allzu lange Abwesenheit Nemours’ für wenig plausibel (bzw. strategisch ungeschickt): „[…] je ne sais si l’on ne le fait point demeurer trop longtemps hors de la Cour de France“ (2001: 38). Wie die Heldin Lafayettes versucht auch Honorés auf der Flucht vor ihrer Passion schulschwänzende Princesse-lycéenne sich unter allerlei Ausflüchten und gegen den Widerstand ihres Partners der Pflicht des (doppelten) paraître bei Hofe (vgl. Grande 1999: 133) zu entziehen - und wird schließlich zur Ordnung gerufen: Lehrer Nemours lässt ihr ausrichten, er könne ihr ständiges Fehlen nicht länger tolerieren, sondern müsse nun bald die „administration“ einschalten (La Belle Personne: 01: 22: 42-01: 22: 54). Auch er selbst nützt freilich - wie sein Vorgänger bei Lafayette: „Une légère maladie lui servit longtemps de prétexte pour demeurer chez lui, et pour éviter d’aller dans tous les lieux où il savait bien que Mme de Clèves ne serait pas“ (2014c: 383) - den Vorwand einer Krankheit, um sich in einen opportunen „congé maladie“ zu verabschieden: „Parce que vous êtes malade, vous? “, spöttelt ‚Vidame‘ Mathias (La Belle Personne: 01: 22: 56-01: 23: 01). 62 Hagen 2012: 85. 63 Ibid.: 74. Den expliziten Konnex zwischen Honorés Lafayette- und Kumbles Laclos-Adaption stellt Feibelman (2012) her: La Belle Personne „is to La Princesse de Clèves what Cruel Intentions is to Dangerous Liaisons“. 64 Hagen 2012: 84f. Dieser Aspekt ist auch im Fall der postmodernen Princesse-Verfilmungen - und insbesondere in Honorés Teenager-Version - von Interesse. Wird bei Kumble die Korrespondenz des zugrunde liegenden Briefromans durch Therapiegespräche, Telefonate und Tagebucheinträge ersetzt, so findet sich bei Honoré - entsprechend jener vom Regisseur angestrebten Atmosphäre der ‚Zeitlosigkeit‘, ja ‚Ewigkeit‘ - bemerkenswert wenig moderne Medien- und sonstige Technik; seine Princesse verweigert Besitz und Gebrauch auch nur eines portable (La Belle Personne: 50: 57-50: 59). Die Gerätschaften, die in ihrem neuen Lycée im Unterricht zum Einsatz kommen (alter Kassettenrecorder, Plattenspieler, beides als diegetische Audio-Quelle inszeniert), akzentuieren dieses anachronistische Moment. Die Schulklasse der Protagonistin besucht ganz und gar klassisch die Cinémathèque; auch fotografiert wird mit schwerfälliger Apparatur, hinsichtlich des fatalen verlorenen Liebesbriefs bleibt es beim traditionellen Medium Papier. Entgegen allem sozioökonomischen Realismus spielen Mobil- <?page no="582"?> 582 Christophe Honorés La Belle Personne „L’adolescence va bien à la Princesse de Clèves“, erklärt Honoré, 65 der die Princesse primär als „un roman d’éducation sentimentale“ liest 66 (nur in der Lebensphase der Adoleszenz sei die Lafayettes Protagonisten auszeichnende „part d’absolu“ in einem heutigen Kontext zu verorten: „Ce n’est pas une question d’immaturité mais de lyrisme“ 67 ) und tatsächlich direkt an einen Prätext mit sehr jugendlichem Personal anschließt; allein: Bei aller Jugend ist Lafayettes Princesse - wie erläutert - alles andere als ein ‚Schulmädchen‘, wie in einer Online- Diskussion temperamentvoll konstatiert: „Et une Mme de Clèves de 16 ans lycéenne, mais quelle horreur! “ 68 Von Hof zu Hof (I): La Princesse de Clèves als narrative Matrix Horreur oder nicht: Nach dem Tod ihrer Mutter - dieser geht hier der Handlung voraus: wie Delannoy verzichtet Honoré auf die Figur der in La Belle Personne immerhin posthum erwähnten Mme de Chartres - absolviert diese neue Princesse ihr Debüt also während des Schuljahres an einem neuen Lycée. Die Einstiegs-Sequenz stellt bereits ein kleines intertextuellintermediales Palimpsest dar: Den Film eröffnet, begleitet vom morgendlichen Läuten der Glocke, das große Schultor - transparente (und seitenverkehrte) Anspielung auf Delannoys Princesse, an deren Beginn sich eine freilich prunkvollere Flügeltür auf die Szenerie des Hofballs auftut. 69 Des Öfteren noch fokussiert die Kamera dieses symbolträchtige Tor, das auch die Funktion eines theatralischen Vorhangs übernimmt, den Blick auf die Bühne des Schulhofs freigibt, wie die cour Lafayettes „un théâtre où chacun est à la fois en représentation et à l’affût du spectacle d’autrui“, 70 in sich geschlossenes Dispositiv, dessen Mitglieder sich auf Schritt und Tritt offiziellen und inoffiziellen ‚Prüfungen‘, der kritischen Beobachtung durch die anderen ausgesetzt sehen, auch sie in jedem Moment ängstlich bemüht, das Gesicht bzw. die Maske zu wahren. telefone & Co. im Alltag dieser privilegierten Schulpopulation in einem Film aus dem Jahr 2008 eine sehr untergeordnete Rolle - sind dabei aber in der diegetischen Welt sehr wohl vorhanden: Bei Gelegenheit wird ein Smartphone samt Kamera zur ‚Waffe‘ (in diesem Punkt knüpft Honoré an die medientechnische Aktualisierung visueller Gewalt bei Żuławski an), das Phänomen Cybermobbing flüchtig thematisiert. 65 Honoré 2008a. 66 Honoré 2008b: 46, zit. nach Langlade 2013: 25. 67 Bourdais 2008. 68 So in der zitierten Debatte zu „Une belle et ennuyeuse jeune personne“ (art. cit.) Userin ‚fashion‘, dem Kontext nach Lehrerin für französische Literatur, die auch Louis Garrel als Nemours („mais quelle idée! “) bzw. Honorés Adaption insgesamt („l’adapter comme ça c’est n’y avoir pas compris grandchose“) wenig abzugewinnen vermag. 69 Statt der Pracht des königlichen Ballsaals kommen bei Honoré ein winterlich grauer Innenhof und ein einigermaßen desolat anmutendes Gebäude zum Vorschein: Die Kameraführung betont den vernachlässigten Zustand der Schule; in der Kontemplation bröckelnder Fassaden, abgenutzter und bekritzelter Wände (Palimpseste sui generis), antiquierter technischer Ausrüstung entfaltet La Belle Personne eine melancholische Ästhetik des Verfalls, die durchaus auch als indirekter Kommentar zur tristen Situation des französischen Bildungswesens zu verstehen ist: „Le lycée est d’un autre âge, il porte dans ses murs les marques du temps, et le désintérêt qu’on lui porte“, erläutert Honoré (2008a). Dazu passt der teilweise gezielt parodistische Charakter mancher Lektionen, plastische Illustration generellen Desinteresses und didaktischer Inkompetenz: So stellt die eröffnende Englischstunde bereits einen karikaturalen Höhepunkt schikanöser Anti-Pädagogik dar. 70 Guichard 2008. <?page no="583"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? 583 Honoré knüpft mit dieser Ouvertüre gezielt auch an das höfische Panorama am Anfang der Princesse de Clèves an, berüchtigte, hier in einem anderen Medium strategisch rekonstruierte ‚Einstiegshürde‘ für Generationen von Lesern seit Valincour. Die ersten Minuten der Belle Personne führen die Zuseherin mitten in das Chaos eines beginnenden Schultags, da sich eine vielköpfige ‚Hofgesellschaft‘ auf dem Weg in die Klassenzimmer wild durcheinanderdrängt, ihre lautstarke, teils bewusst undeutlich artikulierte Unterhaltung in der folgenden Pause fortsetzt; 71 intendierterweise erzeugen diese Szenen - paradigmatisches Exempel eines „Narrations-Zitat[s]“ im Sinne der „Analogie von textuellen und filmischen narrativen Verfahren“ 72 - den Eindruck einer gewissen Konfusion bzw. perzeptorischen Überforderung, die zugleich die Verwirrung und Verlorenheit der melancholischen, abrupt mit einer Überfülle neuer Gesichter und Stimmen, einem hochkomplexen Netzwerk der Intrigen und der Galanterie unter ihren neuen Kollegen konfrontierten Protagonistin widerspiegelt. Ebenso wie Mlle de Chartres braucht auch die Zuschauerin einige Zeit, um sich in diesem Mikrokosmos zu orientieren: „J’aime la première partie du roman, où l’on est assommé par une suite de noms et de personnages, où l’on se demande quand va vraiment apparaître la Princesse de Clèves. C’est un peu la même chose dans le film“, erläutert Honoré. „On se demande qui est qui, qui sort avec qui, personnages principaux et figurants ont droit aux mêmes grosseurs et longueurs de plans.“ 73 Erst nachdem das ‚Theater‘ für die zentrale amouröse Handlung entsprechend präpariert ist (so bekanntlich die Argumentation Charnes’ in seiner Entgegnung auf Valincour: es sei dem anonymen „Auteur“ der Princesse darum gegangen, die Heldin nicht „tout à coup sur un Théâtre vide“ erscheinen zu lassen 74 ), tritt Honorés Protagonistin allmählich in den Vordergrund. Erneut spielt der Regisseur mit der Rezeptionsgeschichte Lafayettes - wie zitiert erklärt schon Valincour, die nach jenem ausufernden historischen Exkurs längst vergessene Princesse in der Boutique des Juweliers mit nicht geringerer Überraschung als M. de Clèves selbst (wieder-)entdeckt zu haben 75 -, wenn er seine Hauptfigur sich auch aus der Perspektive der Zuseher quasi ‚verlieren‘ und sie erst mit Beginn ihres doppelten ‚Liebesromans‘ zur eigentlichen Heldin werden lässt. 76 Noch exklusiver als der literarische Prätext konzentriert sich der Film auf diesen reinterpretierten ‚Hof‘, panoptischer Schau-Platz und Knotenpunkt diverser intriganter und galanter Verstrickungen (wie jene Lafayettes ist freilich auch diese cour ein prinzipiell mobiles Dispositiv, was etwa die kollektive Exkursion ins Kino illustriert); die Dynamik einer fatalen 71 In diversen Online-Blogs und -Foren üben französische native speakers Kritik an der relativ schweren Verständlichkeit dieser Dialoge: „[…] les acteurs boulent leur texte si bien que surtout au début […] on manque un mot sur trois“, klagt der Verfasser des Blogs lesdiagonalesdutemps („La belle personne, un film de Christophe Honoré“, 03.09.2011). Zumindest in diesem Punkt einig ist sich auch die Teilnehmerschaft einer ansonsten recht kontroversen Diskussion über Honorés Film im Forum The Inn at Lambton („Mme de la Fayette: La princesse de Clèves“: 3): „[…] je n’ai pas compris la moitié de ce que ces jeunes gens se bredouillaient entre eux la plupart du temps. Je cherchais les sous-titres. Où est le temps où les acteurs apprenaient à parler! “, beschwert sich ‚clinchamps‘ (12.09.2008) und erntet damit auf der Stelle eine ganze Reihe zustimmender Reaktionen. 72 Vgl. zu diesem Begriff Wagner 2009: 39. 73 Honoré 2008a. 74 Charnes 2014: 624. 75 Vgl. Valincour 2001: 35. 76 Vgl. Honoré 2008a. <?page no="584"?> 584 Christophe Honorés La Belle Personne Passion wird gleichsam unter Laborbedingungen, in extremer spatialer und auch temporaler Verdichtung untersucht. Im Unterschied zu sämtlichen vorhergegangenen Adaptionen werden die privaten/ familiären Lebensräume der Figuren konsequent ausgeblendet. 77 Honoré motiviert diese Entscheidung - Geste des Respekts gegenüber der Intimität seiner Protagonisten - mit seiner Aversion gegen das filmische Klischee der „chambre d’adolescent“: „Je m’étais fixé cette règle dès le scénario. […] C’est le genre de décor maudit pour moi, infilmable, comme l’intérieur des commissariats de police ou les chambres d’hôpitaux.“ 78 Als temporärer Evasions- und Rückzugsraum - gelegen in unmittelbarer Nähe des ‚Hofes‘ - dient Schülern wie Lehrern das dem Lycée benachbarte kleine Café Sully. In dieses Café zieht sich eine verstörte Princesse zurück, ihre prekäre öffentliche Einsamkeit gegenüber ihrem ‚Ehemann‘ wie Nemours hartnäckig verteidigend; hier schwelgt die betrogene Freundin des ‚Vidame‘ in ihrem Elend; hier gesteht Nemours seinem Kollegen und Freund Estouteville seine Passion für die neue Schülerin; hier erteilt die resolute Chefin Nicole, kollektive Ersatzmutter, zu den Klängen einer anachronistischen, mit eigens zu diesem Zweck gehorteten Franc-Münzen betriebenen Jukebox allerlei Ratschläge in Sachen Liebesleid; hier versammelt sich das Kollegium nach dem Selbstmord des ‚Prince‘ (im Gegensatz zu Delannoy, Oliveira und Żuławski optiert Honoré für einen kontextuell plausibleren und mit der beschleunigten Dynamik dieses Passionsnarrativs allgemein korrespondierenden Suizid: nicht ohne Melodramatik stürzt sich sein Protagonist von einer Galerie in den Schulhof hinunter, in dem seine vermeintlich untreue ‚Princesse‘ gerade mit ihren Kolleginnen plaudert). Ersetzt dieses Café derart punktuell Lafayettes ‚Coulommiers‘, so wird die Schlüsselszene des aveu vom idyllischen Landsitz, „le plus beau lieu du monde“, 79 in einen Hinterhof mit kümmerlicher winterlicher Restvegetation verlegt, in dem sich das schulschwänzende ‚Ehepaar‘ nach lautstarker Flucht über eine Holztreppe versteckt - auf den Fersen den unbemerkten und hinter einer Ecke lauschenden Nemours; an ebendiesem Rückzugsort bietet die Heldin später für einen Moment dem ‚Prince‘ ihre nackte Brust dar (jahreszeitlich wie durch die Selbstbeschränkung auf öffentliche Schauplätze bedingt eine der wenigen Szenen der Belle Personne, in denen für einen Augenblick - freilich dezente - nackte Körperlichkeit aufblitzt 80 ). Die finale Aussprache der Protagonistin mit Nemours verortet Honoré in einem neutralen, beinahe kahlen Raum, der in seiner vagen Hotelzimmer-Ästhetik gleichfalls betont anti-intimen Charakter besitzt (nur wenige Zentimeter voneinander entfernt verharren die beiden Figuren auf dem Bett, berühren einander dabei jedoch nicht; in dieser Szene - nicht 77 Dies mit einer einzigen, freilich intradiegetisch gerahmten Ausnahme: In der als Sequenz filmischer Mini-Flashbacks integrierten Episode rund um Mme de Tournon - wie bei Lafayette wird die entsprechende Erzählung ‚Prince‘ Otto in den Mund gelegt und an die Protagonistin adressiert - wird kurz auch die intime Szenerie jenes amourösen Doppelspiels gezeigt (La Belle Personne: 32: 44-33: 46). Desillusioniert formuliert Otto die ‚Moral‘ jener Affäre: „On sait jamais rien des gens, en fait, même de ceux qu’on aime“ (ibid.: 33: 47-33: 51). 78 Honoré 2008a. 79 Lafayette 2014c: 452. 80 In diesem Punkt mutet die Parallele, die Langlade zwischen den Adaptionen Żuławskis und Honorés - im Gegensatz zu Delannoy und Oliveira - etabliert, etwas verwunderlich an: „La nudité des corps et les gestes de l’amour sont très présents dans ces films: baisers, étreintes, mots d’amour plus ou moins crus reviennent sans cesse“ (2013: 28). Mag dieses Statement auf La Fidélité - mit Einschränkungen - zutreffen, so gewiss nicht für die auf den Spuren Delannoys und Oliveiras insgesamt ausgesprochen ‚keusche‘ Belle Personne. <?page no="585"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? 585 zuletzt aufgrund des Ambientes bar jeglicher erotischen Spannung - ist in Vorwegnahme der definitiven Trennung die Distanz zwischen den beiden bereits geradezu körperlich spürbar). Allgemein spielen derartige non-lieux, 81 Grenz- und Schwellenräume in der Struktur des Films eine zentrale Rolle. So konstituiert der Eingangsbereich der Schule eine liminale Spannungszone, Ort flüchtiger Intimitäten, Ort signifikanterweise auch einer intensiven Bilderproduktion und -zirkulation: Hier findet die Foto-Séance statt, der sich die neue Schülerin zu stellen hat; hier vollzieht sich, in einer Rückblende vergegenwärtigt, die erste Begegnung samt coup de foudre zwischen ‚Vidame‘ Mathias und Martin. Andere Szenen dieses multiplen Passions- und Eifersuchtsdramas entfalten sich in Schulkorridoren und Métro-Stationen, aber auch auf der Straße vor dem Domizil der Familie Chartres: Unter strikter Einhaltung jenes selbstauferlegten Abstinenzgebots macht die Kamera an einer gläsernen Tür halt, die allenfalls bei abendlicher Beleuchtung einen Blick in den noch semi-öffentlichen Raum des Treppenhauses erlaubt. Hier führt Otto das erste befangene Gespräch mit seiner ‚Princesse‘; hier wird später - in von Lafayettes Prätext abweichender Dreisamkeit von ‚Vidame‘, ‚Princesse‘ und Nemours - der verlorene Brief rekonstruiert; hier lauert der verliebte Nemours, hinter einer gläsernen Ecke transparent ‚versteckt‘, dem Objekt seiner Begierde auf; am selben Ort wartet er am Ende des Films stundenlang, nervös rauchend, auf die Protagonistin, die zum vereinbarten Rendezvous nicht mehr erscheint. Mit der Tristesse bzw. affichierten Trivialität diverser Innen- und Schwellenräume korrespondiert die urbane (Anti-)Ästhetik eines Films, der, wenngleich in den beaux quartiers angesiedelt, zur klischeehaften Schönheit der Ville Lumière einen düsteren Kontrapunkt setzt. In diesem wie bereits Dans Paris und Les Chansons d’amour im Winter - einem schneelosen, schmutzigen städtischen Winter - gedrehten 82 und auch diegetisch im Spätherbst/ Winter situierten Film 83 gerät Paris zur „capitale du spleen“, 84 deren monotones graues Licht und ewig bewölkter Himmel Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonisten spiegeln: „Le film est nimbé d’une lumière pastel, automnale, au diapason du paysage intérieur en souffrance des trois personnages principaux.“ 85 Weniger poetisch verklärend charakterisiert der Regisseur selbst das hier inszenierte Paris: „Je filmais Paris comme un musée de cinéma dans Dans Paris et de manière presque documentaire dans Les Chansons d’amour. Cette fois, Paris apparaît comme une ville à l’heure du couvre-feu. […] les rues sont vides et lugubres.“ 86 Durch diese Straßen rennt Honorés Princesse an der Seite Nemours’ - und auf der Flucht vor ihrer Leidenschaft - in einer längeren Szene gegen Ende des Films, verzweifelter Liebesakt auf Distanz, aber auch, auf der Meta-Ebene gelesen, Resümee einer im Laufschritt 81 Vgl. Augé 1992. 82 Vgl. Honoré 2008a. 83 Einzelne ‚beiläufige‘ Bemerkungen der Figuren erlauben die relativ präzise Rekonstruktion einer Chronologie der Handlung: Die Protagonistin gelangt während des Schuljahres ans Lycée, die noch recht frische Liaison Mathias/ Martin dauert „depuis octobre, le 12“ (La Belle Personne: 59: 42-59: 45); Nemours beantragt seinen „congé maladie“ bis Ende des Jahres (ibid.: 01: 22: 56-01: 22: 59); Junie erklärt Otto in der aveu-Szene, sie gedenke sich bis auf Weiteres zurückzuziehen und „après les vacances de février… ou plus tard“ wiederzukommen (ibid.: 01: 01: 53-01: 01: 55). 84 Guichard 2008. 85 Kaganski 2008. 86 Honoré 2008a. <?page no="586"?> 586 Christophe Honorés La Belle Personne durcheilten, gegenüber dem literarischen Prätext deutlich beschleunigten Passionsgeschichte. Erstreckt sich die (Haupt-)Handlung der Princesse de Clèves vom Debüt der Mlle de Chartres bei Hof bis zu ihrem Rückzug - dies bereits in gegenüber der realen historischen Chronologie verknappter Ereignissequenz 87 - auf ein Jahr (mit zeitlich nicht präzisiertem Epilog nach ihrer retraite), so wird die amouröse Intrige bei Honoré auf wenige Wochen bzw. in zentralen Handlungsetappen (Begegnung mit dem zukünftigen ‚Ehemann‘, erste Konfrontation mit Nemours - auf die nur Minuten später der auch hier fotografisch aktualisierte Porträtdiebstahl 88 folgt -, noch am gleichen Tag Re-Distanzierung von ‚Prince‘ Otto etc.) sogar auf wenige Tage verdichtet: Mit seiner Inszenierung einer zur ‚absoluten‘ Passion überhöhten Schüler-Liebe nimmt Honoré bei aller Melancholie seiner Belle Personne auch einige Momente unfreiwilliger Komik in Kauf. Junie de Chartres, Nemours & Co.: Namensspiele und multiple Intertextualität Honorés quasi-exklusiver Fokus auf das Dispositiv Schule bedingt auch die Re-Interpretation des Personals der Princesse, hier sämtlich aus der Schüler- und Lehrerpopulation der neuen cour rekrutiert (mit Ausnahme von Café-Betreiberin Nicole - einzige individualisierte nicht- ‚höfische‘ Figur - und abgesehen von reinen Statisten wie Putzcrew, Polizei etc.). Die Protagonistin wird von vornherein als Halbbzw. de facto Vollwaise eingeführt, 89 auch die Eltern ihrer Klassenkameraden sind allenfalls flüchtig am Rande präsent. 90 Honoré setzt freilich anderweitig auf den Effekt der Generationendifferenz. Oliveira wie Żuławski konstruieren einen sozial ‚alterisierten‘ Nemours; La Belle Personne errichtet - auch hier bestätigt sich die Tendenz zur Verfremdung der Figur - ein anderes transgressionswie passionsträchtiges obstacle zwischen der Teenager-Princesse und ihrem Nemours: In Umkehrung der Konstellation Delannoys kontrastiert Honoré einen jugendlichen ‚Prince‘ - schüchterner, beinahe kindlich wirkender blonder Mitschüler der Protagonistin - und einen zwar ebenfalls jungen, aber doch generations-verschobenen Nemours, der als Italienischlehrer einen recht klischeehaft verführerischen Casanova mediterranen Typs inkarniert. 91 Derart wird zwischen der 87 Vgl. Francillon 1973: 117ff. („Temps historique et durée romanesque“). 88 Im Unterschied zur Princesse nimmt Nemours das Porträt hier in Abwesenheit der Protagonistin an sich; diese durchschaut freilich sehr wohl, wer der Bilderdieb gewesen sein muss, beobachtet leicht amüsiert Nemours’ verlegene Reaktion auf ihre Frage - und schweigt ihrerseits komplizenhaft. 89 Ein Vater ist hier, anders als im Roman Lafayettes, noch vorhanden, aber aus nicht weiter präzisierten Gründen unerreichbar bzw. nicht in der Lage oder willens, sich um seine jugendliche Tochter zu kümmern: „chez mon père, c’est pas possible“, erklärt Junie auf Ottos Nachfrage, wann sie nun zu ihrem Vater abzureisen gedenke (La Belle Personne: 01: 16: 58-01: 17: 01). 90 So treten im Rahmen des juristischen Nachspiels zu Honorés Version des königlichen Turniers kurz die betroffenen Eltern samt Anwalt - und souverän aristokratisch-großbürgerlichem Habitus - beim Verlassen des Gerichts in Erscheinung (ibid.: 01: 06: 49-01: 06: 56). 91 In einem geradezu hyper-semiotisierten Film, in dem nichts ‚zufällig‘ ist, darf von der Überdetermination auch dieses Details ausgegangen werden: Über das Klischeebild des mediterranen Schönlings hinaus ist ein Blick auf die ‚italienische‘ Motivik des Prätexts - bzw. auch allgemeiner eines französischen liebes-literarischen Diskurses - aufschlussreich. Bei Lafayette ist es ausgerechnet Nemours, der bei Königin Catherine als Italienerin eine ‚natürliche‘ Prädisposition zu heftiger Passion und Eifersucht diagnostiziert (Lafayette 2014c: 407); es handelt sich hier um eine imagologische Konstante in Lafayettes <?page no="587"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? 587 unverheirateten jugendlichen Heldin und Nemours „une autre forme d’interdit“ 92 gestiftet; unterminiert wird das bewährte Transgressionspotential der ‚verbotenen‘ Lehrer-/ Schüler- Beziehung allerdings nicht nur durch das Erscheinungsbild der Darsteller, 93 sondern auch dadurch, dass dergleichen liaisons an diesem fiktivem Lycée so dangereuses offensichtlich nicht sind: Vor seiner Begegnung mit Protagonistin Junie widmet dieser Nemours sich zwangloser Polygamie im Kreis seiner Kolleginnen wie Schülerinnen. 94 Subtil rearrangiert Lafayette historische Gestalten auf ihrem literarischen ‚Schachbrett‘; Honoré setzt dieses Verwirrspiel fort, lässt Namen und Attribute weiter durch seine filmische ‚lecture‘ zirkulieren. Das Tableau von 1: 1-Korrespondenzen zwischen La Princesse de Clèves und La Belle Personne, das der - in literaturdidaktischen Foren vielfach aufgegriffene - französische Wikipedia-Eintrag zu Honorés Film skizziert, 95 wird der Komplexität dieser Re- Interpretation nicht restlos gerecht: Unter Anknüpfung an allerlei anderweitige intertextuelle und intermediale Referenzen rekombiniert resp. hybridisiert Honoré Rollen und Funktionen diverser Figuren Lafayettes. Aufschlussreich ist hier - wie im Fall der anderen besprochenen literarischen und filmischen Princesse-Variationen - bereits das onomastische System. Honoré zitiert eine Reihe von Namen aus seinem literarischen Prätext direkt oder unter strategisch transparenter Modifikation - dies mit einer symptomatischen Ausnahme bzw. Leerstelle: Verzichtet Oliveira in seiner Inszenierung Pedro Abrunhosas als ‚lui-même‘ auf den Namen ‚Nemours‘, so kommt in La Belle Personne das von Lafayette über Delannoy bis Sauder und Darrieussecq titelgebende ‚Clèves‘ kein einziges Mal vor (‚Prince‘ Otto bleibt familiennamenlos; jegliche offizielle Hochzeit entfällt angesichts von Honorés Teenager-Personal). Die Protagonistin dagegen behält ihren Adelsnamen ‚de Chartres‘, ebenso ihr Cousin Mathias, im Wesentlichen Rollenträger des wie schon bei Delannoy vom oncle zum cousin re-interpretierten Universum. Auch die eponyme Heldin der Histoire de Madame la Comtesse de Tende, geborene „Mlle de Strossy fille du Maréchal et proche parente de Catherine de Médicis“, wird mit diesem italienischen ‚Nationalcharakter‘ ausgestattet: „La comtesse de Tende vive et d’une race italienne devint jalouse, elle ne se donnait point de repos, elle n’en laissait point à son mari […]“ (Lafayette 2014d: 61). Doch nicht nur in Sachen Eifersucht, sondern auch in der Liebeskunst kommt den Italienern dem literarisch (re-) produzierten französischen Hetero-Image zufolge ein Ausnahmestatus zu. Erklärt schon Montaigne, Italien fungiere „in Liebesdingen […] als Lehrmeister der Welt“ (2009: 62), so wird auch in Stendhals Reflexionen De l’amour Italien als das Land der Liebe par excellence präsentiert: „Je prie qu’on me pardonne si je reviens souvent à l’Italie; dans l’état actuel des mœurs de l’Europe, c’est le seul pays où croisse en liberté la plante que je décris“ (1959: 137). 92 Bourdais 2008. 93 Honorés Inszenierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Louis Garrel (Jahrgang 1983) als Lehrer ‚Nemours‘ de facto gerade zwei resp. vier Jahre älter ist als ‚Princesse‘ Léa Seydoux (geb. 1985) und ‚Prince‘ Grégoire Leprince-Ringuet (geb. 1987). Wenngleich insgesamt von diesem „[s]urprenant film“ durchaus angetan, attestiert denn auch Lagier (2008) Honorés Figurenkonstellation einen Mangel an Glaubwürdigkeit: „Le beau prof d’Italien est plus ado que ses élèves, tant dans ses comportements que dans ses discours. Dommage, un acteur plus adulte que Louis Garrel aurait certainement mieux convenu au rôle et offert à ce film un surcroît de crédibilité.“ 94 En passant sei angemerkt, dass ebendiese transgenerationellen Lehrer-Schüler-Liebeleien in Laien- Kommentaren aus schulischem Kontext ob ihrer ‚Unwahrscheinlichkeit‘ heftig kritisiert werden, so in der Blog-Diskussion zu „Une belle et ennuyeuse jeune personne“ (art. cit.): „Les rapports entre le beau prof d’italien et la belle élève-personne (paraît-il) sont d’une ambiguïté douteuse et peu vraisemblable“ (‚FB! ‘, 30.09.2008). 95 Vgl. URL: http: / / fr.wikipedia.org/ wiki/ La_Belle_Personne. <?page no="588"?> 588 Christophe Honorés La Belle Personne Vidame, der freilich zugleich als Mentor, moralisches Über-Ich und manipulativer Beziehungsvermittler einige narrative Funktionen der hier bereits ins Jenseits verabschiedeten Mme de Chartres übernimmt. 96 Wie Oliveira und Żuławski stattet auch Honoré seine Heldin mit einem wiederum höchst signifikanten Vornamen aus: Nach Catherine und Clélia tritt mit Junie de Chartres eine weitere mehrfach intertextuell vernetzte Princesse in Erscheinung. Auf den Spuren von Lafayettes Protagonisten sind es auch hier die Figuren selbst, die ihren eigenen Status als literaturgeborene Wesen reflektieren - schon im allerersten Gespräch zwischen Junie und Otto wird Honorés Princesse-Reinkarnation gleich doppelt in einem klassischen Kontext verortet. Bereits Valincour assoziiert Lafayettes Heldin mit Molières Agnès (eben im Lycée Molière wurde La Belle Personne wie gesagt gedreht); Honoré kreiert mit Junie de Chartres ein Lafayette- Racine’sches Hybridkonstrukt, das nicht nur auf die entsprechende literaturkritische Tradition verweist, sondern auch den weiteren Verlauf einer letalen Liebesgeschichte im intertextuellen Keim enthält (mit Mathias’ Cover-Freundin Esther - dargestellt von Esther Garrel, Schwester Louis’ - schmuggelt Honoré noch eine Racine-Heldin samt tragischer Passion in seinen Lafayette-Plot ein). Junie selbst resümiert knapp das Schicksal ihrer Namensschwester aus Britannicus: „Non, elle se fait Vestale“, erklärt sie Otto auf die Frage, ob jene nicht Suizid begangen habe. 97 Der verliebte Otto ignoriert jedoch das doppelt fatale Omen - und bedauert fürs Erste, selbst mit keinem illustren literarischen Vorbild aufwarten zu können; ausgerechnet Otto - auf anderer Ebene als besonders literatur-affine Figur porträtiert, vor seinem Tod in der Schulbibliothek freundlich daran erinnert, dass er noch „dix-sept livres en retard“ habe 98 - kommen mit dem Namen ‚Clèves‘ auch die literarischen lettres de noblesse abhanden. Von Anfang an insistiert Junie freilich darauf, dass es ganz gewiss somewhere inside a book auch einen Otto geben müsse; ambivalente Verheißung insofern, als der Protagonist rasch genug ins Räderwerk einer hybriden intertextuellen Schicksals-Maschinerie geraten wird. Zumindest für die Film-Leserin klingt hier auch der Name der ‚Ottilie‘ aus den Wahlverwandtschaften mit (die Referenz auf jene Goethe-Heldin, die sich gleichfalls aus Liebe sterben 96 Es ist hier Mathias - vermeintlicher Frauenheld und vom Zwangs-Outing durch einen eifersüchtigen Ex-Liebhaber bedrohter heimlicher Homosexueller, in dessen Namen abgesehen von der hebräischen Etymologie auch eine vage phonetische Affinität zu jener mütterlich-matriarchalischen Figur mitzuklingen scheint -, der die Protagonistin programmatisch auf ihre Pflicht zur Einzigartigkeit und moralischen Superiorität festlegt, sie bei ‚Hof‘ einführt und ihr matrimoniales Kapital gestreng verwaltet: Diverse an Junie interessierte Schulkollegen - darunter ein gewisser Jacob, als amouröser Hauptkonkurrent des neuen ‚Prince‘ Wiedergänger des Chevalier de Guise - wenden sich gehorsam vorweg an Mathias, der sich, „marital speculator“ auf den Spuren der Mme de Chartres (vgl. DeJean 1991: 248), das Recht zur ‚Vergabe‘ seiner schönen Cousine vorbehält, diese in eine symbolische ‚Ehe‘ mit besagtem Otto - von ihm selbst als „un saint“ qualifiziert (La Belle Personne: 01: 00: 16-01: 00: 19) - drängt, in der Folge über ihr adäquates Benehmen gegenüber ihrem Gefährten wacht und konsequent einen überhöhten ethischen Anspruch einfordert: „Otto est différent… et toi aussi, je crois, enfin, j’espère. […] toi, tu es différente“, erklärt er, als Junie sich unter Verweis auf seinen Doppelstandard in puncto Moral rechtfertigt (ibid.: 25: 56-26: 07). „[…] je te croyais différente“ (ibid.: 01: 17: 32-01: 17: 33), lautet wiederum der Schlüsselvorwurf ihres ‚Ehemannes‘, der angesichts einer nicht allzu verliebten Princesse bereits zuvor Rat und Trost bei M. de Chartres gesucht hat; in Abwesenheit einer relevanten mütterlichen Figur fungieren hier primär diese beiden jungen Männer als Advokaten eines ambivalenten Weiblichkeitsideals samt strikt normativem Tugends- und Exzeptionalitätsgebot. 97 La Belle Personne: 13: 15-13: 23. 98 Ibid.: 31: 24-31: 25. <?page no="589"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? 589 lässt, passt ebenso gut in den Kontext der Belle Personne wie das dezente Gender-Switching), auf diegetischer Ebene liefert schließlich Junie selbst den materiellen Beweis für Ottos literarische Präexistenz, als sie ihrem ‚Ehemann‘ ein Exemplar von Tomi Ungerers Otto. The Autobiography of a Teddy Bear (1999; in französischer Übersetzung: Otto. Autobiographie d’un ours en peluche), Exempel einer doppelsinnigen (Nicht-nur-)Kinderliteratur, 99 zum Geschenk macht. 100 Im Gegensatz zu Ungerers plüschigem Helden, der NS-Zeit, Zweiten Weltkrieg und adoleszenten Hooliganismus überlebt - wenn auch etwas ramponiert - und sich am Ende einer abenteuerlichen Odyssee als Autor seiner eigenen Geschichte wiederfindet, wird Honorés Schüler-Prince allerdings bereits an der ersten Widrigkeit in seiner komfortablen Existenz scheitern. Die Einführung dieser neuen Princesse als Racine’sche ‚Vestalin‘ unterstreicht die unverkennbare Ambivalenz schon des Lafayette’schen Vorbilds. Wie Oliveiras Catherine wird auch Honorés Junie als anachronistische Ausnahmeerscheinung konstruiert, die in einem wie die cour Lafayettes von allseitiger dissimulation geprägten Mikro-Milieu nach absoluter sincérité strebt und wie Lafayettes Heldin ihre eigene Singularität auf der Meta-Ebene reflektiert: „[…] je refuse de faire comme les autres qui dissimulent tout“, erklärt sie Otto in der aveu-Szene; 101 im Gespräch mit Nemours kommentiert sie erneut „ma manière d’être transparente“ sowie ihre radikale, ihrerseits freilich stets abgründige Aufrichtigkeit („J’ai pas honte de parler sans prudence“). 102 Junie fungiert insofern auch als poetologische Schlüsselfigur eines Films, dessen Regisseur, „persuadé d’être arrivé après la mort du cinéma“, auf konsequente Metaisierung und eine auch von der Kritik gelegentlich für „agaçante“ befundene systematische „distanciation“ von Handlung wie Protagonisten setzt. 103 Das Imaginarium einer trügerischen Transparenz zieht sich leitmotivisch durch den Film, in dem - hier scheint Honoré nicht zuletzt an Żuławski anzuknüpfen - wiederholt durch Glasscheiben spioniert, durch Vitrinen (fehl-)kommuniziert wird; „c’est fragile comme du verre à cet âge-là“, mahnt Nicole, als sie Junies Porträt auf Nemours’ Tisch entdeckt: „Une jeune fille, ça se respecte, même à notre époque.“ 104 Wie ihre literarische Vorgängerin steht diese vermeintlich so fragile Heldin aber auch für ein potentiell tödliches, hier religiös wie sozial dekontextualisiertes, doch in seiner Abstraktheit kompromissloses Tugendideal, das sie gegen das Leben in seiner bunten Unreinheit selbst verteidigt. „[…] la passion de la princesse de Clèves est mortifère. L’héroïne ‚sème la mort sur son chemin‘“, konstatiert Denise Werlen; 105 bei Honoré ist es Estouteville, Kollege und Freund Nemours’, der Junie als „pas du tout fragile“, ja als „une tueuse, ça se voit tout de suite“ charakterisiert. 106 99 Vgl. Ewers 2012: 51ff.; Ewers 1990. 100 Honoré selbst war vor seiner Karriere als Regisseur unter anderem als Kinderbuchautor tätig; auch anderweitig platziert er kleine kinderliterarische Anspielungen in seinem Filmwerk: So taucht in Dans Paris flüchtig der Band Loulou et Tom auf (vgl. „La Belle Personne. Les secrets du tournage“, art. cit.). 101 La Belle Personne: 01: 03: 50-01: 03: 52. 102 Ibid.: 01: 26: 28-01: 26: 38. 103 Regnier 2008. 104 La Belle Personne: 29: 25-29: 41. 105 Werlen 2012: 74. 106 La Belle Personne: 41: 58-42: 02. <?page no="590"?> 590 Christophe Honorés La Belle Personne Neben Nemours gehört auch das Triangel Tournon-Sancerre-Estouteville dem Lehrkörper des Lycée an - dies in symbolträchtigen Positionen: die von Junie als „très belle, très digne“ bewunderte Mme de Tournon 107 herrscht über das literarische Reich der Schulbibliothek, die beiden männlichen Akteure eines hier auch konkret sexuell realisierten amourösen Dreiecks fungieren als Sport- (Sancerre) resp. Mathematiklehrer (Estouteville). Die Schülerschaft dieses neuen ‚Hofes‘ umfasst neben Princesse, Prince und Vidame unter anderen Jacob - als Rivale Ottos und eifersüchtiger Beobachter der Interaktion zwischen Junie und Nemours als Rollenträger des Chevalier de Guise identifiziert - sowie Henri und Marie Valois, transgenerationell zum Geschwisterpaar fusioniert. Henri - seine offizielle Gefährtin, Camouflage seiner anderweitigen Amouren und ihrerseits in eine geheime Liaison mit ‚Vidame‘ Mathias verstrickt, erhält entsprechend den Vornamen ‚Catherine‘ - erfüllt einige narrative Funktionen seines königlichen Vorgängers (er ist es, der anlässlich einer den Hofball ersetzenden Italienischstunde von gleichfalls musikalisch intensivierter Emotionalität die zuspätkommende neue Schülerin dem Lehrer Nemours präsentiert 108 ). Marie wiederum, vorwitzig wie ihr Vorbild, auch sie der einen oder anderen Intrige nicht abgeneigt, spielt unübersehbar die Rolle der Dauphine: Fröhlich stellt sie sich als Schwester des „crétin prétentieux“ Henri vor und nimmt die etwas eingeschüchterte Debütantin unter ihre Fittiche; 109 selbst (bald Ex-) Geliebte Nemours’, verfolgt sie misstrauisch das weitere Geschehen. Sie ist es, die den verlorenen Liebesbrief findet und unter ihren Mitschülerinnen zirkulieren lässt - und Nemours, der ihr unzeremoniös den Laufpass gibt, mit ihrem eigenen, höchst klassisch formulierten Bekenntnis konfrontiert: „C’est bête… j’ai comme une très grande douleur de vous quitter, Monsieur…“. 110 Aus Mme de Martigues, aktueller Mätresse des Vidame de Chartres, wird im Rahmen eines ver-queerten Nebenstrangs der Handlung Mathias’ heimlicher Liebhaber Martin, dessen Feder freilich auch das simplifizierte Äquivalent des galanten Schreibens der Mme de Thémines entstammt. Lafayette, ver-queert: Galante Konfusionen Im Gegensatz zu der ethnokulturellen Buntheit, die kurz darauf Régis Sauders Nous, princesses de Clèves in Szene setzen wird, bleibt die selbstverständliche blancheur des literarischen Universums Lafayettes in La Belle Personne weitgehend intakt; eine andere Prämisse dieser Welt gerät ins Wanken: ihre zumindest offiziell strikte Heterosexualität. Honoré lässt zwar die sexuellen und Gender-Identitäten des zentralen Dreiecks unangetastet, schreitet aber zum kreativen Queering eines Nebenplots - eben besagter Affäre um den Vidame, neben der Episode Tournon die zweite hier beibehaltene und besonders ausführlich entfaltete Digression Lafayettes (Diane de Poitiers und Anne Boleyn werden samt den entsprechenden Exkursen gestrichen). Rund um Mathias, Vidame - und zugleich ein wenig Madame - de Chartres, entspinnt sich ein Netzwerk galanter Intrigen, die an Komplexität jenen der Höflinge Lafayettes nicht nachstehen: Hinter dem doppelten heterosexuellen Alibi einer deklarierten 107 Ibid.: 32: 18-32: 21. 108 Ibid.: 18: 40-19: 00. 109 Ibid.: 03: 30-03: 31. 110 Ibid.: 28: 44-28: 48. <?page no="591"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? 591 Verbindung mit Esther und einer geheimen Romanze mit ‚Königin‘ Catherine verbirgt diese schillernde Figur ihr wahres homosexuelles Liebesleben. Die Gefahr mörderischer Eifersucht geht hier von Henri Valois aus, nach kurzer Affäre verschmähter, nun auf Rache bedachter Ex- Liebhaber, der Mathias mit Smartphone-Schnappschüssen eines homosexuellen Rendezvous erpresst, schließlich vor versammelter Hofgesellschaft mit einer Schere attackiert und dabei am Auge verwundet: Abgesehen vom subtil verschobenen Zitat des königlichen Turniers der Princesse (Honorés ‚König‘ gibt die tödliche Augenverletzung seines Lafayette’schen Vorgängers in abgemilderter Form selbst weiter) lädt diese Szene auch zu psychoanalytischer Interpretation im Sinne der freudianischen Assoziation von Blickmacht und Potenz, Blindheit/ Blendung und Kastration, „Augenangst“ und „Kastrationsangst“ ein. 111 Bereits diese Episode - wie die Digressionen Lafayettes, zugleich „cautionary stories“, 112 mit evidenter didaktisch-exemplarischer Funktion ausgestattet - demonstriert ‚Princesse‘ Junie die Verheerungen der Passion; anhand ihrer Fehllektüre jenes vermeintlich an Nemours adressierten Liebesbriefes lernt sie rasch genug in eigener Sache das Elend der Eifersucht kennen. Nemours, vom ‚Vidame‘ eindringlich um Unterstützung, d. h. Deckung gebeten (Mathias gesteht seine amourösen Turbulenzen im Rahmen einer Rückblende, dies - der radikal anti-intimen spatialen Ästhetik des Films gemäß - auf einem Métro-Quai), verfügt zwar über keinen handfesten (bzw. handgeschriebenen) Beweis seiner Unschuld, zu Hilfe kommt ihm jedoch die französische Grammatik. Auf seine hartnäckige Nachfrage widerfährt Junie - zunächst davon überzeugt, „une lettre de femme“ gelesen zu haben - ein temporär erlösender Flashback: Vor ihrem inneren Auge erscheint jener mittlerweile vernichtete Brief; der Blick der Protagonistin (und der Zuschauerin) fokussiert dessen letzte Sätze und insbesondere eine verräterische Formel, in der sich eine Passion au masculin artikuliert: „[…] je suis amoureux.“ 113 Es folgt - symbolische Szene doppelter réécriture, auch bei Honoré narrativer „pivot“ und „centre parfait du récit“ 114 - die Rekonstruktion des fatalen Schreibens, gender-transgressives Gemeinschaftsprodukt von Princesse, Vidame und Nemours (‚Ehemann‘ Otto bleibt völlig aus dem Spiel). Während Junie - Gender-Performance schon auf kalligrafischer Ebene - mit einer möglichst eindeutigen „écriture de fille“ eine trügerische Hetero-Ordnung der Geschlechter re-etabliert (transparent lädt diese intradiegetische Fiktion weiblicher Autorschaft bzw. Aneignung eines ‚männlichen‘ Textes zu weiterführenden poetologischen Reflexionen ein), kommentiert Nemours mit bemühter Nonchalance die auch hier offenkundige Doppelbödigkeit und Doppelstimmigkeit jenes falschen und gender-verfälschten Briefes, der auf Umwegen - wie bei Delannoy, dort freilich ohne Gender-Switching - zum echten Liebesbekenntnis gerät: „Ça va, Junie, de m’écrire une lettre d’amour, ça va être pas trop…? “ 115 111 Vgl. Freud 2000a: 255. 112 Longino 1998: 81. 113 La Belle Personne: 56: 55-57: 05. 114 Werlen 2012: 54. 115 La Belle Personne: 58: 24-58: 26. Auch abseits der Episode rund um den Vidame brodeln in La Belle Personne allerlei ‚verbotene‘ Gefühle unter der Oberfläche, finden sich mehrere Szenen von offensichtlich intendierter homoerotisch gefärbter Ambivalenz; so der parodistische ‚Flirt‘ zwischen Nemours und Estouteville, da ersterer seinen Liebeskummer beichtet, dabei die Hand seines Kollegen streichelt, sich vage entschuldigt („Tu m’excuses de m’épancher devant toi comme ça, hein? […] J’ai pas envie de t’embarrasser avec cette histoire…“) - und dieser scherzhaft zurückfragt: „T’embrasser? M’embrasser? […] Tu veux m’embrasser? “ (ibid.: 43: 14-44: 36). <?page no="592"?> 592 Christophe Honorés La Belle Personne Digression und Didaktik: Lektionen in Liebesskepsis Abseits der dergestalt variierten Binnen-Erzählungen der Princesse eröffnet Honorés Re- Interpretation der Lafayette’schen cour noch eine weitere perfekte und auch gleich mehrfach genützte Option der Integration didaktischer Mini-Narrative: In Form diverser Schulstunden werden wiederholt - diegetisch plausibel - philosophische und historische ‚Lektionen‘ erteilt, literarische und musikalische Werke präsentiert, die in direktem Zusammenhang mit dem Dilemma der Protagonistin stehen - und en passant über den primären Prätext hinaus eine ganze Reihe weiterer Referenzen ins Spiel bringen. Junies etwas missglücktes Debüt findet im Rahmen einer Englischstunde zum implikationsreichen Thema „first job“ statt, bei der ein maximal antipathisch stilisierter Lehrer die neue Schülerin gezielt bloßstellt (nicht zuletzt aus schul-klassenkämpferischem Ressentiment verspottet der pädagogische Sadist „Miss Henri IV“ - vom gleichnamigen elitären Lycée wechselt Junie an ihre neue Schule, wobei die royale Allusion noch zusätzlich aufgeladen wird -, die sich „pas à la hauteur peut-être“ erwiesen habe). 116 Es folgt eine Geschichtslektion, in der Lehrerin Florence, (noch) Geliebte Nemours’, die calvinistische Prädestinationslehre erklärt (die Assoziation mit dem weltanschaulichen Kontext der Princesse de Clèves bzw. dem für Lafayettes Werk in mancher Hinsicht prägenden Jansenismus wird deutlich suggeriert). „Quelle connerie! “, lautet Henris salopper Kommentar, woraufhin sich zwischen der Lehrerin und dem rebellischen Vorzugsschüler ein Miniatur-Disput über menschliches Schicksal zwischen Fatalität und Freiheit - von Henri an der Frage der Liebe exemplifiziert - entfaltet. 117 Die Thematik der Passion in all ihrer Ambivalenz begleitet Junie und ihre Kollegen weiter durch den Unterricht: Abwesend, mit unergründlichem Gesichtsausdruck, starrt eine melancholische alternde Französischlehrerin durch das Guckfenster in der Klassentür auf ein sich küssendes Paar im Hof, während im Hintergrund Mathias auf ihre gleichgültige Aufforderung hin schon zum zweiten Mal - in Andeutung einer monotonen Endlos-Schleife - Mallarmés Le Vierge, le vivace et le bel aujourd’hui vorliest und in der Klasse parallel allerlei Privatkorrespondenz in Zettelchenform zirkuliert. 118 Der coup de foudre vollzieht sich in einer höchst musikalischen Italienischstunde: Hastig betritt die frisch ‚vermählte‘ Junie ein paar Minuten nach Unterrichtsbeginn das Klassenzimmer (auch mit diesem Detail zitiert Honoré die fatal verspätete Begegnung der Figuren Lafayettes) und nimmt nach kurzer Vorstellung neben Nemours Platz. Am Wort ist ‚König‘ Henri mit einem Referat zu Donizettis Lucia di Lammermoor bzw. zunächst dem zugrunde liegenden Roman Walter Scotts, der einige kontextuell symbolträchtige Anmerkungen zum historischen Gegensatz von Liebe und (Vernunft-)Ehe motiviert („C’est un mariage de raison, d’intérêt, comme il y en avait tant à cette époque […]“). Von Nemours ermahnt, nicht den „pédant“ zu spielen (wiederholt wird rund um dieses oder jenes kanonische Stück Kulturgeschichte die im Rahmen einer selbstreflexiven Klassikerverfilmung mehrfach aufschlussreiche Inversion der Lehrer/ Schüler-Rollen inszeniert), verstummt Henri endlich - und lässt stattdessen die Musik sprechen. 119 Aus einem altmodischen phono - in einem Film aus dem 116 Ibid.: 01: 02-03: 01. 117 Ibid.: 05: 19-06: 55. 118 Ibid.: 15: 25-16: 44. 119 Ibid.: 18: 40-20: 18. <?page no="593"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? 593 Jahr 2008 ein weiteres Moment strategisch affichierter, als solcher thematisierter Medialität - erklingt die berühmte ‚Wahnsinnsarie‘ Il dolce suono in der Interpretation Maria Callas’: Drastischer könnte die auch von den anderen Schülern mit offensichtlicher Gemütsbewegung rezipierte musikalische Warnung vor einer in Selbstverlust und Tod mündenden Passion kaum mehr ausfallen. Nach wenigen Takten bricht Honorés Princesse in Tränen aus („ça va“, fragt hilflos ein verlegener Nemours), bevor sie aus dem Klassenzimmer stürzt (auch hier entspinnt sich ein - zeitlich komprimiertes - Verwirr- und Versteckspiel der Gefühle, in dem wie bei Lafayette 120 die Trauer der Protagonistin über den noch nicht überwundenen Tod der Mutter ihre Verstörung angesichts einer sie ohne Vorwarnung überwältigenden Passion camoufliert). Zurück bleibt ihr betont naiv stilisiertes Schulheft, in dem die Zuschauerin flüchtig ein paar Zeilen - signifikanterweise zum Thema der eben vorgestellten intermedialen „adaptation“ - liest und aus dem Nemours heimlich ein Porträtfoto der jungen Frau entwendet. 121 Später wird Junie im Rahmen einer anderen Italienischlektion von dem verliebten (und seine Autorität zu höchstpersönlichen Zwecken ausnutzenden) Nemours aufgefordert, eine Passage aus dem Ricchi e Poveri-Songtext Sarà perché ti amo (1981) laut vorzutragen; nach einer ersten zögerlichen Lektüre auf Italienisch - mit starkem Akzent und stockender Stimme - übersetzt sie auf Verlangen Nemours’ das Gelesene ins Französische, symptomatischer Akt gelungener Aneignung eines fremden Textes, den Junie nun schon sicher, flüssig und mit allmählich erstrahlendem Lächeln rezitiert: 122 Ein weiteres Mal wird die Kopie zum Original, das entlehnte Wort zum echten Liebesbekenntnis. Nicht zufällig wiederholen sich in La Belle Personne derartige Szenen, in denen amouröse Kommunikation auf prätextualisierten Pfaden realisiert wird. Hier wird nicht nur die Problematik einer Passion reflektiert, die sich bei aller Intensität kaum anders als in ad infinitum recycelten Klischees zu artikulieren weiß (und allenfalls der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Zitathaftigkeit einen paradoxen Authentizitäts-Effekt verdankt), 123 sondern auch allgemeiner jene eines polyphonen Subjekts, das - interdiskursiver Resonanzraum - seine prekär ‚eigene‘ Sprache, Welt und Identität unweigerlich mit Hilfe fremder Worte und (Prä-)Texte konstituiert; in diesem Sinne spiegeln Honorés intertextuell inspirierte, auf diegetischer Ebene immer wieder lesende, schreibende, rezitierende, kurz: mit allerlei Texten spielende Figuren en abyme Position und Gestus des Regisseurs einer Literaturbzw. Klassikerverfilmung insgesamt wider. 120 „[…] et comme son deuil lui donnait lieu d’être plus retirée que de coutume, elle se servit de ce prétexte pour n’aller plus dans les lieux où il la pouvait voir. Elle était dans une tristesse profonde; la mort de sa mère en paraissait la cause, et l’on n’en cherchait point d’autre“ (Lafayette 2014c: 383). 121 La Belle Personne: 23: 00-24: 05. 122 Vgl. ibid.: 36: 19-38: 43. 123 Besonders eindrücklich illustriert dies jene Szene, da Nemours gegenüber Estouteville zum Psycho- Strip (bzw. aveu) schreitet. Dieser Routinier der Galanterie, der nun seine „absolue détresse amoureuse“ gesteht, hat rhetorisch kaum mehr zu bieten als ein eklektisches Sammelsurium aller erdenklichen Klischees: Völlig ‚außer sich‘ vor Liebe, sich dabei der eigenen ‚Lächerlichkeit‘ vollauf bewusst („je me sens tellement ridicule“), wirft Nemours mit hyper-konventionellen Topoi - Liebe als Wahnsinn („je suis fou d’amour“), Liebe als Krankheit, Liebe als Feindin der Vernunft etc. - nur so um sich (ibid.: 42: 27-43: 11). <?page no="594"?> 594 Christophe Honorés La Belle Personne Diese vom Lehrer initiierte Liebeserklärung auf lyrisch-musikalischem Umweg impliziert freilich auch ein subtiles Moment symbolischer Gewalt; es ist Nemours, der seiner Princesse das pädagogische Kommando zur Rezitation erteilt, ihr einen von ihm selbst ausgewählten Text in den Mund legt. Wenig später redigiert Junie unter der doppelten männlichen Aufsicht des Vidame und Nemours’ jenen ebenfalls doppelt codierten Liebesbrief („c’est déjà assez gênant comme ça pour Martin“, bremst Mathias Nemours ein, als dieser in einem Register „un peu lyrique“ zu ko-diktieren beginnt). 124 In ihrer Aussprache mit Nemours, seinerseits entschlossen, „notre histoire d’amour“ 125 gegen Junies Widerstand zu verwirklichen, verteidigt auch diese Protagonistin ihre Autorität über die eigene Geschichte; mit der Liebe Nemours’ verweigert sie zugleich ihre vorgeschriebene Rolle in einem fertigen Szenario samt literarisch präfabriziertem discours amoureux (womit sie allerdings - und diese auf poetologischer Meta- Ebene reflektierte Geste verweist auf ein prinzipielles Paradoxon dieser filmischen Re- Interpretation - erst recht der Spur des literarischen Prätexts folgt). Während Honorés Princesse derart im Italienisch-Unterricht liebt und leidet (und ihre Lektionen bald konsequent schwänzt), sitzt ‚Ehemann‘ Otto im parallelen Russisch-Kurs; auch hier wird mehr oder minder eifrig gelesen, und zwar - dies in jener Stunde, da Otto von der angeblichen Untreue Junies erfährt - Boris Pasternaks in den Roman Doktor Živago integriertes Passions-Gedicht Zimnjaja noč’ (1946). In stark akzentbehaftetem Russisch rezitiert eine Schülerin die ersten Zeilen des Gedichts, das mit dem folgenden Schauplatzwechsel abbricht. Die Kamera wandert mit dem von Otto auf Junie angesetzten Spion auf die Galerie, wo dieser einen vermeintlichen Kuss zwischen der jungen Frau und Nemours beobachtet, 126 und kehrt mit ihm ins Klassenzimmer zurück, wo inzwischen ein nervöser Otto allerlei Eifersuchtsqualen ausgestanden hat, wie durch den Szenenverlauf suggeriert, eben zum Subtext des Pasternak’schen Gedichts; elegant lädt diese Sequenz die Rezipientin zum Weiterlesen bzw. zur kreativen ‚Auffüllung‘ der filmischen Diegese ein, stellt doch der Rest der Winternacht einen treffenden Kommentar zur doppelten Passion des Helden dar. 127 Neben diesen vielfältigen literarischen Bezügen kommt der Musik eine zentrale Rolle zu, dies über Junies musikalisch verstärkten coup de foudre hinaus. Angesichts einer spezifischen Schwierigkeit jeglicher Verfilmung der Princesse, „dont l’histoire a son lieu dans l’âme“, 128 entscheidet Honoré sich für eine durchaus schlüssige intermediale Strategie: Diverse Passagen inneren Monologs bzw. Szenen, die primär in der Innenwelt der Protagonisten ‚spielen‘, werden via (extrawie intradiegetische) Filmmusik externalisiert. Zum Einsatz gelangen Opernausschnitte (etwa besagte Arie Il dolce suono), Chansons (so Alain Barrières Elle était si jolie) wie britischer Folk (Nick Drake) mit sämtlich unüberhörbar handlungsrelevantem Text. 129 Ottos Weg in den Selbstmord begleitet ein von Honorés „compositeur-fétiche“ Alex 124 Ibid.: 58: 44-58: 48. 125 Ibid.: 01: 28: 47-01: 28: 49. 126 Wie Lafayette (und auf ihren Spuren Oliveira und Żuławski) demonstriert auch Honoré die potentiell destruktive Macht der trügerischen apparences; es ist eine ihm von seinem Spion mit der problematischen Autorität der Augenzeugenschaft rapportierte falsche Evidenz, die ‚Prince‘ Otto in den Tod treibt (im Gegensatz zu dem diegetischen Beobachter, der über die Galerien des Hofes schleicht, weiß die Zuseherin, dass jener angebliche Kuss zwischen der Protagonistin und Nemours nicht stattgefunden hat). 127 Pasternak 1990: 71f. 128 Durry 1962: 12. 129 Vgl. Engkvist 2010: 15. <?page no="595"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? 595 Beaupain komponierter 130 und von Darsteller Grégoire Leprince-Ringuet als diegetischer „monologue chanté“ interpretierter Song 131 (Comme la pluie nous manque parfois); diese Szene zitiert nicht nur ein bereits in Les Chansons d’amour (ebenso mit Leprince-Ringuet) verwendetes Verfahren, 132 sondern illustriert in ihrer etwas artifiziellen Melodramatik auch jene Selbstdestruktivität, mit der sich die Figur - Opfer nicht zuletzt einer diskursiven Konditionierung - geradezu wollüstig an ‚Liebe‘ sterben lässt. Close-up, Schaulust, Meta-Kino: Zur (Gender-)Ökonomie des Blicks Doch nicht nur mit musikalischen Mitteln setzt Honoré die konfliktuellen Gefühls- und Gedankenwelten seiner Figuren filmisch in Szene, sondern auch durch den hier in Frequenz wie Dauer frappierenden Fokus auf deren Gesichter - „Semaphor[en] der Seele“, um Béla Balázs’ Formel aufzugreifen: 133 „[…] j’ai l’impression que c’est la première fois que vous filmez aussi près des visages, à tel point qu’on finit par avoir la sensation de plonger dans la tête des personnages et d’entendre leurs sentiments… Comme un équivalent de la voix intérieure en littérature…“. 134 Honoré bestätigt die Schlüsselfunktion seiner zahlreichen Closeups bzw. „longs plans contemplatifs sur les visages“: 135 Je voulais être dans le regard des élèves, sans pour autant prétendre savoir à quoi ils pensent, sans chercher à les piéger, à les capter d’un point de vue psychologique. Juste me donner le temps de les regarder, d’être attentif à leur beauté, leur mystère et leur gravité. […] j’avais envie de filmer des jeunes en train de penser, que la pensée leur appartienne à eux plutôt qu’au film. 136 Diese oft mehrfach gerahmten Porträts 137 - kinematografische Galerie der belles personnes - sind freilich von beträchtlicher Ambivalenz zwischen respektvoller Annäherung und ästhetisierender Objektivierung. Nirgendwo zeigt sich die Doppel-Gesichtigkeit dieser pikturalen Ästhetik deutlicher als in der Inszenierung der als Objekt der intrawie extradiegetischen Schaulust der männlichen ‚Höflinge‘ (wie der Zuseher) dargebotenen Protagonistin. Gleich am ersten Schultag posiert Junie vor der massiven Kamera eines Mitschülers, photographe en titre; die fotografische Séance wird zur Performance sui generis, die ihr eigenes Publikum anlockt. Im Gegensatz zu Żuławskis Clélia verweilt diese Princesse auch in der Folge auf der passiven Seite der Kamera: 138 Verbirgt sich in La Fidélité hinter „vos photos […] des photos 130 „La Belle Personne. Les secrets du tournage“, art. cit. 131 Regnier 2008. 132 Vgl. ibid. 133 Vgl. Balázs 2009: 226. 134 Honoré 2008a. 135 Bourdais 2008. 136 Honoré 2008a. 137 Für besagte Rahmung sorgt schon das panoptische Dispositiv des Lycée selbst: Immer wieder wird diese oder jene Figur - von außen oder innen - durch eines jener Guckfenster in den Klassentüren oder quer über die Galerien des Hofes von einem mehr oder minder voyeuristischen Blick erfasst bzw. quasi en abyme auch selbst bei der Spionage ertappt. 138 Insofern scheint Engkvists Feststellung, Junie wirke „plus indépendante et plus forte que Mme de Clèves“, höchst fraglich (2010: 20); im Vergleich zu Żuławski jedenfalls inszeniert Honoré eine sehr viel schwächere Heldin. <?page no="596"?> 596 Christophe Honorés La Belle Personne de vous“, die MacRoi der Heldin gegenüber begutachtet zu haben erklärt, 139 ein weibliches Subjekt des (nicht nur) fotografischen Blicks, so bleibt es in La Belle Personne hinsichtlich der „photo de moi“, nach der Junie sich nach dem Diebstahl ihres Porträts bei Nemours erkundigt, beim exklusiven Genitivus obiectivus. 140 Honoré legt Léa Seydoux als Princesse auf ein extrem statisches Spiel fest - und deutet in einem Interview zu Entstehungsgeschichte und Hintergründen des Films einen diesbezüglichen Konflikt mit seiner über diese allzu passive mise en scène offenbar nicht recht glücklichen Hauptdarstellerin an: „Léa […], tout le tournage, a craint de ne rien faire, se plaignant que contrairement aux autres, je ne la laissais pas vivre pleinement dans le plan.“ In ebenso raffinierter wie hoch ambivalenter Wendung wird Seydoux in den Augen des Regisseurs gerade in ihrer Rebellion gegen besagte Restriktionen zur perfekten - zu seiner perfekten - Princesse: „Je retrouve aujourd’hui dans le film son immense volonté de liberté qui confine au désir de toute-puissance: à l’image de Mademoiselle de Chartres, je la vois faire le plein d’elle-même avec la solitude comme alliée. Elle est la Princesse dont je rêvais.“ 141 Derart gerät diese zeitgenössische Adaption unterschwellig auch zur kinematografischen Zähmung einer widerspenstigen Heldin, deren Lafayette’sches Vorbild Honoré - wie zitiert - explizit als „tyran“ charakterisiert. 142 Über die Inszenierung seiner Princesse schreibt der Regisseur sich im nächsten Atemzug selbstbewusst in die große Filmhistorie ein: „Et c’est avec bonheur que je lui ai fait croiser le temps d’un plan le regard d’une autre Princesse de Clèves, celle de Manoel de Oliveira […].“ 143 Tatsächlich spielt La Belle Personne nicht zuletzt mit ihrer eigenen medialen Vorgeschichte. Honorés Einstieg verweist neben Lafayette auf den Beginn von Delannoys historisierender Princesse; eine andere metafilmische Szene setzt auf das Kontextwissen des Publikums: In jenem Café findet sich Junie, den Jukebox-Klängen von Barrières Elle était si jolie lauschend, einer anonymen Frau mittleren Alters gegenüber - niemand anders als Oliveiras Protagonistin Chiara Mastroianni. Für einen flüchtigen Moment transgenerationeller und transfiktionaler Konfusion spiegeln einander die beiden lächelnden Princesses, bevor Mastroianni aufsteht, das Café verlässt und symbolisch den Schauplatz für ihre junge Nachfahrin räumt. Doch auch abseits dieser Konfrontation zweier Princesses experimentiert Honoré mit dem Medium Film und dem Dispositiv Kino als solchen, so im Rahmen jener schulischen Exkursion in die Cinémathèque. Auf der Leinwand entfaltet sich ein weiteres exemplarisches Narrativ: An die Schulter Ottos gelehnt, verfolgt Junie die Intrige rund um den Ehebruch einer jungen schwarzen Frau und richtet sich schuldbewusst auf, als einer der auch im Film allgegenwärtigen Spione die untreue Protagonistin verächtlich für „pas du tout sérieuse“ erklärt. 144 Film im Film, Kino en abyme: In dieser doppelt didaktischen Cinémathèque-Episode inszeniert Honoré - unter Anknüpfung an die Princesse - ein komplexes visuelles Wechselspiel bzw. 139 La Fidélité: 20: 51-20: 56. 140 Dieses ‚gestohlene‘ Porträt der Princesse findet sich - auf blutrotem Hintergrund - auch auf dem Cover der DVD-Edition (Art Film). Eine alternative Edition (TF1 Video) fügt das Konterfei Nemours’ hinzu; begeistert begrüßt die Garrel-Fan-Community diese „nouvelle affiche du film sur la jaquette, sur laquelle notre beau Louis apparaît! “ (URL: http: / / louisgarreladdict.free.fr, 08.04.2009). 141 Honoré 2008a. 142 Bourdais 2008. 143 Honoré 2008a. 144 La Belle Personne: 45: 55-45: 56. <?page no="597"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? 597 eine regelrechte optische Kaskade über mehrere diegetische Grenzen hinweg (der Blick der extradiegetischen Zuschauerin fokussiert den intradiegetischen Nemours, der seinerseits Junie dabei zusieht, wie sie jene metadiegetischen Spione auf den Spuren der nichtsahnenden Filmheldin beobachtet etc.), wobei diese unterschiedlichen Realitäts-/ Fiktionsebenen gelegentlich auch - via Ausblendung des Kino-Dispositivs: für einige Momente füllt der Film im Film auch die extradiegetische Leinwand resp. den Bildschirm - kurzgeschlossen werden. „Il n’y a pas d’amour éternel“: Passion in einer postreligiösen Welt Am Ende dieses selbstreflexiven Meta-Films entscheidet sich auch Honorés Princesse für Liebesverzicht und Rückzug von einem re-interpretierten ‚Hof‘, dies freilich auf einer weit prekäreren ethischen Basis als ihre Lafayette’sche Vorgängerin. Die dezente christlichspirituelle Dimension des Prätexts hat sich aus dieser zeitgenössischen Adaption zur Gänze verflüchtigt; zwar betont Junie wiederholt - wie ihr Vorbild nicht ohne eine Spur von Narzissmus - ihre eigene ungewöhnliche sincérité und transparence, allein: Diese für Selbstverständnis und -inszenierung der Protagonistin zentralen Attribute scheinen eher ästhetischer denn moralischer Natur. Auch Honorés Version folgt insofern jener Tendenz zur Ästhetisierung der Moral, die sich bereits in den früheren literarischen réécritures des 20. Jahrhunderts abzeichnet. Lafayettes vielschichtiges Schlüsselkonzept des repos spielt kaum mehr eine Rolle: Junies Argumentation in ihrer letzten Aussprache mit Nemours konzentriert sich auf die Gefahren der Passion und insbesondere der Eifersucht, die ihr kurzer Aufenthalt bei ‚Hof‘ ihr deutlich genug vor Augen geführt hat, in Gestalt ihres Cousins, (Anti-)Held gleich mehrerer verstrickter galanter Intrigen, aber auch Nemours’ selbst, der zu Beginn der Handlung mindestens zwei Liaisons parallel unterhält (und von seinen jeweiligen Partnerinnen nachdrücklich Diskretion einfordert); diverse literarische, musikalische und filmische Zusatz-Lektionen vervollständigen ihre éducation sentimentale zur prinzipiellen Liebesskepsis. Junie reflektiert das mimetische Gesetz des Begehrens („Tu es très beau. Tu plais à tout le monde. T’as connu beaucoup de femmes. […] J’aurais toujours l’impression que tu serais aimé et amoureux d’une autre“, erklärt sie Nemours 145 ) und die früher oder später fatale Untreue eines allzu attraktiven Liebesobjekts. „Il n’y a pas d’amour éternel, même dans les livres il n’y en a pas“, stellt sie desillusioniert fest; „donc s’aimer, c’est s’aimer pour un certain temps“. Das „miracle“ der ewigen Liebe werde auch für sie beide nicht stattfinden („nous ne sommes pas plus forts que les autres“); ein anderer als jener absolute „amour éternel“ kommt für sie nicht in Frage, 146 „denn es kann ja keine Liebe vollkommener sein als die, die um ihrer selbst willen 145 Vgl. die korrespondierende Passage bei Lafayette (2014c: 471f.): „Par vanité ou par goût toutes les femmes souhaitent de vous attacher; il y en a peu à qui vous ne plaisiez: mon expérience me ferait croire qu’il n’y en a point à qui vous ne puissiez plaire. Je vous croirais toujours amoureux et aimé, et je ne me tromperais pas souvent […].“ 146 La Belle Personne: 01: 26: 51-01: 28: 31. „[…] mais les hommes conservent-ils de la passion dans ces engagements éternels; dois-je espérer un miracle en ma faveur; et puis-je me mettre en état de voir certainement finir cette passion dont je ferais toute ma félicité? “, fragt sich skeptisch Lafayettes Heldin (2014c: 471). „Il n’y aura pas de miracle pour nous“, konstatiert bereits ohne Fragezeichen Honorés Junie (La Belle Personne: 01: 27: 19-01: 27: 21). <?page no="598"?> 598 Christophe Honorés La Belle Personne auf die eigene […] Erfüllung verzichtet“. 147 Angesichts einer großen Passion, die irgendwann zur banalen Affäre mit Ablaufdatum zu degenerieren droht, verzichtet Junie von vornherein - und idealisiert nachträglich den toten Otto, „le seul homme qui m’aimera toute sa vie“. 148 Mit ihrem Anti-Liebes-Plädoyer auf den Spuren Lafayettes verteidigt auch diese postmoderne Princesse nicht zuletzt ein - von Vidame Mathias wie Prince Otto forciertes bzw. eingefordertes - überhöhtes Selbstbild; 149 mindestens ebenso sehr wie die Passion selbst, Bedrohung des souveränen Subjekts, fürchtet auch diese Protagonistin die Perspektive, sich durch Liebe und eventuelle Untreue zur Frau ‚wie jede andere‘ degradiert zu sehen. 150 So bleibt Junie denn allein und „loin“ 151 von allen und allem übrig. Die Flucht in ein wie immer geartetes ‚Kloster‘ - sei es die ‚maison religieuse‘ Lafayettes, die afrikanische Mission bei Oliveira oder Żuławskis Esoterik-Retreat - stellt angesichts von Milieu wie Alter der Heldin und der Elimination jeglicher spirituellen Dimension keine auch nur einigermaßen plausible Option dar. Honoré lässt seinen Film in einem interpretatorisch offenen Übergangsraum enden: In radikalem Gegensatz zu Ambiente und raumzeitlicher Dynamik des lauten, hektischen Lycée, aber auch der tristen winterlichen Pariser Straßen eröffnet sich ein luftiges maritimes Panorama, bei dessen Anblick auch die Zuschauerin aufatmet - zum ersten Mal im ganzen Film taucht die Sonne auf; kein Wort wird mehr gesprochen, zu vernehmen ist nur mehr das Rauschen des Meeres und das Kreischen der Möwen, die am Himmel über Junie kreisen. Deren Evasion an Bord eines Schiffes - nach Michel Foucault „l’hétérotopie par excellence“ 152 - gerät freilich ambivalent. Manch allzu optimistischer Kommentator vernachlässigt die intendierte Mehrdeutigkeit von Honorés finaler Symbolik, 153 zwischen Fahrt in die Freiheit eines neuen Lebens und potentiell letzter Reise in den Tod (auch dies eine traditionelle Facette der Schifffahrts-Metapher); die gesamte Ästhetik der Szene betont den Übergang in eine ‚andere Welt‘, die zu interpretieren der Zuseherin überlassen bleibt. 154 147 Beyerle 1967: 201, zit. nach Schneider 1983: 126. 148 La Belle Personne: 01: 27: 28-01: 27: 30. „M. de Clèves était peut-être l’unique homme du monde capable de conserver de l’amour dans le mariage. Ma destinée n’a pas voulu que j’aie pu profiter de ce bonheur, peut-être aussi que sa passion n’avait subsisté que parce qu’il n’en aurait pas trouvé en moi […]“, meditiert wie zitiert ihre Lafayette’sche Vorgängerin (2014c: 471). 149 Vgl. zu Lafayettes Protagonistin, auch und vor allem einer „vision idéalisée d’elle-même“ verpflichtet, etwa Léopold 2009: hier zit. 95; ähnlich 42f., 94. 150 „[…] elle se fait de l’amour une idée trop fière pour croire encore à l’amour“, bemerkt Fabre (1979: 74) zur Heldin Lafayettes. In der Reihe dieser postmodernen Princesses illustriert gerade Honorés Protagonistin paradigmatisch Finkielkrauts liebesphilosophische Reflexionen über den in einer im Sinne Zygmunt Baumans ‚liquiden‘ Welt radikal deplatzierten Absolutheitsanspruch der Mme de Clèves: „L’amour défie le temps. S’il ne peut pas défier le temps, alors, dit-elle, il est impossible. Voilà pourquoi elle choisit de ne pas épouser M. de Nemours et, donc, une fois que la société fait droit à ce qu’elle éprouve, d’incarner elle-même l’obstacle insurmontable“ (2013: 269f.). 151 La Belle Personne: 01: 30: 27-01: 30: 28. 152 Foucault 2005: 942. 153 So eliminiert Langlades Interpretation („[…] Junie ne meurt pas, tout au contraire elle fuit pour préserver sa vie future. […] Sa fuite n’est pas une fin, une mort, mais une façon au contraire de sauvegarder sa liberté et son avenir […]“) die intendierte Uneindeutigkeit der (Non-)Conclusio Honorés (2013: 25, 29). 154 Flieht Lafayettes Princesse auf ihre Besitzungen „vers les Pyrénées“ (2014c: 476), so ist bei Honoré in einer früheren Szene des Films beiläufig von einer Tante der Protagonistin in der Bretagne die Rede (La Belle Personne: 01: 01: 24-01: 01: 25); ihre finale Evasion bleibt jedoch betont dekontextualisiert bzw. <?page no="599"?> La Princesse de Clèves als ‚Teenage (meta-)movie‘? 599 Mit ihrem Rückzug aus dem panoptischen Mikrokosmos ‚Hof‘ verschwindet auch diese Princesse nicht nur aus dem Blickfeld der anderen Figuren, sondern auch aus jenem der Kamera; ganz zum Schluss hebt derart auch Honoré doch noch den Objekt-Status seiner ästhetisch domestizierten Protagonistin auf. In der vorletzten Szene des Films wird vielmehr der verlassene Nemours - jene andere ‚belle personne‘ männlichen Geschlechts - zum passiven, aus der Sicht des Regisseurs besonders ‚berührenden‘ Gegenstand melancholischer Schaulust: Trois films, et trois fois Louis Garrel. Il grandit de film en film. Cette fois, j’ai été bluffé par sa sinc[é]rité. Le trajet qu’il a fait emprunter à Nemours, de la séduction un peu mufle, à l’amour sidéré, qui le cloue sur place, me fait entrevoir son chemin sur les trois films, comme une progressive perte de vitesse. Le voilà à la fin de La Belle Personne, dense et rempli et immobile, se laissant totalement regarder. Il me semble qu’il n’a jamais été aussi émouvant. 155 *** Honoré inszeniert eine fiktive schulische cour im Setting des Pariser Lycée Molière; knapp zwei Jahre später macht Régis Sauder eine Gruppe realer Schülerinnen und Schüler aus der Marseiller banlieue sensible zu Heldinnen und Helden seines künstlerischen Dokumentarfilms Nous, princesses de Clèves. Eben im Kontrast mit dem Projekt Sauders wird deutlich, dass auch La Belle Personne zwar gewiss alles andere als ein realistisches Gesellschaftsporträt, 156 jedoch sehr wohl auch - gerade in seiner konsequenten Ausblendung sozioökonomischer Problematiken - ein ‚film de classes‘ ist. 157 deterritorialisiert. Die profunde Ambivalenz dieses Abschieds verstärkt wiederum die - hier extradiegetische - Filmmusik: Nick Drakes Way to Blue, in der Szene der gemeinsamen Brief-réécriture schon kurz an- und nun weiter-, aber signifikanterweise nicht ganz zu Ende gespielt, verbindet flüchtig noch einmal die bereits getrennten Wege Nemours’ und Junies - und begleitet die Heldin allein in ein blau(grau)es Anderswo. 155 Honoré 2008a. 156 „La Belle Personne est avant tout le portrait d’une jeunesse rêvée, fantasmée, qui n’a sans doute jamais existé nulle part“, erklärt Guichard (2008). 157 Wie man in Analogie zur Charakteristik von Marie Darrieussecqs Clèves als „roman de classes“ (Barnett 2011) formulieren könnte. <?page no="601"?> „… une aventure collective“: Die Prinzessinnen aus der Marseiller Banlieue Régis Sauders Nous, princesses de Clèves Den interpretatorischen Schritt vom Königszum Schul-‚Hof‘ unternimmt wie Christophe Honoré auch Régis Sauder mit seinem am anderen Ende der zeitgenössischen französischen Gesellschaft angesiedelten Dokumentarfilm Nous, princesses de Clèves (2011): 1 Von den Pariser Nobelvierteln wechseln wir in die soziale Gegenwelt der nördlichen Marseiller Banlieue, von Honorés schulischem Biotop einer privilegierten jeunesse dorée (bzw. blanche) in das ZEP-Lycée Denis Diderot mit seiner in jeder Hinsicht bunten adoleszenten Population; Sauders Partnerin Anne Tesson, an ebendiesem Lycée zehn Jahre lang als Lehrerin für französische Literatur tätig, 2 war als Ko-‚Regisseurin‘ und Expertin für das heikle Unterfangen der Vermittlung kanonischer Hochkultur „dans des conditions qu’on appelle ‚difficiles‘“ 3 eine Schlüsselfigur des Princesses-Projekts, ja „à l’origine du projet du film“, wie das Backcover der DVD-Edition präzisiert. Sauders Dokumentation, die eine Gruppe von Jugendlichen bei ihrer Beschäftigung mit Lafayettes Roman im Rahmen eines „atelier littéraire“ bzw. bei der Vorbereitung auf ihr bac begleitet, 4 steht in diesem Corpus filmischer Variationen für einen gleich doppelten Bruch in puncto Milieu wie Genre. Diese pluralisierten, erstmals abseits des „milieu social de l’élite culturelle“ 5 angesiedelten non-fiktionalen Princesses setzen sich explizit nicht nur mit den soziokulturellen Prämissen des literarischen Prätexts, sondern auch mit dessen Adaptionsgeschichte auseinander - unter anderem mit La Belle Personne, der, wie Sauder berichtet, bei seinen Akteuren eine überaus positive Aufnahme zuteilwurde, „bien que le milieu social soit très différent“; dies in aufschlussreichem Gegensatz zu anderen aktuellen Filmwerken, die die Lebenswelt dieser Banlieue-Teenager zu repräsentieren versuchen: „[…] ils réagissaient beaucoup plus durement avec des films qui leur sont socialement plus proches parce qu’ils y 1 Nous, princesses de Clèves, produziert im Jahr 2010, kommt am 30. März 2011 in die französischen Kinos; die DVD-Version (Shellac) folgt im Februar 2012 (vgl. „Nous, princesses de Clèves. Un film de Régis Sauder“, o. D.). 2 Vgl. Blottière 2011. 3 Baecque 2011a. 4 Auf Basis eines ersten Szenarios wird ab September 2008 mit Anne Tesson und einer weiteren Pädagogin des Lycée Diderot (Emmanuelle Bonthoux) ein - seinerseits „aux marges de la scolarité“ (Robert 2010: 84) angesiedeltes, auf freiwilligem Engagement beruhendes - „atelier de lecture“ für Schülerinnen und Schüler der première und der terminale organisiert; aus einer Gruppe von etwa vierzig Interessierten kristallisiert sich die Protagonisten-Konstellation der Princesses heraus. Wie Sauder betont, sei es dabei keinesfalls um ein - mit der Idee des Films und dem mit den involvierten Lehrerinnen geschlossenen „contrat“ inkompatibles - „casting“ gegangen; sehr wohl jedoch darum, die Jugendlichen bewusst von Anfang an mit „la question du cinéma“ zu konfrontieren („comment se placer devant une caméra, comment lire, comment jouer? “) und damit in die Lage zu versetzen, en connaissance de cause über ihre definitive (Nicht-)Teilnahme am Projekt zu entscheiden (vgl. Baecque 2011a). 5 Dubois 2013a. <?page no="602"?> 602 Régis Sauders Nous, princesses de Clèves voient une caricature d’eux-mêmes. Ils ont envie de s’approprier ce qui est différent d’eux, ce qui, d’une certaine manière, les élève, les tire vers le haut, non pas leur image déformée.“ 6 Die Arbeit an der Princesse bedeutet für Sauders Protagonisten auch und vor allem die Konfrontation mit einer kulturellen Tradition, die für sie selbst eine periphere, hier mit beträchtlicher Selbstreflexivität - Pierre Bourdieus „lucidité spéciale des dominés“ 7 ? - thematisierte Position vorsieht. Ausdrücklich wird - und die Zuschauerin gewinnt nicht den Eindruck, dass dies nur aus vorauseilendem bildungsbeflissenem Gehorsam geschieht - der Anspruch auf Zugang zur ‚großen‘ Literatur erhoben, Protest zugleich gegen eine paternalistische Pädagogik, die die soziokulturelle Marginalisierung ihrer ZEP-Klientel erst recht zementiert: „On ne veut pas de sous-littérature écrite pour nous, on veut la grande littérature“, erklärt eine der jugendlichen Hauptdarstellerinnen des Films. 8 Diese spezifische Rezeptionssituation wird von Anne Tesson mit einer Geste rehabilitierenden Respekts schon zu Beginn ihrer Einführungslektion zum „premier roman moderne“ der französischen Literatur expliziert; die ersten Sätze der Lehrerin - die ersten klar artikulierten Sätze des Films - re-positionieren die Princesse in einem tendenziell bildungsfernen schulischen Kontext, in dem die Auseinandersetzung mit dem kanonischen Werk trotz allem möglich und sinnvoll ist. „Cette année, nous allons étudier La Princesse de Clèves, le premier grand roman moderne de la littérature française. C’est un texte exigeant, mais je suis convaincue qu’on peut l’étudier ici“: 9 Mit diesem den Vorspann eröffnenden Statement formuliert die autorisierte Stimme Tessons ihren eigenen „pari politique et pédagogique“, nämlich „que La Princesse de Clèves soit un texte que tout élève, même un élève ‚enfermé‘ dans la catégorie ‚ZEP‘ puisse s’appropier“; 10 die konfliktuelle Relation zwischen einer durch die Princesse repräsentierten franko-französischen historischen Hochkultur und der prekären sozioökonomischen Gegenwart zu einem großen Teil ‚migrationshintergründiger‘ Schüler, „à priori peu favorisés, pas tournés vers cela“, 11 die Spannung zwischen „la culture classique et la culture des cités“ 12 wird nicht eskamotiert, sondern von Anfang an direkt problematisiert - und im weiteren Projektverlauf fruchtbar gemacht. Der Fokus auf Lafayettes Werk, „premier roman psychologique moderne“, habe sich, so Régis Sauder, 13 ganz „naturellement“ ergeben, 14 bietet der Text doch nicht nur mannigfache 6 Baecque 2011a. Auch an anderer Stelle akzentuiert Sauder diesen Aspekt - und nicht nur in eigener Sache die gesellschaftspolitische Verantwortung eines Regisseurs angesichts eines derartigen Sujets: „Lors de la préparation de ce documentaire, les élèves ont vu deux films: La Belle Personne […] et Entre les murs, de Laurent Cantet. Surprise: ils se sont sentis beaucoup plus proches des jeunes bourgeois parisiens d’Honoré que des personnages de Cantet, filmés comme des bêtes de zoo, violents et indisciplinés. Ce rejet fait réfléchir, non? Quand les cinéastes s’emparent de tels sujets, ils ont une grande responsabilité“ (Blottière 2011). 7 Vgl. Bourdieu 1998: 37. „Ce que disent ces jeunes gens est étonnant d’intelligence et de lucidité“, konstatiert in Bezug auf Sauders Film Jourde (2011b). Ähnlich würdigt auch Bole (2011) die beeindruckende „lucidité de ces élèves-citoyens“. 8 Baecque 2011a. 9 Nous, princesses de Clèves: 00: 04-00: 14. 10 Robert 2010: 92. 11 Baecque 2011a. 12 Regnier 2011. 13 Blottière 2011. 14 Baecque 2011a. <?page no="603"?> „… une aventure collective“: Die Prinzessinnen aus der Marseiller Banlieue 603 Anknüpfungspunkte für die skizzierten Überlegungen über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Produktion und Rezeption klassischer Literatur, sondern auch ein nicht unbeträchtliches Identifikationspotential für eine jugendliche Leserschaft: „C’est un roman de jeunes gens qui ne s’adresse pas seulement aux érudits […] ou aux critiques habiles à éreinter pour en tirer quelque gloire personnelle, mais à ceux qui débutent dans la vie […]“, erklärt auch Isabelle Rambaud. 15 Es ist nicht nur die Liebes-Thematik, die über historische und soziale Grenzen hinweg Lafayettes Protagonisten auch einem zeitgenössischen adoleszenten Publikum als Projektions- und (Selbst-)Reflexionsfiguren nahe rückt; Sauder verweist auch auf andere Aspekte der Princesse, die seine Akteure besonders zu beschäftigen schienen: „Que ce soit une histoire d’amour passionnel, absolu. Il est évident que cela s’imbrique avec ce qui les travaille au quotidien. Mais aussi une dimension de la vie en commun: un code d’honneur, ne pas trahir, ne pas se renier, ne pas déroger, ne pas décevoir. Rester fiers. Ils vivent dans le respect de ces valeurs, par rapport à leur famille, par rapport à leurs ami(e)s.“ 16 „… une réponse au débat sur l’identité nationale“: Nous, princesses de Clèves im politischen Kontext Versteht sich La Belle Personne unter anderem als ‚réponse‘ auf Sarkozy, so charakterisiert Sauder seine Version, „politique à plusieurs titres“, 17 als „une réponse au débat sur l’identité nationale, à la ghettoïsation de l’enseignement et à l’éducation à deux vitesses“. 18 Der Film war freilich bereits vor der ‚Affäre‘ konzipiert worden: „[…] le moteur premier n’a pas été cette polémique“, wie der Regisseur betont; „[…] ce n’est pas là l’origine du film, même si ça fait plaisir de répondre à Sarkozy.“ 19 Auch wenn letzterer jenseits des - konkret zwischen September 2008 und Juni 2009 gedrehten - Films bleibt, weder zitiert noch explizit thematisiert wird, erfährt das Projekt vor diesem politischen Hintergrund unweigerlich eine zusätzliche Aufladung: „Les paroles de Nicolas Sarkozy nous ont évidemment profondément choqués, et ont renforcé le côté politique de l’approche du film, côté politique que je revendique.“ 20 Während einige der involvierten Schülerinnen und Schüler außerhalb der Dreharbeiten an den „fameuses lectures-performances“ von Lafayettes Roman teilnehmen, 21 scheut der Regisseur auch die gelegentlich heikle Gratwanderung zwischen gesellschaftlich engagierter Filmkunst und (partei-)politischer Vereinnahmung nicht, so im Rahmen einer vom Parti socialiste organisierten Vorführung seiner Princesses: „J’ai accepté l’invitation, car c’est important que le PS s’empare d’un film comme celui-là, et porte sur la jeunesse un autre regard que celui de Claude Allègre“, erklärt Sauder. 22 15 Rambaud 2006: 8. 16 Baecque 2011a. 17 Robert 2010: 84. 18 Fabre 2011. 19 Baecque 2011a. 20 Robert 2010: 86. 21 Fabre 2011. 22 Ibid. In seiner Eigenschaft als französischer Bildungsminister (1997-2000) vertritt Claude Allègre, Angehöriger des PS, Positionen, die jenen des einige Jahre später darob heftig attackierten Nicolas Sarkozy so unähnlich nicht sind: Wurden schon unter Jack Lang, wie Polony (2011) kritisiert, bildungspolitische Reformen durchgesetzt, „qui transformaient l’enseignement de la littérature en une démarche utilitariste“, <?page no="604"?> 604 Régis Sauders Nous, princesses de Clèves Wie La Belle Personne verdankt auch Sauders Film diesem politischen Kontext eine noch größere mediale bzw. auch kinematografische Markt-Präsenz, als andernfalls zu erwarten gewesen wäre. Von den Inrockuptibles und Libération („une splendide et subtile réponse au propos présidentiel“ 23 ) bis zum Figaro wird den Princesses umfassende - und durchwegs sehr positive - Aufmerksamkeit zuteil; angesichts des nicht zuletzt durch die ‚Affäre‘ motivierten starken öffentlichen Interesses stockt die Distributionsfirma die Auflage des Films auf, Shellac-Chef Thomas Ordonneau kündigt „[d]es séances-débats […] à l’initiative d’enseignants et de responsables associatifs“ an (und unterstreicht dabei seinerseits, den Film nicht über Gebühr politisieren zu wollen). 24 Die beste Entgegnung „aux petites phrases si violentes et méprisantes de Sarkozy“ bietet freilich, wie Sauder pointiert kommentiert, die Performance seiner jugendlichen Akteure selbst, ihre kreative Appropriation eines klassischen Textes, die dessen Aktualität, ja ‚Nützlichkeit‘ - parodistisch wendet Sauder Sarkozys utilitaristischen Diskurs gegen diesen selbst - nachdrücklich proklamiert: Évidemment, c’est la meilleure des réponses: quand ces jeunes des quartiers nord de Marseille déclament des passages entiers du roman, les vivent au présent, ils envoient valser Sarkozy et ses préjugés sur la littérature, sur la transmission, sur ce qui est utile ou non dans le monde d’aujourd’hui. C’est un camouflet: pour ces jeunes, La Princesse de Clèves est utile puisque le roman les aide à se comprendre et à comprendre le monde actuel. […] pour eux, lire La Princesse de Clèves, c’est utile, la culture c’est nécessaire, c’est important. 25 Sauders Protagonisten stehen in diesem Sinne stellvertretend für all jene „petites gens“ - seien sie guichetières oder ZEP-Gymnasiasten -, deren Interesse und Recht auf Partizipation an kanonischer Hochkultur Nous, princesses de Clèves - filmisches Narrativ einer gelungenen, pädagogisch sensibel begleiteten Selbstermächtigung - paradigmatisch illustriert: „On voit comment des ‚petites gens‘, qui ne sont pas autorisés à le faire, peuvent s’emparer d’un texte littéraire classique. D’autant plus fort qu’ils n’y ont à priori pas droit“ 26 (ironisch-ostentativ zeigt eine Großeinstellung Sauders eine Schülerin bei der Lektüre, vertieft in ein - mindestens - so erweist sich auch Allègre als bereitwilliger Komplize der pragmatischen Degradierung des Literaturunterrichts, in Verbindung mit der in ihrem Snobismus unreflektierten Forderung nach Anpassung eines traditionellen klassischen Kanons an die (unterstellten) spezifischen Bedürfnisse dieser oder jener Klientel. Nicht zufällig kommt hier wiederum La Princesse de Clèves - Kristallisations- und Knotenpunkt auch dieser Debatte - ins Spiel: „[…] à l’époque, Claude Allègre expliquait qu’il était plus intéressant, en classe de première, d’apprendre à faire une lettre de motivation et un CV que d’étudier la littérature. Il avait même déclaré que si, dans certains lycées de France, il fallait enseigner Astérix plutôt que La Princesse de Clèves, il n’y voyait pas d’inconvénients étant donné que La Princesse de Clèves, cela ne servait pas à tout le monde. La seule question que j’aurais aimé lui poser à l’époque étant: ses gosses, il aimerait les mettre dans le lycée où l’on enseigne Astérix ou dans celui où l’on enseigne La Princesse de Clèves? “ (Polony 2011). Vgl. auch den Essay Manons (2013), die gleichfalls die berechtigte „indignation de certains professeurs lorsqu’on leur suggère de mettre Titeuf au programme plutôt que La princesse de Clèves“ kommentiert. 23 Kaganski 2011. 24 Fabre 2011. 25 Baecque 2011a. Vgl. auch Baecque 2011b; Barraud 2011. 26 Baecque 2011a. Kaganski (2011) stellt den filmhistorischen Bezug zur Arbeit von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet her, „qui faisaient dire du Dante, du Pavese ou du Vittorini aux ouvriers et paysans de Buti. C’est le même type de processus auquel on assiste ici: l’appropriation d’un pan de culture ‚noble‘ par une catégorie sociologique à laquelle il n’était pas destiné, du moins pas selon une vision déterministe“. <?page no="605"?> „… une aventure collective“: Die Prinzessinnen aus der Marseiller Banlieue 605 Secondhand-Exemplar der Princesse de Clèves aus der Hatier-Serie Les Classiques pour tous 27 ). „Je leur demande juste de s’emparer de ce texte-là“, fasst Sauder sein zugleich künstlerisches und hoch politisches Programm zusammen und betont, mit welchem Stolz und welcher Dynamik die Mitwirkenden seines Films, einmal mit der Expertise ihrer persönlichen Lese- und Lebenserfahrung valorisiert („Le film est fait sur cette idée-là: les spécialistes de La Princesse de Clèves, ce sont les élèves“ 28 ), sich den klassischen Text zu eigen machen: „Ils partent avec une longueur de retard, mais ils récupèrent le texte avec d’autant plus de fierté, presque de violence.“ 29 Von Hof zu Hof (II): La Princesse de Clèves als Modell und Matrix Bei aller gesellschaftlichen Relevanz hieße es Sauders vielschichtigen Princesses allerdings unrecht tun, wollte man den Film - „bien plus qu’un documentaire“, wie Hélène Merlin- Kajman unterstreicht 30 - auf seine politische Dimension reduzieren. Auch wenn der Regisseur selbst strategisch bescheiden den dokumentarischen Charakter seines Werkes akzentuiert („je reste dans le documentaire“ 31 ), ist La Princesse de Clèves hier nicht nur Thema bzw. Unterrichtsstoff, sondern zugleich narrative Matrix, 32 Strukturmodell und Kontrastfolie einer Ästhetik, die als integraler Bestandteil der ideologischen Aussage des Films zu betrachten ist („[…] j’ai mis au centre du film le texte lui-même, comme objet transitionnel, comme lecture apprentissage, lieu d’appropriation“, wie Sauder erklärt 33 ). Die in mehrfachem Sinne performative, polyphone Lektüre der Princesse stiftet über die inhaltliche didaktische Konfrontation hinaus den Rahmen für ein buntes Mosaik amouröser und familiärer Mini- Narrative; der Film gerät zum „jeu d’échos multiples, dont le foyer central est le texte. […] Sans que le texte ne soit jamais oublié, il ne cesse de faire sens, de s’actualiser dans des vies singulières et contemporaines“. 34 27 Nous, princesses de Clèves: 37: 36-37: 46. Auf dieses Verfahren des „Objekt-Zitat[s]“ - in der symbolträchtigen Form einer „billige[n] Schulausgabe“ des jeweils involvierten Klassikers - rekurriert auch Abdellatif Kechiche in L’Esquive (2004), in mancher Hinsicht filmischer ‚Prätext‘ für Nous, princesses de Clèves; vgl. Wagner 2009: 42. 28 Baecque 2011a. 29 Ibid. 30 Merlin-Kajman 2011. Wie im Fall von Honorés zunächst als TV-Film konzipierter, nachträglich ins Dispositiv Kino transponierter Belle Personne stellt sich auch in Bezug auf Sauders „documentaire de cinéma“ (Blottière 2011) die Frage nach Genre-Zuordnung sowie korrespondierendem Rezeptionskontext. Sind die Princesses in ihrer Eigenschaft als ‚bloßer‘ Dokumentarfilm in den Augen des einen Kritikers - trotz insgesamt durchaus positiver Würdigung - auf der Kino-Leinwand deplatziert („[…] ce doc n’a rien à faire sur grand écran“, erklärt kategorisch Carrière [2011]), so weist Bole (2011) zu Recht darauf hin, dass Sauders Werk trotz seines „matériau […] indubitablement documentaire“ jedenfalls „du cinéma“ sei; sowohl durch ihr „format plutôt inhabituel“ (mit einer Dauer von 69 Minuten entsprechen sie weder dem klassischen Format des längeren Kinofilms noch der typischerweise kürzeren TV- Dokumentation) als auch durch ihre spezifische Ästhetik samt „tonalité romanesque du réel filmé“ bzw. spielerischer Überblendung von Realität und Fiktion unterminieren die Princesses systematisch die Konventionen des (Doku-)Genres (Hervorhebung im Original). 31 Baecque 2011a. 32 Vgl. Regnier 2011. 33 Baecque 2011a. 34 Robert 2010: 87. <?page no="606"?> 606 Régis Sauders Nous, princesses de Clèves In einem anderen Genre wählt Sauder eine ähnliche Eröffnung wie Honoré für La Belle Personne: Auch hier steht am Beginn der - Lafayette wie die filmische Vorgeschichte zitierende - Panorama-Blick auf das Dispositiv (Schul-)Hof, eine vielköpfige und vielfältige ‚Hofgesellschaft‘, die bei der Zuschauerin - ebenso wie bei der Leserin von Lafayettes Roman - gezielt eine gewisse anfängliche Konfusion provoziert. Nous, princesses de Clèves erkundet einen an den Antipoden der aristokratischen Welt Lafayettes situierten sozioökonomischen Mikrokosmos; und doch überzeugt „malgré le caractère en apparence incommensurable des espaces sociaux, des manières et des langages“ 35 die über beträchtliche historische und gesellschaftliche Distanzen hinweg etablierte, auch mit (barock-)musikalischen Mitteln 36 befestigte Analogie zwischen den beiden ‚Höfen‘. Wie die cour Lafayettes erscheint auch dieser teilweise vermüllte Nord-Marseiller Schulhof als panoptische „prison où chacun est soumis au regard de tous“, wo der „pouvoir diffus d’une instance sociale très puissante“ das Verhalten jeder/ jedes einzelnen konditioniert, 37 als bei aller architektonischen Tristesse stark theatralisierter Ort der Selbstinszenierung, der (wenngleich weniger mondänen) galanterie, der intrigues und der dissimulation - wiederum hoch ambivalente Strategie zwischen Konformismus und heimlicher Rebellion: „Il faut tout cacher pour paraître normale“, konstatiert Schülerin Manel, ihrerseits luzide Teilnehmerin an einem permanenten „bal masqué“, auf den Spuren der Heldin Lafayettes. 38 Parallel zur ersten Kamera-Erschließung dieser schulischen cour erläutert die Stimme der Lehrerin aus dem Off die „construction concentrique“ der Romanwelt und die Position der Princesse, „enfermée là-dedans“. 39 Von Anfang an reflektieren und kommentieren einander derart klassischer Text und ZEP-Kontext in einem komplexen „système de jeux de miroirs: la cour d’Henri II, où se nouent les intrigues, renvoie à la cour du lycée; la structure en spirale du texte qui enserre la princesse de Clèves fait écho à celle du film où les aspirations des jeunes gens se cognent contre les murs de la pauvreté, de la religion, ou d’une fumeuse tradition familiale…“. 40 Aus allen erdenklichen filmischen Perspektiven wird dieser Hof im Lauf des Films beleuchtet: Er fungiert als Bühne, auf der Sauders Protagonisten einzeln, paar- und grüppchenweise ausgewählte Passagen der Princesse - mit entsprechenden champcontrechamp-Einstellungssequenzen - nachspielen, wie bei Honoré als quasi-magnetisches Zentrum, von dem aus die Schülerinnen und Schüler (wie die Kamera) immer wieder zur Exploration anderer Räume ausschwärmen. Erscheint Lafayettes Heldin bis zu ihrem Rückzug als allgegenwärtiger Kontrolle, strikten Repräsentations- und Präsenzpflichten unterworfene vornehme Gefangene ihrer höfischen Existenz, so manifestiert sich bei Sauders Akteurinnen - auf sehr viel niedrigerem sozioökonomischem Level - eine bemerkenswerte, an den schwierigen Bedingungen der quartiers sensibles geschulte (raum-)soziologische Sensibilität, die unerfüllte Sehnsucht nach einem 35 Merlin-Kajman 2011. 36 Als extradiegetische Filmmusik kommen quer durch die Princesses immer wieder Werke des frühbarocken Komponisten Johann Hermann Schein in der Interpretation des Ensembles Hespèrion XX mit Jordi Savall zum Einsatz (Johann Hermann Schein. Banchetto musicale, 1986). 37 Nieuwjaer 2011. 38 Nous, princesses de Clèves: 43: 54-43: 59. 39 Ibid.: 01: 53-02: 00. 40 Regnier 2011. <?page no="607"?> „… une aventure collective“: Die Prinzessinnen aus der Marseiller Banlieue 607 „espace personnel et libre“ 41 (allein schon a room of one’s own ist für diese jugendlichen HLM- Bewohnerinnen, aufgewachsen in einer „France remplie de zones d’exclusion“, 42 alles andere als eine Selbstverständlichkeit). Während Honoré sich in seiner fiktionalen Belle Personne auf den öffentlichen Raum und im Wesentlichen den schulischen Mikrokosmos beschränkt, bezieht Sauders Dokumentarfilm ebenso bewusst die - dem Lehrpersonal unzugänglichen - privaten Lebenswelten einiger seiner Protagonisten mit ein - und illustriert derart „l’entrelacement de l’affectif, du scolaire, du familial, du culturel, du religieux“. 43 Der bei Honoré im Namen der ‚Ewigkeit‘ des Sujets ausgeblendete soziale Kontext wird hier im Rahmen einer Poetik situierten - filmischen und literarischen - Wissens 44 reflektiert, eine problematische „mystique de l’évidence littéraire“ 45 hinterfragt: Lektüre und kreative Aneignung der Princesse finden nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum statt, sondern vor dem Hintergrund jener persönlichen Geschichten - multiple Exklusions- und Marginalisierungserfahrungen inklusive - die Sauders Mitspielerinnen und -spieler in das literaturpädagogische atelier wie den fertigen Film einbringen. Ideologisch wie filmästhetisch - dieser „documentaire indirect“ 46 mit seiner spezifischen, mit der Marginalität seines Sujets und seiner Protagonisten korrespondierenden „esthétique de la latéralité“ 47 macht die politische Komponente auch vermeintlich rein technischer Aspekte, die Korrelation von inhaltlicher ‚Botschaft‘ und formaler Gestaltung deutlich - verzichtet der Regisseur auf jegliche Superioritätsposition gegenüber seinen Darstellern, 48 ebenso auf die autoritative Off-Stimme des traditionellen Dokumentarfilms; 49 das provisorische Drehbuch wird zugunsten der „dimension collective et créatrice“ 50 der gemeinsamen Arbeit in ihrer performativen Eigendynamik zurückgenommen. In der Tat dokumentieren die Princesses nicht erst nachträglich ein vollendetes schulisches Projekt; literarisches atelier - als „sa propre mise en acte politique et esthétique“ mit „un sens quasi-performatif“ ausgestattet 51 - und Film entfalten sich von vornherein parallel bzw. interaktiv. Sauder operiert nicht mit einer (konkret und metaphorisch) ‚versteckten‘, vielmehr mit einer sehr präsenten Kamera, die die Akteure nicht zu bloßen Objekten einer soziologischen Fallstudie reduziert, sondern als souveräne „personnages du film“ in Szene setzt. 52 Unter Anspielung auf jene berüchtigte Phrase Sarkozys hinsichtlich seines persönlichen Leidens ‚sur‘ La Princesse de Clèves 53 weist Franck Robert treffend darauf hin, dass Sauder die konventionelle Attitüde eines Dokumentarfilms über dieses oder jenes Sujet gezielt vermeidet; in diesem Sinne seien die Princesses kein „film 41 Nieuwjaer 2011. 42 Regnier 2011. 43 Robert 2010: 87. 44 Vgl. Haraway 1988. 45 Dubois 2013a. 46 Robert 2010: 88. 47 Ibid.: 86. 48 „[…] la frontière entre celui qui regarde (derrière sa caméra) et ceux qui sont regardés […] semble d’entrée de jeu abolie“, konstatiert auch Bole (2011; Hervorhebung im Original). 49 Vgl. ibid. 50 Robert 2010: 85. 51 Ibid. 52 Sauder, zit. ibid.: 86. „[…] le réalisateur dynamite l’unicité caricaturale d’une personne filmée pour lui donner le statut de personnage“, wie Bole (2011) anmerkt. 53 Vgl. „La Princesse de Clèves“ (SIEFAR), art. cit. <?page no="608"?> 608 Régis Sauders Nous, princesses de Clèves sur l’école ni sur les adolescents, sur l’apprentissage scolaire d’un texte ni sur la seule réception que l’on aurait de l’école“ 54 - und nicht einmal über Sarkozy und seine Politik, kultiviert Sauder doch „une manière latérale de faire du politique, d’actualiser le vivre ensemble et un acte artistique qui est son propre support, son propre lieu d’interrogation et de réponse“. 55 Dank einer höchst selbstreflexiven Ästhetik, der kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Genre, mit Tradition und Topoi des filmischen documentaire über bildungspolitische Themen und speziell die „établissements en difficulté“ 56 entgehen die Princesses der nur allzu naheliegenden Versuchung des sozialen Voyeurismus und kulturträgerischen Paternalismus. 57 Die Kamera lauert hier nicht auf, sie stellt nicht bloß, sondern sich den Jugendlichen als Spiel- und zusehends vertraute Gesprächs-Partnerin zur Verfügung; 58 bei allen echten oder vermeintlichen Bildungsdefiziten, bei allen kleinen Imperfektionen dieser weit von der abstrakten hyperbolischen Schönheit der Protagonisten Lafayettes und der ästhetisierten Glätte jener Honorés entfernten ‚authentischen‘ Akteure bleibt deren Würde - trotz der psycho- und dermatologischen Präzision etlicher Close-ups - in jedem Augenblick gewahrt. 59 Diese Zurücknahme filmischer Autorität erreicht ihren Höhepunkt eben in jenen privaten Sequenzen, die einige Schülerinnen und Schüler in ihrem familiären Umfeld zeigen, auch ihre Eltern zu Wort kommen lassen. Als „seul objet de transition entre le lycée et leurs foyers“ dient der Text der Princesse; 60 der Regisseur verwandelt sich seinem eigenen programmatischen Anspruch nach in einen passiven „réceptacle“: „C’est très révélateur et en même temps très cinématographique. À ce moment-là, je cesse d’être metteur en scène: je filme le rituel que me proposent ces femmes ou ces couples, leur décor, leurs manières, leurs poses, leur discours. J’ai respecté la façon dont eux voulaient se mettre en scène face à la caméra. Je deviens le réceptacle de leur manière de vivre […].“ 61 Abseits des zentralen ‚Hofes‘ und dieser privaten Intérieurs erkundet Nous, princesses de Clèves liminale Zonen, Übergangs- und temporäre Evasionsräume, die zwischen schulischem Alltag und auf seine Weise repressivem Familienleben prekäre, auch zeitlich limitierte Freiheit bieten; als ästhetisch wie sozial radikal herabgestufter Ersatz für ‚Coulommiers‘, Pseudo-„paysage bucolique“, 62 fungieren ein paar triste Grünflächen im Niemandsland zwischen den HLM-Wohnblocks. Hier treffen sich die Freundinnen Manel und Wafa zum persönlichen Austausch - und allerlei größeren und kleineren aveux dem Regisseur gegenüber (wie Sauder berichtet, wurden diese paradox ‚intimen‘ Szenen in einem vernachlässigten öffentlichen Raum, „parfois dans les champs ou les terrains vagues“, relativ spät auf- 54 Robert 2010: 90. 55 Ibid.: 85. 56 Sauder, zit. ibid. 57 „Il n’était pas question de réaliser le énième film sur les profs en difficulté ou les ados en perdition, mais de montrer, au contraire, comment progresse la connaissance, au sein de l’école puis en dehors“, präzisiert Sauder (Blottière 2011). 58 „Ces jeunes assument le rapport frontal à l’objectif pour exprimer sans doute bien plus de choses qu’ils n’ont jamais osé le faire avec leurs proches“, vermutet auch Renault (2011). 59 „La manière extrêmement tendre, caressante que Régis Sauder a d’éclairer et de cadrer les lycéens, les fait exister d’emblée avec une intensité saisissante. En quelques plans, il suscite chez le spectateur une profonde empathie […]“, hält Regnier (2011) fest. 60 Blottière 2011. 61 Baecque 2011a. 62 Robert 2010: 89. <?page no="609"?> „… une aventure collective“: Die Prinzessinnen aus der Marseiller Banlieue 609 genommen, „quand les jeunes avaient entière confiance en moi. Si bien qu’ils se donnent complètement, parfois avec une sincérité étonnante“ 63 ). Wie Lafayettes Heldin stehen auch Sauders jugendliche ‚Prinzessinnen‘ selbst in diesem kümmerlichen Rückzugsraum unter strenger Aufsicht: Nach wenigen Minuten bereits erfolgt per Mobiltelefon die erste Kontrolle durch Manels Mutter, gesellschaftlich degradierte und medientechnisch aufgerüstete Wiedergängerin der Mme de Chartres. Widerwillig, doch gehorsam erhebt sich die Tochter, beruhigt ihre Mutter (sie sei sogar von der elterlichen Wohnung aus gut zu sehen! ) und gestikuliert zum Beweis in Richtung des HLM-Turms, der aus den aberhunderten Augen seiner Fenster jede Bewegung auf dem Gelände zu beobachten scheint. 64 Ein einziges Mal verlässt Sauders ‚Hofgesellschaft‘ kollektiv die Marseiller quartiers - dies im Rahmen einer Klassenfahrt nach Paris, essentielle Etappe des hier filmisch begleiteten Initiationsparcours und Schlüsselepisode des Films, die dessen Fragestellungen rund um gesellschaftliche Inklusion/ Exklusion, kulturelle Partizipation etc. besonders dicht konzentriert. Die jugendlichen Protagonisten - als Bewohner der nördlichen ‚Problemviertel‘ der südfranzösischen Metropole sozial wie geografisch gleich mehrfach peripher situiert - verfolgen den Weg der Lafayette’schen Princesse, die sich vom Pariser Hof nach Coulommiers, endlich auf ihre Besitzungen „vers les Pyrénées“ und in jene „maison religieuse“ zurückzieht, 65 aber auch der ebenfalls aus Paris flüchtenden Heldin Christophe Honorés zumindest temporär in umgekehrter Richtung nach. 66 Für etliche Jugendliche ist dies die allererste Bekanntschaft mit der französischen Hauptstadt (skeptisch kommentiert Armelle die Aufschrift „Liberté, Égalité, Fraternité“, „des mots qu’on applique même pas“: „il y a pas d’égalité […] l’égalité, on ne la voit pas ici“ 67 ), die erste Konfrontation auch mit einer musealisierten Kulturgeschichte. Scheinen die mit Audio- Guides ausgestatteten Schülerinnen und Schüler im Louvre, wo sie diverse Porträts ihnen aus Lafayettes Text vertrauter historischer Figuren betrachten, einigermaßen „chez eux“, so treffen beim gemeinsamen Besuch „dans le saint des saints“ der Bibliothèque nationale de France, bibliothekarische Schatzkammer „des deux cents livres les plus rares de notre patrimoine“ 68 und „cœur de ce qui incarne la culture française“, 69 unübersehbar einander völlig fremde soziokulturelle Milieus aufeinander. Etwas eingeschüchtert bestaunen die Teenager eine ihnen von Konservator Jean-Marc Châtelain präsentierte Original-Edition der Princesse de Clèves, deren „statut patrimonial“ und Distanz gegenüber ihrer eigenen Lebenswelt in diesem Kontext plötzlich wieder stark spür- und sichtbar wird: 70 „Les jeunes ne sont pas chez eux, ils n’ont pas les codes, ils sont impressionnés. Ils ne peuvent pas parler, ce n’est pas leur culture, en même temps ils comprennent tout, ils ont une très forte acuité vis-à-vis 63 Baecque 2011a. 64 Nous, princesses de Clèves: 47: 24-47: 38. 65 Lafayette 2014c: 476ff. 66 In diesem Punkt ergibt sich wie erwähnt eine interessante Korrespondenz zwischen den jeweiligen Sozio- und Raum-Dynamiken in Sauders Film und Marie Darrieussecqs Roman Clèves. 67 Nous, princesses de Clèves: 29: 10-29: 29. 68 Baecque 2011a. 69 Nieuwjaer 2011. 70 Dubois 2013b. <?page no="610"?> 610 Régis Sauders Nous, princesses de Clèves des enjeux qui les attendent, des enjeux politiques, économiques, vis-à-vis de leur propre place dans le monde“, bestätigt Sauder. 71 Diese Paris-Reise wirft mit besonderer Virulenz die Frage nach dem eigenen sozialen Status („J’sais pas… peut-être on se rend compte plus de… de notre condition, quoi“, bemerkt Schülerin Cadiatou 72 ), auch jene nach einem gemeinsamen kulturellen Erbe, nach Substanz und Tragfähigkeit einer ‚französischen Identität‘ in einer multikulturellen Gegenwart auf - eine Diskussion, die nicht zuletzt auf dem konfliktuellen Terrain des schulischen Literaturwie Philosophieunterrichts ausgetragen wird. 73 Auch wenn Sauders Protagonisten sich mit Lafayettes Roman - Produkt und Emblem einer selbstverständlich weißen, aristokratischen franko-französischen Hochkultur - ansonsten bereitwillig, ja teils enthusiastisch spielerisch identifizieren, wird „la question de l’identité, […] le fait d’être ou de se sentir ou non français“ 74 doch auch hier kritisch thematisiert. So im freundschaftlichen Streitgespräch - „[s]cène politique latérale encore“ 75 - zwischen Armelle und Cadiatou, zwei jungen schwarzen Frauen, die exemplarisch zwei konträre Strategien der Selbstverortung in Bezug auf die große französische Tradition repräsentieren: Gegen die eifrige Über-Identifikation Armelles, die sich einen offiziell-normativen Diskurs über ‚unsere‘ Geschichte samt Stolz auf „mes ancêtres“ 76 zu eigen macht, dabei aber freilich auch ausgeprägten intellektuellen Ehrgeiz, den Willen zum Ausbruch aus einem unter der Camouflage multikultureller Toleranz neu befestigten bildungspolitischen Ghetto manifestiert („Les préjugés de dire: ‚lycée ZEP, moins de culture, des textes à la con, enfin […] des textes faciles pour des gens comme nous! ‘ Je déteste ça! On est tous capables. ZEP ou pas ZEP, on a tous un cerveau, il suffit de le mettre en marche et voilà, c’est tout! “ 77 ), steht der ironische 71 Baecque 2011a. 72 Nous, princesses de Clèves: 32: 44-32: 48. 73 So beruft sich Finkielkraut in seinen Reflexionen über die zeitgenössische französische Identité malheureuse u. a. auf den Bericht von zehn „inspecteurs généraux de l’Éducation nationale“ aus dem Jahr 2005, der auch abseits von religiöser (Kleidungs-)Symbolik und Fragen allgemeiner Disziplin eine mittlerweile höchst konfliktuelle Auseinandersetzung um konkrete (nicht zuletzt literatur-)didaktische Inhalte konstatiert: „On y apprenait, par exemple, que les Lumières et leurs représentants sont très mal vus: ‚Rousseau est contraire à ma religion‘, déclare un élève d’un lycée professionnel, et, joignant le geste à la parole, il sort du cours. Le Tartuffe de Molière est également une cible de choix: refus d’étudier ou de jouer la pièce, boycott ou perturbation d’une représentation. Madame Bovary est jugé dangereusement favorable à la liberté de la femme: […]“ (2013: 117f.). 74 Robert 2010: 90. 75 Ibid. 76 Nous, princesses de Clèves: 30: 51-30: 52. 77 Ibid.: 33: 10-33: 27. Wie Sauders jugendliche Protagonistin als direkt ‚Betroffene‘ problematisiert auch Jourde einen pädagogischen Paternalismus, der die Marginalisierung sozioökonomisch schwacher Schichten erst recht fortschreibt oder sogar verstärkt - „Aux pauvres, un savoir pauvre“ (2011a: 63) - und in seinem falsch verstandenen ‚Respekt‘ vor milieu-, kultur- und religionsspezifischen Prägungen und Prämissen dem demokratischen Gedanken diametral zuwiderläuft (ibid.: 18). Diesen Pseudo- „respect“ verurteilt auch der bereits zitierte Alain Finkielkraut; ebenso - speziell in literaturdidaktischem Kontext - jenen „ethnocentrisme du présent“ (2013: 145), der in vorauseilendem Gehorsam auch die schulische Beschäftigung mit klassischer Literatur bestimmt, diese an einen unreflektierten Zeitgeist ‚annektiert‘ (ibid.: 155) und diesen oder jenen allzu ‚widerständigen‘ Text einfach über Bord wirft: „Si l’on étudie Le Cid en classe de quatrième, ce n’est pas pour emmener les élèves loin de leurs réseaux sociaux et de leur univers familier, c’est, au contraire, pour y rapatrier Corneille. Et comme l’opération s’avère impraticable, Le Cid n’est plus au programme“ (ibid.: 145). In diesem Sinne übt auch Ladjali (2013) <?page no="611"?> „… une aventure collective“: Die Prinzessinnen aus der Marseiller Banlieue 611 Gegen-Diskurs Cadiatous, die schon zuvor - im T-Shirt mit symbolträchtiger Aufschrift „Young and free“ - temperamentvoll aus der Princesse rezitiert hat 78 und nunmehr - als bei aller Naivität der Formulierung bemerkenswert luzide Advokatin situierten Wissens - den Pseudo-Universalismus eines aus der Sicht einer weißen, europäischen (und männlichen) Elite autorisierten historischen Narrativs („ce qu’on nous apprend à l’école, quoi“) gezielt konterkariert. Cadiatou relativiert die konventionelle Verehrung für Napoleon als Heros ‚unserer‘ nationalen Geschichte aus marginaler Alternativperspektive („de notre point de vue à nous, désolée, mais c’est… c’est un esclavagiste“ 79 ); in signifikant brüchiger, auch syntaktisch gebrochener Sprache reflektiert sie die Ambivalenzen ihrer beider Identität als „Françaises, oui, par le sol quoi, par le droit du sol, mais je veux dire, nos ancêtres, ils étaient esclaves, à cette époque-là, quoi“. 80 Von Nos ancêtres les Gaulois zu Nous, princesses de Clèves: Auch diesen heiklen Parcours voller Widersprüche zeichnet Sauders Film nach. „… le roman d’une classe à propos d’un roman“: Nous, princesses de Clèves als Initiationsnarrativ en abyme In Analogie zu Lafayettes Text, von Lehrerin Anne Tesson als „un roman d’apprentissage“, „un roman d’initiation“ präsentiert, 81 ist auch Nous, princesses de Clèves nach dem Modell des Initiationsnarrativs angelegt (und skizziert in dieser Doppelung „presque une mise en abyme - le roman d’une classe à propos d’un roman“ 82 ). Etwas pathetisch, aber nicht unzutreffend beschreibt Sauder die filmische Erfahrung seiner Protagonisten als regelrechte „naissance à l’image“, die zumindest für einige der involvierten Akteure auch eine konkrete professionelle Fortsetzung fand; wie Sauder berichtet, waren zwei Jahre nach Projektende immerhin drei Beteiligte in der Branche aktiv: „Je suis persuadé que La Princesse de Clèves les a aidés à grandir.“ 83 Auffallend häufig rekurriert er auf dieses Imaginarium der ‚Transformation‘, ja der ‚Offenbarung‘ („Chez eux, il y a eu une forme de révélation […]“ 84 ). Auch wenn Sauder Kritik am umgekehrten Rassismus eines Schulwesens, das statt Rekontextualisierung eines traditionell universalistisch-humanistischen Bildungsideals auf soziokulturelle Ghettoisierung setzt, Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen und migrantischen Milieus anstelle der potentiell fruchtbaren Konfrontation mit ‚großer‘ Literatur wie der Princesse von vornherein mit diversen „œuvres faciles“ bzw. eigens adaptierten Werken - kurz: jener ‚sous-littérature‘, gegen die Sauders Protagonistin durchaus eloquent protestiert - abzuspeisen gedenkt: „Dénier les classiques aux enfants d’immigrés, à qui l’on ne réserverait qu’une littérature adaptée, participe d’une forme de racisme éhontée. Encore hantée par le souvenir du colonialisme, l’école doit cesser de promouvoir ce discours d’une scandaleuse condescendance.“ 78 Nous, princesses de Clèves: 21: 25-21: 43. 79 Ibid.: 31: 10-31: 25. 80 Ibid.: 31: 04-31: 09. In dieser Szene frappiert auch die Körpersprache der beiden freundschaftlichen Antagonistinnen: Während die bebrillte Armelle in pflichtbewusst aufrechter Haltung vor der Kamera ihr Bekenntnis zu ‚unserem‘ kulturellen Erbe ablegt, räkelt Cadiatou sich, samt Wollmütze und Mobiltelefon, in betont salopper Pose auf einem Bett bzw. Sofa im Hintergrund und richtet ihrerseits einen konkret wie metaphorisch ‚schiefen‘, kritisch dezentrierten Blick auf die französische Geschichte wie das Geschehen ringsumher. 81 Ibid.: 01: 01: 53-01: 01: 58. 82 Bole 2011. 83 Baecque 2011a. 84 Ibid. <?page no="612"?> 612 Régis Sauders Nous, princesses de Clèves seine eigene Rolle als jene eines bloßen ‚réceptacle‘ charakterisiert, konstruiert er mit seinem Film - samt Begleitdiskurs - doch unweigerlich ein eigenes Narrativ, das der Performance der Jugendlichen eine spezifische Struktur verleiht und ihr (s)einen eigenen Sinn abgewinnt: prinzipielle Ambivalenz, die hier zwar kritisch auf der Meta-Ebene reflektiert, damit aber freilich nicht aufgehoben wird. Bei Schnitt und Arrangement seines reichhaltigen Filmmaterials (bei Drehschluss lagen, so Sauder, „près de 60 heures de rushes“ vor) folgt der Regisseur dem narrativen Grundschema zweier miteinander verflochtener Stränge - der Auseinandersetzung mit der Princesse de Clèves und der Vorbereitung auf das bac („Ils se sont appropriés le texte du roman dans un premier temps, ce qui les fait exister; dans un deuxième temps, ils tentent d’avoir le bac, ce qui les fera devenir adultes. Cette construction m’est apparue évidente peu à peu, en montant le film“ 85 ). Als „canevas“ bzw. „fil directeur“ fungiert „le chemin vers le bac que les jeunes finissent par passer, qui est leur épreuve, ce sur quoi ils se sentent jugés, qu’ils respectent. C’est leur point d’honneur suprême: avoir le bac“. 86 Diverse Statements der Schülerinnen und Schüler bestätigen die zentrale Bedeutung dieses „rite de passage“, 87 der, „honneur“ und „défi“, 88 kompensatorischer elterlicher „rêve“, 89 in gänzlich anderem historischen und gesellschaftlichen Kontext wiederum die Situation der Heldin Lafayettes - als Debütantin bei Hof ihrerseits einer strengen sozialen ‚Prüfung‘ unterworfen - spiegelt und in den teilweise auch überzogene Erlösungs- und Aufstiegshoffnungen gesetzt werden: „Ah ça c’est sûr, le bac, ça va me permettre justement de, voilà, d’avoir une situation meilleure que celle que j’ai maintenant, parce que vivre dans les quartiers je pense il y a personne qui nous envie, quoi, donc […].“ 90 Es gehört zu den Stärken von Sauders Film, dass er auf jegliche allzu simple „issue angélique“ 91 verzichtet, bei allem humanistischen Optimismus keine naive ‚Erlösungsgeschichte‘ multikultureller Harmonie auf literarischem Umweg konstruiert und ohne Larmoyanz auch das Scheitern zulässt („[…] il y a, chez tous les personnages, un moment où l’élan se casse, où la douleur éclate“, konstatiert die Rezensentin des Monde 92 ). Einen Vorgeschmack darauf bietet die Szene des desaströsen bac blanc einer Schülerin namens Sarah, die zuvor im Film mit durchaus reflektierten Kommentaren zur Princesse aufgefallen ist, nun aber im Rahmen der offiziellen Prüfungssituation samt - bei aller bemühten Freundlichkeit der Examinatorin - unterschwellig spürbarer „violence institutionnelle“ 93 völlig versagt. Dieses bac blanc - kontextuell doppeldeutig: hier sitzen einander eine weiße (franko-)französische Lehrerin als autorisierte Repräsentantin des staatlichen Bildungswesens und eine Schülerin mit offenkundig migrantischem Background gegenüber - mündet schließlich in einen quasi-totalen Zusammenbruch der Kommunikation (und entfaltet dabei, wie Robert anmerkt, trotz allem 85 Ibid. 86 Ibid. 87 Ibid. 88 Nous, princesses de Clèves: 20: 02-20: 04. 89 Ibid.: 20: 32-20: 42. 90 Ibid.: 20: 52-21: 05. 91 Nieuwjaer 2011. 92 Regnier 2011. 93 Baecque 2011a. <?page no="613"?> „… une aventure collective“: Die Prinzessinnen aus der Marseiller Banlieue 613 auch „un authentique effet burlesque“ 94 ). Nach einem anderen klassischen Text (konkret einer Fabel La Fontaines) befragt, versucht die unübersehbar nervöse jugendliche Protagonistin sich zunächst durch unfreiwillig komische, mechanische Reproduktion großteils missverstandener bzw. deplatzierter didaktischer Inhalte zu retten - und wird von der Lehrerin aufgefordert, nicht einfach nur Auswendiggelerntes nachzuerzählen, sondern selbst zu denken; auf dieses paradoxe Kommando zur intellektuellen Eigenständigkeit, ja Spontaneität, die eine ihr fehlende Souveränität gegenüber Examens-Setting wie klassischem Sujet voraussetzte, reagiert Sarah irgendwann nur mehr mit ratlosem Schweigen - und dem symbolträchtigen, durch obsessive Wiederholung allmählich parodistisch wirkenden Griff zu ihrer Wasserflasche. 95 In dieser Schlüsselszene des bac blanc - „une scène essentielle à mes yeux, car elle fait taire toute accusation d’angélisme“, wie auch Sauder betont 96 - wird die Kollision unterschiedlicher sozialer Welten und auch diskursiver Register besonders klar. Ein anderer Probe- Prüfling, Aurore, schickt sich gerade an, den Raum nach einer weniger katastrophalen, freilich auch alles andere als brillanten Performance zu verlassen, als ihr die Lehrerin einen letzten - freundlich und ruhig artikulierten, aber dennoch mit unerwarteter impliziter Brutalität in der folgenden Stille nachklingenden - Ratschlag mit auf den Weg gibt: „Et, dernière chose avant que j’oublie - lorsque vous parlez, vous ne… vous n’utilisez pas le passé simple.“ 97 Allgemein ist einer der bemerkenswertesten Aspekte von Nous, princesses de Clèves - auch in diesem Punkt innovativ gegenüber den vorangegangenen fiktionalen Adaptionen - die diskursive Vielfalt dieses in mehrfacher Hinsicht polyphonen Films: Die Sprache des klassischen literarischen Werkes wird in der Rezitation der jugendlichen Darsteller aktualisiert und rekontextualisiert („[…] j’ai été frappé par le fait que le texte de Mme de La Fayette prenait une modernité, une fluidité, que je n’avais pas entendues auparavant“, gesteht der Regisseur 98 ). Neben den Text der Princesse treten aber auch der Diskurs der Institution Schule, die Sprache(n) der teilnehmenden Familien und „la langue des jeunes, cette langue facebook qu’ils utilisent pour parler entre eux d’amour, de la classe, de leur vie. Tout cela se mêle“. 99 In diesem Sinne ist Nous, princesses de Clèves als gelungener filmischer ‚Interdiskurs‘ 100 zu betrachten, der die Sprache seiner Protagonisten und ihrer Eltern nicht als bloßes Lokal- und Sozialkolorit instrumentalisiert, sondern ‚erhabenen‘ klassischen und Alltagsdiskurs in durchaus erhellender Weise überblendet bzw. verflicht; so etwa, wenn einer der Teenager selbst den humoristischen Kurzschluss zwischen den Gewissensqualen der Princesse und der Administration seines eigenen bewegten Liebeslebens via Facebook herstellt: „J’ai changé mon statut […]. J’suis passé de ‚en couple‘ à ‚c’est compliqué‘, et ensuite de ‚c’est compliqué‘ à ‚célibataire‘“… in fröhlicher Respektlosigkeit spiegelt Chakirinas Resümee seiner rezenten amourösen Turbulenzen auch den Passions-Plot der Princesse wider. 101 94 Robert 2010: 91. 95 Nous, princesses de Clèves: 49: 00-56: 29. 96 Blottière 2011. 97 Nous, princesses de Clèves: 50: 54-51: 02. 98 Baecque 2011a. 99 Ibid. 100 Vgl. Link 1988. 101 Nous, princesses de Clèves: 04: 58-05: 08. <?page no="614"?> 614 Régis Sauders Nous, princesses de Clèves Am Ende des Films versammelt sich die ‚Hofgesellschaft‘ vor den schwarzen Anschlagtafeln, die die Resultate des bac verkünden; in dieser Szene - vage danteskes Mini-Narrativ - trennen sich die Wege der ‚Geretteten‘ von jenen der ‚Verdammten‘ (resp. der Kandidaten fürs schulische Fegefeuer). Doch bereits zuvor manifestiert sich eine fatale Dynamik der paradox ‚frei gewählten‘ Selbst-Marginalisierung: Es sind vor allem einige junge Frauen, die aus einem zwischen Milieutreue, abstraktem elterlichem Ehrgeiz, persönlicher Ambition und mangelndem Selbstwertgefühl hochgradig konfliktuellen Parcours vorzeitig auszusteigen versucht sind. So gibt eine Schülerin (Aurore), deren Familie sie gern als Anwältin gesehen hätte (neben dem Arztberuf traditionell das klassische Stereotyp sozialer Aufstiegswünsche und -phantasien bildungsferner Schichten), dem kombinierten Druck von Versagens- und Erfolgsängsten nach und verlässt die Schule, um sich - vorerst vergeblich - um eine Lehrstelle als Kellnerin zu bewerben; 102 bezeichnenderweise ist die bis dahin recht eloquente junge Frau - zumindest vor der Kamera - nicht mehr in der Lage bzw. willens, die Motive hinter dieser professionellen Selbstdemontage zu erklären. Diese Episode illustriert paradigmatisch die Mechanismen einer im Sinne Bourdieus inkorporierten domination und knüpft, nicht umsonst an einer Schlüsselposition im filmischen Narrativ platziert, zugleich an Lafayettes Text an: Auch diese (Anti-)Princesse entscheidet sich für den Rückzug vom ‚Hof‘ - und verschwindet in eine ungewisse Zukunft; zwei Mal folgt die Kamera im Rahmen eines langen travelling der jungen Frau, die symbolisch die Mauern ihres quartier entlang streift, „qui va quelque part sans trop savoir où elle va, qui part ailleurs“. 103 In völlig anderem sozialem und historischem Kontext aktualisiert diese Geste die Ambivalenz der retraite bei Lafayette, zwischen masochistischer Sabotage potentiellen Lebensglücks und souveräner Verweigerung eines extern auferlegten Normen- und Wertesystems. Nous, princesses de Clèves, princes de Clèves, ducs de Nemours: Klassischer Roman und kreatives Rollenspiel Nous, princesses de Clèves, aber auch Nous, princes de Clèves, Nous, ducs de Nemours - und nicht zuletzt Nous, mesdames de Chartres: In spielerischer Auseinandersetzung mit dem klassischen Text loten Sauders jugendliche Akteure (und sekundär auch die involvierten Eltern) das Spektrum literarischer Rollenmodelle und Identifikationsangebote in Lafayettes Roman aus. 104 Auch hier erzählen bereits die Metamorphosen des Titels im Projektverlauf 102 Vgl. ibid.: 56: 38-57: 47 und 01: 04: 22-01: 05: 32. 103 Robert 2010: 89. 104 Zwar äußert Rambaud - konkret hinsichtlich der schulischen Vermittlung der Princesse - ihre prinzipielle Skepsis gegenüber der Annäherung an einen literarischen Text auf dem Weg der anachronistischen ‚Identifikation‘: „Or, se mettre à la place de… est toujours périlleux et ne fait souvent que renforcer l’incompréhension, surtout quand des siècles vous séparent! “ (2006: 6). Allerdings wäre es müßig, die zentrale Rolle der - idealerweise kritisch reflektierten - Projektion bei der Rezeption fiktionaler Kunstwerke ausblenden zu wollen. Was speziell La Princesse de Clèves betrifft, so verortet bereits Valincour einen der wesentlichen Reize des Textes in seinem vielfältigen Identifikationspotential: „Pour moi, je suis sûr que de toutes les femmes qui se sont jamais trouvées en l’état où elle était alors, il n’y en a pas une qui ne se reconnaisse ici, comme si on l’avait dépeinte elle-même“, erklärt er in Bezug auf die „aventure du portrait“ (2001: 41f.). Doch nicht nur für liebeskummer-erfahrene Frauen bietet der Roman mannigfache Anknüpfungspunkte. Im Rahmen jener anderen heiklen „aventure“ in den <?page no="615"?> „… une aventure collective“: Die Prinzessinnen aus der Marseiller Banlieue 615 ihre eigene Geschichte. Sauders Film entsteht zunächst unter dem provisorischen Titel Ma princesse de Clèves, basierend auf der Idee der multiplen ‚individuellen Aneignung‘ des Romans durch die einzelnen Mitglieder des Ateliers: „[…] j’avais imaginé que chaque élève allait nous restituer de façon singulière sa lecture du texte et le titre travaillait sur cette appropriation individuelle du roman.“ 105 Doch gerät die Arbeit am Film, der sich in einem multipolaren Beziehungs- und Interpretationsgeflecht zwischen Schülergruppe, Lehrerinnen und Regisseur allmählich herauskristallisiert, in Sauders Augen zur „aventure collective“: „Naturellement, le singulier de la proposition de titre de travail devait laisser la place à un Nous collectif.“ 106 Parallel zum Wechsel vom Singular in den Plural (hier weniger Majestatis denn Modestatis) findet eine zweite signifikante Transformation statt: jene vom Possessivpronomen zur kreativen Identifikation. 107 Für die weiblichen Mitspieler von Sauders Film stellt erwartungsgemäß die Princesse selbst die zentrale Referenzfigur dar: „C’est bizarre, mais je me sens un peu comme elle […] en fait, je m’y reconnais beaucoup“, 108 erklärt Aurore, die ihr eigenes komplexes Liebesleben zwischen ihrem festen Freund, einem weiteren jungen Herrn und überhaupt „plein de petits Nemours“ in ihrem Umfeld, 109 aber auch ihr Bedürfnis nach Aufrichtigkeit und Authentizität reflektiert. Manifestiert sich in der autorisierten Literaturkritik zumindest männlicherseits - von Valincour bis Delacomptée - eine recht offensichtliche Präferenz für Nemours als ‚Star‘ bzw. attraktivstes role model des Romans, während manch weibliche Interpretin unübersehbar den Prince de Clèves als treu liebenden Anti-Casanova favorisiert, so erfreut letzterer sich bemerkenswerterweise auch in Sauders männlicher Schul-Hofgesellschaft beträchtlicher Beliebtheit. Protagonist Abou identifiziert sich enthusiastisch mit dieser prototypischen Inkarnation des honnête homme: „La philosophie de l’honnête homme, quoi, je m’y retrouve complètement et même parfois on me dit, mais le prince de Clèves c’est toi, c’est toi.“ 110 Sein Kollege Chakirina freilich hält es eher mit dem Gemächern der Dauphine leidet Valincour mit der Protagonistin aus der gender-neutralisierten Perspektive eines lektoralen „on“: „[…] l’on entre dans les sentiments de Madame de Clèves; l’on souffre avec elle; et il n’y a rien que l’on ne fît pour la tirer de la peine où l’on se la représente“ (ibid.: 51f.). Immer wieder wird in den Lettres die Nachvollziehbarkeit bzw. Nachfühlbarkeit der bei Lafayette dargestellten „sentiments“ betont: „Ils sont pour la plupart si délicats et si naturels, qu’on les sent presque dans son cœur, à mesure qu’on les découvre dans les personnages de cette histoire“ (ibid.: 74). Kurz: In den Augen Valincours steht eben die Princesse - bei aller Detailkritik - für eine hier unter Verweis auf Bouhours’ Nouvelles Remarques sur la langue française (1675) skizzierte Poetik der Empathie: „On admire Madame de Chartres; on aime Madame de Clèves; on plaint son mari; on estime Monsieur de Nemours; on est même touché de l’affliction de Sancerre, quoiqu’elle soit hors d’œuvre; enfin il n’y a rien qui ne porte au cœur et qui ne s’y fasse sentir“ (ibid.: 122). 105 Robert 2010: 85. 106 Ibid. Dieses „Nous collectif“ setzen auch Filmplakat wie Cover der DVD-Edition in Szene. In spielerischer Perlenschrift von allmählich abnehmender Größe folgen auf ein typografisch dominantes „Nous“ der Rest des Titels, die auktoriale Zuschreibung „Un film de Régis Sauder“ und gleich darauf, in alphabetischer Ordnung, die Vornamen der jugendlichen Mitwirkenden: „Avec Abou, Albert, Anaïs, Armelle / Aurore, Cadiatou, Chakirina / Gwenaëlle, Laura, Manel, Mona / Morgane, Sarah, Virginie, Wafa.“ 107 Der englische Titel Children of the Princess of Cleves nimmt gegenüber dem französischen Original eine subtile Re-Akzentuierung vor; die deutsche Version Wir alle sind Prinzessinnen wiederum eliminiert - einem bereits im Zusammenhang mit der Übersetzung von Marie Darrieussecqs Clèves als Prinzessinnen erörterten Schema gemäß - kurzerhand die Lafayette-Referenz. 108 Nous, princesses de Clèves: 05: 55-06: 04. 109 Ibid.: 17: 07-17-09. 110 Ibid.: 17: 16-17: 23. <?page no="616"?> 616 Régis Sauders Nous, princesses de Clèves souveränen Verführer Nemours: „Je kiffe plus le duc de Nemours parce que c’est un chaud lapin, c’est un mec qui veut se faire toutes les femmes. Toutes les femmes elles sont à fond sur lui, il est même pas amoureux, il s’en fout de l’amour, il en profite.“ 111 Vor allem in den Interviews mit den Eltern, die ihre eigene Rolle, ihr Erziehungsprogramm zwischen idealem Anspruch und problematischer Realität reflektieren, tritt auch Mme de Chartres als Modell auf den Plan. Hier ergibt sich eine symptomatische, vom Regisseur auch nachträglich kommentierte Interpretationsdivergenz: Mit Erstaunen - verkörpert Mme de Chartres mit ihrer moralischen „economy of absolutes“ 112 für ihn selbst bzw. „pour notre génération“ doch geradezu paradigmatisch „l’image de la mère odieuse, castratrice, traditionnelle“ - konstatiert Sauder, dass diese Figur in den Augen seiner jugendlichen Protagonisten (und zwar „presque tous“) vielmehr als Inbegriff der „bonne mère, protectrice, gardienne de l’honneur familial“ erscheint. 113 Es war diese Beobachtung, die Sauder dazu motivierte, die Eltern seiner Akteure - konkret beteiligen sich eine alleinerziehende Mutter und zwei Elternpaare als Mit-Spieler und Mit-Leser der Princesse - in seinen Film zu integrieren: À partir du moment où j’ai compris que le personnage de la mère était central, j’ai décidé d’aller voir les parents et de les filmer. […] avec comme idée que les parents lisent à haute voix les ultimes conseils de Mme de Chartres dans le roman, puis qu’elles ou qu’ils m’en parlent. C’est un principe de mise en scène, de direction d’acteur, et ils se sont très bien prêtés au jeu. 114 Auch für die Elterngeneration repräsentiert die ambivalente mütterliche Heldin Lafayettes, wie sich nun schon weniger überraschend herausstellt, durchwegs ein „modèle de conduite honorable“; 115 dies wiederum in frappierendem Kontrast zu einer universitären Kritik, die - das gilt vor allem, aber nicht nur für die Tradition feministisch inspirierter Lafayette- Lektüren - den moralisierenden Diskurs der sterbenden Mme de Chartres „presque unaniment […] comme le témoignage d’une oppression patriarcale exercée sur l’héroïne et la conduisant à sa perte“ interpretiert. 116 Bei Sauder liest ein gestrenger pater familias mit arabischem Background („La femme, elle doit aimer son mari. Elle doit se dévouer à son mari“ 117 ) einen Auszug aus der betreffenden Passage der Princesse vor („Il faut nous quitter ma fille […] vous êtes sur le bord du précipice: il faut de grands efforts et de grandes violences pour vous retenir“ 118 ), billigt seinerseits ausdrücklich die Prinzipien der Mme de Chartres und erläutert ausführlich - daneben die demütig schweigende Ehefrau mit Schleier, dezentem Make-up und unergründlichem 111 Ibid.: 39: 00-39: 12. 112 Jensen 1998: 74. 113 Baecque 2011a. Es ist aufschlussreich, Sauders Erfahrungen mit jenen Merlin-Kajmans zu kontrastieren, die in sozial ganz anderem literaturdidaktischen Kontext - im Rahmen der universitären Vorbereitung auf den „CAPES de Lettres modernes“ - eben die umgekehrte Konstellation erlebt: Hier ist es eine Studentin, die zu einer regelrechten ‚Abrechnung‘ mit Mme de Chartres schreitet - und die Professorin, die diese ihrerseits reduktive Lesart problematisiert, im Gedanken u. a. an zwei mit „toutes sortes d’interdits extérieurs, et plus encore intérieurs“ kämpfende moslemische Kursteilnehmerinnen (2010: 62ff.). 114 Baecque 2011a. 115 Ibid. „Je suis allé voir trois familles, et j’ai été frappé de constater qu’à chaque fois les parents recevaient cinq sur cinq le discours de repli de Mme de Chartres“, bestätigt der Regisseur (Blottière 2011). 116 Dubois 2013a. 117 Nous, princesses de Clèves: 10: 50-10: 55. 118 Lafayette 2014c: 365f. <?page no="617"?> „… une aventure collective“: Die Prinzessinnen aus der Marseiller Banlieue 617 Blick - seine eigenen Schutz- und Kontrollstrategien, um seine adoleszente Tochter vor jenem „précipice“ zu bewahren. 119 Deren vielsagend geflüsterter Kommentar macht deutlich, wie sehr das Dilemma der Princesse in diesem Umfeld nach wie vor bzw. wieder durchaus aktuell, Liebe abseits eventueller Ehepläne ein ‚Tabu‘ ist („[…] en famille, c’est un petit peu tabou […]. Donc voilà, ça n’a pas encore sa place ici […] ça aura sa place que si la personne est sûre d’être notre conjoint ou notre conjointe“, wie Mona erklärt 120 ). Auch für andere Protagonisten - und vor allem Protagonistinnen - Sauders erweist sich neben der Liebes-Thematik die Generationenproblematik als zentraler Anknüpfungspunkt. Es sind auch oder sogar in erster Linie die Mütter, die hier als Vermittlerinnen einer patriarchalischen Norm, rigider, im Milieu der quartiers freilich teils auch pragmatisch legitimierter, im Wesentlichen auf „la surprotection et l’isolement“ 121 abzielender Verhaltensregeln fungieren: „C’était intéressant car cela soulignait la position compliquée des filles, tenues entre cette autorité maternelle, familiale, qu’elles respectent, et leurs désirs d’émancipation sociale ou sentimentale. Je pense que les filles ressentent cela très fort et que cela les rapproche de la princesse de Clèves.“ 122 So klagt Manel über Misstrauen und Kontrollbedürfnis ihrer Eltern und speziell ihrer Mutter („beaucoup dans… dans… dans sa… dans sa religion… ça met des obstacles de partout, en fait“), popularisierte und islamisierte Version der Mme de Chartres: „Ils ont peur que je fasse plein de gaffes, que je parte avec des mecs, que je m’éclate, qu’un jour je puisse tomber enceinte, des trucs comme ça, alors que ça n’arrivera jamais, j’sais pas. D’ailleurs ça me vexe beaucoup quand ils pensent des choses comme ça de moi, quoi.“ 123 In einer anderen Familie komorischer Herkunft kommt die Mutter selbst zu Wort, einseitig fuß-amputierte, jedoch offensichtlich höchst dominante Matriarchin, die von ihrem Sofa aus temperamentvoll ihren Stolz auf den Sohn pro- und ihre panoptische Kontrolle über das Leben der Kinder reklamiert, während, wie Sauder selbst anmerkt, ein hartnäckig schweigender „petit mari discret“ neben der schon physisch massiv präsenten „femme toute puissante“ gleichsam zu verschwinden scheint. 124 119 Nous, princesses de Clèves: 09: 00-10: 29. „Quand j’ai tourné cette scène-là, la dame était telle qu’on la voit à l’image: bien habillée, et silencieuse. Elle accompagne le discours du père avec sa tenue et son mutisme“, erinnert sich Sauder im Interview (Blottière 2011). Kommentiert der Regisseur selbst diese Szene nachträglich bewusst „[s]ans porter de jugement“ bzw. mit betonter Empathie auch gegenüber dem männlichen Repräsentanten patriarchalischer Macht, in seinen Augen zugleich „la première victime de l’environnement violent qu’il décrit“ (ibid.), so dienen Dubois (2013b) die frappierende Hyper- Identifikation von Sauders Protagonisten mit der vermeintlich anachronistischen Tugendlehre der Mme de Chartres und die sich hier abzeichnende „adhésion complète et inquiétante du roman à la vie des cités“ als Anlass für eine prinzipielle Reflexion über die explizit oder implizit stets auch politische Dimension jeglicher literaturwissenschaftlichen Hermeneutik sowie über die nicht nur diachrone, sondern auch synchrone Parallel- und potentiell konfliktuelle Ko-Existenz sehr unterschiedlicher interpretive communities (vgl. zu diesem Konzept Fish 1980: insbes. 147-174), demontiert Sauders Film doch „la croyance illusoire que l’appartenance à une même époque signe l’appartenance à une même communauté interprétative“ (Dubois 2013b). 120 Nous, princesses de Clèves: 11: 14-11: 33. 121 Sauder in Blottière 2011. 122 Baecque 2011a; vgl. dazu auch Nieuwjaer 2011. 123 Nous, princesses de Clèves: 46: 46-47: 11. 124 Baecque 2011a; vgl. auch Sauders Kommentar in Blottière 2011. <?page no="618"?> 618 Régis Sauders Nous, princesses de Clèves Der Fall der so unterschiedlich beurteilten Mme de Chartres zeigt eindrücklich, wie sehr hier nicht nur das eigene Leben durch den Filter des klassischen Prätexts neu wahrgenommen, sondern umgekehrt auch das persönliche soziokulturelle Koordinatensystem auf den Text reprojiziert wird; ein von jenem des Regisseurs deutlich abweichender Codex familiärer Autorität und ‚Ehre‘ bleibt offenbar auch dort weitgehend intakt, wo die Jugendlichen unter einem in den Augen einer laizistisch-feministischen Interpretin ziemlich repressiv anmutenden elterlichen Regime leiden. Familiärer und milieu-spezifischer Konformismus mit einer Spur von Backlash-Rebellion gegen eine längst emanzipierte, tendenziell linksliberale (Lehrer-) Generation mittleren Alters? Diese soziowie psychologisch komplex motivierte Hyper- Valorisierung einer restriktiven elterlichen Autorität reflektiert nicht zuletzt eine gewisse ideologische und existentielle Verlorenheit, die vage Sehnsucht nach nicht nur konkret familiärem, sondern quasi metaphysischem Mentoring: „Ça me paraît vraiment pas possible, qu’il y ait quelqu’un qui veille sur nous, parce que c’est trop le chaos. Je pense vraiment pas qu’il y ait quelqu’un qui… qui soit là pour nous“, meditiert melancholisch Anaïs. 125 Auf welch verschlungenen Pfaden die projektive Identifikation auch verläuft - immer wieder aufs Neue ist, über die bloße Re-Zitation hinaus, der faszinierende Moment zu beobachten, in dem der fremde Text unversehens eigen wird, die jugendlichen Akteure mit den Worten Lafayettes ‚sich selbst‘, Fragmente ihrer eigenen Geschichte erzählen: „La Princesse de Clèves devient leur texte.“ 126 Nous, princesses de Clèves illustriert nicht nur die Ambivalenzen von Hochkultur zwischen symbolischer Gewalt und subversivem Potential, sondern auch die literaturpädagogischen Strategien spielerischer Vermittlung des klassischen Textes, „aussi et d’abord un objet institutionnel“. 127 Stand am Anfang, wie Sauder berichtet, der Versuch einer traditionellen „explication de texte“, so wurde dieser - schon wegen der allseitigen Erschöpfung am Ende langer Schultage - recht wenig produktive Zugang bald durch eine Methode „moins scolaire“ ersetzt. Sauder und seine schulischen Ko-Regisseurinnen distanzieren sich an diesem Punkt bewusst von einer konventionellen Literaturdidaktik, „pour aller davantage vers le jeu, le cinéma: faire jouer le texte par les élèves devant la caméra“; 128 die polyvalente Performance der Princesse tritt in den Vordergrund. Wurde seit Valincour wiederholt die eminent ‚theatralische‘ Ästhetik so mancher Szene des Romans betont, so werden in Sauders Film diverse Textpassagen - darunter der prämaritale Dialog zwischen Mlle de Chartres und M. de Clèves, die scène de l’aveu, der Konflikt der Eheleute nach Bekanntwerden dieser „aventure“ bei Hof oder auch die finale Aussprache zwischen der Princesse und Nemours 129 - konkret auf der ‚Bühne‘ dieses Schul-Hofes ausagiert, in komplexem Wechselspiel von Nähe und Distanz, Verfremdung und Identifikation: „Le théâtre - le roman adapté - ne se joue pas ici sur une scène, mais se joue sur la scène même de la vie, du quotidien - la mise à distance théâtrale est ainsi atténuée, pour que disparaisse peu à peu la 125 Nous, princesses de Clèves: 01: 07: 12-01: 07: 20. 126 Sauder in Baecque 2011a. 127 Robert 2010: 90. 128 Baecque 2011a. 129 Nous, princesses de Clèves: 07: 32-08: 23, 38: 09-38: 51, 41: 11-42: 51, 59: 58-01: 01: 28; vgl. dazu jeweils Lafayette 2014c: 347f., 418ff., 433f., 467ff. <?page no="619"?> „… une aventure collective“: Die Prinzessinnen aus der Marseiller Banlieue 619 distance que le texte semble d’abord imposer.“ 130 Es ist diese ‚dramatische‘ Methode - dem traditionellen Kommentar hinsichtlich der Erschließung der vielfältigen „implications stylistiques, historiques, sociétales“ des klassischen Textes durchaus ebenbürtig, wie Sauder unterstreicht 131 -, die gleich mehrfach einen literarischen coup de foudre unter zunächst ungünstigen Prämissen provoziert: „La rencontre a vraiment eu lieu [à] ce moment-là: une appropriation par les mots.“ 132 Abseits der theatralischen Rezitation bietet Protagonist Chakirina freilich auch eine „réécriture contemporaine“ der Princesse in Form seiner persönlichen Slam-Version dar; 133 der Nachspann zeigt eine von Sarah Guillemot gestaltete Serie von Porträts der Mitwirkenden, die - symbolischer Akt der Inkorporation - kontextuell aktualisierte Schlüsselsätze aus der Princesse u. a. ins Haar geflochten, auf Haut oder Kleidung geschrieben tragen. Lafayettes Heldin wird im Laufe des Romans zur ‚Autorin‘ ihrer eigenen Geschichte; auch Sauders Film rekonstruiert plastisch die (Selbst-)Konstitution eines stets prekären, polyphonen Subjekts 134 im interdiskursiven Spiel, in der Konfrontation mit gerade hier besonders präsenter institutioneller Gewalt, 135 aber auch mit dem fremden, sukzessive angeeigneten Wort und Text. Auf der Meta-Ebene spiegelt das filmische Narrativ derart erneut die Problematik der Literaturverfilmung - und sei es in Form eines unkonventionellen Nicht-nur- Dokumentarfilms - wider: Auch den Princesses liegt jene zitationelle Poetik künstlerischer ‚Originalität‘ bzw. Selbst(er)findung auf intertextuellen Umwegen zugrunde, die sich als Konstante von Lafayette selbst über Raymond Radiguet und Jacqueline Harpman bis zu Marie Darrieussecq und Emmanuelle Bayamack-Tam, doch auch Christophe Honoré und eben Régis 130 Robert 2010: 88. Regisseur Sauder betrachtet „la dimension théâtrale de la lecture des textes“ nicht zuletzt als Konzession an die alterstypischen Bedürfnisse und Interessen seiner Akteure, jenen „besoin de mise en scène qu’on ressent à cet âge, cette conscience permanente du regard de l’autre“ (Blottière 2011). Abseits der psychologischen Motivation ist hier freilich auch die Bezugnahme auf die sujetspezifische filmische Vorgeschichte von Interesse: So drängt sich wie erwähnt der - bei Baecque (2011a) explizit reflektierte - Konnex zwischen Nous, princesses de Clèves und Abdellatif Kechiches L’Esquive (2004) auf, in dem eine Gruppe von Banlieue-Jugendlichen sich unter pädagogischer Anleitung an eine Inszenierung von Marivaux’ Le Jeu de l’amour et du hasard macht. Vgl. zu L’Esquive, dem Genre nach „banlieue-Film“, thematisch u. a. ein „Theaterfilm“, zugleich aber auch „eine ernste Transposition des Marivaux-Plots in den Kontext der kulturell hybridisierten und sozial benachteiligten banlieue“, Wagner 2009: 40ff. Wie Kechiche in seinem als ‚Dekonstruktion‘ des Genres Banlieue-Film intendierten Werk (vgl. ibid.: 42) kombiniert auch Sauder, der seinerseits die Konventionen des Schul-/ Banlieue-Dokumentarfilms auf der Meta-Ebene hinterfragt, (mindestens) „zwei verschiedene intermediale Operationen filmischer réécriture“ (vgl. ibid.: 40). Beide Werke illustrieren insofern eindrücklich Wagners Feststellung, dass der Einsatz „komplexe[r] Zitatpraktiken“ im Film schon produktionsseitig nicht nur als Manifestation der „Formlust“, sondern auch als „Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten für komplexe und problematische soziale Lagen“ fungiert (ibid.: 48). 131 Baecque 2011a. 132 Ibid. 133 Nous, princesses de Clèves: 39: 17-39.57. Vgl. dazu Robert 2010: 92. 134 „[…] Régis Sauder recrée presque en direct un processus de construction de la personnalité“, bemerkt auch Bole (2011). 135 Eben „[l]e rapport des individus à l’institution, l’école, l’hôpital, etc.“ darf als eines der Leitthemen von Sauders gesamtem bisherigem Œuvre gelten (Blottière 2011). Nach Nous, princesses de Clèves unternimmt der Regisseur mit Être là (2012) eine dokumentarfilmische Expedition in einen noch weit bedrückenderen heterotopischen, multipel marginalen Mikrokosmos: die psychiatrische Abteilung des berüchtigten Baumettes-Gefängnisses in Marseille. <?page no="620"?> 620 Régis Sauders Nous, princesses de Clèves Sauder durch unser Corpus zieht. „[…] on va parler comme dans le roman“: 136 Im Sinne von Darrieussecqs Programm einer Literatur, die sich in den Bereich des non-dit vorwagt, fungiert die Auseinandersetzung mit dem klassischen Text, diskursive Prothese und „miroir qui libère“, 137 auch hier als Befreiung aus diversen ‚Denkgefängnissen‘ („La Princesse de Clèves les aide tout simplement à penser“, resümiert Sauder 138 ), Eröffnung neuer Sag- und Seinsmöglichkeiten: „Le roman est devenu leur vie, et cela permettait aux filles, par exemple, de parler d’amour ou de dire des choses à leur mère, en se protégeant derrière le personnage de la princesse de Clèves. À ce moment, j’ai su que le pari était tenu, quand, dans la bouche de Mona, les mots de la princesse sont devenus ses mots à elle.“ 139 Schon Valincour analysiert den Text Lafayettes nicht zuletzt als Lese- und Artikulationsmodell für bis dahin lediglich diffus wahrgenommene Gefühls- und Gedankenwelten; 140 auch in Sauders Film bewährt sich die Princesse als Diskursgenerator und -kristallisator, der die eigene Lebensgeschichte neu erzählbzw. lesbar macht: „La médiation du texte libère ainsi une parole intime, celle des élèves comme de leurs parents qui, à partir du texte et avec le texte, parlent d’eux-mêmes et de leur vie.“ 141 Im Spiel mit den Topoi eines etablierten discours amoureux tastet sich Ornella an ihre eigene ‚Philosophie‘ der Liebe heran: „Personne ne sait réellement ce qu’est aimer, il y en a qui disent les boules au ventre, les machins, être prêt à tout, mais je sais pas… moi j’appelle ça de la folie ou de… pour moi je sais pas encore ce que c’est l’amour en fait.“ 142 Es ist der literarische Prätext, der - „un viatique, une boussole dans le chaos de ces jeunes existences“ 143 - Sauders Protagonisten auf der Suche nach einer ‚eigenen‘ Sprache abseits des Klischees, auf der Suche nach einer problematischen Authentizität begleitet. Nicht umsonst wird der aveu nicht nur nachgespielt, sondern auch in den eigenen Worten der jugendlichen Akteure reflektiert: Scheuen sich Mona, Manel & Co. mit offensichtlich gutem Grund, in familiärem Kontext das Tabuthema ‚Liebe‘ zu tangieren, so artikuliert die der Leserin bereits bekannte Sarah ein quasi abstraktes Bedürfnis nach Aufrichtigkeit zumindest sich selbst gegenüber, das - syntaktisch symptomatisch gebrochene - Verlangen nach einem aveu noch ohne Objekt: „Il y aura un moment où on va se dire, je vais être honnête avec moi-même, je vais arrêter de mentir et… je vais… je vais avouer, quoi. Mais bon, avouer quoi? “ 144 Für einen anderen Mitschüler nimmt der ersehnte und gefürchtete aveu die konkrete Gestalt des Coming-out als Homosexueller an. Zugleich auf den Spuren von Lafayettes ihrerseits als „figure queer“ interpretierter Heldin 145 und in Umkehrung ihres geografisch-philosophischen Parcours be- 136 Nous, princesses de Clèves: 01: 03: 02-01: 03: 03. 137 Vgl. Merlin-Kajman 2011. 138 Blottière 2011. 139 Baecque 2011a. 140 „Ces retours de Madame de Clèves sur elle-même, ces agitations, ces pensées différentes qui se détruisent l’une l’autre, cette différence qui se trouve de ce qu’elle est aujourd’hui avec ce qu’elle était hier, sont des choses qui se passent tous les jours au-dedans de nous-mêmes, que tout le monde sent, mais qu’il y a très peu de personnes qui puissent dépeindre de la manière dont nous le voyons ici“ (Valincour 2001: 98). 141 Robert 2010: 87. 142 Nous, princesses de Clèves: Begleitheft. 143 Regnier 2011. 144 Nous, princesses de Clèves: 27: 37-27: 53. 145 Zoberman 2008: 32. <?page no="621"?> „… une aventure collective“: Die Prinzessinnen aus der Marseiller Banlieue 621 richtet Albert von seinen Plänen, nach Paris („la capitale homosexuelle“) zu gehen und damit nicht etwa vor einer ‚verbotenen‘ Passion, sondern vielmehr aus einem restriktiven Umfeld in die ‚große Liebe‘ - Inbegriff von Lebensglück und Selbstbefreiung - zu fliehen: „Si j’ai pour objectif, pour ambition de partir à Paris, pour vivre cet amour, c’est que pour moi, c’est pas juste une amourette ou… ou un truc d’adolescent. Pour moi, c’est plus que ça et c’est… si j’ai envie de partir, c’est pour pas passer à côté du bonheur.“ 146 Die Episode Alberts macht deutlich, dass die Princesse auch ex negativo als Interpretationsanleitung für die eigene Existenz funktioniert: „[…] Albert, en un sens, est comme la Princesses [sic] de Clèves, capable de vivre sa vie de manière absolue; certes, le rapport est inversé, la Princesse de Clèves choisit la vertu, alors que Albert choisit la passion, l’amour, mais le texte joue cependant comme un révélateur, il indique cette possibilité de vie qui s’offre à tout individu - vivre de manière absolue sa passion.“ 147 Noch ein weiteres signifikantes Moment wird freilich in der Geschichte des mehrfach marginalen homosexuellen jungen Mannes aus der Marseiller Banlieue manifest. Während Lafayettes Princesse - wie auch Honorés sozial ebenfalls höchst privilegierte Mlle de Chartres - mit ihrem geradezu „aggressive desire to distinguish herself“ 148 auf ihrer „mission: être différente, non seulement des autres femmes, mais aussi […] des autres hommes“ 149 insistiert (bis hin zur finalen „opération différentielle maximale“, 150 mit der sich die Heldin Lafayettes per Metonymie selbst in ein „exemple […] inimitable“ verwandelt 151 ), kämpfen Sauders Protagonisten zunächst einmal um einen hier alles andere als selbstverständlichen Status der Gleichberechtigung, um die Anerkennung, sehr wohl - so gut bzw. so wertvoll - wie alle anderen zu sein: „Je suis comme tout le monde, j’y ai droit“, wie Albert erklärt. 152 „… des exemples […] inimitables“? Perspektiven ‚klassischer‘ Literaturdidaktik in der Gegenwart Nous, princesses de Clèves versteht sich weniger als definitiv abgeschlossenes Werk denn als Einladung zum Weiterdenken und Weiterspielen, zur Fortsetzung der konkreten literaturdidaktischen Arbeit wie des korrespondierenden kritischen Diskurses: Parallel zum Film konzipiert Anne Tesson einen ausführlichen „Livret pédagogique“, der für unterschiedliche (hoch-)schulische Kontexte eine Reihe flexibel zu variierender „pistes d’exploration“ skizziert. „Je souhaite prolonger l’expérience en offrant un accompagnement pédagogique qui facilite l’accès au film, mais aussi au roman“, erläutert Tesson, die - in Anknüpfung an die elaborierte räumliche Metaphorik der Princesses - den Film als (nicht nur) für ein jugendliches Auditorium gut zugängliche „porte d’entrée dans le roman“ vorschlägt; dies gelte freilich auch umgekehrt: „On peut partir du film pour aller vers le roman ou faire le chemin inverse.“ 153 146 Nous, princesses de Clèves: 25: 04-25: 26. 147 Robert 2010: 89. 148 Liu 1998: 134. 149 Coropceanu 2010: 10. 150 Dubois 2011. 151 Ibid. sowie Grande 1999: 351. 152 Nous, princesses de Clèves: 25: 30-25: 32. 153 Tesson 2011. <?page no="622"?> 622 Régis Sauders Nous, princesses de Clèves Sauders Film illustriert eindrucksvoll, dass die Begegnung zwischen einem zeitgenössischen, hier zunächst auch noch wenig bildungs- und literatur-affinen adoleszenten Publikum und einem klassischen Text sehr wohl gelingen kann - und wurde als Kontrapunkt zu einem beträchtlichen Corpus mehr oder minder kultur-apokalyptischer Lamentationen über den Verfall des schulischen Literaturunterrichts im Allgemeinen und das triste Schicksal der Princesse im Besonderen denn auch von Literaturwissenschaft wie Filmkritik mit absehbarem Enthusiasmus rezipiert. Quer durch die Presselandschaft schwärmen Rezensenten von diesem Exempel „d’une transmission réussie, d’une culture vivante“, 154 der „cure de jouvence“, die der Film, „une brillante démonstration des bienfaits de la culture dans la France d’aujourd’hui“, Lafayettes Roman verpasse, 155 von einer „expérience collective, qui redonne foi en l’école“ 156 (etc.). Aber auch Merlin-Kajman spricht von einer „expérience proprement bouleversante, exaltante aussi“; ausgehend von den Princesses reflektiert sie generell Perspektiven einer postmodernen Literaturdidaktik, unter doppelter Abgrenzung sowohl von einem bildungspolitischem Utilitarismus à la Sarkozy als auch von einer sich progressiv gebärdenden Pädagogik, die ihren Gegenstand - gleichfalls um den Preis ideologisierter Simplifikation - systematisch „au service d’un message émancipateur“ zu stellen bestrebt ist: „On ne peut plus, aujourd’hui, se contenter de penser que la littérature nous ‚tire vers le haut‘ ou qu’elle est par essence émancipatrice. En revanche, on peut la mobiliser de façon horizontale, si je puis dire, pour le plaisir qu’elle donne, le partage qu’elle autorise.“ 157 Dubois würdigt - nach kritischer Analyse der vorangegangenen Adaptionen auch und vor allem unter gesellschaftspolitischem Aspekt - Nous, princesses de Clèves als auch theoretisch produktive Auseinandersetzung mit der „difficile actualité“ eines klassischen Werkes, 158 die „l’inefficacité pédagogique du discours patrimonial“ deutlich macht, zugleich aber auch die allzu einfache Lösung der „réappropriation“ durch einen in seiner Klassenbzw. Milieuspezifik problematisierten „discours intellectuel prétendument progressiste“ vermeidet und derart abseits der Fallstricke einer dehistorisierenden und sozial dekontextualisierenden ‚anthropologischen‘ Hermeneutik einen potentiell fruchtbaren „troisième discours“ eröffnet. 159 Geradezu euphorisch kommentiert Pierre Jourde die doppelte Metamorphose - „transformation mutuelle, du livre par le lecteur et du lecteur par le livre“ -, die sich hier unter den Augen des Filmzuschauers vollziehe: „Ce type de travail est exactement celui qui est capable de métamorphoser la relation d’un adolescent avec la culture, en lui montrant qu’il peut accéder aux grands textes du patrimoine, les faire siens, les faire travailler en lui, et qu’il est capable d’aller au-delà de luimême et des limites sociales et culturelles qu’on lui impose. […] c’est magnifique.“ 160 Franck Robert wiederum erblickt in Sauders in mehrfacher Hinsicht exemplarischem Dokumentarfilm „une réponse tout à la fois politique, pédagogique et artistique aux enjeux que constitue la transmission de la culture dans notre société“. 161 154 Mury 2011. 155 Alain 2011. 156 Blottière 2011. 157 Merlin-Kajman 2011. 158 Dubois 2013b. 159 Dubois 2013a sowie 2013b. 160 Jourde 2011b. 161 Robert 2010: 84. <?page no="623"?> „… une aventure collective“: Die Prinzessinnen aus der Marseiller Banlieue 623 Von jeglichem normativen Anspruch auf definitive und allgemeingültige ‚Antworten‘ sind die Princesses freilich weit enfernt; und doch lädt Sauders Film dazu ein, die spezifischen Herausforderungen zeitgenössischer (hoch-)schulischer Literaturdidaktik - und erst recht einer qualitativ adäquaten Vermittlung kanonischer französischer Hochkultur in einem multikulturell-postkolonialen Kontext - zu reflektieren. Als aufschlussreich erweist sich hier - parallel zur Begegnung der Protagonisten Sauders mit der Princesse, die vom musealisierten literarhistorischen Monument wieder zum Gegenstand produktiver Rezeption, von der „œuvre patrimoniale“ zur „œuvre-fabrique de lectures“ 162 wird - auch der Brückenschlag zurück in die Epoche der französischen Klassik, deren Verhältnis zu ihren (antiken) Klassikern nicht von ehrfürchtiger Passivität, sondern vielmehr von fröhlichem ‚Kannibalismus‘ geprägt erscheint: „Justement parce que les classiques anciens étaient hors d’atteinte, ils étaient aussi à la disposition des lecteurs. Ils étaient là pour être cannibalisés comme une vieille voiture. On ne les admirait jamais si bien qu’en les mettant en œuvre, c’est-à-dire en les pillant“ 163 - stellen Lektüre, Kritik, (ré-)écriture und transmission in der klassischen „situation circulaire“ 164 doch noch eine Einheit dar: „La littérature? Il s’agit d’en faire, d’en parler, de la transmettre. Création, critique, formation vont de pair.“ 165 An diese (bereits im 18. Jahrhundert aufgebrochene, mit der Poetik der Romantik im Wesentlichen inkompatible, in der modernen Literaturdidaktik schließlich völlig aufgegebene) „circularité classique“ 166 knüpft Sauders literarisch-filmisches Experiment auf seine Weise an - und überwindet damit zumindest punktuell die von wissenschaftlicher wie kritischer Seite immer wieder konstatierte (und beklagte) traditionelle schulische Impopularität von Lafayettes klassischem Roman. 167 162 Langlade 2013: 30. 163 Schlanger 2008: 81. 164 Ibid.: 67. 165 Ibid.: 65. 166 Ibid.: 69. Zwar erscheinen „création littéraire“ und „critique culturelle“ in der - vor allem deutschen - Romantik weiterhin eng verbunden; die Dimension des korrespondierenden „enseignement des lettres“ kommt freilich abhanden, steht ein derartiger Zugang doch im Widerspruch zu einer Dichtungsauffassung, die einerseits den (nicht lehrbaren) „esprit d’un peuple“ und andererseits das (ebenso wenig vermittelbare) individuelle „génie“ valorisiert (ibid.: 69f.). Schlanger arbeitet in diesem Sinne eine doppelte bzw. gegenläufige Entwicklung heraus: Bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts gestaltet sich schulischer Literaturunterricht als „une préparation de poétique appliquée“ (ibid.: 80); Schüler werden mit inhaltlich völlig alltagsfernen „sujets […] délibérément irréalistes“ konfrontiert (Rousseaus Émile bringt erstmals ein konkurrierendes pädagogisches Ideal „de la proximité et de la pertinence“ ins Spiel, das sich gegenüber einer etablierten Kultur der „distance pédagogique“ allerdings verzögert durchsetzt; ibid.: 78f.) - dies aber im Rahmen sehr wohl noch als „développements littéraires“ konzipierter Aufgaben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird diese Tradition einer „formation rhétorique et pratique“ zusehends durch einen „entraînement à l’analyse critique“ abgelöst, parallel dazu vollzieht sich die - quasi durch jene hypertrophierte methodische Distanznahme kompensierte bzw. ermöglichte - thematische Annäherung literarischer Lehrinhalte an eine moderne Lebenswelt: „Si réaliste que soit l’œuvre, le traitement réflexif contrebalance sa proximité thématique: le traitement assure la distance. Et Flaubert et Zola peuvent être introduits en classe, s’il ne s’agit plus de récrire une scène d’amour mais de l’analyser“ (ibid.: 80). Deutlich genug scheint die Dynamik dieses literaturdidaktischen „jeu de déplacements“ (ibid.: 83) bis in den bildungspolitischen Diskurs der Gegenwart spürbar. 167 „L’insuccès que remporte a priori La Princesse de Clèves au lycée est largement compensé par son rayonnement littéraire et artistique“, tröstet ihre lafayette-affine Leserschaft zwar Rambaud (2006: 15); doch auch sie konstatiert die gerade im Fall der Princesse frappierende Diskrepanz zwischen kanonischem Kultstatus und nicht zuletzt dadurch provozierter Impopularität bei einem schulischen Publikum: <?page no="624"?> 624 Régis Sauders Nous, princesses de Clèves Nun besitzt dieses Projekt, dessen Erfolg sich weit überdurchschnittlichem Engagement von Seiten der Lehrerinnen Anne Tesson und Emmanuelle Bonthoux, des Regisseurs und einer wohlgemerkt freiwillig teilnehmenden und schon insofern hinsichtlich prinzipiellen Interesses vorgefilterten Schülerschaft verdankt, gewiss nur sehr eingeschränkt Modellcharakter und ist nicht beliebig reproduzierbar. 168 Doch Sauders ‚Filmstars‘ sind nicht die einzigen jugendlichen Leserinnen und Leser, die mit dem Text der Princesse de Clèves ihr kreatives Spiel treiben, dies auch abseits des eingangs bereits an einigen Exempla rekonstruierten unmittelbar politisierten Rezeptionskontexts der ‚Affäre‘. *** Nach der ausführlichen Analyse und Interpretation mehrerer zeitgenössischer literarischer Variationen aus autorisierter Feder bzw. Tastatur sowie unter nicht minder autorisierter, wenn auch gerade im Fall Sauders überaus selbstreflexiver und -kritischer Regie entstandener filmischer Adaptionen soll abschließend - hier endet auch eine intermediale Panoramatour - noch eine kleine Exkursion auf von der akademischen literatur-, kultur- und medienwissenschaftlichen Kartografie in Sachen Lafayette tendenziell vernachlässigtes Terrain abseits der ‚erwachsenen‘ (Mehr oder minder-)Höhenkammliteratur und der offiziellen Verlagslandschaft unternommen werden: Wie ist es in einer Epoche, in der - nur auf den ersten Blick paradox - eben eine Vielfalt neuer medientechnischer Optionen eine im skizzierten Sinne ‚klassische‘ Auseinandersetzung auch mit dem literarischen Kanon begünstigt, um die populärkulturelle produktive Rezeption, um eventuelle non-autorisierte, ano- oder pseudonyme réécritures der Princesse de Clèves bestellt? „Ainsi, les jeunes lecteurs, tiraillés entre la célébrité de l’œuvre, généralement louée, et leurs propres élans de franchise, ne savent plus comment réagir sinon passivement avec de besogneuses dissertations qui les en dégoûtent à jamais“ (ibid.: 7). „Teaching La Princesse de Clèves to undergraduates is like administering cod-liver oil to a child; it requires a lot of coaxing“, berichtet Laden (1998: 54) aus ihrer hochschulischen Praxis; auch Beasley beobachtet bei ihren Schützlingen eine bemerkenswerte „hostility“ gegenüber Lafayettes Heldin: „[…] I was struck by the students’ scorn for and dislike of the princess“ (1998: 127). 168 „Abou, Aurore, Sarah, Wafa et les autres sortent de l’adolescence avec les mots de la princesse, donnant de vrais instants de grâce et de justesse. Mais que déduire de ce bouquet présélectionné d’une vingtaine de destins singuliers aux performances boostées par la présence d’une caméra? “, fragt kritisch auch Bertet (2011). <?page no="625"?> La Princesse de Clèves meets D.Gray-man: Zur populärkulturellen produktiven Rezeption eines klassischen Textes Wurden in dieser Studie bisher postmoderne Re-Interpretationen der Princesse vorgestellt, die bei allem anti-kanonischen, karnevalisierenden Impetus, allem sozialen Downgrading und/ oder Queering von Sujet und Protagonisten doch sämtlich aus autorisierter Quelle stammen, soll in diesem kleinen Exkurs also ergänzend noch ein Blick auf einen Aspekt der Lafayette-Rezeption in der Gegenwart geworfen werden, der - mindestens ebenso sehr von kulturwie von literaturwissenschaftlichem Interesse - auch zur kritischen Reflexion des jeweils zugrunde gelegten Literaturbegriffs einlädt: die Frage nach der Spezifik der populärkulturellen produktiven Rezeption bzw. nach der Existenz eventueller amateuristischer réécritures eines Klassikers wie der Princesse de Clèves abseits des offiziellen literarischen Feldes. „Nie wurde so viel gelesen und geschrieben wie heute“: Mit diesem starken Statement beginnt ein Manifest der Autorengruppe Fiktion (der unter anderem Elfriede Jelinek angehört) aus dem Jahr 2013, das sich nicht zuletzt mit der Re-Definition von Autorschaft angesichts neuer digitaler Publikationsformen auseinandersetzt. 1 Tatsächlich eröffnen sich in diesem Kontext neue Perspektiven auch einer ‚populären‘ Rezeption klassischer Höhenkammliteratur; dies illustriert jede kurze Expedition auf den bunten Kontinent der Fanfiction. Hier entfalten sich alternative Schreibkulturen von einer geradezu ‚explosiven‘ Dynamik, 2 deren Dimensionen Leser mittlerer bis älterer, noch im Hinblick auf einen traditionellen Buchmarkt sozialisierter Generationen oft mit Verwunderung wahrnehmen. 3 Als ‚Literatur‘ rezipiert und analysiert wird die Produktion dieser Subkultur - „une pratique d’écriture littéraire non officielle, c’est-à-dire non autorisée“, 4 die jedoch über durchaus elaborierte interne Organisations- und (amateur-)kritische Mechanismen verfügt - freilich kaum. 5 1 Bremer/ Bußmann et al. 2013. 2 So konstatiert Saint-Gelais eine „véritable explosion de la fan fiction depuis quelques années“ (2011: 408, vgl. auch 374). „Certains nombres donnent le vertige“, bekennt der Literaturwissenschaftler unter Verweis auf die mit Stand vom 03.02.2008 auf fanfiction.net registrierten 341 159 Variationen allein über Harry Potter (ibid.: 408). 2016 bringt letzterer es auf der gleichen Website auf „plus de 750 000 fan fictions“ (Lata 2016); mittlerweile verzeichnet die Kategorie „Book: Harry Potter“ bereits „over 791083 stories“ (URL: https: / / www.fanfiction.net/ book/ Harry-Potter [01.08.2018]). 3 „Haben Sie schon einmal von Fan Fiction gehört? Da nimmt man das Personal des Lieblingsbuches und schreibt mit ihm neue Geschichten oder setzt beim bestehenden Buch fort. Harry Potter zum Beispiel. Auf der englischsprachigen Homepage von Fan Fiction gibt es 64.000 Autoren, die Potter weiterentwickeln. Das ist eine Riesensache - und die Erwachsenenwelt weiß nichts davon. Meine 13-jährige Tochter […] hat mehr Leser als ich! “, reflektiert selbstironisch der Schweizer Schriftsteller Christoph Braendle im Interview (Mayr/ Mayr 2014). 4 Lata 2016. 5 Zum Forschungsansatz „Fan Fiction as Literature“ vgl. den entsprechenden Abschnitt in Hellekson/ Busse 2014a: hier 19ff. Nicht nur die Literaturwissenschaft „has, so far, not given fan fiction as a literary genre any considerable attention at all“, sondern lege vielmehr eine auf „a very classic notion of literature“ beruhende, „often demeaning and hostile attitude towards fan fiction“ an den Tag, wie LaChev (2005: 85) kritisch anmerkt; selbst im interdisziplinären Feld der Fan Fiction Studies wurde das Genre bisher kaum als Literatur „for its own sake“ analysiert (Hellekson/ Busse 2014a: 24). <?page no="626"?> 626 Zur populärkulturellen produktiven Rezeption eines klassischen Textes Dabei wirft ebendiese „[l]ittérature sans auteurs“, 6 Hochburg des „defiant amateurism“, 7 zwischen lustvoller referentieller Illusion, Spiel der Projektionen und entfesselten Überinterpretationen einerseits, kreativer „ludicisation“ 8 und raffinierter Selbstreflexion andererseits mit besonderer Virulenz mancherlei literaturtheoretische Fragen von allgemeinerem Interesse auf: „En définitive, […] si la fan fiction peut retenir l’attention de qui s’intéresse aux questions de théorie littéraire, c’est parce qu’elle consonne étrangement avec les réflexions développées dans ce champ au cours des cinquante dernières années“, wie Marion Lata betont. 9 Dies gilt nicht nur für die Problematik der Autorität, 10 die Rekonfiguration der Schreiber-/ Leserrelation (nach dem Tod des Autors nun „The Death of the Reader“? 11 ), sondern auch für die gattungsbezogene Ambivalenz und komplexe Intertextualität einer zwischen narrativem und dramatischem Modus oszillierenden, 12 durch ihre „myriad intertextual dimensions“ 13 charakterisierten, ja „by definition“ intertextuellen kollektiven literarischen Praxis. 14 Attestiert Judith Schlanger der post-romantischen literarischen Kultur eine im Vergleich zum klassischen Zeitalter klare ‚Demokratisierung‘ auf der Ebene der Leserschaft, so geht damit - doppelte Verschiebung - eine prononcierte ‚Elitarisierung‘ auf jener der literarischen Produktion einher: „Notre perception post-romantique est bien plus démocratique (idéalement, en droit, dans son principe) pour ce qui est de l’accès à la littérature lue et connue. Mais elle est devenue infiniment plus élitiste quant à l’idée du travail littéraire. Il n’est plus question de compétence ni d’application. On ne veut plus l’auteur honnête, mais l’artiste inspiré. Plus le métier, mais la vocation.“ 15 In zeitgenössischen digitalen Publikationskontexten scheint diese literarische Arbeitsteilung mittlerweile zusehends obsolet; die Konfrontation mit (auch kanonisch-klassischer) Literatur verlagert sich für ein einigermaßen lesefreudiges jugendliches Publikum zumindest partiell weg von der rein passiven, mehr oder weniger ehrfürchtigen Rezeption im Rahmen (hoch-) schulischer Settings hin zum kreativen hypertextuellen Spiel. Auf etlichen Fanfiction- Websites sind Legionen pseudonymer Autoren - bzw. überwiegend Autorinnen, ist das Genre doch klar weiblich dominiert 16 - damit beschäftigt, ihre jeweiligen Kult- und Lieblingstexte 6 Diese Formulierung gebraucht Soriano in etwas anderem Sinne für die gleichfalls ‚autorlose‘ Kinder-/ Jugendliteratur (1975: 15). 7 Coppa 2014: 220, 238. 8 Barnabé 2014. 9 Lata 2016. 10 Vgl. dazu etwa Sébastien 2012. 11 Vgl. Sandvoss 2014. 12 Vgl. Coppa (2014), der zufolge Fanfiction sich „in response to dramatic rather than literary modes of storytelling“ entfaltet und „performative rather than literary criteria“ gehorcht (hier zit. 218). 13 Hellekson/ Busse 2014b: 10. 14 Sandvoss 2014: 65. 15 Schlanger 2008: 118f. 16 Im Gegensatz zu früheren Fan-Kulturen ist die „media fan fiction“ von Anfang an „a female, if not feminist, undertaking“ (Hellekson/ Busse 2014a: 75). Zur „largely female composition of media fandom“ (Jenkins 2014: 41) bzw. generell zu dessen Gender- und Sozio-Charakteristik („largely female, largely white, largely middle class“) vgl. Jenkins 2013 (hier zit. 1) und Busse 2009; zu den misogynen Ursprüngen der Kategorie ‚Fan‘ siehe Jenkins 2013: 12. Eine spezifische Analyse des Phänomens am Beispiel Star Trek findet sich bei Coppa 2006; bereits Penley (1992) reflektiert die Ambivalenz des Fandoms als „a femaledominant community that was actively rewriting the scripts of masculinity through their stories“, die zugleich jedoch häufig jegliche explizit feministische Selbstidentifikation verweigert (vgl. „Textual <?page no="627"?> La Princesse de Clèves meets D.Gray-man 627 mit ihren derart in den Zustand der ‚Fluktuation‘ versetzten Figuren 17 unermüdlich immer wieder aufs Neue fort- und umzuschreiben; eben die Fanfiction, insofern postmodernes „cultural equivalent of collective storytelling“, 18 zeugt ebenso plastisch wie wortreich von jener in letzter Instanz kultur-begründenden und -affirmativen Leidenschaft, „the same story over and over in different ways“ zu erzählen, 19 dies unter radikaler - wenn auch oft impliziter - Infragestellung traditioneller Konzepte von Autorschaft und literarischer Originalität (konzentriert schon im obligaten Disclaimer - ritualisierte und oft parodierte Geste der Des- Autorisierung -, der jeder fanfiktionalen réécriture eines noch nicht copyright-freien Werkes aus juristischen Gründen vorangeht). In diesen quasi unüberschaubaren Textgebirgen mit ihrer beträchtlichen Bevölkerung von ‚Wilderern‘ 20 finden sich Kreationen von sehr unterschiedlicher Qualität, von ästhetischen Miniatur-Katastrophen und unbeholfenen Schülerversuchen bis hin zu in ihrem Genre ‚guter‘ populärer Literatur, die es - nicht nur, wenngleich besonders eindrücklich im Fall Fifty Shades of Grey, 21 „a Twilight fan fiction turned New York Times best seller“, 22 Meilenstein auf dem Weg des Genres „from nearly unknown and indecipherable subculture to mainstream behavior“ 23 - gelegentlich auch aus dieser sub-literarischen Grauzone auf den offiziellen Markt oder zumindest an dessen Book-on-Demand-Peripherie schafft, womit eine markante Änderung des auktorialen Status verbunden ist: 24 Aus dem ano- oder pseudonymen rewriter wird ein ‚Autor‘, aus dem jeweiligen Text ein in sich geschlossenes ‚Werk‘ (inoperabler Begriff in der Domäne der Fanfiction, chaotisches Königreich des ewigen Fragments und der unvollendeten Text-Baustellen, die - in Interaktion mit Ko-Autoren, Lesern, Reviewern - irgendwann einem erfolgreichen und doch stets wiederum nur vorläufigen Ende zustreben - oder auch nicht). 25 Poachers, Twenty Years Later. A Conversation between Henry Jenkins and Suzanne Scott“, in Jenkins 2013: VII-L, hier XXXVII). 17 Vgl. Eco 2011: 93ff. 18 Hellekson/ Busse 2014a: 21. „If we think of it as a form of collective storytelling, then the Iliad and the Odyssey might be tagged as the earliest versions of fan fiction“, skizzieren Hellekson und Busse (2014b: 6) eine potentielle, in ihrer Großzügigkeit freilich an bzw. über die Grenzen der Operabilität getriebene Definition. 19 Hutcheon 2006: 9. „We need the ‚same‘ stories over and over, then, as one of the most powerful, perhaps the most powerful, of ways to assert the basic ideology of our culture“, erklärt J. Hillis Miller (1995: 72, zit. nach Hutcheon 2006: 176). 20 Vgl. Jenkins 2013 (insbes. 24ff.) im Anschluss an Certeau 1990, sowie die Reflexionen zu Jenkins’ Konzept bei Saint-Gelais 2011: 406ff. 21 James 2011. 22 Hellekson/ Busse 2014b: 3. 23 Ibid.: 5. 24 So wurden im Fall von Fifty Shades of Grey vor der kommerziellen Publikation aus Copyright- Gründen sorgfältig sämtliche konkreten Referenzen auf den Hypotext eliminiert: „[…] on peut donc considérer que Fifty Shades of Grey a cessé d’être une fan fiction: le texte […] a perdu son statut de réécriture pour s’autonomiser pleinement et devenir, du point de vue de la loi, un contenu original soumis lui aussi au régime de la propriété intellectuelle, et donnant lieu à ses propres fan fictions“ (Lata 2016). 25 Zur komplexen Dynamik der De/ Re-Kanonisierung in der Domäne der Fanfiction vgl. Saint-Gelais 2011: insbes. 402ff. („Fanon/ fan fiction“), 405ff. („Fan fiction/ canon“), 411ff. („Fanon/ canon“) und 426ff. („Canon/ fanon/ fan fiction“). <?page no="628"?> 628 Zur populärkulturellen produktiven Rezeption eines klassischen Textes Die literaturtheoretischen Perspektiven, die sich ausgehend von dieser Subkultur mit ihrer „nette atténuation du rôle de l’auteur“ bzw. ‚Marginalisierung‘ des Autors 26 eröffnen, können an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden; das Repertoire der Variations- und auch intermedialen Hybridisierungs-Strategien, die hier zum Einsatz kommen, wäre allerdings eine eigene Untersuchung wert (und verlangt nach einem eigenen analytischen Instrumentarium), ebenso wie die Logik ihrer (De-)Valorisierung: Sehen sich réécriture und Adaption in einer dem Dogma der ‚Originalität‘ verpflichteten Kultur per se einem traditionellen Generalverdacht ausgesetzt, so betrifft dies in verschärfter Form den fanfiktionalen (Non-)Autor, „souvent déprécié à double titre par les auteurs de fiction en tant que parasite et par les fans de la fiction originelle en tant que profanateur de l’intention de l’auteur“. 27 Zu reflektieren ist in diesem Zusammenhang auch die profunde Ambivalenz des Genres zwischen affirmativkonventionellem Konformismus und subversivem Potential, 28 so z. B. im Rahmen des Gender- Switching oder des Queering kanonischer ‚Hetero‘-Texte, Spezialität des in so manchen Fandoms sehr stark vertretenen Subgenres Slash (für Karen Hellekson und Kristina Busse „a powerful cultural textual tool“, 29 „a way for its writers to explore feminist and/ or queer identity issues“ 30 ), aber auch der - in anderem Medium und auf anderer Ebene in Sauders Nous, princesses de Clèves vorgeführten - Rekontextualisierung klassischer Werke in einer postmodernen multikulturellen jugendlichen Lebenswelt: Quasi auf simplerem Niveau, in manchmal geradezu holzschnittartiger Überzeichnung, sind hier teilweise ähnliche ästhetische und ideologische Transformationen wie im ‚autorisierten‘ Bereich zu beobachten. 31 Reise durch einen digitalen Kontinent: Online-Abenteuer der Princesse de Clèves Hier ist freilich primär die Frage von Interesse, welche klassischen Texte in dieser Subkultur in welcher Weise produktiv rezipiert werden - und spezifisch die Frage, ob auch die Princesse de Clèves ihre schreibenden Fans gefunden hat. Sind - und bleiben wohl bis auf Weiteres - Harry Potter & Co. die einsamen Stars der Fanfiction-Welt, so haben neben traditionellen ‚Klassikern‘ der Kinder- und Jugendliteratur 32 (The Catcher in the Rye, Alice in Wonderland, aber auch Nesthäkchen und die Grimm’schen Märchen) oder des Krimi- und Horror-Genres (von Maurice Leblancs Arsène Lupin-Romanen bis hin zu H. P. Lovecrafts 26 Ibid.: 375f. Saint-Gelais erörtert in diesem Zusammenhang auch aus historischer Perspektive Konwie signifikante Divergenzen zwischen dem aktuellen „stade médiatique“ literarischer Produktion und dem „stade pré-auctoriel de la fiction médiévale“ (ibid.: 381). 27 „Paratextes & Récits Parasites“ (Blog: Anniceris, 28.03.2009; Hervorhebungen im Original). 28 Als „pratique ambivalente“ entfaltet die Fanfiction eine Dimension „à la fois perturbatrice et conservatrice“ (Saint-Gelais 2011: 398, 401); dieses Moment fundamentaler Ambivalenz in der Relation zu Prätext wie Kanon arbeitet Saint-Gelais auch in Bezug auf die „fan fictions ‚subversives‘“ heraus (ibid.: 405). 29 Hellekson/ Busse 2014a: 79. 30 Ibid.: 11. 31 „À première vue, il n’est pas aisé de distinguer la fan fiction de ce que l’on considère généralement comme une réécriture: […]“, konstatiert auch Lata (2016); Hellekson und Busse (2014a: 22) parallelisieren das Genre ihrerseits mit seinem offiziellen „literary counterpart“, im Grunde auf dem gleichen „modus operandi“ basierenden „professionally published derivative texts“. 32 Zur Problematik des Begriffs ‚Klassiker‘ in kinder- und jugendliterarischem Kontext vgl. Ewers 2012: 120. <?page no="629"?> La Princesse de Clèves meets D.Gray-man 629 Cthulhu) dennoch auch etliche Werke der Höhenkammliteratur ein jedenfalls quantitativ, zumindest vereinzelt auch qualitativ beeindruckendes Corpus amateuristischer réécritures generiert - ein in mancher Hinsicht paradoxes Phänomen, stehen klassischer Kanon und Fanfiction doch von vornherein in höchst komplexer, intrinsisch konfliktueller Relation. „Existe-t-il des fans de Proust? “, resümiert Lata pointiert die nicht unproblematische Assoziation zwischen dem „fan“ und diversen „œuvres de fort prestige culturel“ resp. „au statut de classique“. 33 Hinter dem manifesten Antagonismus und der hier besonders prononcierten Autoritätsdiskrepanz 34 verbergen sich allerdings subtile Affinitäten: Wie erörtert gehen im Falle des Klassikers kulturelle Reputation und „aura“ 35 typischerweise dem konkreten individuellen Rezeptionsakt voraus; auch die Fanfiction nährt sich in erster Linie aus einem sich um den jeweiligen Quell- oder „urtext“ 36 entfaltenden, mehr oder minder diffusen, meist multimedial geprägten „fond mémoriel“. 37 In diesem Sinne stellt sich die auch literaturtheoretisch relevante Frage, „how the mechanisms of reading or writing fan fiction can illuminate classic texts“. 38 Dies gilt für das eifrig fanfiktionalisierte Œuvre Shakespeares (allen voran Romeo and Juliet als Klassiker mit nach wie vor beträchtlichem Teenager-Identifikationspotential) und Cervantes’ Don Quijote, aber auch für Kultautorin Jane Austen; 39 Charles Dickens hat ebenso seine wieder- und wider-schreibenden Anhänger wie die Brontës, Nathaniel Hawthorne, Jonathan Swift, W. M. Thackeray, Tolstoj und Dostoevskij - auch der Idiot entgeht nicht dem Slash 40 -, Kafka und Aldous Huxley, Pasternak und Nabokov, Melville, Oscar Wilde, Joseph Conrad und Jack Kerouac; unter den literarischen Zeitgenossen erfreuen sich Umberto Eco, Bret Easton Ellis oder Carlos Ruiz Zafón einiger Popularität. Im Bereich der französischen Literatur dient etwa das Werk Victor Hugos, Alexandre Dumas’ (père) oder Jules Vernes als beliebter hypertextueller Steinbruch; doch auch Colettes Serie der Claudine-Romane wird von so manchem Fan für noch nicht definitiv beendet erklärt und in Eigenregie fortgesetzt und variiert. Über die Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende hinweg haben schließlich - was der erwachsene Leser aus der Generation der „Digital Immigrants“ 41 vielleicht nicht unbedingt vermutet hätte - auch Homer, Herodot, Vergil, Ovid, ja selbst die Bibel, Miltons Paradise Lost und das Rolandslied ihr Fan-Publikum gefunden. 42 Und La Princesse de Clèves? 33 Lata 2016. 34 Vgl. ibid. 35 Finkielkraut 2013a: 193. 36 Sandvoss 2014: 65. 37 Lata 2016. 38 Hellekson/ Busse 2014a: 23. 39 Zur Subkultur der „JAFF“ („Jane Austen Fan Fiction“) vgl. etwa https: / / www.fanfiction.net/ community/ Best-of-Jane-Austen/ 15358. 40 So bietet User/ in ‚igloo01‘ eine Mini-oneshot-Variation zum Thema „The love of Myshkin and Rogozhin“ (URL: https: / / www.fanfiction.net/ s/ 9138851/ 1/ The-love-of-Myshkin-and-Rogozhin), plastische Illustration der bei Saint-Gelais ironisch kommentierten „propension des auteurs de fan fiction à épuiser la liste des couples envisageables“ (2011: 407). 41 Vgl. Prensky 2001. 42 Vgl. für einen Überblick die Websites https: / / www.fanfiction.net und https: / / archiveofourown.org; für die quantitativ sehr viel bescheidenere französischsprachige Fanfiction-Kultur etwa die Seiten http: / / www.fanfictions.fr und https: / / www.fanfic-fr.net. <?page no="630"?> 630 Zur populärkulturellen produktiven Rezeption eines klassischen Textes „Il y a des angles sous lesquels on jugera inconvenant, j’imagine, d’aborder tour à tour Don Quichotte et une série télévisée, ‚Sherlock Holmes‘ et La Princesse de Clèves. Il en est d’autres sous lesquels, sans nullement feindre que ces fictions sont également reçues et valorisées, il leur arrive de présenter des formes comparables - mais aussi une diversité, peut-être pas celle qu’on aurait cru, que leur analyse conjointe peut faire apparaître. La transfictionnalité est l’un de ces terrains où l’on a tout intérêt à croiser des champs trop souvent disjoints par la compartimentation académique et certains préjugés encore tenaces“, bemerkt Richard Saint-Gelais, der sich Valincours kritisch-kreativer Lafayette-réécriture wie dem Phänomen Fanfiction unter dem literaturtheoretischen Gesichtspunkt der Transfiktionalität nähert. 43 Wie ist es um die - potentiell produktive - ‚respektlose‘ Annäherung zwischen der noblen Princesse und dieser qualitativ extrem heterogenen Subkultur bestellt? Abseits spezieller Fanfiction-Sites bestätigen einschlägige Online-Recherchen rasch die ebenso ambivalente wie intensive Rezeption der Princesse de Clèves - die im französischen Schulsystem bis heute auf relativ breiter Basis gelesen wird und im Zuge der ‚Affäre‘ Sarkozy zweifellos einen neuerlichen Bekanntheitszuwachs erlebt hat - auch bei einem adoleszenten Publikum. Im Rahmen einer Online-Umfrage zur (Im-)Popularität der Princesse („Votre avis sur La princesse de Clèves de Madame de La Fayette“) befinden im Jahr 2008 immerhin 45 % der abstimmenden Leser die Princesse für „Excellent“, 20 % für „Très bon“ und 10 % für „Bon“ - wie weit aus pflichtgemäßem Bildungsbewusstsein und wie weit aus eigener Lust am Text, muss klarerweise offenbleiben; ringen sich weitere 10 % gerade noch zu einem „Moyen“ durch, kann die restliche Wählerschaft sich mit dem Text dezidiert nicht anfreunden (5 %: „Très moyen“, 10 %: „Pas apprécié du tout“). 44 Doch über eine facebook-geprägte Like-Kultur hinaus entfaltet sich in so manchem Schülerforum und Lektüre-Blog auch um die Princesse ein eigener (prä-)theoretischer Diskurs, der sich - auf simplerem Level und in gelegentlich extravaganter Orthografie - in die große Rezeptionsgeschichte der Princesse einschreibt, seit Jahrhunderten immer wieder variierte Topoi des Lafayette-Kommentars - ‚abgesunkenes‘ literarhistorisches Kulturgut - recycelt. So übt ‚Testifly‘ auf den fernen Spuren Valincours heftige Kritik an den ein weiteres Mal für ‚überflüssig‘ erachteten Digressionen Lafayettes: Alors mon opinion sur ce roman est assez étrange; j’aime beaucoup l’histoire mais pas du tout la façon dont elle est racontée. J’ai trouvé l’intrigue originale pour l’époque, car la Princesse de Clèves est un personnage de roman sentimental très honnête et surtout extrèmement moral. Or, les nombreuses digressions m’insupportent (les histoires amoureuses des autres personnages sont trop détaillés et les faits historiques très précis me semblent inutiles), ça me rappelle les lectures de Jacques le Fataliste et de Tristram Shandy. C’est vraiment dommage car j’adore l’histoire en ellemême. J’aurais vraiment aimé que cette lecture soit plus digeste. 45 Auf Missfallen stößt vor allem auch jenes eröffnende historische Panorama, das bereits Lafayettes Zeitgenossen Valincour und Fontenelle skeptisch kommentieren. Marie Darrieussecq, ihres Zeichens Lafayette-rewriter, erinnert sich wie zitiert daran, diesen Einstieg bei 43 Saint-Gelais 2011: 9. 44 „La Princesse de Clèves“ (Partage Lecture, 2008ff.). 45 „Mme de la Fayette: La princesse de Clèves“ (The Inn at Lambton): 3 (‚Testifly‘, 02.06.2009). [sic], ein und für alle Mal: Bei der Wiedergabe amateur-kritischer und -literarischer Äußerungen wird im Folgenden auf pädagogisch-korrektive Annotation verzichtet. <?page no="631"?> La Princesse de Clèves meets D.Gray-man 631 ihrer ersten schulischen Lektüre der Princesse als „une barrière infranchissable“ wahrgenommen zu haben; 46 jugendliche schul-zwangsverpflichtete Leser formulieren ihre diesbezüglichen Eindrücke online anobzw. pseudonym mit weniger höflicher Zurückhaltung. ‚Saphyr‘ im Forum Partage Lecture weiß entschieden nichts mit Lafayettes einleitender „description plutôt soporifique des courtisans de François Ier, courtisans qui, pour la plupart, ne prendront aucune part à l’intrigue“ anzufangen: „Cette accumulation de princes, de princesses, de ducs, de marquises et autres sommités aux titres ronflants et aujourd’hui vides de sens, tous nobles de corps et d’esprit, tous cousins, a une allure de défilé de mode au château de Cendrillon, et révèle à mon sens une certaine immaturité ou naïveté de l’auteur. À moins qu’elle ne nous prennent pour des jambons.“ 47 Userin ‚Atonement‘ wiederum, die sich, laut Eigendefinition generell sehr geduldige Leserin, der Princesse dann doch nicht gewachsen sieht, richtet im Forum The Inn at Lambton („Une auberge pour les admirateurs de Jane Austen, et bien plus encore…“) den plastisch illustrierten Hilferuf einer „lectrice en détresse“ an ihre Community - und liefert zugleich ein parodistisches Resümee der hyperbolischen Ouvertüre Lafayettes: J’ai généralement beaucoup de patience quand je lis un roman, je sais que les débuts sont parfois difficiles, qu’il faut se plonger dans l’histoire, découvrir les personnages, etc...Mais La Princesse de Clèves, ça ne passe pas. J’ai lu 10 pages, armée d’une feuille, d’un stylo et d’une règle, pour noter le nom de tous les personnages et des liens qu’ils ont entre eux. Peine perdue. Mon arbre généalogique est en train de moisir lamentablement au fond de ma pochette, et je n’ai pas ré-ouvert La Princesse de Clèves. Je suis sensée l’avoir fini pour la semaine prochaine, mais à chaque fois que j’y pense ou que je vois le livre dans ma pile sur ma table de nuit, j’ai envie de pleurer. Je sens aussi que je vais bien dormir en cours de français ses prochains temps. Mais vous qui avez lu ce livre et l’appréciez, est-ce que tous ces noms de personnages au début sont utiles dans l’histoire ou est-ce des noms cités au hasard? Parce que j’ai l’impression qu’en fait, c’est ça qui me bloque. On nous donne 50.000 noms en 3 pages, en disant qu’ils sont honorables, machin truc bidule, qu’ils sont tombés amoureux de bidule chouette qui est la fille de la soeur du roi qui elle-même machin truc & Cie. Mais tous ces ducs & Cie très généreux sont-ils vraiment importants pour comprendre l’histoire? *C’était le message d’une lectrice en détresse.* 48 Aber auch Lafayettes Protagonistin an sich erntet überaus ambivalente Reaktionen und nicht selten sogar eine prononcierte Antipathie: „Voila pourquoi Mme de Clèves m’agace: qu’elle aspire à une grande rigueur morale et intellectuelle, je pourrais peut-être l’admirer mais ses actes sont-ils dictés par sa foi? par sa soif de pureté, ou par son orgueil? “, fragt sich ‚althea‘; auch ‚Accalia‘ geht mit den Figuren Lafayettes - der passiven Princesse samt ‚lächerlichem‘ aveu wie dem allzu selbst- und siegessicheren Nemours - streng ins Gericht: […] ensuite je n’aime pas en soi le personnage de La princesse de Cléves qui ne mérite ni son mari ni son „amant“........tant d’inertie....et puis cet aveu ridicule aux pieds de son époux.....quand on souffre de cela on se tait et on le garde pour soi.....pas la peine de mettre sur les épaules de son époux un tel fardeau puis Monsieur de Cléves m’a bien énervé....meurt-on pour ca? Faut se secouer dans la vie! ! ! ! ! ! ! ! ! 46 Darrieussecq 2009b: II. 47 „La Princesse de Clèves“ (Partage Lecture): 2 (‚Saphyr‘, 12.03.2013). 48 „Mme de la Fayette: La princesse de Clèves“ (The Inn at Lambton): 4 (‚Atonement‘, 17.11.2011). <?page no="632"?> 632 Zur populärkulturellen produktiven Rezeption eines klassischen Textes et enfin Monsieur de Nemours à la fin m’a bien tappé sur les nerfs.....bien que je désapprouve cette facon de s’enterrer vivante (couvent)j’étais ravie que la princesse de Cleves y aille....Nemours la croyait sienne trop facilement.....faut pas réver dans la vie non plus....... bref....cela à été dur...surtout que je m’attendais à mieux....... 49 Dagegen schreitet ‚francesco‘ zur passionierten Verteidigung der Heldin und des Textes insgesamt: „C’est sans doute mon ‚classique‘ français favori. Que cette langue est belle! […] Et j’adore le personnage éponyme (je ne crois qu’elle ne meure ni d’amour, ni à cause de la morale: pour moi essentiellement elle a compris que le monde ne pouvait pas être à la hauteur de ses idéaux. […])“. 50 Vor allem Nemours erfreut sich bei etlichen anderen Kommentatoren - d. h. vor allem Kommentatorinnen - beträchtlicher Beliebtheit: „J’ai lu ce livre très souvent adolescente! […] J’aime beaucoup Nemours en tout cas! “, gesteht ‚Noëllie‘; 51 unter großzügigem Einsatz von allerlei Emoticons legt auch die bereits zitierte Userin ‚Atonement‘ ein regelrechtes Liebesbekenntnis für den charmanten Duc ab - allerdings erst, nachdem sie sich die Filmversion Delannoys zu Gemüte geführt hat: Monsieur de Nemours, que j’imaginais avant vieux pour je ne sais quelle raison, m’a absolument charmée La Princesse de Clèves aurait, de mon point de vue, du accepter ses avances lorsqu’elle est devenue veuve et est franchement agaçante à s’émouvoir et s’évanouir à tout bout de champ. 52 ‚Octavia‘ wiederum reflektiert auf Partage Lecture - und auf den Spuren der akademischen Lafayette-Forschung - die komplexe Mutter/ Tochter-Beziehung und die Rolle des „Mother’s Discourse“ 53 in Lafayettes Roman: „Sa relation avec sa mère, faite d’amour mais aussi de domination, est intéressante aussi, on pourrait penser que c’est la parole ‚vertueuse‘ de la mère - qui subsiste à travers la mort - qui empêche la fille d’épouser M. de Nemours.“ 54 Diese kleine Revue der - ebenso amüsanten wie oft aufschlussreichen - Lafayette- Exegese meist jugendlicher Amateure muss hier genügen; es dürfte deutlich geworden sein, dass die Princesse de Clèves bei diesem Publikum durchaus leidenschaftliche Parteinahmen provoziert (auch in diesem Punkt stellt der ‚populäre‘ Diskurs einen in mancher Hinsicht erhellenden Zerrspiegel der professionellen Literaturkritik und -wissenschaft dar, in der, wie eingangs gezeigt, diese Dimension subjektiven Engagements gleichfalls - in subtilerer Form - präsent ist). Die spezifische Rezeptionsdynamik der Princesse wird auch in diesem amateuristischen Kontext auf der Meta-Ebene thematisiert: „La Princesse de Clèves, je dirais que c’est un incontournable. Qu’on aime ou pas, on ne reste pas indifférent, à en juger par vos réactions, et pas seulement les vôtres! J’ai eu l’occasion d’en parler avec des amis de la fac et on est aussi très partagés…“. 55 Wie bereits im inauguralen Princesse-Kommentar Valincours werden schließlich auch hier immer wieder potentielle réécritures des Ausgangstextes skizziert. Wie könnte die Geschichte anders bzw. ‚in Wahrheit‘ verlaufen sein? So imaginiert ‚Saphyr‘ etwa „une lecture parallèle de l’histoire, une lecture où la réserve de l’héroïne n’est qu’une façade pour dissi- 49 Ibid.: 2 (‚Accalia‘, 01.05.2008). 50 Ibid.: 2 (‚francesco‘, 03.02.2008). 51 Ibid.: 2 (‚Noëllie‘, 11.09.2008). 52 Ibid.: 4 (‚Atonement‘, 20.11.2011). 53 Vgl. Hirsch 1981. 54 „La Princesse de Clèves“ (Partage Lecture): 1 (‚Octavia‘, 12.05.2011). 55 „Mme de la Fayette: La princesse de Clèves“ (The Inn at Lambton): 2 (‚Morwen‘, 03.05.2008). <?page no="633"?> La Princesse de Clèves meets D.Gray-man 633 muler ses infidélités, où les rencontres fortuites sont tout à fait intentionnelles, et où ses scrupules finaux à épouser le duc de Nemours ne sont que lassitude envers son ancien amant“ - und schlägt eine Crossover-Lektüre der Princesse und der Liaisons dangereuses vor: „Si vous souhaitez le lire, malgré tout, je conseillerais de le faire après Les liaisons dangereuses, de Choderlos de Laclos, qui amèneront un éclairage tout à fait différent aux attitudes de cette admirable princesse. Histoire de rigoler un peu, quand même.“ 56 Vor dem Hintergrund all dieser - und zahlreicher ähnlicher - Reflexionen und Diskussionen mag es auf den ersten Blick verwundern, dass dieser so temperamentvoll rezipierte (und kritisierte) Text im Gegensatz nicht nur zu Harry Potter, sondern auch zu Shakespeare & Company kein relevantes Corpus an fanfiktionaler Produktion inspiriert zu haben scheint. Dies dürfte teilweise mit der ausgeprägten anglo-amerikanischen Dominanz in dieser primär auf einem englischsprachigen Kanon sowie Englisch als lingua franca 57 basierenden - und auch auf wissenschaftlicher Ebene mit quasi-exklusivem Fokus auf „Western Anglophone media“ 58 untersuchten - Subkultur zusammenhängen, in der ein ‚nationaler‘ französischer Klassiker 59 wie der Roman Lafayettes von vornherein einen erschwerten Stand hat. Freilich haben andere als ‚klassisch‘ zu kategorisierende französische Werke sehr wohl ihre Fans und rewriter gefunden; der kanonische Status des Textes, Pflichtbzw. Zwangslektüre für ganze französische Gymnasial-Generationen, erklärt insofern kaum allein die vorsichtige Zurückhaltung der jugendlichen Heerscharen aus dem Reich der Fanfiction - aber zweifellos stellt besagte pädagogische Aura hier ein recht wesentliches Handicap dar. „Voilà une œuvre que les programmes de l’éducation nationale ont voué à l’excécration de générations de collégiens-lycéens“, kommentiert ein User giftig, doch treffend in einer Debatte auf Pierre Assoulines Literaturblog. 60 Im Forum The Inn at Lambton entspinnt sich ein symptomatischer eigener Thread zum Thema (Hass gegen) La Princesse de Clèves, „souvent cité dans le topic des lectures honnies“, wie ‚MissAcacia‘ konstatiert. Bemerkenswerterweise erscheint sogar in diesem literatur-affinen Online-Biotop ausgerechnet die Princesse als Objekt geradezu leidenschaftlicher Aversion: „Plusieurs personnes ont mis Mme de Lafayette dans la catégorie des écrivains qu’ils ne reliront jamais, JAMAIS… Pourquoi tant de haine? Il n’y a donc personne pour appprécier La Princesse de Clèves? “, fragt sich betrübt Lafayette- Leserin ‚Popila‘. 61 Ihre Ko-Diskutanten präzisieren daraufhin, dass ihnen der Text vor allem auf (hoch-)schulischem Wege vergällt worden sei: „Si, si j’aimais bien La Princesse de Clèves .Mais bon depuis que j’ai eu à l’étudier en spé lettres pour le concours de l’ens j’en suis un peu dégoûtée lol“, erklärt ‚Doddy‘; „Lorsque on étudie une œuvre, on arrive plus facilement à être écœurer“, bestätigt ‚ekaterin64‘. „J’ai un très mauvais souvenir de La princesse de Clèves, étudié en cours au collège et pas relu depuis […]“, gesteht ‚Bonnie‘; „[…] je n’ai pas aimé La princesse de Cléves que j’ai loooooonguement étudié cette année.....“, klagt auch ‚Accalia‘. 62 56 „La Princesse de Clèves“ (Partage Lecture): 2 (‚Saphyr‘, 12.03.2013; Hervorhebung im Original). 57 Lata 2016. 58 Hellekson/ Busse 2014b: 2. 59 Vgl. Schlanger 2008: 93ff. („Littératures nationales“), 99ff. („Classiques modernes“); zum Konzept der „classiques nationaux“ vgl. insbes. ibid.: 102ff. 60 Assouline 2006 (‚Balouza‘, 11.12.2006). 61 „Mme de la Fayette: La princesse de Clèves“ (The Inn at Lambton): 1 (‚Popila‘, 16.12.2007). 62 Ibid.: 1 (‚Doddy‘, 16.12.2007; ‚ekaterin64‘, 16.12.2007), 3 (‚Bonnie‘, 12.09.2008), 2 (‚Accalia‘, 01.05.2008). <?page no="634"?> 634 Zur populärkulturellen produktiven Rezeption eines klassischen Textes Manchmal fungiert die Princesse als ungeliebtes Objekt nicht nur schulischer, sondern auch von den Eltern - hier der Mutter - auferlegter Pflichtlektüre; so erläutert ‚althea‘, literarisch versierter und selbstreflektierter Stammgast des Forums, weshalb der Roman mit seiner antipathischen Titelheldin („froide et exaspérante“) für sie persönlich zu einem regelrechten „livre noir“ geworden sei: „La Princesse de Clèves m’a profondément ennuyée, mais ce n’est pas de la haine! Je crois que je l’ai lu trop jeune (13 ou 14 ans), sous la pression de ma mère qui adorait et adore toujours ce roman […] Ceci étant, si je veux vraiment expliquer pourquoi, encore après toutes ces années, cela reste pour moi un livre noir, il va falloir que je le relise! “ 63 Wer die Princesse hier zu schätzen weiß, liebt den Text trotz - oder abseits - eventueller schulischer resp. familiärer Obligationen: „J’ai beaucoup aimé ce roman (lu hors contexte scolaire, je précise) […]“, erklärt ‚MissAcacia‘, 64 im Gegensatz zur Legion „de celle[s] et ceux qui ont été traumatisés par cette lecture au lycée“. 65 Gerade vor dem Hintergrund der politisierten Rezeption der Princesse im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts manifestiert sich in diesem ‚naiven‘ amateur-kritischen Diskurs erwartungsgemäß eine ausgeprägte Ambivalenz gegenüber dem klassischen Roman als Objekt schul-induzierter Abneigung und als Symbol des Widerstands, das es nun schon aus politischer Korrektheit zu würdigen gilt: „Mon Dieu, a-t-on encore le droit de s’ennuyer en lisant La princesse de Clèves sans être accusé de fascisme? “, fragt provokant der bereits zitierte User ‚Balouza‘ im Forum von Assoulines République des livres. 66 Nicht selten wird dieser spezifische ideologische Kontext der eigenen Lektüre explizit thematisiert; auch hier bestätigt sich, wie sehr die ‚Affäre‘ zur Re-Popularisierung der Princesse beigetragen hat, bekennt doch so manche Leserin, den Text erst (wieder) gelesen zu haben, „parce que Mme de La Fayette et sa princesse défrayent actuellement la chronique… bien malgré elles“ (‚MissAcacia‘). Auch ‚serendipity‘ konstatiert zumindest diesen „heureux effet col[l]atéral“ der Polemik rund um die Princesse: „C’est typiquement le genre de livre que je n’aurais pas lu de ma propre initiative. Parce que je ne l’ai jamais étudié en classe, qu’il a la réputation d’être chiant […].“ 67 Ein „roman français d’un ennui profond“? Princesse-Fanfiction oder Lafayette in der Manga-Welt Aus unterschiedlichen Motiven wird die Princesse also nach wie vor intensiv gelesen und diskutiert; in der Domäne der fanfiktionalen réécriture ist sie nur punktuell präsent - und auch dies nicht unbedingt als inspirierender Prätext für eigene kreative Experimente, sondern zunächst vielmehr als Inbegriff des ‚langweiligen‘ klassischen Werkes. So im Schaffen von ‚Bergere‘, die, ihrer Selbstcharakteristik nach Literaturstudentin und -aficionada, in ihrem paratextuellen Diskurs eine recht anspruchsvolle poetologische Selbstreflexion entfaltet - über den Reiz des Genres der Fanfiction, der bewusst ‚unoriginellen‘, genussvoll parasitären Fortschreibung einer präexistenten Welt, über die Lust am Gelesenwerden, aber auch speziell 63 Ibid.: 1 (‚althea‘, 16.12.2007). 64 Ibid.: 2 (‚MissAcacia‘, 15.06.2008). 65 Ibid.: 3 (‚serendipity‘, 14.04.2009). 66 Assouline 2006 (‚Balouza‘, 11.12.2006). 67 „Mme de la Fayette: La princesse de Clèves“ (The Inn at Lambton): 2 (‚MissAcacia‘, 15.06.2008), 3 (‚serendipity‘, 14.04.2009). <?page no="635"?> La Princesse de Clèves meets D.Gray-man 635 über jene klassischen Texte, die ihr idiosynkratisches literarisches Universum bevölkern bzw. ‚verseuchen‘: „On le devinera, je suis assez fanatique de littérature (les classiques en particulier). Je coupe ici une longue diatribe d’un gros paragraphe pour vous dire que j’aime la littérature, Proust, Chateaubriand, Gracq, Balzac, Somerset Maugham, Tolstoï, Mircea Eliade, Lampédusa, Laclos, Austen, Shakespeare, Paul-Jean Toulet etc. Ceux qui m’ont déjà lue savent d’ailleurs déjà tout cela: beaucoup d’entre eux peuplent (que dis-je, polluent! ) mes écrits.“ 68 Ausgesponnen wird hier - neben dem Werk der genannten Schriftsteller - auch ein feiner intertextueller Lafayette-Faden. Die pseudonyme Autorin bekennt sich zwar zur quasi exklusiven literarischen Aktivität im Bereich des Harry Potter-Fandoms, bezieht eines ihrer offiziellen Motti jedoch direkt aus der Princesse - und wendet das gewählte ‚Lieblingszitat‘ („D’une personne comme vous, Madame, tout est des faveurs hors l’indifférence“ 69 ) sogleich auf ironischer Meta-Ebene auf Lafayettes Text an: In einer Harry Potter-Variation namens „Rose tragédie“, die in einer parodistisch in Prosa übersetzten klassisch fünfaktigen Struktur die Abenteuer einer passionierten - und dem amourösen Happy End aus tiefer Überzeugung abgeneigten - Leserin inszeniert, wird gezielt die Princesse - „roman français d’un ennui profond, et qui lui avait parfaitement convenu pour cette raison même“ - als Kontrapunkt zur anti-kanonischen Fanfiction-Welt ins Spiel gebracht. 70 Derart baut ‚Bergère‘ die Lafayette- Referenz in einen amateur-poetologischen Diskurs ein; vereinzelt dient die Princesse aber auch als Basis ano-/ pseudonymer réécritures. Zum Abschluss dieser kleinen Digression auf den populärkulturellen Spuren Lafayettes sei in diesem Sinne noch eine kleine hybride ‚Perle‘ der - erfrischend unprofessionellen - produktiven Princesse-Rezeption präsentiert. „Passion“: Unter diesem ebenso simplen wie vielversprechenden Titel publiziert ‚misakihoshifiction‘ einen mit beträchtlicher Selbstironie situierten „gros délire […] en cours de français“. 71 Hinter dem lapidaren Resümee verbirgt sich eine in mehrfacher Hinsicht verqueerte Crossover- 72 und Cross-cultural-réécriture der nächtlichen Pavillon-Szene von Coulommiers, im Rahmen des Slash-Subgenres Yaoi 73 neu besetzt mit zwei männlichen Helden des Mangas D-Gray Man: 74 „One shot assez particulier. Les litteraire reconnaîtrons La Princesse de Clèves x“. 75 68 URL: https: / / www.fanfiction.net/ u/ 1791076/ Bergere. 69 Vgl. die entsprechende Passage bei Lafayette (2014c: 447). 70 URL: https: / / www.fanfiction.net/ s/ 6273182/ 6/ Rose-trag%C3%A9die („Acte V: La fin“). „PS: Je tiens à dire que j’ai aimé La princesse de Clèves […] (vous comprendrez pourquoi je le précise)“, stellt die Autorin zur Sicherheit bereits vorweg in einem ironischen Postskriptum zu ihrer Präsentation des Textes klar (ibid.). 71 URL: http: / / misakihoshifiction.skyrock.com/ 3046143227-Passion.html [09.07.2014]. 72 Zum Crossover als „pratique […] décloisonnante“, die die „complexité de la culture médiatique“ paradigmatisch illustriert, vgl. Saint-Gelais 2011: hier insbes. 383ff. 73 Zu diesem Subgenre - mehrfach queer insofern, als hier überwiegend weibliche Autoren für ein primär weibliches Publikum männlich-homoerotische Szenarien bearbeiten, vgl. etwa URL: http: / / yaoiboys love.wikia.com/ wiki/ Yaoi_Wiki. Einen Erklärungsversuch „as to why male-male slash fan fiction might be so appealing to women fans“ (Hellekson/ Busse 2014b: 11) unternehmen schon Lamb und Veith (1986) sowie Russ (1985), die das Subgenre ebenfalls am Beispiel Star Trek-Slash „as possibly the only noncommercial pornography produced specifically by and for women“ valorisiert (Hellekson/ Busse 2014b: 12). 74 Das Manga D.Gray Man (Autorin/ Zeichnerin: Katsura Hoshino), im Jahr 2004 zuerst publiziert, ist der Shōnen-Gattung zuzuordnen; die gleichnamige TV-Serie wurde ab Oktober 2006 auf TV Tokyo ausgestrahlt. D.Gray Man entführt die Leserbzw. Zuschauerschaft in eine mythische Welt des 19. Jahrhunderts, in der sich kühne Exorzisten im Kampf gegen die ‚Akuma‘, in Maschinen-Monster verwandelte menschliche Seelen, zu bewähren haben; dem zentralen Helden Allen Walker - jugendlicher Exorzist <?page no="636"?> 636 Zur populärkulturellen produktiven Rezeption eines klassischen Textes Unter kreativer Aneignung des klassischen Prätexts, deren fröhliche ‚Respektlosigkeit‘ sich auch in der paratextuellen Aufbereitung und der Unbesorgtheit um orthografische und sonstige Etikette widerspiegelt, transferiert die junge Autorin 76 die Protagonisten dieser spezifischen Manga-Phantasiewelt - den ‚Superhelden‘ Allen Walker und seinen Ko-Exorzisten Lavi Bookman, in Hollywood-Manier zum nom-valise-Pärchen ‚Laven‘ verschmolzen - in das Setting und in den bei weitgehend wörtlicher Zitation subtil unterminierten klassischen Sprachduktus des Lafayette’schen Romans. Durch Austausch bzw. Hinzufügung einiger weniger Begriffe wird der Text der Princesse parodistisch gebrochen (so wird in die Formulierung „avec une grâce et une douceur“ - mit denen die Heldin ihr suggestives Dekorationswerk an der notorischen „canne des Indes“ vollendet 77 - der verräterische kleine Zusatz „et une perversion“ eingeschmuggelt, ähnlich die Wendung „à la passion qu’elle lui cachait“ 78 neben dem Gender-Switching um einen gleichfalls verborgenen „sexe“ ergänzt) und in einigen Details modernisiert (Allen gibt sich vor einem „poster de Monsieur Lavi“ seinen erotischen Träumereien hin). Offenbar unter Rekurs auf den Anmerkungsapparat ihrer Edition der Princesse (und damit ein weiteres Mal im Spiel mit den Grenzen des Textes) macht sich die Verfasserin überdies die ironische Mühe, den geneigten Lesern diverse - zumindest in klassisch- Lafayette’scher Bedeutung - unter Umständen unvertraute Termini („cabinet: pièce, salon“, „transport: émotion violente“) und mittlerweile als archaisch wahrgenommene morphosyntaktische Strukturen („à: pour“) in eigenen Fußnoten zu erklären. Entgegen dem Plot Lafayettes - und Denis de Rougemonts Maxime hinsichtlich einer prinzipiell der Devise obligatorischen Unglücks unterworfenen okzidentalen Liebesliteratur - setzt die lustvoll „en cours de français“ delirierende Autorin auf ein homoerotisches Happy End. Anders als Mme de Clèves ergreift Exorzisten-Heros „Monsieur Allen“ in seiner nackten Schönheit nicht die Flucht, als sein Verehrer - nach erfolgreicher Überwindung nicht nur der Lafayette’schen „palissades“, sondern auch eines Dickichts ominöser ‚Akuma‘ - in den nächtlichen Pavillon eines cross-kulturell verfremdeten Coulommiers eindringt: mit hellseherischen Fähigkeiten und Waffen-Arm - steht als abgrundtief böser Antagonist und Manipulator der ‚Millennium-Graf‘ gegenüber. Vgl. URL: http: / / dgrayman.wikia.com/ wiki/ D.Gray-man, http: / / mangafox.me/ manga/ d_gray_man. 75 URL: http: / / misakihoshifiction.skyrock.com/ 3076843417-Fanfiction-D-Gray-Man.html [09.07.2014]. 76 Neben Wohnort und Beziehungsstatus („célibataire“) präzisiert ‚misakihoshifiction‘ in ihrem Profil auch Gender und Alter („Fille, 21 ans“); souverän abgelehnt wird dagegen die Frage nach den „Origines“: „Qui s’en soucie? “ (URL: http: / / misakihoshifiction.skyrock.com/ profil [09.07.2014]). 77 Lafayette 2014c: 451. 78 Ibid.: 452. <?page no="637"?> La Princesse de Clèves meets D.Gray-man 637 Passion. Les palissades étaient fort hautes, et il y en avait encore derrière ainsi que de nombreux akumas, pour empêcher qu’en ne pût entrer, en sorte qu’il était presque impossible de se faire passage. Monsieur l’exorciste Lavi, à l’aide de son superbe maillet, en vint à bout néanmoins; sitôt qu’il fut dans ce jardin, il n’eut pas de peine à démêler où était Monsieur l’exorciste Allen. Il vit beaucoup de lumières dans le cabinet (1); toutes les fenêtres en étaient ouvertes et, en se glissant le long des palissades, il s’en approcha avec un trouble et une émotion qu’il est aisé de se représenter. Il se rangea derrière une des fenêtres, qui servait de porte, pour voir ce que faisait son bien aimé. Il vit qu’il était seul, Monsieur le Général Cross son époux étant parti en mission; mais il le vit d’une si admirable beauté qu’à peine fut-il maître du transport (2) que lui donna cette vue. Il faisait chaud, et Allen n’avait rien pour dissimuler sa peau de neige. Il était sur un lit de repos avec une table devant lui, où il y avait plusieurs corbeilles pleines d’écharpes; il en choisit une, et Monsieur Lavi remarqua que c’était la même que celle qu’il avait porté à leur précédente mission. Il vit qu’il en faisait un nœud à canne des Indes, fort extraordinaire, qu’il avait porté quelque temps et qu’il avait donné à Monsieur l’exorciste Kanda, à qui Monsieur Allen l’avait pris sans faire semblant de la reconnaître pour avoir été à Monsieur Lavi. Après qu’il eut achevé son ouvrage avec une grâce, une douceur et une perversion que répandaient sur son visage les sentiments qu’il avait dans le cœur, il prit une lampe torche et s’en alla proche d’une grande table, vis-à-vis du tableau du siège de Metz, où était le poster de Monsieur Lavi; il s’assit et se mit à regarder ce poster avec une attention et une rêverie que la passion seule peut donner. On ne peut exprimer ce que sentit Monsieur Lavi dans ce moment. Voir au milieu de la nuit, dans l[e] plus beau lieu du monde, une personne nue qu’il adorait, le voir sans qu’il sût qu’il le voyait, et le voir tout occupé de choses qui avaient du rapport à lui, à la passion et au sexe qu’il lui cachait, c’est ce qui n’a jamais été goûté ni imaginé par nul autre amant. Le bookman junior roux était tellement excité qu’il demeurait immobile à regarder Monsieur Allen, sans songer que les moments lui étaient précieux. Quand il fut remis, il pensa qu’il devait attendre à (3) lui parler qu’il aillât dans le réfectoire; il crut qu’il le pourrait faire avec plus de sûreté. Mais, voyant que Monsieur Allen demeurait dans le cabinet, il prit la résolution d’y entrer. Monsieur Allen, nu, se tourna vers lui. Monsieur Lavi s’élança et l’étreignit: -Oh! Je vous aime Allen! -Oh! Moi aussi, mon cher Lavi! Un baiser et ils passèrent le reste de leur nuit dans des ébats plus agités les uns que les autres. Fin. 79 79 URL: http: / / misakihoshifiction.skyrock.com/ 3046143227-Passion.html [09.07.2014]. Vgl. dazu die korrespondierende Passage bei Lafayette (2014: 451f.). <?page no="639"?> La Princesse de Clèves, 1678-2018: Provisorische Conclusio La littérature n’est pas une façon compliquée de dire les choses simples; c’est la façon la plus simple de dire les choses compliquées. 1 There is no last word on La Princesse de Clèves. 2 Auch am Ende dieses intermedialen Parcours, der uns ausgehend von La Princesse de Clèves durch eine im späteren 20. und im frühen 21. Jahrhundert nach wie vor lebhafte kritische wie kreative Rezeptionsgeschichte - und zwischendurch auf die Barrikaden gegen die Regierung Sarkozy und in die dezidiert un-klassischen Gefilde der zeitgenössischen Fanfiction - geführt hat, kann und soll kein ‚Schlusswort‘ mit wie immer geartetem Anspruch auf Definitivität stehen, ist doch die künstlerische wie akademische Odyssee der Princesse - quer durch die Medien, theoretischen Schulen und ideologischen Trends - alles andere als vollendet: Bald dreieinhalb Jahrhunderte nach ihrer Erstpublikation und der ersten Querelle ist Lafayettes Roman als Interpretations- und Diskursgenerator so produktiv wie nur je. Empfiehlt Roland Barthes - wie zitiert - zur Steigerung des „Plaisir aux classiques“ die Kombination etwa von „Sévigné et Proust, les jansénistes et Montherlant“ oder „Bossuet […] encore plus beau quand il est lu et cité par Gide“, 3 so wurde hier - nach Analyse dreier réécritures aus dem 20. Jahrhundert (Raymond Radiguet, Louise de Vilmorin, Jacqueline Harpman) zur besseren ästhetischen wie ideologischen Kontextualisierung - eine (Re-)Lektüre der Princesse de Clèves mit dem und durch das Werk mehrerer Autorinnen der französischen resp. der französischsprachigen Gegenwartsliteratur unternommen (Marie Darrieussecq, Emmanuelle Bayamack-Tam, Amélie Nothomb, Françoise Hardy); immer wieder erweist sich dabei, wie sehr diese postmodernen Lafayette-Variationen - mit ihren jeweils idiosynkratischen Momenten, aber auch epochentypischen Charakteristika - ihrerseits den Prätext anreichern bzw. neue Bedeutungsschichten daran freilegen. Die Spezifik der an ausgewählten literarischen Beispielen und an den bisherigen Film- Versionen reflektierten produktiven Rezeption der Princesse de Clèves, die mit ihrer komplexen Historizität, ihrem aus heutiger Sicht stark markierten gesellschaftlichen Fokus eine Herausforderung für jede neue Variation resp. Adaption darstellt, wurde zunächst unter inhaltlichthematischen, soziohistorischen und ideologischen Aspekten analysiert. „Ce recul à l’égard du contexte historique, ce brouillage des époques suffiraient à justifier une esthétique de la réécriture […]“, bemerken Claude Coste und Michèle Castells-Faucher zum Werk Pascal Quignards. 4 Auch im Rahmen der hier eingehend besprochenen Lafayette-réécritures wird die Princesse historisch wie sozial vielfältig resituiert: Raymond Radiguet verlegt in Le Bal du comte d’Orgel den Plot in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg; auch Louise de Vilmorin bietet mit 1 Pierre Mertens, zit. bei Herman 2013. 2 Paulson 1998: 123. Auf jegliche definitive „conclusion“ verzichtet angesichts der Princesse, dieser „unstinting source of paradoxes, contradictions and ambiguities“, explizit auch Campbell im „Postscript“ zu seinen Questions of Interpretation in La Princesse de Clèves (1996: 223f.). 3 Roland Barthes in „Plaisir aux classiques“ (1944), zit. nach Coste 2000: 385. 4 Coste/ Castells-Faucher 2000: 341. <?page no="640"?> 640 Provisorische Conclusio Madame de eine zurückhaltendere Belle Époque-Modernisierung des Sujets. Bewegen sich Marguerite Yourcenar mit Anna, soror… und Pascal Quignard mit La Frontière - bei Coste/ Castells-Faucher gleichfalls als Princesse-Hypertexte untersucht - in einem „cheminement inverse“ zurück in die Vergangenheit, 5 so transferieren die betrachteten zeitgenössischen réécritures - wie auch die vier filmischen Adaptionen nach Jean Delannoys Historien- Princesse - Handlung und Personal Lafayettes sämtlich in eine postmoderne Gegenwart, dabei freilich in durchaus heterogene soziale Kontexte. Nach Radiguet und Vilmorin, die den Königshof Lafayettes in ein modernisiertes, zwar nach wie vor mondän-aristokratisches, doch historisch längst entwurzeltes und entmachtetes Milieu verwandeln, tritt mit der Heldin von Jacqueline Harpmans Brève Arcadie eine gutbürgerliche belgische ‚Princesse‘ auf den Plan (auch die Familie ihres ‚Prince‘ - von ohnedies rezenter und inferiorer Noblesse - lässt Harpman vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit reibungslos in die Bourgeoisie zurückkehren). In späteren literarischen Variationen wird das gesellschaftliche Panorama noch einmal deutlich erweitert, eine nunmehr sozial mobile - und im Unterschied zum klassischen Prätext auch intern sozial differenzierte - zentrale Figurenkonstellation rearrangiert: Dies gilt für Marie Darrieussecqs Clèves, in der französischen Provinz angesiedelter „roman de classes“ 6 (die Autorin selbst akzentuiert im paratextuellen Diskurs die ‚soziologische‘ Komponente ihres Romans), aber auch für die Fortsetzung Il faut beaucoup aimer les hommes, in der eine erwachsen gewordene Protagonistin sich in Hollywood wiederfindet und dort mit den fiktionalisierten Doppelgängern allerlei realer Stars verkehrt; in ihrer Darstellung dieser cour unserer Zeit mixt Darrieussecq auf den Spuren Lafayettes (Zeit-)Geschichte und Fiktion (wobei George Clooney sich als souveräner Wiedergänger Henris II erweist). Dies gilt aber auch für Emmanuelle Bayamack-Tam, deren Princesse-Roman sich zwischen kleinbürgerlicher Vorstadt und marginaler Gegengesellschaft (Gefängnis, Transgender-Nachtclub) entfaltet, während Amélie Nothomb eine selbstbewusste bourgeoise ‚Princesse‘ - nicht zu ihrem Nachteil - mit dem surrealen Standesdünkel eines absurd anachronistischen spanischen Granden konfrontiert. Auch unter anderem Aspekt widerfährt der durch und durch aristokratischen, homogen weißen Welt der Princesse de Clèves sukzessive eine fundamentale Modifikation: Bringt schon Raymond Radiguet in seinem „roman créole“ 7 ein Moment freilich noch recht dezenter ethnokultureller Alterität ins Spiel, so wird in zeitgenössischen Variationen der Text Lafayettes auch durch ein postkoloniales Prisma betrachtet. In buntem Gegensatz zum klassischen Prätext, aber auch zur Erstadaption Jean Delannoys und schließlich zur im Jahr 2008 bereits als solche sichtbaren (und problematisierten) ‚Blanche Personne‘ 8 Christophe Honorés setzt Régis Sauders Nous, princesses de Clèves ein überaus farbenfrohes Frankreich in Szene, multikultureller Kontrast zum höfischen Mikrokosmos Lafayettes in seiner exklusiv 5 Pascal Quignard - der auch über diesen Text hinaus eine spezielle Beziehung zum siècle classique unterhält: das Drehbuch zu Alain Corneaus Film Tous les matins du monde basiert auf seinem gleichnamigen Roman (beide 1991) - situiert seinen Plot in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts; Marguerite Yourcenar geht bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts und damit wiederum die Epoche der Princesse zurück (vgl. Coste/ Castells-Faucher 2000: 339). 6 Barnett 2011. 7 Zit. nach Pingaud 1986a: 15. 8 Vgl. Cammas 2008. <?page no="641"?> La Princesse de Clèves, 1678-2018 641 weißen francité. Marie Darrieussecq lässt ihre literaturgeborene ‚princesse de Clèves‘ in Il faut beaucoup aimer les hommes - suite zur réécriture - zur Entdeckung ‚Afrikas‘ aufbrechen und ihre eigene Literatur-/ Kulturgeschichte gegen den Strich lesen; raffiniert wird die Princesse in einem postkolonialen Kontext resituiert. Präsent ist diese Thematik auch in Emmanuelle Bayamack-Tams La Princesse de., mehrfach ‚transgressiver‘, in ein dichtes intratextuelles und transfiktionales Netzwerk verstrickter Roman, der rund um eine Transgender-Hauptfigur - durchaus würdige/ r postmoderne/ r Nachfolger/ in der Lafayette’schen „figure queer“ 9 - das Programm einer post-identitären Ethik jenseits der Geschlechterdichotomie und sonstiger Identifikationszwänge skizziert. Eben die Gender und Genre-Frage hat uns über diesen gesamten Princesse-Parcours hinweg begleitet: Nicht umsonst hat Lafayettes Text ein umfangreiches Corpus feministischer resp. gender- und in den letzten Jahrzehnten auch queer-fokussierter Studien inspiriert. Parallel zur bzw. in direkter Auseinandersetzung mit der entsprechenden Theoriebildung knüpfen die neueren künstlerischen Versionen sämtlich an diese Problematik an; im Filmcorpus ergibt sich hinsichtlich einer gender-spezifischen Ökonomie des Blicks und des Begehrens - zwischen ‚Domestikation‘ einer sanft rebellischen Heldin (Jean Delannoy und wiederum Christophe Honoré) und Inszenierung einer starken, mit professioneller visueller Autorität ausgestatteten Protagonistin (Andrzej Żuławski) - eine enorme ideologische und ästhetische Spannweite. Bemerkenswert schließlich auch die Variationen über eine schon bei Lafayette bei näherer Betrachtung höchst ambivalente, in unserem Corpus teils gestrichene, teils gender-invertierte, wo vorhanden, stets schwierige bis desaströse Mutter/ Tochter-Beziehung: Ausgehend vom klassischen Prätext wird hier die condition féminine im Wandel der Zeiten reflektiert, vor allem auch die heikle Frage weiblicher Komplizenschaft unter den Bedingungen des Patriarchats aufgeworfen. Auch anderweitig machen diverse moderne und postmoderne Fassungen die ideologische Vielschichtigkeit der Princesse - Kreuzungs- und Kristallisationspunkt unterschiedlicher spiritueller und philosophischer Einflüsse zwischen Jansenismus und Cartesianismus - aufs Neue deutlich: Von der explizit thematisierten (Jacqueline Harpman) oder von vornherein impliziten (u. a. Marie Darrieussecq, Emmanuelle Bayamack-Tam) Elimination jeglicher Rest- Religiosität über deren parodistische Reinszenierung (Amélie Nothomb) bis zur Betonung einer christlich-katholischen Dimension (Manoel de Oliveira) reicht das Spektrum dieser literarischen und filmischen Werke, die allesamt auf ihre Weise - und jeweils durchaus argumentierbar - den Lafayette’schen Prätext fortschreiben und als Anlass der Reflexion über eine postmoderne Ethik aktualisieren. Signifikante Transformationen treten bei der Analyse der narrativen Restrukturierung und Re-Akzentuierung einiger Schlüsselszenen und -motive der Princesse zutage. Eindrücklich zeigt dies die produktive Rezeption der in den Texten des 20. und 21. Jahrhunderts vielfach narrativ de-zentrierten, fragmentierten und multiplizierten scène de l’aveu, die, wie bereits einleitend festgestellt, gegenüber der finalen retraite zusehends in den Hintergrund gerät. Dem moralischen Dilemma der Mme de Clèves widerfährt angesichts eines fundamentalen Bedeutungswandels von Liebe und Ehe unweigerlich ein beträchtlicher Plausibilitätsverlust: Unser Corpus illustriert die verschiedenen Strategien, mit deren Hilfe die Autorinnen und 9 Zoberman 2008: 32. <?page no="642"?> 642 Provisorische Conclusio Regisseure dieser literarischen und filmischen Variationen die illegitime Passion der Protagonistin trotz allem in die Postmoderne zu retten versuchen. Frappierende Gemeinsamkeiten zwischen ansonsten sehr unterschiedlichen Werken ergeben sich in der Re-Interpretation der respektiven Nemours-Figuren als Inkarnation sozialer, ethnokultureller oder generationeller Alterität - transparentes und zugleich effizientes Verfahren zur Sicherung bzw. Re-Affirmation eines gewissen Transgressionspotentials und damit der Intensität des amourösen Plots. 10 „Mettre à nu le corps voilé du classicisme, tel est le mot d’ordre qui anime les réécritures contemporaines“: 11 Der in den postmodernen réécritures reflektierte Subjekt- und Liebesbegriff impliziert ein gegenüber der klassisch-abstrakten Romanwelt Lafayettes radikal anders geartetes Verhältnis zu Körperlichkeit und Sexualität. Hinsichtlich der diskreten Sinnlichkeit dieses „livre brûlant“ schließen die Autorinnen der zeitgenössischen Variationen - die Psychoanalytikerin Darrieussecq ebenso wie Amélie Nothomb - nicht zuletzt an die Tradition psychoanalytischer Lesarten der Princesse und insbesondere der nächtlichen Pavillon-Szene von Coulommiers im Gefolge Michel Butors an; 12 aber auch der ‚psychosomatische‘ Tod 13 des M. de Clèves stellt eine poetologische Herausforderung dar, der die hier behandelten Re-Interpretationen mit sehr unterschiedlichen Strategien - zwischen medizinischer Plausibilisierung (Harpman, Żuławski), pragmatischer Umdeutung zum Suizid bzw. Suizidversuch (Darrieussecq, Honoré) und gezielt, ja beinahe provokant kultiviertem Anachronismus (so Oliveira) - begegnen. Im Lauf der Rezeptionsgeschichte der Princesse kommt derart allmählich ein Imaginarium konkreter Leiblichkeit, ja abjekter Kreatürlichkeit ins Spiel. Differieren die filmischen Adaptionen besonders stark bezüglich des jeweiligen - auch wiederum unter dem Gender- Aspekt zu betrachtenden - Umgangs mit Sexualität und Körperlichkeit (ausgeprägt vor allem der Kontrast zwischen der konsequent asexuellen Version Manoel de Oliveiras und der quasi zeitgleich entstandenen Verfilmung Andrzej Żuławskis, der als erster und bisher einziger Princesse-Regisseur eine sexuell überaus aktive Heldin in Szene setzt), so folgen die postmodernen literarischen réécritures sämtlich jener Devise, die ein Protagonist aus dem 17. Jahrhundert in Pascal Quignards La Frontière seiner jungen Frau gegenüber formuliert: „Vous avez trop d’âme. Vous n’avez pas assez de chair.“ 14 Schon Jacqueline Harpman valorisiert - 10 Setzen gleich mehrere Re-Interpretationen der Princesse derart auf Vergrößerung der Distanz zwischen zwei Figuren, die bei Lafayette ebenbürtige Angehörige derselben höfischen Gesellschaft sind, so entscheidet sich Roger Vailland als (Ko-)Szenarist von Vadims Adaption der Liaisons dangereuses kontextuell konsequent für eine konträre Strategie: Merteuil und Valmont werden miteinander verheiratet, „um so das Ausmaß ihrer Intrigen und die Verletzung gängiger Moralvorstellungen adäquat ins 20. Jahrhundert transferieren zu können“ (Hagen 2012: 79). 11 Coste/ Castells-Faucher 2000: 338. 12 Butor 1960: 74ff. 13 Vgl. Levillain 1995: 99. 14 Quignard 1994: 33; vgl. dazu Coste/ Castells-Faucher 2000: 338. In Quignards Roman identifizieren Coste und Castells-Faucher auch eine betont krud-kreatürliche Variation der nächtlichen Szene von Coulommiers: Unter dem Blick des sie begehrenden Mannes (und des Erzählers) flieht die schöne Mlle d’Alcobaça von der „table royale“, um sich im Garten - ausgerechnet in einem Lorbeergebüsch - zu erleichtern. In ebendieser Passage verorten die Kommentatorinnen die Aufhebung der „frontière qui sépare idéalisme et réalisme“: „La bassesse de ce qui est évoqué tranche avec le détachement supérieur d’une écriture périphrastique et anoblissante. L’élévation du style dissipe toute grivoiserie, toute scatologie. L’être humain retrouve la totalité de sa personne physique et morale […]“ (ibid.: 337f.). <?page no="643"?> La Princesse de Clèves, 1678-2018 643 dies in dezent-litotischer Lexik auf den stilistischen Spuren Lafayettes - die Differenzierung zwischen Liebe und Sexualität als emanzipatorische Errungenschaft, bewusster Kontrapunkt zu einer traditionellen weiblichen Sozialisierung. Marie Darrieussecqs Clèves bietet eine detaillierte Exploration weiblichen Körper- und Sexualerlebens abseits jeglicher Prüderie, aber auch abseits des pornografischen Klischees; Amélie Nothombs hypertextuelle Experimente mit der Princesse partizipieren an einem idiosynkratischen romanesken Universum, in dem eine problematische bis groteske, auch mit einer spezifischen metatextuellen Dimension ausgestattete Korporalität eine Schlüsselrolle spielt; ein regelrechtes Festival metamorphotischer Körper und diverser Körperflüssigkeiten, über das nicht zuletzt die Grenzen individueller Identität in Frage gestellt werden, inszeniert auch Emmanuelle Bayamack-Tam. Es mag umso bemerkenswerter scheinen, dass diese Texte trotz eines fundamentalen Paradigmenwechsels in puncto Liebe/ Ehe und trotz teils schwelgerisch geschilderter Leiblichkeit und Sexualität in allen erdenklichen Facetten sehr wohl die profunde Liebesskepsis Lafayettes fortschreiben; dies freilich weniger aus jansenistischer und klassisch-rationalitätsorientierter denn aus feministischer resp. gender-kritischer Perspektive. Ausgehend von der Re- Interpretation des klassischen Prätexts wird Passion als patriarchalisches Dispositiv, mehr oder minder pathologisches Resultat einer soziokulturellen Dressur zur ‚Weiblichkeit‘ problematisiert und dabei auch die von Pierre Bourdieu aufgeworfene Frage reflektiert, ob (bzw. wie weit) ‚Liebe‘ gesellschaftliche Machtverhältnisse zu transzendieren vermag (oder vielmehr reproduziert und befestigt). 15 Bei all dem wird unter Anknüpfung an eine bereits in Lafayettes Roman angelegte Ambivalenz ebendiese Passion - im starken Sinne des Wortes - als Erfahrung maximaler Lebensintensität rehabilitiert. „Le profond, dans La Princesse de Clèves, c’est la forme“, um ein letztes Mal Albert Béguin zu zitieren. 16 Über thematische Aspekte hinaus - bzw. stets in enger Interaktion damit - galt es die konkreten hypertextuellen Transformations-Strategien dieser postmodernen réécritures auch auf formal-stilistischer Ebene und aus narratologischer Sicht zu analysieren. Höchst signifikant etwa die Variationen über den spätestens auf den zweiten Blick relativ ‚offenen‘ Schluss der Princesse; wie Manoel de Oliveira zitiert auch Emmanuelle Bayamack- Tam gleichsam jene Geste des Respekts, mit der Lafayettes Erzählinstanz die Heldin nach deren Verzicht aus ihrer Kontrolle entlässt. Nach Radiguets inhaltlicher wie struktureller Öffnung (alle Protagonisten bleiben am Leben, der aveu wird ans Ende des Romans verlagert, das eigentliche ‚Drama‘ damit virtuell jenseits der Grenzen des Textes angesiedelt) schreitet Vilmorin zu neuerlicher - narrativer wie ideologischer - Schließung des Plots: Insofern konservativer als der klassische Prätext, reduziert ihr Roman - wie ein Jahrzehnt später Delannoys filmische Erstadaption - deutlich die (Bewegungs-)Freiheit der Heldin und setzt ihren ästhetisierten Tod unter mehrfach männlich codiertem Blick in Szene. Im Unterschied dazu verzichten die zeitgenössischen Texte und Filme sämtlich auf das traditionelle „general tidying up of the last chapter“ 17 und insbesondere auf die finale mise à mort der Princesse-Figur, die jeweils in eine offene Zu- 15 Vgl. „Post-scriptum sur la domination et l’amour“ in Bourdieu 1998: 116-119. 16 Béguin 1967: 9, zit. nach Laugaa 1971: 328. 17 Woolf 1994. <?page no="644"?> 644 Provisorische Conclusio kunft entlassen wird. Im Rahmen einer postmodernen Ästhetik wird hier kein definitives Narrativ mehr konstruiert, keinerlei allgemeingültige Moral mehr formuliert. Ebenso wie das Ende wird auch der Einstieg der Princesse manch symptomatischer Transformation unterzogen: Auch wenn sie das vielzitierte und vielkritisierte eröffnende historische Panorama Lafayettes durch einen Beginn in medias res ersetzt, reinszeniert Marie Darrieussecq doch - ebenso wie Amélie Nothomb - das sozial rekontextualisierte Debüt ihrer Princesse an einem re-interpretierten ‚Hof‘; verknappen und ent-hyperbolisieren Vilmorin wie Harpman das einleitende Sozio-Porträt ihrer Figuren, so imitiert Christophe Honoré den spezifischen Effekt des Lafayette’schen Incipits - das von Valincour und Fontenelle bis in die Gegenwart eine gewisse Irritation stiftet - minutiös in einem anderen Medium; auch Régis Sauder stellt eine panoramatische Exploration seiner cour an den Anfang eines (Nicht-nur-) Dokumentarfilms, der sich als doppeltes Initiations-Narrativ auch aus der strukturellen Matrix der Princesse entfaltet. Hinsichtlich der berühmten, seit Valincour kontrovers diskutierten Digressionen Lafayettes erweist sich - zwischen quasi-totaler Elimination im Sinne des Fokus auf die „histoire principale“ (Oliveira) 18 bis hin zur kreativen Neugestaltung des einen oder anderen Nebenstrangs (vgl. das Queering der Vidame de Chartres-Episode bei Honoré) - die Analyse filmischer Adaptionen als besonders aufschlussreich. Raymond Radiguet und auch Jacqueline Harpman setzen noch auf einen betont ‚klassischen‘, freilich bereits selbstreflexiv gebrochenen, bei Harpman auch selbstironischen Textduktus, der oft bis ins Detail die Syntax und charakteristische Lexik der Princesse de Clèves zitiert; in späteren réécritures vollzieht sich die ‚Postmodernisierung‘ der Sprache Lafayettes (nach Régis Jauffret „la quintessence de ce cristal de la langue du XVIIe“ 19 ). An die Stelle der klassischen Zurückhaltung der Princesse mit ihrer „pauvreté volontaire du vocabulaire“, 20 ihrer litotischen Dezenz, ihrer ganzen „poésie de la sobriété“ 21 tritt hier - so plastisch bei Marie Darrieussecq - ein interdiskursives Mosaik bzw. eine intendiert dissonante Polyphonie heterogenen Sprachmaterials, von der kanonischen literarischen Referenz bis zu Umgangs- und sexualisierter Vulgärsprache. Im Gegensatz zu Lafayette, bei der die Verwirrung der Gefühle sich stets in geordneter Form artikuliert, reflektieren diese Texte auch auf syntaktischer und stilistischer Ebene das Chaos eines von der Passion heimgesuchten Bewusstseins, aber auch allgemein die sprachliche Verfasstheit eines Subjekts, das - Produkt, Resonanzraum und gelegentlich auch Kriegsschauplatz unterschiedlicher Diskurse - nach (s)einer ‚eigenen‘ Sprache, (s)einer ‚eigenen‘ Erzählung strebt. 18 Frodon 1999. 19 „La princesse de Clèves vue par…“, art. cit. 20 Werlen 2012: 60. Von den Zeitgenossen der Autorin wurde Lafayettes Roman für eine gewisse Tendenz zur lexikalischen Repetitivität kritisiert; bei Marie Darrieussecq - die mit ihrer lockerfragmentarischen, assoziativen Struktur in Clèves auch auf typografischer Ebene ein metaliterarisches Spiel mit dem Text und seinen ‚Leerstellen‘ treibt und damit auf ihre Weise an die Lafayette’schen ‚Ellipsen‘ (vgl. DeJean 1992) anknüpft - wird diese Repetitivität zum gezielt eingesetzten ästhetischen Verfahren bei der Exploration des Bewusstseins ihrer jugendlichen Protagonistin, das in stereotypen Wort- und Satzschleifen immer wieder obsessiv um die gleichen idées fixes (betreffend Liebe, Sexualität, Sozialprestige, normkonforme Weiblichkeit etc.) kreist. 21 Werlen 2012: 60. <?page no="645"?> La Princesse de Clèves, 1678-2018 645 Die postmoderne Demontage bzw. Problematisierung narrativer Autorität prägt auch diese Lafayette-réécritures. Während Radiguet und Harpman noch ein metaliterarisches Spiel mit der Allwissenheit des romancier-démiurge („[…] Dieu et le romancier ont des oreilles partout“, heißt es wie zitiert in Harpmans Roman Le Bonheur dans le crime 22 ) wie mit der klassischen Maxime treiben, setzt sich auch in den hier analysierten zeitgenössischen Princesse-Variationen zusehends der von Coste und Castells-Faucher an ihrem Corpus konstatierte „rejet ou […] dédain pour une écriture datée qui valorise le regard d’un narrateur omniscient“ 23 durch. Die Entscheidung für diese oder jene Erzählstruktur wird im poetologischen Begleitdiskurs der Autorinnen explizit kommentiert: So erprobt Marie Darrieussecq im Zuge der Genese von Clèves narrative Stimmen und Perspektiven - und optiert schließlich für eine heterodiegetische Erzählung mit konsequenter interner Fokalisierung auf Protagonistin Solange; diesem Modell folgt im Wesentlichen auch Amélie Nothombs Roman Barbe Bleue, in dem freilich - Markenzeichen der Autorin - geschliffene direkte dialogische Rede beträchtlichen Raum einnimmt. Die Subjektivierung des Erzählens (bis hin zur quasi-halluzinatorischen Verzerrung einer teilweise nachträglich korrigierten diegetischen Realität), die innere Polyphonie und Inkohärenz eines nicht nur in puncto Gender uneindeutigen Ich, aber auch die Opazität eines schon über die narrative Struktur als undurchschaubar konstruierten Anderen illustriert wiederum paradigmatisch Emmanuelle Bayamack-Tams homodiegetisch erzählte Princesse de. Als narratives Verwirrspiel, in dem über konkurrierende Erzählerfiguren nicht zuletzt ein Medien- und Kulturkonflikt ausgetragen wird, präsentiert sich Stéphane Denis’ parodistischer Kino-Roman Chambres d’hôtes, der diverse Probleme der Literaturbzw. Klassikerverfilmung im Allgemeinen und einer postmodernen Princesse de Clèves-Adaption im Besonderen reflektiert: In bemerkenswerter Vollständigkeit werden hier all jene ästhetischen, ideologischen, aber auch pragmatisch-kommerziellen Fragen aufgeworfen, mit denen die Regisseure der realen Princesse-Filme der Folgejahre konfrontiert sind. Nach einem Überblick über die intermediale Rezeptionsgeschichte der Princesse - auch in Theater, Musik und Malerei - war der zweite Hauptteil dieser Studie der Analyse der bisher vorliegenden kinematografischen Adaptionen des Romans gewidmet, angefangen mit Jean Delannoys gleichnamiger Erstverfilmung aus dem Jahr 1961. Mit seinem breiten Spektrum zwischen historisierendem Kostümfilm und freier Adaption bzw. „proposition de lecture“ (um noch einmal Christophe Honorés Charakteristik seiner Belle Personne aufzugreifen) 24 lädt das Corpus der fünf Film-Princesses zu weiterführenden Überlegungen über Ästhetik wie - kontext- und kulturspezifische - Rezeptionsdynamik der Literaturverfilmung, aber auch das heikle Konzept der ‚Werktreue‘ zwischen esprit und lettre, die nach wie vor recht lebendige Tradition eines seinerseits kritisch zu hinterfragenden „fidelity criticism“ 25 ein. Wie réécritures und literarische Variationen zeichnen sich die postmodernen filmischen Re- Interpretationen der Princesse de Clèves sämtlich durch ihre prononcierte mediale Selbstreflexivität aus. Neben dem klassischen Prätext wird hier auch dessen Rezeptionshistorie - und insbesondere die kinematografische Vorgeschichte - verarbeitet (so erweisen die späteren Regisseure Delannoys Erstadaption mit dem einen oder anderen kleinen Zitat ihre - durchaus 22 Harpman 2004: 12. 23 Coste/ Castells-Faucher 2000: 333. 24 Honoré 2008a. 25 Vgl. Hutcheon 2006: 6f. <?page no="646"?> 646 Provisorische Conclusio kritische - Reverenz; dies gilt für Andrzej Żuławski ebenso wie für Christophe Honoré, der in einer subtil metaleptischen Schlüsselszene auch Manoel de Oliveiras ‚Princesse‘ Chiara Mastroianni in seinen Film holt). Bei allen symptomatischen strukturellen und motivischen Gemeinsamkeiten - betreffend etwa besagte Meta-Dimension, die finale Öffnung der Narration, die erwähnte Tendenz zur ‚Alterisierung‘ der respektiven Nemours-Figuren - ergeben sich jedoch auch signifikante, durch die Eigenart des jeweiligen Mediums konditionierte Differenzen zwischen filmischem und literarischem Corpus: Im Fall der zugleich extrem visualitäts-fokussierten und höchst abstrakten Princesse präsentiert sich die prinzipielle Problematik jedes Transfers eines literarischen Textes in den Film - Medium des ‚sichtbaren Menschen‘ 26 und der Inkarnation auch abstrakt-hyperbolischer Protagonisten wie jener Lafayettes - in verschärfter (und damit besonders erhellender) Form. *** Die Schürf- und Schleifarbeiten in diesem kleinen Steinbruch an der postmodernen Peripherie der Princesse neigen sich - fürs Erste jedenfalls - dem Ende zu. Einige eingangs formulierte Fragestellungen haben ihre provisorische Antwort gefunden, noch mehr neue wurden unterwegs aufgeworfen. Die politischen ‚Staubwolken‘, die im letzten Jahrzehnt rund um Lafayettes Roman aufgewirbelt wurden, setzen sich allmählich - und kristallisieren sich zur neuen Schicht im jahrhundertealten Princesse-Palimpsest; bei allen Ambivalenzen eines politisch motivierten Hypes erscheint diese neue Querelle zumindest nachträglich - wie hier argumentiert wurde - nicht nur in negativem Licht. Zeichnet sich bereits einige Jahre vor der durch Sarkozy ausgelösten Polit-Debatte eine Phase erneut intensivierter aktiver Rezeption des Romans ab, so ist die Princesse - „un livre qui n’avait jamais disparu de la culture française mais qui existe plus que jamais“, um noch einmal Amélie Nothomb zu zitieren 27 - im Gefolge der ‚Affäre‘ präsenter denn je, dies auch über akademische und traditionell literaturaffine Kreise hinaus, wozu die neueren filmischen Adaptionen - zwischen mehr oder weniger latentem Elitismus auch eines vermeintlich ‚demokratischen‘ TV-Spielfilms (La Belle Personne) und gesellschaftskritischem Dokumentarfilm, der auch die ideologische Dimension der Ästhetik bzw. der Filmtechnik deutlich macht (Nous, princesses de Clèves) - einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten. Auch die Frage nach der Relation zwischen Hoch- und Populärkultur zieht sich unterschwellig durch diese nicht nur literatur- und film-, sondern auch kulturwissenschaftlich konzipierte Auseinandersetzung mit dem Rezeptionsparcours eines kanonischen Klassikers, zwischen Musealisierung und ikonoklastischer Gegenreaktion, zwischen Sakralisierung zum literarischen Nationalheiligtum und - auf ihre Art an die klassische Poetik anknüpfender - kreativ-spielerischer Aneignung. Gerade der Princesse-Diskurs des letzten Jahrzehnts zeigt eindrücklich die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen professioneller und amateuristischer Kritik, die dank neuer medientechnischer Möglichkeiten mittlerweile nicht zu unterschätzende öffentliche Präsenz besitzt. In diesem Sinne sind im Lauf dieser Studie immer wieder auch ‚einfache‘ Leserinnen und Leser, ano- und pseudonyme Internet-Kommentatoren zu Wort 26 Vgl. Balázs 2009. 27 Nothomb/ V 2012. <?page no="647"?> La Princesse de Clèves, 1678-2018 647 gekommen; vor allem im Gefolge der ‚Affäre‘, die mit den Worten Nathalie Grandes nicht zuletzt die „irruption“ der Princesse, „devenue point de focalisation d’une réflexion tous azimuts“, 28 in die Welt der Blogs, Foren etc. provoziert, erweist sich die Beschäftigung auch mit diesem ‚wilden‘ interpretatorischen Diskurs als aufschlussreich. Gezielt wurde also manch kleine Exkursion in populärkulturelle Domänen abseits der ‚offiziellen‘ Literatur(-kritik) und der professionellen Verlagslandschaft unternommen: Protestkunst, Online-Diskussionen, aber auch (zumindest punktuell vorhandene) fanfiktionale Variationen erscheinen, wenngleich ästhetisch ‚naturgemäß‘ heterogen, als kulturwissenschaftlich relevanter Beitrag zur zeitgenössischen produktiven Rezeptionsgeschichte der Princesse de Clèves bzw. als signifikantes Komplement zu autorisierter réécriture wie kritischem und akademischem Diskurs. In mancher Hinsicht ist eben an diesem Beispiel auch paradigmatisch die Wirkungsdynamik eines Klassikers - auf unterschiedlichen diskursiven Levels -, die Rekonfiguration literarischer (Sub-)Kulturen und literarischer Autorität in der Gegenwart zu reflektieren. Weiter zu entwickeln wäre im Sinne eines komparatistischen Zugangs aber auch die in Bezug auf romaneskes wie filmisches Corpus mehrfach gestreifte Frage nach Funktion und Status der Princesse wie diverser Adaptionen und Hypertexte in französischem resp. okzidentalfrankophonem und in sekundären Rezeptionskontexten (dies auch in Relation zu anderen nationalen oder internationalen kanonisch-klassischen Werken). Auch wenn diese Studie primär konkret text-, filmbzw. teilweise diskursanalytische und nicht abstrakt methodologische Ambitionen verfolgte, so seien abgesehen von diesen themenspezifischen Fragestellungen abschließend knapp einige potentielle theoretische Anknüpfungspunkte skizziert. Plastisch illustriert das Corpus dieser postmodernen Princesses, in dem der Lafayette’sche Prätext mit zahlreichen anderen literarischen oder filmischen Referenzen verflochten wird, Verfahren und Erscheinungsformen multipler bzw. hybrider (Patchwork-) Hypertextualität: Diese prägt bereits Jacqueline Harpmans Brève Arcadie, mindestens doppelte réécriture der Princesse und des Bal du comte d’Orgel (Lafayette-Hyper- und selbst weiter variierter Hypotext), aber auch Marie Darrieussecqs Il faut beaucoup aimer les hommes, Crossover von Lafayette und Joseph Conrads Heart of Darkness; Amélie Nothomb wiederum kombiniert die Princesse in Barbe Bleue spielerisch mit der Matrix des gleichnamigen, seinerseits durch zeitgenössische Re-Interpretationen gefilterten Märchens. In seiner ästhetischen wie ideologischen Vielfalt lädt dieses Corpus damit auch zur weiterführenden kritischen Reflexion über Hypertextualität im Spannungsfeld der intentiones ein, über eine Poetik der revalorisierten réécriture, über die Problematiken literarischer bzw. künstlerischer ‚Originalität‘, des Plagiats, jener von Harold Bloom (poeto- und psycho-) analysierten ‚Einflussangst‘. Der Melancholie - nicht nur - des postmodernen Dichters, der womöglich sterilisierenden Präsenz der großen kanonischen Vorbilder setzen diese Autorinnen - manchmal nach einigen biografischen und/ oder literarischen Umwegen - vielmehr eine Ästhetik der Einflussfreude, ja der Einflusslust, der paradox vermittelten ‚Originalität‘ entgegen: So ist etwa Marie Darrieussecqs Roman Clèves auch als literaturtheoretisches Statement zu lesen, Fortschreibung und fiktionale Illustration einer programmatisch hypertextuellen Poetik abseits des ‚Plagiats‘. 28 Grande 2010: 64. <?page no="648"?> 648 Provisorische Conclusio Grenzen wurden in dieser Studie nicht nur zwischen den Epochen und den Medien, zwischen Hoch- und Populärkultur überschritten, sondern auch zwischen kreativer und kritischer (ré-) écriture: Von der Leserkorrespondenz des Mercure galant und Valincours ‚transfiktionalem‘ Kommentar bis in die Gegenwart frappiert, wie bereits eingangs angemerkt, in der Rezeptionsgeschichte der Princesse - Passionsgeschichte auf mehreren Ebenen - speziell die enge Interaktion, ja punktuelle Fusion von Textarbeit und Theoriebildung. Wie La Princesse de Clèves selbst - ihrer Kritik insofern immer schon voraus - besitzen auch diese zeitgenössischen Variationen eine prononcierte metatextuelle Komponente. In künstlerischem Werk wie paratextuellem Begleitdiskurs der besprochenen Autorinnen und Regisseure - erstere partiell selbst mit literaturtheoretischer resp. -didaktischer akademischer Expertise ausgestattet, letztere zum Teil ihrerseits literarisch tätig - entfaltet sich eine elaborierte poetologische Reflexion, die bei Analyse und Interpretation der jeweiligen Texte bzw. Filme Hilfe und Herausforderung zugleich war: Auch in dieser seiner metaliterarischen/ -filmischen Dimension konstituiert dieses Corpus einen besonders faszinierenden Untersuchungs-‚Gegenstand‘, der eben gerade nicht auf einen solchen zu reduzieren war. Genug nun also der ‚Staubwolken kritischer Reden‘, 29 die auch und erst recht dieser Klassiker - samt postmoderner Nachkommenschaft - immer wieder elegant abschüttelt; am - niemals letzten - Wort sind die Princesses, von Mme de Lafayette bis Marie Darrieussecq, gilt doch nach wie vor, quer durch die Jahrhunderte und die Medien: „Les personnes galantes sont toujours bien aises qu’un prétexte leur donne lieu de parler à ceux qui les aiment.“ 30 29 Vgl. - wie eingangs zitiert - Calvino 1991: 14 (dt. Formulierung nach Calvino 2013: 10). 30 Lafayette 2014c: 344. <?page no="649"?> Quellenverzeichnis 1 A CHEBE , Chinua (1977): „An Image of Africa. Racism in Conrad’s Heart of Darkness“. In: The Massachusetts Review 18. Reprint in: Robert Kimbrough (Ed. 3 1988 [1961]): Heart of Darkness. An Authoritative Text. Background and Sources. Criticism. London: Norton. 251-261. Online auf URL: http: / / kirbyk.net/ hod/ image.of.africa.html. 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