Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater
Eine transdisziplinäre Annäherung
1221
2018
978-3-8233-9191-3
978-3-8233-8191-4
Gunter Narr Verlag
Teresa Kovacs
Koku G. Nonoa
Postdramatisches Theater verschiebt den Fokus des Theaters von der Representation hin zur Präsenz. Dadurch geraten Aufführungen unterschiedlicher Kulturräume in den Blick, ohne einem Text und damit einem Theater der nationalen Sprachen zu großes Gewicht zu verleihen. Die Beiträge des Bandes entwickeln ausgehend von der Engführung von Postdramatischem und Transkulturellem innovative Methoden und Analyseverfahren gegenwärtiger Theaterformen, Theatertexte und Inszenierungen. Sie plädieren für einen analytischen Zugang zu Theater, der bewusst nationale, kulturelle sowie fachliche Grenzen überschreitet.
Postdramatic theatre shifts the focus of the theater from representation to presence. In so doing, performances of different cultural spaces come into view without overemphasizing a given text and thus a national theatre based on language. Based on the interconnection of the postdramatic and the transcultural, the contributions of this volume develop innovative theoretical frames, methods, and approaches to contemporary theatrical forms, theatrical texts and stagings. They argue for an analytical approach to theatre that deliberately crosses national, cultural and professional boundaries.
<?page no="0"?> Postdramatisches Theater verschiebt den Fokus des Theaters von der Representation hin zur Präsenz. Dadurch geraten Aufführungen unterschiedlicher Kulturräume in den Blick, ohne einem Text und damit einem Theater der nationalen Sprachen zu großes Gewicht zu verleihen. Die Beiträge des Bandes entwickeln ausgehend von der Engführung von Postdramatischem und Transkulturellem innovative Methoden und Analyseverfahren gegenwärtiger Theaterformen, Theatertexte und Inszenierungen. Sie plädieren für einen analytischen Zugang zu Theater, der bewusst nationale, kulturelle sowie fachliche Grenzen überschreitet. Postdramatic theatre shifts the focus of the theater from representation to presence. In so doing, performances of different cultural spaces come into view without overemphasizing a given text and thus a national theatre based on language. Based on the interconnection of the postdramatic and the transcultural, the contributions of this volume develop innovative theoretical frames, methods, and approaches to contemporary theatrical forms, theatrical texts and stagings. They argue for an analytical approach to theatre that deliberately crosses national, cultural and professional boundaries. 24,6 Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 51 ISBN 978-3-8233-8191-4 Kovacs, Nonoa (Hrsg. / Eds.) Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater Teresa Kovacs, Koku G. Nonoa (Hrsg. / Eds.) Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater / Postdramatic Theatre as transcultural Theatre Eine transdisziplinäre Annäherung / A transdisciplinary approach 18191_Umschlag_V3.indd Alle Seiten 20.12.2018 11: 00: 33 <?page no="1"?> Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater Postdramatic Theatre as transcultural Theatre <?page no="2"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 51 begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) <?page no="3"?> Teresa Kovacs, Koku G. Nonoa (Hrsg. / Eds.) Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater / Postdramatic Theatre as transcultural Theatre Eine transdisziplinäre Annäherung / A transdisciplinary approach Unter Mitarbeit von Erin Johnston-Weiss <?page no="4"?> © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0935-0012 ISBN 978-3-8233-8191-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 9 23 39 55 71 87 99 123 Inhalt Teresa Kovacs (University of Michigan) & Koku G. Nonoa (Universität Innsbruck) Vorwort / Preface . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzepte, Paradigmen, Theorien Patrick Primavesi (Universität Leipzig) Überschreitung des (postdramatischen) Theaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günther Heeg (Universität Leipzig) Was ist das transkulturelle Theater? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julius Heinicke (Hochschule Coburg) Post-Hegel, postdramatisch, transkulturell? . Überlegungen zu einer Ästhetik der Entähnlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teresa Kovacs (University of Michigan) & Katharina Pewny (Ghent University) Travelling Concepts, Travelling Theatre? . Transcultural Translations of Performance in Wunderbaum’s Looking for Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roundtable discussion with Christopher Balme (New Zealand, Germany), Günther Heeg (Germany), Eiichiro Hirata ( Japan), Patrick Primaversi (Germany), Mziwoxolo Sirayi (South Africa), and Janine Lewis (South Africa). Moderator: Koku G. Nonoa (Togo, Austria) The Concept of World Theatre in Postdramatic Context: Scientific and Aesthetic Points of Reference and Implications . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Performative Praktiken und Postkoloniale Lektüren Janine Lewis (Tshwane University of Technology) Warping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals as an immersive theatre experience in South Africa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eiichiro Hirata (Keio University) Nô als transkulturelles Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 135 153 179 199 221 237 253 265 285 301 Guy Zimmerman (University of California at Irvine) The Performance of Counter-Sorcery in Lemi Ponifasio’s Tempest: Without a Body . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabian Lehmann (Universität Bayreuth) Wiederholt und Durchgespielt: Deutscher Kolonialismus in Christoph Schlingensiefs The African Twin Towers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entgrenzung und Überschreitung Lore Knapp (Universität Bielefeld) Transkulturalität in Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungen ATTA ATTA und Via Intolleranza II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Koku G. Nonoa (Universität Innsbruck) Jenseits der Freizeitgattungen: Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ . . . Jack Davis (Truman State University) Excess, Failure, Over-identification: the Influence of Camp on Schlingensief ’s Making of Transcultural Theatre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Ortrud Hertrampf (Universität Regensburg) Das Nuevo Teatro Español als postdramatisches Theater transkultureller Prägung: Der Fall Luis Riaza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralf Schnell (Universität Siegen) „Doch nichts ist ungeheurer als die Natur“ - Transkulturalität und Universalität bei Elfriede Jelinek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kollektivität und (Post-)Migration Julia Prager (Technische Universität Dresden) Blöße-Geben. Postdramatische Spielformen der Exophonie in Nicolas Stemanns Inszenierung von Jelineks Die Schutzbefohlenen und Rabih Mroués Riding on a Cloud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan-Tage Kühling (Freie Universität Berlin) Mengen, Netze, Schwärme: transkulturelle Inszenierungsstrategien topologischer und imaginärer Kollektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kevin Rittberger (Berlin) Transkulturalität und das Theater der Vorahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 323 343 357 Ernest W.B. Hess-Lüttich (Berlin/ Bern/ Kapstadt) Ästhetische Erziehung zum Kiezdeutsch? . Anmerkungen zum multi-/ inter-/ transkulturellen Theater anlässlich aktueller Inszenierungen am Berliner Gorki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Olivia Landry (Lehigh University) Anger as Theatrical Form in Sasha Marianna Salzmann’s Zucken . . . . . . . . Autor_innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt <?page no="9"?> 1 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999, S. 241-242. Vorwort Teresa Kovacs (University of Michigan) & Koku G. Nonoa (Universität Innsbruck) Dem vorliegenden Band liegt die Frage zugrunde, inwieweit das Paradigma des postdramatischen Theaters geeignet ist, um eine transkulturelle Theaterwis‐ senschaft zu begründen bzw. um Theaterarbeiten analytisch zu beschreiben, die bewusst nationale, kulturelle sowie fachliche Grenzen überschreiten und die alternative Modelle erproben, um Gemeinschaft herzustellen. Der Band geht von der Beobachtung des Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann aus, der in seiner 1999 publizierten Studie Postdramatisches Theater konstatierte, dass post‐ dramatische Theaterformen und Inszenierungspraktiken nicht so sehr an Re‐ präsentation, sondern viel eher an der Herstellung der Erfahrung des Realen interessiert sind. Dies spiegelt sich in der oftmals provokanten, köperzentrierten Präsenz der Künstler_innen sowie der Unmittelbarkeit der gemeinsamen Er‐ fahrung von Akteur_innen und Publikum wieder. 1 Lehmanns Fokussierung auf theatrale und performative Praktiken erlaubt es, Auf- und Ausführungen in den Blick zu nehmen, ohne einem Text und damit wiederum einem Theater der nationalen Sprachen, das immer erst in andere Kulturräume übersetzt werden muss, zu großes Gewicht zu verleihen. Darüber hinaus wird es möglich, zeitgenössische Spielformen aus historischer Perspek‐ tive zu diskutieren, ohne sie ausschließlich auf das literaturzentrierte Theater zu beziehen. Das postdramatische Theater bearbeitet theatrale und performative Prak‐ tiken heterogener kultureller Kontexte ohne sie hierarchisch zu organisieren. Auf diese Weise durchkreuzt es simplifizierende Unterscheidungen von „Ei‐ genem“ und „Fremdem“, aber auch geschlossene Konzepte von Tradition und Traditionsaneignung und stellt stattdessen komplexere Relationen her. Leh‐ mann selbst schlägt eine „stärker transkulturell orientierte Betrachtungsweise“ vor. Er betont, dass „das dramatische Theater Europas eine Sonderentwicklung“ <?page no="10"?> 2 Hans-Thies Lehmann in: „‚Für jeden Text das Theater neu erfinden‘: Gespräch mit Pia Janke, Karen Jürs-Munby, Hans-Thies Lehmann, Monika Meister, Artur Pelka“, in: Pia Janke, Teresa Kovacs (Hgg.), Postdramatik. Reflexion und Revision, Wien 2015, S. 33-45, hier S. 45. 3 Vgl. Günther Heeg, Das Transkulturelle Theater, Berlin 2017. 4 Vgl. z. B. Bernd Stegemann, Kritik des Theaters, Berlin 2013. sei, weshalb ihm „die Relativierung des spezifisch europäischen Theatermodells durch transkulturell orientierte Forschung überaus wichtig“ 2 erscheine. Der Band schlägt daher vor, das postdramatische Theater auch als transkulturelles Theater im Sinne Günther Heegs aufzufassen. 3 Die Beiträge des Bandes greifen diese Engführung von Postdramatischem und Transkulturellem auf und entwi‐ ckeln davon ausgehend und darüber hinausgehend Methoden und Analysever‐ fahren gegenwärtiger Theaterformen und Inszenierungen. Die Reflexion des Postdramatischen aus der Perspektive des Transkulturellen und umgekehrt lässt beide Konzepte konkreter fassen und verdeutlicht, welch vielfältige analytische Möglichkeiten im Dialog beider Konzepte entstehen. Während das Konzept des postdramatischen Theaters aus der aktuellen thea‐ terwissenschaftlichen Forschung kaum noch wegzudenken ist, findet man den Begriff des transkulturellen Theaters bislang weit seltener in der bestehenden Forschungsliteratur aufgegriffen. Was beide Konzepte allerdings teilen, ist die Unschärfe ihrer Definition. „Transkulturelles Theater“ wird oftmals synonym zu verwandten Konzepten wie inter- und multikulturelles Theater verwendet. Das Konzept des postdramatischen Theaters wiederum hat im deutschspra‐ chigen Raum mittlerweile ein paradoxes Eigenleben erfahren, es hat sich nicht nur aufgrund üblicher Einordnungstendenzen in eine Kunsttradition zu einem Synonym des Regietheaters und der Postmoderne entwickelt, sondern es wird auch verkürzt als „Theater gegen den Text“ oder als den Neoliberalismus stüt‐ zende Spielform definiert. 4 Daher scheint am Beginn eines Bandes, der das Postdramatische für die transkulturelle Untersuchung zeitgenössischer und internationaler Arbeiten stark machen will, eine nochmalige historische Kontextualisierung von Rele‐ vanz zu sein: Der Begriff des Postdramatischen wurde in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft erstmals von Andrzej Wirth 1987 aufgegriffen, um die da‐ mals aktuellsten Formen von Theater zu charakterisieren (allerdings in der Schreibweise „post-dramatisch“). Wirths Beschäftigung mit Theaterformen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist deutlich geprägt von Jean-François Lyotards frühem Ansatz des performativen Theaters. Dieser führte den Begriff der „affirmativen Ästhetik“ ein, um neue Theaterformen zu beschreiben, die durch die „Unabhängigkeit, die Gleichzeitigkeit der Töne/ Geräusche, der 10 Teresa Kovacs & Koku G. Nonoa <?page no="11"?> 5 Jean-François Lyotard, Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 21. 6 Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 2. 7 Einer der frühesten Sammelbände, der diese Frage stellt, ist: Stefan Tigges (Hg.), Dra‐ matische Transformationen, Bielefeld 2008. Wörter, der Körper-Figuren, der Bilder“ gekennzeichnet sind, und die die „Zei‐ chenbeziehung und deren Kluft“ abschaffen. 5 Wirths Anliegen war es, mit dem Begriff „post-dramatisch“ zunächst einen blinden Fleck im theaterwissenschaft‐ lichen Diskurs zu markieren und die Aufmerksamkeit auf all jene Formen zu lenken, die aufgrund ihrer Abweichung von konventionellen Genres bis dahin kaum rezipiert wurden. Wirth entwickelte seinen Ansatz ausgehend von pro‐ minenten Theaterarbeiten von u. a. Robert Wilson, Pina Bausch, Richard Foreman und George Tabori. Er betonte in verschiedenen Publikationen im Kontext der Debatte um die Postmoderne, dass sich das Theater in eine Richtung verändern würde, die die Dekonstruktion der Dichotomie Drama - Theater zur Folge hat. Hans-Thies Lehmann griff den Begriff „postdramatisch“ von Wirth auf. Er verwendete ihn erstmals 1991, um in seinen Vorbemerkungen zur Publikation Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie „Formen des neuen und neuesten Theaters der (Post-)Moderne“ zu beschreiben, die „jenseits des Dramas“ 6 angesiedelt sind. Mit seiner Publikation Postdrama‐ tisches Theater legte er schließlich eine erste umfangreiche Studie vor, die den Anspruch hatte, bestehende Forschungsansätze zusammenzuführen und Be‐ schreibungskategorien für zeitgenössische Spiel- und Inszenierungsformen zu finden. Obwohl das Konzept des postdramatischen Theaters in der deutschspra‐ chigen Forschung fest etabliert ist, wurde es teilweise bereits ad acta gelegt bzw. stellen einige Theaterwissenschaflter_innen in Frage, ob er für das Nachdenken über zeitgenössische Formen und Praktiken des Theaters überhaupt noch brauchbar ist. 7 Nicht nur zeigen die in diesem Band versammelten Beiträge, dass das Konzept des Postdramatischen immer noch aktuell ist, sondern vielmehr plädiert der Band für einen bewussten „Umweg“ zu diesem Konzept in der deutschsprachigen Forschung aus einer kritischen, gegenwärtigen Perspektive, anstatt vorschnell einzig die „Überwindung“ des Konzepts zu proklamieren. Diesem Umweg, so möchten wir argumentieren, wohnt großes Potential inne, um einen die Grenzen des deutschsprachigen Raums überschreitenden fachli‐ chen Diskurs über Theater zu führen. Nachdem nämlich das Konzept lange Zeit als ein „deutsches Phänomen“ diskutiert und zurecht auch problematisiert wurde, erfährt es aktuell international immer größere Aufmerksamkeit und 11 Vorwort <?page no="12"?> 8 Siehe bspw. die Sammelbände: José Romera Castillo (Hg.): Teatro y música en los inicios del siglo XXI, Madrid 2017; Zuzana Augustová, Jan Jiřík, Daniela Jobertová (Hgg.), Ho‐ rizonty evropského dramatu, Prag 2017; Katalin Trencsényi, Bernadette Cochrane (Hgg.), New Dramaturgy, London 2014. 9 Vgl. Heeg, S. 14. 10 Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hgg.), Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, Bielefeld 2012, S. 8. kann daher als eine Basis für einen umfangreichen, internationalen Dialog dienen. Zugleich erlaubt es der historische und kulturübergreifende Ansatz des postdramatischen Theaters, in verschiedenen Wissenschaftslandschaften pro‐ duktiv weitergedacht und mit anderen bestehenden Methoden und Theorien in Verbindung gebracht zu werden. Auch Künstler_innen außerhalb des deutsch‐ sprachigen bzw. europäischen Raums beziehen sich mehr und mehr auf dieses Konzept und ordnen ihre Arbeiten im Bereich des postdramatischen Theaters ein. 8 Die Konzepte des transkulturellen-, inter- und multikulturellen Theaters werden im Band als deutlich voneinander abweichende Konzepte reflektiert, die jedoch verbindet, dass sie kulturelle Begegnungs-, Erfahrungs- und Aushand‐ lungsprozesse zeiträumlich bearbeiten - wenn auch grundlegend verschieden. Theaterarbeiten, denen trans-, inter- oder multikulturelle Konzepte zugrunde liegen, ordnen sich um Kategorien des „Eigenen“ und „Fremden“, wobei diese Kategorien im interkulturellen oder multikulturellen Theater anders besetzt sind als im Denken des Transkulturellen. Günther Heeg folgend wird das Trans‐ kulturelle Theater in diesem Band nicht als eigene Ausformung oder Genre ver‐ standen, sondern als Erkenntnis- und Handlungsmodell. 9 Als genuin kulturelle Praktik weist das Theater im gegenwärtigen Zeitalter der Globalisierungs- und Internationalisierungsprozesse zunehmend trans‐ nationale und -kontinentale Begegnungsformen globaler Kulturen auf. Wäh‐ rend aber „globale Kulturen […] durch ihre Fluidität, Grenzverschiebung bzw. -aufhebung“ gekennzeichnet sind, wie Dorothee Kimmich und Schamma Scha‐ hadat anmerken, „entwickeln [sie] dabei auch neue Strategien des Ein- und Ausschlusses.“ 10 Die ästhetische und wissenschaftliche Reichweite dieser Sach‐ lage eruiert das postdramatische Theater als transkulturelles Theater. Der Band versammelt Beiträge von Theatermacher_innen und von For‐ scher_innen verschiedener Disziplinen aus Europa, Afrika, Nordamerika und Asien. Er setzt sich aus ausgewählten und zu längeren Beiträgen ausgearbeiteten Vorträgen sowie einer Podiumsdiskussion der gleichnamigen internationalen Konferenz zusammen, die zwischen 14. und 16.4.2016 in Innsbruck stattge‐ funden hat. Die Konferenz wurde von Koku G. Nonoa im Rahmen des For‐ 12 Teresa Kovacs & Koku G. Nonoa <?page no="13"?> schungsfelds „Dynamik der Ordung(en)“ vom Forschungsschwerpunkt „Kul‐ turelle Begegnungen - Kulturelle Konflikte“ der Universität Innsbruck initiiert und gemeinsam mit Michaela Senn und Johanna Zorn organisiert. Der Band präsentiert aber auch darüber hinausgehende Beiträge, die Themenfelder und Fragestellungen abdecken, die im Rahmen der Konferenz nicht oder nur am Rande thematisiert werden konnten. Anliegen ist es, die transdisziplinäre For‐ schung als einen integrativen Forschungsansatz für den Sammelband fruchtbar zu machen, um so den gegenseitigen akademischen und praktischen Transfer von Wissen über Theaterforschung und -praxis hervorzuheben und die Kluft zwischen Wissen und Praxis in Bezug auf Theater zu überwinden. Die Beiträge orientieren sich an den von Hans-Thies Lehmann und Günther Heeg entwickelten Begrifflichkeiten. Sie diskutieren beide Konzepte kritisch, erweitern diese durch alternative Ansätze und verweisen damit auf die Produk‐ tivität, die beide Begrifflichkeiten in Kombination mit Theorien und Methoden anderer Disziplinen entwickeln können. Der Band präsentiert ein umfangrei‐ ches Spektrum an Theorien und Methoden, wobei die Theorie- und Methoden‐ diskussion stets anhand konkreter Analysen veranschaulicht und erprobt wird. Obwohl der Fokus des Bandes auf Arbeiten liegt, die in Europa (v. a. in Deutsch‐ land) produziert oder gezeigt wurden, erweitert der Band dieses Spektrum um Arbeiten, die in anderen kulturellen Kontexten erarbeitet und vorgeführt wurden, und lädt damit hoffentlich auch zu einer Neuperspektivierung der europäischen und außereuropäischen Theaterlandschaft ein. Der Band gliedert sich in vier Bereiche: „Konzepte, Paradigmen, Theorien“, „Performative Praktiken und Postkoloniale Lektüren“, „Entgrenzung und Über‐ schreitung“, „Kollektivität und (Post-)Migration“. Der erste Abschnitt „Konzepte, Paradigmen, Theorien“ präsentiert sowohl theoretische Reflexionen der Konzepte „Postdramatisches Theater“ und „Trans‐ kulturelles Theater“, stellt aber auch darüber hinausgehende theoretische Kon‐ zepte und Methoden vor, um das transkulturelle Potential zeitgenössischer Theaterformen zu beschreiben. Dieser Teil wird mit einer international be‐ setzten Podiumsdiskussion beschlossen, die das historische Konzept des „Welt‐ theaters“ im Kontext des postdramatischen und transkulturellen Theaters dis‐ kutiert. Die Aufsätze des zweiten Themenbereichs stellen anhand einer theoretisch reflektierten Projektbeschreibung sowie mit Hilfe konkreter Insze‐ nierungsanalysen Spielformen vor, die das Fremde im Eigenen durch die Refle‐ xion performativer Praktiken und durch postkoloniale Lektüren sichtbar ma‐ chen. In den Blick genommen werden Arbeiten, die im europäischen und außereuropäischen Raum realisiert wurden. Der dritte Teil beschäftigt sich mit höchst unterschiedlichen Strategien der Entgrenzung und Überschreitung des 13 Vorwort <?page no="14"?> Theaters. Der Fokus liegt auf Arbeiten Christoph Schlingensiefs, dessen bereits in den frühen 1990er Jahren beginnende Arbeit an der Überschreitung und Ent‐ grenzung des Theaters nach wie vor singulär im deutschsprachigen Raum ist. Darüber hinaus werden textuelle Strategien in den Blick genommen, die über nationale Grenzziehungen hinausgehen. Der vierte und letzte Bereich hinter‐ fragt Inszenierungsformen von „Kollektivität und (Post-)Migration“ im Ver‐ hältnis zum postdramatischen Theater. Ein Schwerpunkt liegt auch in diesem Bereich auf der Analyse konkreter Theaterarbeiten, darüber hinaus wird mit dem „Theater der Vorahmung“ ein Konzept reflektiert, das in unserer von Dis‐ kussionen um Migration, Identität und Zugehörigkeit geprägten Gegenwart ein anderes Modell des Welt-Werdens im Raum des Theaters vorstellt. Wir bedanken uns bei allen, die diese Buchpublikation unterstützt und damit erst möglich gemacht haben. Allen voran bei Erin Johnston-Weiss und Eva Triebl, die bei der Transkription der Podiumsdiskussion und beim Lektorat der englischsprachigen Beiträge mitgearbeitet haben. Darüber hinaus beim Land Tirol, der Universität Innsbruck vertreten durch das Vizerektorat für Forschung, die Philologisch-Kulturwissenschaftliche Faktultät und den Forschungsschwer‐ punkt „Kulturelle Begegnungen - Kulturelle Konflikte“ für die finanzielle Un‐ terstützung des Projekts. Nicht zuletzt gilt ein großes Dankeschön dem Her‐ ausgeber dieser Reihe, Christopher Balme, und Kathrin Heyng, unserer Lektorin beim Narr Francke Attempto Verlag, die uns während des Entstehungsprozesses des Buches mit hilfreichen Tipps und Anregungen zur Seite gestanden sind. Ann Arbor, Innsbruck, Juli 2018 14 Teresa Kovacs & Koku G. Nonoa <?page no="15"?> 11 Cf. Hans-Thies Lehmann, Postdramatic Theatre, London 2006, p. 134-135. 12 Hans-Thies Lehmann in: “Für jeden Text das Theater neu erfinden: Gespräch mit Pia Janke, Karen Jürs-Munby, Hans-Thies Lehmann, Monika Meister, Artur Pelka”, in: Pia Janke, Teresa Kovacs (eds.), Postdramatik. Reflexion und Revision, Vienna 2015, p. 33-45, here p. 45. Translated by Eva Triebl. Preface Teresa Kovacs (University of Michigan) & Koku G. Nonoa (University of Innsbruck) The present volume is based on the question of how suitable for the foundation of transcultural theatre studies the paradigm of postdramatic theatre is. More‐ over, the volume is interested in how useful it can be for analytically describing theatrical works which consciously cross national, cultural and disciplinary boundaries and which test alternative models for creating a sense of community. This volume takes as its point of departure an observation by Hans-Thies Leh‐ mann, who stated in his 1999 published study Postdramatisches Theater (Post‐ dramatic Theatre) that postdramatic theatre forms and practices of production are not so much interested in representation, but in creating an experience of the real. This is reflected in the often provocative, body-centered presence of artists and the immediacy of the joint experience of actor and audience. 11 Lehmann’s focus on theatrical and performative practices allows us to con‐ sider performance and implementation without placing too much emphasis on a particular text and thus, in turn, on a theatre of national languages, which must always be translated in order to be comprehensible in other cultural spaces. Postdramatic theatre addresses theatrical and performative practices of he‐ terogeneous cultural contexts without organizing them hierarchically. In this way, it negates not only simplistic and simplifying distinctions between one’s “own” and “foreign”, but also closed concepts of tradition and its adoption, cre‐ ating more complex relations. Lehmann himself proposes a “more strongly transculturally oriented perspective.” He stresses that “the dramatic theatre of Europe” was a “special development”, which is why he considers “the relativi‐ sation of the specifically European model of theatre by transculturally oriented research as highly important.” 12 Thus the present volume suggests thinking of <?page no="16"?> 13 Cf. Günther Heeg, Das Transkulturelle Theater, Berlin 2017. 14 Cf., e.g. Bernd Stegemann, Kritik des Theaters, Berlin 2013. 15 Jean-François Lyotard, “The tooth, the palm, ” in: SubStance 15 (1976), pp. 105-110, here p. 109. postdramatic theatre as a transcultural theatre in the sense of Günther Heeg. 13 The contributions to this volume take up this narrow conceptualization of the postdramatic and transcultural and develop methods and analytical procedures for contemporary forms of theatre and production. The reflexion of the postdramatic from the transcultural perspective and vice versa makes it possible to more concretely grasp both concepts and reveals the large variety of analytical possibilities created by a dialogue between the two concepts. While it is hard to imagine contemporary theatre studies without the concept of postdramatic theatre, the concept of transcultural theatre has been significantly less frequently addressed in the existing literature. What both con‐ cepts share, however, is the imprecision of their respective definitions. “Transcultural Theatre” is often used synonymously with related concepts such as interand multicultural theatre. The concept of postdramatic theatre, in turn, has taken on a paradoxical life of its own in the German-speaking world; it has not only become a synonym for director’s theatre and postmodernity due to their common tendencies towards categorization according to art traditions, but it is also discussed in simplified terms as “theatre against the text” or as a dramatic genre supporting neoliberalism. 14 This is why it seems relevant to begin this volume, which seeks to promote the Postdramatic for the transcultural analysis of contemporary and inter‐ national works, with yet another historical contextualisation: the term ‘Post‐ dramatic’ (albeit spelled “post-dramatic”) was first taken up in German theatre studies by Andrzej Wirth in 1987 to characterize the then-latest forms of theatre. Wirth’s discussion of theatre forms of the second half of the 20 th century is clearly shaped by Jean-François Lyotard’s early performative theatre approach. It was he who introduced the term “affirmative aesthetics” to describe new forms of theatre which are characterized by the “independence and the simul‐ taneity of noises-sounds, of words, body arrangements, images” and which abolish the “sign relation and its hollowness.” 15 With the term “post-dramatic”, Wirth initially sought to mark a blind spot in academic theatre discourse and to direct attention to all those forms which had largely been ignored because of their divergence from conventional genres. Wirth developed his own approach based on prominent theatre works like, e.g., those by Robert Wilson, Pina Bausch, Richard Foreman, and George Tabori. In the context of the postmo- 16 Teresa Kovacs & Koku G. Nonoa <?page no="17"?> 16 Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, p. 2. Translated by Eva Triebl. 17 One of the earliest edited volumes that raised this question is: Stefan Tigges (ed.), Dramati‐ sche Transformationen, Bielefeld 2008. 18 Cf., e.g., the edited volumes: José Romera Castillo (ed.): Teatro y música en los inicios del siglo XXI, Madrid 2017; Zuzana Augustová, Jan Jiřík, Daniela Jobertová (eds.), Horizonty evropského dramatu, Prag 2017; Katalin Trencsényi, Bernadette Cochrane (Eds.), New Dramaturgy, London 2014. dernism debate, he stressed in various publications that theatre had changed in a way that would result in the deconstruction of the drama - theatre dichotomy. Hans-Thies Lehmann adopted Wirth’s term “post-dramatic”. He first used it in his initial remarks on the 1991 publication Theater und Mythos. Die Konsti‐ tution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie to describe “forms of new and latest theatre in (Post-)Modernity” which are situated “beyond drama.” 16 In his publication Postdramatic Theatre he presented his first comprehensive study aimed at bringing together existing research approaches and finding descriptive categories for contemporary forms of play and performance. Even though the concept of postdramatic theatre is firmly established in the German-speaking research context, it has already been partly abandoned, and there is increasing doubt that it is still useful for analyzing contemporary theatre forms and practices. 17 The contributions in this volume show not only that the concept of the Postdramatic is still up-to-date, but also advocate that German-speaking re‐ search take a deliberate detour to postdramatic theatre from a contemporary critical perspective instead of simply proclaiming that this concept should be “overcome.” This detour, we shall argue, bears great potential for leading scholarly discourse beyond the boundaries of the German-speaking world. This is because this concept, after having been discussed and, rightly, called into question as a “German phenomenon”, is increasingly attracting inter‐ national attention and can therefore serve as the basis for comprehensive, in‐ ternational dialogue. Simultaneously, the historical and cross-cultural approach of postdramatic theatre can be productively advanced in various academic dis‐ ciplines and be placed in relation to other existing methods and theories. Fur‐ thermore, artists from outside of the German-speaking and/ or European geo‐ graphical context are increasingly referring to this concept, situating their work in the field of postdramatic theatre. 18 Trans-, interand multicultural theatre are reflected upon in this volume as clearly divergent concepts, which are however still related insofar as they ad‐ dress cultural processes of encounter, experience and negotiation in spatiotem‐ poral terms - albeit in fundamentally different ways. While works of theatre based on trans-, interand multicultural concepts situate themselves in terms 17 Preface <?page no="18"?> 19 See Heeg, p. 14. 20 Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (eds.), Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, Bielefeld 2012, p. 8. Translated by Eva Triebl. of the categories “own” and “foreign”, there are conceptualized differently in intercultural and multicultural theatre than in the transcultural context. Ac‐ cording to Günther Heeg, in this volume transcultural theatre is not understood to be a form or genre in its own right, but as an epistemic and action model. 19 As a genuinely cultural practice, theatre in the contemporary context of glob‐ alization and internationalization increasingly displays transnational and trans‐ continental forms of encounter among global cultures. However, while “global cultures […] are marked by their fluidity and the shift or, respectively, abolish‐ ment of boundaries”, as Dorothee Kimmich and Schamma Schahadat note, “[they] also develop new strategies of inand exclusion in this process.” 20 The aesthetic and academic scope of this situation is explored by postdramatic the‐ atre as transcultural theatre. This volume unites contributions by theatre makers and researchers across va‐ rious disciplines from Europe, Africa, North America, and Asia. It is made up of selected talks that have been elaborated into longer contributions as well as a roundtable held at an international conference with the same title, which took place in Innsbruck between April 14 and 16, 2016. The conference was initiated by Koku G. Nonoa within the framework of the University of Innsbruck’s “Dynamics of the Order(s)” within the research area “Cultural Encounters - Cultural Conflicts” and was organised together with Michaela Senn and Johanna Zorn. In addition to that, this volume presents contributions covering topics and questions that could not be addressed in depth at this conference. The aim is to cement transdisciplinary re‐ search as an integrative research approach for this edited volume in order to high‐ light a mutual academic and practical transfer of knowledge about theatre research and practice and to overcome the gap between theory and practice. The contributions are oriented towards the terms developed by Hans-Thies Lehmann and Günther Heeg. They discuss both terms critically, expand them by introducing alternative approaches, thus emphasizing the productivity which both concepts can develop when combined with theories and methods from other disciplines. This edited volume presents a comprehensive range of theories and methods, whereby every theoretical and methodological discussion is illustrated with and tested on concrete examples. Even though this volume focuses on works that were produced or performed in Europe (mainly in Germany), it supplements this spectrum with works created and staged in other cultural contexts and thus 18 Teresa Kovacs & Koku G. Nonoa <?page no="19"?> hopefully invites a new perspective on the European and non-European thea‐ trical landscape. The present volume is divided into four thematic areas: “Concepts, Paradigms, Theories”, “Performative Practices and Postcolonial Readings”, “Eliminating and Crossing Boundaries”, and “Collectivity and (Post-) Migration.” The first part, “Concepts, Paradigms, Theories”, is a theoretical reflexion on the concepts of “Postdramatic Theatre” and “Transcultural Theatre”, but beyond that also in‐ troduces theoretical concepts and models to describe the transcultural potential of contemporary theatre forms. This part concludes with a podium discussion with international participants debating the historical concept of ‘World Thea‐ tre’ in the context of postdramatic and transcultural theatre. The contributions from the second thematic area draw upon theoretically reflective project description and concrete production analysis to present dra‐ matic forms which make visible the “foreign” in one’s “own” by reflecting on performative practices and postcolonial readings. The works examined were created in both the European and non-European context. The third part of this volume sheds light on highly differentiated strategies of eliminating and crossing the boundaries of theatre. Emphasis is put on Christoph Schlingensief, whose transgressive works are still unique in the German-speaking area since his debut as a theatre director in the early 1990’s. Additionally, textual strategies are explored which serve to transcend national boundaries. The fourth and last part calls into question forms of staging “Collectivity and (Post-)Migration” in relation to postdramatic theatre. This section also focuses on the analysis of concrete theatre works, and beyond that, the reflexion on the concept of “Theatre of ‘Pre’mitation’”, which in our discussion of migration, identity and belonging proposes an alternative approach to “becoming a world” in the theatrical sphere. We would like to thank all those who have supported and thus made possible this publication. Above all, we are grateful to Erin Johnston-Weiss and Eva Triebl, who helped transcribe the podium discussion and proofread the contri‐ butions in English, but also to the federal state of Tyrol, the University of Inns‐ bruck represented by the Vice Rectorate for Research, the Faculty of Philology and Cultural Studies and the Research Area “Cultural Encounters - Cultural Conflicts” for financially supporting the project. Last but not least, we would like to express our gratitude towards the publisher of this volume, Christopher Balme, and Kathrin Heyng, our editor at Narr Francke Attempo publishing house, who assisted us with helpful advice and valuable suggestions during the work on this edited volume. Ann Arbor, Innsbruck, July 2018 19 Preface <?page no="21"?> Konzepte, Paradigmen, Theorien <?page no="23"?> 1 Vgl. Andrzej Wirth, Flucht nach vorn. Gesprochene Autobiografie und Materialien, Leipzig 2013, S. 261; sowie dessen Gießener Antrittsvorlesung, ebd., S. 206-207. 2 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999. Siehe dazu auch Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Theater fürs 21. Jahrhundert. Sonderband Text + Kritik, München 2004. Überschreitung des (postdramatischen) Theaters Patrick Primavesi (Universität Leipzig) Mit dem Begriff postdramatisches Theater lassen sich verschiedene Tendenzen in der Theaterpraxis der letzten Jahrzehnte zusammenfassen. Damit geht es je‐ doch nicht nur um ästhetische oder formale Prinzipien, sondern auch um struk‐ turelle und institutionelle Faktoren. Das sind vor allem neue Arbeitsweisen in einer zunehmend von technischen Medien geprägten Wahrnehmungswelt ebenso wie eine direktere Kommunikation mit Zuschauenden bis hin zu ihrer aktiven Teilnahme. Szenische Aktionen finden häufiger in urbanen Umge‐ bungen außerhalb der Bühnenhäuser statt und schaffen eigene Räume und Situationen der Begegnung. Gewiss hat sich das Attribut „postdramatisch“ als hilfreich erwiesen, um die anhaltende Transformation zeitgenössischer Thea‐ terformen zu beschreiben und deren Verhältnis zur Tradition des Dramas ebenso wie zu den historischen Avantgarden zu erhellen. Andererseits sind mittlerweile - vierzig Jahre nach der Prägung des Begriffs postdramatisches Theater durch den polnischen Theatertheoretiker Andrzej Wirth 1 und fast zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Hans-Thies Lehmanns gleichnamiger Studie 2 - eine Viel‐ zahl von Problemen zu Tage getreten, welche zum Teil schon die Kategorie postdramatisch selber betreffen, vor allem aber aus ihrer verallgemeinerten, mitunter paradoxalen Anwendung resultieren. Geboten erscheint außerdem eine Erweiterung des diskursiven Horizonts auf Kontexte zeitgenössischer Theaterarbeit. Dabei sind Funktionen und Wirkungsweisen von theatralen Praktiken auch im Verhältnis zum Kulturbegriff und seiner Differenzierung mit Perspektiven der Transkulturalität zu diskutieren. Im Folgenden geht es um die Frage, inwieweit die für Theater, Tanz und Performance strukturell relevante Dynamik der Überschreitung (Transgression, Transition, Transformation etc.) <?page no="24"?> 3 Vgl. Jean-François Lyotard, Postmoderne für Kinder, Wien 1987, S. 26. 4 Vgl. Umberto Eco, Nachschrift zum „Namen der Rose“, München 1986, S. 77. 5 Vgl. Lyotard, S. 104-105. geeignet ist, die Kategorie des Postdramatischen auch in ihrer eigenen Histori‐ zität genauer zu bestimmen. 1. Postmoderne, prä/ post und kein Ende In seiner Studie Das Postmoderne Wissen konstatierte Jean-François Lyotard be‐ reits 1982, dass die gängige Auffassung von Postmoderne als einer Stilrichtung und einer historisch begrenzten Epoche jenseits der Moderne problematisch bleibt. 3 Vielmehr hat jede Moderne ihre eigene Postmoderne, wird von dieser nicht einfach beendet und abgelöst, sondern selbst hervorgebracht, wie das auch Umberto Eco in seiner Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘ bemerkt hat. 4 So ent‐ faltet die Postmoderne, als eine Phase der Ausweitung und Relativierung von sicher geglaubten Standpunkten, Methoden und Prinzipien, ihrerseits die Ten‐ denz, neue Abgrenzungen und Dogmen hervorzubringen. Lyotard zufolge wäre das selbst schon zur Konvention gewordene Modell der epochalen Ablösung und Ersetzung eher zu überführen in ein prä/ post-Verhältnis, in eine Dynamik der unablässigen Überprüfung, Auflösung und kritischen Reformulierung theo‐ retischer Positionen. Dieser Ansatz ist auch für die Diskussion um postdrama‐ tische Theaterformen aufschlussreich. Anstatt darin bloß eine lineare Phase der Ablösung vom dramatischen Text zu sehen, ist vielmehr von einem Wechsel‐ verhältnis auszugehen, von beweglichen Korrelationen und Impulsen - keine vermeintliche Überwindung also, die nur zum unbewussten und zwanghaften Wiederholen des Verdrängten führen würde, sondern vielmehr - angelehnt an die Terminologie der Psychoanalyse - ein Prozess des Durcharbeitens, wie Lyo‐ tard ihn als eigentliche Leistung der modernen Kunst-Avantgarden beschrieben hat. 5 Damit wäre immerhin der Aporie zu begegnen, dass von einem völligen Verschwinden aller literarischen und theatralen Formen des Dramas ja auch dann keine Rede sein kann, wenn ihre einstweilige, auf das 18. Jahrhundert zu‐ rückgehende Vorherrschaft doch offenkundig beendet ist. So aber kann gesagt werden, der historische Gehalt des Begriffs „postdramatisches Theater“ liegt in der Relativierung des Dramas als eines - bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zumeist noch absolut geltenden und hierarchisch übergeordneten - Paradigmas theatraler Praktiken. Dass die Krise des Dramas bereits früher, nämlich Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte und dass seither das zentrale Formprinzip des Dialogs immer weiter dekonstruiert wurde, hat Peter Szondi in seiner Theorie des modernen Dramas 24 Patrick Primavesi <?page no="25"?> 6 Vgl. Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt am Main 1963, S. 12-13. schon 1956 ausgeführt. Darin geht er vom zunehmenden „Problematischwerden der dramatischen Form“ und ihrer „Verhinderung“ aus, die aber nicht bloß ein einziges Element der traditionellen, systematischen und normativen Gattungs‐ poetik seit Aristoteles betrifft, sondern diese als solche in Frage stellt. 6 Grund dafür ist die am Drama besonders deutlich hervortretende Durchdringung lite‐ rarischer Formen mit geschichtlichen Prozessen. In ihrer unvermeidlichen Aus‐ einandersetzung mit Umbrüchen der gesellschaftlichen Realität, vor allem mit einem radikal veränderten Status des Subjekts in der modernen, industriali‐ sierten und durchökonomisierten Massengesellschaft, stößt die im Drama noch auf das Menschenbild der Neuzeit gegründete Form des Dialogs an ihre Grenzen. Spätestens mit Erwin Piscator und Bertolt Brecht erwiesen sich neue Tendenzen zum Epischen, zur Unterbrechung der dramatischen Illusion und zur Einbin‐ dung übergreifender Diskurse als notwendige Alternativen zum Strukturprinzip des Dramas als einem dialogischen Austrag von Konflikten zwischen hand‐ lungsmächtigen Subjekten. Darüber hinaus hat Brecht mit seiner Theorie des epischen Theaters, mit der verfremdenden Spielweise und der demonstrativen Selbstreflexion des Spiels bis hin zu den Lehrstücken die szenische Praxis ins Zentrum der Reflexion ge‐ stellt. Folgerichtig nannte er seine Theatertexte auch nicht mehr Dramen, son‐ dern Stücke oder Versuche. So zeigt sich gerade im Rückgang auf Brecht, dass schon die Avantgarden des Theaters der 1920er Jahre noch weit mehr in Bewe‐ gung gebracht haben als bloß eine Ablösung der aristotelischen Dramatik durch explizit epische Formen von Dramaturgie. Es ging zugleich um das Theater in seiner konventionellen Form, wie sie seit der Renaissance geprägt war durch eine zunächst höfische Kultur der Repräsentation und der damit verbundenen Machtausübung. Demgegenüber war die Geschichte des bürgerlichen Theaters stets begleitet von Spannungen zwischen einerseits der Instrumentalisierung von Theater für Zwecke der Repräsentation und andererseits der Entfaltung von Repräsentationskritik, sei es auf thematischer Ebene oder auch durch formale Tendenzen. Dieser Grundkonflikt wurde in den modernen Avantgarden und mit der Entstehung von explizit politischen Theaterformen noch verstärkt, indem hier die Dispositive des Dramas und der Darstellung dramatischer Rollen auch als solche in Frage gestellt und die davon ausgehende Normierung theatraler Praktiken überschritten oder unterlaufen wurde, nicht zuletzt im Hinblick auf die konventionell fixierte Distanz zwischen Bühne und Publikum. So stehen aktuelle Formen von postdramatischem Theater, wie von Lehmann gezeigt, in 25 Überschreitung des (postdramatischen) Theaters <?page no="26"?> 7 Vgl. Lehmann, S. 73-112. 8 Vgl. dazu insgesamt: Pia Janke, Teresa Kovacs (Hgg.), „Postdramatik“. Reflexion und Revision, Wien 2015. mehr oder weniger reflektierten Beziehungen zu den Traditionsbrüchen der Moderne, knüpfen an diese an als an ihre eigenen „Vorgeschichten“. 7 Außerdem sind aber noch viele weitere Kontexte und Beziehungen zu re‐ flektieren, die sich von gegenwärtigen Theaterformen zu anderen Epochen und Kulturen ergeben, gerade im Hinblick auf Wechselwirkungen zwischen thea‐ tralen Praktiken und ihren jeweiligen Institutionen, zwischen politischer und ästhetischer Repräsentation und Repräsentationskritik, im Rahmen von gesell‐ schaftlichen, im weiteren Sinne kulturellen Diskursen und auch quer zu ihnen. Dafür erweist sich die Abgrenzung allein vom Drama als eine zu enge Perspek‐ tive, insofern sie fokussiert bleibt auf die in Europa nicht mehr als einige Jahr‐ hunderte umfassende Epoche des literarisierten höfischen und bürgerlichen Kunsttheaters. Die in anderen Epochen der europäischen Kultur prägenden und auch im bürgerlichen Theater seit dem 18. Jahrhundert noch länger fortwir‐ kenden Spieltraditionen des Mittelalters und der Renaissance (zumal der com‐ media all’improvviso) ebenso wie andere performative Praktiken, insbesondere Tanz und Musiktheater, kamen im Horizont einer neuen Theoretisierung und zugleich Kanonisierung des postdramatischen Theaters nur am Rande vor, ähn‐ lich wie auch die außereuropäischen Theatertraditionen. Die Perspektive des postdramatischen Theaters blieb also selbst im Modus der Negation immer noch gebunden an das westeuropäisch geprägte Dispositiv des Dramas und der dar‐ stellenden Kunst, so dass Anschlüsse in theaterhistorischer und transkultureller Perspektive nur indirekt gegeben waren. Schließlich konnte der Begriff des Postdramatischen von literaturwissenschaftlichen Diskursen, insbesondere der Germanistik, dahingehend vereinnahmt werden, dass mitunter auch postdra‐ matisches Theater nur als eine weitere Stilrichtung der dramatischen Literatur aufgefasst wurde. Dafür steht etwa das paradoxe Wort „Postdramatik“, 8 mit dem ein weiteres Mal die vielfältige kulturelle Praxis des Theaters auf die Entwick‐ lung von Textgattungen reduziert wird, was zugleich eine gewisse Blindheit gegenüber längst ausdifferenzierten Disziplinen zur Erforschung der performa‐ tiven Künste und Praktiken manifestiert. Problematisch erscheint der Begriff Postdramatik, wenn damit als Genre wieder eingeführt werden soll, was längst aus dieser normativen Position ver‐ drängt ist. Texte, die heute für eine aktuelle oder zukünftige Theaterpraxis ent‐ stehen, lassen sich nicht einfach als Postdramatik kategorisieren, auch wenn der Markt (Verlage, Schauspielschulen, Agenturen etc.) an griffigen Labels interes‐ siert sein mag. Den Autorinnen und Autoren sollte jedenfalls nicht zugemutet 26 Patrick Primavesi <?page no="27"?> 9 Vgl. Hans-Thies Lehmann, „Wie politisch ist postdramatisches Theater? “, in: Theater der Zeit 10 (2001), S. 10-12. werden, „Postdramen“ geschrieben zu haben. Angebrachter wäre es, von Schreibweisen zu reden, die einzelne Elemente des Dramas ebenso reaktivieren können wie etwa Montage- und Überblendungstechniken des Films, die Auf‐ splitterung von Figuren in heterogene Instanzen, diskontinuierliche Hand‐ lungsverläufe oder den völligen Verzicht auf Handlung, die Arbeit mit verän‐ derten räumlichen Beziehungen zwischen Szene und Publikum, und weitere Elemente von postdramatischem Theater. Diesem elementaren Bezug zu Prak‐ tiken entsprechen eher die Begriffe Theatertext oder Stück, was ja den Vorteil hat, etwas noch Unvollständiges anzuzeigen, Raum zu geben für die immer noch und immer wieder ausstehenden Prozesse der Lektüre, der Inszenierung und nicht zuletzt der Aufführung vor und mit Publikum. Die Rezeption des mittlerweile in viele Sprachen übersetzten Buches Post‐ dramatisches Theater hat aber noch ein weiteres Problem deutlich gemacht: Ei‐ nerseits waren die darin diskutierten Phänomene und Begriffe wichtig für die Selbstreflexion und auch Legitimation von Theaterschaffenden verschiedenster Kulturen jenseits der bis dahin oft noch aus der Kolonialzeit andauernden Vor‐ herrschaft des Dramas als der einzig anerkannten Form von Theater gerade auch da, wo es als Medium eines politischen Widerstands gedient hatte. Inzwischen hat sich aber gezeigt, dass auch in diesen anderen Kulturkreisen die Abgrenzung vom Drama allein noch nicht ausreicht, die Spezifik der jeweiligen Praktiken genauer zu erfassen. Jedenfalls kann gerade eine universalistische Auffassung von postdramatischem Theater den Blick versperren für die strukturellen Pro‐ bleme, die Theaterarbeit derzeit in verschiedensten Kontexten erfährt. Diese haben vor allem zu tun mit dem Verhältnis von Theaterarbeit zur gesellschaft‐ lichen Realität. So klafft eine Lücke zwischen den traditionellen Formen von ausdrücklich politischem Theater, zumal in der Verbindung der späten Stücke von Brecht mit einem realistischen Schauspielstil (z. B. in Indien oder Südame‐ rika), und andererseits den eher indirekten Wirkungsweisen postdramatischer Formen, da diese kaum mehr auf Konfliktthemen oder Ideologien fixierbar sind. An der Debatte um die Frage „wie politisch ist das postdramatische Theater? “ hat Lehmann sich mit wichtigen Thesen beteiligt, zumal mit der Idee einer not‐ wendigen Unterbrechung von Politik. 9 Insofern aber das Politische an den von ihm beschriebenen Theaterformen weder bloß in der Entgegensetzung zum Drama, noch in der Vermittlung inhaltlicher Botschaften liegen kann, ist hier noch von einer anderen Differenz auszugehen, die mit dem Begriff der Reprä‐ sentation selber zu tun hat. 27 Überschreitung des (postdramatischen) Theaters <?page no="28"?> 10 Zu dieser grundlegenden Unterscheidung vgl. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 92. 11 Vgl. Jacques Derrida, „Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Re‐ präsentation“, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1985, S. 351-379. 12 Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, Berlin 2004, S. 109. 13 Jacques Derrida, Marx’ Gespenster, Frankfurt am Main 1996, S. 124. Auch für postdramatisches Theater ist zu unterscheiden, zwischen einer eher affirmativen oder eher kritischen Haltung und Arbeitsweise, zwischen naiver und möglicherweise subversiver Affirmation, zwischen expliziten Strategien und impliziten Taktiken. 10 Insofern ist aber die Kritik von Repräsentationsstruk‐ turen keineswegs überholt. Zwar lässt sich einwenden, dass es keinen Ausweg aus dem für Theater elementaren Wechselverhältnis zwischen Präsenz und Re‐ präsentation geben kann. Wie Jacques Derrida in seiner Lektüre der Theater‐ ideen von Antonin Artaud gezeigt hat 11 und wie auch Jean-Luc Nancy betont, gibt es kein „Außerhalb“ der Repräsentation: „keine ‚Präsentation‘, die nicht schon in der ‚Repräsentation‘ ist, das heißt keine ‚Präsenz‘, die nicht Präsenz der einen den anderen gegenüber ist“ 12 . Gleichwohl bleibt die Analyse mehr oder weniger offenkundiger Machtverhältnisse auch für eine aktuelle Theaterpraxis wichtig, die den Verlust der großen politischen Ideologien zu reflektieren ver‐ sucht, etwa das Gespenstische in der Wiederkehr des Marxismus, dessen Erb‐ schaft die Anerkennung von Schuld und eine Kritik an den historischen Idealen nötig macht. Die Dekonstruktion des Marxismus als System und Heilslehre er‐ öffnet, wie Derrida selbst konstatierte, zugleich die Möglichkeit eines anderen Begriffs des Politischen. Demnach ist es das „emanzipatorische Begehren“, an dem unbedingt festzuhalten sei: „Das ist die Bedingung einer Re-politisierung, vielleicht die Bedingung eines anderen Begriffs des Politischen“ 13 . Unverzichtbar ist vielleicht mehr denn je eine Programmatik von Emanzipation, Selbstermäch‐ tigung, Self-empowerment als konkrete Aufgabe eines auf neue Weise politischen Theaters wie auch als Potential transkultureller Begegnungen, die von thea‐ tralen, szenischen und performativen Praktiken ermöglicht werden. 2. Paradoxien der Selbstermächtigung Die Notwendigkeit, angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in allen sze‐ nischen Künsten und Praktiken zu einer weitergehenden Differenzierung auch des Sammelbegriffs „postdramatisches Theater“ zu kommen, zeigt sich insbe‐ sondere im Hinblick auf ihren jeweiligen Bezug zu gesellschaftlichen Kontexten. So stehen die vielfältigen Theaterformen, die sich in den letzten Jahrzehnten ganz neu oder weiter entwickelt haben, häufig noch quer zu den Traditionen 28 Patrick Primavesi <?page no="29"?> 14 Vgl. Wolf-Andreas Liebert, Kristin Westphal (Hgg.), Performances der Selbstermächti‐ gung, Oberhausen 2015. eines explizit politischen Theaters, vermeiden eindeutige ideologische Bot‐ schaften und entziehen sich einer Instrumentalisierung für didaktische Zwecke. Dabei wird jedoch - als elementarster Aspekt von Kontextualität und gesell‐ schaftlichem Bezug - immer wieder die Funktion und Bedeutung des Zu‐ schauens reflektiert und bearbeitet, in komplexen Situationen der Begegnung, an unkonventionellen Spielorten und im öffentlichen Raum ebenso wie in me‐ dientechnischen Versuchsanordnungen. Die Integration des Publikums ge‐ schieht kaum mehr unvermittelt wie etwa bei den theatralen Aktivierungs‐ formen der 1970er Jahre. Ein demgegenüber erweitertes Spektrum von Inszenierungs- und Spielweisen macht häufig Fremd- und Selbstbestimmung zugleich erfahrbar. Oft sind vermeintlich bloß Zuschauende auf mehreren Ebenen in ein szenisches Geschehen mit einbezogen, gleichzeitig in unter‐ schiedlichen Funktionen: Mitwirkung, Teilnahme, Voyeurismus und Zeugen‐ schaft. Umso mehr stellt sich daher die Frage, inwieweit auch gegenwärtige Theaterformen beitragen können zu einer Selbstermächtigung, zur Förderung einer selbstbestimmten Praxis. 14 Jedenfalls können Zuschauende im Theater, auch bei einer äußerlichen Pas‐ sivität und Distanz emotional und gedanklich weitaus aktiver sein als bei einem wiederum spektakulären selbstmächtigen Agieren, sei es auf der Bühne oder im öffentlichen Raum. Von daher wäre zu fragen, ob weiterhin noch von einer Emanzipation des Publikums als einem politischen Ziel von Theaterarbeit zu sprechen wäre, oder vielleicht eher von längst schon emanzipierten Zuschau‐ enden, die jedenfalls keine Bevormundung mehr brauchen? Wie aber sieht dann politisches Theater aus, wenn das Gefälle des Wissens und des kritischen Be‐ wusstseins außer Kraft gesetzt wird? Welcher Art sind die Wahrnehmungen und Erfahrungen, die dann gemacht werden können, wenn die Spielleitung selbst aufs Spiel gesetzt und in eine Art kollektiver Produktion überführt wird? In‐ wieweit ist das überhaupt möglich und was wird dabei preisgegeben? Inwieweit kann ein solches Geschehen noch geplant und beeinflusst werden und welche Art von Impulsen ist dafür hilfreich? In seinem Buch Das Unbehagen in der Ästhetik beschreibt Jacques Rancière das gegenwärtig erfahrbare Ende der „ästhetischen Utopie“, eine Ohnmacht der Kunst im Hinblick auf die Bedingungen des gesellschaftlichen Daseins. Indem Rancière Kunst grundsätzlich als eine „Aufteilung des Sinnlichen“ definiert, etwa als Anordnung von Körpern „in einem spezifischen Raum und in einer spezifischen Zeit“, gelangt er zur Annäherung vermeintlich selbstgenügsamer, 29 Überschreitung des (postdramatischen) Theaters <?page no="30"?> 15 Vgl. Jacques Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2007, S. 45-46. 16 Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister, Wien 2007, S. 52. 17 Ebd., S. 118. unpolitischer Kunst (die aber gerade darin das Bild von Freiheit und Souverä‐ nität als „Versprechen von Emanzipation“ bewahrt) und andererseits einer en‐ gagierten und revolutionären Kunst, die selbst schon den Widerspruch zwischen Kunst und Leben aufheben will. 15 Politik ist daher in beiden Tendenzen immer schon Teil von Kunst und zumal von Theater, nicht etwa ein Äußeres oder bloß Inhaltliches, das auf der Bühne abzubilden wäre. Grundlegend für den Aspekt der Selbstermächtigung im oder durch Theater ist vor allem Rancières Abhandlung über den „emanzipierten Zuschauer“. In diesem 2004 auf Einladung des Kurators Mårten Spångberg entstandenen Vor‐ trag (für eine Sommerakademie zu zeitgenössischen Theaterformen) geht Ran‐ cière von seiner früheren Studie über den „unwissenden Lehrmeister“ aus, der seine Schülerinnen und Schüler zum Selbstlernen anleiten konnte, ohne ihnen bestimmte Kenntnisse und Erklärungen systematisch zu vermitteln. Dieses Bei‐ spiel ist nun gerade für die Frage nach dem transkulturellen Potential von Theater aufschlussreich, da es um die Möglichkeit einer weitgehend eigen‐ mächtigen Annäherung an eine fremde Sprache kreist: Inspiriert von der Ent‐ deckung, wie schnell seine niederländischen Studierenden in Leuwen sich mit einer zweisprachigen Ausgabe von Fénelons Telemach-Roman die Logik der französischen Sprache erschließen und diese lernen konnten, entwickelte Jo‐ seph Jacotot um 1820 die revolutionäre Methode eines Unterrichts, in dem Lehren auch Emanzipieren bedeutet, in der Annahme einer Wesensgleichheit aller individuellen Intelligenz: „Die Emanzipation ist das Bewusstsein von dieser Gleichheit, dieser Gegenseitigkeit, die einzig der Intelligenz erlaubt, sich durch Verifizierung zu aktualisieren“ 16 . Anstatt das Lehren auf ein Unwissen und eine damit erst produzierte Unfähigkeit der Lernenden zu gründen (wodurch die üb‐ liche Methodik des Unterrichts eher als Verdummung erscheint), könne die Emanzipation individueller Intelligenz deren eigenes Potential freisetzen. Dieser Prozess lässt sich allerdings Rancière zufolge nicht einfach auf größere Gruppen übertragen: „Es kann keine Partei der Emanzipierten, keine emanzipierte Ver‐ sammlung oder Gesellschaft geben. Aber jeder Mensch kann sich immer, jeden Moment, emanzipieren und einen anderen emanzipieren“ 17 . Alle Versuche, das Anliegen der Emanzipation in ein System des gesellschaftlichen Fortschritts zu überführen, hätten bisher die individuelle Gleichheit aufgeopfert im Bemühen um eine gesellschaftliche Gleichheit. Womit Jacotots Projekt jedoch weiter‐ wirken kann ist die Einsicht, dass künstlerische Arbeit nach ähnlichen Prinzi‐ pien funktioniert: 30 Patrick Primavesi <?page no="31"?> 18 Ebd., S. 88. 19 Jacques Rancière, “The emancipated spectator”, in: Artforum International 1 (2007), S. 271-280, hier S. 280. Der Künstler braucht die Gleichheit, wie der Erklärende die Ungleichheit braucht. […] Man kann so von einer Gesellschaft von Emanzipierten träumen, die eine Gesellschaft von Künstlern wäre. Eine solche Gesellschaft würde die Trennung zwischen denen, die wissen, und jenen, die nicht wissen, zwischen denen, die über Intelligenz verfügen, und jenen, die nicht über sie verfügen, ablehnen. Sie würde nur tätige Geister kennen: Menschen, die etwas machen, die darüber sprechen, was sie machen, und somit alle ihre Werke in Mittel umformen, Menschlichkeit zu signalisieren, die ihnen wie allen eignet. 18 Zur Übertragung von Jacotots Methodik auf die Situation des Theaters erwähnt Rancière zunächst die lange, bis in die Antike zurückreichende Geschichte des antitheatralen Vorurteils, wonach Zuschauende im Theater stets passiv und den Illusionen der Bühne unwissend ausgeliefert seien. In diesem Sinne hätten auch die Avantgarden das schlechte Spektakel des Theaters zu ersetzen versucht, sei es durch eine Versammlung, deren Mitglieder sich vor allem ihrer Situation und ihrer Interessen bewusst werden sollten (Brecht), sei es durch eine Zeremonie, bei der die Gemeinschaft ihre vitalen Energien entfalten sollte (Artaud). Der für die Geschichte des modernen politischen Theaters grundlegenden Annahme, das Publikum des Spektakels müsse erst noch aktiviert werden, hält er entgegen, dass es schon durch seine Wahrnehmung und Imagination aktiv ist. Daher aber wäre Theater auf andere Weise zu organisieren, nicht mehr im Bemühen um eine Aktivierung zu gemeinsamer Präsenz (um dann das Spiel der Repräsenta‐ tion zu überwinden), sondern als ein Austausch künstlerischer (und anderer) Fähigkeiten, einschließlich derjenigen des Erzählens und Übersetzens: It should be the institution of a new stage of equality, where the different kinds of performances would be translated into one another. In all those performances, in fact, it should be a matter of linking what one knows with what one does not know, of being at the same time performers who display their competences and spectators who are looking to find what those competences might produce in a new context, among unknown people. 19 Dieser Idee einer neuen Gleichheit im Austausch verschiedenster Fähigkeiten und Erfahrungen entsprechen im zeitgenössischen Theater schon seit Jahren eine Reihe von Tendenzen, die zwar auch an die Avantgarden des 20. Jahrhun‐ derts anknüpfen, die Idee einer Emanzipation aber stärker auf den Austausch und die wechselseitige Förderung individueller Kreativität gründen: Im Unter‐ 31 Überschreitung des (postdramatischen) Theaters <?page no="32"?> schied zu den traditionellen Mustern des isoliert schaffenden Künstler-Genies einerseits, des hierarchisch oder totalitär organisierten Kollektivs andererseits, geht es dabei um Arbeitsweisen, die den Austausch von Kompetenzen ermög‐ lichen, die prinzipiell gleichwertig sind. Dass die Entwicklung, Inszenierung und Aufführung von theatralen Produktionen nicht mehr nur arbeitsteilig und hie‐ rarchisch, sondern als kollektiver Prozess organisiert werden, ist ein wichtiges Element heutiger Theaterarbeit, deren Tätigkeitsfelder (Schauspiel, Regie, Tanz, Choreographie, Dramaturgie, Ausstattung etc.) mit eher kooperativen Arbeits‐ formen ineinander übergehen können. Mit dieser Veränderung im Selbstverständnis der künstlerischen Praxis eng verbunden sind weitere grundlegende Tendenzen, die eine zunehmende Refle‐ xion auf gesellschaftliche, lokale und globale Kontexte manifestieren und gleich‐ zeitig die Erweiterung von Theaterarbeit im Sinne einer transkulturellen Ar‐ beitsweise und Ästhetik. Exemplarisch lässt sich diese Entwicklung an der Gruppe Rimini Protokoll zeigen, welche im Kern aus Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel besteht, die in wechselnden Konstellationen einzeln, zu‐ sammen oder auch mit anderen produzieren. Als eines der Markenzeichen der Gruppe kann die Arbeit mit nichtprofessionellen Akteuren und Akteurinnen gelten, mithin eine gezielte Überschreitung des etablierten Kunsttheaterbe‐ triebs. So hat Rimini Protokoll seit über fünfzehn Jahren für Bühnenproduktio‐ nen an deutschen und internationalen Theatern immer wieder Menschen aus unterschiedlichsten Tätigkeitsbereichen eingeladen, ihre jeweiligen Erfah‐ rungen und Kompetenzen vorzustellen. Dabei fungieren sie als Experten des Alltags, die ihr Publikum auch ohne professionelle Schauspieltechnik erreichen und im Rahmen des jeweiligen Szenenablaufs auf ungewohnte Weise anspre‐ chen können. Was daran interessiert und den Erfolg dieser Arbeitsweise be‐ gründet hat, ist nicht bloß der Effekt des Authentischen oder gar die Befriedi‐ gung einer Schaulust wie im Reality-TV. Im Gegenteil wird ein jeweils spezifischer theatraler Rahmen geschaffen, in dem außer der Eigenlogik der vorher recherchierten Themen auch die beteiligten Persönlichkeiten auf die Dramaturgie einwirken, z. B. Älterwerden in Sitzgymnastik Boxenstopp (2001), Umgang mit Sterben und Tod in Deadline (2003), Gerichtsverhandlungen in Zeugen! Ein Strafkammerspiel (2004), Wahlkampf und Lokalpolitik in Wallen‐ stein (2005), Nachrichtenproduktion in Breaking News (2008), oder die statisti‐ sche Analyse der Großstadtbevölkerung in 100% (2008 in Berlin, seither inter‐ national in vielen weiteren Städten). In all diesen Produktionen findet eine Selbstermächtigung zumindest inso‐ fern statt, als die Agierenden die durchaus theatralen Routinen, die sie sich in Alltag und Beruf angewöhnt haben, auf der Bühne zeigen, ohne dass sie - wie 32 Patrick Primavesi <?page no="33"?> 20 Vgl. Günther Heeg, Das transkulturelle Theater, Berlin 2017. sonst üblich - durch professionelles Schauspiel repräsentiert werden (voraus‐ gesetzt, sie hätten überhaupt eine Chance, dass ihr Leben literarisch bearbeitet und dieses Stück dann auch inszeniert wird). Die andere Ermächtigung betrifft aber die Zuschauenden, die ihrerseits einen stärkeren Bezug zu Aufführungen entwickeln können, in denen ihnen nicht nur professionell perfektionierte Kunstleistungen präsentiert werden, sondern auch die Erfahrungen ihres ei‐ genen Alltags vorkommen, so dass sie sich selbst als zumindest potentiell ebenso berechtigte Akteurinnen und Akteure begreifen können. Wie die Anwendung von Jacotots Experiment mit der intellektuellen Gleich‐ heit auf den Austausch von Fähigkeiten und Kompetenzen zwischen allen Be‐ teiligten einer Aufführung zeigt, liegt die Möglichkeit zur Emanzipation viel‐ leicht gerade in einem singulären Plural-Sein (Nancy), in einer individuellen Gleichheit, die immer wieder mit der Fortdauer einer sozialen, kulturellen und ökonomischen Ungleichheit konfrontiert ist. Emanzipation wäre demnach auch kein einmaliger, von außen definierter Akt, wie es der Begriff der Ermächtigung noch suggeriert, sondern ein unablässiger Prozess. Ein Theater der Transkul‐ turalität schaffen hieße, diesen Prozess in jeder Richtung zu ermöglichen, ohne ihn bestimmten Bedingungen oder Zwecken unterzuordnen, also auch nicht einer Repräsentation kultureller Identität, vielmehr ihn zuzulassen als offenes Experiment. Solche Experimente nicht nur für ein begrenztes Publikum durch‐ zuführen, sondern mit einer breiteren Öffentlichkeit, war seit jeher ein Anliegen von Theaterschaffenden, die damit zugleich die Grenzen ihrer Kultur durch‐ lässig zu machen versuchten. Dieser Aspekt soll nun abschließend noch etwas vertieft werden, da er zugleich produktive Formen für einen Umgang mit dem Fremden eröffnet, dieses nicht als Bedrohung von Kultur, sondern als deren ele‐ mentare Voraussetzung und Entwicklungsbedingung erweist. 3. Überschreitung des Theaters Transkulturalität als Perspektive ermöglicht und erfordert, Theater quer zur Fixierung von Identitäten und Gewissheiten zu denken, und Theater nicht nur als künstlerische Praxis zu verstehen, sondern in seinen Wechselwirkungen mit kulturellen, politischen und ökonomischen Kontexten. 20 Theater birgt daher immer schon die Möglichkeit zu seiner eigenen Überschreitung, im Auszug aus etablierten Räumen und Institutionen ebenso wie mit der Überwindung kon‐ ventioneller Auffassungen von Schauspiel als Abbild von Wirklichkeit und Aus‐ druck kultureller Identität. Überschreitung wäre hier auch in Annäherung an 33 Überschreitung des (postdramatischen) Theaters <?page no="34"?> 21 Michel Foucault, „Vorrede zur Überschreitung“, in: Ders., Dits et Ecrits. Schriften. Bd. 1, Frankfurt am Main 2001, S. 320-342. die von Michel Foucault in Anschluss an Georges Bataille formulierte Erfahrung einer existenziellen Infragestellung des Subjekts zu verstehen, das mit den Grenzen seines Seins (im Rausch, in der Sexualität, in der Religion, im Wahnsinn etc.) spielt anstatt sie bloß überwinden zu wollen. Diese Art von Überschreitung „durchbricht eine Linie […], die sich hinter ihr sogleich wieder in einer Welle verschließt, die kaum eine Erinnerung zulässt und dann von neuem zurück‐ weicht bis an den Horizont des Unüberschreitbaren“ 21 . Zumindest da, wo sich postdramatisches Theater der Performance und dem Happening nähert, arbeitet es - als ein Theater der Überschreitung - mit einer ähnlichen Dynamik der radikalen Verausgabung. Der Impuls zur Überschreitung betrifft dann aber nicht nur das Drama, sondern strukturell auch das damit verknüpfte Menschenbild und schließlich Kultur insgesamt, sofern diese noch im Sinne von Identität, Na‐ tionalität, stabiler Zugehörigkeit aufgefasst wird. Gleichzeitig werden auch die Räume und Erscheinungsweisen des Publikums in Frage gestellt, einer quanti‐ tativen und qualitativen Entgrenzung ausgesetzt. Dieser Prozess kann schließ‐ lich das Theater selber erfassen, in seiner Grundbedeutung als Schauplatz ebenso wie in dem davon abgeleiteten Bezug auf szenische und performative Praktiken aller Art. Überschreitung des Theaters hieße dabei sowohl die Über‐ windung von Sparten, Gattungen und Disziplinen, deren Entwicklung ohnehin nur von ihrer andauernden Wechselwirkung her zu begreifen ist, wie auch die Entgrenzung des Schauplatzes, der weit über die konventionellen Bühnenge‐ bäude hinaus als Situation zwischen Agierenden und Zuschauenden überall entstehen kann. Nicht von ungefähr war die Idee des Nationaltheaters, eng verbunden mit der Idee einer nationalen Literatur und Kultur, bei ihrer allmählichen Realisierung im „langen“ 19. Jahrhundert auch geprägt durch die zunehmende Abgrenzung theatraler und szenischer Praktiken von der sie umgebenden gesellschaftlichen Realität. Die Errungenschaften des illusionär abgeschlossenen, als Guckkasten perfektionierten Kunstraumes wirken bis heute nach im Dispositiv des drama‐ tischen und zugleich auf die baulich fixierte Trennung vom Publikum angewie‐ senen Theaters. Daher können umgekehrt die Überschreitung dieses immer noch dominanten Theatertyps und der Auszug aus oder genauer: die Rückkehr in öffentliche Räume zugleich eine Erweiterung des gesellschaftlichen und kulturellen Horizonts von Theater bewirken. Die damit absehbare erneute Er‐ weiterung des Spektrums theatraler Praktiken geht jedenfalls über die Ablösung vom Drama hinaus. Transkulturelles Theater wäre mithin der weitere Begriff, 34 Patrick Primavesi <?page no="35"?> 22 Siehe dazu etwa die Arbeitsbücher Heart of the City I (2011) und II (2017) der Zeitschrift Theater der Zeit, mit zahlreichen Beispielen für Projekte und Denkanstößen für ein „Stadttheater der Zukunft“. dessen elementares Kriterium einer Begegnung von Agierenden und Zuschau‐ enden nicht länger determiniert ist von den spezifischen, kulturell geprägten Institutionen der Sprache, der Literatur und insgesamt einer jeweiligen Ästhetik und Didaktik. All diese Faktoren können inzwischen auch innerhalb der um Öffnung bemühten Theaterinstitutionen auf neue Weise in den Blick genommen und selbst zum Thema und Material theatraler Prozesse werden, nicht zuletzt das Verhältnis von Kunst und Alltag. So lassen sich theatrale Praktiken in anth‐ ropologischer Perspektive verstehen als eine Kommunikation von Menschen untereinander ebenso wie mit verschiedenen nichtmenschlichen Wesen, die nicht nur adressiert werden sondern zugleich selbst agieren können (insbeson‐ dere Göttinnen und Götter, Tiere, Puppen, Maschinen, Avatare und künstliche Intelligenzen), zugleich aber als eine unablässige Konfrontation mit Erfah‐ rungen von Fremdheit. Anstatt bloß, wie noch im Europa des 19. Jahrhunderts, zur Begründung national-kultureller Identität zu dienen, ermöglichen solche Praktiken eine transkulturelle Überschreitung, die in der gegenwärtigen Welt‐ lage auch weitaus notwendiger erscheint als der Rückzug auf ein vermeintlich „Eigenes“. Beispiele dafür, wie die Überschreitung des konventionellen Bühnengebäudes zugleich einhergehen kann mit der Erweiterung des Theaters auf Horizonte an‐ derer Kulturen im Kontext globalisierter Ökonomien, Kriege und Migrations‐ ströme, bieten wiederum Arbeiten von Rimini Protokoll, vor allem Call Cutta, Cargo Sofia oder auch Situation Rooms. In der Produktion Remote X, die 2013 als Remote Berlin anfing und weltweit in über 30 Städten neu erarbeitet wurde, folgen ca. 50 Teilnehmende einer synthetischen Stimme, die ihnen die urbane Umgebung wie auch ihr eigenes Verhalten fremd erscheinen lässt. Dabei findet die Bewegung stets in der Gruppe statt, die sich gelegentlich aufteilt und von der Stimme öfters als eine „Herde“ oder „Horde“ adressiert wird. Wie in früheren Audiowalks bleibt es den Teilnehmenden weitgehend überlassen, ob sie die an‐ gesagten, „ferngesteuerten“ Bewegungen ausführen oder nur den anderen dabei zusehen. Das Spiel mit der Möglichkeit, den Spielort zu verlassen oder zu ver‐ lagern, erweist sich in der aktuellen Theater-, Performance- und Tanzpraxis aber nicht etwa als ein endgültiger Abschied von der Institution und den Gebäuden des konventionellen Theaters, eher als deren Erweiterung. Oft sind es koope‐ rative Projekte, die den Ort des Theaters in der Stadt neu zu bestimmen suchen und dabei zugleich theatrale Aktionen im urbanen Raum ermöglichen. 22 Dies führt inzwischen gerade für die Frage nach dem Öffentlichen als einer gemein‐ 35 Überschreitung des (postdramatischen) Theaters <?page no="36"?> 23 Vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002. samen Sphäre zunehmend auf Erfahrungen von Fremdheit, auf die Begegnung einander unbekannter Individuen, Gruppen und Kulturen. Der Umstand, dass gegenwärtig der Status des Menschen und die ethischen Werte der modernen westlichen Welt durch Vertreibung und Flucht im rechtli‐ chen Ausnahmezustand hinfällig erscheinen, bringt zahlreiche Theaterschaf‐ fende aber auch wieder dazu, auf die Anfänge der westlichen Theaterkultur zurückzugehen und das in vieler Hinsicht prä-dramatische Modell der griechi‐ schen Tragödie aufzugreifen. Deutlich wird das am Beispiel von Aischylos’ Hiketiden, einem Stück, das in den letzten Jahren oft eine Überschreitung thea‐ traler Konventionen provoziert hat, bis hin zur Öffnung des Theaters (als Haus und als Praxis) zum Asyl und zu der Frage nach dem unmöglichen Ort des The‐ aters in der heutigen Gesellschaft. Dafür ist Aischylos’ Stück hochbedeutend, da hier der Fall der 50 schutzflehenden Frauen aus Ägypten bereits als politi‐ scher Prozess dargestellt wird. Der König Pelasgos kann den Fall nicht allein entscheiden, sondern muss zunächst die Volksversammlung um Rat fragen und abstimmen lassen. Tatsächlich ist der Text der Schutzflehenden sogar eine der frühesten erhaltenen Quellen für ein derartiges demokratisches Verfahren in der Griechischen Kultur. Die Angelegenheit ist von elementarer Bedeutung für alle, geht jeden Bürger etwas an. Um ihrem Gesuch ein größeres Gewicht zu geben, erinnern die Schutzflehenden den König Pelasgos daran, dass er von Zeus selbst bestraft werden könnte, wenn er ihnen kein Bleiberecht gewährt. Später ver‐ gleicht der König sich selbst und das Volk von Argos mit einem Schiff in Not und droht denjenigen welche die Schutzflehenden nicht beschützen damit, dass sie selber verbannt und in Flüchtlinge verwandelt würden. Die theatrale Umkehrung von Flüchtlingen und Aufnehmenden ist bis heute ein wirksames Mittel, um die Ängste von Gesellschaften zu überwinden, die mit Geflüchteten konfrontiert sind. So gab es einige neuere Produktionen dieses Stückes, welche die Schwierigkeiten und Paradoxien der aktuellen Asylpolitik zum Ausdruck zu bringen versuchten, z. B. Enrico Lübbes Inszenierung des Textes Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek am Schauspiel Leipzig (2015). Jelinek schrieb ihren Text bekanntlich mit Bezug auf den realen Konflikt von Flüchtlingen, die 2013 in Wien ein Kirchenasyl erreichen wollten und schließlich von der Polizei deportiert wurden. So thematisiert sie die Macht bürokratischer Verfahren, die einzelne Asylsuchende auf ihre körperliche, aller individuellen Rechte entkleidete Existenz reduzieren, wie es bereits von Giorgio Agamben in Homo Sacer analysiert wurde. 23 Assoziationen mit diesem Kontext waren auch 36 Patrick Primavesi <?page no="37"?> in Lübbes Produktion präsent, welche die Aktualität der Texte von Aischylos und Jelinek gerade in ihrer Verknüpfung verdeutlichte. Die räumliche Situation bestimmte ein verrosteter Schiffsrumpf. Der Chor der Schutzflehenden ver‐ wandelte sich in eine Gruppe von Jelinek-Doubles, dann in eine Masse von Flüchtlingen und schließlich in eine Gruppe von Feriengästen als Hotdogs, die auf ihren Liegestühlen in der Sonne gegrillt werden und sich über die - angeb‐ lich von Flüchtlingen verursachte - Umweltverschmutzung an den Stränden beschweren. Wie Jelineks Text spielte auch die Aufführung mit dem Kontrast zwischen pathetischen Bildern von Leiden und Angst und andererseits einem Zynismus der Banalitäten und stumpfen Vorurteile. Einen anderen Ansatz verfolgte Sebastian Nübling, ebenfalls im Herbst 2015, am Berliner Gorki Theater, und wiederum von Aischylos und Jelinek ausgehend. Darüber hinaus verwendete er aber Ausschnitte der Asyldebatte in deutschen Parlamenten sowie persönliche Erinnerungen der Geflüchteten, die bereits Teil des Gorki-Ensembles geworden waren. Die Stühle wurden entfernt und das Pu‐ blikum war auf einer Tribüne platziert, während das Parkett des Theaters als Versammlungsraum benutzt wurde. Im weitgehenden Verzicht auf festgelegte Rollen, wenn auch durch körperliche Handlungen auf das Stück Bezug neh‐ mend, engagierten sich die Spielenden vor allem in politischen Reden und einer Art Re-enactment der abstrakten Debatte über die neuen Gesetze zu Einwande‐ rung und Asyl. Die Aufführung endete mit einer Versammlung des Publikums um die neuen Mitglieder des Ensembles, die somit Gespräche über ihre persön‐ liche Erfahrung von Flucht und Migration aktiv gestalten konnten, anstatt bloß von anderen repräsentiert zu werden. Auf diese Problematik verwies schon der Titel der Produktion: In Unserem Namen. Gegenwärtig gibt es aber auch eine Tendenz, Theatergebäude und -institutio‐ nen demonstrativ in Asyle zu verwandeln, die für alle offen sein sollen, die eine Bleibe suchen, und als Treffpunkt dienen können für diejenigen, die ihnen helfen wollen. An vielen Bühnen im deutschsprachigen Raum gibt es solche Projekte, die zum Teil den konventionellen Gebrauch der Theaterhäuser weitgehend ver‐ ändern. Diese Entwicklung erscheint einerseits als notwendiger und häufig auch produktiver Impuls zur Öffnung eines mitunter starren Apparates der Reprä‐ sentation auf Prozesse des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels. Ande‐ rerseits bleibt Theater immer noch einer der seltenen Orte, an denen Experi‐ mente nicht zwingend Gewinn bringen müssen. So können sie auch der ansonsten vorherrschenden bürokratischen Verwaltung und ökonomischen Verwertung von Geflüchteten und ihrer prekären Situation entgegensetzen. Wie sich auch an diesen Beispielen zeigt, ermöglicht und erfordert Theater gegen‐ wärtig Praktiken des Inszenierens und Agierens, welche die üblichen Trenn‐ 37 Überschreitung des (postdramatischen) Theaters <?page no="38"?> ungen zwischen „eigen“ und „fremd“ überschreiten. Diese Praktiken eröffnen transkulturelle Perspektiven, mit denen die in vieler Hinsicht problematischen Formen heutiger Migrationspolitik kritisch reflektiert werden können. Die für das Zusammenleben in gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaften elemen‐ tare Frage, wie die mit dem Insistieren auf kultureller Identität immer wieder einhergehenden Tendenzen der Exklusion zu überwinden wären, ist sicherlich Grund genug, auch das Theater als Institution neu zu denken, Überschreitung selbst als eine theatrale Praxis zu begreifen, auszuprobieren und durchzuspielen. 38 Patrick Primavesi <?page no="39"?> 1 Zur Idee des transkulturellen Theaters grundsätzlich: Heeg, Günther: Das transkultu‐ relle Theater, Berlin 2017. Mein Beitrag folgt in Teilen dieser Abhandlung. 2 Zum Begriff des Werdens siehe: Gilles Deleuze, „1. Serie der Paradoxa. Vom reinen Werden“, in: ders., Logik des Sinns, Frankfurt am Main 1993, S. 15-18. 3 Konstruktion hier im Sinne von: Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schwep‐ penhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 701. Was ist das transkulturelle Theater? Günther Heeg (Universität Leipzig) Das transkulturelle Theater, 1 von dem hier die Rede ist, ist im Werden. 2 Es lässt sich nahezu weltweit finden in den Arbeiten des Gegenwartstheaters, aber auch frühere Theaterformen offenbaren das Werden des transkulturellen Theaters einem neuen wissenschaftlichen Blick. Gleichwohl oder gerade deshalb lässt sich dieses Theater nicht als eine besondere Sparte des Theaters verorten. Das unterscheidet den hier vorgestellten Ansatz von dem des interkulturellen The‐ aters. Gegen eine Objektivierung dieses Theaters spricht vor allem, dass es das Resultat wissenschaftlichen Nachdenkens ist über das, was gegenwärtig im Theater und in der Welt geschieht. Das transkulturelle Theater ist eine Idee im Sinne von Gilles Deleuze. Nicht überzeitlich festgezurrt am platonischen Ideen‐ himmel, sondern hervorgebracht durch raumzeitliche Dynamiken, in Bewegung zwischen Virtualität und Aktualität, im Werden. In der Idee des transkulturellen Theaters verbinden sich Theater-Erfahrung und theoretische Reflexion. Erst in der Engführung beider, der erfahrungsgesättigten Konstruktion 3 des transkul‐ turellen Theaters, zeigt sich sein Werden als ein Öffnen der Gegenwart auf Zu‐ kunft hin. Mein Beitrag geht drei wesentlichen Elementen nach, die in der Idee des transkulturellen Theaters in Konstellation treten: Es ist die Dringlichkeit eines „Theaters unter Fremden“, die Notwendigkeit eines „Theaters der Wiederho‐ lung“ und die Bewegungskraft eines „Theaters der Geste“. Auf Ausführungen zu diesen drei Bestimmungen des transkulturellen Theaters folgt die Beschreibung <?page no="40"?> einer Aufführung, die zum Erfahrungsraum des transkulturellen Theaters ge‐ hört. 1. Ein Theater der Fremden Ein Theater der Fremden ist an der Zeit. Das braucht man in diesen Tagen in Deutschland und in Europa nicht eigens begründen. Wir erleben derzeit ein Ausmaß an Fremdenangst und Fremdenhass, das in unserer modernen, aufge‐ klärten Gesellschaft eigentlich für überwunden gehalten wurde. Sie entstehen aus den Folgen der Globalisierung, die Städte und Länder, Regionen und Kon‐ tinente zusammenrücken lässt, ohne dass die Welt besser würde. Im Gegenteil: Die Entgrenzung von Räumen, die ungleichen ökonomischen Entwicklungen und die Vermischung von Kulturen lösen traditionelle Bindungen auf, stellen gewohnte kulturelle Normen und Verhaltensweisen in Frage und machen die Instabilität der sozialen Lage zum prekären Dauerzustand. Das macht Angst. Die Angst führt zu neuen Politiken der Abschottung und Ausgrenzung und zu fundamentalistischen Bewegungen weltweit. Bürger_inneninitiativen gegen Flüchtlinge, die Asyl suchen, und Vereinigungen gegen die angeblich drohende Gefahr anderer Religionen und Kulturen offenbaren eine wiedergekehrte Angst vor dem Fremden, die oft in offenen Hass umschlägt. Sie muten anachronistisch an in einer Zeit, die so sehr von der internationalen Verflechtung und univer‐ sellen Angleichung von Arbeits- und Lebenswelten bestimmt ist, und sind doch exakt deren Resultat. Fremdenangst und Fremdenhass und die trotzige An‐ strengung, die vermeintlich eigene Kultur rein zu bewahren, sind kein Rückfall in archaische Zeiten, sondern das Produkt einer halbierten, einseitigen Welt‐ werdung. Global geworden ist die Welt nämlich nur auf den anarchischen Fel‐ dern der Ökonomie, der Finanzen und der digitalen Kommunikation. Vernach‐ lässigt ist dagegen die Suche nach transkulturellen Möglichkeiten und Formen des Zusammenlebens. Es fehlt an der Konzeption und Praxis einer Konvivenz mit dem Fremden. In dieser Situation ist das Theater gefordert. Denn Theater ist seit jeher ein entscheidendes Instrument und Medium der Selbstverständigung darüber, wie wir in Zukunft leben, wie wir überleben wollen. Nur: Wie soll ein Theater der Fremden aussehen? Welche Gestalt soll es annehmen? Ist es ein politisches Theater, das für die Fremden Partei ergreift? Wer aber sind die? Soll es in der Nachfolge eines Theaters, das sich als moralische Anstalt versteht, den Aufstand aller Anständigen gegen die moralisch verwerflichen Pegidademonstrant_innen propagieren? Wohl kaum, denn diese Versuche würden allesamt nur den Fun‐ damentalismus kopieren und die Schwarz-Weiß-Zeichnung der Wirklichkeit 40 Günther Heeg <?page no="41"?> 4 Vgl. Samuel Phillips Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996. 5 Morgenland. Ein Abend mit Dresdnerinnen und Dresdnern aus dem Orient, Regie: Miriam Tscholl. Uraufführung am 29.11.2015. wiederholen. Sie würden ihrerseits die anderen, diesmal die Anhänger_innen und Demonstrant_innen der extremen Rechten, ausgrenzen. Das Fremde bliebe so erneut außen vor. Die weit verbreitete Vorstellung einer_s Fremden, die_er oder das von au‐ ßerhalb aus der Ferne in unsere gewohnte kulturelle Umgebung tritt, ist dem Konzept des Interkulturalismus entsprungen. Die interkulturalistische Welt‐ sicht geht von gegeneinander abgeschlossenen und unterscheidbaren Kulturen aus. Die Kultur der Fremden und die (vermeintlich) eigene Kultur, so die Be‐ hauptung, sind verschiedene und getrennte Welten. Geraten sie miteinander in Kontakt, z. B. im Fall von Flucht und Migration, gilt es, um Verständnis zu werben für die fremde Kultur, damit es nicht zu dem von Huntington herbei‐ geschriebenen „clash of civilizations“ 4 kommt. Eine wichtige Theaterarbeit aus der jüngsten Vergangenheit, die im Horizont des Interkulturalismus stand, ist die Produktion Morgenland von der Bürgerbühne Dresden. 5 Morgenland will Vorurteile bekämpfen, die Angst vor dem Fremden nehmen und den Abendländer_innen die Kultur des Morgenlands nahebringen. Und bestätigt und verfestigt doch, trotz bester Absichten, die Vorstellung von in sich abge‐ schlossenen Kulturen und die klare Trennung des kulturell Eigenen und des Fremden. Das ist ein essentialistischer Ansatz, der weder der empirischen Er‐ scheinung gegenwärtiger noch vergangener kultureller Lebenswelten ent‐ spricht. Kulturelle Lebenswelten in Zeiten der Globalisierung sind Hybride. Der Versuch, sogenannte Leitkulturen zu (re-)etablieren, ist zum Scheitern verur‐ teilt. Letzterer ist darauf aus, das 18. Jahrhundert-Modell der Nationalkulturen unter veränderten Umständen wieder zu beleben, ein gespenstisches Unter‐ fangen. Denn von Beginn an waren diese Nationalkulturen Konstrukte, die einer Realität divergierender Kräfte unterschiedlicher politischer, sozialer, religiöser Bewegungen und ethnischer Gruppierungen mehr schlecht als recht Einhalt gebieten sollten. Durchweg durchzieht kulturelle Heterogenität die Konstrukte der Nationalkulturen und ihrer Nachfolger. Die Anstrengung, die Vielfalt kul‐ tureller Lebenswelten erneut dem Diktat einer Kultur zu unterwerfen, heißt ein Phantasma zur Richtschnur kulturellen Handelns zu machen. Hält man an den Vorstellungen des Interkulturalismus fest, hat das politische Folgen. Mit dem Konzept des Interkulturalismus verknüpft sind die Verortung des Fremden, das Konzept der Integration und die Zuschreibung kultureller Identität. Das sind allesamt Ansätze, die die Vorherrschaft der (vermeintlich) 41 Was ist das transkulturelle Theater? <?page no="42"?> 6 Romeo und Julia von William Shakespeare, in einer Textfassung von Martin Heckmann, Regie: Miriam Tscholl, Premiere 1.10.2016. 7 Vgl. Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main 1990. eigenen Kultur gegenüber anderen zementieren. Fremd ist dem zufolge alles, was von außen kommt, innerhalb des Eigenen gibt es nichts Fremdes. Mit dieser Exterritorialisierung des Fremden landet man unweigerlich bei seiner Exotisie‐ rung. Die Klippen, die es dabei in der Theaterarbeit zu umschiffen gilt, werden sichtbar etwa in dramaturgischen Überlegungen, den Woyzeck mit einem zwer‐ genwüchsigen Syrer zu besetzen - ist er nicht ein Symbol für Elend schlechthin? - oder wie in der Romeo und Julia-Produktion der Bürgerbühne Dresden die Montagues und Capulets strikt nach Einheimischen und Fremden von außerhalb aufzuteilen 6 . In beiden Fällen bleibt das Fremde außen vor, wird aber als exoti‐ scher Reiz von der phantasmatischen Leitkultur gerne konsumiert. Generell lässt sich sagen: Je mehr sich die Theaterarbeit auf die Repräsentation einer Gruppe - der Geflüchteten, der Migrant_innen, der Postmigrant_innen fokus‐ siert - umso größer ist die Gefahr der Exotisierung dieser Gruppe. Je stärker sie mit Dramaturgien der Entgegensetzung arbeitet, umso mehr wächst die Gefahr, dass das Fremde bzw. die Fremden in die Zwangsjacke kultureller Identität ge‐ steckt werden. Auch die Konzepte von kultureller Identität und Integration sind dem inter‐ kulturalistischen Weltbild entsprungen. Die Vorstellung kultureller Identität ist obsolet in Zeiten kultureller Hybridisierung. Hält man (verzweifelt) daran fest, z. B. mit einem Merkzettel (Leitkultur) all dessen, was angeblich deutsch ist, betreibt man, absichtlich oder unabsichtlich, das Geschäft der Fundamenta‐ list_innen. Die Zuschreibung kultureller Identität bindet Menschen fest an ein‐ zelne kulturelle Normen und Praktiken, seien sie real oder imaginär. Von hier aus lässt sich ihre Exklusion betreiben, wie es im euphemistisch genannten „Ethnopluralismus“ der extremen Rechten geschieht. Selbst die gutgemeinte Idee der Integration erweist sich im Horizont des Interkulturalismus als Ein‐ bahnstraße: Integrieren müssen sich demzufolge nur die, die von außen kommen. Sie sollen sich in die kulturelle Lebenswelt einfügen, in die sie ein‐ treten. Wenn das Wahlprogramm der AfD für die Bundestagswahl 2017 das Wort „Integration“ durch „Anpassung“ ersetzt, bringt es unfreiwillig die Einseitigkeit in der gängigen Vorstellung von Integration zum Ausdruck. In der Migrations‐ gesellschaft, die wir sind, wäre die Forderung, sich zu integrieren - will man an dem Begriff festhalten - die Aufgabe aller, die hier leben, in gleichem Maße. Das transkulturelle Theater ist ein entscheidendes Medium der Hinwendung zum Fremden. Als „Schauplatz des Fremden “7 hat Bernhard Waldenfels das Thea‐ ter bezeichnet und die Fremdheit des Theaters gleich bei seinen westlichen An‐ 42 Günther Heeg <?page no="43"?> 8 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999, S. 47. 9 Bertolt Brecht, „Dialog über Schauspielkunst“, in: GBA, Bd. 21, Frankfurt am Main 1991, S. 279-282, hier S. 280. 10 Bertolt Brecht, „Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst“, in: GBA, Bd. 22.1, Frankfurt am Main 1991, S. 202. 11 Vgl. Nikolaus Müller-Schöll, „Theater außer sich“, in: Hajo Kurzenberger, Annemarie Matzke (Hgg.), TheorieTheaterPraxis, Berlin 2004, S. 342-352. fängen im Theater der antiken Tragödie beginnen lassen. Für die Moderne hat Brecht, der „Einstein der neuen dramatischen Form“ 8 , nicht von ungefähr die Erfahrung des Fremden als eine Hauptaufgabe von Theater benannt. Brechts oft nur verkürzt wahrgenommenes Konzept der Verfremdung versteht Fremdheits‐ erfahrung als ein Fremdwerden der Erfahrung selbst. „[V]on sich selber ent‐ fernen“ 9 und sich fremd werden sollen sich nach Brecht die Zuschauer_innen ebenso wie die Akteur_innen: „[Der Artist betrachtet] sich selbst und seine Darbietungen mit Fremdheit […]“ 10 . Theater, folgen wir Waldenfels und Brecht, ist sich selbst fremd, es ist prinzipiell „außer sich“. 11 Das macht es zu einem bevorzugten Ort der Verständigung unter Fremden und Medium transkultu‐ reller Kommunikation. Ein transkulturelles Theater geht nicht von abgeschlossenen, distinkten Kul‐ turen aus, die es miteinander in Kontakt zu bringen sucht, sondern setzt an der Fremdheitserfahrung im Inneren der vermeintlich eigenen, der sogenannten Nationalkultur an. Denn Nationalkulturen sind allesamt Phantasmen, Wunsch- und Trugbilder der Reinheit, des Eigenen und des Wesenhaften. In der Realität aber nie rein, sondern durchsetzt vom Unreinen, andern Völkern und Ethnien, Sitten und Gebräuchen, kulturellen Einflüssen, Transformationen usf. Durch‐ setzt also von Fremdkörpern, die ausgeschlossen werden müssen, weil sich erst im Ausschluss des Fremden das Phantasma einer eigenen Kultur gründen lässt. Eben um das Durchsetzte aber geht es im Theater des Fremden. Das hindurch‐ gehende Fremde im vermeintlich Eigenen der Kultur, dieses Trans, das das sicher geglaubte Eigene durchquert und öffnet, ist der Beweggrund des transkultu‐ rellen Theaters. Das transkulturelle Theater sucht also das Fremde nicht in weiten Fernen, sondern zuallererst innerhalb des vermeintlich Eigenen und Nahen, das es in ein unvertrautes Licht rückt. Erst wenn die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden in Frage gestellt ist und das Eigene selbst fremd geworden ist, wird ein freier Umgang mit Fremdheit, der eigenen wie der des Anderen, mög‐ lich. Dieser Umgang zielt auf einen „versöhnten Zustand“, den Adorno, in An‐ lehnung an Eichendorffs gleichnamiges Gedicht, als „schöne Fremde“ be‐ zeichnet hat. Er „annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das 43 Was ist das transkulturelle Theater? <?page no="44"?> 12 Ebd. 13 „Wir wollen unser altes Österreich zurück! “ war die zentrale Forderung des unterle‐ genen Kandidaten um das Amt des Bundespräsidenten in Österreich 2016. Fremde, sondern hätte sein Glück daran, dass es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.“ 12 Als Raum eines Fernen und Verschiedenen, so nah es auch sein mag, begreift Adorno den versöhnten Zustand zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Es ist der Erfahrungsraum des transkulturellen Theaters, ein Zwischenraum, ein Transit‐ raum zwischen Eigenem und Fremdem. Weil aber dieser Transitraum ein Erfahrungsraum ist, lässt sich das Fremde nicht repräsentieren, so dass man mit dem Finger darauf deuten kann. Fremd sind nicht die Flüchtlinge, die Migrant_innen und Postmigrant_innen. Werden sie als die Fremden angesehen, werden sie zu Exot_innen gemacht. Wo auch immer das Theater sich auf die Suche nach dem Fremden macht, entscheidend ist, dass es das Fremde nicht exotisiert. Dass es sich nicht anmaßt, stellvertretend für die anderen zu sprechen und nicht zurückfällt in Dramaturgien der Entge‐ gensetzung, die das obsolete Freund-Feind-Schema politischen Handelns wie‐ derkehren lässt, auch nicht im Kampf für die vermeintlich gute Sache. Das Fremde ist kein Gegenstand, der_ie Fremde kein Subjekt. Das Fremde ist eine Erfahrung, die uns widerfährt. Sie verfremdet unsere Wahrnehmung des Fremden dahingehend, dass uns die eigene Wahrnehmung fremd wird. Fremd‐ heitserfahrung ist die Erfahrung einer Fremdheit im Eigenen. Theater kann, Theater soll diese Erfahrung ermöglichen. Erst von dieser Erfahrung aus wird transkulturelle Kommunikation möglich. Ein Theater der Fremde und der Fremden ist deshalb nicht allein von und für die Fremden von außerhalb, son‐ dern für die Fremden, die wir sind. Es ist ein Theater unter Fremden. 2. Ein Theater der Wiederholung Von zentraler Bedeutung für die Praxis des transkulturellen Theaters ist der Umgang mit Geschichte. Denn auf Geschichte berufen sich die Propagandist_in‐ nen von Fundamentalismus und Restauration in ihrem Kampf gegen die Glo‐ balisierung zuallererst. Ursprung, Kontinuität, Dauer. Darin besteht die histo‐ rische Legitimation von allen Bewegungen und Institutionen, die sich der Globalisierung wie der Möglichkeit der Weltwerdung gleichermaßen wider‐ setzen und zurück wollen in eine goldene Zeit, die es nie gegeben hat. 13 Ge‐ schichte als legitimatorischer Überbau von Fundamentalismus und Restauration steht dem Werden des transkulturellen Theaters im Weg. Zugleich fungieren die sperrigen Geschichtskonstruktionen als Materialdepots transkultureller Thea‐ 44 Günther Heeg <?page no="45"?> 14 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften Band. 6: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1997, S. 192. terpraxis. Die Abbrucharbeiten an ihren Gebäuden erschöpfen sich nicht in der Destruktion. Das transkulturelle Theater ist selbst angewiesen auf das seman‐ tische Potential von Geschichte und die Zeitform der Historizität, die es in den Bruchstücken und Überresten der für die Ewigkeit entworfenen Geschichtsge‐ bäude findet. Im Siegeszug der Globalisierung, die alle Regionen und Länder erfasst, stellt Geschichte ein wichtiges Differenzkriterium dar. Es ist gegen‐ wärtig nämlich nicht gegeben, dass das Fremde auch in der „Nähe das Ferne und Verschiedene“ 14 bleibt, wie es Adorno vorschwebte. Mit der Globalisierung und Digitalisierung der Welt geht eine Universalisierung und Homogenisierung der Lebensweisen einher. Arbeit, Kommunikationsformen und Konsumverhalten gleichen sich allerorten mehr und mehr an. Sie werden am Ende unterschiedslos wie die Shopping Malls, die über Kontinente hinweg von denselben Konzern‐ namen künden. Gegen die Gleichmacherei der Globalisierung wirkt das Antidot von Geschichte. Es sind unsere Geschichten, die unseres Landes und unserer Region ebenso wie die privaten Lebensgeschichten, die uns voneinander unter‐ scheiden. Geschichte macht die Unterschiede, die transkulturelles Zusammen‐ leben von Fremden braucht. Aus den Bruchstücken und Trümmern der funda‐ mentalistischen Geschichte generiert das transkulturelle Theater Sinn und Differenz im Prozess der Weltwerdung. Die konkurrierenden Vorstellungen von Geschichte unterscheiden sich im Hinblick auf den ontologischen Status und einen Ursprung, den sie Geschichte beimessen oder verweigern. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Kon‐ struktion kultureller Eigenheit. Wird Geschichte ontologische Existenz zuge‐ sprochen und sie in einem Ursprung verankert, lässt sich daraus das So-undnicht-anders kultureller Eigenheit ableiten. Das Konzept einer Ursprungsge‐ schichte manifestiert sich in der Konstruktion von Nationalkulturen. Es artiku‐ liert sich in kulturellen Praktiken, die den Status quo abgeschlossener Kulturen beschwören und deren Öffnung nach Innen und Außen verhindern. Transkul‐ turelle Theaterpraxis kann diese Vorstellung und Praxis von Geschichte nicht als obsolet beiseite stellen, sondern muss ansetzen an ihnen, um sie abzuar‐ beiten, auszuhöhlen und aus ihren Bruchstücken das Potential für eine Ge‐ schichte zu gewinnen, die die Grenzen jeder vermeintlich eigenen Kultur über‐ schreitet. Entscheidend für die Stellung zur Geschichte im transkulturellen Theater ist die Figur der Wiederholung. Um zum Fremden zu gelangen, muss die Geschichte wiederholt werden, die das Phantasma des Eigenen hervorgebracht hat. Kol‐ 45 Was ist das transkulturelle Theater? <?page no="46"?> 15 Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: ders.: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt am Main 1991, S. 69-90, hier S. 74 und S. 86. 16 Ebd. lektive Phantasmen basieren auf Ursprungsmythen, Geschichtskonstruktionen, Traditionen und Erinnerungsritualen, die Geschichte ontologisch verankern und stillstellen. Die theatrale Praxis der Wiederholung zerstört die behauptete kulturelle Einheit und Ganzheit und rettet die Überreste der Geschichte, indem sie sie in andere Zeiten und Räume versetzt und damit transkulturell anschluss‐ fähig macht. Der Wiederholung geht es darum, das im Fortschritt der Globali‐ sierung Ausgeschiedene und Zurückgelassene, das Singuläre und Materielle, das sich der nivellierenden Universalisierung widersetzt, wiederzuholen und ein‐ zubringen in das Theater der Weltwerdung. Destruktion und Rettung sind daher die beiden Aufgaben der Wiederholung. In ihrem Zusammenspiel machen sie die Wiederholung zu einer Bewegung der Überschreitung. Geschichte im Theater der Wiederholung versteht sich nicht länger als Ur‐ sprungserzählung und unbefragte Tradition einer Nation sondern als Genea‐ logie im Sinne Foucaults. „Die Genealogie“, so Foucault, geht nicht in die Vergangenheit zurück, um eine große Kontinuität jenseits der Zer‐ streuung des Vergessenen zu errichten. Sie soll nicht zeigen, dass die Vergangenheit noch da ist, daß sie in der Gegenwart noch lebt und sie insgeheim belebt […] [V]iel‐ mehr [will sie] das festhalten, was sich in ihrer Zerstreuung ereignet hat: die Zwi‐ schenfälle, die winzigen Abweichungen oder auch die totalen Umschwünge, die Irr‐ tümer, […] die das entstehen ließen, was existiert und für uns Wert hat. […] Die genealogisch aufgefasste Historie will nicht die Wurzeln unserer Identität wieder‐ finden, vielmehr möchte sie in alle Winde zerstreuen; sie will nicht den heimatlichen Herd ausfindig machen, von dem wir kommen, jenes erste Vaterland, in das wir den Versprechungen der Metaphysiker zufolge zurückkehren werden; vielmehr möchte sie alle Diskontinuitäten sichtbar machen, die uns durchkreuzen. 15 In der genealogischen Geschichtsschreibung ist Geschichte dem Ursprung entsprungen und der Tradition entrissen: Sie ist diskontinuierlich, kontingent und singulär. Und sie zeigt sich als Theater. Der Historiker muss, mit Foucault gesprochen, die „Wiederkunft ehemaliger Ereignisse erfassen, […] und die ver‐ schiedenen Szenen wieder[…]finden, auf welchen die Ereignisse verschiedene Rollen gespielt haben“ 16 und spielen. Hier zeichnet sich über die metaphorische Verwendung hinausgehend die Idee eines Theaters der Geschichte ab. Sie knüpft an die Vorstellung vom Schauspiel der Geschichte an, die sich mit der Franzö‐ sischen Revolution verbreitet, an die Ausstellung der Römerposen und -kostüme 46 Günther Heeg <?page no="47"?> 17 Georg Büchner, Dantons Tod, Berlin 2007. 18 Vgl. Günther Heeg, „Reenacting History: Das Theater der Wiederholung“, in: ders., Micha Braun, Lars Krüger, Helmut Schäfer (Hgg.), Reenacting History. Theater & Ge‐ schichte, Berlin 2014, S. 10-39. 19 Sören Kierkegaard, Werke II: Die Wiederholung, Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie von Constantin Constantius, hgg. v. Liselotte Richter, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 7. 20 Vgl. Aristoteles, Poetik, übersetzt. von Manfred Fuhrmann, München 1976, S. 55. 21 Walter Benjamin, „Was ist das epische Theater? (1)“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.2, hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 519-531, hier S. 521. in Büchners Drama Dantons Tod, 17 an Marx’ Analyse des Theaters der Revolution als tragische und farcehafte Wiederholung von Geschichte, und an Nietzsches Totalisierung der Theatermetapher der Geschichte. 18 Nicht zuletzt bezieht sie sich auf Kierkegaard und seine Prognose, dass das Phänomen der Wiederholung künftig „eine sehr wichtige Rolle in der neueren Philosophie spielen“ 19 wird und auf Gilles Deleuzes Analyse des wechselseitigen Bedingungszusammenhangs von Geschichte, Wiederholung und Theatralität. Geschichte kann demnach als Theater der Wiederholung verstanden werden, die theatrale Aktion ist ein Akt der Wiederholung, die Wiederholung ist ein Vorgang der Theatralität. Das Theater der Wiederholung meint nicht die theatrale Darstellung von Akten der Wiederholung, die dem Theater vorausgehen, sondern dass die Wiederholung selbst ein theatraler Akt ist. Das ermöglicht ihr, die Macht der Gespenster von Fundamentalismus, nationaler Kultur, Ursprungsgeschichte und Restauration zu brechen und sie ins Spiel zu bringen. 3. Ein Theater der Geste Das Agens des transkulturellen Theaters ist die Geste. Ursprungslos wie das transkulturelle Theater ist, lässt sich seine Potentialität nicht mit den Begriffen der aktiven Handlung und des Handelns fassen. Denn Handeln impliziert die Intentionalität und Finalität eines Tuns im Ganzen einer Handlung, die bereits nach Aristoteles Anfang, Mitte und Schluss hat. 20 Die Vorstellung handlungs‐ mächtiger Subjekte, die souverän über ihr Tun verfügen, ist obsolet, vollends in Zeiten der Globalisierung. Gesten aber sind Aktionsformen, die dem transkul‐ turellen Theater gemäß sind. Denn sie entstehen aus Praktiken der Unterbre‐ chung und Teilung, die das Aktionsfeld, die Form der Bewegung, die Raum-Zeit-Dynamik und das Affektpotential des Handelns im transkulturellen Theater gleichermaßen bestimmen. „Gesten erhalten wir umso mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen“ 21 , so lautet Walter Benjamins berühmte 47 Was ist das transkulturelle Theater? <?page no="48"?> 22 Samuel Weber, „,Mitteilbarkeit‘ und ‚Exponierung‘: Zu Walter Benjamins Auffassung des ‚Mediums‘“, http: / / www.theater-wissenschaft.de/ mitteilbarkeit-und-exponierung-zu -walter-benjamins-auffassung-des-mediums/ (8.2.2017). 23 Das ist nicht metaphorisch gesprochen, sondern - etwa bezogen auf Brecht - das Re‐ sultat leidvoller Erfahrung. Die Unterbrechung von Handlungsräumen ist eine Denk‐ figur und ein künstlerisches Verfahren. Als solche stellen sie den Versuch einer Bear‐ beitung der fortlaufenden Ent-Setzungserfahrung einer migrantischen Existenz und eines Lebens im Transit dar. 24 Zu dem von Aby Warburg stammenden Begriff des Nachlebens siehe: Georges Didi-Hu‐ berman, Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby War‐ burg, Frankfurt am Main 2010. Beschreibung der Geste im Epischen Theater Brechts. Von Benjamins und Brechts Konzept der Geste ausgehend soll hier die Unterbrechung zum Aus‐ gangspunkt der Ausführungen zum gestischen Handeln im transkulturellen Theater gemacht werden. Zwei Charakteristika der Geste fallen dabei ins Auge: Die raumzeitliche Migration der Geste und ihre affektive Kraft. Gesten bewegen sich zwischen Zeiten und Räumen. Auf diese raumzeitliche Dynamik der Geste haben Walter Benjamin und im Anschluss an ihn Samuel Weber aufmerksam gemacht. Gesten zeichnen sich Benjamin zufolge dadurch aus, dass sie sowohl fixiert als auch zitiert werden können. Als fixierbare schneidet die Geste eine singuläre körperliche Bewegung aus dem Kontinuum der Zeit heraus. Als zitierbare unterbricht die fixierte Geste sich selbst. Sie weist damit - so hat Weber es beschrieben - „zugleich rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft. Die Fixierbarkeit der Geste wird durch ihre Zi‐ tierbarkeit […] aufgebrochen. “ 22 Es ist ein Aufbruch, der sie in fremde Land‐ striche und Umgebungen entführt. Die Geste ist, mit aller Vorsicht gesprochen, der Migrant par excellence. 23 Unterwegs in der Fremde stellen Gesten Kontakt her zwischen Zeiten und Räumen. Herausgebrochen aus dem Handlungszu‐ sammenhang, dem sie entstammen, tragen Gesten doch die Überreste und Spuren des Vergangenen an sich, die sie zitierend an- und vorführen. Das heißt aber auch: Gesten lassen sich nicht beliebig de- und rekontextualisieren. Sie sind stets mit Geschichte aufgeladen. Geschichte haftet an ihnen, Geschichte umgibt sie im Aggregatzustand des Nachlebens. 24 Geschichte kehrt in Gesten wieder, wiederholt und vervielfältigt sich in Form des Gespenstischen und der unwill‐ kürlichen Erinnerungssplitter. In einem eigentümlichen Verhältnis von Konti‐ nuität und Diskontinuität verbindet die Geste so die eigene, fremd gewordene Vergangenheit mit der ungewissen Zukunft am fremden Ort. Deshalb ist die Geste ein paradigmatisches Medium transkultureller Kommunikation. Gesti‐ sche Kommunikation ist die von Fremden, die die Bindung an eine kulturelle Tradition und Gemeinschaft aufgegeben haben. Zugleich unterscheiden sie sich 48 Günther Heeg <?page no="49"?> 25 Vgl. Ingo Uhlich, Poetologien des Ereignisses bei Gilles Deleuze, Würzburg 2008. 26 Ist so die Unterbrechung nichts als das Aufblitzen der Scham, die die entblößte Ge‐ stalt erschüttert, so ist die bedeutsame Geste, die Geste, die sich nicht unterbrechen lässt, die Geste, die sich unter allen Umständen bedeckt halten will, mit Léon Wurmser zu sprechen, die Maske der Scham. (Vgl. Léon Wurmser, Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schameffekten und Schamkonflikten, Berlin 1990.) Ge‐ sten bedeuten, indem sie etwas zeigen, indem sie auf etwas zeigen. Auf diese Weise vermeiden sie es, sich selbst zu zeigen, Körper zu zeigen. Die Absicht, hinter der zeigenden Geste den Zeigenden selbst zu verbergen, weist hin auf den Ursprung der Geste aus der Scham. Freilich kann auch in diesem Fall das Entsprungene nicht dem Ursprung zurückgegeben werden. Kein unbedeckter Körper, keine entblößte Geste ist an sich vorstellbar, die nicht umzuschlagen droht in die melodramatische Pose und die Maskierung der Schamlosigkeit. 27 Vgl. Philipp Roth, Der menschliche Makel, Reinbek 2003. 28 Vgl. Günther Heeg, „Die Geste der Scham als Grundgeste des Theaters“, in: Bern‐ hard Streck (Hg.), Die gezeigte und die verborgene Kultur, Wiesbaden 2007, S. 69-80. aber voneinander durch die unterschiedlichen Spuren der Vergangenheit, die sie gestisch zitieren. Gesten sind aufgegebene Geschichte. Sie sind offen und anschlussfähig für neue Geschichte(n) in der Konstellation mit anderen Räumen und Zeiten. Und: Gestische Kommunikation ist nach Brecht ein Vorgang der Theatralität. Denn die Zitierung des Singulären setzt das Fixierte in Bewegung und versetzt es in einen virtuellen Raum des Sekundären und Uneigentlichen, einen Raum der Wiederholung mit vielerlei Kostümierungen und Maskeraden, einen Zeit-Spiel-Raum. 25 Eine besondere affektive Kraft kommt der Geste paradoxerweise durch die Exposition ihrer Unvollkommenheit zu. Damit unterscheidet sie sich radikal von jenem gestischen Zeigen auf soziale Verhältnisse, das sich unterm Diktat des Grundgestus der Szene in den fünfziger Jahren in Brechts Theaterpraxis eingebürgert hat. Die Geste, die perfekt und Bescheid wissend auf etwas zeigt, verbirgt die unvollkommene, sich selbst nicht einsichtige Geste des Zei‐ genden, der nicht länger souverän über sein Handeln verfügt. Die Geste, die der Unterbrechung entspringt, sieht sich um ihre Intentionalität und ihre Fi‐ nalität und damit um die Souveränität des Handelns gebracht. Das schreibt ihr die Züge des Unvollendeten und Mangelhaften ein. Scham ist der durchschla‐ gende Affekt, der mit deren Enthüllung einhergeht. In der Scham sieht sich der Beschämte entblößt den Blicken der anderen ausgesetzt. Die schamvolle Aussetzung ist das Double jener Aussetzung, die als Unterbrechung be‐ zeichnet wird. 26 Scham ist der Affekt der im doppelten Sinn ausgesetzten Geste. Ohne Scham, d. h. ohne schamvolles Bedecken und Verbergen des menschlichen Makels, 27 bietet sie sich dem Fremden dar, entblößt und offen für die Berührung. 28 In der Geste der Scham transformiert sich das Ent-Setzen 49 Was ist das transkulturelle Theater? <?page no="50"?> 29 Vgl. Günther Heeg, „Die Berührung der Geste“, in: Veronika Darian (Hg.), Verhal‐ tene Beredsamkeit? Politik, Pathos und Philosophie der Geste, Frankfurt am Main 2009, S. 19-36; Hans-Thies Lehmann, „Das Welttheater der Scham. Dreißig Annäherungen an den Entzug der Darstellung“, in: Merkur 45 (1991), S. 824-839. 30 Palmer - Zur Liebe verdammt fürs Schwabenland. Political von Gernot Grünewald und Kerstin Grübmeyer. Musik von Dominik Dittrich. Regie: Gernot Grünewald, Drama‐ turgie: Kerstin Grübmeyer, Bühne & Kostüme: Michael Köpke, Musikalische Leitung: Dominik Dittrich. Mit Laura Sauer, Patrick Schnicke, Lukas Umlauft, Raphael Wester‐ meier. Premiere 13.2.2015 Landestheater Tübingen. 31 Palmer - Zur Liebe verdammt fürs Schwabenland, Programmheft der Aufführung, Re‐ daktion Kerstin Grübmeyer, Tübingen 2015. 32 Peter Schwarz, „Palmer - eine Heimatgeschichte“, in: Waiblinger Kreiszeitung, 25.11.2003, zit. n. ebd. 33 Ebd., S. 8. der Aussetzung in eine affektive Kraft, uns zu berühren. Die Geste der Scham ist auch die Geste der Berührung des Fremden. 29 4. Ein Fremdkörper der Gemeinschaft im transkulturellen Theater Das Beispiel einer Aufführung mag eine Ahnung vom Erfahrungsgrund der Idee des transkulturellen Theaters in der Theaterpraxis geben, ohne dass sich Idee und Praxis 1: 1 spiegelten. Es handelt sich um das Stück Palmer - zur Liebe ver‐ dammt fürs Schwabenland, 30 das 2015 am Landestheater Tübingen aufgeführt wurde. Es geht darin von Helmut Palmer, eine prominente Figur aus dem schwäbi‐ schen Remstal in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Helmut Palmer war „Obstbauexperte, Kaufmann, Politiker, Aktionist, Bürgerrechtler, Querdenker, Nestbeschmutzer, Halbjude, Störer der öffentlichen Ordnung, Psychopath, Heilsbringer, Demokrat, Demagoge, Behördenschreck, Westentaschen-Messias, politischer Gaudibursch, Eulenspiegel, Einzelkämpfer und vieles mehr“ 31 , so die Aufzählung der Palmer’schen Charakteristika durch die Dramaturgin der Auf‐ führung - und alle treffen zu. Ich erinnere mich noch recht genau, welche Fas‐ zination, aber auch welches Odium des Verfemten in meiner Kindheit und Ju‐ gend - ich komme aus dieser Gegend - von „Palmer, dem Remstalrebell“, ausging. Helmut Palmer wird 1930 als uneheliches Kind geboren, das macht ihn in der damaligen Gesellschaft zum Außenseiter. „Er wächst vaterlos auf - und im Bewusstsein, dass dieser ferne Vater Jude ist.“ 32 „Im Alter von fünf “, so Palmer über sich, „wurde ich anstelle des Sterns mit dem Namen Moses bedacht. Der Lehrer hat immer gesagt: Mischlinge sind des Teufels. Abends betete ich: Lieber Gott, lass nicht sein, dass mein Vater Jude ist. Ich fühl mich als Schwabe. Und verbrannt wird der Jude doch.“ 33 „Durch sein Kindheits- und Jugendtrauma einer 50 Günther Heeg <?page no="51"?> 34 Jan Knauer, „Helmut Palmer, der ‚Remstal-Rebell‘“, in: Reinhold Weber (Hg.), Aufbruch, Protest und Provokation. Die bewegten 70er und 80er Jahre in Baden-Württemberg, Darm‐ stadt 2013, zit. n. ebd. 35 Ebd. ihm gegenüber feindlich eingestellten Umwelt und Staatsgewalt“, schreibt Jan Knauer in einem Aufsatz über ihn, explodierte Helmut Palmer regelmäßig, wenn er sich auch nur im Geringsten unge‐ recht behandelt fühlte. Dann beleidigte er sein Gegenüber häufig als „Nazi“ und konnte auch handgreiflich werden. Meist waren es Beamte, deren daraufhin erfolgte Strafanzeigen zur Eröffnung eines Gerichtsverfahrens führten. […] Ein jahrzehnte‐ langer Kampf eines Unbeugsamen gegen das bundesrepublikanische Rechtswesen war die Folge. […] Palmer führte mindestens 70 Strafprozesse. Er verbrachte zusam‐ mengerechnet mindestens 423 Tage seines Lebens in verschiedenen Justizvollzugsan‐ stalten, 34 darunter auch Stuttgart-Stammheim. Palmer-Prozesse waren Spektakel. Bei Verhandlungen erschien er im Richtertalar mit aufgenähtem Hakenkreuz oder in gestreifter Häftlingskleidung. Umgekehrt führte er 289 Wahlkämpfe, in denen er sich an Bürgermeister- und Oberbürgermeisterwahlen beteiligte. Einmal, in Schwäbisch Hall 1974, so Palmer im Original, „hätt es beinah gereicht. Dort bekam ich im ersten Wahlgang über 40 %, nur die Verschwörung der Presse und aller Parteien, die Feigheit der Bürger hat meinen Sieg verhindert.“ 35 Warum bringt man so einen auf die Bühne? Zur Identifikation lädt er nicht ein. Palmer ist kein edler Rebell, kein Robin Hood, in den man sich verlieben könnte oder der einem als politisches Vorbild taugt. Er ist auch kein tragischer Held, groß im Untergang. Er kämpft gegen alles und jeden, hat Recht und Un‐ recht. Er blickt voll durch und leidet unter paranoider Verkennung der Lage. Palmer zieht uns an und stößt uns ab. Er ist uns zugleich fern und nah, bekannt und fremd. Er ist ein Teil unserer Geschichte, der Nachkriegsgeschichte eines Jungen in Westdeutschland, im Schwäbischen. Und er ist ein singuläres Exempel für die Beunruhigung durch einen Fremdkörper der Gemeinschaft, für die Un‐ ruhe, die von diesem Fremdkörper ausgeht, für die Unruhe, die uns erfasst, wenn wir ihm begegnen. Wie verläuft diese Begegnung mit Palmer im Landestheater Tübingen? Palmer wird dort nicht von einem_r Schauspieler_in verkörpert, er ist eine Puppe aus Schaumstoff und Gummi, etwa 1,20m groß, die von einem oder zwei Schauspieler_innen geführt wird. Die Schauspieler_innen, eine Frau und drei Männer, führen die Puppen durch einen Schlitz im Rücken und an den Armen. Sie sind immer sichtbar, stehen hinter und neben den Körperteilen der Puppen. 51 Was ist das transkulturelle Theater? <?page no="52"?> Zugleich sprechen sie die Texte von Palmer, seine Reden, Anklagen und Recht‐ fertigungen - und sie singen, denn Palmer ist auch eine Art Musical. Es gibt auch nicht nur den einen Palmer, sondern eine ganze Reihe von Palmer-Puppen, die sich doublieren, wechselseitig kommentieren, zum Chor finden oder mit wenigen Handgriffen am Kostüm in Palmers Ehefrau oder einen Richter ver‐ wandeln können. Was für eine Art von Puppentheater sehen wir hier? Palmer ist ganz offen‐ sichtlich vom japanischen Puppentheater Bunraku inspiriert. Roland Barthes hat die Einzigartigkeit dieses Theaters beschrieben und in Bezug gesetzt zur westlichen Schauspielkunst. Während hier die Sprache, Emotion und Geste in einem Körper vereint und synchronisiert sind, so dass der Eindruck einer in sich geschlossenen, souveränen Gestalt entsteht, ist im Bunraku die Stimme des Er‐ zählers, der am Rande der Bühne sitzt, getrennt vom emotionalen Ausdruck der Puppen und der wiederum getrennt von den Körpern und Gesten der drei sicht‐ baren Puppenführer_innen. Unterbrechung der Synchronisation von Sprechen, Fühlen und Tun in einer Person ist das Kennzeichen des Bunraku. Die drei ge‐ trennten Elemente des Ausdrucks werden so gestisch und jeweils für sich mit einer leuchtenden Intensität vorangetrieben. Die Wirkung ist die einer starken emotionalen Ergriffenheit verbunden mit dem Gefühl einer ständigen Verset‐ zung unserer Sinne, eines Nichtbeisich-, sondern Außersichsein. Diese Wirkung wird noch verstärkt durch eine zweite Unterbrechung: die lebendige Aktion der Schauspieler_innen wird durch die toten Körper der Puppen unterbrochen. Fortan changiert die Aufmerksamkeit zwischen dem Belebten und Unbelebten. Dabei zielt das Bunraku anders als in der westlichen Schauspielkunst seit dem 18. Jahrhundert und in manchen Konzepten des Puppentheaters nicht auf Ver‐ lebendigung und Wiederbelebung des Abwesenden und Toten, der Figur der Rolle oder des toten Puppenkörpers ab. Im Unterschied zu diesem im Grunde religiösen Konzept, das die Unversehrtheit und Dauer des Individuums garan‐ tieren soll, lässt uns das Bunraku das Tote, das Objekthafte im Eigenen erfahren, das uns an unsere Sterblichkeit gemahnt, an jene fundamentale Fremdheit, die aus dem Leben auszuschließen vergebens ist. Es ist diese Fremdheit, die uns nicht nur im Bunraku, sondern auch in seiner freien Adaption durch die Akteur_innen, die Puppen und Schauspieler_innen, der Tübinger Palmer-Aufführung begegnet. Es ist, bei allem Spaß, den wir bei dieser Aufführung haben, das immer wieder aufblitzende Double von Lebendi‐ gem und Totem, das Gesicht des_r Schauspieler_in neben dem Puppengesicht, das uns berührt. Wir fühlen uns hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, Abstand zu halten zu diesen unheimlichen Doppelgänger_innen unserer selbst und Wiedergänger_innen der Toten und dem Wunsch, die kleinen Wesen aus 52 Günther Heeg <?page no="53"?> totem Stoff, gleich den Spieler_innen, die sie begleiten, zu berühren. In dieser doppelten Berührung, die uns trifft, strahlt das Theater im Glanz eines Lebens unter Fremden. 53 Was ist das transkulturelle Theater? <?page no="55"?> 1 Der Verfasser beschäftigt sich seit einigen Monaten mit Überlegungen zu einer Ästhetik der Entähnlichung. So wurden einzelne Thesen und Argumentationslinien - wörtlich jedoch variiert - aus folgenden Publikationen übernommen: Julius Heinicke, „Verstrickungen zwischen Alltag und Kunst: (Inter)kulturelles Potenzial oder Beschränkung ästhetischer Freiheit? “, in: Kunst und Alltag. Paragrana - Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie 2 (2017), S. 4256 und Julius Heinicke, „Koloniale (Fall-)Stricke erkennen und meiden: Perspektiven für die interkulturelle Kulturarbeit von der Finanzierung über die Ästhetik bis zur Evaluation“, in: Matthias Warstat et al. (Hgg.), Applied Theatre: Rahmen und Positionen. Berlin: Theater der Zeit 2017, S. 111-136. 2 Vgl. Rustom Bharucha, Theatre and the World: Performance and the Politics of Culture, London 1993. 3 Vgl. Osita Okagbue, Culture and Identity in African and Caribbean Theatre, London 2009. 4 Vgl. Helen Nicholson, Applied Drama - The Gift of Theatre, Houndmills 2005. Post-Hegel, postdramatisch, transkulturell? Überlegungen zu einer Ästhetik der Entähnlichung 1 Julius Heinicke (Hochschule Coburg) Theaterarbeit hat ein hohes transkulturelles Potential: Da sie nonverbale Kom‐ munikation ermöglicht und jegliche Kulturen auf ein performatives Repertoire zurückgreifen können, stellt sie beispielsweise für das Aufeinandertreffen von Menschen mit verschiedenen Kulturgeschichten jede Menge Formate der Ver‐ ständigung und Aushandlung von Angesicht zu Angesicht bereit. Die transkul‐ turelle Wirkungsmacht von Theater erscheint für die globalen Gesellschaften unserer Zeit zukunftsweisend, allerdings dominieren auf diesem Feld - so die postkoloniale Kritik - meist Praktiken und Methoden einer vornehmlich west‐ lich ausgerichteten Agenda. Postkoloniale Kritik des inter-, multi- und transkulturellen Theaters Theaterwissenschaftler_innen wie Rustom Bharucha, 2 Osita Okagbue 3 und Helen Nicholson 4 argumentieren seit den 1990ern, wie in jenen Zeiten zunächst interkulturell angedachte Projekte, die von abendländischen Theatermache‐ <?page no="56"?> 5 Vgl. Birgit Mandel (Hg.), Teilhabeorientierte Kulturvermittlung, Bielefeld 2016. 6 Vgl. Wolfgang Schneider (Hg.), Theater und Migration: Herausforderungen für Kultur‐ politik und Theaterpraxis, Bielefeld 2011. 7 Wolfgang Sting, „Interkulturelles Theater“, in: Christoph Nix, Dietmar Sachser, Mari‐ anne Streisand (Hgg.), Theaterpädagogik, Berlin 2012, S. 189-196, hier S. 193. r_innen initiiert, gesteuert und gestaltet werden, die Performancetraditionen ihrer beispielsweise indischen und afrikanischen Kooperationspartner_innen beschneiden, indem sie diese aus dem gesellschaftlichen Kontext reißen, in ein westliches Konstrukt zwängen oder deren komplexe kulturelle Verweise igno‐ rieren bzw. nicht entziffern können. Neben diesen Herausforderungen auf der Produktionsebene formulieren Kulturwissenschaftler_innen wie Birgit Mandel 5 und Wolfgang Schneider 6 ebenso Missstände hinsichtlich des Errei‐ chens unterschiedlicher Gruppen von Rezipient_innen. Viele kulturelle Grup‐ pierungen bleiben trotz trans-, inter- und multikultureller Ausrichtung den hie‐ sigen Theateraufführungen fern. Trotz derlei Herausforderungen werden Konzepte von Inter-, Multi- und Transkulturalität in den letzten Jahren breit rezipiert und finden in der Thea‐ terpraxis allerlei Anwendung. Während Interkulturalität die Kommunikation und Verhandlung zwischen den Kulturen betont, baut - grob formuliert - trans‐ kulturelles Theater auf den Austausch kultureller Traditionen unter der Maß‐ gabe, etwas „Neues“ zu schaffen, so Wolfgang Sting: Interkulturelles Theater bewegt sich also zwischen Exotismus (Bestaunen des Fremden), Internationalität (multikulturelles, nichtdialogisches Nebeneinander), Transkulturalität (universell Verbindendes und Neues neben und jenseits bestehender Kulturen), Hybridkulturalität (kulturelle Mischformen). Während Exotismus und In‐ ternationalität keinen Perspektivwechsel und Dialog intendieren, beschäftigen sich Transkulturalität und Hybridkulturalität mit der Vielsprachigkeit der Kulturen und entwickeln neue Ausdrucksformen. 7 Sting betont, dass ein alleiniges „Bestaunen des Anderen“ und ein „multikultu‐ relles Nebeneinander“ wenig Perspektiven für die Reflexion divers-kultureller Gesellschaften bieten. Doch meines Achtens tendieren ebenso Theaterarbeiten, die eine eher transkulturelle Ausrichtung auf ihre Fahnen schreiben, dazu, ein in der Tendenz westlich ausgerichtetes Modell von Ästhetik zu favorisieren. Auch wenn „Neues neben und jenseits bestehender Kulturen“ generiert wird, geschieht dies oft nach einem westlich tradierten Muster. So geht der südafrikanische Theaterwissenschaftler Samuel Ravengai der Dominanz abendländischer Theaterkonzepte gegenüber außereuropäischen Performancetraditionen auf den Grund. In The Dilemma of the African Body as 56 Julius Heinicke <?page no="57"?> 8 Samuel Ravengai, „The Dilemma of the African body as a site of performance in the context of Western training“, in: Kene Igweonu (Hg.), African Theatre and Performance - Trends in Twenty-First Century, Amsterdam 2011, S. 35-60, hier S. 35-36. 9 Nicholson, S. 117. a Site of Performance in the Context of Western Training (2011) argumentiert er, dass westliche Schauspielmethoden Körpervorstellungen und performative Praktiken bestimmter afrikanischer Traditionen nicht fassen können: My hypothesis is that the psycho-technique is a culture-specific system that arose to deal with the heavy realism of Ibsen, Chekhov, Strindberg, Odets and others. I believe that there is a Western realism, which can be differentiated from an African realism. […] Consequently the psycho-technique tends to favour a Western-groomed body and seems to disorientate any other differently embodied body. 8 Ravengai kritisiert, dass selbst afrikanische Schauspielschulen - wie etwa zim‐ babwische - ausschließlich eine auf Stanislavskys Methoden gründende Spiel‐ technik lehren, die viele Ausdrucksebenen der Absolvent_innen ausblendet oder gar negiert. Nach dieser Lesart weist bereits eine Grundkomponente transkul‐ tureller Theaterarbeit - die Darstellungs- und Spieltechniken - aufgrund der Dominanz westlicher Methoden eine Schlagseite auf. Schließlich erläutert Helen Nicholson in ihrem Buch Applied Drama: The Gift of Theatre (2005), dass Zielsetzungen im Bereich der transkulturell ausgerich‐ teten Projekte des Applied Theatre wie beispielsweise Freiheit und Autonomie des Subjekts vornehmlich auf Vorstellungen des europäischen Theaters des 18. und 19. Jahrhunderts rekurrieren. So argumentiert sie, dass sich Augusto Boals Konzept des „Theatre of the Oppressed“, welches seit Jahrzehnten in trans- und interkultureller Praxis eingesetzt wird, primär auf Konzepte der Aufklärung be‐ zieht: Boal imbues his spect-actors with special qualities of creativity, autonomy, freedom and self-knowledge, and although his language and terminology is often Marxist in tone, it is on this idealist and Enlightenment construction of human nature that Boal depends for his vision of social change. 9 „Autonomy“ ebenso wie die „Enlightenment construction of human nature“ sind Grundfesten des europäischen Theaters seit der Aufklärung und zweifelsohne beeinträchtigen sie, sobald sie als Prämisse von Theaterarbeit gesetzt sind, an‐ dere performative und gesellschaftliche Konzepte. Nicholsons Argumentation folgend, wird bereits durch eine solche ästhetisch-philosophische „Vision“ eine gesellschaftspolitische Richtung der Theaterprojekte vorgegeben, die dem eu‐ ropäisch-abendländischen Wertekanon entspricht bzw. vornehmlich auf diesen 57 Post-Hegel, postdramatisch, transkulturell? <?page no="58"?> 10 Ebd., S. 119. 11 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 2015, S. 42-45. 12 Vgl. Susan Buck-Morss, Hegel und Haiti, Frankfurt am Main 2011, S. 103-104. rekurriert. Mit Rückblick auf ihre eigenen Erfahrungen in der transkulturellen Applied-Theatre-Arbeit kritisiert sie insbesondere die fehlende Reflexion der westlichen Dominanz innerhalb des kreativen und ästhetischen Austauschs, welche regionale Kontexte oftmals überbzw. ausblendet: This suggests that an uncritical reading of Boal’s theories of creative exchange has the potential to obscure the significance of context to applied drama. It is left to those who use his techniques, therefore, to consider how the creative dialogue enabled by TO (Theatre of the Oppressed) strategies might illuminate different situations. Prac‐ titioners with a range of political perspective apply Boal’s methods to many different situations and problems, and this means that developing a coherent and creative praxis involves recognising that all dramatic dialogues are not only contextually and con‐ tently located but also variously politically situated. 10 Auf der anderen Seite kann argumentiert werden, dass Theaterprojekte an transkulturellen Schnittstellen womöglich deshalb Konzepte der westlichen Agenda favorisieren, weil diese, insbesondere seit postdramatische Formen am Theater dominieren, eine Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten und ein Ver‐ ständnis von Ästhetik bereitstellen, welche sich für die Verhandlung diverser kultureller Traditionen und der Generierung neuer Formen besonders eignen. Post-Hegel: Das transkulturelle Potential des postdramatischen Theaters Hans-Thies Lehmann deutet in der Betonung der Formenvielfalt des postdra‐ matischen Theaters auf das ungeheure Potential von Theater hin, sich Neue‐ rungen - wie etwa der zunehmenden kulturellen Vielfalt - zu stellen. Bei ge‐ nauerer Lektüre seines weltweit rezipierten Werkes Postdramatisches Theater wird ersichtlich, dass erste Ansätze über die weitreichenden Möglichkeiten schon in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik zu finden sind, obwohl dessen Theorie wiederum auch als Beispiel par excellence für den abendländisch-kolo‐ nialen Gestus einer idealistischen Ästhetik stehen kann, die andere Kulturen degradiert. 11 Hegels rassistische Bemerkungen zu afrikanischen Kulturen sind bekannt, 12 sein Wirken sollte sicherlich einer intensiven postkolonialen Kritik unterzogen werden, doch hält es ebenso fruchtbare Überlegungen für die trans‐ kulturelle Wirkungsmacht von Kunst bereit. Lehmann macht ebenfalls eine Ambivalenz in Hegels Werk aus, die hinsichtlich der Frage, inwieweit Hegels 58 Julius Heinicke <?page no="59"?> 13 Lehmann, S. 17-18. 14 Ebd., S. 65. 15 Christoph Menke, Die Tragödie im Sittlichen, Frankfurt am Main 1996, S. 45. Überlegungen zur Ästhetik ein transkulturelles Potential in sich birgt, weiter‐ führend sein kann. Diese äußert sich in der anfangs von Hegel favorisierten, nahezu apodiktisch erscheinenden, doch in den Vorlesungen zunehmend brü‐ chiger werdenden Grundannahme, dass die Gesamtidee einer Gesellschaft sich in der Kunst widerspiegelt, so Lehmann: Die klassische idealistische Ästhetik verfügte über das Konzept der „Idee“: Entwurf eines begrifflichen Ganzen, das die Details konkretisieren (zusammenwachsen) lässt, indem diese sich, zugleich in der „Realität“ und im „Begriff “, entfalten. Jede historische Phase einer Kunst konnte so von Hegel als konkrete und spezifische Entfaltung der Idee von Kunst betrachtet werden, jedes Kunstwerk als besondere Konkretisation des objektiven Geistes einer Epoche oder „Kunstform“. […] Wenn das Vertrauen in der‐ artige Konstruktionen - etwa des Theaters, von dem dann das Theater einer Epoche eine spezifische Ausfaltung wäre - schwand, so zwingt der Pluralismus der Phäno‐ mene dazu, das Unvorhersehbare und „Plötzliche“ der Erfindung, den unableitbaren Moment der Intervention anzuerkennen. 13 Nach dieser Argumentation wird in Hegels These des Endes der Kunst das Kon‐ zept des ausgestalteten Entwurfs der Idee ad acta gelegt. Das Theater tendiert nach Hegels Auffassung allerdings schon seit der Antike dazu, die Vorstellung des Kunstschönen, und damit das „sinnliche Scheinen der Idee“ in der Kunst zu stören: Wenn Hegel das Kunstschöne als eine vielschichtige „Versöhnung“ der Gegensätze, insbesondere des Schönen und des Sittlichen versteht, so kann man in der Tat be‐ haupten, dass unter dem Begriff des „Dramatischen“ Hegel jene Züge am Ästhetischen zur Geltung bringt, die den Anspruch auf Versöhnung scheitern lassen. 14 Lehmann sieht in Hegels Dramenverständnis also bereits postdramatische Züge aufflackern. Er bezieht sich dabei auf die Überlegungen von Christoph Menke, der wenige Jahre zuvor - Mitte der 1990er Jahre - in Die Tragödie im Sittlichen feststellt: „Das Drama ist bei Hegel, auch schon in seiner griechischen Gestalt, auf dem Weg zu einer nicht mehr schönen Kunst. Im Drama beginnt das Ende der Kunst, in der Kunst.“ 15 Die Besonderheit des Theaters in der Hegelschen Kunstgeschichte und die damit einsetzende Befreiung der Kunst aus den Fesseln des Kunstschönen verdeutlicht sich in der „doppeldeutigen“ Rolle der Schauspieler_innen, einerseits hinter der Maske „nur“ eine vorgegebene Rolle zu spielen und gleichzeitig zu beanspruchen, ein Individuum zu sein, das selbst 59 Post-Hegel, postdramatisch, transkulturell? <?page no="60"?> 16 Ebd., S. 185-186. 17 Lehmann, S. 70. 18 Ebd., S. 71. 19 Vgl. Renate Reschke, Die Asymmetrie des Ästhetischen, Berlin 1995. entscheidet, diese Maske zu tragen: „Die Schauspieler spalten sich von sich als sittlicher Charakter, als Mitglied des Gemeinwesens, und depotenzieren ihn zu einer Maske, durch die nicht sie bestimmt sind, sondern die an- und abzulegen sie, als ‚wirkliche Subjekte‘, die Macht und Freiheit haben.“ 16 Hegel gesteht so dem Ästhetischen im Theater eine äußerst bedeutsame Rolle für die Darstellung von Vielfalt jenseits der gesellschaftlichen Bräuche und Sittlichkeit zu. Theater wird mit Hegel zu einem Ort, an welchem der denkende Mensch frei aus der Sittlichkeit herausgeht und im Spiel neue Wege gehen kann. So argumentiert Lehmann: Das theatrale Spiel insgesamt stellt im Grunde eine Undenkbarkeit für die Philosophie des Geistes dar: das an sich wesenlose subjektive Spiel des Spielenden, der Zeichen künstlich produziert, dieses bloße einzelne Ich, erfährt sich als Gründer und Stifter des Wesentlichen, der sittlichen Gehalte, Schöpfer der dramatis personae als in sich bereits Schönheit und Sittlichkeit vereinenden Gestalten. 17 Innerhalb dieser postdramatischen Tendenz, die im Theaterschaffen an sich schon das Ende der klassischen Kunst sieht und - so endet Lehmann sein Unter‐ kapitel über Hegel - „ein Modell für die Auflösung des Theaterbegriffs an(mutet)“ 18 , verbirgt sich ebenso der Hinweis, dass sich gerade die Bühne eignet, eine ungeahnte kulturelle Vielfalt aus sich selbst heraus, unabhängig von der Norm der Mehrheitsgesellschaft, entwickeln zu können. In eine ähnliche Richtung argumentiert die Kulturwissenschaftlerin Renate Reschke in Die Asymmetrie des Ästhetischen (1995). 19 Allerdings bezieht sie dieses Potential des Ästhetischen nicht auf Theater, sondern auf das ästhetische Denken an sich. Sie zeigt, wie, beginnend mit Hegel, innerhalb der philosophi‐ schen Diskurse über die Ästhetik asymmetrische Formen zutage treten, indem Grenzen überschritten und so tradierte Strukturen des westlichen Denkens auf‐ gebrochen werden. Während viele andere Bereiche abendländischer Philoso‐ phie eine Symmetrie - zum Beispiel die klassischen Formen der Antike oder die „klaren“ Regeln der Logik - bevorzugen, bildet das asymmetrische Denken, so Reschke, ein Korpus, das sich dieser Gleichmäßigkeit und Regelhaftigkeit ent‐ zieht, wortwörtlich aus der Reihe tanzt und aus diesem Grunde oftmals von den traditionellen Methoden abendländischer Diskurse nicht begriffen und erfasst werden kann. Reschke setzt als Startpunkt dieser asymmetrischen Denkbewe‐ gung die von Hegel aufgegriffene antike Metapher von der weisen Eule der 60 Julius Heinicke <?page no="61"?> 20 Ebd., S. 9. 21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke 15: Vorlesungen üb die Ästhetik III, Frankfurt am Main 2014, S. 573. Minerva, die ihren Flug der Erkenntnis erst in der Dämmerung beginnt. Sie sieht in ihr und weiteren Hegelschen Überlegungen zur Ästhetik einen ersten Mo‐ ment innerhalb der abendländischen Geschichte des Denkens, in welchem der Diskurs sich aus den symmetrischen, wohlgeordneten Strukturen der Wissens‐ generierung herauswagt und Sphären betritt, welche die klaren Gesetzmäßig‐ keiten der Logik samt deren Methoden dialektischer Beweisführung aushebeln: Die Ästhetik, die am programmatischen „Ende der Kunst“ aktiv wird und ihre Ein‐ sichten formuliert, kündete […] auch von der Aussagekraft des Metaphorisch-Asym‐ metrischen. Die kluge Eule kommt zu ihren Erkenntnissen gegen jede systematische Einseitigkeit und vorbei an den Sicherheiten begrifflicher Fixierungen. 20 Mit Blick auf Hegels Vorlesungen über die Ästhetik formuliert dieser tatsächlich eine Art Ahnung oder gar Vermächtnis, dass sein Gebäude des dialektischen abendländischen Denkens, der Weg des spekulativen Prozesses zum absoluten Geist, den er in der Phänomenologie des Geistes beschreibt, keinen universalen Anspruch mehr haben kann. Am Ende der von seinem Schüler Heinrich Gustav Hotho aufgezeichneten und herausgegebenen Vorlesungen, just nach seinen Überlegungen zur Tragödie und Komödie, wird diese Wende in der Hegelschen Philosophie nochmals deutlich: Doch auf diesem Gipfel führt die Komödie zugleich zur Auflösung der Kunst über‐ haupt. Der Zweck aller Kunst ist die durch den Geist hervorgebrachte Identität, in welcher das Ewige, Göttliche, an und für sich Wahre in realer Erscheinung und Gestalt für unsere äußere Anschauung, für Gemüt und Vorstellung geoffenbart wird. Stellt nun aber die Komödie diese Einheit nur in ihrer Selbstzerstörung dar, […] so tritt die Gegenwart und Wirksamkeit des Absoluten nicht mehr in positiver Einigung mit den Charakteren und Zwecken des Daseins hervor, sondern macht sich nur in der nega‐ tiven Form geltend, dass alles ihm nicht Entsprechende sich aufhebt und nur die Sub‐ jektivität als solche sich zugleich in dieser Auflösung als ihrer selbst gewiss und in sich gesichert zeigt. 21 Hegel ahnt, dass die Komödie eine Wirklichkeit bzw. Subjektivität hervorbringt, die sein Modell des absoluten Geistes nur noch in einer negativen Form, in einer Art des Auflösens und Aufhebens, begreifen kann. Das heißt, dass er die Zukunft der Kunst nicht in einer Identitätserfahrung sieht, in der sich die „Idee“ der Gesellschaft in der Kunst offenbart, sondern in der Aufhebung dieser herkömm‐ lichen Einheit. Er macht so indirekt für die ästhetische Erfahrung eine folgen‐ 61 Post-Hegel, postdramatisch, transkulturell? <?page no="62"?> 22 Ebd., S. 573-574. 23 Akademie der Künste Berlin, 2014. schwere Prognose. Die Zukunft liegt nicht in einer gemeinschaftlichen Versöh‐ nung vom einzelnen mit dem Ewigen bzw. Göttlichen, der Idee der Gemeinschaft, sondern in der Auflösung dieses tradierten Bundes. So enden seine Vorlesungen mit einem Wunsch: Möge meine Darstellung Ihnen in Rücksicht auf diesen Hauptpunkt Genüge geleistet haben, und wenn sich das Band, das unter uns überhaupt und zu diesem gemeinsamen Zwecke geknüpft war, jetzt aufgelöst hat, so möge dafür, das ist mein letzter Wunsch, ein höheres, unzerstörliches Band der Idee des Schönen und Wahren geknüpft sein und uns von nun an immer fest vereinigt haben. 22 Dieses neue Band, das sich nicht mehr in der schönen Erscheinung des absoluten Geistes konstituieren kann, erschafft sich aus dem Wissen, dass diese „durch den Geist hervorgebrachte Identität“ - zumindest in der Kunst - nicht mehr darstellbar scheint. Hegel deutet am Ende der Vorlesungen über die Ästhetik nicht nur auf Formen des Theaters, die Lehmann Ende des 20. Jahrhunderts als post‐ dramatische beschreibt, sondern auch auf dessen Potential, kulturelle Vielfalt zu fassen und Transkulturalität jenseits der „Idee“ einer singulären kulturellen Tradition darzustellen. Diese, zugegeben, noch etwas kryptische Andeutung, lässt sich anhand drei hier nun genauer betrachteten Theater- und Tanzpro‐ duktionen in Südafrika und Deutschland, die in den letzten zehn Jahren erar‐ beitet wurden, zu tiefergehenden Überlegungen weiterentwickeln. Mistral in Berlin In dem gemeinsam erarbeiteten Duett Mistral 23 begegnen sich Susanne Linke und Koffi Kôkô, zwei Vertreter_innen spezifischer kultureller Tanztraditionen, die gleichsam Akteur_innen einer global und international agierenden Tanz‐ szene sind: Susanne Linke, als Vertreterin der Tanzmoderne von Mary Wigman und des Deut‐ schen Tanztheaters, trifft auf die jahrhundertealte „Körperbibliothek“ des zeitgenös‐ sischen afrikanischen Performers: Eingeschrieben in die Körper zweier Ausnahme‐ tänzer begegnen sich Moderne und Traditionen. Tänzerische Präsenz, Körpergedächtnis, Technik, kultureller Kontext und Geschlecht werden zu Ausgangs‐ punkten einer einzigartigen Begegnung von performativem Wissen und gesellschafts‐ politischen Fragen. Und das in einer radikalen Gegenüberstellung: Susanne Linke und 62 Julius Heinicke <?page no="63"?> 24 N. N., o. T. [Pressemitteilung zu Mistral], www.susanne-linke.de (1.2.2017). 25 Sandra Luzina, „In der Bewegung vereint“, http: / / www.tagesspiegel.de/ kultur/ tanz-erleb nis-mistral-mit-susanne-linke-und-koffi-koko-in-der-bewegung-vereint/ 10860034.html? (4.8.2017). Koffi Kôkô führen einen Dialog darüber, wie das Wissen großer Tanztraditionen zwi‐ schen Kulturen und über Generationen hinweg zu vermitteln ist. 24 Zu Beginn des Stückes schreiten sie gemeinsam eine Zigarre rauchend über die Bühne und werden kurz darauf aus dem Paradies der zweisamen Einigkeit hi‐ nausgeworfen. Beide beginnen ihre jeweilige Choreografie zunächst auf der Bühne voneinander getrennt, suchen ihren Ausdruck in ihren reichhaltigen Be‐ wegungsgedächtnissen und deren kulturellen Verortungen: Koffi Kôkô, in Benin geboren, ist Voodoo-Priester und einer der bekanntesten Vertreter des afrika‐ nischen zeitgenössischen Tanzes. Seine Bewegungssprache entwickelt er zum Teil aus Ritualen Westafrikas heraus. Susanne Linke ist eine der führenden Ver‐ treterinnen des europäischen Solotanzes. Sie verbindet Traditionen des deut‐ schen Ausdruckstanzes von Mary Wigman und Dore Hoyer mit Positionen des modernen Tanzes aus der Folkwang-Tradition (Kurt Jooss, Hans Züllig, Pina Bausch). Beide kombinieren in ihrem Schaffen diese Traditionen mit zeitgenös‐ sischen Interpretationen und Bewegungsformen, doch sind die Wurzeln ihres Tanzes in diesem Teil der Aufführung stets erkennbar. Auf der Bühne eröffnen sie einen ästhetischen Raum, der zwei ganz unterschiedliche Rhythmen, Bewe‐ gungsfolgen und ebenso spirituelle Wirkungsfelder erschafft. Doch diese beiden Spannungsfelder kommen aufeinander zu und geraten in einen Dialog, so schreibt Sandra Luzina: Er lässt seine Hände sprechen und lädt den Raum mit seiner Energie auf. Sie bewegt sich leichtfüßig über die Bühne und strahlt bei aller Fragilität eine große Stärke aus. Wunderbar, wie die beiden, die auf der Bühne zu alterslosen Figuren werden, zuein‐ ander finden: Sie nähern sich mit Neugier und gegenseitigem Respekt. Ein Höhepunkt ist das heitere Duett zu afrikanischen Trommelrhythmen: Koffi Kôkô prescht vor, Susanne Linke greift die Bewegungsmotive auf, interpretiert sie aber auf ihre eigene Weise. Beide fassen sich an den Händen und setzen mit großer Zartheit einen Fuß vor den anderen - stets sensibel des Grunds gewahr, auf dem sie schreiten. 25 Doch nicht nur der Respekt gegenüber dem anderen und ihrem bzw. seinem jeweiligen Bewegungsrepertoire ist in dieser Inszenierung bemerkenswert. Der Umgang mit dem unterschiedlichen Geschlecht und der verschiedenen Haut‐ farbe spielt manchmal eine Rolle und dann wiederum nicht. Das in heutigen Tagen auf deutschen Bühnen brisante Thema „Schwarz - Weiß“ wird nicht nur 63 Post-Hegel, postdramatisch, transkulturell? <?page no="64"?> über die Hautfarbe der beiden Tänzer_innen angedeutet, sondern spiegelt sich in deren Anzugsfarbe wider. Sie sind mal beide weiß, mal beide schwarz, mal der eine schwarz, mal der andere weiß. Auch Machtverhältnisse geschlechtli‐ cher Art treten an einer Stelle in den Vordergrund, dann wiederum ver‐ schwimmen sie. Spannungen und Konflikte zwischen den Geschlechtern und ethnischer Zugehörigkeit werden so nicht überspielt, bekommen jedoch immer nur einen bestimmten Raum und werden überwunden oder finden sich in einem Dialog zusammen. Mistral macht deutlich, dass hier nicht ein schwarzer Mann aus Afrika und eine weiße Frau aus Europa aufeinandertreffen, sondern zwei Tänzer_innen mit diversen, vielschichtigen kulturellen Hintergründen und Tanzpraktiken, die selbstverständlich häufig mit Geschlecht und Herkunft einher gehen, aber nicht immer. Ihre tänzerischen Statements sind mal stabil, mal wandelbar, mal gegensätzlich, mal divers und mal vereint. Linke und Kôkô verknüpfen auf diese Weise unterschiedliche Performance‐ kulturen, betonen aber auch, dass sie jeweils ein Geflecht unterschiedlicher Traditionen verkörpern. Obwohl die Ausgangssituation auf den ersten Blick di‐ chotom aufgeladen ist (Mann und Frau, Schwarz und Weiß), wird diese Binarität zugunsten der Darstellung einer Vielfalt aus kulturellen Traditionen, Veror‐ tungen und Kodierungen immer wieder aufgehoben. Kulturelle Differenzen werden dabei nicht aufgelöst, Unterschiede bleiben bestehen, aber bewegen sich auf diversen Ebenen und werden neu verhandelt, überdacht, gemeinsam prä‐ sentiert. Trotz der Diversität an Differenzen, die sich ebenso innerhalb des je‐ weils eigenen Tanzrepertoires ergeben, da beide aus verschiedenen zeitgenös‐ sischen und traditionellen Formen und Bedeutungsebenen schöpfen, scheint kein Körper und keine Technik die andere durchgängig zu dominieren. Linke und Kôkô präsentieren ihre Bewegungsformen mal selbstbewusst, mal vor‐ sichtig, mal übernimmt der eine die Form des anderen, mal stehen sie sich in ihrer Unterschiedlichkeit gegenüber. Beide Tänzer_innen verfolgen eine transkulturelle Dramaturgie, die sich darin äußert, dass sie ihre Vielschichtigkeit im Verlauf des Stückes herausar‐ beiten und miteinander in Dialog bringen und so einen neuen ästhetischen Raum schaffen. Linke und Kôkô spielen zwar mit den üblichen (post)kolonialen Dichotomien, heben diese jedoch immer wieder auf und verdeutlichen schon allein anhand ihres jeweiligen körperlichen Tanzgedächtnisses, dass diese nicht einer bestimmten Tradition zuzuordnen sind, sondern bereits verschiedene Kul‐ turen verflechten. Entscheidend für die Besonderheit ihrer ästhetischen Ver‐ fahrensweise scheint jedoch das „Sowohl als auch“ zu sein, die Betonung des Eigenen, des Gemeinsamen, der Verschiedenheit zu sich selbst und zu dem an‐ deren. Der ästhetische Raum, den Kôkô und Linke kreieren, zeugt von Wandel 64 Julius Heinicke <?page no="65"?> 26 Premiere im Magnet Theater, Kapstadt 2007. und Stetigkeit, Authentizität und Klischee, wiederkehrenden Mustern und Neuerungen, Vereinzelung und Gemeinsamkeit, Konflikt und Dialog. Mistral entwickelt Hegels Andeutung am Ende dessen Vorlesungen über die Ästhetik weiter und entfaltet ein Potential im Ästhetischen, welches über die „Auflösung“ und „negative Form“, die Hegel als Merkmal der Wende des Ästhetischen im Drama seiner Zeit festsetzt, hinausgeht. Linke und Kôkô unterstreichen, dass eine Vereinigung ihrer Tanztraditionen nicht über Auflösung ihrer Traditionen, sondern über die Betonung der Verschiedenheit und Pluralität möglich ist. Sie schaffen eine Sphäre der Unterschiedlichkeit, Konflikte und des Auseinander‐ setzens, aber auch des Dialogs und Zusammenkommens in diversen Momenten der Aufführung. Isivuno Sama Phupha in Kapstadt und Animal Farm in Johannesburg Das Magnet Theatre in Kapstadt spielt in einigen seiner Produktionen ebenfalls Möglichkeiten durch, wie verschiedene kulturelle Hintergründe in Perfor‐ mances miteinander verhandelt werden können. Schon Nelson Mandela for‐ derte einen demokratischen Umgang mit kultureller Vielfalt und die Verfassung der Rainbow-Nation garantiert diese grundsätzlich, aber - mit Blick auf die ge‐ genwärtigen gesellschaftlichen Umstände Südafrikas - vornehmlich noch auf abstrakte Art und Weise. Die künstlerischen Produktionen gehen auf die Suche, welche performativen und ästhetischen Formen genutzt werden können, um die kulturelle Gleichberechtigung auch auf ästhetischer Ebene zu erzielen. So ar‐ beitet der südafrikanische Künstler Mandla Mbothwe mit einem vielfältigen Kulturmaterial und kombiniert in seinen Stücken collagenhaft unterschiedliche kulturelle Performancetraditionen, Rituale und spezifische Alltagskontexte diverser sozialer und gesellschaftlicher Gruppierungen. So auch in Isivuno Sama Phupha 26 (Ernte der Träume), einer Kooperation mit Jugendlichen aus dem Township Khayelitsha: Mbothwe’s concern for the dislocation of township youth and the unsettling nature of migratory experience has led to the creation of a very distinctive aesthetic […]. He uses elements of ritual such as recognisable symbols, the elements of earth, water and fire, ritual anointment and cleansing of the body, and heightened language, to create both a sense of awe and communitas. He draws on inherited African values through the concept of Ubuntu, through the use of his mother tongue, Xhosa. Equally he is influenced by and uses contemporary performance ideas melding physical theatre 65 Post-Hegel, postdramatisch, transkulturell? <?page no="66"?> 27 Mandla Mbothwe, Hazel Barnes, „Mandla Mbothwe in South Africa“, in: Mark Fleishman (Hg.), Performing Migrancy and Mobility in Africa, Basingstoke 2015, S. 57-76, hier S. 74-75. 28 Premiere im Market Theatre, Johannesburg 2017. with visual representations, and working collaboratively in all aspects of produc‐ tion. 27 Die vielseitigen Verweise lassen sich dabei nicht auf einen bestimmten kultu‐ rellen Kontext reduzieren, obwohl Mbothwe spezifische Rituale und Erfah‐ rungen sozialer und gesellschaftlicher Gruppen wie „Dislocation“, Reinigungs‐ rituale und den Gebrauch einer bestimmten „mother tongue“ zitiert. Vielmehr verdeutlichen die unterschiedlichen Formen der Darstellung, Sprachen und Re‐ ferenzrahmen, welch Vielfalt die gegenwärtige südafrikanische Gesellschaft ausmacht, die eben nicht in einem Stereotyp oder Klischee und auch nicht in einer biographischen Erfahrung eines_r Darsteller_in aufgeht und längst nicht alle kulturellen Verweise von den Zuschauenden bestimmten Gruppen zuge‐ ordnet und verstanden bzw. entschlüsselt werden können. Auch die südafrikanische Produktion Animal Farm 28 verknüpft in der Regie von Neil Copens unterschiedliche performative Traditionen auf besondere Art und Weise. Der Plot von George Orwells bekannter Geschichte bildet zwar eine Grundlage, doch zielt die inhaltliche Kritik nicht auf das stalinistische Russland, sondern auf das gegenwärtige Südafrika, in der zwar laut Verfassung alle Men‐ schen egal welcher Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit oder sexueller Orien‐ tierung gleich sind, aber eben manche - wie bei Orwell - „gleicher“ sind als die anderen. Anstatt Gleichheit innerhalb der Vielfalt zu fördern, setzt sich in der gegenwärtigen Gesellschaft Südafrikas eher die rassistisch motivierte Praxis durch: gleich und gleich gesellt sich gern. Wer aus einem anderen afrikanischen Land kommt, hat kein Recht auf Land und Eigentum, wer nicht weiß ist, dem bleiben viele Wirtschaftsetagen verschlossen, und wer keine dunkle Hautfarbe hat, für den ist eine politische Karriere kaum noch denkbar. Die performative Struktur von Animal Farm hält jedoch dagegen. Sie orien‐ tiert sich nicht an üblichen Dramaturgien solcher Adaptionen, sondern wenn, dann eher an afrikanischen Ritualen und setzt diese collagenhaft zusammen, so resümiert Wolfgang Schneider: Sie singen und tanzen, sie schreien und gestikulieren, sie imaginieren und verfremden […]. George Orwells „Farm der Tiere“ diente als Vorlage, die afrikanische Geschichte 66 Julius Heinicke <?page no="67"?> 29 Wolfgang Schneider, „Die Wiege der Kreativität“, in: Politik und Kultur. Zeitung des Deutschen Kulturrats 5/ 2017, S. 16. 30 Vgl. Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Frankfurt am Main 2014. 31 Ebd., S. 331-332. war die Folie für ein Theatererlebnis der besonderen Art - irgendwo zwischen Musical und Politthriller, Tragikomödie und Lecture Performance. 29 Allein diese Formenvielfalt verweigert sich dem Adjektiv „interkulturell“, nur zwischen verschiedenen Performancetraditionen zu agieren, sondern zeugt eher von einer transkulturellen Ausrichtung, die jedoch abschließend noch spezifi‐ ziert werden muss. Transkulturell im Sinne einer Ästhetik der Entähnlichung Die Analyse der drei vorgestellten Produktionen fordert ein bestimmtes Ver‐ ständnis von Transkulturalität ein. Sicherlich erschaffen sie im Zusammenspiel vielfältiger kultureller Traditionen allesamt etwas Neues, doch deuten sie nach‐ drücklich darauf hin, dass sich das gemeinsame Neue in einer Verschiedenheit konstituiert. Die unterschiedlichen Formen der Darstellung, Sprachen und Re‐ ferenzrahmen zollen der Absicht der Künstler_innen Tribut, die Vielfalt darzu‐ stellen und diese eben nicht in einer Gleichheit, einer singulären Wirkung oder einem einzigen theatralen Code aufzuheben oder zu verwischen. Der Politikwissenschaftler Achille Mbembe sieht in dem oft formulierten Wunsch nach Gleichheit ebenfalls eine große Gefahr für das gesellschaftliche Zusammenleben. In seinem Werk Kritik der schwarzen Vernunft (2014) stellt er dieser Praxis das Prinzip der „Entähnlichung“ gegenüber. 30 Im Gegensatz zur Assimilation, die Gleichheit einfordert, kann Entähnlichung verstanden werden als „Sorge um das Offene“ vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass Verschie‐ denheit das Gemeinschaftsstiftende unserer Zeit ist: Die Frage der universellen Gemeinschaft stellt sich daher per definitionem in Begriffen des Im-Offenen-Wohnens, der Sorge um das Offene - was etwas ganz anderes ist als ein Vorgehen, das in erster Linie darauf zielt, sich abzuschließen und eingeschlossen in dem zu bleiben, was gewissermaßen mit uns verwandt, was uns ähnlich ist. Diese Form der Entähnlichung ist das genaue Gegenteil der Differenz. 31 Mit dem Begriff der Entähnlichung verabschiedet sich Mbembe noch entschie‐ dener von kolonialen Zeichensystemen westlich-abendländischer Couleur als Derridas Différance und entschwindet gar poststrukturalistischen Denkmo‐ dellen, denen sich noch ein großer Teil der postkolonialen Theorie verpflichtet 67 Post-Hegel, postdramatisch, transkulturell? <?page no="68"?> 32 So beschreibt sie 1985 den kolonialen Gestus abendländischer Philosophie, die gesamte Welt ihrem System zu unterwerfen, mit Bezug auf Lévi-Strauss: „Schließlich wird auch die Realität anderer Kulturen geleugnet, indem man ihre Gesellschaftsordnung nach einem Raster interpretiert, das von der (künstlich geschaffenen) Realität abendländi‐ scher Gesellschaftsverhältnisse abgeleitet ist. „Man muss eine Art universelles Gesetz ausarbeiten“, so lautet die bescheidene Forderung von Claude Lévi-Strauss, der dieses Gesetz durch eine systematische Anwendung mathematischer Methoden auf die Sozi‐ alwissenschaften zu formulieren versucht.“ Christina von Braun, Nicht ich - Logik, Lüge, Libido, Frankfurt am Main 1985, S. 118. 33 Fischer-Lichte beschreibt in der Einleitung zu Interweaving Performance Cultures: Beyond Postcolonialism das transformatorische und zugleich utopische Potential von Performances in der Verhandlung performativer Vielfalt. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Jain Torsten Jost, Interweaving Performance Cultures: Beyond Postcolonialism, London 2014, S. 1-21. fühlt. Zunächst löst sich die Vorstellung seiner „universellen Gemeinschaft“ in poststrukturalistischer Tradition von tradierten Dichotomien wie Sprache- Schrift, Signifkant-Signifkat, Schwarz-Weiß und deren gemeinschaftsstiftenden Differenzsystemen: „Im-Offenen-Wohnen“ deutet auf ein Zusammensein über die Vorstellung abendländischer Logik hinaus, denn es versucht Traditionen und Vorstellungen anderer Kulturen auch jenseits des Textbegriffes mit einzube‐ ziehen, ohne diese in einem einzigen System aufzuheben, wie es beispielsweise Claude Lévi-Strauss forderte, worauf Christina von Braun bereits in den 1980er Jahren hindeutet. 32 Darüberhinaus scheint Mbembes Verständnis von Entähn‐ lichung der Unmöglichkeit im Denken der Différance einen möglichen Raum zu geben, jenseits der Dekonstruktion. Die „Sorge um das Offene“, welche die treibende Kraft der Entähnlichung darstellt, kann im Ästhetischen nicht nur besonders gut betrieben werden. Im Sinne Fischer-Lichtes jüngsten Überle‐ gungen zu „Interweaving Performance Cultures“ vermag Ästhetik zudem einen utopischen, dennoch erfahrbaren Raum zu erschaffen, in welchem Vielfalt kre‐ iert wird, ohne in einem semiotischen Code aufgehoben zu werden noch im poststrukturalistischen Sinne dekonstruiert zu werden. 33 Die drei vorgestellten Produktionen betreiben hinsichtlich ihrer ästhetischen Praxis eine Sorge um das Offene und betonen in dieser Heterogenität, dass eine Aufführung, die nach einer spezifischen ästhetischen Tradition oder Form ge‐ strickt ist, in welcher die Zuschauenden ein Gemeinschaftsgefühl im Glei‐ ches-Erleben (oder Ähnliches-Erleben) erfahren, im internationalen Kontext nicht mehr zeitgemäß erscheint. Entähnlichung, als ein Prinzip wie Mbembe es definiert, ist so ein vielversprechendes Motto für richtungweisende ästhetische Verfahren in Zeiten zunehmender kultureller Vielfalt. Denn es geht über die Gepflogenheiten der Transkulturalität, ein eher westliches Ästhetikverständnis zu fördern, in welchem Gleichheit erklärtes Ziel des Gemeinschaftsstiftenden 68 Julius Heinicke <?page no="69"?> ist, hinaus, indem es die Verschiedenheiten jenseits interkultureller Dichoto‐ mien auch im ästhetischen Erfahren betont. Die mannigfaltigen Formen und Traditionen der drei vorgestellten Theater‐ produktionen „entähneln“ sich in ihrer Verschiedenheit. Die Vieldeutigkeit führt jedoch nicht zu einem Nebeneinander, sondern einem Miteinander-Agieren, Aushandeln, aber auch Differenzen-Zeigen und -Leben. Sie fordern so ein trans‐ kulturelles Konzept, das Ästhetik der Entähnlichung genannt werden kann, welches das Gemeinschaftsstiftende, wenn, dann nur in der Vielfalt und Ver‐ schiedenheit der dargestellten Formen findet und nicht suggeriert, dass sich Zuschauende und Darstellende in gleichsam erfahrenen, sondern in ganz un‐ terschiedlich wahrgenommenen Wirkungsästhetiken zusammenfinden. Eine solche Konzeption verweigert sich ebenso, Theater unter ein spezifisches Wir‐ kungsziel - wie es Nicholson hinsichtlich des Applied Theatre kritisiert - oder die „Idee“ einer einzigen homogenen Kultur zu stellen, sondern richtet das Au‐ genmerk auf unterschiedliche ästhetische und damit auch gesellschaftliche Hal‐ tungen. Dieses neue Band hat schon Hegel am Ende seiner Vorlesungen über die Ästhetik angefangen zu knüpfen, auch wenn er sich dieses transkulturellen Po‐ tentials höchstwahrscheinlich nicht bewusst war. 69 Post-Hegel, postdramatisch, transkulturell? <?page no="71"?> Travelling Concepts, Travelling Theatre? Transcultural Translations of Performance in Wunderbaum’s Looking for Paul Teresa Kovacs (University of Michigan) & Katharina Pewny (Ghent University) Looking for Paul is a production by the Dutch theatre collective Wunderbaum. Premiering in 2010, it attempts a collective approach to the conflictual work of Los Angeles-based visual artist Paul McCarthy. Looking for Paul reaches out to the West: it stages a journey of the theatre collective from Rotterdam to Los Angeles. Simultaneously, it focuses on travel from the opposite direction: Paul McCarthy’s sculpture Santa Claus travels from his working space in L.A. to Rotterdam. Travelling processes from Europe to the U.S. and vice versa inform the performance on the textual level, through the use of different media, and in the acting. This article thus starts from the hypothesis that travelling in the sense of “transfer” is the key concept of Looking for Paul. This concept allows the Wun‐ derbaum collective to discuss how to find one’s “own” position in comparison to theatre and performance tradition, to explore the specifics of Netherland’s, Europe’s and U.S.’s theatre and performance tradition, and to reflect on cultural transfer between Europe and the United States. At first glance it seems as Wun‐ derbaum is staging the search for an artistic position in relation to the work of McCarthy. However, a closer look reveals that McCarthy functions as a variable. It is not a work about one specific artist, but about U.S.and European theatre-, artand performance tradition and their mutual perception. Looking for Paul questions the expectations of artists and art in both cultures by referring to different works from performances and drama-based theatre, as well to films, cartoons, and music. In the performance they allude to William Shakespeare, Tennessee Williams, Virginia Woolf, David Lynch, Lady Gaga, and Andy Warhol, as well as to Frank Castorf, Pina Bausch, Johan Simons, and Lars von Trier, before ultimately returning to Walt Disney and Hollywood. “Travelling” is further connected to economic transfer and to questions of cultural funding. <?page no="72"?> 1 Travelling concepts are still not well received in theatre scholarship, except for a few articles and one dissertation: Jeroen Coppens applied Mieke Bal’s concept of “travelling concepts” to visual strategies of/ in postdramatic theatre, see: Jeroen Coppens, Visually Speaking. A Research into Visual Strategies of Illusion in Postdramatic Theatre, Ghent 2015, Dissertation, p. 151-152. Another exception is Michael Diers, who followed the “travel” of a red scarf, which was used in Pina Bausch’s Le sacre du printemps through different media: Michael Diers, “Dis/ tanzraum. Ein kunsthistorischer Versuch über die politische Ikonografie von Pina Bauschs Le Sacre du Printemps”, in: Gabriele Brand‐ stetter, Gabriele Klein (eds.), Methoden der Tanzwissenschaft: Modellanalysen zu Pina Bauschs „Le Sacre du Printemps/ Das Frühlingsopfer“, Bielefeld 2015, pp. 251-276; and as well Katharina Pewny, who suggests to follow “travelling Jelinek icons” or “motifs” in Jelinek stagings: Katharina Pewny, “Elfriede Jelineks mehrfache Intermedialität oder: Desiderata der Jelinek-Forschung, etwa auf den Spuren von Plüsch-Teddybären”, in: Pia Janke, Teresa Kovacs (eds.), Postdramatik. Reflexion & Revision, Wien 2015, pp. 242-254. Wunderbaum is interested in the debate surrounding the shortage of govern‐ ment funding of the arts, following the example of the U.S., which was imple‐ mented in the Netherlands in 2010. This article will follow the different forms of travelling that are implemented in Looking for Paul. We will first focus on how McCarthy’s performances and sculptural art travels into and through the performance. Secondly, we will dis‐ cuss how the concept of travelling gives a formative principle to the perform‐ ance. In so doing, we not only attempt to describe the transcultural translations of performance in Wunderbaum’s Looking for Paul, but also propose adjusting Mieke Bal’s travelling concepts to think about transcultural theatre. 1 What is the starting point of the different travel processes in this perform‐ ance? Wunderbaum places Looking for Paul within the controversy around the public exhibition of Paul McCarthy’s sculpture Santa Claus in the Dutch city of Rotterdam. McCarthy’s so-called “butt plug gnome” was produced between 2001 and 2005 on behalf of the city of Rotterdam. In 2008, it was moved to its per‐ manent “home” on Eendrachtsplein after repeated protests concerning its former locations. Eendrachtsplein is located in the center of Rotterdam, between the old town and the downtown areas and on the border of the city’s museum quarter. What is of interest for this article is that McCarthy’s work was—because of the protests and problems with finding a place where the sculpture could be presented to the public following the purchase of the sculpture by the City of Rotterdam in 2002—received as kind of a “travelling” sculpture. Different news‐ papers, art magazines, and websites highlighted the fact that no one really wanted this sculpture. Hence, its fate was to “wander” from place to place in 72 Teresa Kovacs & Katharina Pewny <?page no="73"?> 2 Cf. Dick van Teilingen, “Santa Claus”, https: / / www.sculptureinternationalrotterdam.nl/ en / collectie/ santa-claus-en (3 Nov. 2017); N. N., “Paul McCarthy’s Santa Claus”, https: / / ww w.atlasobscura.com/ places/ paul-mccarthys-santa-claus (3 Nov. 2017). 3 Alfonso de Toro, “Überlegungen zu einer transdisziplinären, transkulturellen und trans‐ textuellen Theaterwissenschaft im Kontext einer postmodernen und postkolonialen Kulturtheorie der ‘Hybridität’ und ‘Trans-Medialität’, ” in: Maske und Kothurn 45 (2001), pp. 23-69, here pp. 32-33. Rotterdam before ultimately finding a permanent site. 2 Wunderbaum both reen‐ acts McCarthy’s works while simultaneously remediating the travelling of McCarthy’s sculpture and, in a broader reading, the travelling of art and culture. This article presents a new theoretical and methodological approach in the field of transcultural theatre by discussing it through the lens of “travelling”. We bring Mieke Bal’s understanding of travelling concepts into conversation with re-enactment, a characteristic method of postdramatic theatre forms. Travelling concepts and reenactment interact in a very productive way. Both are connected to process and seriality and deny final determination—similar to McCarthy’s pre-2008 Santa Claus. 1. Travelling as a strategy of Transcultural Theatre Travelling concepts are related to transfer, take-up, and redefinition. In this sense they function as an ideal basis to think about transcultural theatre. As Alfonso de Toro argues, “transculturality” can be understood as referring back to cultural models that aren’t generated by one’s “own” culture, but inherent to a “foreign” culture, identity or language. In this sense, he defines “transculturality” in dis‐ tinction to globalization. Extending the term “intercultural theatre”, which im‐ plies linear paths and connections between permanently existing categories and binaries, the prefix “trans-” highlights—like travelling—uneven, contradictory relations and circulations. De Toro states: Das Präfix ‘trans’ impliziert gerade keine Tätigkeit, die kulturelle Unterschiede vers‐ chleiert und diese unter dem Deckmantel der Globalisierung in eine gleichartige und gesichtslose, dem Produktivitäts- und Effektivitätsprinzip unterworfene Kultur über‐ führt. Durch Globalisierungsprozesse werden Differenz und Alterität gerade heraus‐ gefordert […]. Das Präfix ‘trans’ meint keine kulturelle Nivellierung bzw. keine rein konsumtive Kultur, sondern bezeichnet einen nichthierarchischen, offenen, nomadi‐ schen Dialog, der unterschiedliche Identitäten und Kulturen in eine dynamische In‐ teraktion bringt. 3 73 Travelling Concepts, Travelling Theatre? <?page no="74"?> 4 Cf. Günther Heeg, “Das transkulturelle Theater. Grenzüberschreitungen der Theater‐ wissenschaft in Zeiten der Globalisierung, ” in: Gerda Baumbach, Veronika Darian, id., Patrick Primavesi, Ingo Rekatzky (eds.), Momentaufnahme Theaterwissenschaft. Leip‐ ziger Vorlesungen, Berlin 2014, pp. 150-163. 5 Cf. Heeg, p. 156. 6 Cf. Patrice Pavis, “Intercultural Theatre Today”, in: Forum Modernes Theater 25 (2010), pp. 5-15, here pp. 13-15. Günther Heeg also describes “transculturality” in contrast to globalization. He defines “transculturality” as a model which helps us to deal in a productive way with the “otherness” in the context of globalization. Following Heeg, “transcul‐ tural theatre” means to cross boundaries into “otherness” while returning to the “selfness” and relating different temporalities and spaces in alternative ways to established connections of globalization. 4 Heeg’s thoughts on “transcultural theatre” are shaped by a vocabulary of process, motion, and flow. He refers to Jean-Luc Nancy’s concept of “Mondialisation” as a basis for his definition of “transcultural theatre”. “Mondialisation” is a form of “becoming-world” without any foundation, a virtual space without ontological fundament or meaningful regulation. 5 Günther Heeg is not the only scholar who attempts to make sense of theatre in times of transnational circulation, postand decolonialism, and interartistic formats. Whereas Heeg’s thinking is shaped primarily by decon‐ struction, Patrice Pavis works with the concept of “interculturality” instead of “transculturality”. His considerations of “intercultural performance” start with a short overview over the radical experiments of intercultural performance in the 1970’s and 1980’s. 6 Pavis also reflects on the contemporary, changed condi‐ tions and environments of aesthetics and cultural politics. His thoughts are, however, entangled in the difficulty of wanting to move away from any essen‐ tialist notion of “culture”, while continuing to use its terminology. Homi Bhabhas definitions of “hybridity” and/ or the concept of the “third space” were created more than twenty years ago (in 1994 and 1996, respectively). These two concepts stem from Bhabha’s postcolonial and poststructural critique of culture as a stable and definable entity that is, according to the author, always an affirmation of a problematic hierarchy in a binary system of thought (that privileges the Western/ white master and others the person of color/ servant). Therefore, for Critical Humanities, any use of the concept of “culture” has problematic aspects, and most thinkers rigorously avoid its definition. Pavis, for example, concludes his considerations on “intercultural” performance as follows: What if the intercultural were in fact only an interartistic practice, a form of inter‐ disciplinarity, a crossing, a confrontation and an addition of arts, of techniques, of acting modes? Take for example the integration of hip hop in contemporary dance, 74 Teresa Kovacs & Katharina Pewny <?page no="75"?> 7 Ibid., p. 14. 8 Cf. Ann Rigney, “The Dynamics of Remembrance: Texts Between Monumentality and Morphing”, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (eds.), A Companion to Cultural Memory Studies, Berlin 2008, pp. 345-353, here p. 348. 9 Mary Louise Pratt, Imperial Eyes: Travel writing and Transculturation, London 1992, p. 6. 10 Cf. Birgit Neumann, Ansgar Nünning, “Travelling Concepts as a Model for the Study of Culture”, in: ibid. (eds.), Travelling Concepts for the Study of Culture, Berlin 2012, pp. 1-22, here p. 6. 11 Mieke Bal, Travelling concepts in the humanities, Toronto 2002, p. 4. take this fusion of Baroque music, of classical dance and hip hop in the choreographic work of Dominique Hervieux and José Montalvo: are these cultures? Certainly not in the ethnological sense of the term, but definitely in the sense of high culture which ends up integrating a popular, marginal, parodical culture. Or maybe it is the other way round? 7 Whereas in Pavis’s thinking, interculturality almost completely dissolves be‐ cause anything - including an artistic education - can become a “culture”, De Toros concept of “transculturality” is more useful for our thinking, because it provides us with a tool to consider the “interactions” between “nomadic cul‐ tures.” Moreover, we can rely on Heeg’s approach, which makes us aware that “transcultural theatre” is more about finding the “other” in one’s supposed “own.” We propose thinking of “transcultural theatre” as a form of travelling. Fol‐ lowing Mieke Bal, concepts are operative terms that are not stable but differ widely in their meaning in different disciplines, cultures, and times. The term “travelling” suggests that they only stay alive as long as they are on their journey from one discipline / culture / time to another, as long as they are used and “performed.” 8 Travelling concepts establish a “contact zone” by opening up a space in which different disciplines / cultures / times “meet, clash and grapple with each other.” 9 Traces of their different meanings, which they load while their travels, are inherent and cannot be diminished. The term “travelling” empha‐ sizes that travelling concepts are not to be understood as linear paths connecting various unrelated poles. Rather, they have to be seen as something that includes complex, unequal, and opposed relations. 10 Bal utilizes the concept of “travel” in its historical dimension, referring to the tradition of the picaresque: “Hazardous, exciting, and tiring, travel is needed if you are to achieve the gain of new experience.” 11 Additionally, she derives the concept of “travelling” from Jonathan Cullers remarks on performance and per‐ 75 Travelling Concepts, Travelling Theatre? <?page no="76"?> 12 Cf. ibid. 13 Neumann, Nünning, p. 8. 14 Cf. Fabian Barba, “Research into Corporeality”, in: Dance Research Journal 43 (2011), pp. 83-89. 15 Cf. Robert Blackson, “Once More … With Feeling: Reenactment in Contemporary Art and Culture”, in: Art Journal 66 (2007), p. 28-40, here p. 30. formativity, 12 which suggests that “travelling concepts” could be adapted for the analysis of theatre and performance. As Birgit Neumann and Ansgar Nünning argue: “The term ‘travelling’ does not merely refer to cultural movement but to creative take-up, change, blending and redefinition.” 13 In this sense it is similar to concepts of translation and trans‐ formation. We are interested in both the movement and in the creative take-up of McCarthy’s performances, which leads us to follow the travel of perform‐ ance / sculptural art in Looking for Paul. 2. Reenactment Artistic reenactments may bear traces of an artistic lineage, on which any form of contemporary performance art is based. Some exemplary reenactments that have occurred since the mid-1990s are Xavier Le Roy’s reenactment of Yvonne Rainer’s Chair and Pillow Dance (1996), Jerome Bel’s reenactment of Susanne Link in his now canonic Last Performance (1998) and Seven Easy Pieces (2005), Marina Abramovic’s own reenactments of her performance pieces and those of fellow artists from the 1960’s and 1970’s at the Guggenheim Museum in New York. At the Museum of Modern Art, Fabian Barba showcased his Mary Wigman Dance Evening which consisted of nine choreographies that gained fame during Wigman’s first tour through the U.S. in 1930/ 31. 14 Like reenactments of artistic works in museums and on stages, reenactments of historic events in (semi-)pu‐ blic and (pop-)cultural spaces have become very popular: at Checkpoint Charlie in Berlin, possibly the most famous crossing point between former Eastand West Berlin, actors pose in the historical uniforms of the four allied powers. In California, tourists can visit frontier towns accompanied by performers in his‐ torical clothing. Iteration or repetition that produces an endless series of differ‐ ences is not only a major principle of sampling and remixing in a variety of musical genres but also in the films by the DOGMA group, founded by Lars von Trier, which were modeled on Nouvelle Vague, and in lesbian drag king shows, which include impersonations of Elvis, the King. Incidentally, under a pseu‐ donym, Elvis himself signed up for an Elvis impersonation tournament and only came in second place in 1975. 15 76 Teresa Kovacs & Katharina Pewny <?page no="77"?> 16 Cf. Jacques Rancière, The Politics of Aesthetics, translated with an introduction by Ga‐ briel Rockhill, New York 2006. 17 Rebecca Schneider, Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenact‐ ment, New York 2011, p. 2. 18 Cf. Alfonso de Toro, p. 59. Reenactments of vanguard productions are part of the revolution and insti‐ tutionalization of contemporary performing and fine arts. In an altered form, classical elements of dramaturgical theatre (previously written texts, fictional characters and theatrical representation) are interwoven with avant-garde in‐ tentions and aesthetics. Theatre makers and performers interested in the polit‐ ical dimensions of art create reenactments (among them the German collectives She She Pop and Rimini Protokoll). The Veronika Blumstein Group and Wun‐ derbaum are exceptional reenactment agents and are part of the new “Politics of Aesthetics” in contemporary performing arts. 16 In the following, we will not venture any further into reenactment’s complex network of origin(ality) and copy, of history, remembering and forgetting, ephemerality and archiving. Rather, we will focus on the crucial element of iteration: “In the syncopated time of reenactment, where then and now punc‐ tuate each other, reenactors […] romance or battle an ‘other’ time and try to bring that time - that prior moment - to the very fingertips of the present.” 17 Reading reenactment in this way leads back to de Toro’s remarks on “transcul‐ tural theatre”. He is especially interested in the repeatability of the body, its nomadic and interminable adoptions and rejections connected to cultural pro‐ duction. Iteration is essential for his definition of “transcultural theatre”; the stage can be seen as a place where cultural processes and the production of meaning can be repeated and traced. 18 3. Travelling Performances. Wunderbaum’s Looking for Paul Wunderbaum was formed by six students of the Toneelacademie Maasricht upon their graduation in 2001. That year, they founded Jonghollandiam, which was affiliated with Zuidelijk Toneel Hollandia (in Eindhoven, the Netherlands), then led by artistic director Johan Simons. Between 2000 and 2008, Wunderbaum worked at NT Gent, the city theatre of Ghent, as well as at the Schouwburg Rotterdam. To this day they are very active in the Netherlands and Flanders. They are now an independent company and, since 2013, have been more closely connected to the Schouwburg Rotterdam. In spring 2013, they began their four-year project The New Forest, in which they attempted to develop a new form and concept of living together through different live and mediatized formats. In 77 Travelling Concepts, Travelling Theatre? <?page no="78"?> 19 The last two paragraphs are a revised version of a part of the article: Katharina Pewny, “Relational dramaturgies as a search for the other generation beyond European borders: Veronika Blumstein and Wunderbaum”, in: ibid. et al. (ed.), Dramaturgies in the new millennium: relationality, performativity and potentiality, Tübingen 2014, p. 79-96. the meantime, the theatre collective has performed throughout Europe and Northern America. For instance, at Hebbel am Ufer in Berlin, steirischer herbst in Graz, Holland Festival in Amsterdam, theatre-festival Boulevard in Den Bosch, Fringe Festival in Edinburgh, Romaeuropa Festival in Rome, Théâtre Paris-Vilette in Paris, the Distinctively Dutch Festival in Pittsburgh, National Review of Live Arts festival in New York City, and Harbourfront Centre in Tor‐ onto. At present, the group consists of Marleen Scholten, Wine Dierickx, Matijs Jansen, Walter Bart and Maartje Remmers. Currently they are touring with two new works: Superleuk, maar voortann zonder mij (A supposedly fun thing, I’ll never do again), which is a site specific work dealing with the pursuit of recre‐ ation, which can never be fulfilled. The basis of this performance are journalistic texts from the U.S.-American writer David Foster Wallace on his experiences during a seven-day cruise in the Caribbean. Wunderbaum iterated this journey and went on a seven-day-cruise as well: they worked as entertainers on the “Aida Prima”, which sets sail every week from Rotterdam. They wrote texts about their experience there and combined them with Wallace’s essays. The second work, which premiered in 2017, is entitled Wie is de echte Italiaan? (Who is the Real Italian? ) and is performed together with live music by Remco de Jong and Florentijn Boddendijk. In this work, they retell a meeting of the Association of Home Owners in Milano, where they expected to get to know the real national character of Italy. Many of the group’s works have strong local roots, e.g. Eindhoven de gekste (2002), stad 1 and stad 2 (2003/ 04), Natives (2011), Detroit Dealers (2012), and Superleuk, maar voortann zonder mij (2017). As is the case with Looking for Paul, the performance topics derive their inspiration from the concrete urban context. Rail Gourmet (2010) is a performance that deals with railway-services and takes place in a building next to Rotterdam’s Central Station, whose tracks can be seen through the windows. By choosing urban spaces as theatre sites, a more inten‐ sive relation is generated between the audience and the theatrical events. One’s everyday surroundings become the space where art takes place. Even if a per‐ formance does not take place on location, Wunderbaum still takes the audience to specific environments: Looking for Paul starts with a video in which Marleen Scholten poses as Inez van Dam and introduces her favorite places in Rotterdam and the controversy surrounding Paul McCarthy’s Santa Claus sculpture. 19 78 Teresa Kovacs & Katharina Pewny <?page no="79"?> 20 Cf. Miriam Dreysse, “Heterosexualität und Repräsentation. Markierungen der Ges‐ chlechterverhältnisse bei René Pollesch”, in: Gaby Pailer, Franziska Schößler (eds.), GeschlechterSpielRäume. Dramatik, Theater, Performance und Gender, Amsterdam 2011, p. 357-371, here p. 364. 21 cf. Wunderbaum, unpublished script for Looking for Paul, 2010. Wunderbaum’s performances seem to be set in a kind of soap opera: time and time again the same performers meet, and they always play themselves. The scenes and topics change but the series consistently adheres to the particular aesthetic principles found in Wunderbaum’s work. Scenes, live and on film, are shown in a seemingly arbitrary manner, and it is precisely these variations that demonstrate Wunderbaum’s relational dramaturgy. Yet this does not trigger the impression of authenticity but, as in the works of author and director René Pollesch, establishes a “frayed” or hybrid aesthetics, live and mediatized, au‐ thentic and enacted. 20 Different aesthetics and theatre signs are juxtaposed non-hierarchically. This leveling is a product of the collective working procedure from which topics, scenes, and performances evolve. Until January 2013, the dramaturgy and direc‐ tion alternated depending on who was (not) on stage at that moment (Wunder‐ baum Acteursgroep Rotterdam Gent 2001-2006). Wunderbaum works in two groups of five persons: five act and five run the administration, though as in the case of audience assistant Eva van den Hove, members remain involved in the artistic process by getting updates on the performance process on a one to one basis. From January 2013 to December 2016, dramaturge Tobias Kokkelmans was responsible for the development and organization of (press-)texts, research and broader structures of content. Since 2017 Margreet Bergmeijer is responsible for these duties. Wunderbaum works together with different dramaturges for different projects. Wunderbaum appears—as is common in Flanders and the Netherlands—as a collective. This is also true for the authorship of Looking for Paul. The five performers first developed the plot, then shaped the script through an intensive e-mail exchange, which resulted in printouts that do not differen‐ tiate stage directions from the main text. Thus the script starts with “13 mei 2010, Aan Matijs, Walter en Maarten@wunderbaum.nl / He jongens / We gaan naar Los Angeles! Gisteren kreeg ik een email van Mark Murphy van het Redcat Theatre. We hebben het geld! Alles! 20000 dollar! Wauw, ik heb er zo’n zin in! Kus Marleen.” 21 (“13 May 2010, to Matijs, Walter and Maarten / Hey guys / We’re going to Los Angeles! Yesterday I received an e-mail from Mark Murphy at Redcat Theatre. We go the financing! All of it! 20,000 Dollars Wow, I am really looking forward to it! Kisses, Marleen.”) The academic search for information on the writing process, which also took place via e-mail, mirrors the evolution 79 Travelling Concepts, Travelling Theatre? <?page no="80"?> of the text: “Beste Katharina / We hebben inderdaad de e-mails naar elkaar geschreven. Maar van tevoren hadden we wel alles al uitgedacht dus het was vrij duidelijk waar we naartoe zouden schrijven. Als je wilt kunnen we er eens over bellen. / Groet van Matijs.” (“Dear Katharina / We did indeed write each other e-mails. But before we did so, we thought about it well, so we were indeed clear about whom we had to write to. If you would like, we can talk about it on the phone. Greetings, Matijs.”) The performance is structured in three parts. First, guest-actor Daniel Frankl introduces Wunderbaum and briefly describes their collaboration during the L.A.-guest-residency. The opening words lead to the presentation of Inez van Dam (Marleen Scholten), who enters the stage from the audience to start her slide show on Rotterdam. In the second and longest part (which is the only scripted part in the Netherlands version, while for their performance in L.A., which didn’t mix Dutch and English but only used the English language, they scripted the whole work), first four, then eventually five performers sit on white plastic chairs behind five microphones on the empty black box stage, beside a video-wall in the right corner. They read the e-mail conversation out loud, which describes the production process, interspersed by a short video sequence showing Wunderbaum in Los Angeles. During the reading, the performers ad‐ dress the audience with their gestures and their gaze. By doing so, the audience becomes familiar and involved with their perspective, which often turns out to be in conflict with opinions of the other group members. The time pressure, created by the incipient premiere, adds to the tension. All of this tension is discharged in the third and final part, the reenactment of Paul McCarthy’s per‐ formances. Accessories such as masks, bales of straw and said fluids, gestures and movements reference McCarthy’s works in a playful manner. What kinds of travel build the basis of the performance? How is travelling staged, and how does this lead to the hybrid aesthetics the audience experiences? “Travelling” is the very beginning of the performance and it anchors its devel‐ opment. The opening words of Daniel Frankl make this clear: only because Wunderbaum was selected as L.A.-artists-in-residence does a performance called Looking for Paul exist. The title of the performance also allows us to as‐ sume that we will follow some kind of “travel”—in the sense of searching. When Inez van Dam appears on the stage, introducing herself as a native of the city Rotterdam, another multi-way journey begins. While we follow on the textual level the journey of McCarthy’s sculpture Santa Claus from L.A. to Rotterdam (Inez gives us information about all the political decisions, public discussions etc. till the installation of the sculpture on Eendrachtsplein), her slide show presents Santa Claus as a static monument in Rotterdam while she, other citizens 80 Teresa Kovacs & Katharina Pewny <?page no="81"?> 22 Ibid. 23 Ibid. of Rotterdam, and tourists travel around the sculpture (we see Santa Claus from every perspective in this slide show). In this first moment of the performance a principle is established: static positions and travelling moves are juxtaposed. While the performers talk about processes and travelling, their bodies remain relatively static (for example, during the e-mail-reading in the second section). On the other hand, on the video screen and in the first part we see different actions, while what is said on stage nearly comes to a standstill. Before Inez mentions Santa Claus for the first time, she presents facts about Rotterdam as well as its sites and buildings. It soon becomes obvious that Inez is fascinated by movement: she shows pictures of the port and refers to the ship which historically connected Rotterdam with the United States. Moreover, she is strongly attracted by the Erasmus bridge, which connects Northand South-Rotterdam, and she gives positive attention to tourists, who are willing to explore the city. Inez’s presentation of her hometown implements a sphere of something which one can call her/ his “own”. Her talk overflows with cultural stereotypes about the Netherlands, which function for Inez as identification markers of her “own” culture: “Now Rotterdam has become the city of ambitious new architecture. My favourite architectural highlight is the Erasmusbridge, named after the famous dutch filosofer [sic] Desiderius Erasmus.” 22 The mention of Paul McCarthy’s Santa Claus interrupts these naïve images of someone’s “home” and “own culture”: These are my parents, they are still together, and they also live in Rotterdam. And every Sunday they have a coffee at my house. And since 28 november 2008 this is my view. It’s an artwork of the American artist Paul McCarthy He is living in LA It pictures a black Santa Claus with a butt-plug in his hand. 23 The sculpture is staged as an alien element not only on the textual, but also on the visual level: as distinctly as Santa Claus changes Inez’s narrative of Rot‐ terdam and its rich culture, it distracts from the photo-presentation the audience is following. The audience’s view of a happy Inez surrounded by family and her cat is interrupted Santa Claus, which becomes the focal point of the presentation. This makes it impossible to create a positive image of “one’s own.” 81 Travelling Concepts, Travelling Theatre? <?page no="82"?> Abb. 1: Looking for Paul (2010), © Wunderbaum Abb. 2: Looking for Paul (2010), © Wunderbaum Whereas “travelling” in the first minutes of her presentation was discussed in the context of Inez’s “own” culture, stressing the “origin” of Paul McCarthy and his sculpture adds an “outside” element to the performance. Cultural transfer is mostly connected to “failed transfer” in this performance: the art of an U.S.-based artist can’t be well received in Europe (“I read Mr Mc‐ 82 Teresa Kovacs & Katharina Pewny <?page no="83"?> 24 Ibid. 25 Ibid. 26 Ibid. Carthy saying that he doesnt [sic] know anything about European culture. That his work comes out of the kids television in Los Angeles. That he dididn’t [sic] go through Catolicism [sic] and World War two, that his ketchup is ketchup and not blood. So why does he want to throw this uberamerican work in my euro‐ pean katholic [sic] face then? ? .” 24 ). At the same time people in L.A. can’t under‐ stand the work of Wunderbaum. This is discussed during the reading of the e-mail-correspondence. On the other hand, failed transfer is the starting point of Looking for Paul. It is the irony of the performance that Inez is willing to join Wunderbaum on their travel to L.A. and in this way reenact the travel of Santa Claus (which she perceives as an aggressive occupation of Rotterdam), only this time in the different direction. Inez’s dislike of McCarthy’s sculpture Santa Claus, which—following her narrative—was installed in 2008 across from her Rotterdam house and bookstore, sparks another conflict, which turns out to be central to the performance. Inez accompanies the group to L.A. because she wants to get back at McCarthy. The second and longest part of the performance is spent reading out the e-mails. As mentioned above, the reading starts with Wunderbaum’s invitation to the renowned REDCAT theatre in Los Angeles (Roy and Edna Disney/ CalArts Theatre) in fall 2010. The invitation sparks controversies among the group re‐ garding the material and form of the new production. The entire group feels insecure about working in the United States. The first e-mail from Walter, where he announces that they will go to L.A., emphasizes these difficulties: “But always when you work in another country, in another culture, it is difficult to find some sort of way to understand one another …” 25 The e-mail-correspondence registers contrasting ways of dealing with this lack of confidence. They therefore discuss different solutions, all related to cultural transfer between the U.S. and Europe: The group considers staging existing U.S. plays like Tennessee William’s A streetcar named desire or doing a non-text-related performance (“[…], I don’t think we should do an existing theatre play. We have never done that. I think we have to do something special in LA. A bit more European. That is what they like.” 26 ) The L.A. sponsors instead try to encourage them to do something “Eu‐ ropean”: “I think Californians would rather see something ‘raw’ and ‘edgy’ and not just hear about you guys stalking someone. Sadly enough celebrities are getting stalked here all the time. […] The LA audience would really appreciate it if you did something more abstract, for example along the lines of Pina 83 Travelling Concepts, Travelling Theatre? <?page no="84"?> 27 Ibid. Bausch.” 27 Wunderbaum finally agrees on one idea: following Inez van Dam’s journey from Rotterdam to L.A. and helping her get back at McCarthy. The crucial point is that they found something supposedly “other” in the sculpture of McCarthy, which actually concerns their “own” culture and identity. If the sculpture of McCarthy seemed overwhelming in the first part of the perform‐ ance, in the second section McCarthy gradually diminishes and is ultimately replaced by Wunderbaum’s own involvement. Although the audience could ex‐ pect that Looking for Paul will finally lead to a meeting of Wunderbaum and McCarthy, this never happens in L.A.. The performance is centered on the search for McCarthy, and taking a stance on his work. In the course of the production process, the former outsider Inez van Dam gets involved with the collective, and eventually takes part in the McCarthy reenactment during the third section of the performance. The pro‐ duction charts the transformation of Inez from a decisive critic of the “butt plug gnome” to a performer of lesbian S/ M scenes during the McCarthy reenactment, which concludes with her uttering the words “I love you.” Due to the e-mail-ex‐ change, the text has a fairly classical dramatic form, which contains a lot of dialogue and speeches. These revolve around the idea, the conception, the per‐ formative negotiation and finally the realization (hence, the actual dramaturgy) of the performance. Looking for Paul is motivated and driven by the search by an artistic com‐ munity for artistic predecessors. The motive of the search, not the actual find, is central. When Wunderbaum actually meets Paul McCarthy at the opening of an exposition in Los Angeles, they do not even talk. The relational dramaturgy of the search for the other generation cannot be fulfilled. As with a deferred signification or movement, the search ends with the occupancy of the other generation by means of the embodiment of the predecessors in the performance. Looking for Paul is a reenactment within the fine arts, mirroring traces of the sexual liberation movements of 1968 and the revolution of dramaturgical con‐ ventions. Though at first sight postdramatic, Looking for Paul actually contains conventional dramatic elements like the fictional protagonist, conflict, and the creation of tension, which ultimately is released. The third part even has a ca‐ thartic function. The five performers seem to assault and penetrate each other with food as they spatter ketchup, mayonnaise and chocolate sauce on the stage and on each other. They fill their orifices with fluids and snacks, the smells of which permeate the audience space. All of this appears less aggressive, twisted and forced than McCarthy himself, and rather emphasizes pleasure. Looking for 84 Teresa Kovacs & Katharina Pewny <?page no="85"?> 28 Jeannie Klein, “Paul McCarthy: ‘Rites of Masculinity’”, in: PAJ: A Journal of Performance and Art 2011, pp. 10-17, here p. 15. 29 Cf. ibid. 30 Cf. ibid., p. 16. Paul ends with an atmosphere of cathartic liberation from rigid artistic and social norms, which strongly echoes the upheaval of 1968. Paul McCarthy has been working since the late 1960’s, but only in the 1990’s did his work gain popularity. Inspired by icons of the mediatized, pop-cultural world of children, like Heidi or Snow White and the Seven Dwarves, the artist’s controversial oeuvre ranges from sketches to videos and sculptures. Unlike Hermann Nitsch, McCarthy has never used real blood or made himself bleed. Instead, he uses human excretions and food such as “ketchup, mayonnaise, saliva, chocolate syrup, cold cream and raw meat […].” 28 Wunderbaum freely and obviously references McCarthy’s performances Sailor’s Meat, Meatcake (1974), Hot Dog (1974), Spit Face (1970-75), Shit Face (1974), and Class Fool (1976). 29 Besides the obvious parallels, the self-critical questioning of the myth concerning artistic inspiration is another element that can be found in both McCarthy’s work 30 and in Looking for Paul. Looking for Paul is presented as a true story, the records of which can be found online. This seems to prove its authenticity. However, Wunderbaum or others may have only created these records for the Internet. Questions concerning reality and fiction are hence not clearly answered, but are incidental to the focus of the dramaturgy. The performance and the appeal to the audience work be‐ cause of the conflictual search for self-positioning a) with regard to the contro‐ versies within Wunderbaum on the nature of the L.A. project (playing Tennessee Williams’s A Streetcar Named Desire versus staging a political debate on art sponsoring) and b) concerning the work of McCarthy. The latter opens up a debate on the meaning and morality of art (funding), which Wunderbaum presents as a critique of the privatization of art funding in the Netherlands. On the one hand, their predecessor’s works serve as models for younger artists. On the other hand, they stage a certain skepticism in the face of current (economic) constraints. Wunderbaum explicitly thematizes this through their searching for a way to deal with the drastic funding cuts for art and culture in the Netherlands. In Looking for Paul the travelling of performances through different times and spaces creates a transcultural theatre, which isn’t concerned with the exotic “other”, but finds the “other” in the creator’s “own” culture. “The other”, which is at first symbolized by the installation of the sculpture Santa Claus by the U.S. artist Paul McCarthy, for Wunderbaum is increasingly concerned with exploring one’s “own” culture as the performance continues. Ultimately, it becomes clear 85 Travelling Concepts, Travelling Theatre? <?page no="86"?> that “other” and “own” can’t be split apart; by discovering “the other” we are drawn back to ourselves, and one will find “the other” in one’s “own.” 86 Teresa Kovacs & Katharina Pewny <?page no="87"?> The Concept of World Theatre in Postdramatic Context: Scientific and Aesthetic Points of Reference and Implications Roundtable discussion with Christopher Balme (New Zealand, Germany), Günther Heeg (Germany), Eiichiro Hirata (Japan), Patrick Primaversi (Germany), Mziwoxolo Sirayi (South Africa), and Janine Lewis (South Africa). Moderator: Koku G. Nonoa (Togo, Austria) Koku G. Nonoa: Referring to Goethe’s World Literature, we would like to ad‐ dress the concept of World Theatre in this podium discussion and call into ques‐ tion its meaning and its implications for the diversity of theatrical forms of expression in today’s world. Which form of theatre is relevant for the globally diverse performative and ritual forms of expression of theatrical practices? Goe‐ the’s idea of World Literature, which could also be related to the concept of World Theatre, raises the following question: is this concept still up-do-date? Günther Heeg: In my view it is not very helpful to assume that World Theatre is composed of a few basic theatrical elements, which are identical everywhere in the world. This concept was already highly debated in the 1980’s. It was characterized as the other side of Western theatre, drama, language, literature, etc., since concepts such as this one require a binary scheme or an enemy image. This results in opposition and hostility towards foreigners instead of dialogue. If there is such a thing as World Theatre, then it is still in its developmental stages. An emerging World Theatre cannot be a theatre of bogeymen and po‐ litical opposition, but must rather be a theatre based on displacement and dis‐ position. I would suggest favoring a historical approach when discussing the idea of a World Theatre, instead of reverting to anthropological, originary and basic practices and forms that exist everywhere in the world. In the context of globalization structurally accompanied by fundamentalism, returning to origins, to the original and to the anthropological is not helpful. The postdramatic the‐ atre of Hans-Thies Lehmann strictly follows a historical approach. Lehmann never sought to name the original. In opposition to language-based theatre, <?page no="88"?> there is currently a form of theatre based in ritual and which confronts the superiority of the text with the body. Christopher Balme: I will speak here from the viewpoint of New Zealand. My first question is: does New Zealand have theatre like other countries in Africa, Europe or Asia? Yes, New Zealand does have theatre. But the more interesting question is the meaning of the word “world” in the concept of World Theatre. Where do we find similar structures? There is, for example, World Music, World Literature and World Art. So there are many meanings of the word “world”. Maybe you will disagree with me, but I do think that in every place the word “world” means something different. For example, World Music was and is more of a marketing concept for a specific kind of music; if you go to a record shop you will find a category called “World Music”; or if you study music in the UK today to earn a degree in music, you would probably find it as part of the cur‐ riculum. World Art is another concept that has frequently been discussed in the last fifteen years. What does it mean? In art history, for example, the origins of art go back to prehistorical cave paintings discovered in Europe. And basically, World Art seems to mean everything except the European canon. So, we have an interesting situation of “world” referring to everything and anything except the European canon. This seems to be one way of understanding the term “world”. How are we going to apply the term “world” to theatre? I will argue that this doesn’t work: the idea of everything being the world except Europe cannot be applied to theatre because theatre is not an European concept. It is interesting enough that all these music and art histories have a very strong national orientation. Literature in particular defines itself in nationalistic terms, for example French literature, German literature or English literature. Theatre has never really defined itself in very strong nationalistic terms, even if we have national theatre buildings and so on. But theatre has always travelled all around the world as a medium. I agree, there are times when it becomes localized and established in some cities, but theatre has always undertaken tours. When I consciously said at the beginning that there was theatre in New Zealand, what I meant of course was that the institution theatre has been adopted all over the world. If we talk about World Theatre, we should also ask ourselves the inter‐ esting question: Why do we have a theatre building in New Zealand, in Ulaan‐ baatar, in Wladiwostok, in Lomé, or in all Japanese cities? Why do we play theatre? How does the theatre institution enter the world and under which conditions? It is a complex story and we have to look at these questions. This is why the term “World Theatre” appears relevant to me. 88 Roundtable discussion <?page no="89"?> Patrick Primavesi: We should regard theatre not just as an art or as one of the art forms that can be compared to music, the fine arts or literature, but also as a cultural practice. This helps us to understand why theatre, particularly in the 19 th century but also in our times, could become a means of national represen‐ tation while at the same time opening the horizons to other cultures, traditions and practices. In order to examine its representational values and structures with regards to the concept of nation and national culture, it is indeed helpful to go back to Goethe’s idea of a World Theatre. This idea already contains two dif‐ ferent tendencies. On the one hand you have the vision of open horizons that include all those elements of human experience beyond the limitations of a par‐ ticular local or regional culture, e.g. in Weimar. When Goethe became director of the Weimar court theatre he wanted to build something like a transnational repertoire, based on new translations. As we all know, translations became very important in those times for German theatre culture. However, the methods and ends of translation were highly controversial regarding the extent to which the experience of the foreign as such should be conveyed to an audience. Goethe enlarged the horizon of German theatre by including not only Greek theatre (tragedy and comedy) on the Weimar stage but also Shakespeare, Calderón, Gozzi, and Voltaire, in order to create a framework for a more elaborate German theatre culture. However, these translations and their stage productions were full of compromises and adaptations to a common taste. On the other hand, in his later work, there is another type of world experience, perhaps a more radical encounter with the foreign. His West-East Divan (1819) deals with a kind of open dialogue between Arabic and German poetry. Contemporarily, there was an important phase in the 1970’s and 1980’s, when a new concept of World Theatre was promoted by the work of Peter Brook, Ariane Mnouchkine, Eugenio Barba, Robert Wilson, and many others. This con‐ cept sought to explore how people all over the world could communicate through theatre. These efforts definitely went beyond the limits of dramatic literature but they were still dominated by a Western perspective. Therefore, from today’s point of view, talking about World Theatre should include an awareness of the potential, by which theatre as a cultural practice reflects and transgresses the boundaries of representation as well. Janine Lewis: I look at theatre as a profession. My understanding of the word “world” is influenced by different factors such as historical, institutional or colo‐ nial influences. Before the advent colonial influence, South African theatre was largely embodied and expressed in role-plays with numerous performance ele‐ ments. This became the basis of the features of the South African theatre style per se. This theatre style developed and emerged through the township theatres 89 The Concept of World Theatre in Postdramatic Context <?page no="90"?> and raised issues of resistance during the Apartheid period; it also becomes known later as protest theatre, agitprop or varieties. This means that at that time, we began engaging with postdramatic theatre performances through our ways of finding venues, spaces and activation of moments as theatrical narra‐ tives and performances. At the same time, there was theatre in Western, Euro‐ pean styles related to literature. In our democratic environment today in South Africa, we have unfortunately lost the emphasis on embodied, postdramatic theatre that we used to have. We now focus more on structures and literature and we are trying to follow rules that are not necessarily very applicable to our means of theatrical storytelling and role-playing in South Africa. The artistic communities think that their work will only be legitimized if it is performed in institutional theatre spaces in the Western or European way, and this is one way of interpreting how World Theatre has impacted us in South Africa. Eiichiro Hirata: For me, the concept of World theatre is confusing. Unlike the concept of World Literature, the concept of World Theatre means something very abstract to me. At the centre of theatrical practice, the body and the concrete gesture are foregrounded, which are visible and tangible for everyone. The body and excess would be the common denominator of many theatrical forms of ex‐ pression worldwide, constituting a form of expression first on the individual and then on the collective level. On this basis, I could name various comparable examples from the Japanese cultural space. Here, my first question would be: What is Kabuki Theatre? When and how did it start? It all began centuries ago with a woman who started dancing all by herself on a riverbank in Kyoto, which fascinated many people. Many young people joined her activities and showcased their singing and dancing. Kabuki began in a local spot in Kyoto and was later performed in other cities. 300 years later, when the Japanese society became open to the Western world and the subsequent intercultural exchanges, Kabuki became known as a “Japanese theatre” in the “world.” As many Japanese had suffered under the feudal system, the contact with Western culture was perceived as liberating. Along with the cultural opening towards the Western world, Japan first got in touch with Western theatre, e.g. William Shakespeare and Henrik Ibsen. Ibsen’s Nora, for example, is one of the first modern Western plays performed in Japan. When we speak of World The‐ atre, we have to consider historically differentiated developments and cul‐ ture-specific characteristic forms of theatre, and along with it, socio-cultural resistance which theatre can practice against oppressive situations in each so‐ ciety. 90 Roundtable discussion <?page no="91"?> Koku G. Nonoa: On the basis of everything you have said I will affirm that it is not possible to reduce all theatrical cultures and practices in the world and their corresponding modes of expression to one single theatrical form and structure. Historical and cultural approaches are very important. This means that taking into account diverse perspectives in their socio-cultural context should reflect more lived cultural practices of people in Asia or Africa or other non-Western theatre practices than the Eurocentric viewpoint could. The his‐ torical dimension of colonialism and the influence of Europe relating to the global spread of Western theatre culture should also be questioned and analyzed e.g. in relation to theatre buildings. Considering the process of institutionalizing theatre through the construction of (national) theatre buildings in Europe and in other places or continents in the world (during the period of colonization) helps us to figure out how certain forms of theatre successfully spread throughout the world. Equally taking into account historical and institutional impacts in relation to culture-specific dimensions, it becomes clear that theatre has always been more than artistic practice: it is a cultural practice, a medium of social representation and an expression of cultural performance. Mziwoxolo Sirayi: I agree with the speakers that the word “world” in the con‐ cept of World Theatre is problematic. I advocate an approach which focuses on the description of theatrical practices rather than on definitions of concepts related to theatre. When, e.g., the missionaries came in Africa and saw theatrical role-playing, they said: “There is no theatre in Africa as we know it in Europe”. This means they had a specific understanding on the basis of which the whole concept of theatre is defined in Europe. So I would like to ask: When we talk about the concept of theatre or World Theatre, are we talking about a technical definition or a practical definition? Is it the definition of Word Theatre we are looking for when we are among Xhosa or Zulu people in South Africa? If yes, you will never find such a word; you can never find a word that literally trans‐ lates the terms “theatre” or World Theatre into Xhosa or Zulu language in the European understanding. If we take, e.g., the concept of the “human being“ in analogy to the concept of theatre, we become aware that this is actually an English or European term: does this mean that there are no human beings among Xhosa or Zulu people just because there is no literal translation of the concept of “human being“ in their languages? Of course, there are human beings there, too. We might not have the concept of theatre in the European understanding of the term, but does this imply that we don’t have theatrical practices? The question is, how do people in South Africa explain and describe their theatrical practices? And moreover, Africa is not a homogeneous continent. There are so many different communities and cultures in Africa. Are we suggesting that each 91 The Concept of World Theatre in Postdramatic Context <?page no="92"?> of these diverse cultures and its people do not have theatrical practices and do not name them according to their own understanding and modes of expression? It is good to look at how, e.g., Xhosa or Zulu people describe and label these theatrical practices. If we look at the notion of “World Theatre” from a practical perspective, we may not have the same concept, but there are many similarities between performance practices in Europe and Africa that make one think of different forms of theatre practice. Teresa Kovacs (from the audience): I think it is very important to question what the term “World Theatre” is actually supposed to mean. After a historical contextualization, we should also ask ourselves what relationship between world and theatre we are thinking of. Günther Heeg: The problem is related to the concept of the “world“, which is related to marketing strategies. I would propose another term, rooted in the French approach based on the work of Jacques Derrida and Jean-Luc Nancy. In my view, the key terms in this respect are globalization and mondialisation in the processual sense of becoming a world. This means that the world actually does not exist. In Jean-Luc Nancy’s understanding, there is only the creation of a world, his thesis being that globalization should be seen as economic globali‐ zation. Financial flow in the form of digital communication led to an agglom‐ eration of wealth and poverty in large metropoles. This, however, does not lead to the development of a world. For Nancy, it is all about what this world devel‐ opment could look like. He says that this mondialisation can only emerge from a “lack of meaning”; this is constituted by theatre. Theatre does not have a reason: It is not rooted in cult, or in religion, or in politics. Theatre is a phe‐ nomenon of repetition and therefore, the development of a world can be con‐ sidered a philosophy of theatre. This could be a starting point for the term “World Theatre”. Patrick Primavesi: It is not productive to continue the use of too narrow a concept of theatre. “Theater der Welt” for instance is a German attempt to present different theatre forms of the world at festivals. However, obviously, neither the festival “Theater der Welt”, nor the concept of World Theatre can represent all theatre practices of the world. Once more, I suggest a closer look at theatrical practices. We should also avoid the trap of claiming that theatre belongs to a particular national or indigenous ritual practice. Instead of merely representing something like the true origin of a specific culture, theatre can intensify a multidimensional und diverse process of exchange between different cultures and different worlds. 92 Roundtable discussion <?page no="93"?> Koku G. Nonoa: An comment coming from the audience says it is very im‐ portant to talk more about practices instead of focusing on a highbrow literary conception of theatre. If you talk about “World Literature” you always have an idea of the highbrow. We also have film in theatre practice. Film in general it is not as strongly related to highbrow literature as theatre. Chistopher Balme: This is an interesting point. We have to historicize the term “theatre” to understand historical backgrounds. I don’t think that a hundred years ago, when Western theatre was introduced in Asian countries, it was un‐ derstood in a highbrow way. I have been studying and doing research on an English acting manager who toured around the world between 1900 and 1922 and constructed many theatre buildings. And what he performed in most the‐ atres was anything: he would for instance also show films and movies etc. He used to show English musical comedies too, but we still recognize theatre in the activities he performed in the buildings he constructed. Theatre buildings have a very complex history. There are a lot of things going on in these buildings that belong to the practice of theatre. This is part of the story when talking about how Western theatre came into the world. What spread throughout the world quietly and in a heterogeneous way may be forgotten now. So, film yes, but it is one of the many cultural practices that are also used in theatres. Koku G. Nonoa: It is becoming obvious in this debate that all the speakers are trying to find alternative ways of dealing with theatre as a cultural practice that is approached and expressed in diverse ways around the world. Theatre as cul‐ tural practice is not (only) a highbrow and homogeneous medium, theatre is a culturally specific medium that reflects (on) historical, economical und political realities all over the world. My last question to you, speakers of the panel: Which understanding of the‐ atre linked to power relations in the world is useful to approach theatre practice? Because talking, e.g., about theatre as a medium of cultural practice also relates to questions about power relations and power play. How does theatre as a cul‐ tural practice handle this power situation? Janine Lewis: I think we must look at different world performances and other ritualistic practices of theatre that share some similarities with the contempo‐ rary understanding of theatre practice. The chosen concept of World Theatre should focus more on play and practice theories. The power relation in this context is linked to the question of how a predisposed kind of understanding of theatre coming from someplace is being imposed, e.g. in Africa, without em‐ bracing what is already there. We should be looking for new terminologies that 93 The Concept of World Theatre in Postdramatic Context <?page no="94"?> are accessible for all if we want to exchange in multidimensional and inter-ar‐ tistic ways. Patrick Primavesi: Theatre practice has always dealt with power relations and with the power of play. On the one hand, theatre is able to represent existing relations of power, struggles of dominance, rivalry, exploitation, violence and so on. On the other hand, theatre practice is itself a situation of playing with power relations because once you start to play you approach a position of re‐ lational power. The power play then is also about the ability of theatre practice to overcome fixed structures of behavior between people and among groups. Theatre practice has a potential to make things flexible again when a particular power position and governance structure has been established. In this sense, theatre can function as a process of playful empowerment that sometimes may even contribute to political empowerment. However, the concept of World The‐ atre is an example of a vision that produces its own dynamics, turning out to be - in the worst case - just another concept of hegemonic representational power. Therefore, we should continue to look at theatre practices in other cultures that still can offer a different understanding of the European practices from another perspective, in particular regarding relations of power, powerlessness, and play. Günther Heeg: I agree and would like to add the following: I think if, for ex‐ ample, a ritual is repeated in any form in theatre, it no longer represents a ritual, because theatre does not have a symbolic meaning that serves, for instance, to represent a particular god. Everything shifts into the aesthetic and artistic, re‐ spectively. The relation to power happens in the background of globalization, which means that theatre docks on to this institution and movement by under‐ mining and unveiling it and by being capable of shifting and changing its boun‐ daries. In this process, theatre does not have a meaning, either; theatre is a neutral-dynamic field. This is the power of theatre. Christopher Balme: I understand theatre like obscenity. I can’t define it, but I know when I see it. What I considered to be obscene five or ten years ago may no longer be considered obscene today. This is where the analogy of theatre to culture becomes interesting: I understand theatre as approaching cultural prac‐ tice, which keeps changing; and it keeps absorbing other cultural practices everywhere in the world. Theatre is a continuously changing cultural practice. Today, theatre defies the laws of globalization by continuing to change its forms and thus escaping the forces of homogenization. There are so many forms of theatre today, and there have been throughout history. That’s why theatre is also a success story. 94 Roundtable discussion <?page no="95"?> Eiichiro Hirata: Regarding the question of power relations, I would say that theatre has an ambiguous relationship with power. Theatre on the one hand mainly consists of individual excess in opposition to the collective. On the other hand, every theatre maker needs his or her own protagonists and audience, who collectively obey particular socio-cultural norms. These contradictory forms of theatre praxis appear differently in each society in the world. This difference in Derrida’s sense can direct the attention not only to many other theatre forms in close and distant cultures but also to their contradictory forms which link to the ambiguous relationship with power. The attention to the contradiction and its various relationships to power in many societies enables us to have a more appropriate insight into the theatre of not only other cultures but also our own. 95 The Concept of World Theatre in Postdramatic Context <?page no="97"?> Performative Praktiken und Postkoloniale Lektüren <?page no="99"?> Warping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals as an immersive theatre experience in South Africa Janine Lewis (Tshwane University of Technology) Weddings are a necessary cultural ritual world-wide - a celebrated rite of pas‐ sage. In multi-ethnic South Africa these rituals embrace both traditional and popular cultural practices. Just as there are 11 official languages spoken in South Africa, so too are there variations of traditional wedding practices. In South Africa it has become customary to have two wedding celebrations, one which incorporates traditional practices and the other which follows the white wed‐ ding norms of popular culture presented as a transcultural experience. This custom accommodates the entire family of both participants - where the “tra‐ ditional wedding” may be held at the town/ city of the parents of the groom and the “white wedding” at the parents of the bride; or vice versa. Due to the his‐ torical phenomena evident during the times of Apartheid in South Africa, of economically-driven migration to cities and towns, this practice accommodates urban families as well as those in the rural homestead or place of origin, allowing as many community members as possible an opportunity to celebrate. The name “white wedding” originates from both the colonial and religious associations with prescriptive nuptial rituals. However, its contemporary prac‐ tice is very much a postcolonial phenomenon fuelled by increased globalization and influenced by media, events and fashion industries. There is a clear class trend towards spending lavishly for this event, and one-upmanship in hosting the most ornate, fashionable or “high-class” wedding. As such, this practice has become a part of popular culture. The potential of a wedding as an inherent performative theatre experience is unmistakable: the tenets of dramatic tension, symbolism, and climax are all present but are not tied to a predetermined text. To therefore recreate this ri‐ tualistic event as a postdramatic theatre performance offers an integrated live(d) experience as an experimental immersive work of art that simultaneously is sensorial and emotive by triggering memories or fantasies of comparable wed‐ <?page no="100"?> 1 Cf. Josephine Machon, Immersive Theatres, New York 2013, p. xvi and p. 68. 2 The practice of devising has been instrumental in enabling theatre makers to develop artistically satisfying ways of working by stretching the limits of established practices and reshaping their creative processes (Cf. Emma Govan, Helen Nicholson, Katie Nor‐ mington (eds.), Making a Performance: Devising Histories and Contemporary Practices, Oxon 2007, p. 10). 3 Janine Lewis, Devising and Montage: the use of physical actions to create (re)conceptual performance, Doctoral Thesis, Tshwane University of Technology 2012, pp. 248-251. The inclusion of the (re) added to the “conceptual” allows the interpretation that this art‐ work/ performance may be a repeat, or be occurring afresh, anew. It references the premise that there are essentially no new ideas, just new approaches, or adaptations in a current context. 4 Africanisation, “[…] should not be constructed as an absolute rejection of European thinking on African scholarship but rather as a rejection of assumed European intel‐ lectual hegemony” ( J. Teboho Lebakeng, M. Manthiba Phalane, Nase Dalindjebo, “Epis‐ temicide, Institutional Cultures and the Imperative for the Africanisation of Universities in South Africa”, in: Alternation 13 (2006), pp. 70-87, here p. 77). dings. Therefore, this article considers the relevance of rituals found at white weddings as popular culture within the montage staging process of creating the production nupt[r]ials (2015). This is an original immersive theatre experience devised by the Tshwane University of Technology (TUT) Department of Drama and Film and staged at the Breytenbach Theatre in March 2015. In reference to the historical and religious connotation of a white wedding, the use of the term “nuptial” was selected over “wedding.” Further, the collabo‐ ration between performers and emerging playwrights provided the production with a diverse take on the trials associated with wedding preparations and ri‐ tuals, resulting in the amalgamated title: nupt[r]ials. The spectator was invited to participate in this performance as a proverbial guest at a wedding and was expected to engage with the action whilst partaking in various “customary” wedding ritual practices. This transcultural experience was intended to be wholly immersive and wholly artistic, wherein the boundaries between life and art were blurred and carefully (re)constructed. Josephine Machon contends that immersive theatre cannot be defined as a genre, yet she does confirm that it is in the intention and framing of the particular acts of immersive theatre where the definition of its creation may lie. 1 Relevant to the style used for this production, is that the devising 2 creative practice I follow is not exclusive. However, I have refined it into a system called “Warping as a (re)conceptual creative practice.” 3 This offers an Africanisation 4 explanation for and insight into the conceptual choices, collaborative theatre-making process, and provides intent for the development of such original experiential productions. 100 Janine Lewis <?page no="101"?> 5 Cf. Hans-Thies Lehmann, Postdramatic Theatre, translated by Karen Jürs-Munby, London 2006, pp. 85-88 and pp. 134-136. 6 Gareth White, Audience Participation in Theatre: Aesthetics of the Invitation, Palgrave Macmillan 2013, p. 2. 7 Cf. Lehmann, p. 5 and pp. 94-96. 8 Cf. Kennedy Chinyowa, “The Context, Performance and Meaning of Shona Ritual Drama”, in: Lokangaka Losambe, Devi Sarinjeive (eds.), Pre-colonial and Post-colonial Drama and Theatre in Africa, Claremont 2001, pp. 3-13. 9 Cf. Gareth White, Audience Participation in Theatre: Aesthetics of the Invitation, New York 2013, p. 2; Susan Bennett, Theatre Audiences: A Theory of Production and Recep‐ tion, New York 2003, p. 142 and p. 155. As the dividing line between performer and spectator blurs, culture itself may appear as a dramatic performance - in an attempt to provide comprehension of the spectator’s personal-cultural circumstances. This is akin to postdramatic aesthetics that aim to focus on the process and shared experience between actor/ performer and audience/ spectator. 5 These aesthetics can also be found in the experimentation and innovation with audience and actor relationships since the inception of exposing these traditions early in the twentieth century. These have often been: […] from the basis of - and often as a specific challenge to - a set of conventions and aesthetic principles that belong to the tradition of fine art rather than that of the theatre. The borders between theatre and ‘performance’ in this tradition are now very porous. 6 Postdramatic theatre also accentuates the (re)contruction of identity through performance which “has the power to question and destabilize the spectator’s construction of identity and the ‘other’ - more so than realist mimetic drama, which remains caught in the representation and thus often reproduces pre‐ vailing ideologies.” 7 All of these interactive and participatory elements are inherent aspects in African cultural performance 8 and are therefore acknowledged within the body/ space/ time of their theatrical interpretation. In warping (re)conceptual theatre the creative process for the artist/ performer/ creator becomes as imperative to the outcome as the product is to the spectator - full comprehension or inherent meaning transpires through their combination in performance and theatre-making. The meaning of an artistic work does not only reside in that work, but also in the presentation by the performer (artist) and the perception of the spectator. 9 The creative process conceptualised, then performed, within specific socio-cultural and personal-cul‐ tural contexts is therefore essential to the transfer of meaning. The social and 101 Warping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals <?page no="102"?> 10 Cf. Karen Jürs-Munby, Jerome Carroll, Steve Giles (eds.), Postdramatic Theatre and the Political: International Perspectives on Contemporary Performance, New York 2013. political thematic context in which performance is created in turn is equated to postdramatic strategies. 10 As ex-post facto research, achieved through using a performative lens to il‐ lustrate the dialectical mode of doing and being in the research process, this article intersperses portions of personal narrative with academic writing to en‐ able a juxtaposed appreciation of the various layers of interpretation. Through reflexive and reflective process, this paper includes a delineation of the warping creative practice, including observed, yet subjective, perception of the audien‐ ce’s response to the production of nupt[r]ials in 2015. Fig 1: Poster image for Nupt[r]ials performance at the Breytenbach Theatre, South Africa in March 2015. Graphic art by Janine Lewis. 102 Janine Lewis <?page no="103"?> 11 A total of nine out of eleven official language groups were represented in the cast. 12 The performance text is a document which guides the moment to moment action as it happens. A performance text differs from a script in that it is an account of the audi‐ ence’s complete theatrical experience, including images, cues, symbols and the like. 13 Cf. Bennett, p. 142; Lehmann, pp. 93-95. 1. (re)conceptual process The process began when I approached six aspiring playwrights to each inde‐ pendently write a one-act play centred on the theme of a white wedding. These six playwrights were drawn from the staff, alumni and current students of the Tshwane University of Technology drama programme and encompassed various ages, gender, religious beliefs and cultures. There was also an unintentional spread of first language preferences that included a variety of six of South Africa’s official languages (Afrikaans, English, Pedi, Sesotho, Setswana, and isi‐ Zulu) - although all writers primarily used English as a basis for their narratives. This led to the scripts being inclusive of an assortment of languages that was further diversified by the interpretations of the diverse cast. 11 Although not all the playwrights were married they had all attended or participated in wedding rituals - both white, and various traditional permutations. The focus of each of the scripts was different - an unplanned bonus for the process. Some included reference to the practice of “lobola”, which is the process of negotiation by the groom’s family for the bride, translated as either “bride wealth” or “bride price.” Customarily the groom’s family would need to pay the bride’s family in cattle in compensation for the bride. Today’s practice sees the literal exchange of cattle being done in monetary equivalence of the amount of cattle negotiated as appropriate reparation. Other topics tackled were inter-ra‐ cial and mixed-cultural taboos as well as pregnancy and homosexual marriage - all these social issues are rife amongst the myriad of cultures within Republic of South Africa. The writing styles of the scripts also varied from absurdism to realism. I collected all the scripts and proceeded with the montage process of cutting them and re-pasting them together where the themes are intertwined in order to create a complex, single narrative performance text 12 referencing white wed‐ ding rituals, where the texts form the links between the expressive moments of the generic ritual practices on which the whole performance experience is based. These were then further deconstructed through the (re)conceptual process that emphasized the physical and non-verbal elements of the theatre-making (the body in space and time, further accentuated and enhanced through the aspects of mise-en-scène, scenography and visual dramaturgy). 13 103 Warping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals <?page no="104"?> 14 Dorita Hannah, “Event-Space: Performance Space and Spatial Performativity”, in: Jo‐ nathan Pitches, Sita Popat (eds.), Performance Perspectives: a Critical Introduction, Ba‐ singstoke 2011, pp. 54-62, here p. 54. 15 The Department of Entertainment Technology is an independent department within the Tshwane University of Technology Faculty of the Arts. Within this department the aspects of theatre technology, crafts and scenography are studied in complexity. 16 Pete Higgin, Elfrida Primary School, Lewisham, London [unpublished interview] (10 March 2011). 2. Scenography and visual dramaturgy Space - whether a suspended pause, blank area, an empty room or a limitless cosmos - performs … it is the fundamental immaterial-material utilised by the designers cre‐ ating sites for theatrical performance. Space is the stuff of architects (who construct it) and scenographers (who abstract it); experienced by inhabitants (immersed within it). 14 In nupt[r]ials the direct participation of the audience in the action allowed for them to fully inhabit the immersive world created. The play-world became one wedding venue that has housed the celebrations of a number of weddings over a period of time. All the weddings are different and yet very much the same. This interpretation in the play-world emphasized the fact that although a couple may think their wedding is unique, literally the same drapery and decorations are used again and again, perhaps in different combinations, but invariably with identical layouts and setup. A temporal effect was created by superimposing one wedding on top of another, or juxtaposing two weddings side by side. Even the technicians got in on the action. The crew consisted of students from the De‐ partment of Entertainment Technology; 15 they were dressed and referred to as venue staff - including the designated DJ and servers, with the Stage Manager fronting as the venue co-ordinator with the comm-set on to direct operations. For Higgin, the spectator is submerged: […] in the story and this idea and this fiction… it’s not just about arriving at the door, going through and then you’re somewhere else. It is about the journey … it’s about making sure that [the designated environment] feels like the real environ‐ ment where you can [interact with things, literally] touch things, you can sit on things … the sense that the room can hold your attention: if there were no per‐ former in there you would still be in a performance, within a world, within a storytelling environment. 16 Although hosted within an old proscenium theatre - the Breytenbach The‐ atre in Sunnyside, Pretoria - that seats 250 people, for this production the 104 Janine Lewis <?page no="105"?> audience was seated on the stage at 12 round tables each seating 10, so a maximum of 120 audience members could be accommodated. This allowed for an intimate wedding experience that is reminiscent of South African white wedding culture, where the community at large is invited and welcomed; however, only a select few (usually the immediate family and special guests) get to be seated in the decorated hall/ tent designated for the purpose of the celebrations. For the professional performance, sometimes the squabbling in the foyer over who may be allowed in and who should be rejected was fur‐ ther indicative of the painstaking guest list allocation process/ ritual of a conventional wedding. The scenographic design saw the tables placed on stage in a similar pattern to what would be found at a wedding, with numbered tables and designated seating arrangements. The tables were placed against the back-stage wall, facing the proscenium opening; therefore, offering the indirect reference to the spec‐ tators being performers (Figure 1, p. 102), further extending the invitation to the spectator to participate within the immersive experience. Spectators were ex‐ pected to shift and turn in their seats in order to see the various scenes that occurred all around them, reminiscent of an event venue where sightlines are not a primary consideration and some guests are left straining in their seats for a good view of the activities. Fig 2: Images of scenography design for the Nupt[r]ials performances at the Breytenbach Theatre, South Africa in March 2015. Photo credits Wandile Mgcodo; Katty vanden‐ berghe. The spectator physically responding within an imaginative environment is a pivotal element of an immersive experience and defining feature of immersive 105 Warping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals <?page no="106"?> 17 Machon, pp. 67-68. The use of praesent accentuates the ‘presentness’ of human sensory experience, where ‘presence’ directly correlates to its etymological roots: “from prae-sens, that which stands before the senses … The Latin root form of ‘present’ ac‐ counts for the state of being or feeling and emphasises the tactile proof of this in present ‘being at hand’ (from praeesse; prae, ‘before’ and esse, ‘be’)” (Machon, p. 44; See as well: Nicola Shaughnessy (ed.), Affective Performance and Cognitive Science: Body, Brain and Being, New York 2013, p. 205). 18 Cf. Lehmann, p. 93. 19 Augusto Boal coined the term: spect-actor by combining the terms spectator and actor to indicate that the spectator no longer is a passive observer of the action but is trans‐ formed into a vital active participant of the action (Cf. Augusto Boal, Theatre of the Oppressed, London 2000.) This may further be seen as self-empowering for the spectator through processes of embodied dialogue that may also help foster critical thinking. theatre, as a “live(d), praesent experience.” 17 These subversive practices have been grounded in postdramatic theatre that asserts that “a theatre of sceno‐ graphy” develops from the meaning communicated through the visual drama‐ turgy and optical data. 18 White was used as the base colour code and as a mode of reference the white wedding: the circular tables were painted white, with white seat covers and cream tie-backs in organza covering the plastic chairs. There was matching draping hung from the rig and chandeliers placed in the centre to enhance the ambience. The stage space had been stripped bare, with all the legs flown and the bare stage walls, hoisting mechanics and lighting grids exposed. This in‐ dustrial feeling was not masked; rather, the decorations were foisted upon it, recreated as if to cover up the mundane surroundings found at wedding venues. The gaudy drapes and lighting were hung as a façade to brighten up the space and offer a sense of festivity (Figure 2, p. 105). The theatre lighting was used sparingly to designate certain areas, but primarily to support the simplistic pri‐ mary focus of being at a wedding venue, therefore offering mood-lighting, rather than directional lighting of specific performers/ scenes. As part of the contract offered to the spectator each table was assigned a special activity which allowed all the guests to participate in the rites of the weddings at which they were in attendance. Although each contemporary white wedding conventionally selects only one or a few of these rites, for this pro‐ duction, a wide variety of activities were planned for this “one” occasion - ad‐ ditionally intimating that each table setting may be representative of an inde‐ pendent wedding celebration over time. Instructions for the purpose of participating in the rite was provided on a printed sheet placed strategically on each table, suggestive of a wedding menu. There were also the necessary tools for the rite to be activated. Presenting the spectator with a more intimate op‐ portunity for involvement in the action transformed them into spect-actors 19 in 106 Janine Lewis <?page no="107"?> attendance of the event. While their participation may be seen as conscious intervention, it remained voluntary. These rites also designated a sub-theme according to the grouping of people for each of the tables, such as would be done for a wedding. This designation was already known to the front of house, and so spectators were grouped as best as possible according to the description. The table designations included: • Pearls of Wisdom (married couple’s table): a wedding book was provided for the spect-actors to write their words of wisdom regarding marriage for the young couple; • Mix and Match (single’s tables): Those guests arriving at a wedding without a significant other are often seated together in the hopes that witnessing of this happy and loving occasion may entice them to pair up. Throughout the evening a timer on the table indicated when one or two members at the table at a time should get up go to a space where con‐ versation is enticing, i.e. visit the cash bar (in the foyer) or the smoker’s corner (out the back stage door of the theatre) as these are notorious places to pick up a significant other, and return to their seat when they were done; • Toss and Tussle: these spect-actors were required to participate in the ritual of catching the bouquet thrown by the bride to single eligible women; and the garter retrieved by the groom from his bride and thrown to eligible bachelors. The table had the bouquet placed on it that was collected by the couple allocated for this ritual; • Documenting the Occasion (Children’s table): crayons and paper were provided for the spect-actors to draw their impressions or offer commen‐ tary on the event; • Unity Candle Lighting: the spect-actors at this table were considered family of the performers who included them in the custom of lighting the unity candle to represent the unification of the two families. In so doing these spect-actors (as representative family members) offered their guid‐ ance as a symbolic light in the darkness of what the couple may encounter along the path of their marriage, a symbolic light that will always shine towards the positive and towards overcoming adversity; • Unity Sand Vase: two tables were each given bags of coloured sand, at the appropriate point these spect-actors (as representative family members) were invited up and asked to pour their coloured sand into one communal container held by the wedding couple. The combining of the two colours of sand represented the family’s acceptance and contribution towards the unification of the two families; 107 Warping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals <?page no="108"?> • Toasting the couple: throughout the evening these spect-actors were re‐ quired to raise a toast to the “happy couple.” They were given shot glasses to symbolically drink from. They were also permitted to order drinks from the waitrons, or go out to the cash bar themselves to purchase their re‐ freshment of preference; • Songs of Celebration: these spect-actors were provided with a songbook made up of various traditional folk songs sung at white-weddings. These songs included various languages and were often sung to disrupt the pro‐ ceedings or offer wishes of fortune to the speaker/ couple. The spect-actors were requested to select at least one song, and sing it at an appropriate time during the speech proceedings; • Capturing Our Special Moments: the spect-actors were provided with dis‐ posable cameras to take photos in order to document the event. They were also encouraged to use their own smart-devices and note their contact details in a book in order to obtain copies of the images after the event; • Flower Offering: each spect-actor was provided with a flower that they were requested to hand over to the bride as she makes her way to “the altar.” The gathered flowers made up the bouquet traditionally carried by the bride. These flowers symbolized the spect-actors’ support for the bride’s life’s journey and an acknowledgement of her rite of passage; • Dancing up a Storm: At the appropriate moment in the couple’s wedding ceremonies these spect-actors were requested to participate by dancing to celebrate the occasion. A pen and paper were supplied to facilitate these spect-actors in sending song requests throughout the evening to the DJ. These music requests would then be played. Additionally, at the appro‐ priate time, the master of ceremonies requested that these spect-actors open the dance floor for the other guests to enjoy the celebrations. In order to heighten the self-empowering aspect of being transformed into a spect-actor through processes of embodied dialogue, moments within these par‐ ticipatory activities deliberately poked at debated social ills and taboos. For ex‐ ample, the couple presented for the Unity Sand Vase ritual was gay - two men entered and stood holding the glass vase, into which the designated spect-actors were invited to symbolically offer their blessing of this union by pouring the coloured sand of the family they represented into the vase. Many spect-actors participated without question, happy to show their acceptance. Some partici‐ pated as if per rote, only because they were expected to, but with no real cog‐ nisance of the impact of their actions. Others were hesitant to offer their blessing for such a unity, yet went through with it to keep the social façade. Very few hung back and chose not to participate. It was nonetheless evident that such a 108 Janine Lewis <?page no="109"?> 20 Anne Bogart, Tina Landau, The Viewpoints Book: A Practical Guide to Viewpoints and Composition, New York 2005, p. 146. literal confrontation with a controversial situation, and the public demonstra‐ tion of the spec-actors acceptance of it, helped foster critical thinking and was transformative. 3. Expressive rituals in review The five generic ritual practices around which the performance text was con‐ structed were dealt with in an expressive conceptual manner manipulated in time and space. As defined by Bogart: “Descriptive staging repeats or re-enacts the external physical and vocal reality. The expressive staging portrays what the experience and situation feels like through abstract physical and vocal re‐ ality.” 20 The five ritual practices included: dancing and singing, the taking of photo‐ graphs, the first dance, the speeches, and the cutting of the wedding cake. Each of these ritualistic elements were mined for their emotive reason for existence. This raison d’ être was amplified and represented through a heightening of their private and public spatial and temporal realities. Dancing and singing It is customary in most South African cultures for all (guests, family and couple) to participate in the dancing and singing at a wedding. The ensemble repre‐ senting regular guests and a bridal couple formed the start of the performance wherein the spectators were collected from outside the theatre and proceeded through the foyer, en route to the stage. All audience members gathered for the performance gleefully followed the performer entourage, customarily joining in with the celebratory singing and dancing as they did so. Once inside the venue the performers danced on the apron singing a deconstructed version of the original song, composed by the ensemble, while the guests filed past them onto the stage to find their seats. This was indicative of stepping into a performative space, as opposed to the realism of the customary event - the spect-actor passed from realism into a surreal world that was familiar but warped. Once seated, each table was accompanied by one of the performers as “guests” who each initiated an intimate conversation at their table about their first love. These tales had personal flare and either positive or negative outcomes. These performers were also required to interact with the members at their table and take the cue for elaboration or discussion from them. One designated table had 109 Warping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals <?page no="110"?> a young couple who joined them, and the table participants witnessed their initial lover’s spat, making-up, and ending in a wedding proposal. All the per‐ formers’ stories either offered insight into the subsequent scenes that these characters would form an integral part of; or else initiated opportunity for con‐ versation about private stories in the public domain amongst strangers - indi‐ cative of strained first-meeting conversations. It was the entrance of the master of ceremonies that disrupted this chatter and brought the audience back into the public space of being guests at a wedding. All singing by the ensemble scattered throughout the performance was of recomposed songs, reminiscent of the originals, but often either deconstructed or patch-worked multi-lingual varieties (re)conceptualised by the cast. The de‐ liberate mixing of languages and customary lyrics also echoed the hybridity of such weddings. The songs were deliberately introduced all around the perform‐ ance area, sometimes sung intimately, sometimes by the cast grouped at a dis‐ tance - for example, from the existing auditorium towards the staged spectators. The final dance was another opportunity for the spect-actors to participate - not only was it part of the designated table rites, but it also formed the finale of the performance. During this, the DJ (sound crew technician) chose a random customary song to play, and the audience were invited up to dance along with the cast. However, the cast were given the task of dancing specifically off the beat to the music, so that their dancing appeared more like spasms and random shakings. The cast danced until the spect-actors took their leave, and then the performers left the dance floor one by one. This was punctuated by the main lights being flashed - indicating that the venue was about to close down, and that the festivities should come to an end. The first dance The first dance by the wedding couple is always an intimate affair, during which the guests are included as witnesses but may also be perceived as voyeurs into a secretive emotional bubble that the couple is required to put on display. This may trigger either an embarrassed and/ or intrigued feeling for individual guests. In the performance this emotional intimacy was heightened by literally en‐ croaching on the spectator’s space. The individual ensemble performers each approached a table and climbed on top of it to dance with their “partner” rep‐ resented by either a wedding dresses or a jacket on wire bust puppets lowered from above (Figure 3, p. 111). The song used for this dance was traditionally cheesy and went on for just long enough to create a sense of awkwardness for the guests, before the “couples” dispersed. The lights were also dimmed and pin-spots for each table heightened the sense of isolation and intimacy. 110 Janine Lewis <?page no="111"?> Fig 3: Collage images of the bridal couple’s first dance during Nupt[r]ials performance at the Breytenbach Theatre, South Africa in March 2015. © Janine Lewis; Katty vanden‐ berghe. The photographs Wedding photographs are always an elaborate affair, the taking of which often disrupts the flow of the proceeding. The couples are typically whisked off to a location that will offer a blissful setting that is sought out to intensify the beauty and visual appeal of the big day. Their plastered-on smiles are often unwavering - these display the need for joy and happiness at such an event. These smiles radiate emotion: including the sometimes strained, tired or nervous energy of the couple. But the eyes reveal the truth above these plastered smiles. In nupt[r]ials at a designated moment in the play, all actors lined up against the back wall of the theatre, where they placed a contraption on their heads which was designed to enhance their smile. The performers all dressed in a wedding dress or jacket, held a pose for the allocated time of a photograph to be taken, then stripped down again and mechanically moved on to the next outfit on the wall designated as a dressing station, where they repeat the process. This involved men dressing in women’s garb and vice versa (Figure 4, p. 112). The continued repetition of this action takes on the appearance of a production line. After a while the smiles start to slip, and grimaces appear in the cracks with drooled intent dripping down the chins of the performers. Just as suddenly as it 111 Warping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals <?page no="112"?> began, so it came to an end, and the performers returned to the singing and dancing of the celebrations. Fig 4: Collage images of the photography production line during a rehearsal for Nupt[r]ials performance at the Breytenbach Theatre, South Africa in March 2015. © Janine Lewis. The speeches The tradition of speeches at a wedding is compounded by the norms of the social customs being upheld. Customarily only the men are allowed this honour. In nupt[r]ials this ritual element was the only one supported by the texts. However, two opposing scripts were juxtaposed to offer commentary on patriarchy and feminism. On one hand there was malumi - the drunk uncle on the groom’s side, who takes this opportunity to entrench the values and traditions of mar‐ riage and the subservient role of makoti (the bride); on the other a young bride chooses to forgo tradition despite the protests from her groom and family, and she takes to the microphone to express her progressive feminist views about being treated as a commodity (Figure 5, p. 113). By interweaving these two speeches the juxtaposition of each of the values and views were made clear, but the audience was never offered a solution or presented one over-riding view‐ point. They instead were left to draw their own conclusions from the orations. 112 Janine Lewis <?page no="113"?> Fig 5: Collage images of the speeches by malumi and makoti during Nupt[r]ials per‐ formance at the Breytenbach Theatre, South Africa in March 2015. © Janine Lewis. The cutting of the wedding cake This ritual formed the climax of the show. An elaborate cake was lowered down onto a cake stand. Accompanied by music, various couples would enter one after the other and each partake in their own private cutting of the cake moment. The slices cut and eaten were from the top tier and were sliced in a clockwise fashion to symbolise the passing of time. Meanwhile behind this action, rostra were being set as if it were the long main table of the wedding party. The waitrons (crew) would set the tables from overlays to chargers, glasses, crockery, cutlery, candelabra and flowers. They then cleared it all up, and began again, which was done at least fifteen times, each time changing the colour scheme and layout of the table accessories. The actual objects, however, remained the same. This compounded the symbolic nature of one wedding venue that has seen several weddings over a period of time, each different, but very much the same (Figure 6, p. 114). 113 Warping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals <?page no="114"?> Fig 6: Collage images of the cutting of the cake scene during Nupt[r]ials performance at the Breytenbach Theatre, South Africa in March 2015. © Janine Lewis. It was also during this scene that most of the activities of the spect-actors took place - each accompanying a different bridal couple. The scene was bustling with activity. Repetition abounded. There was reference to various marriage combinations: lesbian, multi-cultural, male-dominated, female-dominated, gay and aged. As energetic as this scene became, it was ended when a selection of brides filed onto the “main table” and posed as if they were mannequins in a shop front. The scene that followed presented the dreams and hopes of these brides in a sustained, dry fashion, as if the audience were hearing rambled thoughts am‐ plified over a single microphone by the brides as they continuously stripped out of, and redressed in their wedding dresses (Figure 7, p. 115). Again, referencing 114 Janine Lewis <?page no="115"?> the fact that the bride’s voice is seldom heard at these events, in this scene it was offered only as thoughts spoken as an aside. The grooms punctuated these thoughts from the back of the venue (from behind the audience) with muttered jabs of how expensive the event was, or perfunctory words describing their impressions of the event. Fig 7: Collage images of the bride’s dreamscape scene for Nupt[r]ials performance at the Breytenbach Theatre, South Africa in March 2015. © Katty Vandenberghe and Janine Lewis. Although each text for the five brides on show were set, they were short, and therefore often repeated. However, neither the order, nor the amount of text spoken at any given time was predetermined. Instead, it was required of the performers to begin/ end their text at random whilst following the kinaesthetic response of the other women on stage with them. Simultaneously, they were supposed to be indirect in their offering of the text and portraying the non-verbal communication of merely dressing to view one’s self in the mirror. This added to the intensity of the scene. It also intensified the temporal effect (punctuated by the repetition of action and text); the scene felt dreamy and long, as if this had been going on in the heads of these brides for a lifetime. Girls are said to be brought up thinking and dreaming of their weddings, and this was a moment in the show that allowed for commentary on this aspect of gendered upbringing. All five ritual practices as the frame and crux of the production are indicative that as a theatrical interpretation of a wedding experience this transformation offers an experimental insight into the white wedding as a postdramatic thea‐ trical performance. The ending was designated by the master of ceremonies’ thanking all for coming, and then the bright fluorescent house lights were snapped on, and the waitrons (crew) came out to clean up and clear the tables, bustling amongst the exiting audience reluctant to leave. This is typical of a 115 Warping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals <?page no="116"?> wedding venue that keeps up illusion and pretence for as long as the wedding is on track, but usually has a “cut-off ” time for proceedings - often midnight or just after. And even though the show ran for an average of 100 minutes, the sense that one had survived a marathon event of a lengthy wedding was pal‐ pable. 4. Warping creative process As indicated above, the montage and devising process used for the creation of this performance was warping (re)conceptual creative practice. Again, this is not an exclusive or unique mode for the creative process; it references many contemporary philosophies and methods for collaborative theatre-making. In‐ stead, this model for creative processes offers a diagrammatic guide, represented as progressive cogs indicating that the performance process is ongoing and re‐ flective (Figure 8). Fig 8: Model for Warping (re)conceptual practice 116 Janine Lewis <?page no="117"?> 21 Product(ion) is reference to the theatre performance as a product resultant from the creative process including the addition of implicating the integration of product and production as one. 22 Cf. Janine Lewis, “Physical Actions as Expressive Performance Narratives: a Self-re‐ flexive Journey”, in: South African Theatre Journal 24 (2010), pp. 177-202. 23 Cf. Lehmann, pp. 85-104. 24 Cf. Ibid., pp. 97-99 and pp. 113-115. 25 Cf. Ibid., pp. 150-151. Each cog is represented by a stage in the creative process: sourcework; design; mise-en-scène; product(ion); 21 and reflection. This series of cyclical processes indicates that the progression is not only ongoing, but that one may return to or repeat any of the cogwheel mechanisms as required. This iterative process is vital to the creative practice as praxis and applies to both practice (reflexive) and theory (reflective). The application of warping (re)conceptual creative prac‐ tice was developed primarily for creating performances utilising physical ac‐ tions and imagery as expressive performance narratives. 22 This is reminiscent of the performance text in postdramatic theatre, with specific reference to physicalisation and visual dramaturgy. 23 The (re)conceptual aspect is also indi‐ cative of performance creation manipulating the body in space and time towards outcomes in concrete and cinematographic theatre applications. 24 The performance creation of nupt[r]ials will be referenced to demonstrate the intent of cogwheel mechanisms within the warping creative practice. For the sourcework cog with regards to a South African theatre-making narrative, the idea was generated from observing/ participating in the cultural performance of contentious white wedding rituals. The concept served to deconstruct these narratives and offer commentary on the popular culture and social conditioning surrounding such transcultural weddings to create an aesthetic/ professional performance through theatre-making. The variety of issues proposed through the one-act texts confirmed the controversy surrounding white weddings within many South African cultures and fuelled the need to address them. Emphasis was placed on a phenomenological interpretation with discourse proposed through a comparison of the metatext to the experienced cultural performance modes. All of these practices hinge on collaboration to further ensure transcul‐ tural insights and multi-layered interpretation. The design cog relates to the scenographic details that transpose the cultural performance influences on space towards a postdramatic spatial interpreta‐ tion. 25 In this professional performance focus was placed on the distinctions between public, personal and intimate space that is indicative of human rela‐ tionships and interactivity. Often these were deliberately manipulated to invoke a visceral response from the spect-actor that contributed to their immersive ex‐ 117 Warping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals <?page no="118"?> 26 Tim Etchells, “Doing Time”, in: Performance Research 14 (2009), pp. 71-80, here p. 95. 27 Cf. Bogart, Landau, p. 9 and pp. 10-11. 28 Cf. Ibid., pp. 11-12. 29 Patrice Pavis, Analyzing Performance: , Dance, and Film, Ann Arbor 2006, p. 17. 30 Ibid., pp. 17-18. 31 Cf. Patrice Pavis, Languages of the Stage: Essays in the Semiology of the Theatre. Boston 1982, p. 175; Scott Taylor, “Multilateral and Holistic Perspectives in Contemporary Per‐ formance Theory: Understanding Patrice Pavis’s Integrated Semiotics”, in: Journal of Dramatic Theory and Criticism XIX (2005), pp. 87-108, here p. 103. 32 Etchells, p. 75. 33 Ibid., p. 72. perience. This was achieved through juxtaposition, where within the (re)con‐ ceptual design, “disparate and irreconcilable elements are placed side by side and left to fight it out.” 26 Repetition of imagery through manipulation of shape, and architecture 27 was also considered, and gave rise to and in turn was informed by the performers’ activities. The design further facilitated and supported the spatial relationship/ s and topography 28 of the performance. The mise-en-scène cog speaks directly to the involvement of the performers/ actors within the collaborative creative process, to “synthesise acting options, [and] dramaturgical choices” 29 where it is clear that: [the mise-en-scène] never comes ready-made and complete … one can only describe the primary trajectories of a dramaturgy and the principal stage options, including those pragmatic decisions that appear to deviate from the productions’ general guiding impulses and lines of force. 30 Patrice Pavis 31 further articulates that the discourse of the mise-en-scène is struc‐ tured around the complex interweaving of characters that organize their own narrative and story within the collective. Within the context of warping creative practice, it again must be emphasized that for this purpose the expressive im‐ agery and non-verbal physicality was prioritised and sought-out as metaphors and symbols within the scenography and visual dramaturgy, where “the text is what happens in between the material.” 32 […] our dramaturgy - was the positioning of information, […] some things as being more proper, some things less proper, or maybe some things apparently more real, and some things apparently less real than others. A matter of giving weight to infor‐ mation, of creating hierarchies. A matter of sequence and managed revelation ar‐ ranged across time. 33 This is underscored by the postdramatic notion that states that “in the theatre we are not just dealing with visual processes but with human bodies and their 118 Janine Lewis <?page no="119"?> 34 Lehmann, p. 94. 35 Cf. ibid., pp. 145-171; Bogart, Landau; Lewis, 2010. warmth, with which the perceiving imagination cannot avoid associating human experiences.” 34 It is “provocative that these human appearances” are manipulated within the visual and (re)conceptual. This was achieved through concentrating on manipulating and activating the body in and through space and time. 35 One such visual dialogue created was during the sequence that saw the char‐ acters representing two families meeting for the lobola negotiations. This was staged in the physical auditorium space, which was removed from the audience, requiring them to turn and look out from their vantage point on the stage - chosen to also represent the fact that such negotiations would have already happened in another time and space to that which is “currently happening” (attending the wedding), so the physical distancing of the scene allowed for literal and figurative meaning-making. The two men who lead the negotiations were presented as two professional boxers, and they removed their characters’ formal coats and hats, revealing white vests, and donned boxing gloves fur‐ nished by their respective entourage (Figure 9). Each entourage served their opponent, being in “their corner”, cheering the sparring in support of their champion. The reference to boxing was as a metaphor for the negotiation of two equally matched opponents. Boxing is a complex sport requiring much skill and expert insight into reading, manoeuvring and swaying between the sportsmen. The sequence was short-lived, and offered as an expressive glimpse into, and commentary on such negotiation activities. No one winner was assigned. Rather, the two opponents finished with “amicable decisions” made. Each returned to their cohorts to regroup and celebrate. Fig 9: Images of the labola negotiator’s sparring during the performance of Nupt[r]ials at the Breytenbach Theatre, South Africa in March 2015. © Janine Lewis. 119 Warping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals <?page no="120"?> Another use of physicality appeared when a bride and groom were placed on top of two boxes, characterising the figurines placed on top of a wedding cake. During this activity, dialogue occurred between the groom’s family members (uncles and aunt) occurred in an alternative space (visible to the audience) whereby they verbally plotted how the bride would be initiated into their family and traditions. The bride slowly got off her pedestal, crawled to the feet of her groom, removed his shoes, and returned to her position. There she alternatively placed either shoe on her head. Very slowly she sank down under the imaginary weight of the headdress-shoe, until it dropped. She would quickly replace the shoe and resume her position, to only repeat the entire charade. Meanwhile, the groom was plied with beer bottles by the uncles in the adjacent scene who moved in and out of the couple’s reality. The uncles wedged and balanced bottles all over the groom’s person - between his legs, under his arms, under his chin, in his pockets (Figure 10). The groom barely responded. The performer having to balance and accommodate every new bottle added. In the heat of performance, the uncles took their role quite seriously and tried to destabilise the groom and catch him unawares. This added to the dynamics of urgency and intent embodied by the groom, who had to stay focused. Fig 10: Image of the bride and groom during performance of Nupt[r]ials performance at the Breytenbach Theatre, South Africa in March 2015. © Janine Lewis. The product(ion) cog is where the actions planned and colluded (or plotted) within the previous cogwheel mechanism dedicated to the performer in re‐ 120 Janine Lewis <?page no="121"?> 36 Lecoq defines ensemble practice as complicité that has a more complex interpretation than mere shared belief, or complicity and accomplice between performers through ensemble (Cf. Dymphna Callery, Through the Body, New York 1971, p. 71; Simon Murray, Jacques Lecoq, London 2003, p. 64). However, what differentiates complicité from mere ensemble practice is the inclusion of a shared belief between actor and spectator that is of crucial importance. The shared belief forges a sense of relationship where both the actor and spectator create the piece together (Cf. Callery, p. 88 and p. 104; Cf. Murray pp. 64-65). “The spirit of ensemble only communicates itself to an audience when there is a palpable sense of those performers all being complicit (of colluding) in the deed of daring to create and present a show to the spectators” (Murray, p. 71). 37 Janine Lewis, “Collusion or organised chaos? A self-reflexive journey to chart the experi‐ ential explorations in the South African devising process”, in: Kene Igweonu, Osita Okagbue (eds.), Performative Inter-Actions in African Theatre 3: Making Space, Rethinking Drama & Theatre in Africa, Newcastle upon Tyne 2013, pp. 89-111. hearsal and preparation are executed. It is in this section that opportunities for inventiveness or cooperative engagement may be found within the framework of the performance text. It was intentional that the structure for nupt[r]ials performance remained un‐ structured, in that there were such moments on which actions could be hinged, but these needed to be navigated by the performers and crew through the interaction with the spect-actor and therefore were very reliant on the magnetism of time. The cast rehearsed more to work intuitively as a collective, through triggering compli‐ cité 36 , than to follow a rigid timeframe bound by text. This encouraged sponta‐ neity and for the action to flow unperturbed around such disruptive interactions as crew members (as waitrons) moving randomly amongst the audience serving the spect-actors, or unanticipated responses from the audience participation. In fact, deliberate moments for “organised chaos” 37 were discovered in the collabora‐ tive creative process that were strategically included as nodes within the perform‐ ance - such as the cake scene with the table settings. Yet, there were also other opportunities for the performers to regroup and connect again - such as a capella singing interspersed throughout the performance. Finally, the reflection cog allows for the opportunity to literally reflect on the performance in process, where the creative team may tweak logistical aspects that will ensure that the production runs smoothly. The performance should only rarely be restructured during the run - that would imply that one of the previous cogwheel mechanisms was not effectively executed. Rather then, the creative team should consider doing vast restructuring between the scheduled performance public runs, during which the team may revert backwards in the warping (re)conceptual creative practice model to the cogs that deal with design and mise-en-scène. Generally, however, this should not be needed if the prepa‐ rations were effectively executed. 121 Warping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals <?page no="122"?> 38 Cf. Richard Schechner, Willa Appel (eds.), By Means of Performance: Intercultural Studies of Theatre and Ritual, Cambridge 1997, p. 29. 39 Cf. Richard Schechner, Performance Studies: An Introduction, New York 2006, p. 35. The reflective cog is of further use after the run of the production for the creative team to reflect on the entire process from onset to completion. This is done to glean insight into the working practice, as well as to develop and con‐ cretise collaborative relationships. 5. Conclusion Fundamentally, the distinction made between a white wedding ritual as a con‐ ventional cultural norm or performance, and the development of such a context for the express purpose of making an aesthetic/ professional performance is the framed intent for theatre-making. 38 It is precisely the explicit experience of at‐ tending a white wedding that prompted the choice to employ methods of im‐ mersive staging and the active spect-actor when (re)presenting these ritual prac‐ tices on stage. The attendance of each type of these events is transformational, represented through event-time-space. Whilst this paper delineates the (re)con‐ ceptual creative practice for this purpose, as ex post facto research, it has also become intriguing to speculate about the effects and affects of such trans-posi‐ tioning towards social commentary. Schechner proposes that one essential dif‐ ference would be the “make believe” versus “make belief.” Playing professional roles, gender and race roles, and shaping one’s identity are not make-believe actions (as playing a role on stage or in a film most probably is). The performances of everyday life […] “make belief ” - create the very social realities they enact. In “make-believe” performances, the distinction between what is real and what is pretended is kept clear. 39 Yet it is the blurring of the boundaries through immersion that may transcend the function of the aesthetic/ professional theatre to create a more significant in altering opinions and make beliefs. The professional theatre performance of nupt[r]ials offered a veritable smor‐ gasbord of sensory involvement for all present. Through temporality immersion, it was inevitable that the participants would conjure up the past, experience the present, and infiltrate the future. It was vital for this theatrical performance that the spectator reference their familiarity of attending a white wedding, and it is probable that no audience member may participate in an authentic wedding again without referencing this encounter. 122 Janine Lewis <?page no="123"?> 1 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 2015, S. 455. 2 Ebd. Nô als transkulturelles Theater Eiichiro Hirata (Keio University) 1. Vom Interkulturellen zum Transkulturellen In Postdramatisches Theater weist Hans-Thies Lehmann auf die problematische Seite des Begriffs „interkulturelles Theater“ hin, der oft eine oberflächliche An‐ erkennung fremder Kulturen befördert und dabei über „eine untergründige Zweideutigkeit der interkulturellen Kommunikation“ 1 hinwegtäuscht. Wäh‐ rend man im internationalen Kontext auf diese Art der Kommunikation Gewicht legt und sie in der Kunst- und Theaterszene praktiziert, lässt man die asymme‐ trischen Verhältnisse zwischen der einen Kultur und der anderen oft außer Acht, die jene Kommunikation begleiten. Nach Lehmann setzt sich das postdramati‐ sche Theater mit dieser Problematik auseinander und macht sie sichtbar. Leh‐ mann verweist in diesem Kontext auf eine australische Theaterproduktion von Heiner Müllers Der Auftrag. Sie stellt ihren eigenen prekären Produktionspro‐ zess aus und führt vor, „wie die Absicht einer Schauspielgruppe der Aborigines, Der Auftrag […] in politischer Absicht zu inszenieren, zu immer heftigeren Kon‐ flikten führt.“ 2 Die Konflikte, die zwischen der Kultur der Aborigines und der westlichen Kultur entstehen, machen einerseits die prekäre Realität der inter‐ kulturellen Kommunikation deutlich. Anderseits deuten sie eine weitere kul‐ turelle Frage an, mit der sich die an der Produktion Beteiligten konfrontiert sahen: Ihre Konflikte entstanden innerhalb einer Produktion mit der gemein‐ samen Intention, gesellschaftliche Probleme anhand eines ebenso gesellschafts‐ kritischen Textes in der Theaterform zu behandeln. Die Konflikte ereigneten sich mithin nicht nur interkulturell, sondern auch auf der gemeinsamen Basis einer gesellschaftskritischen Theaterkultur, mit anderen Worten: intrakulturell. <?page no="124"?> 3 Vgl. Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 2006, S. 120. 4 Vgl. Lehmann, S. 454. 5 Vgl. Günther Heeg, „Das transkulturelle Theater. Grenzüberschreitungen der Theater‐ wissenschaft in Zeiten der Globalisierung“, in: Gerda Baumbach, Veronika Darian, ders., Patrick Primavesi, Ingo Rekatzky (Hgg.), Momentaufnahme Theaterwissenschaft Leip‐ ziger Vorlesungen, Berlin 2014, S. 150-153, hier S. 154. 6 Ebd. 7 Waldenfels, S. 120-121. Interkulturalität bezieht sich damit auch auf eine intrakulturelle Fragestellung, die auf Probleme (in) der eigenen Kultur abzielt. 3 Eine solche intrakulturelle Fragestellung ist für viele Künstler_innen der Ausgangspunkt ihrer Aktivitäten. Sie wollen zuerst „der ‚eigenen‘ Kultur mit einer gewissen Fremdheit gegenüberstehen“, auch wenn sie diese im interkul‐ turellen Kontext betrachten. 4 Die künstlerische Beschäftigung mit dem Fremden im Eigenen verschafft einen Spielraum, um zu fragen, inwiefern man sich offen mit dem Fremden auseinanderzusetzen vermag. Das Fremde auch im Eigenen zu finden und sich damit beschäftigen verlangt von uns, uns selbst gegenüber offener zu sein. Dies ermöglicht es, geschlossene Denkschemata über die eigene und die fremde Kultur aufzubrechen. Insofern erlaubt uns die künstlerische Auseinandersetzung mit der intrakulturellen Problematik eine Bereitschaft, sich auch mit den asymmetrischen und komplizierten Beziehungen zwischen der eigenen und der fremden Kultur unvoreingenommener zu beschäftigen. Die Tragweite der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Fremden in der eigenen Kultur untersucht Günther Heeg mit seinem Konzept des transkul‐ turellen Theaters. Das Transbedeutet dabei nicht schon eine Überwindung der Fremdheit in der anderen Kultur, sondern die Grenzerfahrung des Eigenen, die dieses durchquert und verfremdet, indem sich die Zuschauer_innen mit der Selbstverständlichkeit der eigenen Kultur konfrontiert sehen. 5 Das transkultu‐ relle Theater geht also von der Erfahrung des Fremden im Eigenen aus und seine „Theaterpraktiken sind dadurch charakterisiert, dass sie sich nicht mit fremden, exotischen Federn schmücken, sondern die jeweils eigenen Traditionen und kulturellen Phantasmen aufarbeiten und zur Kenntlichkeit entstellen.“ 6 Die Auf‐ arbeitung der kulturellen Phantasmen ermöglicht dem_r Zuschauer_in einen Spielraum, vermeintliche Selbstverständlichkeiten der eigenen Kultur neu zu sehen. „Eben damit öffnet sich ein Zugang zu fremden Kultur, der […] über exotische Neugierde oder besserwisserische Kritik im Stile eines Frazer hinaus‐ geht.“ 7 124 Eiichiro Hirata <?page no="125"?> 8 Vgl. Stanca Scholz-Cionka, „Das Nô - Eine Einleitung. Die moderne Aufführung: Zum Raum wird hier die Zeit“, in: Ulrike Demski, Alexandra Steiner (Hgg.), Nô Theater. Kos‐ tüme und Masken, Wien 2003, S. 27-28. 9 Vgl. Oshikiri Hoko, Stanca Scholz-Cionka, „Der Adler und die Chrysantheme. Nô-Spiele zum Russisch-Japanischen Krieg“, in: Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völ‐ kerkunde Ostasiens 2004, S. 23-58. 2. Die Fremdheit im Eigenen des Nô-Theaters Das Nô, eine Form des traditionellen japanischen Theaters, bedarf der trans‐ kulturellen Untersuchung. Es gehört zu jenen Theaterformen, die mit ihrer spe‐ zifischen Darstellungsweise am deutlichsten an einen anderen Kulturkreis ap‐ pellieren. Das im 15. Jahrhundert entstandene Nô mag sich durch für das Publikum außerhalb Japans scheinbar exotische Elemente auszeichnen. Solche Elemente sind die einem buddhistischen Tempel ähnliche Bühnenstruktur, die klassischen Kimono-Kostüme, die sehr langsamen und stilisierten Bewegungen des Hauptdarstellers (shite), der stets sitzende und sich kaum bewegende Gestus des Nebendarstellers (waki), der ebenfalls sitzende achtköpfige Chor, der eigen‐ artige Rhythmus von zwei Trommlern und einem Holzflötenspieler usw. Sie sorgen für ein besonderes Erlebnis, das für diese Theaterform besonders kenn‐ zeichnend ist. Der japanischen Kulturpolitik ist das sehr bewusst, und es ist kein Zufall, dass das Nô das erste immaterielle Kulturerbe Japans ist, das die Regie‐ rung bei der UNESCO anerkennen ließ. Es gibt im Nô jedoch einige Elemente, deren besondere Eigenschaften man genau prüfen und relativieren muss. Der extrem gedehnte und reduzierte Gestus etwa entstand keineswegs zusammen mit dem Nô-Theater, das Kanami Moto‐ kiyo und Seami Motokiyo im 14. und 15. Jahrhundert begründeten. Der junge Seami faszinierte im Gegenteil viele Zuschauer mit seinen schnellen, dynami‐ schen und gar akrobatischen Bewegungen. Das Markenzeichen des langsamen Gestus des am Boden schleifenden Gehens hat sich erst zweihundert Jahre später in der Edo-Zeit (1603-1867) eher durch äußere Einflüsse entwickelt: Das Toku‐ gawa-Shogunat unterwarf das Nô als offizielle Zeremonialkunst einer strengen Kontrolle und ließ für die fünf offiziell anerkannten Nô-Schulen je ein be‐ stimmtes Repertoire und eine Darstellungsweise nach den jeweiligen Tradie‐ rungen stilisieren und kanonisieren. 8 Der Gestus der Darsteller verlangsamte und reduzierte sich im Zuge dessen, denn es sollten nicht nur die professionellen Schauspieler, sondern auch die Landesherren als Laien wichtige Rollen über‐ nehmen können. 9 Die stilisierte Ästhetik des Nô ist somit nicht denkbar ohne die Machtzusammenhänge, mit denen seine Praktiker umgehen mussten und die so ebenfalls mitspielten. 125 Nô als transkulturelles Theater <?page no="126"?> 10 Vgl. Mae J. Smethurst, Richard J. Smethurst, „Two new nō plays written during World War II“, in: Christopher Balme, Stanca Scholz-Cionka (Hgg.), Nō Theatre Transversal, München 2008, S. 33-34. 11 Vgl. Pia Schmitt, „Early German Encounters with Japanese Performing Arts - On Her‐ mann Bohnerʼs Examination of Nō“, in: Andreas Regelsberger, Stanca Scholz-Cionca (Hg.), Japanese Theatre Transcultural. German and Italian Intertwinings, München 2011, S. 95-96. 12 Zu Komachu-Fuden vgl: Mari Boyd, „Experimente des Shogekijo. Die 1970er und frühen 1980er Jahre“, in: Hirata Eiichirô, Hans-Thies Lehmann (Hgg.), Theater in Japan, Berlin 2009, S. 62-87, hier S. 64-67; Hirata Eiichiro, „Zu Komachi: Kawamura Takeshi, ‚Con‐ temporary Noh Play - Aoi/ Komashi‘“, http: / / www.performingarts.jp/ E/ play/ 0802/ 1.html (7.4.2017). 13 Zu Kyûketsuki: Hirata Eiichiro, „Gestus des Reisenden“, in: ders., Hans-Thies Lehmann (Hgg.), Theater in Japan, Berlin 2009, S. 147-158, hier S. 155. Nach der Öffnung Japans gegenüber der westlichen Welt um 1868 kam dem Nô-Theater eine besondere Stellung zu, um ein eigenes Nationalgefühl zu er‐ schaffen und den Japanismus zu idealisieren. Während des Japanisch-Chinesi‐ schen Krieges (1894-1895) wurden einige neue Nô-Stücke verfasst und aufge‐ führt, die die Kriegsstimmung in der Gesellschaft positiv beeinflussen sollten. Vor und im Zweiten Weltkrieg verfassten einige Nô-Schulen ebenfalls neue Stücke, die die imperialistische Aggression der USA und Großbritanniens kri‐ tisierten, ohne die ähnliche Haltung der Japaner_innen zu problematisieren. 10 Diese kulturpropagandistische und dunkle Seite des Nô wurde jedoch von der Wirkung seines ästhetisierten Scheins ausgeglichen und durch die Idealisierung der westlichen Nô-Kenner_innen verharmlost, deren Interesse sich eher auf die eigenartig schöne und vornehme Darstellung richtete. 11 Indem ausschließlich die ästhetische Eigenheit des Nô betrachtet wurde, rückte seine fremde Seite in den Hintergrund. Aber sie begleitete die weitere historische Entwicklung dieser tradierten Theaterkultur. Einige zeitgenössische Theateraufführungen in Japan entblößen jenes Fremde im Eigenen, indem sie die Nô-Stücke und ihre Darstellungsweisen be‐ arbeiten und ihre dunklen Seiten hervorbringen. Shôgo Ôta und Takeshi Ka‐ wamura beschäftigten sich jeweils mit dem Stück Sotobakomachi (Eine Dame am Stupa) und verbinden in ihren Bearbeitungen Komachi-Fuden (Windgeschichte der Komachi, 1977) und Komachi (2006) den Affekt der Liebe und der Sehnsucht mit dem (Selbst-)Zerstörungstrieb des japanischen Nationalismus. 12 Rio Kishida verwendet und radikalisierte in ihrem Stück Kyûketsuki (Vampir, 1984) die dem Nô typische traumhafte Begegnung der Frauen und der Männer an einem fremden Ort, indem jene diese verführen, ermorden und von ihrem Blut leben. 13 Damit haben führende Dramatiker_innen die Kehrseite der Nô-Ästhetik als ihre tabuisierte Fremdheit denunziert. 126 Eiichiro Hirata <?page no="127"?> 14 Der Nô-Kritiker Keiichiro Tsuchiya schlägt vor, die Texte des Nô von der konventionellen Lektüre zu befreien und ihnen tiefgreifende Einsichten in die Probleme der Macht, der Frauen, der Kinder und der Unterordnung zu entnehmen. Vgl. Keiichiro Tsuchiya, Nô, do‐ rama ga tachi arawareru toki, (Nô im Moment, in dem ein Drama erscheint), Tokio 2014, S. 8 und S. 254-260. Im Kontext des Transkulturellen stellt sich an diesem Punkt eine Frage: Wenn sich zeitgenössische Theatermacher_innen in ihren Stücken mit dem Fremden im Nô beschäftigen, kann man nicht auch eine ähnliche Bemühung in der tra‐ ditionellen Nô-Darstellungweise unternehmen? Der Versuch, die Fremdheit in der dem Nô eigenen Ästhetik durch die Inszenierung hervorzuheben, wurde von Nô-Praktiker_innen bisher kaum unternommen. Die tradierte, festgelegte Dar‐ stellungsweise der Nô-Schulen erschwert es, etwas zu ändern oder anders zu inszenieren. Auch die hochstilisierte Form, die die eigene Ästhetik dieses The‐ aters prägt, steht schauspielerischen und inszenatorischen Modifikationen und damit einer radikaleren Befragung entgegen. Wenn man die stilisierte Form und die spezifische Sprechweise ersetzt, verliert das Nô seine besonderen theater‐ ästhetischen Eigenschaften. Im heutigen Nô-Theater wird im Licht transkultu‐ reller Fragen eine innere Diskrepanz sichtbar. Es gibt jedoch eine Möglichkeit, sich in einer Nô-Aufführung mit dem Fremden im Eigenen zu beschäftigen. Sie fällt nicht so sehr den Theatermacher_innen zu, sondern den Zuschauer_innen, die jedes Stück und jede Aufführung ganz anders lesen und sehen können als in der herkömmlichen Weise. 14 Was ist das Fremde im Eigenen, das eine Nô-Aufführung dem Publikum er‐ fahrbar macht? Im Kontext der Transkulturalität kommt die zwingende Macht der ästhetischen Form in Frage, in der die fremdartigen Figuren vor den Zuschauer_innen erscheinen, ihre Klagen und ihre Unzufriedenheit ausspre‐ chen und dann mit einer bestimmten Art der Versöhnung oder des Ausgleichs von der Bühne verschwinden. Das heißt: Gerade etwas, das Fremdheit ästhetisch erfahrbar machen kann, ist Fremdes. Im Nô gibt es zweierlei Fremdheit, die man unterscheiden sollte: Zum einen tauchen sehr unterschiedliche fremdartige Figuren in stilisierter Form auf. Einige Typen seien hier genannt: 1. Mono‐ gurui-Figuren, die vom Wahnsinn besessen sind, der sie zum Mord oder zu ihrem eigenen Tod führt; 2. Verräter, die in einer politisch angespannten Situation oder im Krieg ihre Mission verfehlen und damit ein Übel verursachen; 3. isolierte, singuläre Figuren, die ihr Leben bis zu ihrem Tod an einem völlig abgelegenen Ort verbringen müssen. Solche Figuren treten in einem traditionellen Kostüm auf der Nô-Bühne auf und erzählen einem reisenden Mönch, dem sie begegnen, vor dem Hintergrund von Kriegen oder Unruhen im Land ihre Geschichte. Danach zeigen die fremd‐ 127 Nô als transkulturelles Theater <?page no="128"?> artigen Figuren einen für das Nô typischen Tanz, mit dem sich ihre Klagen, ihre Trauer und ihre Wut legen. Am Ende der Aufführung wird ihre Unzufriedenheit durch buddhistische Lehren vermindert, die vom Waki-Darsteller als Mönch oder vom Chor vorgetragen werden. Mit dem Wort der Versöhnung kehren die Figuren in die Unterwelt zurück und verschwinden von der Bühne. Dabei stellt sich jedoch die Frage, die sich auf eine andere Art der Fremdheit bezieht: Kann dieses scheinbar versöhnende Ende einfach als solches angenommen werden? Zwingt das versöhnliche Ende die unlösbare Wut und Trauer der fremden Figuren in eine lösbare Form? Steht dieser Zwang einer „Schein-Harmonisie‐ rung“ auch im Zusammenhang mit der ästhetischen Tendenz der stilisierten Aufführungsform, in der die Figuren ihre fremdartigen Seiten wie Wahnsinn, Verrat oder Isoliertheit nicht nur dem Mönch auf der Bühne, sondern auch dem Publikum vortragen? Übt dann die ästhetische Form des Nô nicht auch eine Art von Gewalt an den Figuren aus, wenn sie einerseits deren Fremdheit vorführt und andererseits ihre unlösbare Klage am Ende als lösbar ausweist und die Auf‐ führung so beschließt? Diese Fragen machen uns auf eine andere Fremdheit des Nô-Theaters aufmerksam, die uns aufgrund der stilisierten klassischen Ästhetik weniger ins Auge fällt. Gerade diese andere Art der Fremdheit bezieht sich jedoch auf die eigene Kultur dieses Theaters. Denn der Vorgang, in dem die Figuren auftauchen und verschwinden, hat in den über 250 Stücken, die heute noch aufgeführt werden, dieselbe Form; sie macht die „eigene“ theaterkulturelle Eigenschaft dieser Gat‐ tung aus. Insofern als diese für fast jedes Stück gültige feste Form in sich selbst die Macht eines (fremden) Zwangs hat, lässt sich behaupten: Wenn es sich beim Nô um eine „eigene“ Kultur handelt, so ist sie ohne ihre eigene, problematische Fremdheit nicht denkbar. So sind vermeintlich Eigenes und Fremdes in der äs‐ thetischen Dimension dieser Theatergattung untrennbar verschlungen. Damit kommt eine mögliche Auseinandersetzung mit dem Fremden der ver‐ meintlich eigenen Kultur in den Blick, die das Publikum einer Nô-Aufführung unterschiedlich erfahren kann. Es variiert je nach der Aufführung stark, ab‐ hängig von dem wie die Figuren innerhalb der ästhetischen Form erscheinen, agieren, sprechen, tanzen und schließlich verschwinden. Im Allgemeinen kann man sagen: Es gibt in vielen Nô-Aufführungen ein Moment, durch das die äs‐ thetische Form die Absorption der fremdartigen Figuren in sich selbst verfehlt, sodass die Figuren als etwas Irreduzibles, Singuläres vorhanden bleiben. Dieses Moment zu entdecken gehört zur transkulturellen Auseinandersetzung auf Seiten des Publikums. Im Folgenden möchte ich exemplarisch das Stück Adachigahara betrachten und so den Prozess anschaulicher machen, durch den eine fremdartige Figur in 128 Eiichiro Hirata <?page no="129"?> 15 Adachigahara heißt in einigen Nô-Schulen Kurozuka. Das Stück, dessen Autor unbe‐ kannt ist, entstand spätestens Mitte des 16. Jahrhunderts. Der hier verwendete Text ist: „Adachigahara“, in: Itô Masayoshi (Hg.), Yôkyoku shû, jôkan, Shinchô nihon koten shûsei (Nô-Stücke, 1. Bd., Shincho-Gesammelte Werke der japanischen klassischen Literatur), Tokio 2015, S. 65-78. Englische Übersetzung: „Adachigahara/ Kurozuka“, http: / / www.the -noh.com/ jp/ plays/ utai/ fp_035.swf (7.4.2017). eine formale Ästhetik absorbiert wird. Dabei tritt die ästhetische Form gerade durch die letztlich verfehlte Absorption in ihrer Fremdheit hervor und markiert die Ungültigkeit ihrer ästhetischen Macht, die zur Frage nach der eigenen Kul‐ turalität des Nô führt. 3. Die andere Fremdheit in der ästhetischen Form Das Stück Adachigahara 15 weist einen Aufführungsablauf auf, der mit dem einer typischen Nô-Aufführung weitgehend identisch ist: Zwei Mönche und ihr Ge‐ folgsmann reisen durch die Region Tohoku in Nord-Japan und suchen ein Haus, in dem sie übernachten können. Endlich finden sie an einem abgelegenen Ort auf dem Flachland Adachigahara ein kleines heruntergekommenes Haus und bitten die dort wohnende alte Frau um Unterkunft. Diese Anfangssituation zeigt eine Fremdheit im ersten beschriebenen Sinne, dass man an einen fremden Ort reist und einem Fremden begegnet. Die alte Frau lehnt die Bitte der Männer zuerst ab, weil das Haus zu schäbig sei für einen angenehmen Aufenthalt. Schließlich gibt sie dem Wunsch der Reisenden nach und sucht trotz der nächt‐ lichen Dunkelheit im Freien nach Brennholz. Zuvor verbietet sie ihnen, während ihrer Abwesenheit in das Nebenzimmer zu spähen. Um Mitternacht, als die alte Frau noch immer unterwegs ist und die beiden Mönche bereits eingeschlafen sind, äugt der Gefolgsmann jedoch trotz des Verbots ins Nebenzimmer und sieht, dass dort unzählige Leichen liegen. Als er die Mönche weckt und ihnen berichtet, dass es sich bei der alten Frau um eine menschenfressende Dämonin handle, erscheint sie vor ihnen in unheimlicher Gestalt. Sie ist zornig, weil sie gesehen haben, was sie nicht sehen durften, und schickt sich an, sie anzugreifen. Die Mönche vollziehen eine buddhistische Zeremonie, um die Dämonin zu schwä‐ chen. Sie bewegt sich schwankend und fast ohnmächtig umher. Am Ende der Aufführung erzählt sie, dass sie sich wegen ihrer eigenen Gestalt schäme, die sie den Männern zeigt, und verschwindet, als wäre sie der starke Wind, der um das Haus tobt. Dieser Fortgang der Aufführung verdeutlicht den Zwang einer ästhetischen Form, die die alte Frau regelgemäß vor den Mönchen auftauchen, ihre dämoni‐ sche Seite zeigen und schließlich beschämt und geschwächt verschwinden lässt. 129 Nô als transkulturelles Theater <?page no="130"?> Hierin zeigt sich die Gewalt der ästhetischen Form, die die fremden Elemente in sich absorbieren will. Die alte Frau will anfangs nicht, dass die fremden Männer ihr Haus betreten. Aber deren Not und hartnäckiges Flehen zwingen sie, die Männer ins Haus einzulassen. Sie will auch nicht, dass die Männer in ihr Zimmer schauen. Aber weil sie dennoch hineingesehen haben, muss sie vor ihnen als Dämonin auftauchen. Dieser Vorgang zeigt zunächst, mit welchem Zwang die Männer gegenüber der Fremden auftreten. Er deutet zugleich an, dass die Aufführung selbst auf die alte Frau eine Art von Gewalt ausübt, weil auch die Zuschauer_innen die Frau, die eigentlich nicht gesehen werden will, sehen. Hier wird erkennbar, mit welchem Zwang der ästhetische Rahmen der Nô-Auf‐ führung ein Fremdes zur Schau stellt und es mit einer scheinbaren Lösung wieder verschwinden lässt. Die Gewalt des Zwangs richtet sich jedoch auch gegen die ästhetische Form selbst und stellt ihre Geltung in Frage, die im klassischen Kontext eine harmo‐ nische Vereinigung anschaulich machen soll. Sie stellt sich als Selbstverfrem‐ dung heraus, die die ästhetische Form selbst praktiziert. Die Ästhetik des Nô-Theaters performiert die Verfremdung, indem sie in den meisten Auffüh‐ rungen fremde Figuren erscheinen und verschwinden lässt und damit ihre ei‐ gene Kontrollinstanz gegenüber diesen zur Geltung bringt. Diese Selbstver‐ fremdung ist das Fremde im Eigenen, ohne das die ästhetische Absorbierung der fremden Figuren in einer Nô-Aufführung nicht zur Wirkung kommt. 4. Akkulturation und Öffnung der eigenen Kultur Indem die Aufführungsästhetik von Adachigahara mit ihrer eigenen Verfrem‐ dung ihre Gültigkeit performiert, deutet sie zugleich auf die Ungültigkeit der eigenen Nô-Kultur hin, die gerade in der besonderen Aufführungsform verwur‐ zelt ist. Der Vorgang zeigt die inhaltliche Ebene der Nô-Aufführung und gleich‐ zeitig deren Metaebene, die ihre Kehrseite andeutet. Auf der inhaltlichen Ebene unternehmen zwei kultivierte Mönche, die in einer Hochburg der buddhisti‐ schen Lehre, Kumano/ Kishu in der heutigen Kansai-Gegend, ausgebildet wurden, eine Missionsreise, bei der sie an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort die Bewohner_innen über den Sinn eines besseren Lebens belehren. Sie besuchen also einen fremden Ort und kommen ins Gespräch mit fremden Menschen, damit diese sich von den Auswirkungen von Problemen befreien können, die ihr Leben überschatten. Solche Probleme sind symbolisch verkörpert in den fremden Figuren wie der alten Frau. Ihre Überwindung durch die buddhistische Heils‐ wirkung der Mönche bestätigt die kultivierte Überwindung der Probleme und damit auch den Sinn der Nô-Kultur selbst. 130 Eiichiro Hirata <?page no="131"?> 16 Waldenfels, S. 114-118. Die Metaebene deutet jedoch die Kehrseite dieser Kultur an: Weil die Kultur gegenüber dem Fremden in gewisser Hinsicht ohnmächtig und zugleich auf das Fremde angewiesen ist, will sie es zu identifizierbaren Figuren formen, es sich aneignen und damit ihre Identität für sich selbst bestätigen. Ihre kulturelle Identität ist die Kehrseite ihrer eigenen Ohnmacht. In Adachigahara zeigen die Mönche diese Kehrseite der eigenen Kultur deutlich. Adachigahara, das Flach‐ land, das sie besuchen, wurde im Mittelalter von der Zentralregierung in Kyoto oder in Kamakura als ein wenig kultiviertes, abtrünniges Land von Fremden angesehen. An diesem fremden Ort können die Mönche selbst keine für sie ge‐ eignete Unterkunft finden und sind daher auf die Hilfe einer fremden Frau an‐ gewiesen. Ohne sie können sie an dem fremden Ort nicht überleben. In ihrer eigenen Ohnmacht setzen sie sich der Fremden aus. Paradoxerweise müssen sie darum die alte Frau als eine radikal Fremde, als eine Dämonin betrachten und sie aus eigener Kraft beseitigen, um die Krise ihrer eigenen Kultur überspielen und deren Gültigkeit vorführen zu können. Hier treten symbolisch die Grenze und der Selbstwiderspruch der Nô-Kultur zu Tage. Das Nô, das die fremden Figuren in seiner eigenen ästhetischen Form darstellt, kann die kulturelle Ober‐ hand gegenüber dem Fremden nur gewinnen, wenn es zugleich auf dieses an‐ gewiesen bleibt und darum diese Überwindung eben nur theatral vorspielt. Die Gültigkeit der „eigenen“ Nô-Kultur ist paradoxerweise ohne ihre Ungültigkeit nicht denkbar. Die so umschriebene Kehrseite der Nô-Kultur lässt sich aber in Kultur im Allgemeinen beobachten. Die Bestätigung der eigenen Kultur ist die Kehrseite einer Krise, dass ich oder wir uns nämlich im Zustand der Ohnmacht befinden. Im Kontext der eigenen und der fremden Kultur weist Waldenfels auf den Zu‐ sammenhang zwischen diesem Zustand und der Fremderfahrung hin: Fremdheit in ihrer radikalen Form besagt, daß das Subjekt auf gewisse Weise außer sich selbst ist und daß jede Ordnung vom Schatten des Außer-ordentlichen umgeben ist. […] Fremd ist ein Ort, wo ich nicht bin und sein kann und wo ich dennoch in dieser Unmöglichkeit bin. 16 Die fremde Erfahrung geht nicht unmittelbar von der Umgebung der Anderen aus, die mir fremd erscheinen, sondern zunächst von der Erfahrung der eigenen Unmöglichkeit, mit der ich mich konfrontiert sehe. Die Reaktion auf diese Grenzerfahrung leitet oft zur eigenen Kultur über, über die man sich von dem Fremden unterscheiden will. Kultur ist insofern ein kollektives Produkt der ei‐ genen Not. Die eigene Kultur beruht auf einem paradoxen und theatralen Pro‐ 131 Nô als transkulturelles Theater <?page no="132"?> 17 Werner Hamacher, „Heteroautonomien. On 2 Many Multiculturalisms“, in: Burkhard Liebsch, Dagmar Mensink (Hgg.), Gewalt verstehen, Berlin 2003, S. 157-202, hier S. 200. 18 Die meisten Nô-Stücke werden je nach den Hautpfiguren in fünf Gattungen kategori‐ siert. Die anderen zwei sind Kazura-Nô mit den Adligen und Zatsu-Nô mit sonstigen Hauptrollen. zess: Man kehrt seine eigene Unmöglichkeit in eine Gültigkeit um und spielt diese sich und den anderen vor, um jene paradoxe Umkehrung zu überspielen. Die paradoxe Dimension der Unmöglichkeit und der Gültigkeit zu reflek‐ tieren ist der Ausgangspunkt einer transkulturellen Selbstöffnung, in der die eigene Kultur ihre Abgeschlossenheit aufbrechen und sich anderen Kulturen aussetzen kann. Auf das Paradox der Kultur und die transkulturelle Möglichkeit weist Werner Hamacher hin: Jede Kultur ist Transkulturierung und also Akkulturation in dem doppelten Sinn, dass sie Aussetzen einer Kultur in ihrer Öffnung auf eine andere und auf etwas Anderes als bloß Kultur ist. Die Dissidenz von jeder einmal errichteten, von jeder „gegebenen“ Kultur gehört zum Projekt der Kultur selbst: Kultur ist nicht sie selbst, wenn sie sich in einer Form stillstellt, sie ist sie selbst erst, wo sie sich afformiert, wo sie ihre Formen und die Form der Form selbst aussetzen lässt und andere Formen, andere als die be‐ kannten und anerkannten Formen annimmt und etwas Anderes als Formen zulässt. 17 Kultur besteht nur aus diesem paradoxen Doppelprozess. Erneuerungen der ei‐ genen Kultur setzen ihre Akkulturierung durch die Afformierung aus. Damit kann eine Öffnung zur anderen Kultur noch weiter ausgedehnt werden. Eine Kultur öffnet sich erst dann einer anderen, wenn sie sich zuerst ihrer Unmög‐ lichkeit im Sinne der Akkulturierung aussetzt und dadurch etwas Anderes, d. h. eine andere als ihre vermeintlich gegebene Form zulässt. Die Öffnung der Kultur ist ohne diesen paradoxen Prozess nicht möglich. Andernfalls öffnet sie sich lediglich formal der anderen und bleibt letztlich geschlossen. Das transkulturelle Nô-Theater kann in seiner bestehenden geschlossenen Form zugleich ihre Afformierung dem Publikum aussetzen. Es kann eine andere als ihre scheinbar eigene Form zulassen, die die fremden Figuren in ihre ver‐ meintliche Lösung absorbiert. Dies ist jedoch erst dann möglich, wenn die Zuschauer_innen eine andere als die gängige Wahrnehmungsweise annehmen und den Aufführungsprozess anders betrachten. Bei vielen Nô-Aufführungen können die Zuschauer_innen die ästhetische Form in Frage stellen, indem sie eine Fremdheit dort finden, wo die ästhetische Form an sich scheitert. Vor allem die Gattungen wie Shura-Nô mit Kriegern, Kiri-Nô mit Göttern und Dämonen, Monoguri-Nô mit Wahnsinnigen präsentieren solche fremden Figuren, die die ästhetische Formierung aufbrechen können. 18 Damit setzt die Nô-Kultur sich 132 Eiichiro Hirata <?page no="133"?> selbst und das Publikum dem paradoxen Prozess der Kulturierung/ Akkulturie‐ rung aus. Mit diesem paradoxen Sich-Aus-Setzen öffnet sich die Nô-Kultur dem Anderen und bietet durch diese transkulturelle Bewegung mehr als eine rein interkulturelle Sicht. 133 Nô als transkulturelles Theater <?page no="135"?> 1 This article was first published as: Guy Zimmerman, “The Performance of Counter-Sorcery in Lemi Ponifasio’s Tempest: Without a Body”, in: Shakespeare Bulletin 33: 2 (2015), pp. 273-291. © 2015 Johns Hopkins University Press. Reprinted with permission of Johns Hopkins University Press. 2 See paleontologist Doug Erwin in the following interview: NOVA Science Now, “Mass Extinction: Expert Q&A”, http: / / www.pbs.org/ wgbh/ nova/ earth/ erwin-extinction.html (7 July 2018). 3 Mau, “Lemi Ponifasio Responds to Peter Sellars”, http: / / circozero.org/ writing-rants/ 2011 / 04/ mau-lemi-ponifasio-responds-to-peter.html (7 July 2018). The Performance of Counter-Sorcery in Lemi Ponifasio’s Tempest: Without a Body 1 Guy Zimmerman (University of California at Irvine) 1. Theatre and the Lagoon In October of 2009, Maldives president Mohammed Nasheed attempted to re‐ draw the boundaries of postcolonial discourse when he convened a cabinet meeting in full SCUBA gear at the bottom of a lagoon (Associated Press). Images from this underwater meeting circulated in the international media and online, underscoring the implications for low-lying Pacific island dwellers of Western habits of consumption fueling global warming. In his theatre work, another Pacific Islander, the Samoan choreographer and director Lemi Ponifasio, has helped to clarify the stakes in this ongoing catastrophe, the interwoven cascade of environmental ills already delivering what palaeontologists call the “sixth great extinction”, 2 while also exacerbating the existing social inequities of the North/ South divide. Speaking about the increasingly interconnected nature of things in a world defined by global capital and sea-level rise, Ponifasio says, “what you do here in the US affects the reality over there. So, I’m here to inter‐ vene in your actions.” 3 One form this intervention takes is Ponifasio’s majestic riff on Shakespeare, Tempest: Without a Body. In this touring production Poni‐ fasio begins to rework the politics and the poetics of theatrical space, and also those of the medium’s temporal structures in ways that resonate powerfully with various currents of Western thought in the postcolonial era. <?page no="136"?> 4 The Million Dollar Theatre was chosen exclusively for Ponifasio by RedCat Director and Radar LA Festival curator Mark Murphy to accommodate the spectacular scale of Ponifasio’s expansive staging and choreography. First created in 2007 and touring globally through 2011, Tempest: Without a Body opens with a deafening wall of sound. At a performance at the Million Dollar Theatre in Los Angeles as part of RedCat’s 2011 Radar LA Festival, 4 this heavy industrial drone seemed to exert a kind of aural weight on a tiny winged figure appearing on stage, a stunted angel barely able to stand her ground. Facing upstage, the angel turned and, looking back, emitted a full-throated cry of terror that was itself a tragic act. The image held for a long time, the music rolling on, the angel periodically shifting positions to scream in terror once more. Then the music receded and a troupe of Māori dancers wearing monk-like robes swept on. Chanting softly in unison, they glided forwards and back across the stage with a calm, purifying dignity, the precision of their movements seeming rev‐ erent and restorative. Next, a man (originally the Māori activist Tame Iti, in 2011 this role was played by Charles Koroneho) slowly materialized, broad-shoul‐ dered, out of the darkness upstage. Wearing a business suit he strode forward into the light, his feet bare, his face tattooed in looping, Polynesian designs. Koroneho stood and looked out at the audience, and then began to dance, moving his large body in quick, birdlike steps and sudden pivots. He rolled his eyes and, his tongue unfurling in the expressive gestures of ritualized Māori warfare, began to deliver a long and passionate lament. In his business suit, this dancing figure made the image of modern Western man strange again, a de-fa‐ miliarization effect suggesting new capacities hovered nearby. Also on Ponifa‐ sio’s stage at various times were a golden figure writhing on his back with a slow majesty and a man moving with uncanny ease in a lumbering, animal gait on hands and feet as the droning industrial score gathered and released sonic energy. Ponifasio is a celebrated presence within the postdramatic theatre, which started to get recognized in the late 1960’s and gained broad traction in the 1980’s with the rise of a new generation of theatre and dance artists, such as Robert Wilson and Pina Bausch. The impact of Ponifasio’s work shows the global scope of postdramatic theatre, and helps illuminate the political implications of its root formal concerns - nonrepresentational staging, deconstructed mise-en-scene, and a different work with the written text - and how these relate to the in‐ creasingly ecological crises of the postcolonial present. Ponifasio’s firm grasp of contemporary Western art and discourse - the elegant economy with which his tiny bedraggled angel connects to Benjamin and Klee as well as to Ariel - makes Without a Body a lens through which we can examine an array of con‐ 136 Guy Zimmerman <?page no="137"?> 5 Joseph Roach, Cities of the Dead: Circum-Atlantic Performance, New York 1996, p. 2. temporary theoretical frameworks to see how they pertain to the current mo‐ ment. The specter of epochal climate change currently threatening living sys‐ tems broadly can make the purely human concerns of twentieth-century progressives seem anthropocentric, even parochial. Yet those issues arise from the same root as the environmental ills now threatening to drown the people of the atolls - a specifically Western mode of relating to experience that takes systemic form in the capitalist economy. Given his stated intention to shift the register of postcolonial discourse, it is no accident that Ponifasio is using The Tempest for the foundation of his Without a Body. The choice can be understood as an act of surrogation, in which a cultural expression is embraced, in Joseph Roach’s words, as “actual or perceived va‐ cancies occur in the network of relations that constitutes the social fabric” 5 . With Tempest: Without a Body, Ponifasio is emphatically not attempting to table a version of Shakespeare’s The Tempest. There is no dialogue, no characters per se; all is image, movement, evocation, and postcolonial counter-appropriation, as if Ponifasio has reimagined Shakespeare as a postdramatic, indigenous Fourth World dance-performance artist. Without a Body thus registers as an act of transcultural audacity, Ponifasio moving to fill a vacancy in Western culture of which we may only be dimly aware, while also completing the affective trans‐ mission of Shakespeare’s play by carrying it down into its own dream of itself, where it manifests as a kind of animist invocation seeking to ward off an ap‐ proaching endarkenment. 2. History as Storm, Politics as Sorcery From its first image forward, temporal issues dominate Without a Body. The tiny winged figure on stage is based on Paul Klee’s celebrated painting The Angel of History (Angelus Novus), providing a bridge between Ponifasio’s production and Walter Benjamin’s essay Theses on the Philosophy of History. In program notes, Ponifasio quotes directly from Benjamin’s Ninth Thesis on the Angelus Novus, presenting the celebrated indictment of the temporal construct of Western cap‐ italism: The angel would like to stay, awaken the dead, and make whole what has been smashed. But a storm is blowing from Paradise; it has got caught in his wings with such violence that the angel can no longer close them. The storm irresistibly propels 137 The Performance of Counter-Sorcery in Lemi Ponifasio’s Tempest: Without a Body <?page no="138"?> 6 Walter Benjamin, “Theses on the Philosophy of History”, in: Walter Benjamin, Illumi‐ nations: Essays and Reflections, ed. Hannah Arendt, New York 1968, p. 258. 7 Cf. Giorgio Agamben, Homo Sacer: Sovereign Power and Bare Life, Stanford 1998. 8 Peter Sloterdijk went on to write the libretto of Ponifasio’s subsequent piece Birds with Skymirrors. 9 Lemi Ponifasio, “Without a Body”, Program notes, Sydney Festival 2010, http: / / www.sy dneyfestival.org.au/ 2010/ Dance/ Tempest-without-a-body/ (20 March 2015). 10 Ibid. him into the future to which his back is turned, while the pile of debris before him grows skyward. This is what we call progress. 6 Ponifasio’s staging of the Angelus Novus illuminates the careful way he inter‐ weaves thematic ideas from diverse sources, including Shakespeare and Giorgio Agamben 7 and Peter Sloterdijk. 8 The storm that opens Shakespeare’s play is happening off-stage here, hidden from the audience but in full view of the angel from her vantage point on stage. This is first of five sections of Without a Body, named State of Emergency in program notes. In these opening moments of Without a Body, the underlying alchemy of Shakespeare’s text is being ge‐ netically spliced with elements of indigenous Polynesian dance, and with con‐ temporary theoretical critiques of Western hegemony. The cadre of chanting Māori monks who enter stage as the angel hobbles off connect to Miranda’s calming words at the beginning of Scene Two: “If by your art, my dearest father, you have put the wild waters in this roar, allay them.” 9 Tame Iti’s ritual dance in Without a Body’s second part (Sacred Man) extends this act of cultural brico‐ lage, relating both to Prospero’s sacred magic as a protest against injustice and exile and to Caliban’s assertion of his ancient sovereignty. Translated in program notes from te reo Māori, Iti’s speech begins: Your Majesty, Queen of England My mother is the mist; my father is the mountain, Enquire as to where the mountain and the mist come from and I will tell you that is where I come from. 10 Ponifasio, who was born into a royal family of neighboring Samoa, compiled the speech from remarks made by members of the Ngai Tuhoe tribe of New Zealand in 2005 when they appeared before a tribunal established by the Crown in 1975 to adjudicate ongoing violations of the Treaty of Waitangi, first signed in 1840. If Sacred Man looks back to the sources of indigenous Samoan and Māori power, Part Three, Prayer of the Angel, and the two remaining sections Transit of Venus and Home, look resolutely forward. In Without a Body, Ponifasio uses 138 Guy Zimmerman <?page no="139"?> 11 Ibid. 12 Philippe Pignarre, Isabelle Stengers, Capitalist Sorcery: Breaking the Spell, Basingstoke 2011, p. 40. the frame of Shakespeare’s play to address the intraspecies relational theatre modern man is creating with the ecosphere, and perhaps suggests ways to steer this theatre toward a comedic or melodramatic closure rather than an utterly tragic one. “When we understand how to be human”, he says, “we’ll all rise up to the clouds.” 11 The sorcery at work in the storm at the top of Ponifasio’s production is that of Western capital, raising the question of what might constitute the harmony of marriage and restoration when its “magic books” are finally drowned. Despite mortal threats to our survival as a species, attempts in the West to slow envi‐ ronmental degradation have proven ineffective, suggesting resistance to change is arising, not on a cognitive level, but from the embodied ground of affect and emotion. If, as a matter of cultural neurosis, this ineffectiveness indicates a col‐ lective anxiety disorder playing itself out in historical time, the affective, rather than the cognitive, dimension of these issues is perhaps where the levers of change lie buried. It becomes increasingly clear, in fact, that opponents of climate change confront a pan-cultural form of affective capture or entrancement, and that capitalism, in Isabelle Stengers’s and Philippe Pignarre’s resonant phrase, can be considered a mode of “sorcery without sorcerers.” Writing in 2005, Sten‐ gers and Pignarre place capitalism in the lineage of systems of sorcery […] in a very particular fashion, that of a system of sorcery without sorcerers (thinking of themselves as such), a system operating in a world which judges that sorcery is only a simple ‘belief,’ a superstition that therefore doesn’t necessitate any adequate means of protection. 12 The West is entranced, Stengers and Pignarre suggest, by a sorcery based on instrumental reason, an entrancement, arguably, attaining new emergent forms in Protestant England in the seventeenth century with the spread of industrial production. Quickly metastasizing East and West over the next few centuries, this entrancement now envelopes the globe in a technological web spewing out toxins and altering the basic chemistry of the planet. While Western modes of critique and activism have proven inadequate to the task of breaking this spell, Without a Body suggests indigenous animist traditions are perhaps better situ‐ ated to serve this function. 139 The Performance of Counter-Sorcery in Lemi Ponifasio’s Tempest: Without a Body <?page no="140"?> 13 Mau. 14 Ngugi wa Thiong’o, Homecoming: Essays on African and Caribbean Literature, Culture and Politics, London 1972, p. 7. 15 Rob Nixon, “Caribbean and African Appropriations of ‘The Tempest’”, in: Critical In‐ quiry 13.3 (1987), pp. 557-578, here p. 578. 3. Ponifasio and the Practice of the Postdramatic Ponifasio’s company MAU derives its name from the nonviolent popular move‐ ment against Colonial rule that began in the early 1900’s and continued until independence in 1962. A quick review of MAU’s steady output and touring schedule since 2010, including, along with Tempest: Without a Body, the envi‐ ronmentally-themed works Birds with Skymirrors and Stones in her Mouth, reads like a strategic campaign, a continuation of the Mau rebellion in an intercultural mode. Arrayed against other leading figures in postdramatic theatre of the last two decades - Robert Wilson, Jan Lauwers of NeedCompany, and Romeo Cas‐ tellucci - Lemi Ponifasio emerges as a groundbreaking figure. “Merce and Pina are dead.” Peter Sellars has said regarding Ponifasio, “People ask, who will re‐ place them? He’s standing right here next to me.” 13 One explanation for Sellars’s enthusiasm is the way Ponifasio uses movement and spectacle to forge trans‐ cultural dramatic paradigms, combining contemporary theoretical frameworks with indigenous modes of knowing. The postdramatic is, moreover, conspicu‐ ously well aligned with ceremonial aspects of indigenous performance tradi‐ tions, and this alignment helps to clarify Ponifasio’s final political and aesthetic aims. In the history of postcolonial discourse, response to Shakespeare’s The Tem‐ pest has been divided between those who view the text as an expression of a colonizer’s mindset, and those who see in Caliban an early articulation of anti‐ colonial protest and rebellion. Writing in the first blush of cultural activism following Kenyan independence (1963), writer and theorist Ngugi wa Thiong’o, for example, gives voice to the view that “in the story of Prospero and Caliban, Shakespeare had dramatized the practice and psychology of colonization years before it became a global phenomenon.” 14 Other anticolonial activists followed the lead of Barbadian novelist George Lamming, and appropriated the figure of Caliban as an act of defiant self-definition and a rejection of Western dominance. Surveying this contested terrain in a 1987 paper for Critical Inquiry, Rob Nixon documented how The Tempest came to serve, finally, as a “Trojan horse” whereby “cultures barred from the citadel of ‘universal’ Western values could win entry and assail those global pretensions from within.” 15 While Ponifasio’s use of Tame Iti as a Caliban-figure affirms the essence of Thiong-o’s perspective, in Without 140 Guy Zimmerman <?page no="141"?> 16 Stephen Greenblatt, Will in the World: How Shakespeare Became Shakespeare, New York 2004, p. 373. 17 Kristen Poole, Supernatural Environments in Shakespeare’s England, Cambridge 2007, p. 29. 18 Cf. Philip Lorenz, The Tears of Sovereignty: Perspectives of Power in Renaissance Drama, Bronx 2013. a Body, he has also retrofitted Nixon’s Trojan horse into a new, postdramatic vehicle to penetrate the inner reaches of the Western psyche, where he can reconfigure the mechanisms of entrainment and capture. It is not the case that Ponifasio disagrees with Thiong-o’s critique of colonialism or the activism it inspires, but rather that his Without a Body is a form of activism working in an entirely different register. Compared to many postcolonial surrogations, Without a Body seems partic‐ ularly sympathetic to the full complexity of Shakespeare’s original, especially the somewhat wistful longing the play expresses for a premodern mode of being already in eclipse. In a similar vein, Stephen Greenblatt views The Tempest as more concerned with the surrender of power than with its abuse. “The Tempest is a play not about possessing absolute power but about giving it up”, he writes. 16 Centered around a sorcerer marshalling elemental forces to redress wrongs, the play was written when embryonic forms of industrial capitalism were already reworking cultural norms and raising alarms. The subtle mixture of protest advocacy and sophisticated cultural surrogacy on display in Without a Body suggests Ponifasio is atuned to these ambivalences in the original text, and even identifies with the other conjuror on the scene - Shakespeare himself. Perhaps the closest antecedent to Ponifasio’s work in postcolonial literature is the Nigerian playwright and theorist Wole Soyinka. The comparison closing this paper between Tempest: Without a Body and Soyinka’s 1975 Death and the King’s Horseman helps clarify what is innovative about Ponifasio’s aesthetic. An analysis of Ponifasio’s engagement with political theology will set the ground‐ work for that comparison. Given Greenblatt’s own work on the role of theatre in the disenchantment of the world through its decenterings of the religious view, it is interesting to note recent work by scholars such as Kristin Poole and Philip Lorenz, to whom reli‐ gion becomes again a form of political theology. 17 Lorenz in particular explores the contradictions of sovereignty in Shakespeare’s plays, tapping Giorgio Agam‐ ben’s extensive work on the “state of exception” in ways echoing powerfully with Ponifasio’s production (State of Exception). 18 This move in Shakespeare studies toward political theology also resonates strongly with the framework of capitalist sorcery deployed by Stengers and Pignarre. Ponifasio’s embrace of 141 The Performance of Counter-Sorcery in Lemi Ponifasio’s Tempest: Without a Body <?page no="142"?> 19 Pignarre, Stengers, p. 52. 20 Karl Marx, Friedrich Engels, The Communist Manifesto, Harmondsworth 1967, p. 223. Agamben, in turn, links him to Prospero and his sorcery - an activist form of political theology - more strongly than to Caliban and his colonial abjection. The connection, finally, to the disarticulatory energies of capitalism is itself di‐ rect, and, indeed, Shakespeare’s text has often been associated with the passage in the Communist Manifesto (quoted at length by Pignarre and Stengers) in which Marx describes how capitalism puts “into crisis everything that holds a society together: ” 19 All fixed, fast-frozen relations, with their train of ancient and venerable prejudices and opinions, are swept away, all new-formed one become antiquated before they can ossify. All that is solid melts into air, all that is holy is profaned, and man is at last compelled to face with sober senses his real conditions of life, and his relations with his kind. 20 “All that is solid melts into air” is actually a line from Macbeth, but the common misattribution to The Tempest reveals how the two plays express the dark and light aspects of the sorcery already at work redefining Shakespeare’s world. It can be argued The Tempest’s affective structure already aligns with the amelio‐ rative environmental intentions animating Ponifasio’s project. Shakespeare, from this point of view, was alarmed by the darker energies concealed within the affective structures of the rising Protestant ethos, and wrote a number of plays expressing his concern: Measure for Measure, Macbeth, Hamlet, King Lear, Julius Caesar, and many others, ending with the wistfully hopeful statement of The Tempest. Shakespeare emerges here as a kind of shaman casting protective spells, using the mechanism of the stage to warn of the dangers Ponifasio now addresses via Without a Body. 4. The Politics of the Postdramatic As is commonly understood, national independence in the era of neoliberal global capital has too often led to new forms of invisible, de-facto colonialism. Under the guise of “development”, the World Bank and the IMF entangle vul‐ nerable postcolonial economies in debtor relationships that restrict and fore‐ close their freedom as fundamentally as armadas of gunships ever did. In a sim‐ ilar vein, theorists such as Franz Fanon and Edward Said have clarified the way those engaged in postcolonial struggle often suffer most from recursive self-im‐ ages of abjection implanted within the psyche by the racism of their formative 142 Guy Zimmerman <?page no="143"?> 21 Gayatri C. Spivak, “Cultural Talks in the Hot Peace: Revisiting the ‘Global Village’”, in: Pheng Cheah, Bruce Robbins (eds.), Cosmopolitics: Thinking and Feeling Beyond the Na‐ tion, Minneapolis 1998, pp. 329-348, here p. 338. 22 Ibid., p. 339. 23 Cf. Eve Kosofsky-Sedgwick, Touching Feeling, Durham 2003; Melissa Gregg, Gregory J. Seigworth, The Affect Theory Reader, Durham 2009. 24 Ponifasio. colonial milieus. Idealized imagos of the colonial Other, and abject imagos of the “native” self are often introjected deeply into the indigenous psyche via Lacanian dynamics that echo and replicate the pathology of the oppressive colonial rela‐ tionship. A generation of postcolonial scholars and thinkers - from Fanon to Said, and from Chandra Mohanty to Gayatri Spivak - have illuminated this material and psychic battlefield, tracing out the lines of race and gender con‐ structs along which colonial power retains its grip. While successfully opening a space for liberated thought and transformative political action on the ground, these theorists have focused on aspects of the problem that are relatively ac‐ cessible precisely because they do not involve what Stengers and Pignarre mean by “capitalist sorcery.” Unfazed by these efforts, the juggernaut of global capital, meanwhile, continues to limit and foreclose our species’ common future. Regarding Northern despoilation of Southern resources, and the neocolonial‐ ism of mapping practices laying out “investment boundaries that change con‐ stantly”, Spivak decries the covert motivation to appropriate “the Fourth World’s ecosystems in the name of development.” 21 Though she was writing before the arrival of sea level rise exerted its amplifying effect on environmental discourse, Spivak deploys George Manuel’s Fourth World rubric for the world’s marginal‐ ized and nonindustrialized indigenous peoples, including the Māori and other Pacific Islanders. She thereby helps explain the discursive freedom and expan‐ sive energy of Ponifasio’s postcolonial animism, in which connective embodi‐ ment undermines the separating effects of power. She writes: “the dream of animist theology [is] to girdle the perhaps impossible vision of an ecologically just world”. 22 In confluence with the philosophy of Gilles Deleuze and Félix Guattari, and with affect theory, 23 Ponifasio’s aesthetic activism invokes a so‐ phisticated reconfiguring of traditional animism in which theatre and dance have important roles to play. Viewing Ponifasio as a Fourth World activist helps explain his apparent im‐ munity from the need to struggle in the mode of Fanon against Lacanian intro‐ jections of the Master Discourse. “Actions that seek to erode and disconnect us from our traditions are actions that seek to enslave us within the regulatory frameworks of others”, 24 Ponifasio writes with understated confidence. His ex‐ 143 The Performance of Counter-Sorcery in Lemi Ponifasio’s Tempest: Without a Body <?page no="144"?> plicitly interventionist agenda underscores his awareness of the dangers in‐ volved with embracing deceptively useful Western perspectives and frame‐ works. In contrast to Tame Iti’s Māori homeland of New Zealand, Samoa was colonized late by Germany in the 1890’s during its tense pre-World War I com‐ petition with Britain, and was under the European yoke for a relatively short period of time. Much of this period, also, was characterized by devastating mili‐ tary conflict and social turbulence in the West, resulting in a loosening of the colonial grip. This confluence of factors helps explain the continuity of indige‐ nous traditions registering so strongly in Ponifasio’s work. From its first images, Without a Body exerts a subtle but powerful counter-hegemonic effect, replacing the narrative of victimization with one of global vanguardism. Ponifasio, in short, demonstrates how to perform anticapitalist sorcery, and his living con‐ nection to indigenous traditions of animism inform this project at every turn. Ponifasio does not want the West to stop messing with his head; his attention is devoted entirely to messing with our heads. The ceremonial minimalism of postdramatic theatre is well-suited to Ponifa‐ sio’s task. As detailed in Hans-Thies Lehmann’s Postdramatic Theatre, the post‐ dramatic is characterized by a move away from dramatic conflict and text, and an embrace of performance art, metatheatrical ironies, narrative fragmenta‐ tions, and the kind of expansive ceremonial spectacles associated with Pina Bausch and Romeo Castellucci. From Lehmann’s perspective, traditional dra‐ matic forms reveal themselves to be inherently conservative in their sociological and political effects. Regardless of their explicit content, conflict-based dramatic tropes reinforce self-other dualisms that lie at the roots of capitalism’s spell-like hold. The postdramatic, by contrast, strips away narrative architectures of plot and situation to activate the transformative ground of the underlying stage space. Among the strengths of Ponifasio’s production, for example, is his clarity about the hidden connection between this formal minimalism and the authori‐ tarian jurisprudence of contemporary politics in the society of the spectacle. Ponifasio describes Tempest: Without a Body as, in part, a response to the way enemy combatants were stripped of legal rights in post-9/ 11 America, a devel‐ opment whose disturbing antidemocratic implications the U.S. public currently seems happy to ignore. Relevant here is the fact that Tame Iti, along with another Ponifasio associate and sixteen others, was arrested for allegedly plotting against the New Zealand government (charges were later dropped.) In an interview with Peter Sellars, Ponifasio says that “Iti represents sacred man.” “Sacred man” (or, homo sacer) is a term Giorgio Agamben borrowed from the German fascist thinker Carl Schmitt to describe that class of human beings so abject as to be denied even the most 144 Guy Zimmerman <?page no="145"?> 25 Ibid. 26 Ibid. 27 Cf. Dick Cheney’s office pursued this doctrine with particular ferocity. See: Dana D. Nelson, “The Unitary Executive Question”, in: LA Times 11 October 2008. 28 Giorgio Agamben, State of Exception, Chicago 2005, p. 50. basic legal protections (homo sacer). Ponifasio here rides on the considerable indeterminacy of his postdramatic staging, Iti becoming a version of Prospero as well as Caliban. The shipwrecked sorcerer of Shakespeare’s play is, after all, the victim of another kind of “disappearance”, and the crime of his exile registers as a disruption of the proper course of events. Linked to Iti in this way, Prospero emerges as a kind of living pharmakos, the liminality of his exile acting as the source of his magic, as well as his suffering. He is the scapegoat who has escaped from beneath the knife, and he brings some of the magic of the sacrificial des‐ ignation with him into exile. The speech Ponifasio gives to Iti is liturgical, a counter-spell more than a litigation, and he invokes the aporia of the postcolo‐ nial situation - “I look at the endless horizon/ questioning my direction” 25 - to invoke the aid of archetypal forces. Extending this line of thought, Ponifasio cites Agamben to underscore the political dimension of another “magic island: ” Guantanamo. In interviews, he addresses how “unchecked state powers, illegal detention and the erosion of individual freedoms” indicate an incipient fascism based on the “state of excep‐ tion.” 26 By quoting Agamben in the context of Guantanamo, Ponifasio directs our gaze to the glaring inconsistency of Western jurisprudence and political theology cropping up in recent debates in the U.S. about the “unitary execu‐ tive.” 27 Carl Schmitt’s “state of exception” is the sovereign’s ability to exempt himself from the legal structure underlying his claims to legitimacy. Seemingly innocuous, this furtive clause suspending the noncontradictory commitments of Enlightenment rationalism acts as a trap door for totalitarianism, reducing democracy to mere window dressing. The exception for Agamben is fundamental to the “imperfect nihilism” of modern political life exemplified by the extremity of the Nazi camps. As “a zone of anomie in which all legal determinations - and above all the very distinction between public and private - are deactivated”, 28 the exception opens a chink in the armor of instrumental reason, revealing an indeterminacy at the roots of Western political structures, an inherent gratu‐ itousness power must conceal and deny at all costs. As well as generating aporia and anxiety, groundlessness becomes the source of an underlying performative mobility to which the sovereign lays exclusive claim. The relationship of the state of exception to the art and practice of theatre - and particularly tragic theatre - needs to be examined carefully. The lawlessness 145 The Performance of Counter-Sorcery in Lemi Ponifasio’s Tempest: Without a Body <?page no="146"?> 29 Antonin Artaud, The Theater and Its Double, New York 1958, p. 25. 30 Stephen Greenblatt, p. 373. 31 Michael T. Taussig, Shamanism, Colonialism, and the Wild Man: A Study in Terror and Healing, Chicago 1991, p. 461. of the state of exception, for example, underscores the “gratuitousness” of power claims by political actants generally. Notably, “gratuitous” was among Antonin Artaud’s choice terms for the dangerous quality of the stage space 29 - its basic morphogenetic or form-generating properties and its exemption from laws or restrictions of any kind. Along similar lines, Greenblatt illuminates how Shake‐ speare’s The Tempest pertains to the magic of the theatre space: “Shakespeare’s principle model for the magician’s realm is the theater, with its bare stage and its experimental openness - a world where anything is possible.” 30 If the world is indeed a stage, and that stage is everywhere, and at all times available to everyone, so is an “exceptional” sovereignty. The “magic” of theatre lies in the fact that the stage is a perfectly virtual space, unactualized but nevertheless fully a part of the real. The postdramatic rejects dramatic contrivances because they over-encode the stage space, tethering it to causal narratives giving the sorcery of capital too much of a hold. On a formal level, Ponifasio’s Without a Body explores how performance re‐ lates to the state of exception defined by theatrical space itself - how perform‐ ance creates an open, unmarked space and then defines it. This open space per‐ tains directly to the colonial mindset - the blankness and absence Europeans in the early modern phase projected on the rest of the world, leveraging the modern into existence as a contrasting fullness or plenitude. As anthropologist Michael Taussig underscores, modern Enlightenment identity enacted itself as an Other counterposed to the shamanic as “the joint construction of the healer and the sick in the semantically generative space of annulment which is the Colonial death-space.” 31 Exposing the performative roots of Agamben’s exception, Poni‐ fasio shows how the state of exception is the state of sorcery, and the ownerless stage space its natural home. 5. Without a Body and Time If Without a Body provides a vehicle for exploring how the state of exception relates to stage space, it also provides a theoretical scaffold from which to ap‐ proach the temporal legacy of colonialism. From the initial collision between Benjamin’s frightened angel and the calming traditional dance forms that follow, the main thrust of Ponifasio’s production is to engage Western audiences on the level of temporality—the habitual ways we organize past, present, and future. 146 Guy Zimmerman <?page no="147"?> 32 Ponifasio. Ponifasio links these spatial and temporal concerns to traditional Polynesian conceptions of communal relationality: “There is no presence. There is no ab‐ sence. The ancestors are always with us. Intertwined. In performance we weave our genealogy back to source.” 32 Ponifasio’s statement suggests a determination to exist in connection, in a shared, relational present, rather than in separation as atomized subjects. Without a Body thus clarifies Ponifasio’s approach to the temporal aspects of Shakespeare’s original, the intensive arrangements of past, present, and future that seem particularly relevant to his project. With respect to time, Ponifasio’s imagery and his use of traditional dance motifs do not register as anachronistic. Ponifasio’s postcolonial imagination rejects the way Enlightenment temporality disentangles past, present, future, giving rise to the civic religion of progress and dissolving any restraint based on respect for tradition or the past. The cor‐ nerstone of modern temporality has been the institution of ownership that has typically seemed so inexplicable to indigenous people. Ownership - private property - asserts and enforces linear continuity and homogeneity across all three temporal zones, eliminating the relational flows that arise from the in‐ tensive differences between them. Like an iron bar shorting the flow of elec‐ tricity between wires in a circuit, ownership (as opposed to, say, stewardship) short-circuits the cultural processes that flow between past, present, and future. Against this infernal intrusion, theatre poses its restorative alternative, reviving a nomadic present in the unencoded temporal zone of the stage. Ponifasio’s awareness of Western philosophical and literary history arms him against epistemic capture and allows him to enlist Shakespeare in an assault on Enlightenment temporality. The elaborate temporal structure of The Tempest, featuring the pagan prehistory of Sycorax, the dramatic back story of court in‐ trigue and treachery in Milan, and the future of Miranda and Ferdinand invoked through Prospero’s final speech, lends itself to this effort. The conceit of linear causality and the Enlightenment’s deterministic vision of a clockwork universe contests with the looping, temporal exertions of Shakespeare’s play, and Poni‐ fasio enters the imagistic substrata of The Tempest through these baroque por‐ tals. His aim is not to seize the reins of history; he seems rather to recognize the linear temporality of Western modernity as a bewitching potion for colonized people, a sure fire source of self-disempowerment. In Ponifasio’s staging, the triangular plot structure of The Tempest becomes an attempt to bring the three temporal spheres back into intensive contact so that sacred processes may resume. In one plot, Prospero subverts Antonio and 147 The Performance of Counter-Sorcery in Lemi Ponifasio’s Tempest: Without a Body <?page no="148"?> Sebastian’s conspiracy against Alonso and Gonzalo; the crimes of the past are invoked and then transcended by acts of magic. A second plot line is defined by the comedy of Caliban’s encounter with the clown-figures of Trinculo and Ste‐ phano, each of them bound to a present in which magic has no traction. In the marriage between Miranda and Ferdinand, finally, Prospero works to arrange a future state of healing and union. The assemblage of all three zones is the com‐ plex premodern mode of temporality Prospero seeks to enter in scene one, act five when he promises to “drown his book”, a mode Ponifasio identifies in his program notes with the final entry: “the chaotic tempest of life.” To understand the implications of this “chaotic tempest” when it comes to our current postcolo‐ nial moment, it will help to compare Without a Body to Wole Soyinka’s Death and the King’s Horseman. 6. Ponifasio and Wole Soyinka In terms of the temporality of postcolonialism and tragic drama, Wole Soyinka is Ponifasio’s most significant forebear. The three temporal zones Soyinka em‐ phasizes in his work on Yoruba tragedy remains especially salient, reappearing in the conceptual ground of Ponifasio’s Without a Body. Soyinka’s Death and the King’s Horseman and his essay The Fourth Stage help clarify Ponifasio’s view of sovereignty and the temporality of the stage. The two artists seek to defeat vestigial colonialism as a temporal construct in which future benefit is allowed to trump the concerns of the present, while also negating any debt to the past. And yet, while a comparative analysis of the two plays suggests areas of broad agreement between their Third and Fourth World modes of tragic surrogacy, there are also some telling divergences. In Death and the King’s Horseman, Soyinka depicts the moment in which spatial domination becomes temporal capitulation - the letting go of the future/ present/ past. At the climax of Soyinka’s play, the protagonist, Oba Elesin em‐ braces traditional ritual and, to fulfill his traditional role as the Chief ’s horseman, begins to drift toward the present-past of the archetypal consciousness of Yoruba myth. Elesin’s completion of this ritual death, however, is interrupted by the English governor Pilkings. Soyinka links this catastrophe to the ensorcelled somnambulism of Pilkings and the other colonials as they drift through a neo-Victorian dance at a masque taking place on the same night. In this study in temporal contrasts, the Yoruba whole of past-present-future is opposed to the alienated, lack-based temporal construct of European modernity, where the present exists as a deferment of a future that has no past. Intensive connection between the three realms would allow for a balancing of the affective energies, 148 Guy Zimmerman <?page no="149"?> 33 Wole Soyinka, Death and the King’s Horseman, New York 2002, p. 152. 34 Ibid., p. 153. 35 Christian Kerslake, Deleuze and the Unconscious, London 2007, p. 186. 36 Ibid. which instead arrive as colonial oppression driven by a Dionysian frenzy or tempest. Ogun/ Dionysus’s prominence in Death and the King’s Horsemen marks Soyinka as first and foremost a Nietzschian thinker and artist. Dionysus and Ogun are affective deities, correlates of internal but also intrasubjective pro‐ cesses, crossing the boundary between inner and outer, subject and object, rec‐ onciling oppositions with an incommensurability also characterizing tragic drama. About ritual, Soyinka’s protagonist Elesin declares: “It is buried like seed-yam in my mind / This is the season of quick rains, the harvest.” 33 In his use of seed and egg imagery, Soyinka is describing something very close to the instinctive unconscious of Bergson, which, through Deleuze and Guattari, has animated much of the current theorizing around new materialist doctrines of the post‐ human. “It’s getting dark. Strange voices guide my feet” 34 says Elesin as he begins to slip down into that dark of somnambulism. “In the nightmare […] the sleeping subject is comparable to the embryo in the egg, being twisted and turned about”, Christian Kerslake writes in Deleuze and the Unconscious, “always on the verge of being torn apart.” 35 In language that underscores the disarticulatory energies at work, Kerslake continues: “the nightmare takes us beyond the dream-image, as nightmare-images carry an intensive visceral affect.” 36 As in Bergson and Jung, this struggle, as the expression of an archetypal “instinct”, is also a sur‐ rendering of self, toward an embrace of a deeper, groundless multiplicity. Our sense in the West that we have transcended this kind of influence is simply a symptom of our Enlightenment somnambulism. Both Horseman and Without a Body embrace the stage as a means of main‐ taining the contact between the three zones of temporality so that differential becomings may unfold in a balanced way. In both cases, the tragic moment thus entails a recognition of a preexisting or originary condition rather than the story of good fortune gone wrong. The groundless Dionysian frenzy in Soyinka and the sonic tempest opening Without a Body afflict those who refuse to honor the differential deity (e.g. Dionysus or Ogun). Ponifasio and Soyinka both grasp the ontological implications of tragic drama, which point in the direction of blind, intensive forces as a more fundamental reality than essence or unity. From this point of view, the frenzy or tempest of capitalism - that which gave rise to colonial aggression in the first place - represents a refusal to engage with 149 The Performance of Counter-Sorcery in Lemi Ponifasio’s Tempest: Without a Body <?page no="150"?> 37 Giorgio Agamben, “The Idea of Language”, in: Daniel Heller-Roazen, Potentialities: Col‐ lected Essays in Philosophy, Stanford 1999, p. 45. 38 Ponifasio. Dionysian energies. Our stubborn commitment to ideas of unity and essence makes us into a collective Pentheus refusing to pay deference to the deity, as if Western history since the Enlightenment has been reenacting Euripides’s The Bacchae on a grand scale. The planet’s various environmental woes represent, perhaps, the gathering of the threatening and disarticulatory force of this deity warned of by Ponifasio’s terrified angel. Ponifasio’s postdramatic mode of wor‐ king allows him to amplify Soyinka’s temporal concerns in forceful ways. Unlike Horseman, the focus of Without a Body is resolutely forward, rather than back: “Who we are in front of ourselves”, Ponifasio says to Sellars, “not in the past.” Using Shakespeare’s hopeful text, Ponifasio seeks to bridge the chasm of Western nihilism, toward a resilient, postmodern form of animism. 7. Affect and Animism In a world increasingly governed by transnational corporations adept at sub‐ verting prerogatives of the nation state, the de facto corporate sovereign now embodies the distributed hegemony of Stengers and Pignarre’s “sorcery without sorcerers.” One of the crucial aspects of political activism promoted by Stengers and Pignarre is how “any agreement with sorcery is fatal.” What they have in mind here is the kind of temporal separation Ponifasio counters in Tempest: Without a Body. Once you agree to the framework of past-present-future as distinct and separate entities you are lost, defenseless against a sorcery already working its spell, entraining your actions even as it cloaks what it is doing, inspiring you with the delusions of free will and agency. To the Western mind the invitation to think without this kind of temporal schema delivers an imme‐ diate encounter with groundlessness and aporia. Agamben points to this kind of aporia as a symptom of the split between the “I” of semiotic annunciation on the one hand and the experiential individual on the other. To stand in the aporia between them is, to Agamben, the basic ethical act—a way out of the dead zone of disenchantment. 37 This, it seems to me, is the portal through which Ponifasio’s postdramatic theatre seeks to connect with indigenous animism. “I’m trying to fight your thoughts”, Ponifasio says, “to fight the image of the world you have, to get to your pre-thoughts.” 38 Through “pre-thoughts”, Poni‐ fasio refers to affective states, which, in Deleuzian terms, can be viewed as the intensively charged presubjective material out of which thoughts and identities arise. Affect is the terrain at which sorceries - capitalist and animist - aim their 150 Guy Zimmerman <?page no="151"?> resources. Affects have no objects and precede notions of self and other. Emo‐ tions become that subcategory of affects that have fallen under the domain of a self, acquiring objects and directionality - telos and the appearance of agency. Instead of tinkering with how subject and object interrelate, affect theory ex‐ plodes the root dualism on which doctrines of ownership and private property are based. Affect theory also coincides with Deleuze and Guattari’s embrace of multiplicity over unity. And an even more basic similarity has to do with how, in affect theory and in Deleuze and Guattari, difference precedes identity. The link between unified identity and the concept of ownership is clear: the self-image or identity is the first thing we seek to own, to fix in a relationship immune to change and to the differential forces of time. Ponifasio’s work thus exemplifies the political thrust of the postdramatic, suggesting how the visual spectacles of Wilson and Castellucci also seek to shift the political away from Enlightenment rationalism back toward the affective ground of aesthetic praxis and new forms of activism. In an era in which the major challenges - from social equity to resource depletion to species extinction - are interconnected complexities and, as such, emphasize connectivity over individuation, it is no surprise that theatre would shed the dramatic structures that reinforce paradigms of disconnection and separation. Beneath these struc‐ tures the inherent connectivity of the stage space lies waiting, and it remains to be seen whether literary drama will locate new modes of expression within this postdramatic paradigm. In Without a Body, meanwhile, Lemi Ponifasio works a countercultural ap‐ propriation for the purposes of antihegemonic environmental localism. If the planet is quickly becoming a necrotic mass of toxicity and broken ecosystems, Ponifasio’s repurposing of Shakespeare’s final play reminds us that history is never a fixed affair; what happens next colors and revises the meaning of what has gone before. If the current blackening is the prelude to a greater flourishing some decades down the line, the actions we take now will seem providential rather than futile. Who knows - in keeping with the comedic nature of The Tempest, perhaps there is no way for us to avoid our salvation for long. Viewed this way, the challenges ahead become perhaps a little less daunting. 151 The Performance of Counter-Sorcery in Lemi Ponifasio’s Tempest: Without a Body <?page no="153"?> 1 Vgl. Frieder Schlaich, „Anmerkungen“, http: / / www.filmgalerie451.de/ filme/ say-goodbye-sto ry-att-111 (23.1.2017). 2 Schlingensief verwendete das in Namibia gedrehte Filmmaterial außerdem in mehreren In‐ stallationen, etwa als Anordnung auf 18 Monitoren für die Ausstellung 18 Bilder pro Se‐ kunde im Haus der Kunst in München 2007 oder für The African Twintowers: Stairlift To Heaven, eine Installation, die 2008 erstmals am Institute of Contemporary Arts in London gezeigt wurde. Wiederholt und Durchgespielt: Deutscher Kolonialismus in Christoph Schlingensiefs The African Twin Towers Fabian Lehmann (Universität Bayreuth) Christoph Schlingensiefs aufwendige Drehbühnen-Installation, der sogenannte „Animatograph“, reiste zwischen 2005 und 2006 in insgesamt fünf Editionen um die Welt. Aufgebaut wurde er in Thingvellir (Island), in Neuhardenberg (Deutschland) und in Luderitz (Namibia), bevor er im Wiener Burgtheater schließlich in die eta‐ blierten Institutionen der Kultur einzog. Es war der dritte Aufbau des Animatogra‐ phen unter dem Titel The African Twin Towers, für den Schlingensief mit seinem Team aus deutschen und namibischen Schauspieler_innen, Filmcrew und Bühnen‐ techniker_innen nach Namibia flog. Schlingensief und sein Team reisten von der Hauptstadt Windhoek aus durch das Land und gelangten nach vier Tagen in die Hafenstadt Luderitz im Südwesten des Landes - all das begleitet von den Kameras, welche die Reise ausführlich dokumentierten. Der Animatograph in Luderitz nahm eine besondere Stellung innerhalb der fünf Editionen ein, weil sich mit ihm Schlin‐ gensiefs Absicht verband, den ersten Langfilm seit 1997 zu drehen. Tatsächlich sind etwa 260 Stunden Filmmaterial in Namibia abgedreht worden, 1 ein Spielfilm ist da‐ raus jedoch nie entstanden. Damit bleibt das letzte Filmprojekt des 2010 verstor‐ benen Regisseurs und Aktionskünstlers unvollendet. Anstelle eines Films ist 2009 eine filmische Dokumentation über die Dreharbeiten, ebenfalls unter dem Titel The African Twin Towers, veröffentlicht worden. 2 Diese Dokumentation ist ein zentrales Produkt der dreiwöchigen Reise, welches die Dreharbeiten rund um den Animato‐ <?page no="154"?> 3 Vgl. Roman Berka, Christoph Schlingensiefs Animatograph: Zum Raum wird hier die Zeit, Wien 2011. graphen in Namibia nachvollziehen lässt und den Blick auf das Projekt wie kein anderes prägt. In diesem Beitrag soll es nicht um den Animatographen als solchen gehen. Als Drehbühnen-Installation und als komplexe konzeptuelle Arbeit, die auf die Mediengeschichte des Films rekurriert, ist der Animatograph bereits von Roman Berka dokumentiert und detailliert beschrieben worden. 3 Vielmehr ist mir daran gelegen, zu zeigen, dass ein Verständnis von The African Twin Towers als ge‐ scheitertes Filmprojekt, das lediglich als dokumentarischer Zusammenschnitt überliefert ist, zu kurz greift. Die Afrika-Edition des Animatographen ist eine eigenständige Arbeit, die sich mit dem deutschen Kolonialismus in Afrika be‐ fasst und die, so will ich zeigen, vor allem performativ und theatral verstanden werden muss. Schlingensief hatte für seinen Film ursprünglich eine Handlung vorgesehen, in der er den Regisseur „Christoph“ spielend nach Namibia reist, um dort im Auftrag der Familie Bach eine Theaterarbeit umzusetzen. Ich werde mich daher auf einzelne Szenen des Filmmaterials beziehen, um zu veranschau‐ lichen, wie Schlingensief neokoloniale Strukturen anhand des fiktiven Theater‐ projekts konkret thematisierte. Das Filmmaterial als Dokument des damaligen Geschehens ermöglicht es, Schlingensiefs performative und theatrale Arbeit in Namibia ausschnittsweise nachzuvollziehen. Dass die skizzierte Handlung des Films sich zunehmend in zusammenhangslose Einzelszenen auflöste; dass Schlingensief mit dem Ungewissen spielte, wann er als realer Regisseur und wann als Figur des Regisseurs Christoph auftrat; dass die Überfülle an Bezügen, Handlungsebenen und möglichen Lesarten das retrospektive Nachvollziehen der Geschehnisse vor enorme Herausforderungen stellt, macht bereits deutlich, dass es sich bei The African Twin Towers um ein im besten Sinn postdramatisches Vorhaben handelte. Indem Schlingensief in The African Twin Towers sich in einer überzeichneten Variante selbst spielt, führt er auch die Problematiken der Umsetzung eines kul‐ turübergreifenden Projekts vor. Inwieweit Schlingensief als realer Regisseur hingegen selbst in der Lage war, transkulturell, also innerhalb eines kulturell divers zusammengesetzten Teams zu arbeiten, in dem kulturelle Unterschiede nicht festgeschrieben, sondern der Individualität der Beteiligten Raum gegeben wird, werde ich im letzten Teil diskutieren. Dabei werde ich sowohl auf Claire Bishops Kritik an Künstler_innen-Performer_innen-Beziehungen verweisen als auch Aussagen der lokalen Darsteller_innen zu den Dreharbeiten einbeziehen. 154 Fabian Lehmann <?page no="155"?> 4 Vgl. Jörg van der Horst, „Serie von Animatographen - kommentiert von Jörg van der Horst“, in: Der Animatograph, DVD, Berlin 2011, Min. 00: 04: 24. 1. Die vergessenen Kolonien In den verschiedenen Editionen des Animatographen arbeitete sich Schlingen‐ sief an ganz unterschiedlichen Themen und Bezügen ab, die für ihn mit den jeweiligen Orten verbunden waren, an denen die Installation aufgebaut worden war. Sein Ansatz war es, die noch leere Drehbühne, die zunächst nichts weiter als eine runde Plattform war, die über einen Motor oder auch per Hand in Dre‐ hung versetzt werden konnte, verschiedenen Umgebungen auszusetzen. Für Schlingensief und sein Team bedeutete das, die Bühne mit Bildern und Mythen zu beladen, die mit diesen Orten verbunden waren. „Beladen“ ist dabei wörtlich zu verstehen, waren es doch alltägliche Gegenstände aus der Umgebung, die auf die Bühne gestellt und in den Kontext der Arbeit eingebunden, fortan dem äs‐ thetischen Blick ausgesetzt waren. Dabei stellte der jeweils vorangegangene Aufbau die Ausgangssituation für den folgenden. Die Idee der Unternehmung war es, dass die zunächst leere Plattform auf der Reise von ihrer Umwelt zehren würde, um schließlich zur „Mythenhalde“ anzuwachsen. 4 Der Aufbau in Luderitz, in der durch Armut und Ausgrenzung benachtei‐ ligten Siedlung Area 7, nährt sich aus diversen Motivwelten, die sich zum Teil aus den vorherigen Stationen in Thingvellir und Neuhardenberg, zum Teil aus der Geschichte und Gegenwart von Luderitz erklären, oder aber auf andere Ar‐ beiten Schlingensiefs jener Zeit verweisen. So bezieht sich der namibische Animatograph auf die germanische Mythologie, das Neue Testament, Schlin‐ gensiefs Erfahrungen während seiner Parsifal-Inszenierung für die Bayreuther Festspiele, die Terroranschläge vom 11. September 2001 und schließlich die Ge‐ schichte Namibias als Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ zwischen 1884 und 1915. Es ist vor allem das letzte Motiv, dem ich mich in diesem Aufsatz widmen möchte. Die Dreharbeiten in Namibia waren eng an die Frage geknüpft, wie sich der deutsche Kolonialismus thematisieren und in Bildern visualisieren lässt, ohne das Thema auf eine Illustration historischer Ereignisse zu reduzieren und damit diesen Teil der deutsch-namibischen Geschichte lediglich dokumentarisch zu bebildern. Diese Frage ist deshalb relevant, weil die Kolonialvergangenheit Na‐ mibias - wie im Übrigen auch die der anderen ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika, im Südpazifik und in China - in Deutschland nahezu vergessen ist und sich die öffentliche Auseinandersetzung hierzu auf wenige, oft private Ini‐ tiativen beschränkt. Die Aufmerksamkeit gegenüber der deutschen Kolonialge‐ 155 Wiederholt und Durchgespielt <?page no="156"?> schichte mag in der jüngsten Zeit, unter anderem verursacht durch die Kritik am Humboldt Forum in Berlin, gestiegen sein. Für den Zeitraum der Reise des Animatographen gilt jedoch, dass ein öffentliches Bewusstsein gegenüber dem deutschem Kolonialismus praktisch nicht existierte. Schlingensief versuchte sich daher an verschiedenen Ansätzen, die Kolonialzeit zum Thema zu machen und zu visualisieren, ohne dabei didaktisch oder dokumentarisch vorzugehen. 2. Die Inszenierung einer Dokumentation Die 70-minütige Filmdokumentation The African Twin Towers erschien 2009, also mehr als drei Jahre nach den Dreharbeiten in Namibia. Als filmisches Ta‐ gebuch der Dreharbeiten lässt die Dokumentation die Zuschauer_innen am da‐ maligen Filmdreh teilhaben und ist auf diese Weise Beleg für die Entstehung eines Films, den es nicht gibt. Diese von Schlingensiefs Kamerafrau Kathrin Krottenthaler geschnittene Dokumentation ist in der Dramaturgie der Ereig‐ nisse recht konventionell angelegt. Sie gibt den Ablauf der Reise des Filmteams durch Namibia chronologisch wieder und ordnet jedem Tag ein eigenes Kapitel zu. Der Spannungsbogen folgt dabei den gängigen Konventionen des Spielfilms. So erreicht die Filmdokumentation ihre Klimax, als Schlingensief, nahe der Ver‐ zweiflung ob der Erkrankung seines Vaters und der ihm zunehmend entglei‐ tenden Dreharbeiten, am Strand von Luderitz auf Patti Smith trifft. Ausgelöst hatte die Krise Schlingensiefs nach eigenem Bekunden der auf ihm lastende Druck, mit dem Film eine Geschichte erzählen zu müssen, an der er selbst bereits jedes Interesse verloren hatte. So inszeniert sich Schlingensief in der Filmdoku‐ mentation als uninspirierter, von Selbstzweifeln und Heimweh geplagter Re‐ gisseur, der zunehmend isoliert vom restlichen Team agiert. Erst durch Patti Smith erfährt Schlingensief die ersehnte freundschaftliche Zuwendung und das Verständnis für seine Not, die ihm neuen Antrieb für seine Arbeit geben. Smith, die sich von den bisherigen Dreharbeiten unvorbelastet dem Team anschließt, ist die Deus ex Machina, die der Handlung eine glückliche Wendung ermöglicht, weil der innere Akteur_innenkreis diese nicht herbeizuführen vermag. Die Dreharbeiten gewinnen neuen Schwung und münden schließlich am letzten Drehtag in ein rauschendes Fest um den Animatographen. Generell ist es gewagt, die Theaterstücke und Filme Schlingensiefs - und dazu soll auch die Dokumentation gezählt werden - über ihre Handlung nachvoll‐ ziehen zu wollen. Entscheidender sind das Schaffen von Situationen, das Aus‐ stellen von Räumen oder die Suche nach Bildern. Immer auch richten sich die Theaterstücke und Filme gegen Folgerichtigkeiten und eine nachvollziehbare Handlung. Diedrich Diederichsen führte daher den Begriff der „Diskursver‐ 156 Fabian Lehmann <?page no="157"?> 5 Vgl. Diedrich Diederichsen, „Diskursverknappungsbekämpfung, vergebliche Intention und negatives Gesamtkunstwerk: Christoph Schlingensief und seine Musik“, in: Su‐ sanne Gaensheimer (Hg.), Deutscher Pavillon 2011: 54. Internationale Kunstausstellung La Biennale Di Venezia, Köln 2011, S. 183-190, hier S. 185. 6 Ebd., S. 185-186. knappungsbekämpfung“ ein, um die Gesamtheit der künstlerischen Mittel in den Filmen und Theaterstücken Schlingensiefs zu umreißen, die einer verein‐ fachenden Interpretation der jeweiligen Arbeit entgegen laufen. 5 Die Filme sa‐ botierten in ihrer Sprache und Technik beständig die Konventionen des Me‐ diums. Auf dem Theater steht Schlingensiefs Bayreuther Parsifal-Inszenierung zwischen 2004 und 2007 für die radikale Abkehr vom Regietheater. Weder il‐ lustrierte Schlingensief das Libretto der Oper noch aktualisierte er Figuren und Bühnenbild, um etwaige Bezüge zur Gegenwart herzustellen. Die Bilder und Motive seiner Inszenierung erschlossen sich vielmehr assoziativ und spielten mit vermeintlichen Verbindungen, etwa der phonetischen Ähnlichkeit zwischen dem heiligen „Gral“ aus dem Parsifal und der südafrikanischen Siedlungs‐ struktur des „Kral“. Ziel dieser Mittel ist für Diederichsen die Verunklarung und die Vermeidung eines „stillstellenden Sinns“ 6 . Tatsächlich hatte sich Schlingen‐ sief in Namibia in einer Radikalität von einer das Geschehen bestimmenden Handlung verabschiedet, wie er es bis dato in keinem seiner Filme und Thea‐ terstücke praktiziert hatte. Dabei hatte es in der Planungsphase der Drehar‐ beiten durchaus noch eine Narration gegeben, die auch als vereinzeltes Relikt in der Filmdokumentation auftaucht. Für das Verständnis dessen, was Schlin‐ gensief mit seinem Filmteam in Namibia praktizierte, ist die Handlung dennoch zentral. Die ausführlichste Darstellung der ursprünglichen Handlung, die in ver‐ schiedenen Quellen in Variationen wiedergegeben wird, findet sich in einer Broschüre, produziert für die Stiftung Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, die das Animatograph-Projekt finanziell unterstützte. Laut dieser Broschüre handele das Filmmaterial zur Afrika-Edition von dem brillanten, aber erfolg‐ losen Regisseur Christoph, der in Luderitz den 11. September 2001 als Zeichen gegen Globalisierung und die Dekadenz der ersten Welt nachspielen will. Der Leiter der Bach-Festspiele, Wolfgang Bach, lädt den Regisseur auf Geheiß seiner Tochter Katharina Bach ein, die Matthäuspassion in einem Festivaltheater in der Wüste aufzuführen. Christoph willigt ein. In der Umsetzung der Pläne in Lu‐ deritz werden Christoph und sein Team dann vor einige unerwartete Schwie‐ rigkeiten gestellt. Schließlich versagen ihm die Bachs die Unterstützung als er hunderte lokaler Statist_innen für seine Inszenierung anwerben will. Dennoch 157 Wiederholt und Durchgespielt <?page no="158"?> 7 Vgl. The Animatograph, Broschüre zum Animatograph herausgegeben von der Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, o. J. 8 Vgl. Roman Berka, „Schlingensief's Animatograph: Time here Becomes Space“, in: Tara Forrest, Anna Teresa Scheer (Hgg.), Christoph Schlingensief Art: Without Borders, Bristol 2010, S. 169-186, hier S. 169. 9 Vgl. Christoph Schlingensief, The African Twin Towers, DVD, Berlin 2009, Min. 00: 23: 40. 10 Vgl. Jörg van der Horst, „‚Ist’n looser Film , kein Tempo ,alles im Arsch …‘: Welt als Film und Film als Trauma in Christoph Schlingensiefs THE AFRICAN TWINTOWERS“, in: Begleitheft zur DVD The African Twin Towers - Der Ring - 9/ 11, Berlin 2015, S. 4-16, hier S. 12. wird die Aufführung auf der Festivalbühne (dem Animatographen) ein großer Erfolg und es kommt zur Versöhnung zwischen Christoph und den Bachs. 7 Die Parallelen der fiktiven Handlung zu den Geschehnissen in Bayreuth während Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung liegen so offen dar, dass die Figur Christoph mit dem realen Parsifal-Regisseur Schlingensief verschmilzt. Denn die Geschichte des Regisseurs Christoph, der im Dienste der Familie Bach (die als Synonym der Familie Wagner fungiert, was sich bereits an den Vornamen der Familienmitglieder ablesen lässt) nach Namibia reist, um die Matthäuspas‐ sion umzusetzen, ist gleichsam die Geschichte des realen Schlingensief, der nach Namibia reiste, um dort Bildmaterial aufzunehmen, das er für die Inszenierung des Parsifal in Bayreuth unter der Festivalleitung von Wolfang Wagner ver‐ wendete. Über die zeitliche und inhaltliche Parallele hinaus sind die Par‐ sifal-Inszenierung und der Animatograph auch konzeptuell eng miteinander verwoben. So beruht die Idee einer rotierenden Plattform als Basis des Anima‐ tographen auf jener Drehbühne, die in der Parsifal-Inszenierung zum Einsatz kam. Schlingensief selbst beschrieb seine Bearbeitung von Wagners Parsifal daher einmal als den Ur-Animatographen. 8 Diese leitende Handlung des geplanten Films gab Schlingensief nach einigen Tagen während der Reise durch Namibia gänzlich auf. Im Off-Kommentar der Dokumentation erklärt er die Abkehr von Handlung und Drehbuch damit, dass ihm in Luderitz der Rucksack und das darin enthaltene Drehbuch gestohlen worden sei, was ihm schließlich ein willkommener Anlass gewesen wäre, das Drehen nach Buch aufzugeben. 9 Damit war ein herkömmlicher Film, der mehr oder weniger eine Narration verfolgt, aufgegeben und letztlich auch die Grund‐ lage für das Scheitern des gesamten Filmvorhabens gelegt. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Textbeitrag von Jörg van der Horst aus dem Jahr 2015, in dem er die Vorbereitungen für die Reise nach Namibia beschreibt. Dabei bezieht er sich auf den Dokumentarfilm Lost in La Mancha (2002), der Schlin‐ gensief als Inspiration für die eigenen Dreharbeiten gedient habe. 10 Lost in La Mancha ist eine Filmdokumentation, welche die Dreharbeiten des US-amerika‐ 158 Fabian Lehmann <?page no="159"?> 11 Vgl. Roman Berka, Christoph Schlingensiefs Animatograph: Zum Raum wird hier die Zeit, S. 200. nischen Regisseurs Terry Gilliam zu seinem Film The man who killed Don Quixote begleitet. Die Dokumentation macht deutlich, unter welchen Widrigkeiten die Filmaufnahmen Gilliams litten, darunter ein unerwarteter Starkregen, der die Technik davon schwemmte oder der krankheitsbedingte Ausfall des Hauptdar‐ stellers. Gilliam scheiterte schließlich mit seinen Dreharbeiten und der Film blieb unvollendet. Es bleibt dahingestellt, ob Schlingensiefs Interesse an Lost in La Mancha so‐ weit ging, dass ihm die Dokumentation als Vorlage diente, in seinem eigenen Filmprojekt ebenfalls ein gezieltes Scheitern herbeizuführen. Zumindest aber war ihm daran gelegen, die Probleme während der Dreharbeiten als Krise zu inszenieren, wie Roman Berka beschreibt. So habe Schlingensief, der seine Schauspieler_innen Klaus Beyer und Karin Witt während der Dreharbeiten in‐ terviewte, die Worte zur schlechten Stimmung im Team in den Mund gelegt. 11 Lost in La Mancha als Bezugspunkt ermöglicht jedenfalls zu verstehen, weshalb die Dreharbeiten zu The African Twin Towers derart penibel festgehalten wurden und auch in der Filmdokumentation unklar bleibt, wann es sich um Szenen des geplanten Films und wann um die Dokumentation der Dreharbeiten handelt. Da beides gleichermaßen als Filmmaterial überliefert ist, ist allein über das Me‐ dium keine Unterscheidung möglich. Die Inszenierung des Filmdrehs und dessen Dokumentation scheinen also gleichermaßen bedeutend wie der Film‐ dreh selbst gewesen zu sein. Die Draufsicht auf die Dreharbeiten war von Beginn an ein - wenn nicht gar der - wesentliche Teil des Unternehmens. Ein entscheidendes Mittel für das unklare Verhältnis zwischen Film und Do‐ kumentation ist die Verwischung des Verhältnisses zwischen Fiktion und Rea‐ lität. Geschaffen wird diese Verunsicherung in erster Linie durch Schlingensief selbst, der die Rolle des Regisseurs Christoph übernimmt und zugleich als realer Regisseur die Dreharbeiten leitet. Die Handlung des Films und die Dokumen‐ tation der Umsetzung des Film-Projekts gehen beständig ineinander über, bis nicht mehr festzustellen ist, ob ein Film gedreht wird oder in der Geste einer Draufsicht das Filmdrehen gezeigt wird. So wechseln die verschiedenen Ka‐ meras beständig die Perspektive zwischen gefilmter Szene und dem Filmen der Szene. Die Verunsicherung über das Verhältnis von Fiktion und Realität, die der un‐ klaren Sprecherposition des Regisseurs folgt, ist eine Strategie, die Schlingensief in zahlreichen Theaterproduktionen erprobte. Das lässt sich unmittelbar in der Züricher Hamlet-Inszenierung von 2001 zeigen, in der Schlingensief als Dar‐ 159 Wiederholt und Durchgespielt <?page no="160"?> steller in Nazi-Uniform selbst auf der Bühne stand. Als bereits skandalumwit‐ terter Regisseur nutzte er dort das Rampenlicht, um entschlossen die vierte Wand zu durchbrechen und das Publikum zu beschimpfen. Subtiler und kom‐ plexer angelegt ist diese Verunsicherung in Via Intolleranza II aus dem Jahr 2010. In diesem Stück ließ sich Schlingensief von Stefan Kolosko spielen, als es sein Gesundheitszustand nicht mehr zuließ, selbst auf der Bühne zu stehen. Die Bühnenfigur „Stefan“ ist sich zunächst ihrer Rolle bewusst und spricht an, dass es ihre Aufgabe sei, „Christoph“ zu vertreten. Im Laufe der Aufführung ist Stefan jedoch zunehmend weniger in der Lage, seine Rolle zu reflektieren und besteht schließlich darauf, selbst Christoph zu sein und geht gänzlich in der Funktion des Regisseurs auf. Indem in Namibia die Dreharbeiten selbst zum Gegenstand des Gezeigten werden, wird die Performativität des Schauspiels entgrenzt und schließlich auf das begleitende Geschehen ausgeweitet, das im konventionellen Film dem Ma‐ king-of als separaten Produkt vorbehalten bleibt: Schlingensief, der im ländli‐ chen Namibia versucht, seinen kranken Vater in Deutschland telefonisch zu erreichen; die Schauspieler Norbert Losch und Robert Stadlober, die sich fragen, was sie von der Anweisung halten sollen, fortan nur noch Filmklassiker nach‐ zudrehen; oder das Filmteam, das in Luderitz ein Casting für weitere Dar‐ steller_innen durchführt. Vieles unterliegt auf diese Weise dem enthüllenden Blick der dokumentierenden Kameras - aber eben nicht alles. Mitglieder des Teams, die Kamera und Ton verantworten, bleiben von den Aufnahmen weit‐ gehend ausgespart und in der Dokumentation unsichtbar. Wer als Akteur_in im Film auftaucht und wer nicht, bleibt bis auf wenige Ausnahmen kohärent und ist auf das Schauspielteam um Schlingensief begrenzt. The African Twin Towers gibt also nur vor, Dokument der Dreharbeiten zu sein, da die Dreharbeiten nie in Gänze gezeigt werden. Die Dokumentation zeigt die Akteur_innen vor den Kameras, die Kameras selbst aber bleiben allermeist verborgen. Mit dem Bedeutungsverlust des Films als Produkt gewann der Filmdreh als Prozess mehr und mehr an Eigenständigkeit und emanzipierte sich von seiner Zweckmäßigkeit der Produktion von Filmmaterial. 3. Durchspielen statt nachspielen „My Film is not a movie. My film is not about Vietnam. It is Vietnam. It’s what it was really like. It was crazy. And the way we made it was very much like the 160 Fabian Lehmann <?page no="161"?> 12 Vgl. Fax Bahr, Hearts of Darkness: A Filmmaker’s Apocalypse, DVD, USA 1991, Min. 00: 00: 09. way the Americans were in Vietnam“ 12 - Mit diesen Worten leitete Francis Ford Coppola 1979 die Premiere seines Films Apocalypse Now in Cannes ein. Es ist gleichsam die Eröffnungsszene des Dokumentarfilms zu den Dreharbeiten, die 1991 als Hearts of Darkness: A Filmmaker’s Apocalypse erschienen ist. Die feier‐ lichen Worte Coppolas, die seinen Anspruch an den Film und sein Selbstver‐ ständnis als Regisseur offenlegen, können ebenso programmatisch für Schlin‐ gensiefs Dreharbeiten in Namibia stehen. Mit dem Verständnis von The African Twin Towers als performativer Prozess verschiebt sich der Schwerpunkt der Analyse. Im Vordergrund steht dann nicht die fertig geschnittene Dokumenta‐ tion als Endprodukt, sondern die dreiwöchige Unternehmung des Filmdrehs, in der Schlingensief seine eigene Variante des Kolonialismus als Kulturimperia‐ lismus mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln inszenierte. Wie bereits beschrieben, erfand Schlingensief für die ursprüngliche Handlung die Figur des Regisseurs Christoph, die von ihm selbst gespielt wurde und weit‐ gehende Ähnlichkeit mit seiner aus den Medien bekannten Persona aufwies. Der entscheidende Unterschied zwischen der Persona Christoph Schlingensief und der Figur Christoph liegt jedoch in der Ungebrochenheit der letzteren. An‐ ders als der Künstler Schlingensief stellt sich Christoph nicht infrage und leidet nicht unter den Selbstzweifeln an der eigenen Arbeit, wie sie auch in der Film‐ dokumentation verhandelt werden. Der Regisseur Christoph ist ein Macher der über alle Zweifel erhaben den Auftrag der Familie Bach/ Wagner in seiner Vor‐ stellung einer gelungenen Filmarbeit umsetzt. Mit der eindimensionalen Figur Christoph, die in Namibia all zu oft lächerlich und verloren wirkt, konnte Schlingensief sich nun in ein Rollenspiel begeben, dass ihm die Übersetzung des historischen Kolonialismus in die Gegenwart er‐ laubte. Christoph bleibt ungebrochen und kann auf diese Weise in aller Ernst‐ haftigkeit das fragwürdige Unternehmen leiten, den 11. September 2001 oder die Matthäuspassion in Luderitz nachzuspielen. Dennoch handelt es sich beim Regisseur Christoph um eine Figur, die so nah am Künstler Schlingensief ange‐ legt ist, dass im Filmmaterial oft unklar bleiben muss, welche der beiden gerade handelt und spricht. Die Verwischung zwischen Künstlerpersona und Rolle ver‐ deutlicht den hohen Stellenwert des Selbst-Durcharbeitens kolonialen Gebarens und ist ein postdramatisches Werkzeug, das den dramatischen Figurenbegriff aufbricht. Die Mittel des Postdramatischen, die Schlingensiefs Theaterarbeiten bestimmten, überführte er damit auch in das Filmische. 161 Wiederholt und Durchgespielt <?page no="162"?> 13 Vgl. Christoph Schlingensief, The African Twin Towers: Der Ring - 9/ 11, DVD, Berlin 2015, Min. 00: 00: 01. 14 Vgl. ebd., 00: 00: 10. 15 Vgl. ebd., 00: 00: 15. Für die nachfolgend analysierte Sequenz werde ich das in der Dokumentation zusammengeschnittene Material verlassen und auf jenes zurückgreifen, das erst 2015 in einer erweiterten Auflage der Filmdokumentation als The African Twin Towers - Der Ring - 9/ 11 veröffentlicht wurde. Diese DVD enthält neben der eigentlichen Dokumentation zusätzliches und bis dato unzugängliches Filmma‐ terial, das teils von Schlingensief selbst bearbeitet worden, aber nicht in den Zusammenschnitt von Kathrin Krottenthaler eingegangen ist. Es handelt sich um Fragmente unterschiedlicher Länge und Qualität, darunter auch die einmi‐ nütige Sequenz „Telefonzelle“. Das Fragment „Telefonzelle“ beginnt mit Irm Hermann, die hier als Frau Wagner angesprochen wird. Sie trägt das aus der Dokumentation bekannte leuchtend pink-rote Abendkleid, dazu lange weiße Handschuhe und einen auf das Kleid farblich abgestimmten, aufwendigen Kopfschmuck aus Vogelfedern. Frau Wagner steht an einem freistehenden Fernsprechapparat in der namibi‐ schen Savannenlandschaft und hat den Hörer am Ohr. Die Kamera ist dicht auf ihren Kopf gerichtet und kann die Landschaft im Hintergrund nicht in ihrer Tiefe erschließen, da die Mittagssonne alle Schatten nimmt und den Film über‐ belichtet. Das Telefongespräch lässt sich aus ihren Worten und ihrer Mimik rasch in die ursprüngliche Handlung des geplanten Films einordnen. Dabei geht es um die unhaltbaren Dreh-Bedingungen in Namibia: „Was sagen Sie? Aber das ist doch unmöglich. Wir sind hier mitten im Busch! Also Sie müssen doch was tun! “ 13 Inmitten der Worte Frau Wagners folgt ein Schnitt auf eine in körnige Sepia-Farben gehaltene dörfliche Szene, offensichtlich aus einiger Entfernung herangezoomt: Kinder sitzen unter Aufsicht ihrer Mutter im Schatten einer Palme. Zirpende Grillen bestimmen die Geräuschkulisse. Darüber liegen die Worte Wagners, die noch immer in den Hörer spricht: „Die ganze Welt, inter‐ national, hat sich hier angesagt.“ 14 Ein weiterer Schnitt zeigt halbnah zwei Frauen, die, nebeneinander stehend, freundlich abwartend in die Kamera bli‐ cken. Eine der beiden ist in bunt-gemusterten Stoff gekleidet, die andere hält ein Baby an ihrem nackten Oberkörper. Darüber Wagners Stimme: „Wir blamieren uns total.“ 15 Ist Wagner mit dem Fernsprecher als Symbol für globale Kommu‐ nikation und Weltgewandtheit ausgestattet, sind die beiden Frauen in eine fel‐ sige Landschaft gestellt, in der kein technisches Gerät auf eine Welt außerhalb der ihrigen schließen lässt. 162 Fabian Lehmann <?page no="163"?> 16 Vgl. ebd., 00: 00: 17. 17 Vgl. ebd., 00: 00: 24. 18 Vgl. ebd., 00: 00: 43. 19 Vgl. ebd., 00: 01: 11. Der dritte Schnitt zeigt wieder die Eingangsszene am Fernsprecher, dieses Mal aber in der Halbtotalen. Der Hintergrund lässt erahnen, dass sich Frau Wagner in unmittelbarer Nähe der noch eben gezeigten dörflichen Szene befindet. Noch immer spricht sie, nun jedoch zunehmend verzweifelt, in den Hörer: „Ich bitte Sie um sofortige Hilfe! Ich werde das Rote Kreuz anrufen und …“ 16 Bevor sie ihren Satz beenden kann, tritt aus dem Bildrand der Regisseur Christoph in schwarzer Hose, weißem, lässig aufgeknöpftem Hemd mit Hosenträgern und goldge‐ rahmter Brille hinzu. Mit einem Taschentuch schnäuzt er sich, bevor er den Hörer übernimmt, um die Person am anderen Ende über die Dringlichkeit der Lage auf‐ zuklären. Die Handkamera tritt in wackeligen Bildern an ihn heran: „Herr Weiler, Frau Wagner ist absolut entsetzt, absolut entsetzt. Wer auf die Idee ge‐ kommen ist, hier hinzufahren … Hier kann man nichts machen. Hier ist absolut keine Infrastruktur.“ 17 Der letzte Schnitt wechselt erneut zu Frau Wagner, die in Nahaufnahme energisch in den Hörer spricht und daneben Christoph, der hustet und seinem nasalen Ausfluss mit dem Taschentuch Einhalt zu gebieten sucht: „Wirklich, also wir müssen ganz schnell zum Flugzeug, weil man wird hier allergisch. Man wird hier absolut allergisch. […] Bitte tun Sie etwas! Ich warte auf Ihren Rückruf.“ 18 Nachdem Frau Wagner eingehängt hat, bekräftigt Christoph nochmals seine Empörung, „Unglaublich, unglaublich“ und tritt vom Fernsprecher weg, auf die Kamera zu und aus dem Bild. Wagner, die hintendrein läuft und auf die sich nun die Kamera richtet, obliegen die letzten Worte: „Das hab ich mir wirklich anders vorgestellt.“ 19 Die Szene beschreibt prägnant und pointiert die Lächerlichkeit der fiktiven Ambitionen der Familie Wagner und des Regisseurs Christoph in Namibia. Die Überzeichnung der Situation macht lächeln: Die in ihrer aufwendigen Festgar‐ derobe offensichtlich deplatzierte Frau Wagner und der kränkelnde, aber wich‐ tigtuerische Regisseur Christoph halten sich an dem Hörer des Fernsprechers fest, der sie in der Savanne Namibias mit der weiten Welt verbindet und wenn nicht Hoffnung erweckt, so doch zumindest ein verbales Abreagieren erlaubt. Die Sequenz entblößt die Selbstüberschätzung und Naivität der beiden Figuren und demonstriert, wie leicht die an anderer Stelle souverän agierenden und zur Überheblichkeit selbstbezogenen Persönlichkeiten aus dem Konzept geraten, werden sie ihrer „natürlichen Umgebung“ - der bildungsbürgerlichen und kul‐ turaffinen Urbanität - enthoben. 163 Wiederholt und Durchgespielt <?page no="164"?> 20 Vgl. Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008, S. 25. Die durch die Montage zusammengefügten vermeintlichen Antagonisten der städtischen Prominenz qua Geburt in Gestalt der Frau Wagner und die anonym bleibenden Frauen und Kinder auf dem Land beschwören die tradierte Gegen‐ überstellung von Kultur und Natur. Schlingensief greift damit einen Antago‐ nismus auf, der weit zurück in das Selbstverständnis europäischer Geistigkeit reicht und während der europäischen Kolonisierung Afrikas besondere Bedeu‐ tung erlangte. Schließlich war für die deutschen Kolonialbestrebungen die Selbstimagination einer „Zivilisierungsmission“ wesentliches Mittel der Legiti‐ mation kolonialer Aneignung von Raum und menschlicher Arbeitskraft. 20 Schlingensief stellt in der Sequenz „Telefonzelle“ diese Erzählung des europä‐ ischen Hochimperialismus des 19. Jahrhunderts aus, ohne sie selbst zu zeigen. Vielmehr abstrahiert er das Selbstverständnis der kolonialen Akteur_innen von seiner historischen Einbettung, übersetzt es in die Gegenwart und wendet sie auf Figuren an, die als Vertreter_innen eines populären Begriffs von Kulturim‐ perialismus auftreten. Ohne dies explizit zu benennen, führen Schlingensief und Hermann persiflierend vor, wie der Kulturimperialismus, in der Tradition des Verständnisses der 1960er Jahre, dem politisch und ökonomisch getragenen Im‐ perialismus der Kolonialzeit die Dimension der kulturellen Dominanz hinzufügt. Bezugspunkt der Sequenz ist der Filmdreh im Auftrag der Familie Wagner, dessen Scheitern hier inszeniert wird. Dabei überlagern sich Motiv und Medium und der Filmdreh wird zum Mittel, imperiales Gebaren nachzuvollziehen, indem es von den Protagonist_innen durchgespielt wird. Ich hatte bereits auf das ganz ähnliche Vorgehen Coppolas in Apocalypse Now verwiesen. Thema ist in diesem Fall nicht der deutsche Kolonialismus, sondern der Krieg in Vietnam, der ebenso mit den Mitteln des Films nachvollzogen wird. Jean Baudrillard hat den Film Apocalypse Now und den Krieg, der darin inszeniert wird, als wesensverwandt gedeutet. Demnach teilen der Filmdreh und der Krieg in Vietnam die gleiche Maßlosigkeit, den Exzess und den massiven Einsatz von Technologie. Die Mittel des Krieges und diejenigen seiner filmischen Aufberei‐ tung seien kaum zu unterscheiden, so Baudrillard. Wie die Militärführung im Vietnamkrieg so verwendete auch Coppola Millionen US-Dollar darauf, ganze (Kulissen-)Dörfer in die Luft zu sprengen. Für Baudrillard rufen die dabei gänz‐ lich ausgereizten Spezialeffekte des Kinos - wohlgemerkt konnte Coppola Ende der 1970er Jahre noch nicht auf computergenerierte Dörfer, Staffage oder Ex‐ plosionen zurückgreifen - die gleiche Schaulust und Faszination, den gleichen Schauder und Ekel hervor, der die Fernsehzuschauer_innen seit den 1950er 164 Fabian Lehmann <?page no="165"?> 21 Vgl. Jean Baudrillard, Simulacra and Simulation, Ann Arbor 1995, S. 59. Jahren vor die Geräte bannte, als sie die Bilder des realen Krieges konsu‐ mierten. 21 Aus der Rücksicht auf beide Vorhaben gleichen sich also die Dreharbeiten zu Apocalypse Now und The African Twin Towers dahingehend, dass eine historische Situation nicht nur nachgespielt, sondern mittels der Dreharbeiten (wohlge‐ merkt nicht durch den Film, dieser ist lediglich Produkt des Prozesses) durchgespielt und nachvollzogen wird. In anderen wesentlichen Aspekten je‐ doch unterscheiden sich Coppolas und Schlingensiefs Vorgehen. Unter erheb‐ lichen Anstrengungen gelang es Coppola im Gegensatz zu Schlingensief seinen letztendlich überaus erfolgreichen Film zu vollenden. Auch in der Bearbeitung der historischen Grundlage nahm Schlingensief einen anderen Weg als Coppola. Anstatt, wie es Coppola getan hatte, auf das überlieferte historische Bildmaterial zurückzugreifen, dieses nachzudrehen und dadurch wiederzubeleben, entwarf Schlingensief gänzlich neue Bilder, die eher einem Paralleluniversum zuzu‐ ordnen sind, in dem Ort und Akteur_innen noch immer die Gleichen geblieben aber in den Kontext unserer Zeit überführt worden sind. Der Regisseur Chris‐ toph hat keine über die Realisierung des Theaterfestivals hinausgehenden wirt‐ schaftlichen oder territorialen Bestrebungen. Wohl aber teilt er den Geltungs‐ anspruch, die Machtphantasien und die Selbstüberschätzung, die ihm als Akteur des Kulturimperialismus ebenso eigen sind wie den Vertreter_innen des histo‐ rischen Kolonialismus. Hieraus ergibt sich der dritte wesentliche Unterschied. Schlingensief beließ es nicht bei seiner Funktion als Regisseur, sondern er spielte selbst und spielte sich selbst in der Rolle des Alter Egos Christoph. Dieses Durch‐ spielen und Übersetzen einer historischen Situation in die Gegenwart ist also grundsätzlich performativ angelegt. 4. Kolonialismus als performative Wiederholung The African Twin Towers ist also weder Film noch Dokumentation, sondern eine gründlich aufgezeichnete Performance. Dabei muss jedoch der lange Zeitraum irritieren, innerhalb dessen die Performance durchgeführt wurde. Denn das Durchspielen eines kulturimperialistischen Gebarens wurde von Schlingensief über den Zeitraum von drei Wochen immer wieder neu erzeugt und auf diese Weise aufrechterhalten. Möglich war das gerade durch die Überlagerung des Regisseurs Schlingensief mit der Figur Christoph, die potentiell jedes Handeln Schlingensiefs zum Teil der Performance werden ließ. Die Performance wurde 165 Wiederholt und Durchgespielt <?page no="166"?> 22 Fabian Lehmann, Werner Rawe, „Interview mit Werner Rawe, geführt am 28. November 2016 in Windhoek“, unpubliziertes Interview. 23 Claus Philipp, „‚Afrika! ‘, ‚Gott! ‘, ‚Busch! ‘: Anmerkungen, Notate, Fundstücke - Über‐ bleibsel zu Schlingensiefs ‚African Twintowers‘“, in: Claus Philipp, Peter Weibel (Hgg.), Elfriede Jelinek, Christoph Schlingensief, Patti Smith: The African Twintowers, Graz 2008, S. 6-27, hier S. 11. 24 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999, S. 44. 25 Vgl. Georg Seeßlen, „Kunst im Film? Nein. Kunst als Film“, in: Susanne Gaensheimer (Hg.), Christoph Schlingensief: Deutscher Pavillon 2011: 54. Internationale Kunstausstel‐ lung La Biennale Di Venezia, Köln 2011, S. 331-335, hier S. 333. dabei getragen von den Dreharbeiten und lebte von dem unklaren Verhältnis zwischen der Realität des Filmdrehs und dessen Inszenierung. Menschen, die das Geschehen in Namibia begleiteten, haben diese Grenzauf‐ lösung zwischen den Dreharbeiten und dem Alltagsgeschehen hervorgehoben. Werner Rawe, der als lokaler Mitarbeiter für die Organisation von Drehorten verantwortlich war, fasst seine Erfahrungen des Filmdrehs folgend zusammen: „Du bist in dem Film 24 Stunden. Das ganze Ding ist der Film.“ 22 Claus Philipp, der als Journalist die Dreharbeiten begleitete, beschreibt ganz ähnliche Erfah‐ rungen in einem Brief an das Burgtheater und hebt dabei noch das aus seiner Sicht erhebliche Missverhältnis zwischen Quantität und Qualität der Auf‐ nahmen hervor: „Ein Drehtag hier hat […] mindestens 25 Stunden. Und die eine Stunde Mehrwert, die da entsteht, die muss noch herausdestilliert werden“. 23 Da die Arbeiten Schlingensiefs im Grunde immer zwischen den Disziplinen angelegt sind und das für The African Twin Towers im Besonderen gilt, beziehe ich mich auf die verschiedenen Traditionen des Vor- und Durchspielens. Nur über die Verwendung der sich grundsätzlich bedingt vereinbar lassenden, sich teilweise widersprechenden Begriffe des Films, der Performance und des Theaters lässt sich der Komplexität der Arbeit in Namibia gerecht werden und das da‐ malige Geschehen greifbar machen. Schlingensiefs Arbeitsweise entsprach also im besten Sinne einem, wie von Hans-Thies Lehmann benannten, postdrama‐ tischen „Treffpunkt der Künste“, in dem das performative Schaffen vom An‐ spruch eines dramatischen Handelns entbunden ist. 24 Georg Seeßlen stellt für die Filme Schlingensiefs die Bedeutung des Durch‐ spielens einer Situation heraus, was sich ebenso auf dessen Theaterinszenie‐ rungen übertragen lässt. Es ginge eben nicht darum, etwas zu zeigen, darzu‐ stellen oder zu dokumentieren, sondern entscheidend sei in den Arbeiten Schlingensiefs allermeist das körperliche Aufführen und Ausleben vor der Ka‐ mera. 25 Auch in Namibia war Schlingensief auf der Suche nach der „Realerfah‐ rung“, in der sich die Wahrnehmung des konkreten Raums, des Moments in der Zeit und des eigenen Körpers auf das Engste verdichteten und eine Unmittel‐ 166 Fabian Lehmann <?page no="167"?> 26 Vgl. Lehmann, S. 241. 27 Vgl. ebd., S. 54. 28 Vgl. ebd., S. 245. 29 Vgl. ebd. barkeit erzeugten, die sich mit den beteiligten Schauspieler_innen, den Laiendarsteller_innen, mit der Filmcrew und den Schaulustigen teilen ließ. 26 Damit steht Schlingensief als Regisseur deutlich in der Tradition postdramati‐ schen, abstrakten Handelns, in dem die Performance und das Erfahren des Realen an die Stelle des Schauspielens getreten ist. 27 In der Form einer performativ in den Filmdreh übersetzten kolonialen Arro‐ ganz war Schlingensief nicht daran gelegen, eine historische Situation wieder aufleben zu lassen. Er versetzte sich und sein Team nicht in die Rolle deutscher Kolonisator_innen, die vor mehr als 100 Jahren Südwestafrika für sich bean‐ spruchten. Stattdessen abstrahierte er vom historischen Kontext des deutschen Kolonialismus und schuf eine Versuchsanordnung, die es ihm ermöglichte, mit‐ hilfe des Filmdrehs und innerhalb der gegenwärtigen Bedingungen in Namibia, ein kulturimperialistisches Gebaren zu performen und über diesen Umweg schließlich Assoziationen an die historische Kolonisierung heraufzube‐ schwören. Lehmann schreibt, dass die Bestimmung einer Grenze zwischen einer Performance und einem „lediglich exhibitionistischen, auffallenden Benehmen“ in der Gegenwartskunst unmöglich zu bestimmen sei. So schlussfolgert er, dass von einer Performance dort gesprochen werden müsse, wo sie als solche von den Künstler_innen angekündigt werde. 28 Lehmann bezieht sich dabei auf Per‐ formances in der Tradition der 1960er Jahre, die vor Publikum ausgetragen und in einem bestimmbaren räumlichen und zeitlichen Rahmen praktiziert werden. Mit dem Verständnis von The African Twin Towers als auf den Ebenen der Zeit und der Handlung ausschweifenden Performance ließe sich ergänzen, dass auch dann von einer Performance gesprochen werden kann, wenn sie nicht einmal angekündigt, sondern schlicht praktiziert wird. Der von Lehmann angespro‐ chene „Kommunikationserfolg“ gegenüber dem Publikum, an dem sich die Per‐ formance messen lassen müsse, 29 verliert dann seine Bestimmung. Im Zeitraum der Performance in Namibia gab es kein Publikum, das dem Geschehen beige‐ wohnt hätte. The African Twin Towers war sich im Moment des Geschehens selbst genug und brauchte sich nicht gegenüber Zuschauer_innen zu vermitteln. Seinen Akteur_innen genügte die Aussicht, dass das Geschehen, auf Film ge‐ bannt, einmal einem Publikum übermittelt werden könne. Günther Heeg schlägt im Sammelband Reenacting History zwei Möglichkeiten des Verhältnisses von Theater und Geschichte vor. Dabei stellt er dem „histo‐ ristischen Theater“ das „Theater der Wiederholung“ gegenüber. Das historisti‐ 167 Wiederholt und Durchgespielt <?page no="168"?> 30 Günther Heeg, Micha Braun, Lars Krüger, Helmut Schäfer, „Vorwort“, in: dies. (Hgg.), Reenacting History: Theater & Geschichte, Berlin 2014, S. 6-8, hier S. 7. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. Günther Heeg, „Reenacting History: Das Theater der Wiederholung“, in: ders., Micha Braun, Lars Krüger, Helmut Schäfer (Hgg.), Reenacting History: Theater & Ge‐ schichte, Berlin 2014, S. 10-39, hier S. 25. 33 Vgl. ebd., S. 17. 34 Vgl. ebd., S. 25. sche Theater stelle „Geschichte als Sinnzusammenhang“ her und vergegenwär‐ tige diese dramatisierend. 30 Das heißt, Geschichte wird als lineare Erzählung wiedergegeben, deren Entwicklungen in kausaler Logik in die Gegenwart münden. Im „Theater der Wiederholung“ hingegen würden die Mittel der Schauspie‐ lerei offengelegt und selbst zum Bestandteil der Inszenierung. Es zähle dann nicht die Vergangenheit als Aneinanderreihung faktischer Ereignisse, sondern die „Aushandlung und Aneignung der Vergangenheit in der Gegenwart“. Aus‐ gangspunkt sind hier also Problematiken des gegenwärtigen Zeitgeschehens, vor dem die Vergangenheit verhandelt wird. 31 Dabei werde die Theatralität der Wie‐ derholung nicht verborgen, sondern selbst zum reflektierten Bestandteil der Aufführung. 32 Der Bruch zwischen dem historistischen Theater und dem Theater der Wie‐ derholung verläuft dabei parallel zur Grenze zwischen dem dramatischen und dem postdramatischen Theater. Das wird deutlich an dem von Heeg angeführten Beispiel der Oper La Juive, deren Premiere in der Inszenierung von Fromental Halévy aus dem Jahr 1835 er der Inszenierung durch Jossi Wieler und Sergio Morabito an der Stuttgarter Staatsoper 2008 gegenüberstellt. Im ersten Fall lässt die monumentale Inszenierung als Grand Opéra mit all den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln aus Bühnenbild, Kostümen und Requisiten das Mittelalter als eindimensionales Geschichtsbild aufleben. 33 Die Inszenierung 2008 hingegen begegnet dem allumfassenden Anspruch der Ur-Inszenierung, in dem es diese zitiert. So zeigt das Bühnenbild von Bert Neumann die aus Halévys Inszenierung bekannten mittelalterlichen Gebäude. Jedoch sind diese auf einer Drehbühne installiert, welche den Blick auf die Rückseite der Gebäude erlaubt und diese als Kulisse, als auf Gerüste aufgezogene Fassaden, entblößt. So wird nicht eine dra‐ matisierte Vergangenheit heraufbeschworen, sondern die Geschichte des Stü‐ ckes vergegenwärtigt und reflektierend wiederholt. 34 Die Praxis des Theaters der Wiederholung ist für Heeg die Voraussetzung für ein transkulturelles Theaterschaffen. In der vergegenwärtigenden, wiederho‐ lenden Auseinandersetzung mit der Geschichte könnten lineare Erzähl- und Darstellungsmuster einer fixierten Geschichte aufgebrochen und dadurch 168 Fabian Lehmann <?page no="169"?> 35 Günther Heeg, „Das Transkulturelle Theater: Grenzüberschreitungen der Theaterwis‐ senschaft in Zeiten der Globalisierung“, in: Gerda Baumbach, Veronika Darian, ders., Patrick Primavesi, Ingo Rekatzky (Hgg.), Momentaufnahme Theaterwissenschaft: Leip‐ ziger Vorlesungen, Berlin 2014, S. 150-163, hier S. 157. 36 Vgl. Bildteil im Katalog zu The African Twin Towers in: Philipp, Weibel, S. 38-39. 37 Vgl. Schlingensief, The African Twin Towers, Min. 00: 18: 44 38 Vgl. Heeg, „Reenacting History: Das Theater der Wiederholung“, S. 25. „transkulturell anschlussfähig“ gemacht werden. Dem rekonstruktiven Cha‐ rakter eines dramatisierenden historistischen Theaters begegne das wiederho‐ lende, transkulturelle Theater mit einer distanzierten, oft übertriebenen Dar‐ stellung des Vergangenen und nehme damit immer schon eine reflektierende und kommentierende Haltung zur Geschichte ein. 35 Wenn Schlingensief also mit breitkrempigem Hut und beiger Safari-Weste und begleitet von Darsteller_innen in Kolonialuniform samt Tropenhelm in Lu‐ deritz einmarschierte 36 oder einer Bewohnerin der Luderitzer Siedlung Sand Hotel in schlechtem Englisch seine verqueren Ideen des geplanten Filmdrehs auf der Drehbühne schilderte und sie damit heillos überforderte, 37 dann begab er sich in die emphatisch übertriebene Rolle des Regisseurs Christoph und führte vor, was Kolonialismus für ihn bedeutete: Die Okkupation eines fremden Raumes und seiner Menschen zum Zwecke der Umsetzung der eigenen, selbst‐ herrlichen Ideen und Ansprüche - ungefragt und unhinterfragt und ohne Rück‐ sicht auf die lokalen Gegebenheiten. Denn wie von Heeg beschrieben, zeigt das Theater der Wiederholung auf, was unerledigt und verdrängt ist und verhandelt die ungelösten Konflikte, die daher dem Drang der Wiederholung unter‐ liegen. 38 Dass es in The African Twin Towers Schlingensief selbst ist, der die Rolle des Regisseurs Christoph übernimmt, ist dabei wesentlich. Die Unmittelbarkeit, in der das Spiel mit der Vergangenheit vollzogen wird, verlangte Schlingensief aber nicht nur sich selbst ab, sondern er forderte sie ebenso von seinen Schau‐ spieler_innen und selbst von den Statist_innen ein. Vincent Mjethu, der als Darsteller aus Luderitz etwa eine Woche an den Dreharbeiten teilnahm, ver‐ gleicht die Arbeit an The African Twin Towers mit einer namibischen Produktion von 2016. Im Gegensatz zu dieser Produktion sei es bei den Dreharbeiten unter Schlingensief weniger um ein Spielen gegangen, sondern um das tatsächliche Tun: [In the movie by the Namibian crew] I was only in one scene. And in that scene I fell asleep within the movie, cause it’s boring. People are sitting at the bar and there’s a fight that’s about to happen, but everything is so boring. I must pretend that I’m drinking water and pretend that I’m eating chips. All of those things getting cold. In 169 Wiederholt und Durchgespielt <?page no="170"?> 39 Fabian Lehmann, Vincent Mjethu, „Interview mit Vincent Mjethu, geführt am 15. No‐ vember 2016 in Luderitz“, unpubliziertes Interview. 40 Vgl. Heeg, „Das Transkulturelle Theater: Grenzüberschreitungen der Theaterwissen‐ schaft in Zeiten der Globalisierung“, S. 154. that movie [by Christoph Schlingensief], we didn’t pretend. When it was eating time, it was eating time. 39 The African Twin Towers kann dem postdramatischen Theater der Wiederholung zugeordnet werden, weil es immer in der Gegenwart verbleibt. Es verhandelt die Kolonialzeit als Teil der deutschen Geschichte, ohne sie dokumentarisch nachzuerzählen. Vielmehr beschwört die Arbeit herauf, was die Akteur_innen des historischen Kolonialismus charakterisiert haben könnte. Dabei stellt Schlingensief die Mittel der Schauspielerei immer aus und nutzt Überzeich‐ nungen, um das Gespielte ironisch aufzubrechen. Ein Nachspielen historischer Gegebenheiten fand nicht statt und dennoch war das Projekt auf Erfahrungs‐ möglichkeiten aus, die darin liegen können, sich einer Situation vollends aus‐ zusetzen und sie konsequent durchzuspielen - auch und gerade dann, wenn es unangenehm wird. Denn das Peinliche, Hässliche und Unerträgliche war Schlin‐ gensief Indikator für ein imperialistisches Gebaren, das überzeitlich und nicht auf die historische Einbettung beschränkt ist und sich deshalb „nacherleben“ ließ. Schlingensief war auf der Suche nach dem Zugang zu einem vergessenen Teil der deutschen Geschichte und damit zugleich auf der Suche nach seinem deutschen Selbst. 5. Eine transkulturelle Zusammenarbeit? Die Zeichen des Postdramatischen stechen in The African Twin Towers klar he‐ raus: die Abwendung von einer stringenten Handlung, die performative Erfah‐ rung des Moments oder die sich auflösende Trennung zwischen Schauspiel und Alltag. Inwiefern die Dreharbeiten in Namibia hingegen eine transkulturelle Unternehmung darstellen, die sich nicht lediglich, wie Heeg schreibt, „mit fremden, exotischen Federn schmück[t]“, ist weniger eindeutig zu beant‐ worten. 40 Zunächst bleibt festzuhalten, dass es Schlingensief mit der Animato‐ graph-Installation um die Mythen der deutschen Geschichte ging. Er suchte Namibia als ehemalige deutsche Kolonie auf und so ergibt sich allein aus der thematischen Ausrichtung noch kein kulturell übergreifendes künstlerisches Handeln. Es bleibt die Frage, inwiefern das Projekt hingegen Raum für trans‐ kulturelle Begegnungen zuließ. Interessant ist diese Frage vor dem Hinweis von Lehmann, dass gemeinsames künstlerisches Schaffen zwischen Angehörigen 170 Fabian Lehmann <?page no="171"?> 41 Vgl. Lehmann, S. 453. 42 Vgl. Lehmann, Mjethu. 43 Vgl. Lehmann, S. 305. verschiedener Kulturen nicht unschuldig ist, solange die Kunstpraxis selbst in die bestehenden hierarchischen Machtverhältnisse eingebunden ist. 41 Schlingensief band lokale Amateurschauspieler_innen in die Dreharbeiten ein, die er unter den Mitgliedern der Luderitzer Theatergruppe Angra Pequena fand. Diese Darsteller_innen traten vor allem am finalen Drehtag in Erschei‐ nung, an dem das Fest um den Animatographen in Area 7 inszeniert wurde. Sonst beschränkte sich ihre Mitarbeit in der Regel jedoch auf die Rolle von Sta‐ tist_innen, die angefordert wurden, wenn sie gebraucht wurden. Eine engere Zusammenarbeit mit dem deutschen Filmteam habe es laut dem Darsteller Vin‐ cent Mjethu für die Luderitzer Besetzung hingegen nicht gegeben. 42 Einen Einblick in den letzten Drehtag, dem Fest am Animatographen, gibt Ralph Masala, ebenfalls Mitglied der lokalen Theatergruppe. Er beschreibt, wie Schlingensief das Geschehen an und auf der Installation in Bezug auf die Um‐ gebung inszenierte. So sei die Anweisung für die Darsteller_innen gewesen, die Rolle der Bewohner_innen von Area 7 einzunehmen, die sich gegen Stadt und Staat auflehnen, weil die Stadtverwaltung nichts für sie tue. Anders als an den bisherigen Drehtagen wurde bei diesem Dreh eine Theatersituation geschaffen. Am letzten Drehtag bestimmten also nicht mehr Schlingensief und seine Schauspieler_innen das Geschehen, sondern die auf und um den Animatogra‐ phen versammelten Darsteller_innen von Angra Pequena sowie die Bewohner_innen von Area 7, die zahlreich am Geschehen teilnahmen. Dabei war die Rolle der Bewohner_innen nicht auf die des Publikums beschränkt und eine klare Grenze zwischen ihnen und den von Schlingensief angewiesenen Darsteller_innen war weder räumlich noch auf Ebene der Handlung gegeben. Eine solche Theatersituation kann mit Lehmann als „Theatre on Location“ bezeichnet werden, wobei der Animatograph als in die Siedlung eingebaute Bühne fungierte, die sich schon visuell stark von ihrer Umgebung abgrenzte. 43 Der Animatograph setzte einen chaotischen, beweglichen und runden Kontra‐ punkt in die streng angeordneten und gleichförmig eckigen Wellblechhütten. Dadurch wurde nicht nur Area 7 als Ort inszeniert und ein ungewohnter Blick auf eine als arm und trostlos verrufene Siedlung ermöglicht. Es konnten so auch die Bewohner_innen erreicht und in die Arbeit Schlingensiefs eingebunden werden, was insofern bedeutend war, als dass es sich um einen sonst margina‐ lisierten Teil der Stadtbewohner_innen von Luderitz handelt. Der namibische Performance-Künstler und Autor Nashilongweshipwe Mus‐ haandja wies kürzlich auf die Anforderungen für Künstler_innen hin, die in 171 Wiederholt und Durchgespielt <?page no="172"?> 44 Vgl. Nashilongweshipwe Mushaandja, „When applied theatre is no rehearsal for the revolution“, in: Sarala Krishnamurthy, Helen Vale (Hgg.), Writing Namibia: Literature in Transition, Windhoek 2018, S. 183-203, hier S. 184-185. 45 Fabian Lehmann, Ralph Masala, „Interview mit Ralph Masala, geführt am 10. November 2016 in Luderitz“, unpubliziertes Interview. gesellschaftlichen Zusammenhängen agieren, die nicht die ihren sind. Mit Ver‐ weis auf die am „Drama-for-Live“-Zentrum an der südafrikanischen Witwa‐ tersrand-Universität erstellten ethischen Richtlinien für Theaterarbeiten stellt er heraus, dass auch in Zusammenkünften, wo sich ungleiche Einflussstruk‐ turen nicht vermeiden lassen, nach dialogischen Formen des Austauschs zwi‐ schen Künstler_innen und der lokalen Bevölkerung gesucht werden muss. Denn die Vergangenheit zeige, dass es in solchen Zusammenarbeiten all zu oft zu einem Ungleichgewicht zugunsten der privilegierten Kunstschaffenden ge‐ kommen sei. 44 Masala schildert, dass er einen Text ausgehändigt bekam, den er der schau‐ lustigen Menge vortragen sollte. Im Text war die Situation der „unterdrückten“ Bewohner_innen in Area 7 auf die Kolonialgeschichte des Landes zurückgeführt worden. Da nun aber die Unabhängigkeit des Landes erreicht sei, müsse Freiheit die Gegenwart bestimmen. Die umstehenden Bewohner_innen waren immer wieder aufgefordert worden, lautstark auf das Gelesene zu reagieren und ihre Rechte einzufordern. Sich in die Rolle des Regisseur-Assistenten versetzend, beschreibt er die Anweisungen für die Darsteller_innen und Anwohner_innen: So this person [Schlingensief] will talk over the mic and as he speaks, then you, you start screaming like you agree on what he say. Now the people complain: „Ah, we don’t understand.“ - Don’t worry about your language, they only want you to scream: „Yeah, Yeah, Yeah Yeah! “ As long as you make noise. It’s for this movie, for these people. 45 Es darf also angezweifelt werden, dass es während der Dreharbeiten gelang, ein dialogisches Verhältnis zwischen dem deutschen Filmteam auf der einen und den namibischen Laiendarsteller_innen und Statist_innen auf der anderen Seite zu etablieren. Claire Bishop bezeichnet das Engagieren von Amateur_innen, die anstelle des Künstlers und gebunden an dessen Anweisungen als Performer_innen auf‐ treten, als „delegated performance“. Entscheidend sei dabei, dass die engagierten Performer_innen nicht wie im Theater oder Film bestimmte Rollen verkör‐ perten, sondern als Repräsentant_innen ihrer eigenen sozialen-, ethnischen-, 172 Fabian Lehmann <?page no="173"?> 46 Vgl. Claire Bishop, Artificial Hells: Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London 2012, S. 219. 47 Vgl. ebd. S. 237. 48 Vgl. ebd. S. 239. oder Altersgruppe auftreten und sich dabei selbst spielen sollen. 46 Bishop bezieht sich zuvorderst auf Performances in den einschlägigen Zentren und den Insti‐ tutionen der Kunst. Dennoch und vielleicht umso mehr bietet sich die Übertra‐ gung der von ihr vorgenommenen Problematisierung der Künstler_in-Per‐ former_in-Beziehung auf ein Verhältnis an, das bereits durch die potentiellen Fallstricke interkultureller Beziehungen bestimmt ist. Performer_innen und Künstler_innen stünden in einer Austauschbeziehung, in welcher der_ie Künstler_in sein_ihr kulturelles Kapital dem_r Performer_in übertrage, während diese_r im Gegenzug dem_r Künstler_in seine_ihre „Au‐ thentizität“ zur Verfügung stelle. Die Performer_innen ermöglichten dem_r Künstler_in auf diese Weise einen Zugewinn an Glaubwürdigkeit, welche der_ie prominente Künstler_in, der_ie in die Strukturen und Logiken des Kunstfeldes eingebunden ist, selbst nicht hervorzubringen vermag. Der_ie Künstler_in selbst, wollte er_sie soziale Benachteiligung, eine bestimmte Gruppenzugehö‐ rigkeit oder Alter verkörpern, wäre auf die Mittel der Schauspielerei ange‐ wiesen, denen er_sie im Rückgriff auf fremde Authentizität gerade vorzubeugen suche. Mit der Überantwortung der Handlung an die Performer_innen schaffe der_ie Künstler_in eine tendenziell unvorhersehbare Situation und schränke seine_ihre Kontrollmöglichkeiten ein; dies jedoch nur für den Zeitraum der Performance. Es bleibe dem_r Künstler_in überlassen, im Anschluss über das aufgezeichnete Material zu verfügen und es in Deutungen einzubinden, die von ihm_r vorgegeben seien. 47 Bishop lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei dieser Künstler_in-Per‐ former_in-Beziehung um ein Verhältnis handelt, dass immer der Gefahr unter‐ liegt, sich ungleich zum Vorteil des_r Künstlers_in zu entwickeln. Um einem solchen Machtverhältnis jedoch vorzubeugen, hätte der_ie Künstler_in die Mög‐ lichkeit, genau diese Beziehungen mitzudenken und in der Arbeit selbst zu re‐ flektieren. Hierin findet Bishop das entscheidende Kriterium für eine gelungene „delegated performance“, die sich nicht darin erschöpfe, sich gesellschaftliche Ungleichverhältnisse zunutze zu machen. 48 Wenn also Schlingensief lokale Laiendarsteller_innen anwies, rebellierende Bewohner_innen der Area 7 zu spielen, tat er das deshalb, weil es sich um schwarze Bewohner_innen von Luderitz handelte, die ihm in dieser Rolle glaub‐ haft erschienen, selbst wenn sie selbst nie in Area 7 gewohnt hatten und weder 173 Wiederholt und Durchgespielt <?page no="174"?> 49 Vgl. Fabian Lehmann, Mohammed Ben-Usazir-L, „Interview mit Mohammed Ben- Usazir-L, geführt am 15. November 2016 in Luderitz“, unpubliziertes Interview. 50 Lehmann, Mjethu. die Sprache noch die ethnische Zugehörigkeit der dortigen Bewohner_innen teilten. Darsteller_innen wie Vincent Mjethu oder Ralph Masala waren also als lokale Akteur_innen engagiert, um zu einem Gutteil sich selbst zu spielen. Es ist daher naheliegend, dass das Verhältnis zwischen Schlingensief und den lokalen Darsteller_innen durch ein einseitiges Verhältnis geprägt war, das die sprach‐ lichen, ethnischen und sozialen Unterschiede eher festigte als sie zu überwinden suchte, um in einen gleichberechtigten Austausch zu treten. Dennoch kommt der Luderitzer Amateur-Schauspieler Mohammed Ben-Usazir-L, der wie kein anderer Darsteller besonders umfassend in die Dreharbeiten eingebunden war und auch an mehreren Stellen in der Dokumentation zu sehen ist, zu einem anderen Schluss. Für ihn lag das Verdienst der Arbeit Schlingensiefs gerade darin, für die Dauer der Dreharbeiten die eingeübten Grenzen zu überwinden. Schlingensief sei es gelungen, das deutsche Filmteam mit den Darsteller_innen aus Luderitz und den lokalen Mitarbeiter_innen, die am Aufbau des Animato‐ graphen beteiligt waren, zusammenzubringen. Ein solchermaßen divers zusam‐ mengesetztes Projekt bleibe in Luderitz singulär. 49 Um diese Beurteilung zu verstehen, muss sich vergegenwärtigt werden, dass in Namibia auch fast drei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit von Südafrika die rassistischen Kategorisierungen aus der Kolonialzeit und vor allem aus der Apartheidspolitik fortleben und noch immer das soziale Leben bestimmen. Die Grenze entlang der Hautfarben ist nach wie vor wirksam und so bleiben Mög‐ lichkeiten des Austauschs im sozialen und gesellschaftlichen Leben zwischen den als „schwarz“ und den als „weiß“ kategorisierten Einwohner_innen der Stadt rar. Berührungspunkte beschränken sich vielmehr auf die statischen Ver‐ hältnisse im Berufsleben, wie Mjethu pointiert ausdrückt: „The only way where you can communicate with a white man is, if the white man is your boss. But having a white man as your friend - rarely.“ 50 Diese Ambivalenzen im Verhältnis zwischen den verschiedenen Akteur_in‐ nengruppen in The African Twin Towers lassen sich nicht auflösen. Wieder einmal bleibt es den Rezipient_innen überlassen, ihre Schlüsse zu ziehen. Denn die Frage, inwiefern die Mittel des Theaters und der Performance, des Vor- und Durchspielens angemessen sind, um dem Thema des deutschen Kolonialismus gerecht zu werden, transportiert das Projekt unweigerlich mit. Es nimmt die Rezipient_innen stets in die Verantwortung und konfrontiert sie mit Fragen, wie 174 Fabian Lehmann <?page no="175"?> 51 Christoph Schlingensief, Friedhelm von Seydlitz, „Laßt uns machen! “, http: / / www.schlingensief.com/ weblog/ ? p=55, 2005 (23.1.2017). sie Schlingensief dem deutschsprachigen Namibianer Friedhelm von Seydlitz gestellt hat: Wenn ich hierherkomme und sage, wir machen jetzt den Großgrundbesitzer, gehen in das Township AREA7, führen da eine Oper auf, bringen Kultur, tun was für euch, setzen uns aber nach drei Wochen wieder in den Flieger und sind wieder weg, auch die deutsche Entwicklungshilfeministerin landet nicht am Animatographen … Wie findest du das? 51 175 Wiederholt und Durchgespielt <?page no="177"?> Entgrenzung und Überschreitung <?page no="179"?> Transkulturalität in Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungen ATTA ATTA und Via Intolleranza II Lore Knapp (Universität Bielefeld) Der Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief hatte eine beson‐ dere Gabe, Fremdheit spürbar zu machen. Er konfrontierte seine Zuschauer_in‐ nen mit dem Ungewohnten im Eigenen und versetzte sie durch eine Mischung aus Unverständlichkeit und Sinnangeboten in einen Schwellenzustand fern ge‐ festigter Wahrnehmungsmuster. Eine besondere Rolle spielten dabei die auffäl‐ ligen Artikulationsweisen behinderter Darsteller_innen, aber auch die Dialekte der Laien, die Äußerungen der Passant_innen und die Akzente von Vertreter_in‐ nen verschiedener Kulturen. Schlingensief machte Minderheiten hör- und sichtbar und konfrontierte die Zuschauer_innen mit ihren Wahrnehmungsge‐ wohnheiten zwischen Konsum und Weggucken. Schlingensiefs Inszenierungen und Ausdrucksformen der Spontaneität, Häss‐ lichkeit und Unverständlichkeit führten häufig zur impulsiven Abwehr auf Seiten der Zuschauer_innen, von denen verlangt wurde, sich einer Komplexität oder auch Mangelhaftigkeit zu stellen, die sie aus dem Blick verloren oder er‐ folgreich ausgeblendet hatten. Dabei ist unsere Wirklichkeit auch außerhalb des Theaters so komplex, dass Identität und Ordnung immer konstruiert werden müssen. 1. Das Fremde im Eigenen. Zur Definition des transkulturellen Theaters Transkulturelles Theater kann angesichts multikultureller Gesellschaften ge‐ nerell als Bezeichnung für Inszenierungen des Fremden im Eigenen verstanden werden. Ein Mittel ist dabei die Kombination und häufig auch Kontrastierung verschiedener ästhetischer Stile, sozialer Lebensformen und religiöser Symbole. In diesem Sinne bestimmt Günther Heeg das transkulturelle Theater als einen Schauplatz des Fremden: <?page no="180"?> 1 Günther Heeg, „Das transkulturelle Theater. Grenzüberschreitungen der Theaterwis‐ senschaft in Zeiten der Globalisierung“, in: Gerda Baumbach, Veronika Darian, ders., Patrick Primavesi, Ingo Rekatzky (Hgg.), Momentaufnahme Theaterwissenschaft: Leip‐ ziger Vorlesungen, Berlin 2014, S. 150-165, hier S. 154. 2 Günther Heeg im vorliegenden Band, S. 39. 3 Vgl. ebd. 4 Die Inszenierung von BlablablaCut in der Regie von Michaela Senn wurde u. a. im Rahmen der Tagung Postdramatisches als transkulturelles Theater (14.-16.4.2017) an der Universität Innsbruck aufgeführt. Das transkulturelle Theater geht aus von der Erfahrung des Fremden. Fremdes be‐ gegnet einem darin nicht in anderen Ländern und exotischen Kulturen, sondern im Inneren der vermeintlich eigenen. Das hindurchgehende Fremde in den kulturellen Phantasmen, die uns umgeben, jenes Trans, das das Eigene stets durchquert, ist der Beweggrund des transkulturellen Theaters. Transkulturelle Theaterpraktiken sind dadurch charakterisiert, dass sie sich nicht mit fremden, exotischen Federn schmü‐ cken, sondern die jeweils eigenen Traditionen und kulturellen Phantasmen aufar‐ beiten und zur Kenntlichkeit entstellen. 1 So spiegelt das transkulturelle Theater die Lebenswirklichkeit pluraler Gesell‐ schaften und die „geteilte Gemeinschaft von Verschiedenen“ 2 . Selbst in die tra‐ ditionelle Form des japanischen Nô-Theaters wurden zahlreiche Elemente der umliegenden Kulturen integriert, 3 sind doch ‚reine‘ Kulturen und Traditionen angesichts der bewegten Geschichte einer jeden Familie, Nation oder Ästhetik unmöglich. Individuelle Biographien und Ortsgeschichten sowie unterschied‐ lichste gesellschaftliche Prägungen bilden die Substanz des vermeintlich Ei‐ genen und Nahen. Das postdramatische Theater bietet besondere Möglichkeiten, mit dem Neuen, Unbekannten und Verdrängten zu experimentieren. Proben und Auf‐ führungen werden zum Labor des Austauschs und idealerweise zum Katalysator der Verbindungs- und Verständigungsprozesse. Als Beispiel kann folgende An‐ ekdote aus der Probenarbeit der Innsbrucker Inszenierung BlablablaCut (2016) in der Regie von Michaela Senn gelten, die mehrere Performances miteinander verband. Da verstand ein Syrer, der in einer der Performances als Darsteller mitwirkte, das Wort fremd als ‚Freund‘. Das Missverständnis begünstigte so den Zusammenhalt, der sich während der Probenarbeit im Team der Mitwirkenden ergab. 4 Ähnliche Prozesse provozierte Schlingensief, indem er Behinderte, Laien und Musiker_innen mit klassischer Ausbildung in sein Team holte. Auch Filmschauspieler_innen und französische Muttersprachler_innen, die nur ge‐ brochen Deutsch sprachen, waren integriert, wobei die Verschiedenheit der 180 Lore Knapp <?page no="181"?> 5 Vgl. Christoph Schlingensief, Atta Atta. Die Kunst ist ausgebrochen, DVD, Berlin 2015. 6 Vgl. Christoph Schlingensief, Via Intolleranza II, DVD, Berlin 2015. Ausdrucksweisen akustisch und visuell immer betont wurde. Denn die sprach‐ liche Integration diente nicht der Herstellung von Einheit. Vielmehr ging es Schlingensief darum, die überall und nahezu immer bestehende transkulturelle Fremdheit aufzuzeigen. Über die Erzeugung von Fremdheit hinaus richtet sich der Begriff der Trans‐ kulturalität im Sinne der Auseinandersetzung mit der Diversität des Eigenen auch gegen die Phantasmen des kulturell Anderen, die auf die Kulturen ferner Länder und vergangener Zeiten projiziert werden. Gesellschaften aller Länder befinden sich ständig in Veränderungsprozessen, so dass die Unterscheidung einzelner Kulturen nur mit Hilfe von Vereinfachungen und Reduktionen mög‐ lich ist. Genauso wenig wie sich die eigene Kultur bestimmen lässt, ist es mög‐ lich, auszumachen, an welcher Stelle eine fremde Kultur beginnt. Beispielsweise war ein Anteil an arabischen und russischen Elementen auch zu Schlingensiefs Zeiten prägend für die Berliner Kultur. Und - um ein künstlerisches Beispiel zu nennen - dem Stoff von Wagners Parsifal sind die Anspielungen auf den Islam sowie den Buddhismus seit jeher eingeschrieben. Sie sind daher auch in Schlin‐ gensiefs Inszenierung eher eine Replik der Romantik als ein Kennzeichen zeit‐ genössischer Transkulturalität. Dennoch können sowohl Schlingensiefs atmos‐ phärische Erzeugung von Fremdheit als auch die multikulturellen Züge vieler seiner Inszenierungen als Aspekte der Transkulturalität gelten. Beide Praktiken können miteinander einhergehen, haben aber unterschiedliche Funktionen und Zielrichtungen. Im Folgenden geht es um die Inszenierung ATTA ATTA - Die Kunst ist aus‐ gebrochen (2003), mit der Schlingensief Fremdes auf verschiedene Arten her‐ vorkehrt. Ich beziehe mich dabei auf meine Erinnerungen an eine Aufführung am 18. Mai 2003 in der Volksbühne Berlin sowie auf einen Videomitschnitt vom 23. März 2003. 5 Im dritten Teil dieses Beitrags geht es um Schlingensiefs asso‐ ziative Ästhetik. Der vierte und letzte Teil beschreibt zwei Funktionen der Transkulturalität bei Schlingensief, unter besonderer Berücksichtigung von Via Intolleranza II (2010), der Arbeit mit Darsteller_innen aus Burkina Faso. Grund‐ lage sind ein Videomitschnitt vom 23. Mai 2010 6 sowie die Aufführung in Ham‐ burg Kampnagel am 24. Mai 2010. 181 Transkulturalität in Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungen <?page no="182"?> 7 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999. 2. ATTA ATTA oder Die Kunst ist ausgebrochen Seit Beginn der 1990er Jahre inszenierte Schlingensief an der Berliner Volks‐ bühne und führte Aktionen auch außerhalb etablierter Theaterräume durch. Viele seiner Arbeiten können als Inbegriff des Postdramatischen gelten. 7 Er folgte keinem Skript und reagierte spontan auf Passant_innen, Laien‐ darsteller_innen oder politische Ereignisse. In ATTA ATTA spielen die Körper und Substanzen ähnlich wie in Bambi-Land (2003) oder in Attabambi Pornoland (2004) verglichen mit späteren Inszenie‐ rungen eine besondere Rolle. Die Zuschauer_innen werden mit Wasser bespritzt und manche Darsteller_innen matschen nackt mit Farbe, Tomaten und Wasser‐ melonen herum. Es gibt im Wesentlichen drei Orte auf der Bühne: das Wohn‐ zimmer von Schlingensiefs Eltern, ein Atelier und einen Campingplatz. Im Zu‐ sammenspiel der Vorgänge an diesen drei Orten wird Transkulturalität in der Inszenierung als das Fremde im Eigenen herausgearbeitet, wobei das Befremden der häuslichen Umgebung gegenüber im Laufe des Abends zunehmend größer wird. Auch die zunächst zusammenhanglos und unverständlich erscheinenden Aktionen im Atelier und auf dem Campingplatz rufen Fremdheitserfahrungen hervor. Zwar werden auch Elemente ‚anderer‘ Religionen und Kulturen inte‐ griert, allerdings ist der Blick in dieser Inszenierung primär auf die hier darge‐ stellte, ‚eigene‘ Gesellschaft gerichtet. Abb. 1: ATTA ATTA - Die Kunst ist ausgebrochen (2003) 182 Lore Knapp <?page no="183"?> 8 Einen Kurzfilm von der verlassenen Kaaba und der Auflösung des Islam hat Schlin‐ gensief noch in seinen letzten Lebensmonaten auf seinem Blog veröffentlicht. Christoph Schlingensief: „DIE KAABA ? Geschlossen? - Die Fata Morgana der eigenen Kunst‐ verklärung“, https: / / schlingenblog.wordpress.com/ 2010/ 06/ 03/ die-kaaba-geschlossen-diefata-morgana-der-ei/ (13.3.2017). Bereits in ATTA ATTA spricht die Akteurin Inge von der Kaaba. 9 Vgl. Lore Knapp, Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke - Christoph Schlingensief, Paderborn 2015. 10 Während einzelne künstlerische Ausdrucksformen in der produktionsästhetischen Theorie Kultur in Reinform erschaffen könnten, indem sie sich an eine einzige Person oder Aufführungssituation binden lassen, kommt bereits durch die erste Rezipientin eine neue kulturelle Prägung mit ins Spiel. In den ersten Szenen sprechen die Darsteller_innen nacheinander verschiedene Auffassungen von Kunst in eine Kamera, wobei sich die Äußerung „Jeder Mensch ist anders. Jeder Mensch soll aus sich ein Kunstwerk machen“ auf eine transkulturelle Gesellschaftsauffassung beziehen lässt, in der die Individualität jedes einzelnen gefragt ist. Dann folgen Anspielungen auf den Islam. Jemand fordert die Burka für den Mann, arabischer Gesang erklingt und ein Persertep‐ pich schmückt die Rückwand einer kleinen Hütte. Allah tritt auf als ein halb‐ nackter, mit Farbe beschmierter Mann. Später ist die Rede vom Pilgern nach Mekka. 8 Außerdem gibt es Bilder von russischen Babuschkas sowie liturgischen Gesang auf den Text: „Ich glaube an die Macht der Aktionen“. In dem Stil wird auch aus Luhmanns Kunst der Gesellschaft rezitiert - und zwar geht es ausge‐ rechnet um eine Passage über die Sakralisierung der Kunst. 9 Die Inszenierung stellt Widersprüche aus, wirkt in vielen Teilen befremdlich und steigert diesen Eindruck von Szene zu Szene. Schlingensief brüllt viel und ruft: „Wo ist der Text? “. Das klingt, als betone er die improvisationsbetonte, postdramatische Grundstruktur des Abends. Es geht um die Fragewürdigkeit verschiedener Lebensstile zwischen Zelturlaub und Sofaexistenz, zudem werden - wie es in der Inszenierung heißt - zehn Formen des Wahnsinns zwischen Kunst und Schizophrenie in den Blick genommen. Hiermit und mit den eingangs vorgetragenen Definitionen signalisiert Schlingensief sein Insistieren auf der Existenz einer Größe Kunst. In Kombination mit der expliziten und zugleich performativ umgesetzten Infragestellung klassischer und romantischer Kunst‐ begriffe und Theaterformen ergibt sich das Angebot einer Neubestimmung des Lebens wie auch der Kunst als prinzipiell transkulturell. 10 Dazu trägt in ATTA ATTA eine orthodoxe Kreuzprozession bei, die über den Campingplatz führt, der auf der Bühne aufgebaut ist. Dabei wird ein großes Holzkreuz mitgetragen und ein kleines Kruzifix schmückt das Wohnzimmer der Eltern, durch das auch eine Person mit Turban läuft. Katholische Elemente 183 Transkulturalität in Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungen <?page no="184"?> 11 Noch in der vorletzten Inszenierung Sterben lernen! Herr Andersen stirbt in 60 Minuten (2009) wurde die Fremdheit des Katholizismus mit US-amerikanischen Elementen kom‐ biniert. Das Motto des Abends rekurrierte auf den Satz „I’m going to enjoy watching you die, Mr Anderson“ im Spielfilmklassiker Matrix und boulevardeske Elemente trugen zur Verfremdung bei. werden ähnlich überraschend mit arabischen kombiniert wie das Bühnenbild die Lebensformen Wohnzimmer und Campingplatz parallelisiert. 11 Beide Ver‐ bindungen zielen jedoch nicht auf deren Zusammensetzung und Verschmel‐ zung. Vielmehr wird das den Rahmen sprengende Auseinanderstreben der ein‐ zelnen Elemente inszeniert. Hier liegt trotz der Nähe zum Religiösen ein deutlicher Unterschied zur romantischen Literatur und Ästhetik, die vom Grundgedanken des Strebens nach einer Einheit im Ganzen geprägt ist. Durch eine Life-Schaltung zum Brandenburger Tor, die gleich zu Beginn auf die Leinwände im Bühnenraum übertragen wird, kontrastiert Schlingensief die nicht bestehende Einheit der religiösen Gesellschaften in Berlin, die in der Büh‐ nenhandlung angedeutet werden, mit dem Grundthema und Gedanken der po‐ litischen Einheit. Denn während das Brandenburger Tor primär als Symbol der Verbindung von Ost und West fungiert, lenkt das Bühnengeschehen den Blick allgemeiner auf das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft. Schlingensief führt die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte Berlins und der deutschen Kultur fort, indem er auf ein hohes Gerüst klettert und laute Musik von Wagner mit Gesten dirigiert, die in den Hitlergruß münden. Ein Jahr vor Beginn seiner Arbeit in Bayreuth bringt er hier größenwahnsinnige und nationalistische Gesten in einen Kontrast zu der sich und die eigene Kunst in Frage stellenden, transkulturellen Inszenierung ATTA ATTA. Dabei rücken die Vielfalt und Fragwürdigkeit des Deutschen samt seiner Geschichte und seinen Werten ins Bewusstsein der Zuschauer_innen. Zusätzlich zu den Themenfeldern Kunst, Weltreligionen und deutsche Kultur häufen sich im letzten Teil eines sogenannten Drei-Tage-Spiels Verweise auf den islamistischen Terror von 9/ 11. Jemand bemerkt: „Seit dem 11. September proben wir“. Außerdem tritt ein potentieller Selbstmordattentäter auf. Schlingensief spielt einen Turban tragend auf Karlheinz Stockhausens Position an, der den Terroranschlag auf das World Trade Center in New York City als das größte Kunstwerk aller Zeiten bezeichnete, und beschreibt die „arabischen Medien‐ künstler“, die „mit 1: 0 führen“, ironisch als seine Konkurrenz in der Verbindung von Kunst und Terror. Die arabischen Symbole spielen in dieser Inszenierung vor allem eine Rolle im konkreten Diskurs über die Gefahr von Terroranschlägen beziehungsweise über Parallelen zwischen Künstler und Terrorist. Schlingensief parallelisiert das islamistische Sterben für den Glauben mit dem Sterben für die 184 Lore Knapp <?page no="185"?> 12 Vgl. Anna Teresa Scheer, „Hybrid Avantgardism: Schlingensief and André Breton’s Second Surrealist Manifesto“, in: Lore Knapp, Sarah Pogoda, Sven Lindholm (Hgg.), Christoph Schlingensief und die Avantgarde, Paderborn 2018. (Publikation in Vorberei‐ tung) 13 Heeg, „Das transkulturelle Theater“, S. 151. 14 Vgl. Knapp, S. 157-160. 15 Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 2006, S. 116. Kunst, indem er sagt: „Der Avantgardist von gestern ist der Märtyrer von heute. Wir können uns nicht mehr bewegen, wir werden bewegt.“ Avantgardistische Aktionen von Künstlern wie Paul McCarthy und Hermann Nitsch werden reen‐ acted und mit Zitaten aus der Kunst- und Musikgeschichte, aber auch aus den verschiedenen Weltreligionen kontrastiert. Zum Ende heißt es, der Künstler müsse, sei er auch verzweifelt, immer weiter machen, sonst würde er sterben, das sei wie bei 1001 Nacht, Sheherazade erfinde ihre Geschichten auch, um leben zu können. Im Halbdunkel der letzten Szene von ATTA ATTA sind Ganzkörper-verhüllte Menschen zu erahnen und jemand ruft „Long live Islam“. Die religiöse Klei‐ dungskultur korrespondiert mit Schlingensiefs wechselnden Kostümen und Umhängen und bildet einen Kontrast zur Nacktheit und Exzentrik anderer Szenen. Ebenso werden Anspielungen auf die orientalistischen, verwunschenen und geheimnisvollen Phantasmen der muslimischen Kultur der zerstörerischen, islamistischen Radikalität gegenübergestellt. In der Koexistenz von Terror und Traumwelten übertragen diese Szenen surrealistische Programmatiken, auf die Schlingensief bereits 1996 im Zuge seiner Aktion Zweites Surrealistisches Mani‐ fest nach André Breton anspielte, auf die politisch vollkommen gewandelte Si‐ tuation zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in der Terror als reale Bedrohung emp‐ funden wird. 12 ATTA ATTA demonstriert eine Situation kultureller „Hybridisierung“, die bei den Zuschauer_innen „zunächst Desorientierung, Ab‐ wehr, Angst und Aggression“ 13 hervorruft. Daher ist Kunst in ATTA ATTA auch als Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der Angst vor Anschlägen sowie mit eigenen Aggressionen inszeniert. Dem entspricht das Konzept der auf mehrere Monate angelegten Aktionen der Church of Fear (2003), die im gleichen Jahr die gegenseitige Entwertung der Religionen durch die Globalisierung und die daraus resultierende Hilflosigkeit entfalteten, bevor Schlingensief die Angst im Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2009) gezielt auf das Fremde im Menschen selbst bezog. 14 Insgesamt ist mit ATTA ATTA eine „radikale Fremdheit“ 15 inszeniert, die bei den Zuschauer_innen Ablehnung, Unverständnis und Überforderung hervor‐ 185 Transkulturalität in Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungen <?page no="186"?> 16 Ebd. 17 Vgl. Martin Seel, Die Macht des Erscheinens, Frankfurt am Main 2007, S. 224. 18 Vgl. zur Analyse dieser Szene: Sarah Ralfs, „Zitieren als künstlerische Praxis im Span‐ nungsfeld von Geschichte und Emergenz. Schlingensief und die Avantgarden“, in: Lore Knapp, Sarah Pogoda, Sven Lindholm (Hgg.), Christoph Schlingensief und die Avant‐ garde, Paderborn 2018, (Publikation in Vorbereitung) ruft, weil sie all das ins Bild bringt, das nicht Teil ihrer über Jahre geordneten Vorstellungen ist. Angebote zur psychologischen Einfühlung gibt es kaum, was den befremdlichen Eindruck verstärkt. Schlingensief agiert auf der Bühne außer sich, scheint weder „Herr über sich selbst“ 16 zu sein, noch die Vorgänge auf der Bühne unter Kontrolle zu haben. Dieser Eindruck hat Martin Seel zu der Ver‐ mutung geführt, die Kunst laufe zu immer höheren Formen auf, je stärker sie dementiert würde. 17 Seine Formulierung basiert auf dem Glauben an eine Größe bzw. an das Phantasma Kunst, das Schlingensief durch das transkulturelle Aus‐ brechen in ATTA ATTA und andere Grenzüberschreitungen in die Politik immer wieder ebenso hinterfragt wie bestätigt hat. Als Phantasma ist die Rede von der Kunst verwandt mit der Rede von Afrika und mit den großen Werten Familie, Nation und Religion, die hier jeweils ausdrucksstarke Symbole bieten, bei denen zur Diskussion steht, was in der hier dargestellten Welt über die Kraft des Bildes hinaus Bestand hat. Bereits vor einer Inzestszene mit seiner katholischen Mutter (Irm Hermann), die gleichermaßen auf die Werte Familie oder Nation bezogen werden kann, wird deutlich, dass Schlingensiefs Bühnenextasen kontrolliert sind und er als ‚Kopf ‘ des Ganzen dabei ist. 18 Begleitet von den hervorgestoßenen Worten „Ich muss! Ich bin ein Künstler“ sägt er ein Dreieck in eine große, mit dem Symbol der Liebe bemalte Leinwand, zieht sich die Hose aus und verschwindet unter der Leinwand. Sodann kommt in dem Loch der Leinwand das eine Ende eines langen, tanzenden Wiener Würstchens zum Vorschein, das die Szene künstle‐ rischer Sublimation in die Lächerlichkeit überführt. Der Verfremdungseffekt macht die Anspielung auf das Unbewusste und Wahnsinnige ebenso deutlich wie er den Zuschauer_innen Zeit gibt, um zwischen den Szenen aufzuatmen. Denn auf diese Hervorkehrung des Verdrängten oder Sublimierten folgt die be‐ reits erwähnte Szene des Inzests. Sie lässt sich als Mahnung vor der Idealisierung von Familien ebenso deuten wie als Verweis auf die Ambivalenz im Verhältnis zu Religion und Nation. Das sind Aspekte von Kulturen, die Schlingensiefs transkulturelles Theater mitdenkt, ohne sie jedoch als zeitgemäße Identitäts‐ konstruktionen anzubieten. 186 Lore Knapp <?page no="187"?> 19 Das Metaphern- und Aktionsfeld der Zelte kehrte in Schlingensiefs Aktionen Wahlkampf‐ zirkus und Deutschlandsuche wieder. Auch in Via Intolleranza II wird ein Schauspieler als Flüchtling vorgestellt. Abb. 2: ATTA ATTA - Die Kunst ist ausgebrochen (2003) Um im nächsten Schritt zum Grundprinzip der assoziativen Ästhetik zu kommen, sei erwähnt, dass die Reihenfolge der Ereignisse in ATTA ATTA willkürlich scheint. Keine klassische Handlung hält die Szenen zusammen, weder eine Ein‐ heit noch ein übergeordneter Sinn werden suggeriert. Die Zuschauer_innen er‐ gänzen die unerwarteten Bilder und Äußerungen mit eigenen Gedanken und stellen so Verbindungen her. Die bürgerliche Wohnzimmergemütlichkeit wird mit der Campingplatz-Mentalität teils kontrastiert, teils enggeführt. Zudem lösen die Zelte Assoziationen an das Leben von Geflüchteten aus, hatte Schlingensief doch bereits 1999 unter dem Titel Lager ohne Grenzen Aktionen mit Flüchtlingen aus Mazedonien gestaltet. 19 Die Thematik bildet einen Kontrast zu dem Genuss etab‐ lierter Kunstwerke, der mit Sesshaftigkeit und Wohlstand verbunden ist. Dabei wird das kulturell Fremde sprachlich, visuell und akustisch zitiert, indem über Allah, Mekka oder muslimische Bräuche gesprochen wird und charakteristische Elemente wie der Perserteppich oder die arabische Musik integriert werden. Je nach Assoziationsleistung der Zuschauer_innen geht die Transkulturalität, bei der das Bewusstwerden von Fremdheit im Vordergrund steht, in einen stärker außen‐ politisch orientierten Impuls zum Austausch zwischen verschiedenen Kulturen über. Sie zielt nicht primär auf die ästhetische Repräsentation von Fremde, sondern auf deren ästhetische Erzeugung. Symbole fremder Kulturen sind Mittel zum 187 Transkulturalität in Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungen <?page no="188"?> 20 Vgl. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, hg. v. Peter H. Nidditch, Oxford 1975, S. 395; Buch II, Kapitel 33, §. 5. 21 Vgl. David Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding, hg. v. Tom L. Beau‐ champ, Oxford 2000, S. 17-23. Zweck der künstlerischen Herstellung von Fremdheit. Zwar arbeitet ATTA ATTA plakativ mit Elementen der arabischen Kultur, diese sind jedoch weniger ‚ef‐ fektiv‘ bei der Erzeugung von Momenten der Transkulturalität als Schlingensiefs eigene Äußerungen und diejenigen seiner Darsteller_innen. Wenn der Persertep‐ pich die Fremde auch repräsentiert, so ist er doch auch ein gewohntes Bild aus dem Berliner Stadtbild, während Schlingensief das Fremde im Eigenen durch die Ge‐ samtinszenierung hervorholt. 3. Assoziative Ästhetik Schlingensiefs Theater liegt ein assoziatives Denken zu Grunde, das für die postdramatischen und transkulturellen Züge seiner Ausdrucksformen wesent‐ lich ist. Assoziationen durchkreuzen etablierte Wert- und Rahmensetzungen und stellen überraschende Verbindungen her. Produktionsästhetisch sieht das so aus: Zunächst reiste er in ferne Länder und gewann Eindrücke. Dann ver‐ knüpfte er die gewonnenen Eindrücke und Ideen mit bereits bestehenden Bil‐ dern und Vorstellungen - die indischen Leichenverbrennungen mit dem Kreuz und die arabische Schrift mit dem Gral. Dieses Vorgehen entspricht der Erkenntnistheorie von John Locke und David Hume, die davon ausgehen, dass die einzelnen Eindrücke sinnlicher Wahrneh‐ mung individuell zu größeren Sinneinheiten verknüpft werden. 20 Ein solches assoziatives Denken hat nicht nur epistemische Innovationskraft, sondern auch ästhetische. Postdramatisches Theater schöpft seine Originalität generell aus der Offenheit für Assoziationen, die im Konzeptions- oder Probenprozess ent‐ stehen. Dies geschieht, so David Hume, nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten: Assoziationen beruhen entweder auf Kausalität, auf raum-zeitlichen Verbin‐ dungen oder auf Ähnlichkeiten. 21 Hume bezieht seine Beobachtung auf tradi‐ tionelle literarische Gattungen. In der Fiktion (und man kann ergänzen: im Spiel) müssten solche Verbindungen, so Hume, stärker ausgebildet werden als in der Wirklichkeit, damit sie mit der Intensität biographischer Erzählungen mithalten könnten. ATTA ATTA dagegen setzt eher auf die Lebensnähe und verzichtet auf raum-zeitliche oder kausale Verknüpfungen. Nicht weil Schlingensief gerade mit Farbe gespritzt hat, wird jetzt die Musik lauter gedreht, vielmehr ergibt sich das aus einem freien Spiel der Assoziationen, in dem gerade keine kausalen Zusam‐ menhänge eine Handlung aufbauen. Auch die räumliche Gestaltung der Bühne, 188 Lore Knapp <?page no="189"?> 22 Vgl. Knapp, S. 192-215. der Wohnung seiner Eltern neben dem Campingplatz, geschieht nicht nach einem Prinzip der Mimesis. Vielmehr geht es um die Kombination des historisch Ungleichzeitigen oder des sonst räumlich Getrennten. Übrig von David Humes Gesetzmäßigkeiten der Assoziation bleibt das Prinzip der Ähnlichkeit, das jedoch auch nicht befolgt wird. Zuschauer_innen, die nicht durch mehrere vorangegangene Inszenierungen eingeweiht wurden, werden vor allem Zeug_innen einer Fülle einander kontrastierender Elemente in schneller Abfolge, die in keiner Weise zueinander zu passen scheinen. Un‐ einheitlich und zermürbend wird hier das Widersprüchliche betont. Letztlich beruht die Inszenierung aber doch auf einer Ähnlichkeitsbeziehung. Wenn in ATTA ATTA Stockhausens provokanter Ausspruch zitiert und den sich daran anschließenden arabischen Assoziationen freier Lauf gelassen wird, lässt sich alles auf die Frage nach einer angenommenen Größe Kunst und auf die Suche nach der eigenen ästhetischen Ausdrucksform für das Wirkliche be‐ ziehen. Alle zitierten ästhetischen und religiösen Kulturen sind über das Streben nach einer Überschreitung und Komprimierung der alltäglichen Wahrnehmung miteinander verbunden. In diese Richtung hat Schlingensief seine Ausdruckssprache noch im Pre‐ mierenjahr von ATTA ATTA mit der Church of Fear weiterentwickelt, deren Prinzip der Kombination von Motiven verschiedener Religionen in jeweils va‐ riierter Form auch für den Parsifal und die animatographischen Arbeiten prä‐ gend ist. In Schlingensiefs späteren Projekten befanden sich der Hase von Joseph Beuys mit zunehmender Selbstverständlichkeit neben dem Röntgenbild seiner Lunge und dem Gral. Je nach Inszenierung wurde diese Zusammenstellung durch biographische Elemente ergänzt, etwa durch die Erwähnung der Kurz‐ filmtage oder der Super-8-Kamera seines Vaters. Was in ATTA ATTA noch über‐ raschend war, wurde zunehmend zu einer wiedererkennbaren Privatmytho‐ logie. Darsteller_innen, Rituale wie die Prozession und Zitate kehrten wieder. 22 Doch die später suggerierte Zusammengehörigkeit der Motive erweist sich als persönliche Assoziation des Künstlers und seiner Zuschauer_innen. John Locke würde sagen, diese Gedankenverbindungen sind falsch, weil sie frei erfunden und durch Gewohnheit gefestigt wurden. Den Zuschauer_innen eröffnete die assoziative Privatmythologie in Schlingensiefs Arbeiten zwischen 2003 und 2009 einen Kosmos von Zusam‐ menhängen und Sinnangeboten. Denn über Assoziationen funktioniert nicht nur Schlingensiefs Ausdrucksfindung innerhalb einzelner Arbeiten, sondern auch die Entwicklung seines Oeuvres. In ATTA ATTA taucht beispielsweise 189 Transkulturalität in Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungen <?page no="190"?> 23 Jean-Luc Nancy: Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Zürich 2003, S. 14. Vgl. auch: Heeg: „Das transkulturelle Theater“, S. 155. nicht nur der Hase von Beuys auf, sondern auch eine Beuys-Burg, die Schlin‐ gensiefs beginnende Auseinandersetzung mit Bayreuth markiert. Bezogen auf Parsifal bietet sich eine synkretistische Interpretation zwar an, weil alles durch das Libretto und die Musik zusammengehalten wird. Sonst führte die Zusammenführung unterschiedlichster Elemente jedoch gerade nicht zu einer synkretistischen Verschmelzung, sondern immer wieder zum Fremden und Anderen. Schlingensief lenkt den Blick auf das Nebeneinander der mo‐ notheistischen Religionen Christentum und Islam, die eine Relevanz kultur‐ eller Identität demonstrieren und sich im globalisierten Erfahrungsraum zu‐ gleich gegenseitig entwerten. Ob 1995 in Hurra Jesus! , 2003 in ATTA ATTA oder 2009 in Sterben lernen! , auch Schlingensiefs Auseinandersetzung mit dem Katholizismus brachte immer eher Elemente des fremd gewordenen in die Welt des postdramatischen Theaters. Es handelt sich um eine wirre und assoziativ generierte „Auflösung von Gewissheiten, Bildern und Identitäten dessen, was die Welt […] einmal war“. 23 Das Aufbrechen jeglicher Einheiten und Selbstverständlichkeiten im Fami‐ liären, Politischen und Religiösen war charakteristisch für Schlingensiefs The‐ aterarbeit. Es ermöglichte ihm, demokratisch zu wirken und die Vielfalt der Ge‐ sellschaft immer wieder neu in den Blick zu rücken. 4. Zwei Funktionen der Transkulturalität Zwei Funktionen der Transkulturalität sind hervorzuheben. Erstens zielt die Hervorbringung des Fremden in Schlingensiefs Wirken auf die Darstellung der eigenen diversifizierten Lebenswelt und die Erzeugung von Fremdheitserfah‐ rungen mit Impulsen zur Demokratisierung der Gesellschaft und zweitens geht es unter stärkerer Einbeziehung vermeintlich ‚anderer‘ Kulturen um die Dar‐ stellung kultureller Phantasmen und deren Kritik. Während sich Schlingensiefs transkulturelles Theater generell vor allem auf das Selbstverständnis seiner ‚ei‐ genen‘ Gesellschaft richtet, rückt u. a. in den Filmen United Trash und African Twin Towers, vor allem aber in seinem letzten Lebensjahr auch der Austausch zwischen räumlich getrennten Kulturen in den Fokus. In den früheren Arbeiten, auch noch in ATTA ATTA, dominiert die erste Funktion der Transkulturalität, die Demokratisierung, die auch Minderheiten in den Blick rückt; in den Insze‐ nierungskonzepten im Umfeld des Operndorfs ist dagegen die zweite Funktion, die Auseinandersetzung mit den Kulturen eines anderen Kontinents dominant. 190 Lore Knapp <?page no="191"?> Diese zweite Funktion der Darstellung kultureller Phantasmen ist ausgehend von Schlingensiefs Frühwerk insofern ein Rückschritt, als dass auf der Basis der Erkenntnis, dass alle Gesellschaften in sich transkulturell sind, eigentlich auch die Unterschiede zwischen Gesellschaften relativiert werden. Aus politischer Sicht verlagert Schlingensief seinen Blick aber zunehmend von innenpolitischen Themen auf inter- und transnationale Herausforderungen. Das kündigt sich be‐ reits in ATTA ATTA an, als er bei der nachgespielten Bewerbung für die Ober‐ hausener Kurzfilmtage sagt: „Es wäre schön, wenn wir im internationalen Pro‐ gramm laufen. Das deutsche Programm interessiert uns nicht mehr so wie früher mal“, wobei sich früher nicht nur auf Schlingensiefs jüngere Jahre beziehen lässt, sondern auch als Nebenbemerkung zur nationalsozialistischen Vergangenheit verstanden werden kann. Diese Werkentwicklung lässt sich auch an einer Gegenüberstellung von ATTA ATTA und Via Intolleranza II verdeutlichen, der Produktion, die im letzten Teil dieses Beitrags im Zentrum stehen soll. In ATTA ATTA ist die Erzeugung einer Atmosphäre des Fremden noch ausgeprägter als die politische Auseinan‐ dersetzung mit interkulturellen Beziehungen. In Via Intolleranza II geht es da‐ gegen konkret um die Beschäftigung mit deutschen Bildern vom afrikanischen Kontinent. Ohne die Entwicklung von Schlingensiefs Schaffen hier im Einzelnen dar‐ stellen zu können, sei ergänzt, dass ihn sein Anspruch, zu neuen Assoziatio‐ nen und originellen Bildern zu kommen, bereits ab den 1990er Jahren nach Mazedonien, Indien und Marokko reisen ließ. Bevor er Wagners Fliegenden Holländer (2007) im brasilianischen Regenwald aufführte, beschallte er die namibische Wüste mit Musik Wagners. Er suchte gezielt neue Umgebungen und kombinierte das Unzusammenhängende. Bilder seiner zweiten Reise nach Namibia fügte er in der Installation African Twin Towers (2008) zu‐ sammen und seine Aufnahmen aus Tibet und Indien zeigte er in Jeanne D`Arc (2008). Nachdem er auf anderen Kontinenten agiert und - nicht frei von kulturimperialistischen Zügen - Bilder und Motive anderer Kulturen in seine Arbeiten integriert hatte, trieb er, wie oben erwähnt, die Hinwendung zu anderen Religionen weiter, indem er für den sogenannten Prototyp seiner Church of Fear einander relativierende Elemente aller Religionen zu einer Kirche der Nicht-Gläubigen zusammenstellte. Es folgten stärker autobiogra‐ phische Arbeiten, bevor Schlingensief den Grundstein zu dem tatsächlich von den Kulturen zweier Kontinente getragenen Projekt des Operndorfs legte, aus dem Via Intolleranza II hervorging. Beide Arbeiten, das Operndorf und Via Intolleranza II, wurden von dem Wunsch getragen, von der Energie und dem Temperament afrikanischer 191 Transkulturalität in Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungen <?page no="192"?> 24 Vgl. dazu das Kapitel „Ästhetik der Energie und des Heils“, in: Knapp, S. 183-191. Darsteller_innen zu profitieren, 24 gingen also vom Glauben an eine grundle‐ gende Andersartigkeit afrikanischen Lebensgefühls aus. Dieser Glaube ist für sich als kulturelles Phantasma in Frage zu stellen, zumal Schlingensief wenig Sorgfalt darauf verwandte, zwischen verschiedenen afrikanischen Kulturen zu differenzieren. In Via Intolleranza II trägt jedoch gerade die Kontrastierung der blassen, kranken, künstlerisch gedrillten Europäer_innen mit den kraftvollen, lebensfrohen Burkinabé wesentlich zur postdramatischen Dramaturgie des Abends bei. Denn nach Beginn der Arbeit am Operndorf brachte Schlingensief nicht mehr nur Bildaufnahmen aus der Ferne nach Europa, sondern er castete in Burkina Faso Darsteller_innen, die ‚Afrikanisches‘ lebendig verkörperten und an dessen Verflechtung mit Schlingensiefs so deutscher wie transnationaler Theaterarbeit mitwirkten. Mit jedem Wort, das sie sprachen, verwiesen sie auf die Andersartigkeit ihrer Herkunft. Insofern hat Schlingensief sich durchaus mit fremden Federn geschmückt und die Effekte von Fremdheit, die sonst durch Behinderte oder Laien erzeugt wurden, variiert. Da Transkulturalität bei Schlin‐ gensief primär der eingangs erwähnten Definition vom Fremden im Eigenen entspricht, sind die ‚multikulturellen‘ Züge anderer Arbeiten ein Zusatz mit der Funktion, die Phantasiebilder des Fremden zu hinterfragen. Darüber hinaus ist einer der prägenden Diskurse in Schlingensiefs Spätwerk die Auseinandersetzung mit den Nachteilen von Entwicklungshilfe und mit der konterkarierenden Frage, ob Europa nicht mehr Hilfe benötige als Afrika. In Via Intolleranza II speisen sich Szenen, Text und Ablauf des Abends aus dem Aus‐ tausch des krebskranken Europäers Schlingensief und einzelnen Darsteller_in‐ nen aus seinem Team mit ausgewählten afrikanischen Tänzer_innen, Schau‐ spieler_innen, Musiker_innen und Laiendarsteller_innen. 192 Lore Knapp <?page no="193"?> 25 Hier beziehe ich mich auf die Aufführungen am 23. und 24.5.2010 in Hamburg sowie nach Schlingensiefs Tod am 21. und 23.5.2011 in Berlin und auf den bereits zitierten Videomitschnitt. 26 Vgl. Waldenfels, S. 116. Abb. 3: Via Intolleranza II (2010) Die collagenhafte Inszenierung weist darauf hin, dass die Bilder von Schwarzen, die in Deutschland zirkulieren, überwiegend von Europäer_innen gemacht würden und erinnert mahnend an die Weltausstellung von 1958, in der Afrikaner_innen ausgestellt wurden wie im Zoo. 25 Dieser reflektierte Umgang mit der Inszenierung des Fremden steht gewis‐ sermaßen im Gegensatz zur privatmythologischen Vereinnahmung des Fremden. Doch auch die afrikanischen Elemente stehen im Zuge ihrer Auf‐ nahme in Schlingensiefs Ausdruckssprache für das, was Bernhard Waldenfels eine relative oder vorläufige Fremdheit nennt, die zunehmend vertraut wird. 26 Denn die Integration in den bereits bekannten Schlingensief-Kosmos ermög‐ lichte mir als Zuschauerin während der Aufführungen, aber auch im Anschluss einen Zugang zu einzelnen, zunächst sehr fremden Burkinabé. Die transkultu‐ relle Bildung von Gemeinschaft ergab sich auch noch nach Schlingensiefs Tod, als die Inszenierung mit Unterstützung von Stefan Kolosko und mit Aufnahmen von Schlingensiefs Monologen beim Berliner Theatertreffen zu erleben war und 193 Transkulturalität in Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungen <?page no="194"?> die Darsteller_innen sich wie bereits in Hamburg Kampnagel im Anschluss an die Aufführungen im Foyer aufhielten. Abb. 4: Via Intolleranza II (2010) In den Aufführungsmonologen brachte Schlingensief zahlreiche kulturelle Un‐ terschiede zur Sprache. Die Burkinabé seien das Treppensteigen nicht gewohnt und die Deutschen seien extrem auf Sicherheit aus. Schlingensief erfuhr in der Probenarbeit, dass das Bild von der heilenden Energie der Afrikaner eine falsche Ideenverknüpfung und ein Fehlglaube war, dass weder Afrika ihm, noch er Af‐ rika helfen konnte. Davon zeugen die Konzepte von SMASH (geplant für 2010) und Metanoia (2010). Denn Schlingensief wandelte Kritik und Selbstkritik sofort in Richtungswechsel in der Vorgehens- oder Inszenierungsweise um und han‐ delte immer am Puls seiner Ideen und Gedanken. Es gab keine anhaltende Dis‐ tanziertheit. Analysen wie „Wir müssen da weg und die Afrikaner machen lassen“, so Schlingensief in einem seiner Monologe in Via Intolleranza II, wurden gleich in die Praxis umgesetzt. Gleichzeitig erkannte er, dass die großen Auf‐ gaben unserer Zeit im Zusammenspiel verschiedener Kulturen liegen und dass das Theater hier Vorarbeit leisten und zur Verständigung beitragen kann. Zwar kamen in Via Intolleranza II Anspielungen auf präkoloniale und tradi‐ tionelle burkinische Bräuche vor. Ein Heilungstanz um das Bett eines Kranken setzte jedoch zugleich das Schwanken des europäischen Blicks zwischen Faszi‐ 194 Lore Knapp <?page no="195"?> 27 Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektu‐ ellen, Weilswist 2007. 28 Heeg im vorliegen Band, S. 39. nation, Interesse und Belächeln in Szene, denn primär ging es um zeitgenössi‐ sche Musik und zeitgenössischen Tanz der Burkinabé. Der Verweis auf westliche Praktiken der Ab- und Versicherung wurde kontrastiert mit dem sehr freien Umgang mit der dem Abend ursprünglich zu Grunde liegenden Partitur von Luigi Nonos Oper Via Intolleranza. Schlingensief trat mit seiner Inszenierung für ein postdramatisches Musiktheater ein, das von seinen afrikanischen Reise‐ eindrücken ebenso inspiriert war wie von seinem erweiterten Opernbegriff. So war die Integration der Burkinabé dann doch auch mit einem Rückgriff auf die ursprüngliche Einheit des Theaters mit kultischen und rituellen Elementen ver‐ bunden, die das postdramatische Theater häufig auch ist. Schlingensiefs Theater hatte eine Lebensnähe zum Ziel, die die kalkulierten Spannungsbögen klassischer Dramenformen und durchkomponierter Texte hinter sich ließ. Seine Offenheit für afrikanische Kulturen entstand aus einem demokratischen Blick, der sich auf die Minderheiten in der Gesellschaft richtete und immer wieder neu nach ästhetischen Ausdrucksformen fern vorgegebener Wertsetzungen, Formensprachen und Hierarchien suchte. Schlingensief war so geübt in der Wahrnehmung des Ungewöhnlichen und zugleich Alltäglichen in der europäischen Kultur, dass sein Austausch mit Afrikaner_innen auf einer anderen Ebene ablief als zum Beispiel bei interkontinentalen Projekten in der klassischen Musik. Es ging ihm auch im Spätwerk um ein Vordenkertum hin‐ sichtlich der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung, das sich performativ äußert und performativ eingreift. 27 Es ging darum, ein Bewusstsein der immer bestehenden Transkulturalität herzustellen. Dem entspricht der Drang, auch wirklich in und mit vermeintlich fremden Kulturen zu arbeiten. Schlingensief verfolgte Transkulturalität als Gegenkonzept zur „Gleichma‐ cherei der Globalisierung“ 28 , indem er eine ungewöhnliche Vielfalt entstehen ließ. Die Zuschauer_innen sollten sich von sich selbst entfernen, sich selbst fremd werden, um politisch wirken zu können und eine bessere Gesellschaft zu leben. Der Gedanke der Transkulturalität ist in Schlingensiefs früheren Theaterar‐ beiten, für die hier ATTA ATTA steht, mit Mitteln erzielt, die den Gedanken der Fremdheit indirekter, insofern subtiler, origineller und schließlich auch ein‐ drücklicher vermitteln als Via Intolleranza II. Aufführungen wie ATTA ATTA schufen auf der Bühne eine Welt, die an Schlingensiefs Ausdruckssprache ge‐ bunden war und sich erst auf Umwegen und in der nachträglichen Beschäfti‐ gung als transkulturell sowie politisch fortschrittlich und ambitioniert erklären 195 Transkulturalität in Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungen <?page no="196"?> 29 Vgl. dazu zum Beispiel die fingierte Biographie von Jean Chaize auf der Homepage www.viaintolleranza2.com/ ensemble.php, zuletzt aufgerufen am 26.5.2018. 30 Vgl. Antje Hoffmann: „Scheitern als Chance. Zur Dramaturgie von Christoph Schlin‐ gensief “, in: Peter Reichel (Hg.), Studien zur Dramaturgie. Kontexte, Implikationen, Be‐ rufspraxis, Tübingen 2000, S. 217-312. lässt. Die behinderten Laiendarsteller_innen und die postdramatische Anlage der Inszenierungen wirkten um 2000 neu und unerwartet, während Via Intol‐ leranza II trotz aller Ausdruckskraft und diskursiven Komplexität, auch trotz zahlreicher Raffinessen im Schaffen von Bildern und im Umgang mit Fakt und Fiktion 29 vergleichsweise plakativer zum bestehenden Diskurs um globale Un‐ gleichheit und Entwicklungshilfe beitrug. Dieser aktuelle Diskurs jedoch, bringt den Gedanken vom Transkulturellen als dem Fremden im Eigenen, der Schlin‐ gensiefs Schaffen bereits seit den 1980er Jahren prägte, erst ins Bewusstsein einer breiteren Zuschauer_innenschaft. Da Schlingensief die transkulturelle Moral nicht explizit machte und sein Pu‐ blikum nicht wie Brecht mit einem Aha-Efffekt entließ, 30 bewirkte er häufig Konsterniertheit und Überforderung, genauso häufig aber lang anhaltende Fas‐ zination an der Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung und Ein‐ stellung dem Leben und der Gesellschaft gegenüber. Im Rahmen der Kunst tes‐ tete er den Umgang mit anders sozialisierten Personen oder Gruppen. Schlingensiefs visuelle und akustische Konfrontationen mit dem Fremden tragen so zur Wirkung des postdramatischen und transkulturellen Theaters bei. Anmerkungen zu den Abbildungen Abb. 1: ATTA ATTA - Die Kunst ist ausgebrochen (2003, filmgalerie 451) Acht Personen agieren auf einem Campingplatz mit Zelten, künstlichem Rasen und künstlichen Bäumen. Schlingensief trägt einen weißen Umhang, ein Dar‐ steller trägt ein Priesterkostüm. Im Hintergrund sind die Buchstaben CHE zu lesen. An der linken Seite ist ein kleiner Teil des häuslichen Wohnzimmers im Bild. Abb. 2: ATTA ATTA - Die Kunst ist ausgebrochen (2003, filmgalerie 451). In dem Filmstill des Videomitschnitts von Meika Dresenkamp ist im Hintergrund eine schwarz-weiß-Projektion mit Abbildungen von Babuschkas an einem Waren‐ haus mit französischer Schrift zu sehen. Im Vordergrund hängt ein Perserteppich in roten und braunen Farben, davor sitzt ein Mann mit weißem Turban und weißem Umhang. Eine weitere Person läuft durch das Bild. Auf der linken Seite ist das Podest zu sehen, von dem aus Schlingensief Wagner dirigiert hat. 196 Lore Knapp <?page no="197"?> Abb. 3: Via Intolleranza II (2010, Wilfried Hösl). Im Vordergrund tanzt Ahmed Soura aus Burkina Faso voller Kraft und Ausdrucksstärke das Motiv Hunger und verbindet damit ein verbreitetes Bild von Afrika mit der Kraft des zeitgenössi‐ schen Tanzes, der seine eigene Realität auf dem afrikanischen Kontinent besser spiegelt als die hungernden Kinder. Im Hintergrund sitzt die blasse Kerstin Grassmann passiv auf dem Bett der kranken Europäer. Abb. 4: Via Intolleranza II (2010, Wilfried Hösl). Im Zentrum des Bildes steht die afrikanische Laiendarstellerin Isabelle Tassembedo, die mit viel Energie zu ihren Zuhörer_innen spricht, die auf weißen Plastikstühlen sitzen. Bildprojektionen und Live-Performance werden kombiniert. 197 Transkulturalität in Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungen <?page no="199"?> 1 Vgl. Victor Turner, Vom Ritual zu Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt am Main 1989, S. 59. 2 Vgl. Sybille Krämer, „Performance - Aithesis. Überlegungen zu einer aisthetischen Ak‐ zentuierung im Performancekonzept“, in: Arno Böhler, Susanne Granzer (Hgg.), Er‐ eignis Denken. TheatReale - Performanz - Ereignis, Wien 2009, S. 131-155, hier S. 134. 3 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013, S. 20. 4 Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg 2013, S. 16. Jenseits der Freizeitgattungen: Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ Koku G. Nonoa (Universität Innsbruck) Christoph Schlingensiefs künstlerisches Schaffen, das zum Teil Ähnlichkeiten mit ästhetischen Strategien der historischen Avantgarde hat, ordnet sich in ein seit den 1960er Jahren herausgebildetes Kunstverständnis ein: es handelt sich dabei um eine künstlerische Erscheinungsform, die klassische Rezeptionsge‐ wohnheiten überwiegend destabilisiert, anhand derer Freizeitgattungen wie Theater, Tanz, Gesang, Kunst, Schriftstellerei, Komposition im Sinne von Victor Turner 1 wahrgenommen und analysiert werden. Aufgrund der performativen Destabilisierung sowie Dekonstruktion binärer Denkmuster 2 als künstlerisches Verfahren lässt sich zudem beobachten, dass sich tradierte Wahrnehmungska‐ tegorien nicht mehr eignen, um Kunst von Nichtkunst zu unterscheiden. In dieser Hinsicht wird im Kontext postdramatischen Theaters postuliert, dass der Autonomisierung bzw. der Freiheit der Kunst zu verschiedenen Zeiten unter‐ schiedliche Bedeutung beigemessen wird. Insofern wird die nicht mehr eindeu‐ tige Bestimmbarkeit sowie Entscheidbarkeit, ob es sich bei einem inszenierten Ereignis um Kunst handelt oder nicht, geradezu zu einem Kriterium von Kunst. 3 Viele künstlerische Schauplätze der nicht a priori distraktionsorientierten Gegenwartskunst „scheinen nämlich dem Vergleich mit der Kunst der Vergan‐ genheit zu entziehen, weil sie sich […] nicht mehr eindeutig vor den Hintergrund je einer Tradition (der Musik, der Malerei, der Bildhauerei, der Literatur usw.) lesen und beurteilen lassen.“ 4 Folglich ist es in der Auseinandersetzung mit sol‐ <?page no="200"?> 5 Vgl. ebd. 6 Lehmann, S. 7. 7 Ebd. 8 Anton Bierl, „Die griechische Tragödie aus der Perspektive von Prä- und Postdramatik. Die Perser des Aischylos und die Bearbeitung von Müller/ Witzmann“, in: Nikolaus Müller-Schöll, Heiner Goebbels (Hgg.), Heiner Müller Sprechen, Berlin 2009, S. 201-214, hier S. 203. 9 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999, S. 31. chen künstlerischen Entwürfen aufschlussreich, sich von dominanten Wahr‐ nehmungsgewohnheiten und Urteilskriterien zu emanzipieren, die seit dem Äs‐ thetizismus ab dem 19. Jahrhundert von einem modernen Kunstverständnis hervorgegangen sind. Durch ihre unklaren Grenzen zur nicht-ästhetischen Le‐ benswelt bzw. die vielfache Unklarheit darüber, welches Element überhaupt noch zur Inszenierung zu zählen ist und welches nicht, 5 ist Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ ein prägnantes Beispiel postdramatischer Gestaltungsformen. In diesem Zusammenhang untersucht dieser Beitrag anhand der genannten Theateraktion einige Aspekte postdramatischer Dramaturgie der künstleri‐ schen Entgrenzung, der Störpraktiken und -strategien, der Unbestimmtheit/ Unentscheidbarkeit und der transkulturellen Komposition bis zum postdrama‐ tischen Theatersynkretismus. Diesbezüglich geht diese Analyse auch davon aus, dass im postdramatischen Theatersynkretismus, wie es in der Aktion 18, „tötet Politik! “ im Hinblick auf die transkulturelle und störbeladene Dramaturgie zum Ausdruck kommt, platzen eben alle „Elemente, als wir uns die Form des drama‐ tischen Theaters denken können, gleichsam“ 6 auseinander: […] danach liegt uns […] eine Art Photographie […] vor Augen: wir sehen auf dieser dergestalt im Bild angehaltenen Explosion die einzelnen Teile, fixiert in ihrem Aus‐ einanderfliegen. Woraus das Theater sich zusammensetzte (Körper, Gesten, Orga‐ nismen, Raum, Objekte, Architektur, Installationen, Zeit, Rhythmus, Dauer, Wieder‐ holung, Stimme, Sprache, Klang, Musik …) - all dies […] befindet sich im Moment der Aufnahme in unterschiedlicher Entfernung von Zeit-Ort der Explosion, ist in unter‐ schiedliche Richtungen auseinandergejagt, referiert auf seine Herkunft mehr oder weniger deutlich, geht aber zugleich neue fragmentarische Beziehungen ein. Die Ein‐ zelmoleküle verbinden sich untereinander und bilden zugleich Konstellationen mit anderen Elementen, die zuvor im Komplex Theater nicht vorkamen: Fortschritt hin zu einer Fülle von neuen Möglichkeiten, Kreation aus dem Zusammenbruch. 7 Diese Explosionsmetapher vermag u. a. auf theatrale Elemente und Praxen in der griechischen Antike zu verweisen, die sich „mit heutigen Interessen des Postdramatischen“ 8 als das Weiterwirken älterer ästhetischer Strategien 9 über‐ lappen. 200 Koku G. Nonoa <?page no="201"?> 10 N. N., „Schlingensief will Walser-Bücher verbrennen“, http: / / derstandard.at/ 973710/ Schl ingensief-will-Walser-Buecher-verbrennen (10.10.2017). 1. Entgrenzung des theatralen Ereignisschauplatzes Angeregt durch ein wachsendes Interesse für cultural performances und unter‐ stützt vom Paradigmenwechsel ästhetischer Diskurse im Hinblick auf die tra‐ ditionelle Werkkategorie hin zur prozessualen und handlungsorientierten Kunstpraxis erproben Künstler_innen seit den 1960er Jahren abseits instituti‐ oneller Rahmenbedingungen von Kunst andere Kontextualisierungen von Zeit, Raum und Aktion. Der direkte Bezug der Aktion 18, „tötet Politik! “ im Jahr 2002 auf die Zeit sowohl der Bundestagswahlen als auch des Festivals „Theater der Welt“ ist Ausdruck einer besonderen performativen zeiträumlichen Kontextu‐ alisierung: Wie die meisten Festivals ist das Festival „Theater der Welt“ ein kul‐ turell wiederkehrendes Ereignis, das Schlingensief gerade dank des Zusammen‐ fallens mit den Bundestagswahlen eine geeignete Möglichkeit bot, sich mit damals gegenwärtigen, brennenden politischen Fragen szenisch und perfor‐ mativ zu befassen; seine Inszenierung „sei aus aktuellem politischen Anlass zu‐ sätzlich in das Programm [des Festivals] aufgenommen worden.“ 10 Die Aktion 18, „tötet Politik! “ paraphrasiert in inszenierter, performativer und vor allem subversiver Weise die Wahlkampfstrategien der FDP während der deutschen Bundestagswahlen 2002. Zunächst ging Schlingensief von der Idee aus, den FDP-Bundestagwahlkamp durchzuspielen und die Parteimitglieder dabei zum Mitspielen zu ermuntern. Im Zuge der Wahlkampagne ging es der FDP um das „Projekt 18“, das das Erreichen von 18 % der Wähler_innenstimmen zum Ziel hatte und von den Parteirepräsentant_innen wie Guido Westerwelle, Rainer Brüderle und Jürgen Möllemann mit verschiedenen Wahlkampfme‐ thoden propagiert wurde: Westerwelle setzte z. B. auf einen ausgedehnten Spaß‐ wahlkampf, während Möllemann israelfeindliche bzw. antisemitische Äuße‐ rungen und Tiraden gegen prominente Deutsche jüdischen Glaubens verwendete. Darauf antwortete Schlingensief mit der Aktion 18, deren Zusatz tötet Politik! sich auf das Verhindern dieser politisch instrumentalisierenden Vorgehensweise symbolisch bezog. So startete er am 22. Juni 2002 seine sym‐ bolische Deutschlandtour zu Ungunsten der FDP. Die Internetseite www.aktion 18.de wurde eingerichtet und in die Aktion eingebunden, um über tagtägliche Abläufe der Aktion zu informieren und geplante Vorgänge anzukündigen. Auch Mitbürger_innen durften auf dieser Aktionswebseite ihre Meinung hinter‐ lassen. Zusätzlich wurde der Aktionsablauf im Aktionstagebuch dokumentiert und archiviert. Die gesamte Inszenierung sowie ihre Dokumentation erfuhren 201 Jenseits der Freizeitgattungen: Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ <?page no="202"?> auch eine mediale Unterstützung seitens der Informationssowie Kommunika‐ tionsmedien und -technologien: Printpresse, Pressekonferenz, Internet usw. Damit wurde die grenzenlose installationsartige Handlungsfläche der Inszenie‐ rung nicht nur ausgedehnt, zugleich wiesen die Vorgänge einen direkten Bezug zur nichtkünstlerischen Lebenswelt auf. Sie kennzeichneten sich zudem durch Aktivierung und kalkulierten Einbezug von Bevölkerung, Politiker_innen sowie realen staatlichen Institutionen wie etwa der Staatanwaltschaft und der Polizei. Der erste Aktionstag trug den Titel Wut und sollte den Ruck ankündigen, der durch Deutschland im Zuge dieser Aktion gehen würde. In der Duisburger Fuß‐ gängerzone bauten Schlingensief und sein Team einen schmucklosen Stand auf und begannen ihren Wahlkampf: zu sehen waren FDP-Werbematerial und ins‐ besondere Videos mit afrikanischen Ritualen. Allmählich sammelten sich Pas‐ sant_innen. Irgendwann fing Schlingensief an zu brüllen - „Wer uns beschmutzt, den müssen wir verhexen“ -, während er Material für sein geplantes Voodoo-Ri‐ tual in der Achenbachstraße 56 vorbereitete. Es kam beinahe zu einem Straßen‐ kampf, als Jungliberale zum Gegenangriff rüsteten. Schlingensief konnte sie aufhalten. Der nächste Tag stand unter dem Titel Schmutz und erfuhr seinen Höhepunkt im Duisburger Theater. Dort veranstaltete Schlingensief eine Sonderausgabe des QUIZ 3000, eine Adaption der aus der Medienkulturindustrie entlehnen TV-Show Wer wird Millionär. Die adaptierte TV-Show fing wie eine Wahl‐ kampfveranstaltung der FDP mit einem großen Foto von Möllemann am Büh‐ nenrand an. Später wandte sich die Show aber zu Ungunsten der FDP: der „Quizmaster“ Schlingensief stellte seinen „Kandidaten“ FDP-spezifische Fragen, welche die Partei diskreditierten. Dann bohrte er Möllemanns Foto Löcher in die Augen. Daraufhin hielt er das Bild vor sein Gesicht und blickte durch die gebohrten Löcher ins Publikum und fragte, ob sich der Blick veränderte. Wäh‐ renddessen wurde das Licht auf der Bühne allmählich tiefblau und Schlingensief meinte, jetzt Röntgenaugen zu haben, und versuchte, jüdische Mitbürger_innen und jüdische Talkmaster_innen im Saal zu erkennen. Ab diesem Moment war das Publikum verwirrt. Als Höhepunkt der Veranstaltung forderte er die Zuschauer_innen auf, seinen Ausruf „Tötet …“ durch den Namen „Jürgen Möl‐ lemann“ zu ergänzen, was die Veranstaltung zum Ausufern brachte. Das geplante Voodoo-Ritual vor Möllemanns Firma WEB/ TEC in der Achen‐ bachstraße 56 wurde am 24. Juni 2002 durchgeführt. Mit seinem Team begab sich Schlingensief in einem gelben US-Schulbus auf den Weg zur Zielortadresse. Vor ihnen fuhr ein ortskundiger Fahrer den Requisitentransporter. Doch bevor Schlingensief und sein Team die Firma erreichten, gerieten sie in der Düssel‐ dorfer Aschenbachstraße in eine demonstrierende Ansammlung von Menschen, 202 Koku G. Nonoa <?page no="203"?> 11 N.N., „Aktion 18 / Aktion 18 Lesereise - ‚Tötet Politik! ’“, http: / / www.schlingensief.com/ p rojekt.php? id=t038 (10.10.2017). 12 Ebd. die ihre Weiterfahrt erschwerten. Die unerwartete Situation provozierte in Schlingensiefs Gruppe eine Orientierungslosigkeit. Schlingensief verdächtigte Möllemann, seine Aktion verhindern zu wollen: er habe „eine längst todge‐ schwiegene Logik wiederbelebt. Um Wählerstimmen zu bekommen, muss man den Antisemiten geben. Deportationen jetzt! “, 11 so Schlingensief. Er und sein Team stiegen aus und bahnten sich einen Weg durch die Demonstrant_innen. Der Polizeieinsatzleiter ging auf Schlingensief zu, wies ihn auf mögliche Geset‐ zesverstöße hin und kündigte einen Gegenangriff an; jedoch erwiderte Schlin‐ gensief, „sobald das Deutschland Möllemanns beschmutzt werde. Aber genau das ist der Haken, an dem wir gerade zappeln, das ist der Fehler im System! Beschmutzt worden sind doch wir! “ 12 Dann begann er mit seinem Ritual: Ein Klavier wurde aus dem Transporter geholt und in den Eingang der Firma WEB/ TEC gestellt. Ins Klavier wurde Waschpulver gestreut und daraufhin wurden die Töne auf ihre Reinheit hin untersucht. Es ging Schlingensief um ein Ritual der Sauberkeit und der Reinigung, die dieser Ort benötigte. Eine beschmutzte Flagge des Staates Israel und eine anonyme Strohpuppe, welche Altlasten sym‐ bolisieren sollte, mussten entsorgt werden: Die Strohpuppe wurde mit einer Achse des Bösen gleichgesetzt und zusammen mit FDP-Werbematerial in einer Stichflamme entzündet. Polizist_innen mussten löschen. Auch zwanzig Kilo‐ gramm Federn wurden verteilt, 7000 Patronenhülsen und stinkender Fisch in den Garten von Möllemanns Firma geworfen. Das Ende war kaum noch über‐ schaubar. Es folgten Verhaftungen, Aufnahme der Personalien sowie Freilas‐ sung. Währenddessen hielt Möllemann im Düsseldorfer Landtag eine Presse‐ konferenz zu den von Schlingensief im Duisburger Theater inszenierten Vorgängen: Möllemann beschuldigte Schlingensief der Volksverhetzung und der Anstiftung zu einer Straftat. Darüber hinaus stellte er die Finanzierung Schlin‐ gensiefs durch das Auftrag gebende Festival „Theater der Welt“ infrage. An‐ schließend wurde eine von Schlingensief angekündigte und dann symbolisch inszenierte Bücherverbrennung in den Düsseldorfer Rheinauen von einem Po‐ lizeihubschrauber observiert. Daraufhin legte Schlingensief in der Bonner Fuß‐ gängerzone ein Kondolenzbuch zum Tode der FDP aus, beendete die Aktion 18 vorzeitig und behauptete: Es bedurfte nicht des angedachten Aktionszeitraums von sieben Tagen, um die so massiven und fadenscheinigen Reaktionen seitens der Politik […] hervorzurufen. Es 203 Jenseits der Freizeitgattungen: Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ <?page no="204"?> 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 4-5. 15 Vgl. ebd., S. 291-292. sind gerade diese Reaktionen, die uns in der Hoffnung bestärken, dass Kunst im po‐ litischen Raum noch Wirkung erzielen kann. 13 Die Aktion 18, „tötet Politik! “ spielte auf einem theatralen Schauplatz, der im Gegensatz zum dramatischen Theater in der realen Lebenswelt mit ihren öf‐ fentlichen Räumen eingebettet war. Außerdem zeichnete sich die Inszenierung durch kaleidoskopische Eigenschaften aus; in schneller Abfolge wechselten ver‐ schiedene Vorgänge, Akteur_innen und Reaktionen auf unterschiedlichen Schauplätzen: Schlingensief führte sein Voodoo-Ritual vor Möllemanns Firma durch, während Möllemann selbst im Düsseldorfer Landtag eine Pressekonfe‐ renz hielt. Begleitet von ermittelnden Staatsanwält_innen in Berlin, Duisburg und Düsseldorf und unter polizeilicher Überwachung der Bücherverbrennung hielt Schlingensief die reale Öffentlichkeit an verschiedenen Orten in Atem; unvorhersehbar war auch, ob Schlingensiefs Tötungsaufruf in die Realität um‐ gesetzt werden würde. Und ebenso unerwartet wurde die Inszenierung vorzeitig beendet. Diese kaleidoskopischen Eigenschaften sind Indizien für eine Verschiebung im traditionellen Verständnis der performativen Künste, 14 die als typisch post‐ dramatische Kompositionsdispositive zu sehen sind und verstärkt die Aufmerk‐ samkeit auf den ästhetischen Prozess im realen Leben lenken. In dieser Insze‐ nierung steht der postdramatische Raum nicht im Dienst des dramatischen Theaterverständnisses und einer politisierenden Aktualisierung. Vielmehr ten‐ diert das Theaterereignis wesentlich zur bildräumlichen Erfahrung 15 im Verlauf des Alltagslebens. Der räumliche Schauplatz wird zu einer unbegrenzten und offenen Spielfläche ohne fixierte Rahmung oder Ausgrenzung der nichtkünst‐ lerischen Außenwelt. Im Gegenteil macht Schlingensief den Raum seiner Insze‐ nierung zu einem Schmelztiegel künstlerischer und alltäglicher sowie politi‐ scher Szenen, die miteinander interferieren bzw. ineinander intervenieren und somit weitere unvorhersehbare Rückkopplungen anstoßen, und zwar in unter‐ schiedlichen öffentlichen Räumen. Dabei schaffen auch die beteiligten Medien, die aufgrund ihrer aktiven Omnipräsenz ein konstitutiver Bestandteil dieser In‐ szenierung sind, ein szenisch-dynamisches und zeitraumübergreifendes Thea‐ tergebilde in der realen Lebenswelt. Die zeitraumübergreifende Montage wird dank dieser eingebundenen Medien zusammengehalten, ob während der Pres‐ sekonferenz im Landtag, der Berichterstattungen im Verlauf des Voodoo-Rituals 204 Koku G. Nonoa <?page no="205"?> 16 Vgl. ebd., S. 299 und S. 302. 17 Ebd., S. 303. 18 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 62. vor Möllemanns Firma, durch die Ermittlungen der Staatanwält_innen an ver‐ schiedenen Orten oder die polizeiliche Beobachtung der Bücherverbrennung. Die theatrale Kontextualisierung dieser Inszenierung gründet, wie dies für die postdramatische Ästhetik charakteristisch ist, auf der Herstellung und Nut‐ zung von Bild- und Aktionsräumen auf öffentlichen Plätzen und in der realen Echtzeit. Somit werden sowohl Räume als auch Perspektiven bzw. Reaktionen der Betrachtenden miteinbezogen, sodass eine kontemplative Distanz unmög‐ lich gemacht wird. 16 Auf diese Art und Weise gelingt es Schlingensief, das Leben in seine Inszenierungen performativ einbrechen zu lassen, und zwar als Chance, um den ausgedehnten theatralen Schauplatz in einen Ort der performativ-re‐ flektierenden Befragung soziokultureller, historischer, religiöser und politischer Gegebenheiten umzuwandeln. Die „räumliche Gegebenheit wird dabei zu einer Thematisierung der Kommunikation (nicht nur) beim Theatervorgang genutzt. Theater behauptet sich als Ausnahmesituation als Distanznahme vom Alltägli‐ chen.“ 17 Aus dieser Leseart ist Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ - wie seine „Container-Aktion“ Bitte liebt Österreich! 2000 in Wien - als einzigartige Aus‐ nahmesituation aufzufassen, der ein Ereignischarakter inhärent ist. Die Akti‐ vierung des Publikums im öffentlichen Raum durch die Strategie einer feed‐ back-Schleife, die einen Rollenwechsel mit realen Pro- und Kontra-Gruppen ermöglicht, betont den theatralen Ereignischarakter. [Diese Strategien] zielen immer wieder auf drei eng aufeinander bezogene Faktoren: (1) auf den Rollenwechsel zwischen Akteuren und Zuschauern, (2) auf die Bildung einer Gemeinschaft zwischen diesen und (3) auf verschiedene Modi der wechselsei‐ tigen Berührung […]. So mannigfaltig die Strategien - innerhalb einer Inszenierung […] - auch sein mögen, sie haben eines gemeinsam: Sie sollen nicht nur - wenn über‐ haupt - Rollenwechsel, Bildung und Zerfall von Gemeinschaften, Nähe und Distanz darstellen und bedeuten. Sie bewerkstelligen vielmehr, dass Rollenwechsel tatsächlich vollzogen werden, Gemeinschaften sich bilden und wieder zerfallen, Nähe oder Dis‐ tanz hergestellt wird. Dem Zuschauer werden Rollenwechsel, Gemeinschaftsbildung und Zerfall, Nähe oder Distanz nicht lediglich vorgeführt, sondern er erfährt sie als Teilnehmer der Aufführung am eignen Leib. 18 Insbesondere durch Schlingensiefs feedback-Schleife-Strategie postdramati‐ scher Dramaturgie finden Rollenwechsel, Gemeinschaftsbildung und Zerfall, Nähe und Distanz im Verlauf derselben Inszenierung teils gleichzeitig und pa‐ rallel (Möllemanns Pressekonferenz im Landtag und Schlingensiefs Voodoo-Ri‐ 205 Jenseits der Freizeitgattungen: Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ <?page no="206"?> 19 Vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Luther Blissett, Sonja Brünzels (Hgg.), Handbuch der Kommunikationsguerilla, Berlin 2012, S. 5. 20 Vgl. ebd., S. 10. tual vor Möllemanns Firma), teils im Wechsel (Schlingensief zieht sich zurück, während Polizei und Staatanwaltschaft ermitteln) ohne Regiebzw. Inszenie‐ rungsanweisungen statt. Alle involvierten Protagonist_innen werden automa‐ tisch zu Ko-Autor_innen der Aktion 18, „tötet Politik! “: Dabei beruht Schlingen‐ siefs feedback-Schleife, die alle zu Akteur_innen macht und in den Produktionsprozess dieser Inszenierung aktiv einbindet, größtenteils auf künst‐ lerischen Störstrategien. 2. Schlingensiefs störbeladene Feedback-Schleife-Strategie Schlingensiefs Störstrategie besteht aus einer Kombination von Strategien und Praxen von Fluxus, Happening-, Aktions-, Installationssowie Performance‐ künsten. Hinzukommen viele Elemente der Kommunikationsguerilla und des Guerilla-Theaters. Der Strategie sowie der Praxis der Kommunikationsguerilla wohnt z. B. ein sozialkritischer sowie politischer Anspruch inne. Mit der Me‐ thode und Praxis der Kommunikationsguerilla wird beabsichtigt, andere Formen der politischen Auseinandersetzung zu schaffen. Dabei handelt es sich um Formen subversiver politischer Aktionen. 19 Die Kommunikationsguerilla lässt sich demnach als eine ästhetische Form politischer Interventionen auffassen, die zum Ziel haben, bestehende soziokulturelle, ökonomische politische sowie ideo‐ logische Ordnungen der Machtverhältnisse zu erschüttern bzw. zu verändern. Anhand gezielter Interventionen in Kommunikationsprozessen reißt die Kom‐ munikationsguerilla Begriffe, Worte, ganze Sätze, problematische ideologische sowie politische Standpunkte etc. aus ihrem gewohnten Sinnzusammenhang und stellt damit neue unkonventionelle kommunikative Assoziationen her. Da‐ durch werden auf subversive Weise bestehende Normen sowie Situationen, die meist als ordnungsgemäß unveränderbar betrachtet werden, in Abrede gestellt. Wie die Protagonist_innen der Kommunikationsguerilla macht sich Schlingen‐ sief die Strukturen der Macht zunutze, indem er Kommunikationszeichen und -codes dekontextualisiert und verfremdet. 20 Seinen szenisch-performativen Pa‐ raphrasen der FDP-Wahlkampagne liegt die subversive Methode der Kommu‐ nikationsguerilla zugrunde: der Aufbau des Wahlkampfstands in der Duisburger Fußgängerzone mit FDP-Werbematerial, die adaptierte TV-Show als Sonder‐ ausgabe des QUIZ 3000 im Duisburger Theater zu Beginn als Wahlkampfveran‐ staltung der FDP, die Durchführung des Voodoo-Rituals, der Tötungsaufruf, um nur diese Beispiele zu erwähnen. 206 Koku G. Nonoa <?page no="207"?> 21 Vier Strömungen dieses Theateransatzes sind zu unterscheiden: „Agitprop“ (El Teatro Campesino, S. F. Mime Troupe), „Theatre of the Yippies“, „Liberal Guerillas“ (Estrin, Schechner) und „Radical and Hit-and-Run Agitproppers“ (vgl. Martin Maria Kohtes, Guerilla Theater. Theorie und Praxis des politischen Straßentheaters in den USA (1965-1970), Tübingen 1990, S. 53.) 22 Vgl. ebd., S. 220-222. 23 Vgl. ebd., S. 223. 24 Richard Schechner, „Guerrilla Theatre: May 1970“, in: The Drama Review: TDR 3/ 1970, S. 163-168, hier S. 163. In diesem Zusammenhang ist auch ein kurzer Einblick in die Praxis des Guerilla-Theaters aufschlussreich. Anfänge und Formen des Guerilla-Theaters lassen sich bis in die 1920er und 1960er Jahre zurückverfolgen. Das Guerilla- Theater ging sowohl vom deutschen Arbeitertheater als auch dem russischen Straßentheater hervor. 1925 gründeten deutsche Immigrant_innen in New York mit ihrer „Prolet-Bühne“ die erste Agitproptruppe in den USA. Es entstanden viele Theatergruppen, die sich kollektiv organisierten und es vermieden, mit‐ einander zu konkurrieren. Ihre devianten Theaterentwürfe waren vielmehr ein Mittel, um sich zu solidarisieren und in erster Linie ihre politische Wirkung zu steigern. Diese devianten Theaterformulierungen entwickelten sich zum Teil zum Guerilla-Theater. Der Begriff Guerilla-Theater 21 taucht erst gegen Mitte der 1960er Jahre mit dem Aufsatz „Guerrilla Theatre“ von Ronny Davis auf. Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre entstanden Guerilla-Theater-Ensembles, die sich bis 1970 al‐ lerdings wieder auflösten. 22 Allgemein betrachtet hat das Guerilla-Theater die Wirkungsmöglichkeiten des politischen Theaters bereichert. Während z. B. das Agitproptheater und das unsichtbare Theater der Zwischenkriegszeit Beleh‐ rung, Solidarisierung sowie Mobilisierung des Publikums als eine vordringliche Aufgabe betrachteten, fokussierte sich das Guerilla-Theater zusätzlich auf menschliche Empfindungsfähigkeiten und Emotionen. Es zielte darauf ab, so‐ wohl das Denken als auch das Fühlen des Publikums zu aktivieren und zu ver‐ ändern. 23 Für Richard Schechner war das Guerilla-Theater eine symbolische Aktion. „It is called ‚guerrilla‘ because some of its structures have been adapted from guerrilla warefare-simplicity of tactics, mobility, small bands, pressure at the points of greatest weakness, surprise. […] One of the basics of guerrilla theatre is that you use what is at hand.“ 24 Im Guerilla-Theater geht es vor allem darum, mit einer Art blitzartiger Intervention die Zuschauer_innen dazu anzuregen, jene Umstände zu begreifen, unter denen sie leben. Im Sinne von Schechner soll die theatrale Intervention den Nerv einer soziokulturellen und politischen Si‐ 207 Jenseits der Freizeitgattungen: Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ <?page no="208"?> 25 Vgl. ebd. 26 Ebd., S. 167. 27 Lars Koch, „Christoph Schlingensiefs Bilderstörungsmachine“, in: Zeitschrift für Lite‐ raturwissenschaft und Linguistik 173 (2014), S. 116-135, hier S. 119-121. tuation treffen. 25 Grundmerkmale eines Guerilla-Theaters skizziert Schechner wie folgt: „Guerrilla theatre scenarios should be […] simple and direct, […] clear and visual, […] striking and theatrical - that is, even if people can’t see or hear everything they should know what it’s about, […] meaningful to you - some‐ thing you believe in.“ 26 Fasst man demnach noch einmal die inhaltliche und zeiträumliche Kontextualisierung der Aktion 18, „tötet Politik! “ ins Auge, so fallen unzählige Parallelen mit den erwähnten Grundzügen des Guerilla-Thea‐ ters auf. Für seine Feedback-Schleife-Strategie eignet sich Schlingensief künst‐ lerische Elemente der Kommunikationsguerilla sowie des Guerilla-Theaters an. Im folgenden Teil wird Schlingensiefs Schaffung eines ästhetischen Störpoten‐ tials als Inszenierungsprinzip unter dem Blickwickel der Merkmale des Guerilla-Theaters und der Kommunikationsguerilla genauer veranschaulicht. 3. Schaffung ästhetischen Störpotentials als Inszenierungsprinzip In seinem Aufsatz „Christoph Schlingensiefs Bilderstörungsmachine“ arbeitet Lars Koch drei Schlingensief ’sche Störfaktoren heraus, die in Zusammenhang dieser Arbeit wiederum als wirkungsästhetische Strategien gelten: Um eine Thematisierung der normalerweise unbeobachtet bleibenden Konstitutions‐ bedingungen von kollektiv geteilten Normalitätsvorstellungen zu erreichen, arbeitet Schlingensief erstens mit Techniken kognitiver Dissonanz: Er baut in seine szenischen Texte und Performances immer wieder Störungen oder Unverständlichkeiten ein, die als diskursive Aporien das Prinzip der Repräsentation selbst beobachtbar werden lassen. […] Eine zweite wichtige Störungsstrategie, die die kognitive Irritation ergänzt, resultiert aus der impliziten oder expliziten Thematisierung der Kopräsenz von Ak‐ teuren und Zuschauern. […] Ein dritter Aspekt […] ist der wiederkehrende Einsatz von Laiendarstellern, zum Teil mit körperlichen und/ oder geistigen Behinderungen. In ihrer vermeintlichen Andersartigkeit irritieren diese Akteure gesellschaftlich gän‐ gige Sehgewohnheiten und legen mit ihrer physischen Präsenz und habituellen Un‐ angepasstheit die latent vorhandenen, aber vom Selbstbild einer offenen, demokrati‐ schen Gesellschaft verdeckten, sozialen Ausgrenzungsmechanismen offen. 27 Diese wirkungsästhetischen Strategien sind ein untrennbarer Bestandteil Schlingsiefs künstlerischen und ästhetischen Arbeitsstils. Sie variieren und durchziehen fast seine ganze künstlerische Laufbahn, gehen mit einem Störpo‐ 208 Koku G. Nonoa <?page no="209"?> 28 Vgl. Umberto Eco, „Für eine semiologische Guerilla“, in: ders., Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, München 1988, S. 146-156, hier S. 148-153; autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Blissett, Brünzels, S. 178. 29 Vgl. Eco, S. 149. 30 Vgl. ebd., S. 152. tential Hand in Hand, polarisieren und rufen somit immer wieder kontroverse Reaktionen hervor. Zunächst sucht sich Schlingensief ein tabuisiertes Thema mit aktuellen Bezügen aus. In der Folge lässt er sich nicht von bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen von Kunst beschränken: Was Kunst über‐ haupt kann bzw. nicht darf, spielt für Schlingensief nur noch eine zweitrangige Rolle. Viel wichtiger ist ihm, was er künstlerisch und ästhetisch bewegen soll und kann. Wie es für die Kommunikationsguerilla und das Guerilla-Theater kennzeichnend ist, determinieren aber vielmehr historische, soziokulturelle und politische Sachlagen Schlingensiefs Inszenierungs- und Aktionstaktik. In seiner Aktion 18, „tötet Politik! “ weisen z. B. dekontextualsierte und verfremdete semio‐ logische Kommunikationszeichen sowie -codes eine ständige Bedeutungsvari‐ abilität auf. Für die Erläuterung dieser Bedeutungsvariabilität sind Umberto Ecos Ausle‐ gungen in seinem 1967 veröffentlichen Essay Für eine semiologische Guerilla erleuchtend. In diesem Essay geht Eco vom gemeinsamen Code einer Kommu‐ nikationssituation aus und fokussiert auf eine Quelle und eine_n Empfänger_in einer Botschaft. Es geht darum, herauszufinden, wie eine vermittelte Botschaft in einer Kommunikationssituation im Sinne der Quelle bei einem_r Rezipienten_in verstanden wird. 28 Diesbezüglich dient der semiologische Code zur Interpretation einer etwaigen Botschaft. Außerdem sind das Verstehen und Interpretieren von Botschaften stark von der kulturellen Semantik des ent‐ sprechenden kulturellen Umfelds und dem Kontext, den Emotionen sowie In‐ teressen der jeweiligen Rezipienten_innen abhängig. So bleibt dem_r Empfänger_in ein freier Spielraum übrig, um eine empfangene Botschaft anders zu verstehen. 29 Die Interpretationsvariabilität ist z. B. in der Massenkommuni‐ kation gängig und gegensätzlich zugleich. Demnach sei die Welt der Massen‐ kommunikation Eco zufolge voller solcher gegensätzlicher Interpretationen und zugleich das Grundgesetz der Massenkommunikation: Botschaften entspringen einer zentralen Quelle und treffen auf verschiedene soziale Situationen mit sehr verschiedenen Codes. 30 In den verschiedenen variablen Lesearten derselben Botschaft sieht Eco aber auch eine Gelegenheit, Systeme einer ergänzenden Kommunikation zu ersinnen: eine Kommunikation, die Menschen erlaube, jede einzelne Menschengruppe, jedes einzelne Mitglied dieses weltweiten Publikums zu erreichen, um mit ihm über die Botschaft im Augenblick ihrer Ankunft zu 209 Jenseits der Freizeitgattungen: Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ <?page no="210"?> 31 Vgl. ebd., S. 154. 32 Vgl. Rebentisch, S. 75. diskutieren, im Licht einer Konfrontation der Empfängercodes mit denen des_r Senders_in. 31 Unter diesem Blickwinkel kann die mit Störpotential beladene Aktion 18, „tötet Politik! “ betrachtet werden. Als zwei Beispiele seien hier die Verbrennungsaktion der Strohpuppe und die Problematik des Aufrufs „Tötet Möllemann“ im folgenden Teil einzuführen. 4. Unbestimmtheit/ Unentscheidbarkeit: Zur Problematik des Tötungsaufrufs Dass eine Theatersituation in vielen postdramatischen Inszenierungen - um Julianne Rebentischs Worte zu wiederholen - ihre eigene materielle Realität mit vorzeige, taucht nun auch für den_ie Betrachter_in die Möglichkeit auf, direkt ins Geschehen zu intervenieren; folglich werde Rebentisch zufolge eine gewisse Unentscheidbarkeit zwischen Inszeniertem und Realem erzeugt. 32 Die von Schlingensief inszenierten Handlungen im realen Leben sind dadurch gekenn‐ zeichnet, dass nicht nur gedankliche Gehalte seiner Inszenierung eine beträcht‐ liche Bedeutungsvariabilität und somit Unbestimmbarkeit hervorrufen. In diesem Zusammenhang erinnern auch die Verbrennungsmotivationen der Strohpuppe an den Faschingsbrauch in einigen deutschsprachigen Regionen (u. a. im Rheinland): Am Aschermittwoch wird die Fastenzeit und somit auch das Ende des Karnevals angekündigt. Gemäss dem Faschingsbrauch wird dabei eine Strohpuppe als Verantwortlicher für alle Laster und Vergehen während der Karnevalstage angezündet und verbrannt. Dass aber Polizist_innen u. a. viel‐ leicht aus Sicherheitsgründen die Flamme der entzündeten Strohpuppe sowie des FDP-Werbematerials löschen, taucht auch die Frage danach implizit auf, ob sie dadurch die „Achse des Bösen“ schützen. Zugleich ermöglicht und verstärkt die postdramatische Gestaltungsform die Unentscheidbarkeit einer eindeutigen Zuordnung dieses typisch Schlingensief ’schen zwischen Kunst und Nichtkunst oszillierenden Inszenierungsstils. Vor der Herausforderung der Unbestimmtheit und Unentscheidbarkeit stehen nun Polizei und Staatsanwaltschaft, die stets darauf achten, dass demokratische Prinzipien sowie Kunstfreiheit nicht miss‐ braucht und/ oder übertreten werden. Als staatliche Akteur_innen sind sie ge‐ rade genauso wie die übrigen Zuschauer_innen bzw. politischen Protagonist_in‐ nen dieser Inszenierung vor den äußersten Horizont der Verantwortung gestellt worden, die ihnen diese theatrale Ausnahmesituation zumutet. Performances, die es den Betrachter_innen überlassen, zu entscheiden, wann die Situation kein 210 Koku G. Nonoa <?page no="211"?> 33 Vgl. ebd. 34 N. N., „Reaktionen auf Schlingensief. Möllemann tobt, Staatsanwälte ermitteln“, www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ reaktionen-auf-schlingensief-moellemann-tobt-staats anwaelte-ermitteln-a-202551.html (10.9.2017). 35 Vgl. ebd. 36 Ebd. Spiel mehr ist und abgebrochen werden muss, werden in dramatisierende Rich‐ tungen gelenkt. 33 Erhellend diesbezüglich sind die Reaktion von Möllemann sowie die Aktionen der ermittelnden Polizei und der Staatsanwaltschaft, die Schlingensiefs Inszenierung auf einen spannungsvollen Kurs voller Unvorher‐ sehbarkeiten verleiteten. Der Skandal der Aktion 18, „tötet Politik! “ beginnt mit dem Aufruf „tötet Möl‐ lemann“, der Möllemann wie ein Schuss trifft und viele andere in Bewegung bringt: Mit seiner „Aktion 18“ hat es Christoph Schlingensief tatsächlich geschafft, Jürgen Möllemann aus der Reserve zu locken und auf die Palme zu bringen. Der FDP-Politiker fühlt sich in seinen Rechten verletzt und fordert ein Verfahren gegen den Theater-Pro‐ vokateur. Während die Staatsanwaltschaft bereits wegen Volksverhetzung ermittelt, versteckt sich der Theatermann kleinlaut hinter der Kunst. 34 Aus der Perspektive des Senders, Schlingensief in diesem Fall, sei aber beim Aufruf „tötet Möllemann“ etwas gehört worden, was gar nicht da gewesen sei. 35 Dennoch sieht sich Schlingensief nun mit der Rückwirkung seines Tötungsauf‐ rufs konfrontiert und macht die Kunst rasch zu seinem Alibi, um eine eventuelle Strafe gemäß dem Gesetz zu umgehen: „Was ich auf der Bühne mache, steht im Kunstkontext“, 36 behauptet er. Abgesehen von seinem Tötungsaufruf, der im Sinne eines Sprechers Möllemanns einem Offizialdelikt und nicht Bagatellen gleiche und automatisch von der Staatsanwaltschaft verfolgt werden sollte, wurde Schlingensief nicht nur der Volksverhetzung verdächtigt. Zusätzlich er‐ klärte Möllemanns Sprecher z. B. dem ermittelnden Düsseldorfer Staatsanwalt, Johannes Mocken, dass sich auch beim Internet- Auftritt der Webseite www.aktion18.de der Anfangsverdacht auf Verwendung von Kennzeichen ver‐ fassungswidriger Organe erhärtet habe. Außerdem sollte Schlingensief auf der‐ selben Internetseite u. a. die Aufforderung „werden Sie Selbstmordattentäter“ verbreitet haben, die laut Mocken eine absolute Unverschämtheit sei. Darüber hinaus habe Schlingensief in einer symbolischen Aktion dazu aufgefordert, bei FDP-Veranstaltungen als Selbstmordattentäter aufzutreten. Den entsprech‐ enden Link habe er inzwischen gelöscht und durch den Vermerk „zensiert“ er‐ 211 Jenseits der Freizeitgattungen: Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ <?page no="212"?> 37 Vgl. N. N., „Berliner Volksbühne: Möllemann-Angriff auf die Freiheit der Kunst“, www.aktion18.de/ presse.htm (12.9.2017). 38 Vgl. N. N., „‚Tötet Möllemann! ‘ Strafverfahren gegen Schlingensief nach Anti-Mölle‐ mann-Aktion. Theaterprovokateur Schlingensief bekommt Ärger“, www.boa-muenchen .org/ boa-kuenstlerkooperative/ n0206260.htm (27.9.2017). 39 Vgl. N. N., „Berliner Volksbühne: Möllemann-Angriff auf die Freiheit der Kunst“, www.aktion18.de/ presse.htm (27.9.2017). 40 Ebd. 41 N. N., „‚Tötet Möllemann! ‘ Strafverfahren gegen Schlingensief nach Anti-Mölle‐ mann-Aktion. Theaterprovokateur Schlingensief bekommt Ärger“. 42 Vgl. N. N., „Reaktionen auf Schlingensief. Möllemann tobt, Staatsanwälte ermitteln“. setzt. 37 Auf der Homepage wären aber auch antisemitische Plakate und Musik aus der NS-Zeit vorhanden. 38 Doch aufgrund des Serverstandorts der Website und Schlingensiefs Wohnort Berlin sei die dortige Staatsanwaltschaft zu‐ ständig. 39 Auch in Duisburg, wo er auf einem Foto Möllemanns herumgetram‐ pelt, diesem mit einer Bohrmaschine zugesetzt und „Tötet Möllemann“ gerufen habe, seien Vorermittlungen wegen des Verdachts möglicher Straftaten einge‐ leitet worden. Die dortige Polizei sei gebeten worden, ihre Erkenntnisse über den Schlingensief ’schen Theaterabend mitzuteilen. Damit erhoffte Möllemann, dass Schlingensief, der ihm zufolge „die verfassungsrechtliche Grenze der Kunstfreiheit weit überschritten“ 40 habe, belangt werde: Möllemann wertete [den] Aufruf Schlingensiefs im Duisburger Theater, den FDP-Po‐ litiker zu töten, als öffentliche Aufforderung zu Straftaten gemäß Paragraf 111 des Strafgesetzbuches. Er erwarte, dass die Staatsanwaltschaft sich auf Grund dieses Of‐ fizialdelikts mit der „ungeheuren Entgleisung“ des Theatermannes befasse. […] Im‐ merhin sei der selbst ernannte Kalif von Köln, Methin Kaplan, wegen Aufrufs zum Mord zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Man könne über den „schwerwiegenden und gefährlichen Aufruf “ Schlingensiefs nicht einfach hinweggehen. „Unser demo‐ kratisches System duldet solche Aufforderungen nicht“, sagte Möllemann. Auf die Frage, ob er sich bedroht fühle, antwortete Möllemann: „Ich fühle mich in meinen Rechten verletzt. Was daraus wird, wird sich zeigen.“ 41 Schlingensief weist aber alle Vorwürfe und Verdächtigungen zurück: Sein Web‐ auftritt sei keine Volksverhetzung. Er wendet ein, dass alle Teile der Website aus anderen Seiten zusammengestellt worden seien; er erinnert und betont, dass die jeweiligen Originale von den Staatsanwaltschaften bislang nicht verfolgt worden seien; 42 außerdem hält er sich an seinen Kunstprätext, und inszeniert dadurch das unauflösbare Verhältnis von Kunst und Leben erneut. Indes wird Möllemann selbst aufgrund der Unbestimmbarkeit von Schlingensiefs Insze‐ nierung ein Angriff auf die Kunstfreiheit vorgeworfen: 212 Koku G. Nonoa <?page no="213"?> 43 N. N., „Berliner Volksbühne: Möllemann-Angriff auf die Freiheit der Kunst“. 44 N. N., „Reaktionen auf Schlingensief. Möllemann tobt, Staatsanwälte ermitteln“. 45 Vgl. Rebentisch, S. 76-77. Die von Frank Castorf geleitete Berliner Volksbühne hat dem stellvertretenden FDP-Bundesvorsitzenden Jürgen Möllemann einen Angriff auf die Freiheit der Kunst vorgeworfen. Mit seinen Attacken und Klageandrohungen gegen die jüngste Thea‐ terprovokation des an der Volksbühne beheimateten Regisseurs Christoph Schlin‐ gensief beim Festival „Theater der Welt“ in Bonn, Köln, Düsseldorf und Duisburg ver‐ suche Möllemann, ein experimentelles Theaterstück, das bereits vor Monaten seine Erstaufführung gehabt habe, und ein Happening zu kriminalisieren, heißt es in einer Presseerklärung […]. 43 Am Ende kommt Schlingensief ungestraft davon, denn es „lägen […] keine ver‐ folgbaren Straftaten wegen Beleidigung oder Verunglimpfung vor“, 44 so der Staatsanwalt Mocken. Wie gesehen sind Schlingensiefs Äußerungen („tötet Möllemann“, „werden Sie Selbstmordattentäter“, und als „Selbstmordattentäter bei FDP-Veranstal‐ tungen aufzutreten“) einer Fülle dramatisierender variabler Interpretationen und Assoziationen unterzogen worden, die zahlreiche Reaktionen ausgelöst haben. Die klassische geschlossene Bühne des dramatischen Theaters als ein von der Lebenspraxis abgehobener Theaterschauplatz ist nicht nur für Schlin‐ gensief überwunden worden. Zugleich fühlen sich viele gesellschaftliche Ak‐ teur_innen auf diesem in das Realleben verlagerten Theaterschauplatz ange‐ sichts des Gedankens und der Erinnerung an tragische Erfahrungen von Terroranschlägen und Amokläufen real ausgesetzt. Nach dem Modell des Guerilla-Theaters und der Kommunikationsguerilla rufen Schlingensiefs Insze‐ nierungen somit menschliche Empfindungen und Emotionen hervor. Die Pointe der Aktion 18, „tötet Politik! “ lässt sich gerade aus der Unbehag‐ lichkeit dieser aktionsorientierten theatralen Ausnahmesituation heraus ver‐ stehen. In einer solchen Situation wird die Sicherheit der Beobachter_innenpo‐ sition in dem Masse infrage gestellt, da die Grenze zwischen Ästhetischem und Nicht-Ästhetischem, Kunst und Nichtkunst, Fiktion und Realität zum Gegen‐ stand eines zweifelsohne ernsten ästhetischen Spiels wird. 45 In Anbetracht der fast permanenten und omnipräsenten Ängste und Befürchtungen vor tödlichen bzw. tragischen Erfahrungen seit dem 11. September 2001 und der seitdem zu‐ nehmenden Terrorattacken können Äußerungen wie „werden Sie Selbstmord‐ attentäter“ und „tötet Möllemann“ kaum als harmlos gelten. Allein das Wort „Selbstmordattentäter“ zwingt aus heutiger Perspektive zu emotionalen Re‐ aktionen und unzähligen Assoziationen mit jüngsten Terroranschlägen nicht 213 Jenseits der Freizeitgattungen: Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ <?page no="214"?> 46 Ebd., S. 154. 47 Vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Blissett, Brünzels, S. 8. 48 Vgl. ebd., S. 181. 49 Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 250. 50 Peter Kuemmel, „Selber Gott werden! “, in: Die Zeit 40 (2002), http: / / www.zeit.de/ 2002/ 40 / Selber_Gott_werden (27.01.2016). nur außerhalb Europas, sondern auch in vielen europäischen Städten. Doch subvertiert Schlingensief die Bedeutungsfunktion der Assoziationen seiner de‐ vianten Äußerungen, die Bilder und Erinnerung an Aktionen der Selbstmord‐ attentäter_innen hervorrufen. Diese Art der gefährlichen Subversion verfolgt jedoch eine ästhetische In‐ tention, die „die Möglichkeit aufscheinen“ lassen soll, „dass die Bilder [oder die Äußerungen] keine Namen irgendeiner bestimmten Bedeutungsrelation erfol‐ genden Antworten auf die Frage ihrer eigenen Existenz bereitstellen. Die künst‐ lerischen Operationen [diesbezüglich] zielen offenbar auf den Effekt das (allzu) Bestimmte unbestimmt zu machen.“ 46 Jede Botschaft, jede künstlerische sowie ästhetische Aktion unterliegt vielen variablen Interpretationsmöglichkeiten, Projektionen sowie Assoziationen. In diesem Sinn geht es Schlingensief in seinen Inszenierungen nach dem Vorbild der Kommunikationsguerilla darum, einen Wissens- und Aktionsvorsprung in Gang zu setzen, damit Bürger_innen in einer Demokratie nicht nur mit eindimensionalen Aussagen konfrontiert werden. Widersprüche, Zusammenhänge, Korrespondenzen und Erfahrungen im eigenen Leben werden dabei aufgegriffen, um zum Weiterdenken und -han‐ deln zu bewegen. 47 Ziel ist es, Rezipient_innen durch veränderte und umge‐ drehte oder abweichende Kommunikationssituationen bzw. -perspektiven zum kritischen Denken und Hinterfragen zu ermächtigen. 48 5. Zum postdramatischen Theatersynkretismus Mit seiner ästhetischen Aneignung eines westafrikanischen Voodoo-Rituals für seine Aktion 18, „tötet Politik! “ hat Schlingensief bewiesen, wie Theater in An‐ lehnung an das Modell ritueller Vorgänge eine Variation von Wirksamkeit zum Ziel haben und mehr als Unterhaltung sein kann. 49 Es gilt aber zu betonen, dass es keineswegs Schlingensiefs Absicht ist, ein afrikanisches Ritual in Europa ste‐ reotypisierend zu reproduzieren. Der Künstler geht „seinen eigenen Voo‐ doo-Weg zur Abschaffung des Todes. […] ‚Der Christ‘, so Schlingensief, ‚geht in die Kirche, um Gott zu treffen. Der Voodoo-Mann will selbst Gott werden.‘“ 50 Dass Schlingensief der Meinung ist, ein Voodoo-Mann wolle selbst Gott werden, 214 Koku G. Nonoa <?page no="215"?> 51 Henning Christoph in einem Interview mit Thomas Knoefel: „Voodoo in Benin: Die afri‐ kanische Pistole, der Juju-Mann und die untoten Toten“, in: Lettre - Europas Kulturzeitung (2016), https: / / www.lettre.de/ beitrag/ christoph-henning_voodoo-benin (27.8.2017). ist eine Umdeutung zwecks der wirkungsästhetischen Funktion seiner politi‐ schen Inszenierung und Protestaktion. In einem Interview von Lettre - Europas Kulturzeitung bringt Henning Chris‐ toph im Herbst 2016 den Ursprung und die soziale, spirituelle, schützende und therapeutische Funktion der westafrikanischen Voodoo-Religion bündig auf den Punkt: Das Wort „Voodoo“ wird oft mißverstanden und mißbraucht: Es kommt aus der Sprache der Fon, der Hauptethnie in Benin, und bedeutet einfach nur Gott. Es gibt den einen Schöpfergott im Voodoo - Sonne und Mond -, aber er ist viel zu fern, zu weit weg: Ich kann nicht unmittelbar mit ihm kommunizieren. Er hat auch nicht Zeit für unsere Probleme, hier auf der Welt. Aber der Schöpfergott besitzt […] Kinder; das sind Himmels-, Erd- und Wasser-Gottheiten, und mit denen arbeitet man. […] Für die Portugiesen war Voodoo schon immer ein Teufelsglaube; der Gott Legba, mit einem riesigen Phallus und zwei Hörnern, symbolisierte das christliche Bild des Teufels, des großen Verderbers, und mußte bekämpft, zerstört werden. […] Hollywood hat dieses spooky Image dann weiter bedient. […] Im Grunde aber ist Voodoo ein Heil- und Schutzsystem [und] nur der geringste Teil betreibt eine „Schadensmagie“, die nur angewendet werden darf, wenn sie gerechtfertigt ist und das Orakel zustimmt. Ist sie aber notwendig, um eine Ordnung wiederherzustellen, dann ist diese Magie, sagt man, auch nicht „böse“. Jemand der heilt, wird niemals Menschen Schaden zufügen - beides ist im Voodoo streng getrennt! Schadensmagier, die Azetos […] müssen sehr vorsichtig und sicher sein, daß ihre Arbeit vom Orakel bestätigt wird, sonst fallen die Rituale auf sie selbst zurück. 51 Die beschriebenen bzw. die Ordnung wiederherstellenden Eigenschaften des Voodoo kannte Schlingensief. Mit seinem eigenen Voodoo-Konzept wollte er auf eine ästhetische sowie symbolische Art und Weise die Politik reinigen und das Böse abwehren. Solche wirkungsästhetischen sowie transformativen Intentio‐ nen lagen Schlingensiefs Rückgriff auf das Voodoo-Ritual zugrunde. Außerdem hielt er nach dem rituellen Vorbild der Grenzüberschreitungen alle Beteiligten seiner Inszenierung in der Schwebe, im Dazwischen von Künstlerischem und Alltagsleben: Die Aktion 18, „tötet Politik! “ erinnert in diesem Kontext an die Wechselwirkung von Ritual, Politik und Theater im öffentlichen Raum. Dort betonte Schlingensief das Liminale seiner Aktion, um dadurch den rituellen und politisch-demokratischen Raum mit allen Protagonist_innen (Politiker_innen, 215 Jenseits der Freizeitgattungen: Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ <?page no="216"?> 52 Vgl. David Wiles, Greek Theatre Performance. An Introduction, Cambridge 2000, S. 126-127. 53 Patrick Primavesi: „Theaterwissenschaft heute. Praxis und Theorie der Überschrei‐ tung“, in: Gerda Baumbach, Veronika Darian, Günther Heeg, Patrick Primavesi, Ingo Rekatzky (Hgg.), Momentaufnahme Theaterwissenschaft: Leipziger Vorlesungen. Berlin 2014, S. 164-182, hier S. 164. 54 Es gibt in der griechischen Antike keine Bürgerinnen, es gibt nur Bürger und Ehefrauen von Bürgern. 55 Vgl. Bernhard Zimmermann, „Grenzen menschlichen und göttlichen Handels in der griechischen Tragödie“, in: Justin Stagl, Wolfgang Reinhard (Hgg.), Grenzen des Mensch‐ seins, Wien 2005, S. 421-434, hier S. 422-423. Polizei, Staatsanwaltschaft sowie Journalist_innen und Publikum) zu fusio‐ nieren bzw. zu „versöhnen“. 52 Schlingensiefs Theateransatz ist ein gutes Beispiel eines postdramatischen Theatersynkretismus und zwingt Patrick Primaversi zufolge „- über Fachdis‐ ziplin hinaus - verständlich zu machen, wie komplex die Wechselwirkungen sind zwischen theatralen Praktiken und ihren kulturellen, politischen und öko‐ nomischen Kontexten.“ 53 Im Theater der griechischen Antike z. B. lassen sich nämlich auch abweichende und deviante Kommunikationsgehalte ausmachen; sie waren aber gängig und von der demokratischen Ordnung der Polis als ak‐ zeptabel angesehen. Eine doppelte Bedeutung des politischen Charakters be‐ stand im antiken griechischen Theaterverständnis: In diesem Zusammenhang weist Bernhard Zimmermann darauf hin, dass die Dramen und die institutionell eng mit ihnen verbundene Gattung Dithyrambos insofern politisch gewesen seien, als einerseits die Organisation der Aufführungen in den Händen der Bür‐ gerschaft, der Polis, lag und andererseits in Dithyramben und Dramen Themen verarbeitet und dargestellt wurden, die mit der Polis insgesamt, nicht nur mit der eigentlichen Politik im engeren, modernen Sinne, sondern mit allen Le‐ bensbereichen in Verbindung standen, die die „Bürger“ 54 betrafen. Im Rahmen der Dionysien stand die Polis nicht nur unter festlichem Zeichen. Gleichzeitig boten die bei diesem Fest aufgeführten theatralen Vorgänge die Gelegenheit, teils affirmativ, teils kritisch hinterfragend die Grundlagen und Vorausset‐ zungen des Zusammenlebens in einem demokratischen Gemeinwesen zu re‐ flektieren. 55 Diese Tatsache betont auch Anton Bierl in seinem Aufsatz „Dio‐ nysos auf der Bühne. Gattungsspezifische Aspekte des Theatergottes in Tragödie, Satyrspiel und Komödie“: […] Das gilt vor allem für sämtliche die Polis betreffende Bereiche, insbesondere für die Tagespolitik, das Gerichtswesen, den demokratischen Prozeß, aber auch für My‐ thos, Ritual, Feste und Orakelwesen. Dabei dürfen ebenso wenig neu aufkommende Spezialdiskurse und die Literatur vergessen werden, besonders gilt dies für die paral‐ 216 Koku G. Nonoa <?page no="217"?> 56 Anton Bierl, „Dionysos auf der Bühne. Gattungsspezifische Aspekte des Theatergottes in Tragödie, Satyrspiel und Komödie“, in: Renate Schlesier (Hg.), A Different God? Di‐ onysos and Ancient Polyteism, Berlin 2011, S. 315-341, hier S. 333. 57 Edward Said, Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt am Main 1990, S. 30. 58 Vgl. Heinz Antor, Inter- und Transkulturelle Studien: Theoretische Grundlagen und in‐ terdisziplinäre Praxis, Heidelberg 2006, S. 29. 59 Vgl. Wolfgang Welsch, „Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kul‐ turen“, in: Irmela Schneider, Christian W. Thomson (Hgg.), Hybridkultur: Medien, Netze, Künste, Köln 1997, S. 67-90. lele Gattung, die Tragödie, die in Form der paratragodia viel Stoff bietet. Alles, was mächtig ist oder Autorität genießt, wird verspottet und fratzenhaft nach unten ver‐ zerrt, also Politiker, Strategen, Richter, Priester, Ärzte, Dichter, Weise, und Philoso‐ phen. Und vor allem können selbst Götter diesem generischen Verfahren unterzogen werden. 56 Diesbezüglich wird in diesem Beitrag postuliert, dass die Ästhetik des Trans‐ kulturellen einen mehrdimensionalen Theatersynkretismus hervorhebt, der in postdramatischen Theaterentwürfen einen vermengten sowie angeeigneten Charakter von kulturellen Elementen sowohl anderer Zeiten als auch Räume aufweist. Werden darüber hinaus kulturelle Veränderungsprozesse infolge der Übernahme von kulturellen Elementen einer herrschenden Gruppe durch eine eroberte Gruppe und/ oder umgekehrt zum Vergleich herangezogen, so sind „Kulturen, […] zum Teil aufgrund ihres Herrschaftscharakters, ineinander ver‐ strickt; […] keine ist vereinzelt und rein, alle sind hybrid, heterogen, hochdif‐ ferenziert und nichtmonolithisch.“ 57 In Inter- und Transkulturelle Studien: Theo‐ retische Grundlagen und interdisziplinäre Praxis merkt Heinz Antor an, dass Transkulturalität das Ergebnis eines Jahrhunderte alten und im Zeitalter der Globalisierung drastisch beschleunigten Prozesses kultureller Hybridisierung darstelle; dieser Prozess dauere weiter an, welcher aus zwei Situationen resul‐ tiere: aus der extremen Binnendifferenzierung immer komplexer werdender moderner Kulturen und aus ihren sich stetig weiter verzweigenden externen Vernetzungen. 58 Kunst bzw. Theater entsteht und befindet sich seit jeher innerhalb dieser be‐ schriebenen Dynamik transkultureller Prozesse. Würde man sich demnach nur auf Europa bzw. die Kunstgeschichte Europas konzentrieren, so fiele diese his‐ torische Transkulturalität ohnehin bereits selbstverständlich auf, was nicht nur die länder- und nationenübergreifen Stile angeht. 59 Dies betrifft zugleich den massiven Rückgriff auf außereuropäische künstlerische Elemente zur Bereiche‐ rung sowie Erneuerung der unterschiedlichsten Ausdrucksformen von Kunst in 217 Jenseits der Freizeitgattungen: Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ <?page no="218"?> 60 Erika Fischer-Lichte, „Inszenierung des Fremden“, in: dies. (Hg.), TheaterAvangarde, Tübingen 1995, S. 156-241, hier S. 172. 61 Rebecca Schuster, Malin Nagel, Christian Mahlow, Katja Fischer, Verena Eitel, Fiona Ebner: „Moral macht nicht immer Sinn“, in: Die Zeit Nr. 53, 22.12.2009, S. 53. Europa: wie viel vom Fremden sich im Eignen verwoben findet, lässt sich z. B. in der Entwicklungsgeschichte des europäischen Theaters allein nach der Krise des Dramas im ausgehenden 19. Jahrhundert beobachten. So sei es auch nicht zu übersehen, wie Erika Fischer-Lichte anmerkt, dass die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Theateravantgarde proklamierte Retheatralisierung des Theaters immer wieder unter Berufung auf fremde Theaterformen gefordert worden sei. „Ob Craig oder Fuchs, Brecht oder Schlemmer, ob Meyerhold oder Tairov, Copeau oder Artaud - sie alle wurden nicht müde, Formen des fernöst‐ lichen Theaters als Modelle für ein neues, ein retheatralisiertes Theater zu pro‐ pagieren.“ 60 In den letzten Jahrzehnten hat Christoph Schlingensiefs künstlerisches bzw. theatrales Schaffen nicht nur viele afrikanische Elemente miteinbezogen. „Der Gedanke, Afrika zu beklauen“ 61 in Zusammenhang mit Schlingensiefs Opern‐ dorf zieht die Aufmerksamkeit auf das Verschwiegene bzw. Verschleierte und somit das Fremde im Eigenen: An diese Äußerung anknüpfend, geht es in dieser Analyse weder um die viel kritisierte Problematik des interkulturellen Theaters noch um die Thematisierung der zu bemängelnden Asymmetrien an kulturellen Austauschprozessen im Theater. Es handelt sich um eine Betrachtungsweise anhand des Begriffs des Synkretismus zur Beschreibung transkultureller Ver‐ flechtungsphänomene am Beispiel von Theater. Das hier vertretene Verständnis von Synkretismus wird in einem erweiterten Sinn verwendet, zur Beschreibung konkreter und beobachtbarer heterogener Phänomene kultur- und religionsgeschichtlicher Natur. So gesehen soll auch der Begriff Synkretismus mit dem postdramatischen Theater so assoziiert werden, dass der postdramatische Theatersynkretismus das vermeintlich reine Eigene kri‐ tisch hinterfragt und das binäre Denkformat überwindet. Dass sich das Fremde seit langem in synkretistischer Form im Eigenen bzw. im eigenen Theater vor‐ handen ist, ist heutzutage unbestreitbar evident. Die Bezeichnung postdramati‐ scher Theatersynkretismus kann auch als Neuperspektivierung verstanden werden, um nicht mit dem Theatersynkretismus aus postkolonialer Perspektive verwechselt zu werden. In seiner Studie Theater im postkolonialen Zeitalter. Stu‐ dien zum Theatersynkretismus im englischsprachigen Raum verwendet Christo‐ pher Balme den Begriff Theatersynkretismus aus einer postkolonialen Perspek‐ tive als Resultat der Interaktion zwischen der überwiegenden europäischen bzw. 218 Koku G. Nonoa <?page no="219"?> 62 Vgl. Christopher Balme, Theater im postkolonialen Zeitalter. Studien zum Theatersynkre‐ tismus im englischsprachigen Raum, Tübingen 1995, S. 1. 63 Ebd. 64 Vgl. Günther Heeg, „Das transkulturelle Theater. Grenzüberschreitungen der Theater‐ wissenschaft in Zeiten der Globalisierung“, in: Gerda Baumbach, Veronika Darian, ders., Patrick Primavesi, Ingo Rekatzky (Hgg.), Momentaufnahme Theaterwissenschaft: Leip‐ ziger Vorlesungen, Berlin 2014, S. 150-163, hier S. 154. westlichen Theatertradition und indigener Darstellungsformen. 62 Dabei zeigt Balme auf, dass sich jene synkretistischen Theaterformen am Einfluss des Kolo‐ nialismus und der Kolonialerfahrung entzünden. Ihm zufolge habe Kolonia‐ lismus in den betroffenen Ländern zu weitreichenden kulturellen Veränderungen geführt, die sowohl in der Zerstörung als auch in der Schaffung neuer kultureller Ausdrucksformen zu beobachten seien. Als eine solche Folgeerscheinung sei auch das synkretistische Theater zu verstehen: „Es entstand mehr oder weniger überall dort, wo sich die europäischen Kolonialmächte für längere Zeit etabliert hatten und die dortigen Kulturen nachhaltig beeinflussen konnten.“ 63 Balmes Theater‐ synkretismus scheint die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die von den koloni‐ sierten Ländern übernommenen kulturellen Elemente der westlichen bzw. euro‐ päischen Theatertradition zu lenken. Wie in der Aktion 18, „tötet Politik! “ gesehen, wird mit dem postdramatischen Theatersynkretismus aber verstärkt performativ hervorgehoben, dass die Übernahme kultureller, künstlerischer bzw. theatraler Elemente nicht ein-, sondern wechselseitig ist. Der Kolonialismus ist eine histo‐ rische Tatsache (mit seinen positiven und negativen Aspekten), die bis heute noch nachwirkt und Wahrnehmungen von Menschen sowohl aus kolonisierten als auch hegemonialen Ländern beeinflusst. Dass eine Theaterform zur Abschaffung der asymmetrischen Interaktionen zwischen den ehemaligen kolonisierten und imperialistischen Ländern beitragen soll und kann, ist wünschenswert. In diesem Sinn kann der postdramatische Theatersynkretismus dank einer transkulturellen Betrachtungsweise einen Wandel der Wahrnehmung in den Vordergrund rü‐ cken. Mit dem Verständnis eines postdramatischen Theatersynkretismus soll auch eine Emanzipation von den in Opferrollen verlaufenden und/ oder in kolonialis‐ tischen Haltungen verfangenen Wahrnehmungsweisen einhergehen, die zum Teil auch in vielen postkolonialen Diskursen mitschwingen. 6. Betrachtungswandel und Schlussbetrachtung Wenn Günther Heeg betont, dass das transkulturelle Theater von der Erfahrung des Fremden ausgehe und dass Fremdes einem nicht in anderen Ländern und exotischen Kulturen, sondern im Inneren der vermeintlich eigenen begegne, 64 219 Jenseits der Freizeitgattungen: Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ <?page no="220"?> 65 Ebd. 66 Vgl. Pia Janke, „‚Für jeden Text das Theater neu erfinden‘: Gespräch mit Pia Janke, Karen Jürs-Munby, Hans-Thies Lehmann, Monika Meister, Artur Pelka“, in: Pia Janke, Teresa Kovacs (Hg.), „Postdramatik“. Reflexion und Revision, Wien 2015, S. 33-45, hier S. 45. 67 Vgl. Patrick Primaversi, „Wozu Theaterwissenschaft? Praxis und Theorie der Über‐ schreitung“, in: https: / / www.nachtkritik.de/ index.php? option=com_content&view=article &id=9776: leipziger-thesen-zur-theaterwissenschaft-x-patrick-primavesi-ueber-die-auswe itung-der-forschungszone&catid=101&Itemid=84 (12.9.2017). 68 Vgl. ebd. so sind Erfahrung und Wahrnehmung dieses Fremden in synkretistischen Er‐ scheinungsformen des Eigenen zu suchen. Transkulturelle Theaterpraktiken seien „dadurch charakterisiert, dass sie sich nicht mit fremden, exotischen Fe‐ dern schmücken, sondern die jeweils eigenen Traditionen und kulturellen Phan‐ tasmen aufarbeiten und zur Kenntlichkeit entstellen.“ 65 Aus der Perspektive des postdramatischen Theatersynkretismus heißt es, dass Beispiele der heutigen textzentrierten Theaterformen nicht nur in Europa zu finden sind und die der körperzentrierten rituellen Prägungen ausschließlich in Afrika bzw. in soge‐ nannten oralen Kulturen. Weltweit hat Theater heute viele synkretistische Er‐ scheinungsformen als Widerspiegelung der transkulturellen Auffassung von Kultur. Insofern kann die Aufforderung nach einer immer stärker transkulturell orientierten Betrachtungsweise als produktiv gelten und für die Forschung den Blick auf andere Theaterkulturen öffnen. 66 Damit einher geht ein Wandel der Wahrnehmung weg von nur dem Modell eines dramatischen, europäischen bzw. westlichen Theatermaßstabs hin zu einer kontextbezogenen Wechselwirkung zwischen theatralen Praktiken und ihren kulturellen sowie politischen und ökonomischen Kontexten. 67 Das post‐ dramatische Verständnis des Theatersynkretismus soll nicht nur angeeignete und vermischte Symbole, Elemente, theatrale Verfahren, ästhetische Mittel und produktions-, erfahrungs- und wirkungsästhetische Potentiale von Theater‐ praktiken anderer Zeiten sowie Kulturen vor Augen führen. Gleichzeitig soll die gesellschaftliche, rituelle und politische Dimension von Theater betont werden, das wie Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ der Reduzierung auf Kunst als Unterhaltung 68 entgeht. 220 Koku G. Nonoa <?page no="221"?> 1 Alexander Kluge, Christoph Schlingensief, “In erster Linie bin ich Filmemacher”, in: Klaus Biesenbach, Anna-Catherina Gebbers, Aino Laberenz, Susanne Pfeffer (eds.), Christoph Schlingensief, Köln 2014, pp. 80-88. The title of this interview is actually a paraphrase of a question Kluge poses to Schlingensief: “AK: Sie würden ja sagen, dass Sie in erster Linie Filmemacher sind. CS: Auf alle Fälle”, p. 8. 2 David Hughes, “Everything in Excess. Christoph Schlingensief and the Crisis of the German Left”, in: The Germanic Review 4/ 2007, pp. 317-339, here p. 319. Excess, Failure, Over-identification: the Influence of Camp on Schlingensief’s Making of Transcultural Theatre Jack Davis (Truman State University) 1. Introduction: Christoph Schlingensief, “Der Theatermacher” “Ich komme eigentlich vom Film.” These are Christoph Schlingensief ’s first words during an interview with Alexander Kluge titled First and Foremost, I am a Filmmaker. 1 The debt of Schlingensief ’s cinema to theatre, in its broadest sense of theatricality, is however just as great. To the extent that the performance style Schlingensief cultivated in his years at the Volksbühne in Berlin and beyond was excessively theatrical, his earliest films may be linked with his final performance pieces. David Hughes’ reading of the obvious excess in Schlingensief is based on the predominance of the image in both his film and theatre work: […] in Schlingensief ’s films the immediacy of image runs rampant over the logic of plot. A neverending series of striking and outrageous images does not merely interrupt narrative and causality, it undermines them completely. Temporality collapses, meaning that one of the most conspicuous features of any Schlingensief production is its “live” character. 2 In Hughes’ account, Schlingensief ’s excessive theatre pieces are characterized by the visuality of film, while his excessive films are characterized by the liveness of the theatre. This confluence suggests that it would also be possible to invert <?page no="222"?> 3 Indeed, one English translation of Thomas Bernhard’s play Der Theatermacher is titled Histrionics, as is the collection it is found in: Thomas Bernhard, Histrionics. Three Plays by Thomas Bernhard, translated by Peter Jansen, Kenneth J. Northcott, Chicago 1990. 4 Günther Heeg, “Das Transkulturelle Theater. Grenzüberschreitungen der Theaterwis‐ senschaft in Zeiten der Globalsierung”, in: Gerda Baumbach, Veronika Darian, id., Pat‐ rick Primavesi, Ingo Rekatzky (eds.), Momentaufnahme Theaterwissenschaft. Leipziger Vorlesungen, Berlin 2014, pp. 150-163. I am thinking here specifically of Heeg’s call for the “Grenzverkehr” between theater and theater studies (p. 154). While I would not argue that Schlingensief ever engaged in Theaterwissenschaft per se, his constant com‐ mentaries on and interventions in his own performances certainly include continuous theorization and re-theorization of the theater as a central component of that theater itself. 5 Ibid., p. 154. the autobiographical pronouncement of the interview title: “in erster Linie bin ich Theatermacher”. “Theatermacher” (theatre-maker) effectively means “a histrionic” 3 , someone (often a child) prone to throwing public scenes. To “make theatre” in idiomatic German usage (most often encountered as the negative imperative “mach doch kein Theater! ”) means to act out in a conspicuous and socially unacceptable way. Theatricality, or “making theatre”, whether it takes place within the institutional framework of the theatre, in the media, or on film, is also characterized by performative excess. Schlingensief ’s particular theatricality, moving between theatre and film, blurring the lines between art and criticism through its many allusions to other works, seems perfectly suited to the approach to transcultural theatre developed by Günther Heeg. 4 Furthermore, in both his cinema and his theatre work, Schlingensief is intimately concerned with what Heeg refers to as “Das hin‐ durchgehende Fremde in den kulturellen Phantasmen, die uns umgeben […].” 5 Schlingensief ’s work is engaged in restaging and interrogating fundamental cultural fantasies so that their uncanny aspects become visible. Whether the fantasies in question concern the successful integration of East Germans into West German liberal democracy (memorably satirized in The German Chainsaw Massacre) or the hallowed legacy of 1968 (in Rocky Dutschke ’68), Schlingensief ’s work excelled in what Günther Heeg describes as “kulturell[e] Phantasmen au‐ farbeiten und zur Kenntlichkeit entstellen.” According to Hughes, Schlingensief ’s excess also consists in the leveling of the distinctions between the serious and the trivial, and between commercial and high culture: […] the effect of this “drop in level” is jarring: serious issues get dealt with in the most crude and trivial of ways. […] It also leaves behind the idea of camp as defined by Susan Sontag: “the whole point of Camp is to dethrone the serious. Camp is playful, 222 Jack Davis <?page no="223"?> 6 Hughes, p. 3 30. 7 Cf. Heeg, pp. 160-161 (on the genealogical method). anti-serious. More precisely, Camp involves a new, more complex relation to ‘the serious.’ One can be serious about the frivolous, frivolous about the serious” (“Notes” 280). With Schlingensief ’s humor, Sontag’s dichotomy between the serious and the frivolous is replaced by a warped alloy of the two […]. 6 I agree with Hughes’ assessment of this particular thesis of Sontag’s as it applies to camp in Schlingensief ’s work. There is no doubt that much of Schlingensief ’s work transcends (or, more accurately, flattens) the distinction between serious and silly. However, I believe that the category of camp can still be used productively to understand Schlingensief ’s work if approached from the perspective of more contemporary theorists. I suggest that camp links the queerness of Schlingen‐ sief ’s cinema and its influences to the practice of subversive affirmation or over-identification which characterizes many of his most effective theatre pieces. In comparing works from both periods of Schlingensief ’s output (the cinematic and the theatrical), I follow Heeg’s methodology as it concerns ge‐ nealogical affinities and not explicit manifestations of camp in Schlingensief ’s later theatre. 7 If for Schlingensief, making theatre means making images, this article will demonstrate that the histrionics he catches on film and presents in performance are partially the product of his engagement with the work of queer filmmakers working in the camp mode. 2. Theories of Schlingensief, Theories of Camp Though Sontag’s essay Notes on Camp remains an important touchstone for critical discussions of camp, it is no longer central to them. Its broadest sense, camp encompasses irony, playfulness and parody (especially concerning the performance of gender) accompanied by a sense of nostalgia (Shugart and Waggoner). Camp may be a critical practice undertaken during the reception of a work of art, as a critical message immanent to the work itself, or some com‐ bination of both. In Fabio Cleto’s introduction to Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject, he makes this very instability definitional, with phrasing that recalls several critical tropes on Schlingensief ’s theatre: “Representational excess, heterogeneity, and gratuitousness of reference, in constituting a major raison d’être of camp’s fun and exclusiveness, both signal and contribute to an overall resistance to definition, drawing the contours of an aesthetic of (critical) 223 Excess, Failure, Over-identification <?page no="224"?> 8 Fabio Cleto, “Introduction: Queering the camp”, in: id. (ed.), Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject, Ann Arbor 1999, pp.1-42, here p. 3. 9 Cf. Antje Hoffmann, “Scheitern als Chance. Zur Dramaturgie von Christoph Schlin‐ gensief ”, in: Peter Reichel (ed.), Studien zur Dramaturgie. Kontexte, Implikationen, Berufspraxis, Tübingen 2000, pp. 217-311. 10 Cleto, p. 32. 11 Ibid., pp. 35-36. 12 Georg Seeßlen, “Vom Barbarischen Film zur nomadischen Politik”, in: Julia Lochte, Wil‐ fried Schulz (eds.), Schlingensief. Notruf für Deutschland, Hamburg 1998, pp. 48-55. failure […].” 8 The “aesthetics of failure”, critical or otherwise, which, according to Cleto, are part of both the critical discourse on camp and camp itself, almost directly reproduce Schlingensief ’s descriptions of his performance aesthetics with regards to “failure” (“Scheitern”). 9 Furthermore, “representational excess” and “gratuitousness” recall Hughes’ critical reception of Schlingensief ’s work. There are more affinities between Cleto’s (non-)definition of camp and Schlingensief ’s work. Several pages later, after traversing a labyrinthine path comprised of readings of multilingual etymologies, literatures, cinemas and critical essays, Cleto arrives at a rough framework with which to think about camp, with reference to the writings of Eve Kosofsky Sedgwick: We have seen that the conditions which produce a camp effect are by and large the impermanent building of an interpretative theatrical stage, and that these conditions also constitute the status of camp itself, which shares the same provisional, perform‐ ative and processual premises, and ends up being a queer (unstable, twisted, disor‐ ganic), nomadic, in(sub)stantial or ephemeral discursive architecture: in short, an ef‐ fect of performativity itself. 10 He suggests a “framework” for camp as “queer discursive architecture”, which “approaches a nomadic category” whose “configuration” it is necessary to “lo‐ calize.” “Localizing”, he continues, in the sense that we try to understand “[…] the relationship between the nomadic party and the dominant, institutional, ‘permanent’ culture” and “[with] what degree of complicity and/ or subversive‐ ness” 11 does this relationship exist. Cleto’s use of a “nomadic” critical architecture to understand a “nomadic” mode of performance strongly recalls Georg Seeßlen’s early appraisal of Schlin‐ gensief ’s work, which he characterized as moving from “barbaric film” to “no‐ madic politics.” 12 Furthermore, it raises the question of how camp is localized in Schlingensief ’s work. The concrete localization of camp has often been found 224 Jack Davis <?page no="225"?> 13 Cf. Matthew Tinkcom, Working Like a Homosexual. Camp, Capital and Cinema, Durham 2002, p. 10: “[N]ot all camp intellectuals are determined solely by sex/ gender difference around the particular axis of male queerness.” However, Tinkcom makes the attempts of male homosexuals to make their labor visible central to his specific discussion of camp: “[…] camp stages the moments in which dissident same-sex subjects draw at‐ tention to the very labor (used specifically in Arendt’s terms here) required to conceal themselves, the labor to produce themselves, and the work of camp”, p. 10. 14 Cleto, p. 11. Cleto’s purpose in this section is to demonstrate how “camp” exists in cultures where the term itself does not exist in the dominant language. 15 See, for example, Florian Malzacher, “Blurring Boundaries/ Changing Perspectives: an Interview with Christoph Schlingensief ”, in: Tara Forrest, Anna Scheer (eds.), Christoph Schlingensief. Art without Borders, Bristol 2010, pp. 201-216, p. 10. in gay male culture, even if theorists of camp are careful to note that it is a phenomenon by no means restricted to this community. 13 In this sense, too, Schlingensief ’s work is clearly related to camp. In the next section, I will discuss the ways in which Schlingensief ’s work participates in the process of making queer labor visible—albeit ambivalently. 3. Camp and queer desire in Schlingensief’s cinema Schlingensief did not identify as gay or queer but was heavily influenced by many queer filmmakers strongly associated with camp, and made this influence explicit throughout his cinematic career. Cleto lists a group of European film‐ makers whose aesthetics employ camp practices including Luchino Visconti, Werner Schroeter and Rainer Werner Fassinder, all of whom are tangible influ‐ ences on Schlingensief ’s cinematic style. 14 To this list we could also add the American filmmaker John Waters, who Schlingensief has acknowledged to be important to his development in interviews, but who is seldom discussed in connection with Schlingensief ’s films. 15 The influence of these directors on Schlingensief are present in everything from his chosen subject matter (for ex‐ ample, the melodramatic Mutters Maske, a remake of Veit Harlan’s Opfergang which includes elements of Visconti’s The Damned) to casting choices (the Fass‐ binder actors Udo Kier, Volker Spengler, Margit Carstensen and Irm Hermann; Visconti’s star and muse Helmut Berger). Beyond the influence of queer directors, queer desire is a near omnipresent theme of Schlingensief ’s cinema. In Schlingensief ’s breakthrough student film Menu Total, Helge Schneider plays the protagonist Joe, who is in a romantic relationship with a man named “Jesus-Evi.” In 100 Jahre Adolf Hitler, the first installment in Schlingensief ’s Deutschlandtrilogie, Magda Goebbels (Margit Car‐ stensen) and Eva Braun (Brigitte Kuhlbrodt) are married after Hitler’s death. 225 Excess, Failure, Over-identification <?page no="226"?> 16 Kern was a veteran of the New German Cinema in films by Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder and Hans-Jürgen Syberberg, and himself a director of multiple films exploring same-sex desire. 17 Cf. Randall Halle, “Unification Horror: Queer Desire and Uncanny Visions”, in: Randall Halle, Margret McCarthy (eds.), Light Motives. German Popular Film in Perspective, De‐ troit 2003, pp. 281-303, here p. 291. 18 Cf. Halle, p. 301: “It should be clear that the use of the term ‘queer’ here is not synon‐ ymous with gay or lesbian. […] [I]n Queer theory, ‘queer’ has moved away from a strict relationship to identity politics and acts as a general designation of actions that present an antipode to heteronormativity.” 19 Schlingensief continued this practice in his later performance pieces - see, for example, his “interspecies drag” costume in Atta Bambi Pornoland, which consists of high heels and deer antlers. Queer desire also had a prominent place in the next two films. To name just a few isolated examples (in keeping with Schlingensief ’s trash aesthetic): in Terror 2000, Susanne Bredehöft, as Martina Bößler, masturbates as she watches her fellow gang members attack a “transsexual” who has been caught in the Bößler family furniture store. Later in the film, Schlingensief himself, as the (real life) neo-Nazi Michael Kühnen, copulates with a male member of the Bößler gang. Many of the other characters in this film, including Udo Kier (as Jablonski) and Peter Kern (as Inspector Körn) also evince fetishistic sexual attraction to Wibke’s blond hair (and not, necessarily, for the woman herself). 16 In Das deutsche Ket‐ tensägenmassaker, Susanne Bredehöft first plays a (male) East German worker who is murdered by his wife, then comes back later in the film as a lesbian vampire-like figure. Film scholar Randall Halle sees the queer desire in Das deutsche Kettensägen‐ massaker as part of the trend of German “reunification horror”, which also in‐ cludes such underground horror films as Jörg Buttgereit’s Nekromantik 2. Ac‐ cording to Halle, the exaggerated (and highly body-centered) performances of gender in these films do “cultural work”, not necessarily in keeping with Tin‐ kom’s conception of camp (which makes homosexual labor visible), but in the sense of expressing the psychological labor of an entire society. 17 Halle argues that German viewers process their ambivalent feelings surrounding reunifica‐ tion through the experience of horror and queer desire, which, as Halle makes explicitly clear, is not equivalent with homosexuality. 18 In the few films in which Schlingensief himself makes cameo appearances, he often plays characters with an exaggerated and stereotypical queer affect‐ edness, in keeping with the typical tenor of his films. The most prominent ex‐ amples of Schlingensief ’s performances as a queer man are his role as the neo-Nazi Michael Kühnen in Terror 2000, and as a flamboyant barista in Udo Kier: Tod eines Weltstars. 19 226 Jack Davis <?page no="227"?> 20 In this sense, Schlingensief ’s casting choices have much in common with John Waters’ “stunt casting” (Cf. Tinkcom, p. 178). Besides these and the other concrete instances of camp and queer desire, there are generic markers that align Schlingensief ’s cinema with camp. The genres of trash and splatter, which are clear sources of inspiration for Schlingensief ’s cinema, are related to the strategies of camp insofar as they employ a consciously exaggerated aesthetic which attempts to subvert or reassess categories of cul‐ tural value. Udo Kier, one of Schlingensief ’s most beloved film actors, in many ways embodies the confluence of camp, splatter and trash found in Schlingen‐ sief ’s cinema. 20 Kier played the titular roles in Paul Morrissey’s cult films Flesh for Franken‐ stein (1973) and Blood for Dracula (1974), both produced by Andy Warhol, who is himself a central figure in the discussion of camp. His overtly silly perform‐ ance style in these movies which ostensibly belong to the horror genre is easily recognizable as camp. Morrissey, who made films with the transgender icon Holly Woodlawn in which the performativity of gender takes center stage (Trash, 1970 and Women in Revolt, 1971), is clearly a camp director. During the early part of his career in Germany, Kier performed in art films by Rainer Werner Fassbinder (Bolwieser) and Lars von Trier (Medea), but also in the infamous horror/ exploitation film Hexen bis aufs Blut gequält (1970), which anticipates his turn in films by Morrissey and Schlingensief. Kier continued his camp-inflected acting style throughout his career, bringing it to numerous minor roles in Hollywood films. One recent major role which is in clear keeping with Kier’s camp sensibilities is his performance as Wolfgang Kortzfleisch in the Finnish-led production Iron Sky (2012). Kortzfleisch is the Führer of the “Fourth Reich”, who has been hiding out with his army on the dark side of the moon in anticipation of returning to conquer the earth. Even if he also plays more “serious” roles, Kier must be seen as a camp actor par excellence. While Kier was not responsible for Schlingensief ’s initial interest in Fass‐ binder (which goes back at least to his days as a film student in Munich), he was responsible for recruiting other members of the “Fassbinder family” to play in the young Schlingensief ’s films after Fassbinder’s death. In this sense, Schlin‐ gensief concretely takes up Fassbinder’s legacy through the intervention of one of his actors. I will briefly examine two explicit homages to Fassbinder in Schlingensief ’s films which demonstrate the debt that Schlingensief has not only to Fassbinder, but to camp practices and practitioners in a larger sense. The first is the short Udo Kier: Tod eines Weltstars, a short film which explores the camp celebrity 227 Excess, Failure, Over-identification <?page no="228"?> 21 See also Kristin T. Vander Lugt, “An Obscene Reckoning. History and Memory in Schlingensief ’s Deutschlandtrilogie”, in: Tara Forrest, Anna Scheer (eds.), Christoph Schlingensief. Art without Borders, Bristol 2010, pp. 39-55. embodied by Kier and his connection to the personae of Andy Warhol and Rainer Werner Fassbinder. It would be difficult (and perhaps misleading) to attempt to summarize the “plot” of Udo Kier: Tod eines Weltstars in a coherent way. Like much of Schlin‐ gensief ’s cinema and theatre work, the film exists in a liminal space between narrative and avant-garde/ experimental cinema. It constantly hints at a larger story but defers this narrative cohesion almost at the moment it is promised. The person (or, more accurately, persona) of Udo Kier is the film’s unifying factor. Nevertheless, it is possible to make a broad outline of events in the film: Alfred Edel plays a nosy journalist out to discover if the rumors of Udo Kier’s death are true. He seeks out the reclusive Kier in an Italian villa. Kier is very much alive during the entire film, which amounts to a series of short pieces that parody the genres of the biopic and celebrity exposé. At the same time, however, Tod eines Weltstars is also, in a very real way, a review of Kier’s most important roles. It features footage from his work with Fassbinder, (including Lili Marleen, 1981; Bolwieser, 1977; and The Last Trip to Harrisburg, 1984) Lars von Trier, Werner Schroeter, Gábor Bódy and others. Alongside a retrospective of Kier’s career, Tod eines Weltstars also features Susanne Bredehöft and Brigitte Kuhlbrodt in drag as Rainer Werner Fassbinder and Andy Warhol, respectively. When Alfred Edel, seeing Fassbinder, exclaims “Der ist doch schon lange tot! ”, a furious Kier runs at him, shouting “er ist nicht tot! Meine Freunde sind nicht tot! Andy Warhol lebt! Fassbinder lebt! Gábor Bódy lebt! Sie sind ja wahnsinnig, meine Freunde sind unsterblich! ” If Udo Kier: Tod eines Weltstars paid homage to Kier, Fassbinder and Warhol as immortal icons of camp cinema, 100 Jahre Adolf Hitler, shot several years before, also references the same trio, using their legacy to provocatively trans‐ form German processes of Vergangenheitsbewältigung and memorialization into camp. The film retells “the last hour in the Führerbunker” in a hysterical, camp-inflected mode. The very first shot of the film, which features Kier as Hitler sitting in front of a map of Germany smoking a cigarette, gestures to camp filmmaking: his cape reminds us of his roles in the Warhol-produced Blood for Dracula directed by Paul Morrissey. Here, he is playing another “cinematic monster”: Adolf Hitler. 21 100 Jahre Adolf Hitler features other mainstays of camp filmmaking, including playing with the performativity of gender (Eva Braun seems to “become” the Führer after Hitler’s death by virtue of wearing his mustache) and the parodying 228 Jack Davis <?page no="229"?> 22 Cf. Kristin Vander Lugt, “Better Living Through Splatter. Christoph Schlingensief ’s Unsightly Bodies and the Politics of Gore”, in: Steffen Hantke (ed.), Caligari’s Heirs. The German Cinema of Fear after 1945, Plymouth 2007, pp. 163-184. 23 Cf. Hughes, p. 91. 24 This includes, for example, Irm Hermann and Udo Kier, who did, however, rejoin Schlingensief for later productions such as ATTA ATTA. Die Kunst ist ausgebrochen and Elfriede Jelinek’s Bambiland. of respectable bourgeois tradition and ritual. These events include a family meal from which Hitler is conspicuously absent, a seasonally inappropriate Christmas celebration, and the birth of the child of Magda Goebbels and Eva Braun. Like all of Schlingensief ’s cinema, 100 Jahre Adolf Hitler is rife with intertex‐ tual references. Besides targeting the German politician Franz Josef Strauss and several filmmakers of the new German Cinema including Margarethe von Trotta and (most notably) Wim Wenders, Schlingensief ’s film also pays implicit homage to Fassbinder and Morrissey through casting choices and allusions to their films. Volker Spengler, playing Hermann Fegelein, crawls on the floor for most of the film, falling into his previous role in Fassbinder’s madcap comedy Satansbraten, in which he plays the mentally challenged brother of Kurt Raab’s poet character. Kier as Hitler also gestures to the Warhol/ Morrissey films during his death scene, in which he spurts liquid from his mouth in a manner clearly reminiscent of the count’s over-the-top death in Blood for Dracula. But these campy moments of parody are not only played for their comedic value: they have the effect of “exploding” the discourses and aesthetic strategies of the New German Cinema from the inside, through over-identification with their central tenants. 22 Schlingensief ’s targets are precisely not filmmakers like Fassbinder, but rather the filmmakers obsessed with creating an elegiac national cinema. 23 This is the point at which the camp practices Schlingensief inherits from the filmmakers he admires converge with his later work in theatre. 4. Please Love Austria! (Bitte liebt Österreich! ) (2000): Camp, Over-Identification and the Transcultural Interrogation of Fantasy Schlingensief did not work as closely with the actors from the “Fassbinder family” during his time at the Volksbühne. Instead, he enlisted a cast of theatre actors such as Bernhard Schütz (who accompanied him throughout several per‐ formances) and disabled performers (who became permanent members of his entourage). The actors known for their camp sensibilities who had performed in his films faded mostly into the background. 24 229 Excess, Failure, Over-identification <?page no="230"?> 25 Sandra Umathum, “Theatre of Self-questioning: Rocky Dutschke, ’68, or the Children of the Revolution”, in: Tara Forrest, Anna Scheer (eds.), Christoph Schlingensief. Art without Borders, Bristol 2010, pp. 57-70, here p. 60. 26 Helene A. Shugart, Catherine Egley Waggoner, Making Camp. Rhetorics of Transgression in U.S. Popular Culture, Tuscaloosa 2008, p. 1. 27 Cf. Philip Core, Camp. The Lie that Tells the Truth, New York 1984. 28 The term “mediaclash” comes from: Götz Dapp, Mediaclash in Political Theatre. Building on and continuing Brecht, Marburg 2006. Although there are not as many concrete connections to camp films or stars in Schlingensief ’s early theatre work as in his films, there is nevertheless a basic sensibility informing his performance style that clearly recalls these early in‐ fluences. Even Schlingensief ’s legendary Volksbühne debut as an actor had clear campy elements. In the recollection of Sandra Umathum, a tipsy Schlingensief bursts onto the stage during a performance of 100 Jahre CDU, covers himself in fake blood and delivers a monologue about the recent death of his grandmother, appearing before the audience as “a sad victim of his own trash.” 25 But the categories of trash and camp had themselves undergone a funda‐ mental transformation during the years between the heyday of Andy Warhol and the beginning of Schlingensief ’s stage career. What had once been a margi‐ nalized countercultural aesthetic was a ubiquitous phenomenon in U.S. popular culture by the early 2000’s. As Helene A. Shugart and Catherine Egley Waggoner write: “[…] one cannot consume popular culture today without also consuming camp.” 26 Camp had arguably gone from “The Lie that Tells the Truth”, to one more discursive formation of postmodern capital ideology. 27 No longer auto‐ matically subversive, camp had become an aesthetic strategy that is not inher‐ ently progressive or critical. During the mid 1990’s and early 2000’s, Schlingensief became famous for media mash-ups which were remarkable for the acuity with which they com‐ bined local, nationally particular politics or history with globalized, trans‐ national media genres. Schlingensief ’s most effective Volksbühne pieces were often unsettling send-ups of global television genres or franchises, for example, the game show Who Wants to be a Millionaire? (imported into Germany as Wer wird Millionär? ) which he parodied in Quiz 3000, and his talk show series Talk 2000, filmed in the Volksbühne cantina and aired on the music television channel VIVA. Foremost among these dissonant “mediaclashes” (at least in terms of its lon‐ gevity) was Please Love Austria! , a parody of the television program Big Brother, staged over a week’s time on the ‘Herbert von Karajan Platz’ next to the Vienna opera. 28 The occasion of the performance was the political ascend‐ ance of Jörg Haider’s right-wing populist party, the Freiheitliche Partei Öster‐ 230 Jack Davis <?page no="231"?> 29 See, for example, Claire Bishop, Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spec‐ tatorship, London 2012. 30 According to Heeg, both the need for and the relevance of transcultural theatre arise from the process of globalization and its production of new fundamentalisms which react to it (cf. p. 150-151). The rise of the FPÖ, centered as it was on the phenomenon of immigration, is a clear reaction to globalization. Heeg argues that theatrical practices play a pivotal role in the creation of the fantasies that subtend these new fundamen‐ talisms, and that the transcultural theatre and Theatre Studies also have important roles to play in interrogating these fantasies and their constitution (cf. p. 156-157). 31 Slavoj Žižek, The Universal Exception, London 2006, p. 63. reichs (FPÖ), which had advanced an anti-immigrant agenda. Schlingensief ’s performance piece was captured in the documentary film by Paul Poet titled Ausländer Raus! , and has been the subject of numerous academic articles and books. 29 Please Love Austria, dealing with nationalist fantasies in the age of globaliza‐ tion, is perfectly suited for analysis from a transcultural perspective. 30 Here, I will underscore the point at which Schlingensief ’s iteration and exaggeration of nationalist fantasies intersects with practices of camp. This is meant to es‐ tablish not a causal connection, but a genealogical one. My contention is that in Schlingensief ’s mid-career media mash-ups, camp remains relevant, insofar as it mutates into an aesthetic in line with what Slavoj Žižek refers to as over-identification with the superego. This “over-identifica‐ tion” has directly to do with Günther Heeg’s account of the transcultural theatre as directly concerned with the nationalist fantasies that subtend desire. Slavoj Žižek puts his finger on a related notion in his essay “Why are Laibach and the Neue Slowenische Kunst not Fascists? ” in his discussion of the superego: “Su‐ perego is the obscene ‘nightly’ law that necessarily redoubles and accompanies, as its shadow, the ‘public’ Law.” 31 Žižek’s analysis of Laibach’s appropriation of fascist and neo-Stalinist imagery rests on the basis of the distinction between the written and unwritten laws of the symbolic order. Laibach and the other members of the so-called “Neue Slowenische Kunst” are unsettling precisely because they over-identify with the obscene, night side of Law, thus exposing the Law’s dual nature. Laibach makes the secret superegoic enjoyment visible through its excessive identification with it. “Excessive identification” is of course a hallmark of camp as well (for example, the exaggeration of femininity in the drag show). But this excessive practice takes on a whole new guise in Schlingensief ’s media parodies, where over-iden‐ tification does not highlight the performativity of gender, but rather the obscene enjoyment afforded and demanded by the superego. 231 Excess, Failure, Over-identification <?page no="232"?> 32 BAVO, Cultural Activism Today. The Art of Over-Identification, Rotterdam 2007, pp. 31-32. 33 Cf, Denise Varney, “‘Right Now Austria Looks Ridiculous.’ Please Love Austria! Re‐ forging the Interaction between Art and Politics”, in: Tara Forrest, Anna Scheer (eds.), Christoph Schlingensief. Art without Borders, Bristol 2010, pp. 105-121, here p. 112. I am not the first to make this connection. The artists’ collective writing under the name BAVO have made Schlingensief ’s Please Love Austria! one of the focal points in their study of the artistic strategy of over-identification, though they do not mention camp in their discussion. The benefits of over-identification as a means of resistance are, instead of simple opposition or parody, as follows: The strategy of over-identification owes its effectiveness to the fact that it sabotages this dialectic [found in the media] of alarm and reassurance, fear and relief, by ruth‐ lessly dishing up the system in its most extreme form - a side that the system itself strategically conceals. In the concrete case of Please Love Austria, BAVO write: […] Schlingensief overidentifies with the populist-right discourse. By overstating the latter, he tries to visualize the violence of the new Right, which is, of course, rarely ever expressed as such by its proponents. 32 Some of the examples of Schlingensief ’s overstatements which I read as oblique‐ ly connected to the practices of camp include the blown-up, mug shot-like pho‐ tographs of asylum seekers that decorate the security fence around the shipping containers and the posters containing (real) quotations of FPÖ politicians written in all caps (for example: WIEN DARF NICHT CHICAGO WERDEN! ). Within the container, the asylum seekers and Schlingensief ’s actors dance to‐ gether to the racist Wiener Lied “So a Kongoneger, der hat ’s halt guat”, thus identifying with the stereotypes so nakedly on display in the song’s text. This unsettling spectacle captured in Poet’s film raises clear ethical questions about the extent to which the asylum seekers understood the lyrics to the song they are singing. 33 If camp is characterized by nostalgia for older cultural forms, this particular scene in Poet’s film suggests that Schlingensief ’s transformation of camp calls into question the innocence of this nostalgia without trying to find its redemptive or positive qualities. In a related vein, if camp, according to Cleto, is marked by a “failure of seri‐ ousness” (as many of Schlingensief ’s early films were), Schlingensief ’s Please Love Austria! is more marked by a failure of frivolity. Schlingensief ’s piece takes a television genre meant to provide light-hearted entertainment, where the consequences for “losing” the game are expulsion from a communal apartment, 232 Jack Davis <?page no="233"?> 34 This “failure” of frivolity calls to mind, of course, David Hughes’ metaphor of the “warped alloy” of seriousness and frivolity I mention at the beginning of the essay. 35 BAVO, pp. 33-34. 36 Cf. ibid., pp. 34-35. and possible fame as a previous contestant, and turns it into a spectacle with the supposedly deadly serious outcome of deportation. Even if this is obviously not a “real” deportation, the seriousness of the threat renders the spectacle unintel‐ ligible as pure entertainment. 34 Schlingensief ’s transformation of camp in his performance pieces largely loses camp’s focus on queer desire and the performativity of gender. Neverthe‐ less, a trace of camp’s exploration of gender’s social constructedness is still present in Please Love Austria! At one point in Poet’s film, Schlingensief dons a Trachtenjacke which has its essential features (lapel, buttons, etc.) exaggerated. Denise Varney connects this exaggeration with the Brechtian concept of Gestus, but it is easy to see it also as a camp performance of (völkisch) masculinity. BAVO realize, however, that over-identification is only one of many aesthetic maneuvers Schlingensief makes in this piece: […] Schlingensief ’s strategy cannot entirely be reduced to one of over-identification or, to be more precise, the latter is constantly contradicted by his insults and provo‐ cations levelled against the new Right. […] This constant shifting between opposing positions - between over-statement, on the one hand, and mockery or critique, on the other - is an express attempt by Schlingensief to ‘produce the contradiction’, which is how he defines the task of artistic resistance. Or, as one commentator put it, Schlin‐ gensief creates situations that not only are not clear, but also cannot be made clear. 35 Not only this, but BAVO observe that Schlingensief ’s critique clearly cuts both ways across the political spectrum. 36 Poet’s film shows him, on the first day of the performance, with his signature megaphone in hand as he announces that the spectators are “part of the resistance, effective immediately”. He subse‐ quently applies the term Widerstandskämpfer (resistance fighters) to himself and the audience. This overblown description, which implies armed guerilla war against a repressive regime, is in keeping with his later critique of the left-wing demonstrators who storm the container on the third day of the performance, “liberating” the asylum seekers. Schlingensief ’s strategy of over-identification is applied to every aspect of the situation his performance reacts to. In fact, his choice of the term “resistance” proves prophetic when the demonstrators ac‐ tually chant “WIDERSTAND” and write it in red spray paint on the “AUS‐ LÄNDER RAUS” sign that hangs above the container installation. 233 Excess, Failure, Over-identification <?page no="234"?> 37 Žižek, p. 65. 38 Cf. Tinkcom, p. 157. 39 Cf. Hughes, p. 330-332. 5. Conclusion: Camp, Irony and Visibility in Schlingensief’s Transcultural Theatre Schlingensief ’s theatre practice in Please Love Austria! is transcultural in that it interrogates nationalist and racist fantasies inherent in the culture through re‐ staging and exaggerating them. This process has affinities with the aesthetics and strategies of camp, but is reducible to neither a transfer of the strategies of camp cinema to the stage, nor to a simple process of over-identification. There are, however, significant areas of overlap that expand our understanding of Schlingensief ’s project. In the case of both aesthetic strategies, camp and Žiže‐ kian subversive affirmation, the question of irony or cynicism is largely ignored or sidestepped completely. Žižek writes that the “uneasy” feeling Laibach pro‐ motes: feeds on the assumption that ironic distance is automatically a subversive attitude. What if, on the contrary, the dominant attitude of the contemporary ‘post-ideological’ universe is precisely cynical distance towards public values? What if this distance, far from posing any threat to the system, designates the supreme form of conformism, since the normal function of the system requires cynical distance? In this sense, the strategy of Laibach appears in a new light: it ‘frustrates’ the system (the ruling ideology) precisely insofar as it is not its ironic imitation, but represents an over-iden‐ tification with it - by bringing to light the obscene superego underside of the system, over-identification suspends its efficiency. 37 In a similar vein, Tinkcom writes that a different kind of irony is necessary to view the films of John Waters, one which does not rely on cynicism, but rather on feigned ignorance, or disavowal of the differences between good and bad taste. This, too, has to do with over-identification, specifically with the conven‐ tions of melodrama. 38 I suggest that the category of “over-identification” is the point at which the “exploded melodrama” of Schlingensief ’s films lives on in his more overtly political theatre. 39 If camp is primarily about making certain otherwise invisible subjects or practices visible to certain audiences (mainly, though not exclusively homo‐ sexual ones), by means of a representational excess, it seems that Schlingensief ’s theatre expands and mutates this concept to other genres, audiences and dis‐ courses. If camp in the films of Waters and Fassbinder is about the over-identi‐ fication with genre conventions associated with the melodrama and the per‐ 234 Jack Davis <?page no="235"?> 40 To borrow the title of Pamela Robinson’s study of feminist camp. formance of femininity within it, Schlingensief ’s later performance pieces apply this practice of over-identification not to marginalized identities (like the women in melodramas) but to hegemonic political discourses: in the case of Please Love Austria! , the campaign against immigrants launched by the FPÖ and Kronenzeitung in Austria. Not only that, but Schlingensief ’s subversive affir‐ mation also lays bare the obscene enjoyment underlying the format of such reality TV shows like Big Brother and Wer wird Millionär (in Quiz 3000). In much of Schlingensief ’s work, camp’s “guilty pleasures” 40 are transformed into per‐ formance pieces which expose, through means of over-identification, the way that our pleasures (that is to say, our enjoyment) is always guilty. I hope to have demonstrated that this performance strategy is highly indebted to Schlingensief ’s reception of queer filmmakers, even if it is not completely equivalent to the aesthetics they employ. 235 Excess, Failure, Over-identification <?page no="237"?> 1 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999. 2 Vgl. Hans-Thies Lehmann, „Theater der Blicke. Zu Heiner Müllers Bildbeschreibung“, in: Ulrich Profitlich (Hg.), Dramatik der DDR, Frankfurt am Main 1987, S. 186-202; Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos: die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991. Das Nuevo Teatro Español als postdramatisches Theater transkultureller Prägung: Der Fall Luis Riaza Marina Ortrud Hertrampf (Universität Regensburg) 1. Prolog Die folgenden Ausführungen stellen das so genannte Nuevo Teatro Español - das Neue Spanische Theater der 1960er und 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts - am Beispiel von Luis Riaza als eine Form des modernen spanischen Theaters vor, das zum einen stark transkulturell geprägt ist und zum anderen postdramatische Züge im Sinne Hans-Thies Lehmanns enthält. Auch wenn Lehmann in seinem Essay Postdramatisches Theater vorwiegend auf Inszenierungen, Regisseur_in‐ nen und Gruppen des deutsch-, flämisch- und englischsprachigen Raums ein‐ geht, 1 scheint der Blick auf das spanische Experimentaltheater der 1960er und 1970er Jahre insofern äußerst lohnend, als sich hier - trotz aller kulturellen Repression und Abschottung während des Franco-Regimes - vergleichbare Tendenzen zeigen. In Lehmanns Studien Theater der Blicke, Theater und Mythos und schließlich Postdramatisches Theater werden vor allem drei Hauptargumentationsstränge deutlich: 2 Erstens wird die Bindung der Theatertexte auf der Textebene von den traditionellen Konventionen der Gattung Drama gelöst; dies bedeutet im Ein‐ zelnen, dass die Figur als Grundkonstituente aufgegeben wird, dass den teleo‐ logischen Implikationen von Finalität und Kausalität der Handlungslogik eine Absage erteilt werden und dass die klassische Einhaltungsforderung der drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung beliebig überschritten wird. Zweitens wird die theatrale Kommunikation nicht mehr vom Text dominiert. Die szeni‐ sche Darstellung stellt folglich eine freie Auseinandersetzung mit dem Text dar, <?page no="238"?> 3 Martin Buchwaldt, Ästhetische Radikalisierung. Theorie und Lektüre deutschsprachiger Theatertexte der achtziger Jahre, Frankfurt am Main 2007, S. 50. 4 Wilfried Floeck, Spanisches Gegenwartstheater I. Eine Einführung, Tübingen 1997, S. 40. ist aber keinesfalls mehr allein Umsetzung des Skriptes, bzw. kann gänzlich auf Text verzichtet werden. Damit ist der Text nur noch ein gleichberechtigter Be‐ standteil des akustischen, musikalischen, gestischen und visuellen Gesamtzu‐ sammenhangs der Aufführung. Drittens „ist die Zugehörigkeit einer Theater‐ aufführung zum Paradigma des ‚Postdramatischen‘ nicht von einzelnen Charakteristika oder Stilelementen abhängig, sondern vom Zusammenspiel der Elemente in der Gesamtkonstellation einer Aufführung.“ 3 Eine Zusammenfassung der wesentlichen Aspekte des Nuevo Teatro Español wie sie beispielsweise Wilfried Floeck in Spanisches Gegenwartstheater I (1997) vornimmt, zeigt deutlich die konzeptionelle Nähe zu Lehmanns Entwurf: Das Nuevo Teatro Español versteht sich als ein experimentelles Theater, das insofern antirealistisch ist, als es die Suche nach innovativen theatralen Ausdrucksmög‐ lichkeiten über die Vermittlung einer explizit artikulierten Botschaft stellt. Die einheitliche Figurenkonzeption wird ebenso aufgegeben wie die Dominanz des literarischen Textes. Das Nuevo Teatro Español ist ein antiliterarisches Theater, das den Text bisweilen lediglich als Prä-Text für die Auf‐ führung betrachtet und in der Sprache nur eine unter anderen Ausdrucksmöglich‐ keiten sieht, der die non-verbalen Codes von Bühnenbild und Requisiten über visuelle und akustische Techniken bis hin zur Körpersprache des Schauspielers gleichberech‐ tigt zur Seite treten. 4 2. Das Nuevo Teatro Español als transkulturelles Theater Das spanische Theater der Franco-Zeit (1936/ 39-1977) ist von der Repression jeglicher experimenteller Formen und dem massiven Einfluss des zutiefst kör‐ perfeindlichen Nationalkatholizismus geprägt. Es dominiert in diesen Jahren ein konservatives, dem Publikumsgeschmack angepasstes bürgerliches Unterhal‐ tungstheater. Ab den 1950er Jahren betritt die so genannte „realistische Gene‐ ration“ (generación realista) die spanische Nachkriegsbühne und stellt der bür‐ gerlichen Komödie eine Anti-Evasionskomödie zum Nachdenken entgegen, in der soziale und politische Probleme der Gegenwart zum Teil deutlich zur Sprache kommen. Der Realismusbegriff ist dabei etwas irreführend, da kein mi‐ metischer Realismus gemeint ist. Vielmehr enthält der neue Realismus entspre‐ chend der Poetik des_r jeweiligen Dramatiker_in ganz eigene Ausprägungen: Antonio Buero Vallejo versteht seinen Realismus als symbolistisch und versucht 238 Marina Ortrud Hertrampf <?page no="239"?> 5 Riaza bezeichnet sein Theater daher auch explizit als teatro undergroundado (vgl. Isa‐ belle Reck, „La parábola del poder en el teatro del ‚undergroundado‘ Luis Riaza“, in: Daniel Meyran, Alejandro Ortiz, Francis Suréda (Hgg.), Théâtre et pouvoir. Teatro y poder, Perpignan 2002, S. 233-244). 6 Wellwarths Studie stellt die erste systematische Analyse des Nuevo Teatro Español dar: George E. Wellwarth, Spanish Underground Drama, University Park, PA 1972. 7 Zum Begriff der Transkulturalität siehe: Wolfgang Welsch, „Was eigentlich ist Trans‐ kulturalität“, in: Dorothee Kimmich (Hg.), Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, Bielefeld 2012, S. 25-39. die Zuschauer_innen stärker in die innere Welt seiner Figuren zu integrieren, Alfonso Sastre will mit seiner „komplexen Tragödie“ (tragedia compleja) ein Theater des sozialen Realismus in der Tradition Brechts schaffen und José Martín Recuerda misst in seinen Stücken eines poetisch-iberischen Realismus vor allem nonverbalen theatralen Zeichen eine herausragende Rolle zu. Die grundsätzlich politisch und sozial kritische Haltung sowie die Infragestellung theatraler Konventionen führt jedoch rasch dazu, dass die neue Tendenz den staatlichen Kontrollmechanismen des Theaterbetriebes zum Opfer fällt und so massiv marginalisiert wird, dass die generación realista in ihrer theatralen Un‐ sichtbarkeit einer „verlorenen Generation“ (generación perdida) und ihr Theater einem „zum Schweigen gebrachten Theater“ (teatro silenciado) gleicht. Trotz der staatlichen Marginalisierung innovativer Strömungen verstärken sich in den 1960er Jahren die Tendenzen zu einer non-konventionellen Erneu‐ erung des Theaters. Aufgrund der Zensur des Franco-Regimes wird auch dieser erneute Reformversuch in den Untergrund gedrängt und agiert daher weitge‐ hend außerhalb des staatlichen Kultur- und Theaterbetriebes. 5 Die Vertreter_in‐ nen dieses subkulturellen Theaters, zu denen der US-amerikanische Theater‐ wissenschaftler George E. Wellwarth neben Luis Riaza auch José Ruibal, Miguel Romeo Esteo, José María Bellido, Antonio Martínez Ballesteros, Luis Matilla, Alberto Miralles, Eduardo Quiles und Jerónimo López Mozo zählt, 6 versuchen nun ein dezidiert antirealistisches, den literarischen Text nicht mehr zentral setzendes Experimentaltheater zu etablieren, das - trotz der kulturellen Repres‐ sion - auf sämtliche Formen des europäischen und US-amerikanischen (Neo-)Avantgardetheaters rekurriert, diese miteinander und mit spanischen Formen des frühen Avantgardetheaters verschmilzt und zu etwas Neuem wei‐ terentwickelt. Aufgrund dieser über die nationalen Kulturtraditionen hinaus‐ gehenden Amalgamierung unterschiedlichster innovativer Formen des Thea‐ terschaffens, kann das Nuevo Teatro Español als künstlerisch-ästhetisches Beispiel von Transkulturalität betrachtet werden. 7 Das Nuevo Teatro Español schreibt sich deutlich in die Tradition von Ramón María del Valle-Incláns (zu seiner Zeit vergeblich gebliebenem) Versuch einer 239 Das Nuevo Teatro Español als postdramatisches Theater transkultureller Prägung <?page no="240"?> 8 Der Begriff bedeutet ursprünglich so viel wie „hässliche Gestalt“, „Vogelscheuche“ und bezeichnet zudem einen „grotesken Handlungsakt“. 9 Zu Valle-Incláns esperpento siehe z.B.: Marina Ortrud Hertrampf, „Bohème und nihilis‐ tische Subversion: Ramón del Valle-Incláns Luces de Bohemia (1920/ 24)“, in: Hispano‐ rama 139 (2013), S. 4-12. 10 Insbesondere das Theater Artauds, das als Vorläufer des postdramatischen Theaters betrachtet werden kann, ist für innovative Theaterbewegungen in Frankreich ab den 1950er Jahren wegweisend. Mit Blick auf die Nuevo Teatro Español-Bewegung ist be‐ sonders auch auf den im französischen Exil wirkenden Fernando Arrabal hinzuweisen, der mit seinem Theaterkonzept des Panischen eine höchst provokante Ästhetik der Brüche sämtlicher Normen und eine Durchmischung unterschiedlichster Gattungen und Genres propagierte. Arrabal beschreibt sein Theater wie folgt: „[…] nous faisons du théâtre une fête, une cérémonie d’une ordonnance rigoureuse. La tragédie et le guignol, la poésie et la vulgarité, la comédie et le mélodrame, l’amour et l’érotisme, le happening et la théorie des ensembles, le mauvais goût et le raffinement esthétique, le sacrilège et le sacré, la mise à mort et l’exaltation de la vie, le sordide et le sublime s’insèrent tout naturellement dans cette fête, cette cérémonie ‘panique’. […] Le théâtre que nous élaborons maintenant, ni moderne, ni avant-garde, ni nouveau, ni absurde, aspire seulement à être infiniment libre et meilleur. Le théâtre dans toute sa splendeur est le miroir le plus riche des images que puisse nous tendre l’art d’aujourd’hui, il est aussi la prolongation et la sublimation de tous les arts. Le théâtre panique s’impose à nous par la démesure de son univers baroque qui illumine un monde délirant, plein d’eau claire et de médiums, un monde où les costumes, les décors et la musique et ses instruments jaillissent d’un même ventre; comme les combinaisons d’un unique kaléi‐ doscope sauvage.“ (Fernando Arrabal, „Le théâtre comme cérémonie ‚panique‘“, in: ders., Le Panique, Paris 1973, S. 97-100, hier S. 98.) 11 Für eine knappe Einführung in die Gattung des Fronleichnamsspiels als allegorisches Totaltheater siehe: Ignacio Arellano, „The Golden Age Sacramental Play: An Introduc‐ tion to the Genre“, in: ders. (Hg.), Dando luces a las sombras: Estudios sobre los autos sacramentales de Calderón, Madrid 2015, S. 15-36. radikalen Theatererneuerung ein und führt diesen gewissermaßen fort. Bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte Valle-Inclán mit seinem so ge‐ nannten esperpento 8 angestrebt, ein groteskes Theater zu schaffen, das große Nähe zum expressionistischen Theater aufweist und zugleich auf das absurde Theater vorausdeutet. 9 Weitere wichtige Ankerpunkte des Nuevo Teatro Es‐ pañol, die ihr Vorbild außerhalb Spaniens finden, sind das epische Brechttheater, das absurde und groteske französische Theater, Artauds Théâtre de la Cruauté, die Living Theater Performance sowie die Ausdrucksmöglichkeiten des Happe‐ nings. 10 Zugleich lässt das Nuevo Teatro Español dem Symbolischen und Alle‐ gorischen des spanischen Barocktheaters, insbesondere dem Fronleichnams‐ spiel (auto sacramental), 11 eine besondere Bedeutung zuteilwerden, weshalb Autor_innen dieser subkulturellen Theaterform auch als symbolistische Gene‐ ration (generación simbolista) bezeichnet werden. 240 Marina Ortrud Hertrampf <?page no="241"?> 12 Zur Heterogenität des Nuevo Teatro Español siehe auch: José Rodríguez Richart, Teatro españole hispánico. Siglo XX, Madrid 2012, S. 243-257. 13 Vgl. Luis Riaza, „Prólogo sobre casi todo lo divino y lo humano“, in: ders., El desván de los machos y el sótano de las hembras. El palacios de los mons, Madrid 1983, S. 41-117, hier S. 99. Die neo-avantgardistischen Dramatiker_innen der Nuevo Teatro Es‐ pañol-Strömung propagieren ein erneuertes spanisches Theater, ohne dabei je‐ doch eine homogene Gruppe zu bilden. 12 Trotz aller poetologischer und thea‐ traler Unterschiede lassen sich wesentliche Gemeinsamkeiten der Spielarten des subkulturellen Untergrund-Theaters erkennen: So handelt es sich stets um kri‐ tische, zwischen Parodie und Groteske oszillierende Auseinandersetzungen mit Macht und Unterdrückung, Norm und Tradition, Katholizismus und Sexualität. Es ist ein Theater der Befreiung auf der Suche nach neuen theatralen Formen, für das die Brechung konventioneller Theaterverfahren, Intermedialität, Gen‐ redurchmischung, Metatheatralität und Züge des barocken Sinnentheaters cha‐ rakteristisch sind. Politisch ist das Nuevo Teatro Español nicht nur durch die Thematisierung von Macht und Terror, sondern auch durch die Hervorhebung der Agonie des Franco-Regimes gekennzeichnet. Dies geschieht, indem den monumental inszenierten Machtdemonstrationen und selbstglorifizierenden Zeremonien Francos mit einem stark rituellen und zeremoniösen Theater ein Kontrapunkt entgegengestellt wird, der von Parodie, karnevalesken Transgres‐ sionen, Blasphemie, offener Sexualität und einer subversiven Sprachgestaltung geprägt ist. Denn den Autoren des Nuevo Teatro Español geht es auch um die Bereinigung der Sprache, die sie vom franquistischen Propagandadiskurs und vom paternalistisch-nationalkatholischen Diskurs als verunreinigt betrachten. Ihre Antwort darauf ist eine am Volks- und Vulgärsprachlichen orientierte Sprache des Widerstandes, die mit orthographischen wie grammatikalischen Normen bricht und eine Vorliebe für fremdsprachige Ausdrücke, Wortspiele und Neologismen aufweist. Riazas „überbarocke Sprache“ (lenguaje superbarroco 13 ) betont vor allem die bedeutungsleer gewordenen, sinnfreien Worthülsen poli‐ tischer wie katholischer Riten. Obwohl sich die Zensur Ende der 1960er Jahre zunehmend lockert, haben die Autoren des Nuevo Teatro Español massiv mit dieser zu kämpfen; zudem gestaltet es sich nicht einfach, passende Bühnen zu finden, sodass viele der Stücke erst Jahre nach Francos Tod uraufgeführt werden. Einen gewissen Ausnahmeraum stellte das 1967 gegründete Theaterfestival von Sitges (Festival Nacional de Sitges) dar. International besucht und beachtet, präsentierte sich Spanien hier äußerst liberal und offen für Innovationen. Die jährliche Veranstaltung bot vielen Autor_innen und Theaterschaffenden des Nuevo Teatro Español wichtige 241 Das Nuevo Teatro Español als postdramatisches Theater transkultureller Prägung <?page no="242"?> 14 Zur Zensur von Riazas Werken siehe ausführlich: Berta Muñoz Cáliz, Expedientes de la censura teatral franquista, Bd. II, Madrid 2006, S. 495-532. 15 Einen guten Überblick über das Schaffen Riazas liefern: Carole Nabet Egger, Le théâtre de Luis Riaza, Villeneuve d’Ascq 2002; Pedro Ruiz Pérez, „La escritura de Luis Riaza y las exequias del teatro“, in: Luis Riaza, Teatro escogido, Madrid 2006, S. 17-46. Auftrittsmöglichkeiten. Dies gilt auch für Riazas Einakter El desván de los machos y el sótano de las hembras (1970; Das Dachgeschoss der Männer und der Keller der Frauen), der 1973 von der Zensur für die Aufführung beim Festival Nacional de Sitges durch die Sevillanische Gruppe Teatro Ensayo Círculo Hispalense (T.E.C.H.) genehmigt wurde. Das Stück war so erfolgreich, dass es mit dem Premio de Interpretación del Festival Nuevo de Sitges ausgezeichnet wurde. El desván de los machos y el sótano de las hembras durfte daraufhin beim V Ciclo de Teatro Nuevo in Jerez de la Frontera noch einmal aufgeführt werden. Weitere Aufführungen, die die T.E.C.H. in ganz Spanien geplant hatte, wurden hingegen verboten. 14 Zu der Zeit begann das Franco-Regime allerdings bereits zu bröckeln, sodass das Stück - in der von der zensurierten Version - noch mehrere Male den Weg auf spanische Bühnen fand. Mit ebenfalls großem Erfolg aufgeführt wurde das Stück 1975 im Madrider Teatro Alfil sowie von der Gruppe Corral de Comedias de Valladolid auf dem Theaterfestival Ciclo de Teatro im katalanischen Granollers. 3. Luis Riazas Spielart des Nuevo Teatro Español in El desván de los machos y el sótano de las hembras Luis Riaza zählt mit Antonio Martínez Ballesteros, Miguel Romero Esteo, Fran‐ cisco Nieva und José Ruibal zu den emblematischsten Dramatiker_innen der generación simbolista, die spanische Tradition, (neo-)avantgardistische sowie moderne Elemente des europäischen und US-amerikanischen Theaters zu einer spanischen und gleichzeitig doch transkulturellen Theaterkonzeption mitein‐ ander verschmelzen. 15 In Riazas Spielart des Nuevo Teatro Español wird Theater zu einer neobarocken Form experimentellen Ritualtheaters. Grundlage hierfür ist das traditionelle spanische Fronleichnamsspiel. Riaza nutzt die für Spaniens Barock charakteristische Gattung religiösen Theaters zum einen als parodisti‐ sche Absage an den Nationalkatholizismus, der insbesondere Calderóns reli‐ giöses Allegorienspiel als urspanische Gattung verklärte. Zum anderen über‐ nimmt er theaterpraktische Elemente des barocken Totaltheaters zur ästhetischen Erneuerung des Theaters seiner Zeit. 242 Marina Ortrud Hertrampf <?page no="243"?> 16 Vgl. Luis Riaza, Retrato de Dama con perrito, Madrid 1976, S. 17. 17 „El principal tema del teatro riacesco, como el mismo autor declara, es el ‘teatro del teatro’, es decir, el teatro como invención de la libertad y como sustitución de la vida real, y es de ahí de donde surgen como temas recurrentes en sus piezas la ambigüedad, la falsedad y la destrucción, vinculadas de uno u otro modo al poder.“ Pedro Fuentes González, Ana Manzanares Ruiz, „Algunos casos de transmutación de los clásicos gre‐ colatinos en el teatro español del final del siglo XX: Riaza, Miras, Pérez Estrada, Resino y Vega González“, in: Analecta Malacitana XXXIII (2010), S. 87-120, hier S. 93-94. 18 „[Riaza concibe] el teatro como una ceremonia anti-realista, de litúrgica sustitución de la vida, destina da a sacar al público de su letargo, y por ello defiende también la nece‐ sidad de que el teatro vuelva a sus orígenes más primigenios.“ González, Ruiz, S. 95. 19 „Riaza no se contenta con mostrarnos una realidad, sino que nos la hace sentir de forma cruel, obligándonos a entrar en un mundo que cae dentro de lo absurdo, para ahogarnos y hacernos partícipes de la misma angustiada desesperación que aqueja a sus perso‐ najes.“ E. Alcance, „IV Ciclo de teatro de Granollers. ‚El desván de los machos y el sótano de las hembras‘, de Luis Riaza“, in: La vanguardia española, 11.12.1975. 20 Vgl. Edward Gordon Craig, On the Art of the Theatre, London 1962, S. 84-85. Theater ist für ihn Erfinder der Freiheit und Möglichkeit, diese zu denken. 16 Es ist aber immer auch Theater über das Theater und er vertraut auf die Macht dieser Kunstform, soziopolitische Veränderungen bewirken zu können. 17 Riazas Theater trägt Züge des engagierten Theaters. Eines seiner zentralen Anliegen ist es, die Zuschauer_innen zu beteiligen und aufzurütteln, das Theater soll eine Form anti-realistischer Zeremonie werden. 18 Die besondere Wirkung auf die Zuschauer_innen, die auf geradezu brutale Art und Weise gezwungen werden, an der absurden Welt (der Stücke) teilzuhaben und zu unmittelbar Be‐ teiligten gemacht werden, gilt auch für sein Stück El desván de los machos y el sótano de las hembras. 19 Wie bei anderen Arbeiten des Nuevo Teatro Español handelt es sich bei El desván de los machos y el sótano de las hembras um ein politisches Stück, das die maßlose Hybris Francos ebenso inszeniert wie die re‐ pressive, misogyne Gesellschaftsstruktur und die zunehmende Gefährdung des Regimes von außen wie aus sich selbst heraus. Gekoppelt wird die Kritik an Francos Despotentum auch in dieser Arbeit mit der Kritik an der Triebrepression der verlogenen nationalkatholischen Kirche und ihren sinnentleerten Ritualen. Die blasphemische Inversion des auto sacramental im Kontext eines desakrali‐ sierten neo-barocken Festspektakels mit Gesängen und Tänzen scheint Riaza hierfür die geeignete Form. Die harsche Kritik an Politik und Kirche erfolgt mittels der Darbietung von Figuren und einer Handlung, die zutiefst grotesk und absurd erscheint und zugleich doch allegorisch parabelhaft ist. Die Figuren sind keine individuell gezeichneten, die zur Identifikation einladen, vielmehr scheinen sie austauschbar, ja marionettenhaft und erinnern an Edward Gordon Craigs Konzept der Über-Marionette. 20 Wenngleich Riaza seiner Inszenierung 243 Das Nuevo Teatro Español als postdramatisches Theater transkultureller Prägung <?page no="244"?> 21 Vgl. Luis Riaza, „El desván de los machos y el sótano de las hembras“, in: ders., Teatro escogido, Madrid 2006, S. 69-132, S. 73. 22 Ebd. einen ausformulierten Text zugrunde legt, kommen Bühnenbild bzw. -kon‐ struktion, Requisite, Licht, Tanz, Musik, Gesang, Mimik und Gestik zentrale, ja gleichberechtigte Aussagekraft zu. Der Text an sich ist zudem alles andere als ein rhetorisch ausgefeiltes literarisches Werk, sondern erinnert mit seiner Di‐ rektheit und seinen Vulgarismen an (spontan geäußerte) Alltagssprache und lässt so den Schauspieler_innen auch Raum zur Improvisation. Riaza behält die vertikale Raumkonzeption des frühneuzeitlichen Fronleich‐ namsspiels bei, d. h. die sphärisch gedachte Anordnung hierarchischer Räume von Himmel, Erde und Hölle: Der Bühnenraum untergliedert sich - wie der Titel bereits andeutet - in zwei zentrale, vertikal angelegte Bühnenebenen, die das Innere eines mittelalterlich anmutenden Palastes bilden. Im Gegensatz zur klas‐ sischen Guckkastenbühne kommt hier eine zweistöckige Bühnenkonstruktion zum Einsatz, die von allen Seiten eingesehen werden kann und damit auch die klassische Trennung von Bühnen-/ Illusionsraum und Zuschauerraum aufhebt. Die obere, hell erleuchtete Bühnenebene ist der Machtraum des Autokraten und Hausherren Don. Die untere, im Dunklen liegende Bühnenebene, zu der die Schauspieler_innen über eine Strickleiter gelangen, ist der Raum der Unter‐ drückten und Schwachen, konkret von Dons Tochter, der jungen Leidi (in ho‐ mophoner Analogie zu dem englischen Lady). Die hierarchische Machtstruktur ist dabei aber eine rein diesseitige. In seiner Welt der Selbsttäuschung, in der Don nicht mehr zwischen Schein und Sein, Fiktion und Realität zu trennen vermag, gibt es keinen transzendenten Gott: Die Allmacht liegt bei dem auto‐ kratischen Hausherrn selbst, der sich mit seinem treu ergebenen Diener Boni - dem Guten - als Zentrum der Welt, als Anfang und Ende allen Seins versteht. Don ist der Herr aller Herren (Señor de los Señores 21 ) und der Schöpfer aller Schöpfer (Principiador de los Principios 22 ), der sich wie Calderóns Autor in Das große Welttheater (El gran teatro del mundo) als Leiter seines Palasttheaters in‐ szeniert. Er verteilt die Rollen und tauscht mit einer karnevalesken Vorliebe die Rollen zwischen Herr und Diener, zwischen ihm und seinem Double Boni. Die Theatermetapher wird dabei unter Einbezug zahlreicher literarischer Anspie‐ lungen und Zitate (v. a. auf Calderón und Shakespeare) immer wieder deutlich herausgearbeitet. Etwa als Boni, der hier die Rolle des so genannten bobo, des Naiv-Dümmlichen, einnimmt, - ähnlich dem Armen in El gran teatro del 244 Marina Ortrud Hertrampf <?page no="245"?> 23 Vgl. hierzu Pedro Calderón de la Barca, Obras completas, Bd. III, hrsg. von Angel Val‐ buena Prat, Madrid 1967, S. 208. 24 An unterschiedlichen Stellen wird deutlich, dass der Narr die Wahrheit erkennt und sich Boni im Gegensatz zu Don nicht nur der Inszeniertheit stets bewusst ist, sondern Don auch in gewisser Weise bemitleidet und manchen seiner Bestechungsversuche durchaus widersteht (so z. B. als Don Boni an der „Reproduktionsaufgabe“ beteiligen will; vgl. Luis Riaza, „El desván de los machos y el sótano de las hembras“, S. 89). 25 Ebd., S. 76-77. 26 „A un lado pusisteis el castillo de elegidos, y al otro lado, hacia el occidente del meri‐ diano, la leprosería“ (ebd., S. 72) und „Y aparte de la lepra y el caos, ¿qué más puede existir fuera del ámbito del castillo? ” (ebd., S. 80). Die starke Dichotomie zwischen oben/ unten, innen/ außen, Macht/ Ohnmacht und die Ausgrenzung von allem Alteritären aus dem Machtraum spiegelt sich auch in Riazas Selbstbild als Autor im Franco-Regime wider. Dass sich Riaza selbst zu den von Don gefürchteten Leprösen außerhalb der sicheren Mauern seines Palastes zählt, zeigt sich darin, dass er sich bezeichnet als „poeta ulceroso“, „el diferente“, „el maldito“, „el apestado“ und als „hereje de extramuros“ (Luis Riaza, „Prólogo sobre casi todo lo divino y lo humano“, S. 62-63). mundo 23 - seine Rolle nicht weiter spielen will, sich aber schließlich demütig fügt: 24 Boni. - (Se pone de rodillas sobre la cama, se quita el sombrero y se lo tiende a Don al tiempo que comienza a quitarse un zapato. Gemebundo.) ¡Perdóname, mi maestro y señor! ¡Se me va el santo al cielo! Sólo soy un humilde bufón a quien le ha sido negado el gran arte de hacer comedias. Permitidme que os devuelva vuestros nobles atributos. Don.— ¡Cesa, loco …! ¡Continúa en tu papel! Sólo el teatro es capaz de disimular este fatigoso peso de cetro y corona. ¡Continúa, te digo …! Boni.— (Vuelve a ponerse el sombrero y a calzarse.) Sea como ordenéis. 25 Riazas Bühnenraumkonzept basiert aber nicht nur auf einer starken Vertikal‐ ordnung, sondern zudem auf einer starken Segmentierung der horizontalen Ebene, die durch die zahlreichen Rahmungen (Käfige, Himmelbett) hergestellt wird und einen Eindruck des Gefangenseins vermittelt. Der obere Bühnenraum ist zwar per se großräumig angelegt, repräsentiert jedoch nicht nur einen nach unten abgeschlossenen Innenraum des Palastes, sondern stellt auch einen deut‐ lich nach Außen abgegrenzten Raum dar. Dieser Raum steht für einen erha‐ benen, geradezu himmlischen Mikrokosmos der Ordnung, in dem das patriar‐ chale Machtgefüge des Despoten im Gegensatz zu dem den Palast umgebenden Außenraum unangefochten besteht. 26 Wie die mehrstöckigen und prächtig dekorierten Wagenbühnen (carro-Bühne), auf denen das auto sacramental traditionell dargeboten wurde, setzt das Theater Riazas auf eine stark symbolisch aufgeladene Visualität, die zusammen mit dem gesprochenen Wort an Calderóns Verfahren theatraler Em‐ 245 Das Nuevo Teatro Español als postdramatisches Theater transkultureller Prägung <?page no="246"?> 27 Vgl. Luis Riaza, „El desván de los machos y el sótano de las hembras“, S. 74. 28 Ebd., S. 101. 29 Vgl. ebd., S. 80, S. 87 und S. 84. 30 „De Leidi vendría el sucesor del señ or Don“, ebd., S. 87. 31 Ebd., S. 87. blematik erinnert: Im Mittelpunkt der (oberen) Bühne ist ein prunkvolles Him‐ melbett platziert, in dessen Mitte sich ein abgestorbener Baum befindet, an dem allerlei Requisiten (eine überdimensionierte Sanduhr, ein barock gestaltetes Chorpult, auf dem ein riesiges Buch liegt, eine Gitarre, ausgestopfte Tiertro‐ phäen und Vogelskelette in Käfigen) hängen und der zur zentralen (Bedeu‐ tungs-)Achse des emblematischen wie intertextuellen Parabelspiels Riazas wird. Der Dialog über die Geschichte dieses Lebensbaumes zwischen Don und seinem Diener Boni verdeutlicht zwar zum einen die klare erotisch-sexuelle Aufladung des Baums (Granatapfel-, Feigen- und Olivenbaum sind seit der Antike Symbole der Fruchtbarkeit, Erotik und Sexualität), zeigt zum anderen aber auch die gren‐ zenlose Misogynie und die Lustrepression durch die mechanisierte Auffassung von freudloser Sexualität als reinem Reproduktionsakt. Der katholischen Tradition entsprechend wird das weibliche Geschlecht als Inbegriff des Bösen und Sündhaften betrachtet 27 und hat in den oberen Gemä‐ chern des Schlosses nichts zu suchen. Folglich wird Leidi, Dons „verdammte Tochter“ (hija maldita 28 ), auch in einem dunklen Kellerverlies gefangen ge‐ halten, das durch einen sich dort befindlichen Gaskocher (infiernillo) die Asso‐ ziation an das infernale Fegefeuer weckt. In seiner grenzenlos selbstherrlichen wie machistischen Selbstgenügsamkeit erklärt Don das Wort Frau zu einem „verbotenen Wort“ und die „verdammten Frauen“ zu einem „inexistenten Ge‐ schlecht“. 29 Boni scheint hier etwas klarer zu sehen, wenn er konstatiert, dass Leidi doch den Nachfahren Dons hervorgebracht habe. 30 Doch Don kontert ent‐ setzt ob solcher Ideen, dass dies gar nicht sein könne, da er sich nicht mit diesem niederen Geschlecht einlasse: Don.— Pero ¿cómo? ¿Dónde habría de encontrar carne diferente que la hinchase de sucesor? Cada carne ocupa un nivel del castillo y se ha dispuesto que ambos queden cerrados sobre sí, incomunicados, estancos … A mí mismo, con ser el que soy, no me es permitido enfangarme en cohabitaciones bochornosas. He de ser fecundado por el poder de mí propiamente. Así se dispuso. 31 Seine übermäßige Virilität, verbunden mit dem sexuellen Trieb einerseits und der Repression jeder Lust und Leidenschaft andererseits führt zu einem neuro‐ tisch-obsessiven Machtritual der Selbstreproduktion, in dem er (freilich nur 246 Marina Ortrud Hertrampf <?page no="247"?> 32 Vgl. Dons Ausrufe: „¡Machos! ¡Machos! ¡Todos machos! […] Todos son del sexo ade‐ cuado a esta parte del castillo“, ebd., S. 86. 33 Vgl. Alber to Castilla, „Introducción“, S. 66. männliche) Puppen als seine Nachkommen hervorbringt, 32 damit aber nur seine eigene, unendliche Macht gesichert sieht. Das gestörte Verhältnis des Protago‐ nist_innen zu Sexualität und Geschlechtlichkeit wird indes auch in der Travestie von Don und seiner Spiegelfigur Boni deutlich. Als Doña und Bonifacia ver‐ kleidet suchen sie Leidi in ihrem Keller auf, ohne dabei jedoch an unterdrück‐ ender Macht zu verlieren: In diesem Travestietheater im Theater wird Doña zur strengen Mutterfigur und Bonifacia übernimmt die Rolle der Amme. Getragen wird dieses Rollenspiel von den stereotypen Ratschlägen und Verhaltensregeln, die Leidi vorgestellt werden. Riazas Figuren sind nie wirklich Personen, sondern stets Inkarnationen von Rollen mit bestimmten gesellschaftlich normierten Funktionen. Nicht nur Leidi wird im dunklen Kellerverlies weggesperrt, sondern auch Ti-Prans (eine verzerrte homophone Analogie zu Petit Prince), der Sohn von Don, der Calderóns Segismundo gleich in Isolation gefangen gehalten wird, um Dons Alleinmacht nicht zu gefährden. Paradoxerweise wird der einzige männliche Nachkomme Dons aus Fleisch und Blut unter dem Ort seiner Zeugung ange‐ kettet eingekerkert. Die Welt kennt Ti-Prans nur vermittelt, sei es wie in Platons Höhlengleichnis durch die Schatten der Personen, die er von unter dem Bett aus sieht, sei es durch die Pornohefte, die er zur Triebbefriedigung erhält. Ebenso wird Leidi mit täglich neuen Sexpuppen befriedigt, die Don in seiner Selbstre‐ produktion als seine (toten) Klone hervorbringt. Der Sexualtrieb wird auf diese Weise ersatzbefriedigt, ohne dass reales neues Leben entsteht. Ursprung allen Übels, so zeigt Riaza damit, ist die Repression der Sexualität, die quasi zwangs‐ läufig zur Unterdrückung anderer führt. Die demütig-passive Haltung Leidis - als Stellvertreterin des unterdrückten spanischen Volkes - verstört zutiefst. Auch wenn sie nicht der Täuschung, dem engaño, erliegt und sich nach der realen Welt der Freiheit sehnt, bleibt sie Opfer. 33 In einem Anflug revoltierenden Willens versucht Leidi bei einem Be‐ such ihrer vermeintlichen Mutter und Amme von ihrem verliesartigen Höllen‐ raum aus in die Freiheit zu gelangen; ihren Versuch, dem Käfig einer nach Frei‐ heit strebenden Taube gleich zu entfliehen, machen Don und Boni allerdings zunichte und weisen sie an ihren Platz zurück: (Entretanto Leidi, libre de grillos, ha dado unos pasos por la escena e inspecciona algunos de los objetos que sobre elle se encuentran. Se acerca a los límites des espacio escénico y 247 Das Nuevo Teatro Español als postdramatisches Theater transkultureller Prägung <?page no="248"?> 34 Luis Riaza, „El desván de los machos y el sótano de las hembras“, S. 113. 35 „Ich warnte Sie, die Augenlieder für keine Sekunde zu schließen. Ein kurzes Nickerchen reicht und die Komödie wird zu einer unerbittlichen Tragödie. Die kleinste Unacht‐ samkeit und der Wein des Theaters wird zur Milch des Todes …“, ebd., S. 129. 36 „Dieser Haufen nutzlosen und dummen Fleisches glaubte die Kontinuität Ihrer Herr‐ schaft brechen zu können …“, ebd., S. 131. parece contemplar, con mezcla de curiosidad y terror, el ‘afuera’ de la representación. Don deja de cantar al instante y se dirige a Boni con un grito de alarma. Voz masculina.) Don.— ¡Bufón! ¡La niña …! (Boni se precipita a coger del brazo a Leidi.) Boni.— ¡No, paloma! ¡Equivocas el rumbo! ¡Te extravías! (La conduce al centro de la escena. Abarca con un gran gesto todo el ámbito de esto.) Tu libertad se despliega por este universo. Del otro lado, sólo encontrarías la ambigüedad y el desamparo. La am‐ bigüedad y las sombras roñosas de lo desconocido … ¿Me escuchas, avecica? (Leidi da unos pasos en dirección a la entrada del desván. Don vuelve a cantar su nana.) 34 Ihr Entschluss stjeht jedoch fest, sie will die Freiheit: Einer Hexe gleich (hier werden Assoziationen an Macbeth in Erinnerung gerufen) braut sie auf ihrem Gaskocher ein Gift, um Don umzubringen, an den Schlüssel des Machtraumes zu gelangen, Ti-Prans zu befreien und ihre Sexualität erstmals real auszuleben. Der Plan scheint aufzugehen, Don alias Doña scheint zu sterben und der selbst willenlos schwache Boni bietet sich der neuen Herrin sofort als Diener an. Doch ihre Vision natürlicher Sexualität scheitert an Ti-Prans, der die Scheinrealität des engaño vollkommen verinnerlicht hat. Mit der Freiheit und der physi‐ schen-spürbaren Körperlichkeit völlig überfordert, erwürgt er Leidi aus Angst vor der Realität. Gleichzeitig erwacht der scheintote Don. Boni, der das Ganze seelenruhig Rührei essend beobachtete, rechtfertigt sich seinem Herrn gegen‐ über, dass er weder dessen Scheintod noch Leidis wahrem Tod entgegenwirkte, mit den Worten: „Ya os previene que no abatierais el párpado un solo instante. Una ligera cabezadita y la comedia se convierte en tragedia inexorable. Un des‐ cuidito y el vino del teatro deviene leche de matar …“. 35 Niemand entkommt Dons unendlichem Kreislauf von Macht und Tyrannei. Leidis Leichnam verächtlich tretend stellt Boni fest: „[…] ese montón de carne inútil y estúpida que creyó quebrar la continuidad de vuestra maestría … “. 36 Ti-Prans wird unter dem Bett angekettet, die Ordnung ist damit wieder hergestellt. Das Stück endet also tra‐ gisch: Der einzige Impuls des Aufbegehrens ist ebenso im Keim erstickt wie die Möglichkeit eines realen Lebens. Dons steriler, zukunftsloser Raum scheint un‐ erschütterlich als Machtraum der Unterdrückung fortzubestehen. Und doch gibt es wenigstens einen kleinen Funken Hoffnung, wenn dieser auch von einem starken Zynismus geprägt ist. Don erkennt die unbelebte Tristheit seiner Um‐ 248 Marina Ortrud Hertrampf <?page no="249"?> 37 Ebd., S. 132. 38 Ebd., S. 124. 39 Vgl. ebd., S. 123 und 126. 40 „[…] der Beifall ist gesichert, die Zeremonie vollendet“, ebd., S. 126. gebung und will sich wieder eine Frau ins Haus holen. Der Aufruhr von draußen wird zugleich lauter und Boni schreibt seinem Herrn in seiner verlogenen Er‐ klärung des Tumultes weibliche Kräfte zu, worin sein insgeheimer Wunsch nach Läuterung und Milde zum Ausdruck kommt: Don.— Y recuérdame que mañana no dejemos de alumbrarnos otra hembrita. ¡Supone tanta alegría para nos una compañía femenina! […] Boni.— Los críos de la portera leprosa, machos y hembras, os idolatrarán como una madre fundamental, maestro. 37 Die bereits genannten Anleihen am traditionellen auto sacramental gehen am Ende des Stückes über intertextuelle Verweise auf Calderón-Stücke und die Thematisierung von Schein und Sein sowie den allegorisch-symbolischen Ge‐ halt hinaus. So wird die (vermeintliche) Vergiftungsszene als pseudo-eucharis‐ tische Zeremonie inszeniert, bei der Riaza auf blasphemische Weise mit liturgi‐ schen Versatzstücken der Sakramentsanbetung spielt: Leidi.— Bebed vino, venerable padre. Bienaventurados los que beben vino en tiempos de beber vino. Eso siempre calienta. Don.— ¿No oyes, copero …? Sírveme vino de las cepas de mi hija … (Un tiempo con la copa tendida, furioso.) ¡Sé más diligente, enano de mierda! (Boni llena la copa con el líquido verde de la marmita. Don levanta la copa.) ¡Fascinante tintura la de este líquido transverberador! ¡Sigue cantando, bufón! Boni.— (Cantando.) El más pujante entre los cuatrocientos hijos del Jefe de la Tribu invita al Gran Padre a clavarse a sí propio la azagaya de la renovación en el pecho podrido. 38 Unterstützt wird der pseudo-sakrale Eindruck durch die musikalische Unter‐ malung, so gibt Riaza an, dass zum einen ein Requiem und zum anderen sakrale Chormusik eingespielt werden soll. 39 Wenn Leidi abschließend feststellt: „[…] los aplausos están asegurados. La ceremonia, cumplida“ 40 , wird auch hier wieder 249 Das Nuevo Teatro Español als postdramatisches Theater transkultureller Prägung <?page no="250"?> 41 Ebd., S. 127. die Theatralität des Geschehens hervorgehoben, wobei gleichzeitig auf das kon‐ krete Bühnengeschehen und auf das Ritual der Eucharistie selbst verwiesen wird. Auf den simulierten Tod Dons hin scheint es Leidi eine moralische Ver‐ pflichtung zu sein, ihrem Vater in einer seltsamen Mischung aus groteskem Totentanz und pseudo-eucharistischer Anbetung die letzte Ehre zu erweisen. Dies ist insofern paradox, als Leidi sich ja gerade von dem despotischen Vater befreien will und von Boni sofort als neuer Herr betrachtet wird, und doch gleichzeitig Dons ewige Resurrektion besingt: Boni.— Vuestro padre ha muerto. Ahora sois vuestro padre, mi señora. Disponed y ordenad. Leidi.— Mi papel dispone y ordena que disponga y ordene la exequias en honor de nuestro muerto padre. Boni.— Cumplamos nuestro papel, mi señor. ¿Cómo honraremos la memoria del que fue lo que ahora sois? Leidi.— Como siempre: danzando, mi bufón. […] Leidi.— Dancemos de la danza de exequias. Dancemos de la muerte del padre. Boni.— Dancemos de la resurrección del hijo. Leidi.— Dancemos de la danza de exequias. Dancemos de la muerte del hijo. Boni.— Dancemos de la resurrección del padre. […] Leidi.— Dancemos de que en el principio era el padre. Boni.— Dancemos de que en el centro es el hijo. Leidi.— Dancemos de que en el futuro será el padre. Boni.— Dancemos, dancemos, dancemos … Leidi y Boni.— (A coro.) Dancemos de que antes del padre, en el padre y después del padre. Dancemos de que antes del hijo, en el hijo y después del hijo … Leidi.— Tal es la rueda. Boni.— Tal es el papel. 41 Die pseudo-rituelle Zeremonie unterstreicht damit die Leere der anachronisti‐ schen Liturgie, die als subtiles Werkzeug der Machthaber vertraute Sicherheit vorgaukelt. An die Inhalte wird jedoch nicht mehr geglaubt und so schläfert sie letzten Endes nur die Sinne ein und ermöglicht dadurch die Fortsetzung unzeit‐ gemäßer Strukturen und Machtverhältnisse. 250 Marina Ortrud Hertrampf <?page no="251"?> 4. Epilog Während bildende und darstellende Künste seit den (klassischen) Avantgarden in Europa als grenzüberschreitendes, transkulturelles Gesamtphänomen zu ver‐ stehen sind, verliert sich der internationale Anschluss in Spanien infolge des nationalkonservativen Franco-Regimes. Spanische Theaterschaffende, die nicht ins Exil gingen, versuchen ab den 60er Jahren aller Zensur zum Trotz und mit zunehmender Vehemenz das spanische Theater (wieder) zu internationalisieren und wählen dabei wie Luis Riaza häufig den Weg über den Rekurs auf die natio‐ nalliterarische Tradition. Der deutliche Bezug auf die sehr spanische Gattung des auto sacramental dient aber letztlich nur dazu, um mit der (insbesondere katholischen) Tradition zu brechen. In seiner Gesamtheit fügt sich Riazas The‐ aterkonzept insofern in den Transkulturalitätsgedanken ein, als seine Poetik auf der Suche nach radikalen Erneuerungsformen des Theaters diverse Formen und Elemente performativer und postdramatischer Theaterkunst vereint, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in Europa und den USA herausgebildet und etabliert haben. 251 Das Nuevo Teatro Español als postdramatisches Theater transkultureller Prägung <?page no="253"?> 1 Friedrich Hölderlin, „Sophokles: Antigonae“, in: ders.: Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe Bd. 16, hrsg. von Michael Franz, Michael Knaupp, D.E. Sattler, Basel 1988, S. 261-407, hier S. 299 (V. 349 f.). „Doch nichts ist ungeheurer als die Natur“ - Transkulturalität und Universalität bei Elfriede Jelinek Ralf Schnell (Universität Siegen) „Ungeheuer ist viel. Doch nichts / Ungeheuerer, als der Mensch“ 1 , heißt es, folgt man der Übersetzung Friedrich Hölderlins, im ersten Stasimon, dem Standlied des Chores, in der Antigone des Sophokles. Es handelt sich um einen Befund, der die Konfliktkonstellation der sophokleischen Tragödie beispielhaft zusammen‐ fasst und zugleich die gesellschaftliche Dimension des antiken Theaters exem‐ plarisch umreißt. Der Chor der Thebanischen Alten urteilt mit diesen Worten über die Ungeheuerlichkeit einer Gesetzesübertretung. Sie besteht darin, dass entgegen dem Verbot des Kreon der Leichnam des Polyneikes symbolisch be‐ stattet worden ist, und zwar, wie sich herausstellt, durch seine Schwester Anti‐ gone. Diese Ungeheuerlichkeit hat ihre Ursache freilich ihrerseits in einem Got‐ tesfrevel: Kreon hatte mit seinem Verbot gegen die Ordnung der Unterweltgötter verstoßen, die eine Bestattung der Toten zwingend gebietet. Es sind offenbar Modi des Inkompatiblen, die Sophokles miteinander kollidieren lässt: das Gesetz des Staates und die Welt der Götter. Aus ihrer Kollision geht der tragische Kon‐ flikt des Werks hervor, dessen Substanz der Befund des Chores resümiert. Das Ende ist bekannt: Die Tragödie mündet in eine Katastrophe der Vernichtung und Selbstvernichtung. Doch der Chor bezieht sich mit seinem Urteil nicht allein auf die Konflikt‐ konstellation der Tragödie. Vielmehr bietet er in der folgenden argumentativen Reihung von Bildern und Mythen eine Fülle von Beispielen, mit deren Hilfe er die Fähigkeiten und Leistungen des Menschen vor Augen führt, seine Klugheit und seinen Wagemut, aber auch seine Fehler und seine Grenzen. Die Ansprüche des Staates und der Polis kommen ebenso zur Sprache wie die Gesetze der Götter <?page no="254"?> 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Zweiter Teil, Theorie Werkausgabe, Bd. 9, Frankfurt am Main 1970, S. 13. 3 Ebd., S. 13. und ‒ dies vor allem ‒ der Natur. Es geht dem Chor um eine erweiternde und verallgemeinerbare Veranschaulichung des Konflikts, der der Tragödie in ihrer Gesamtheit zugrunde liegt. Der Chor nimmt auf diese Weise zugleich eine Deu‐ tung jener Funktion vor, die dem Theater in der Antike zufällt. Wenn ‒ pointiert gesprochen ‒ das Epos prozesshaft die Totalität des menschlichen und göttlichen Lebens zu fassen und zu formen sucht, die Lyrik hingegen konzentriertester Ausdruck von Subjektivität ist, so führt die Tragödie in Figuren und Handlung eine Ideen-Konstellation vor Augen. Deren Summe und Substanz repräsentieren in Sophokles’ Werk nicht allein der Tod Antigones und die Einsicht des unrettbar verlorenen Kreon in seine eigenen Verfehlungen, sondern ebenso jene Beispiele, mit deren Hilfe der Chor den Menschen in Begegnungen und Auseinanderset‐ zungen mit Phänomenen der Natur zeigt. Was bei Sophokles als Resümee eines unausweichlich tödlichen Verlaufs kon‐ fliktreicher Auseinandersetzungen und religiöser Verfehlungen erscheint, wird nahezu 2300 Jahre später zu einem Topos der Naturphilosophie. Unter aus‐ drücklichem, wörtlichem Bezug auf Sophokles nimmt Georg Wilhelm Friedrich Hegel im zweiten Teil seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse aus dem Jahr 1830 diesen mythologischen Zusammenhang wieder auf: οὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει ἄπορος ἐπ᾽ οὐδὲν ἔρχεται. - so zitiert er auszugsweise aus dem zweiten Akt der Antigone die Verse 334 und 360, um in einer Fußnote die Übersetzung anzufügen: „Nichts ist ungeheurer als der Mensch Unbewandert. Zu nichts kommt er“. 2 Das Zitat aus der Antigone dient Hegel zur Veranschaulichung und Beglaubigung seiner These, dass das „praktische Verhalten zur Natur […] durch die Begierde, welche selbstsüchtig ist, überhaupt bestimmt“ sei: „das Bedürfnis geht darauf, die Natur zu unserem Nutzen zu verwenden, sie abzureiben, aufzureiben, kurz sie zu vernichten“. 3 Hegel präzisiert diese These mit dem Hinweis: Die Not und der Witz des Menschen hat unendlich mannigfaltige Weisen der Ver‐ wendung und Bemeisterung der Natur erfunden. […] Welche Kräfte die Natur auch gegen den Menschen entwickelt und losläßt, Kälte, wilde Tiere, Wasser, Feuer ‒ er weiß Mittel gegen sie, und zwar nimmt er diese Mittel aus ihr, gebraucht sie gegen sie 254 Ralf Schnell <?page no="255"?> 4 Ebd., S. 13-14. 5 Ebd., S. 14. 6 Ebd. 7 Elfriede Jelinek, „Kein Licht“, www.elfriedejelinek.com/ fklicht.htm (21.2.2018). 8 Elfriede Jelinek, „Kein Licht: Prolog? “, www.elfriedejelinek.com/ fkeinlicht-prolog.htm (21.2.2018). 9 Elfriede Jelinek: „Epilog? “, www.elfriedejelinek.com/ ffukushima.htm (21.2.2018). selbst; und die List seiner Vernunft gewährt, daß er gegen die natürlichen Mächte andere natürliche Mächte vorschiebt, diese jenen zum Aufreiben gibt und sich da‐ hinter bewahrt und erhält. 4 Sein „praktisches Verhalten“ zur Natur also ermöglicht dem Menschen, natür‐ liche Ressourcen gegen die „Kräfte der Natur“ aufzubieten, um diese seinen Be‐ gierden zu unterwerfen und seinen Bedürfnissen anzupassen. In konkreten Fällen des Übergreifens „natürlicher Mächte“ auf die Lebenssphäre des Men‐ schen indes vermag sich die „List“ der menschlichen Vernunft darin zu be‐ währen, dass sie gegen die Natur „andere natürliche Dinge vorschiebt“, um sich vor Katastrophen zu schützen. Keinen Zweifel lässt Hegel jedoch im Fortgang seiner Argumentation an der nur relativen Wirksamkeit dieses „praktischen“ menschlichen Verhaltens im Kampf gegen die Natur. Ausdrücklich fügt er hinzu: „Aber der Natur selbst, des Allgemeinen derselben, kann er auf diese Weise nicht sich bemeistern, noch es zu seinen Zwecken abrichten.“ 5 Offenbar will Hegel seine Leser_innen davor bewahren, dem Irrglauben an eine mögliche Beherr‐ schung der Natur durch den Menschen zu erliegen. Die Kräfte der „Natur selbst“ sind stärker als der Mensch. 6 Fast 230 Jahre nach Hegel knüpft Elfriede Jelinek in ihren Fukushima-Texten an diese Erkenntnis Hegels an. „Viele, viele Berichte studiert. Sophokles: ‚Anti‐ gone‘ auch“, heißt es in einem Nachtrag. Aber die nahezu 2500 Jahre zuvor vor‐ getragene Einsicht des Chores bei Sophokles hat bei ihr eine entscheidende Veränderung erfahren: Aus „Doch nichts / Ungeheuerer als der Mensch“ ist „Doch nichts ist ungeheurer als die Natur“ geworden. Ihre Umschrift deutet ‒ vor dem Hintergrund des atomaren Desasters von Fukushima am 11. März 2011 ‒ auf eine Verschärfung der Lage. Es ist die zweite der Arbeiten Jelineks zur Reaktorkatastrophe in Japan. Die erste, dialogisch strukturierte mit dem Titel Kein Licht. 7 erschien 2011, die dritte mit dem Titel Kein Licht: Prolog? weist die Entstehungsdaten 7.9.2012 und 1.9.2015 auf. 8 Zeitlich zwischen diesen beiden postdramatischen Entwürfen steht der 20 Seiten umfassende Monolog Fukus‐ hima - Epilog aus dem Jahr 2012, auf den im Folgenden ‒ soweit nicht anders nachgewiesen ‒ im laufenden Text Bezug genommen wird. Seine jüngste Fas‐ sung trägt ein Fragezeichen: Epilog? 9 255 „Doch nichts ist ungeheurer als die Natur“ <?page no="256"?> Ausdrücklich benannt wird vorab die Sprecherin des Epilogs: „Eine Trau‐ ernde. Sie kann machen, was sie will“. Diese Protagonistin spricht als Opfer der Reaktor-Katastrophe von Fukushima. Sie klagt, und sie klagt an. Sie leidet und sie trauert. Sie ist zornig und verzweifelt, sie rebelliert, und sie resigniert: Doch was ist schon eine Klage! Frauensache. Unsinn. Große Blicke, große böse Streiche vergelten? Nicht die Sache der Frauen. So wie sich uns alles entzogen hat, ja, auch den Männern, und auch das, was nicht spricht, was stumm ist oder Stimme, egal, Natur, einmal gebrüllt, gut gebrüllt, Löwe! , dann Stille, es entzieht sich uns alles, was keinen Herren kennt und in uns den Herren schon gar nicht erkennt. Wir wissen nichts. Ich höre keine Stimmen. Wir sind vielleicht Frauen von irgendwem, doch wir sind nicht Herren von irgendwas. Alle Register der Modulation von Empörung, Ekel und Entsetzen stehen ihr zur Verfügung. Die Quintessenz des Aufschreis, die dieser Text in Repetition und Variation unablässig wiederholt, lautet: „Doch nichts ist ungeheurer als die Natur“. Jelinek knüpft mit dieser Kontrafaktur unüberhörbar an die Antigone des Sophokles an, doch sie tut es auf eine überraschende Weise. Sie bietet das bei ihr bekannte Verfahren des assoziativen Sprach- und intertextuellen Vexier‐ spiels, hier also den kontrafaktischen Bezug zur Sophokles-Übersetzung Höl‐ derlins, in Gestalt einer auf Widerspruch angelegten, an Hegel inhaltlich an‐ knüpfende Assonanzkette. Diese kontextualisiert das Sophokles-Zitat in der Absicht, die in ihm formulierte Erkenntnis zu korrigieren. So ein Theater wegen dem bißchen Erde! Was soll die schon groß bewirken? Die Erde ein Ungeheuer. Aber ungeheuer ist viel. Ich ändere den Rest um, damit hier das richtige steht: Doch nichts ist ungeheurer als die Natur. Der Mensch ist zwar ein Ungeheuer, aber er ist ein Dreck, ein Nichts gegen die Natur. Sogar ein Blatt ist mehr, es ist ge‐ nügsamer. Es wird ja nur noch von dieser Natur gesprochen, das Beben, über die Nacht des Meeres kommt es daher, das Ungeheuer Natur, diese Furie, man sieht sie jeden Tag, wenn man uns läßt, wenn man uns hinterläßt, wenn man uns nur hinterlassen würde! , wenn man uns sie sehen ließe, daherschwankend wie ein Mensch es nie könnte, über die Bretter des Meeres. Verschiedentlich hat Elfriede Jelinek für ihre literarischen Arbeiten den Begriff „Textflächen“ und für diesen ausdrücklich auch die Urheberschaft in Anspruch genommen. Die Rolle der Trauernden in ihrem Epilog zu Kein Licht. besteht in einer unaufhörlich assoziativen, unablässig fortdauernden Form der Textpro‐ duktion, die „Sprechen als Fläche“ praktiziert und auf diese Weise „Textflächen“ generiert. Sie „stelle eben keine Menschen dar“, so Jelinek. Die Figuren „müssen sprechen, mehr brauche ich nicht“. Und: „Ich lasse noch nicht einmal Eigenes 256 Ralf Schnell <?page no="257"?> 10 Elfriede Jelinek: „Textflächen“, http: / / www.elfriedejelinek.com/ ftextf.htm (21.2.2018). 11 Vgl. zum Einfluss Wittgensteins auf Jelineks Prosa die Arbeit von Uda Schestag, Sprach‐ spiel als Lebensform. Strukturuntersuchungen zur erzählenden Prosa Elfriede Jelineks, Bielefeld 1997. 12 Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe Band. 1: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1984, S. 262 (§. 43). 13 Wittgenstein, S. 449 (§. 559). 14 Vgl. Ralf Schnell, „Stoffwechselprozesse. Oberfläche und Tiefenstruktur in Elfriede Je‐ lineks Roman Die Kinder der Toten“, in: Thomas Eder, Juliane Vogel (Hgg.), Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek, München 2010, S. 169-179. und Fremdes in einen Dialog treten, denn beides, Eigenes wie Fremdes, wissen längst nicht mehr, haben es nie gewußt, wovon die Rede ist, wenn sie reden“. 10 Es handelt sich um eine entschiedene Absage an die Ratio der Diskursivität kommunikativen Handelns, die zugleich ein Plädoyer gegen harmonistische Konzepte der Alteritäts- und Interkulturalitätsdebatte ist. Damit richtet sich dieses Konzept auch gegen alle hermeneutischen Versuche, eine ‚Oberflächen‐ grammatik‘ von einer ‚Tiefengrammatik‘ zu unterscheiden und so die Heraus‐ arbeitung des ‚eigentlich‘ Gemeinten der Deutung der Interpret_innen zu über‐ antworten. Jelinek ist - nicht nur in dieser Hinsicht 11 ‒ Schülerin des späten Ludwig Wittgenstein. „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“, heißt es in den Philosophischen Untersuchungen. 12 Wie in Wittgensteins Sprachphilosophie liegt auch in den „Textflächen“ Jelineks die Bedeutung eines Wortes oder eines Satzes offen zutage: „Denn es ist ja nichts verborgen, wie sehen ja den ganzen Satz! Die Funktion muß sich im Laufe des Kalküls zeigen.“ 13 Es wäre jedoch ein Missverständnis ‒ des Begriffs „Textfläche“ wie des Jeli‐ nek’schen Verfahrens ‒, zu vermuten, Jelineks Texte besäßen keine Struktur. 14 Schon der Entwurf ihrer Figur einer Trauernden ‚nach Fukushima‘ folgt einer zweifachen transkulturellen Codierung. Zum einen steht sie in einer literari‐ schen Tradition, die auf die Lamentatio zurückgeht, eine Form des Klageliedes, die sich von den alttestamentlichen θρῆνοι (thrênoi) des Jeremias bis zu ihrem lyrischen Höhepunkt in Heinrich Heines III. Abteilung der Nachgelesenen Ge‐ dichte 1845-1856 erstreckt. Drei Merkmale, die für diese Traditionslinie charak‐ teristisch sind, haben sich auch bei Jelinek nahezu unverändert erhalten, und zwar in Form von rhetorischen Komponenten, die sie für ihre Konzeption kon‐ sequent genutzt hat: die Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die Spezifik des mit‐ geteilten Kontextes und die Subjektivität des geäußerten Leidens. Im Fukushima-Text erreicht diese Traditionslinie dadurch einen Gipfel an Expressivität, dass die Trauernde bei Jelinek nicht als Individuum konzipiert ist. Vielmehr steht sie in einer überindividuellen Reihe, die ihre zweite kulturelle 257 „Doch nichts ist ungeheurer als die Natur“ <?page no="258"?> 15 Gabriele Brandstetter, „Figura. Körper und Szene. Zur Theorie der Darstellung im 18. Jahrhundert“, in: Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hgg.), Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper - Musik - Sprache, Göttingen 1999, S. 23-38, hier S. 26; Chikako Kitagawa, Versuch über Kundry. Facetten einer Figur, Frankfurt am Main 2015, S. 17-23. 16 Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013, S. 121. 17 Jelinek, „Textflächen“. 18 Vgl. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften 7: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1979, S. 221-223. 19 Vgl. Adorno, S. 29-30, S. 66-67, S. 74-75. Codierung bestimmt: in der theaterhistorisch seit dem 18. Jahrhundert ausge‐ prägten Tradition der modernen figura, die als eine „Zeit- und Raum-Organi‐ sations-Formel“ 15 zu verstehen ist. „Sie kann machen, was sie will: “ ‒ das heißt: Sie kann in sich auf dynamische Weise Emotion und Bewegung vereinen. Sie arbeitet mit Wiederholungen und Steigerungen. Sie jongliert mit rhetorischen Unterbrechungen und Brüchen. Sie kann die unterschiedlichsten Stimmungen und Spannungen in sich austragen. Hans Belting hat in Faces (2013), einer „Ge‐ schichte des Gesichts“ (Untertitel), die enge Verwandtschaft von Porträt und Maske herausgearbeitet: Porträt im Sinn einer kulturell codierten Darstellung, die „eine personale Existenz in die dingliche Existenz eines mobilen Objekts ver‐ wandelte“, Maske im Sinn einer Rollenzuweisung nach dem Muster „sua cuique persona“ ‒ „jedem seine Rolle“ 16 . Versteht man Transkulturalität als ein dyna‐ misches Überschreiten und Auflösen kultureller Grenzen, so böte eine ange‐ messene szenische Repräsentation dieses von Elfriede Jelinek verfassten Mo‐ nologs vermutlich eine ‚Trauernde‘, die ihren Text mit einer Nô-Maske vorträgt. Zudem bewegt diese Trauernde aus Fukushima, der Elfriede Jelinek ihre Stimme leiht, der sie eine Stimme gibt und so vielleicht auch Gehör verschafft ‒ sie bewegt sich in und mit Impulsen und Rhythmen, die musikalische Qualität besitzen. Deren Medium ‒ nicht nur ein transkulturelles, sondern zugleich ein universelles Phänomen ‒ ist die Temporalität. „Die Musik ist nicht aufzuhalten“, so die gelernte Musikwissenschaftlerin Jelinek, „sie ist die Zeitlichkeit, mit der Zeit setzt sie sich mit sich selbst zusammen“. 17 Im Hinblick auf die musikalische Struktur von Fukushima - Ein Epilog lässt sich als These zunächst der Befund festhalten, dass sich dieser Text aus ‒ nicht musikalischem, sondern sprach‐ lichem ‒ „Material“ im Sinn der Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos zu‐ sammensetzt. 18 Er stellt eine Sprach-Komposition dar, die dem modernetheore‐ tischen Konzept musikalischer „Dissonanzen“ folgt. 19 Nur beispielhaft sei in diesem Zusammenhang auf Jelineks Spiel mit der Viel‐ stimmigkeit und Mehrdeutigkeit von Wörtern und Begriffen hingewiesen, die sie im Verlauf ihrer Textflächen in immer neue Bedeutungsnuancen übergehen 258 Ralf Schnell <?page no="259"?> 20 Vgl. Ralf Schnell, „‚Ich möchte seicht sein‘ - Jelineks Allegorese der Welt: Die Kinder der Toten“, in: Wara Wende (Hg.), Nora verläßt ihr Puppenheim, Stuttgart 2000, S. 250-268. 21 Metzler Sachlexikon Musik, Stuttgart 1998, S. 1077. 22 Ebd., S. 1078. 23 Jelinek, „Textflächen“. 24 Ebd. lässt. Was daran „seicht“ anmuten mag ‒ so Jelineks eigene Bezeichnung 20 ‒ orientiert sich in Wahrheit an dem musikalischen Impuls des Tritonus. Folgt man dem Metzler Sachlexikon Musik (1998), so bezeichnet dieser Begriff „die aus 3 Ganztonschritten bestehende übermäßige Quarte, z. B. c 1 - fis 1 ; sie bildet die Mitte der Oktave und markiert im Quintenzirkel als Gegenpol (fis) den Punkt äußerster Entfernung vom Ausgangston (c)“ 21 . In der Musikgeschichte war dieser zwischen der vierten und siebenten Stufe der Tonleiter gelegene Zwi‐ schenraum auch als „diabolus in musica“ bekannt und im strengen Satz als me‐ lodischer Schritt verboten. Dieses Verbot blieb „bis in die Romantik hinein wirksam, wurde aber im 17. Jh. im Sinn der Figurenlehre zugunsten ausdrucks‐ starker Auslegung gern durchbrochen“ 22 . Elfriede Jelinek ist dieser musikgeschichtliche Kontext nicht nur bekannt ‒ er ist ihr so vertraut, dass sie das kompositorische Verfahren auf ihre literarische Arbeit übertragen kann. Sie transformiert den musikalischen Vorgang in textu‐ elle Zusammenhänge und parodiert ihn in sprachspielerischer Weise. Mit un‐ überhörbaren sexuellen Konnotationen bezeichnet sie diesen melodischen Zwi‐ schenschritt als „Tritonus, der kleine Teufel, mit seinem Zweizack, also zwei ganz spezielle Töne, die Sie drücken, blasen oder streicheln können in ihrem wunderbaren Dialog“. 23 Doch ist dieser parodistische Umgang mit den musik‐ geschichtlichen Materialien kein Selbstzweck, sondern der greifbare Ausdruck eines kompositorisch inspirierten Prozesses poetischer Produktion. Er generiert jenes spezifisch Jelinek’sche Verfahren des scheinbar banalen, von Kalauern durchsetzten Spiels mit etymologischen Assonanzen und klanglichen Assozia‐ tionen. In einem kleinen, scheinbar an ihre Leser_innen sich adressierenden Werkstattbericht hat sie die Regel erläutert, der dieses Spiel folgt: Und legen Sie noch einen Ton drauf und dann noch einen Halbton, dann haben Sie insgesamt drei ganze Töne gewonnen, gratuliere, einen Tritonus, der Ihnen dann sogar zwei ganze Lösungen anbietet, wie Sie sich, ich meine ihn, auflösen können; das ist ein unbestimmtes Intervall, dem Sie ruhig Ihre Stimme, Ihre Stimmung, ihre Ab‐ stimmung, wohin es sich auflösen, wohin es sich verpissen soll, leihen können. 24 Neben solchen musikalischen Strukturen und der figura-Konzeption der Prot‐ agonistin prägen den Text eine Reihe von Begriffen und Bildern, die ihrerseits 259 „Doch nichts ist ungeheurer als die Natur“ <?page no="260"?> 25 Elfriede Jelinek, Die Kinder der Toten, Reinbek 1995, S. 575. 26 Ebd., S. 655. 27 Hartmut Böhme, Aussichten der Natur. Naturästhetik in Wechselwirkung von Natur und Kultur, Berlin 2017, S. 80. eine transkulturelle und universelle Valenz besitzen. Hierzu zählt das thematisch bedingte Basiswort „Wasser“ - in Fukushima - Epilog ein Elementarbegriff mit universeller Ausstrahlung. Sein strukturelles Pendant aus dem Reich der Ele‐ mente findet „Wasser“ in den Worten „Licht“, „Sonne“, „Helligkeit“. Das Wort dominiert nicht nur die Eingangssequenz des Textes, sondern wird leitmotivisch in seinem Verlauf immer wieder aufgenommen und erfährt am Ende eine gera‐ dezu kaskadenhafte Anhäufung und Aufladung. Es überschwemmt den Text, in einem ganz buchstäblichen Sinn, und nimmt damit strukturell und ästhetisch die Signatur dessen in sich auf, was Fukushima als Faktum wie als Chiffre be‐ deutet. Jelinek hat sich bekanntlich bereits in früheren Texten mit Umweltproblemen auseinandergesetzt, so in Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr (1985) in Form einer Attacke auf die Verklärung der beschädigten Natur, ebenso in ihrem Jahrhun‐ dertroman Die Kinder der Toten (1995) - eine einzigartige Klage über die ökolo‐ gische Blindheit der modernen Gesellschaft. Schon hier erscheint „Wasser“ als Chiffre unaufhaltsamer Zerstörung: „Die Wasser regieren, sonst regiert nie‐ mand. Die Lüfte werden vom Wasser verwaltet, aber das Wasser herrscht al‐ lein“. 25 Schon hier findet sich mit der Wendung „DIE MURE. DIE FURIE“ 26 der Bezug auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dessen geschichtsphilosophisch in‐ spiriertes Bild einer „Furie des Verschwindens“ aus der Phänomenologie des Geistes zitiert wird. „Doch nichts ist ungeheurer als die Natur“ ‒ Jelineks Text Fukushima ‒ Epilog, so darf man resümieren, zieht eine poetische Bilanz der gegenwärtig erreichten Störung des menschlichen Verhältnisses zur Natur, einer Beschädi‐ gung, der eine transkulturelle und zugleich universelle Bedeutung zukommt. „[I]n dem Maße, wie in den Phänomenen der Natur die menschlichen Kulturen die Effekte ihrer selbst zu entziffern lernen, und im Maße, wie auch umgekehrt in den kulturellen Artefakten und Dynamiken solche der Natur erkannt werden“, so lässt sich dieser Zusammenhang mit Hartmut Böhme umschreiben, löst sich der Gegensatz von Natur und Kultur auf. Wir erkennen an der Natur ‚da draußen‘ die Anteile, die wir uns zurechnen müssen, und erfahren an uns externe und intrinsische Effekte, die uns nicht als Subjekten angehören und deren transitorischer Schauplatz wir sind. 27 260 Ralf Schnell <?page no="261"?> 28 Yoko Tawada, Fremde Wasser, Tübingen 2012, S. 120. Ihre inhaltliche Entsprechung findet diese Gegenwartsbilanz in den Poetikvor‐ lesungen der in Deutschland lebenden Japanerin Yoko Tawada, die, entstanden im Jahr 2012, den bezeichnenden Titel Fremde Wasser tragen. Japan habe nach der Katastrophe von Fukushima keine Möglichkeit, sich in eine „zweite Epoche der Isolation“ zurückzuziehen, so Yoko Tawada, „weil das Meereswasser, die Welt in einer einzigen Kugel zusammenhält. Das verseuchte Wasser bleibt nicht an einer Stelle, und ich meine das nicht metaphorisch“ 28 . Elfriede Jelinek hat diese Einsicht zu einem Monolog der Ausweglosigkeit verdichtet, dem im The‐ ater unserer Zeit ein singulärer Stellenwert zukommt. 261 „Doch nichts ist ungeheurer als die Natur“ <?page no="263"?> Kollektivität und (Post-)Migration <?page no="265"?> 1 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 40; Diana König, Das Subjekt der Kunst: Schrei, Klage und Darstellung. Eine Studie über Erkenntnis jenseits der Vernunft im Anschluss an Lessing und Hegel, Bielefeld 2011, S. 19. 2 Günther Heeg, „Die Geste der Scham als Grundgeste des Theaters“, in: Bernhard Streck (Hg.), Die gezeigte und die verborgene Kultur, Wiesbaden 2007, S. 69-80, hier S. 71. 3 Vgl. Günther Heeg, „Das transkulturelle Theater. Grenzüberschreitungen der Theater‐ wissenschaft in Zeiten der Globalisierung“, in: Gerda Baumbach, Veronika Darian, ders., Patrick Primavesi, Ingo Rekatzky (Hgg.), Momentaufnahme Theaterwissenschaft: Leip‐ ziger Vorlesungen, Berlin 2014, S. 150-163. Blöße-Geben. Postdramatische Spielformen der Exophonie in Nicolas Stemanns Inszenierung von Jelineks Die Schutzbefohlenen und Rabih Mroués Riding on a Cloud Julia Prager (Technische Universität Dresden) 1. Aufriss: Theatrales Blöße-Geben Als im griechischen Theater der Einzelne aus dem Chor heraustrat und seine Stimme erhob, wurde das Individuum zum ersten Mal sicht- und hörbar. 1 Doch die scheinbar emanzipatorische Bewegung des Heraustretens des Einzelnen lässt sich nicht abtrennen von Gefährdung: Die Zurschaustellung birgt immer auch die Gefahr, „sich eine Blöße zu geben“ 2 . Wenn im zeitgenössischen Theater vermehrt Migrationsbewegungen, Flucht und „Globalisierung“ 3 verhandelt werden, indem Geflüchtete oder - aufgrund unklarer Aufenthaltsbedingungen - immer noch Fliehende auftreten, „andere“ Stimmen und Körper sicht- und hörbar werden, dann steht in Frage, was die Phrase „sich eine Blöße geben“ für das Theater heute bedeuten kann. Dabei ist keineswegs ausgemacht, ob sich jemand eine Blöße gibt oder ob Blöße nicht vielmehr gegeben wird. Gleichzeitig lässt sich fragen, wen oder was das Theater als Theater bloßstellt. Anders ge‐ fasst: Inwiefern lässt sich „Blöße“ überhaupt für die theatrale Situation, ihr Changieren zwischen Fakt und Fiktion, behaupten? <?page no="266"?> 4 Vgl. Heeg, „Die Geste der Scham als Grundgeste des Theaters“, S. 69. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 71. 7 Léon Wurmser zit. nach: ebd. 8 Ebd. 9 Vgl. Tobias Scholz, Distanziertes Mitleid. Mediale Bilder, Emotionen und Solidarität an‐ gesichts von Katastrophen, Frankfurt am Main 2012, S. 128. 10 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt 1999. 11 Heeg, „Die Geste der Scham als Grundgeste des Theaters“, S. 70. Nach Günther Heeg gründet das Theater auf der Scham des Bloßgestellten. 4 Es basiert auf der „offenen Zurschaustellung“, nicht nur von Körpern, sondern auch von „Gedanke[n] und Gefühle[n], die das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen hätten“ 5 . Wenn sich Scham nun aber gerade als „Entzugsphänomen“ 6 gibt, das sich nicht repräsentativ darstellen lässt, dann scheint der Grund des Theaters auf merkwürdige Weise gespalten. Denn das Theater gründet insofern auf der Scham, als es als deren Maske fungiert. Hierin zeigt sich die Eigenart des dramatischen Theaters, nicht nur auszustellen, sondern das Zurschaustellen selbst durch die Darstellung zu maskieren. Sein theatrales Maskenspiel ver‐ wandelt „den auf beschämende Weise Bloßgestellten in einen schamlosen Dar‐ steller“, 7 schirmt die „Angst vor Entblößung“, die „Schamangst“, 8 ab und sucht damit die Gefährdung zu begrenzen. Dabei schützt die Maske nicht nur den Zurschaugestellten, sondern auch die Schauenden vor der beschämenden Blöße, indem sie den voyeuristischen Blick auf ihn legitimiert. Ihre abschirmende Funktion erfüllt die Maske ironischerweise dann, wenn sie nicht mehr als solche wahrgenommen, sondern vorausgesetzt wird; wenn also das theatrale Masken‐ spiel die Maske selbst maskiert. Je lückenloser und perfekter die Rollen verkör‐ pert werden, desto sicherer scheint die Gefährdung ausgesetzt, die Theater ist. Der transformativen Kraft der Maske, die den Beschämten in den Schamlosen verwandelt, geht demnach eine andere Kraft voraus, und zwar die der schein‐ baren Unterbrechung der Relationalität von Zurschaugestelltem und Schau‐ enden, von Einzelnem und Kollektiv. In der Fiktion der vierten Wand, die im 18. Jhd. eingeführt wurde, um den Betrachter sich selbst zu überlassen, 9 kulminiert die Abkehr von der Gefährdung und der prinzipiellen Gefährdetheit des Indi‐ viduums als den Anderen ausgesetztes Wesen. Während das dramatische The‐ ater die Relationalität von dem Zuschauengeben und dem Schauen aussetzt und die Scham durch das Spiel von Verbergen und Entblößen in der doppelten Mas‐ kerade verstellt, setzen einige postdramatische Theaterformen 10 die „visuelle Kommunikation zwischen dem Theater und seinem Publikum“ 11 und die geteilte Angst vor dem Bloßgestelltwerden vielfach in Szene. Ausgestellt wird nicht nur das Schauen, sondern das Schauen als Sehen: als körperliche Wahrnehmung, die 266 Julia Prager <?page no="267"?> 12 Vgl. Petra Meurer, Theatrale Räume. Theaterästhetische Entwürfe in Stücken von Werner Schwab, Elfriede Jelinek und Peter Handke, Berlin 2007, S. 110. 13 Miriam Dreysse, „Spezialisten in eigener Sache“, in: Forum Modernes Theater 1/ 2004, S. 27-42, hier S. 34. sich je schon in Bezug zu den das Subjekt konstituierenden kulturellen Rahmen ausbildet und auf diese Weise „Erkennen“ ermöglicht. Die unheimliche Allianz von (V)erkennen und Urteilen im Sehen verhandeln und gestalten Inszenie‐ rungen, wenn sie das Theater als Gerichtsszene exponieren, in der die Zu‐ schauer_innen über die Perfektion der Rollenverkörperung urteilen. Dabei ver‐ kompliziert der Einsatz von Laien-Schauspieler_innen, die teilweise als Geflüchtete markiert sind, die Situation. Wenn gegenwärtige Inszenierungen im deutschsprachigen Raum Migrationsbewegungen verhandeln, indem sie den „anderen“ Körper auftreten und sprechen lassen, das (unausgebildete) Sprechen mit Akzent oder Fremdsprachigkeit ausstellen, dann drängt sich das Theater nicht nur als Schauplatz, sondern auch als „Hörraum“ 12 auf. Vielleicht mehr noch als der sichtbare Körper sind die hörbaren Stimmen im unvermeidbar nationalen Rahmen des Theaters dem Urteil ausgesetzt. Ein solches Sprechen erschüttert in jedem Fall die unterbrechende Funktion der Maske, jedoch differieren die Arten und Weisen dieser Erschütterung im Hinblick auf das ethisch-politische Potential des „Blöße-Gebens“ erheblich. Eine Blöße, die sich als „Authentizität“ darstellt, ein Sprechen, das für sich beansprucht für und durch das Selbst zu sprechen, läuft Gefahr, Essenz, Souveränität und Urteil zu reinstallieren. Das ethisch-politisch bedeutsame Schwanken zwischen schamlosem und be‐ schämtem Sprechen droht angehalten zu werden, wenn vorschnell von einem emanzipativen Moment die Rede ist; aber auch dann, wenn die Komplexität des theatralen „Blöße-Gebens“ auf ein „Bloßstellen“ reduziert wird. Insbesondere wenn geflüchtete Personen auf die Bühne treten und zur Rede kommen, gilt es aufzuzeigen, dass ihr Sprechen ein Sprechen - im doppelten Wortsinn - durch eine Maske ist und dass „die Verunsicherung der Grenze zwischen Fiktion und Realität […] die Kategorie der Authentizität ebenso in Frage [stellt], wie sie die Kategorie des Theatralen auf ihr Verhältnis zur Realität hin befragt.“ 13 Die Blöße, von der dieser Beitrag handeln möchte, ist demnach nicht die eines „nackten Lebens“. Vielmehr bleibt sie in kritischer Distanz zu Konzeptionen, die in irgendeiner Weise einen letzten Rest, eine Position der Unverstelltheit oder des radikalen Außen voraussetzen. Diese Blöße rekurriert darauf, dass die Mög‐ lichkeit, bloßgestellt, vertrieben oder anderweitig aus einer gemeinschaftlichen Bindung entlassen zu werden, auf dem Paradox beruht, zugleich entlassen und einbehalten zu werden. Judith Butler verdeutlicht diesen merkwürdigen Zu‐ stand, wenn sie in einer kritischen Wendung gegen Giorgio Agamben argu‐ 267 Blöße-Geben. Postdramatische Spielformen der Exophonie <?page no="268"?> 14 Judith Butler, Gayatri Chakravorty Spivak, Who Sings the Nation-State? Language, Po‐ litics, Belonging, London 2011, S. 10. 15 Vgl. Heeg, „Die Geste der Scham als Grundgeste des Theaters“, S. 69. 16 Günther Heeg, Das transkulturelle Theater, Berlin 2017, S. 14. 17 Vgl. Judith Butler, Frames of War. When Is Life Grievable? , London 2009, S. 2. mentiert, dass kein „nacktes Leben“ möglich erscheint, wenn leben bedeutet, von Macht durchdrungen zu sein: „No one is ever returned to bare life, no matter how destitute the situation becomes, because there are a set of powers that produce and maintain this situation of destitution, dispossession, and displace‐ ment“. 14 Insofern das Theater als (gerichteter) Schauplatz, Ort des Spektakels und Institution eine machtvolle Anordnung darstellt, treten im Bloßstellen der Geflüchteten auf der Bühne verschiedene Rahmen von Macht miteinander in Beziehung. „Blöße-Geben“ kann dementsprechend nicht nur als theatrales Ver‐ fahren gelesen werden, sondern auch als Reflexionsfigur, die Theatralität und Realität zueinander ins Verhältnis setzt, indem sie die Verwobenheit von Macht‐ diskursen und die Verstrickungen des Theaters darin beleuchtet. Das Theater, das als moralische Anstalt „schamlos“ - wie Heeg schreibt - über die Schande seiner Held_innen zu Gericht sitzt und deren Schuld in aller Öffentlichkeit be- und verurteilt, 15 gibt sich gerade dann auf, wenn es sich als Theater hingibt, wenn es sich also selbst Blöße gibt. Ermöglicht wird eine andere Verhandlungs‐ form, in der Wahrnehmungsdispositive und daraus hervorgehende Erkenntnis‐ rahmen zur Verhandlung kommen: An die Stelle des Urteils tritt die Frage nach der Gerichtsbarkeit selbst. 2. „Exophones Blöße-Geben“ und das „transkulturelle Theater“ Dieser Beitrag möchte den Versuch unternehmen, das ethisch-politische Poten‐ tial eines postdramatisch verfassten „Blöße Gebens“ im Rahmen des „transkul‐ turellen Theaters“ zu explizieren, einer „Forschungsperspektive, die es erlaubt, historisch und räumlich unterschiedliche Gestalten und Praktiken von Theater im Licht einer künftigen transkulturellen Gemeinschaft zu sehen.“ 16 Beide dis‐ kutierten Beispiele, Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen und Rabih Mroués Performance Riding on a Cloud, entfalten Spielformen, in denen die verschiedenen Modi von „Blöße-Geben“ derart mit‐ einander in Beziehung gesetzt werden, dass das Theater zum Versuchsraum dessen wird, was sich mit Butler als geteilte Gefährdetheit (precariousness) 17 bezeichnen lässt. Die transkulturelle Gemeinschaft, die hier entworfen wird, findet ihr verbindendes Element weniger in der (gelingenden) Überschreitung von kulturellen Grenzen als in der geteilten Gefährdetheit, die aus kulturellen 268 Julia Prager <?page no="269"?> 18 Vgl. Christine Ivanovic, „Verstehen, Übersetzen, Vermitteln. Überlegungen zu Yoko Ta‐ wadas Poetik der Exophonie ausgehend von Gedichten aus Abenteuer der deutschen Grammatik“, in: Barbara Agnese, dies., Sandra Vlasta (Hgg.), Die Lücke im Sinn, Tü‐ bingen 2014, S. 15-29; Robert Stockhammer, Susan Arndt, Dirk Naguschewski, „Einlei‐ tung. Die Unselbstverständlichkeit der Sprache“, in: dies. (Hgg.), Exophonie. An‐ ders-Sprachigkeit (in) der Literatur, Berlin 2007, S. 7-27, hier S. 21. 19 Yoko Tawada, „Die Kunst des Nicht-Synchronisiert-Seins“, in: Dagmar von Hoff, Teresa Seruya (Hgg.), Zwischen Medien / Zwischen Kulturen, München 2011, S. 17-30, hier S. 23. 20 Vgl. Judith Butler, Undoing Gender, London 2004, S. 38. Normierungen von Wahrnehmungsweisen und der daran geknüpften Ausbil‐ dung von Phantasmen des „Eigenen“ und „Fremden“, von Identität und Alterität hervorgeht. Für die Analyse der spezifischen Spielformen von „Blöße-Geben“, die Ste‐ mann und Mroué als In-Szene-Setzungen eines „anderen“ Sprechens (das Spre‐ chen mit Akzent, unausgebildetes Sprechen oder Fremdsprachigkeit) gestalten, bietet es sich an, die theatrale Kategorie der Blöße mit der bisher vor allem literaturwissenschaftlich diskutierten Kategorie der Exophonie zu relationieren. Konkret erweist sich jene Konzeption von Exophonie als besonders fruchtbar, die die deutsch-japanischsprachige Autorin Yoko Tawada in ihren genreüber‐ greifenden Arbeiten poetisch-poetologisch entfaltet, da darin das Sprechen von Fremdsprachen wie auch das Sprechen mit Akzent mit einer ethisch-politischen Dimension von geteilter Gefährdetheit verknüpft wird. Bei Tawada meint Exo‐ phonie in einem allgemeinen Sinn eine Bewegung des Heraustretens der Stimme aus der Schrift, aus einer Sprache (zumeist der „Muttersprache“) oder sogar aus der Sprache an sich. 18 Abgehoben wird insbesondere auf Erfahrungen von Per‐ sonen, die aus unterschiedlichsten Beweggründen in einer anderen Sprachge‐ meinschaft leben und mit dem konfrontiert werden, was ZuGehörigkeit be‐ deutet. Die in diesem Wortspiel zur Schau gestellte Verknüpfung von Teilhabe, Anerkennbarkeit und Sprachkörper ergibt sich aus Tawadas Anschauung, die Stimme nicht allein im Körper des Sprechenden zu verorten. Vor allem - so Tawadas Argumentation - entsteht die Stimme im Kopf der Zuhörer_innen: „Man hört selektiv, man korrigiert, ergänzt und verfälscht das Gehörte. Sonst könnte man den Sprecher nicht verstehen. Man arbeitet mit, indem man Kennt‐ nisse, Vorurteile, Verdrängungen oder Einbildungen hineinbringt. Insofern ist das Zuhören, schon bevor man eine Antwort gibt, ein Dialog.“ 19 ZuGehörigkeit benennt somit Inklusions- und Exklusionsprozesse national ausgerichteter Ver‐ gemeinschaftung. In ihr drückt sich das Subjekt als sprachliches Wesen aus. Sie exponiert die Herausforderungen von „kultureller Übersetzung“ 20 in Bezug auf Wissens- und Wahrnehmungsordnungen, wobei sie der klanglichen Dimension 269 Blöße-Geben. Postdramatische Spielformen der Exophonie <?page no="270"?> 21 Heeg, „Die Geste der Scham als Grundgeste des Theaters“, S. 71. der Stimme eine besondere Rolle im Ringen um Teilhabe und Anerkennung zukommen lässt. Gleichzeitig kommt Exophonie bei Tawada als künstlerische Verfahrensweise ins Spiel, die durch das Ausstellen des Klangs bzw. der Körperlichkeit von Sprache (etwa durch das Spiel mit Rhythmus, Schriftbildlichkeit oder wörtlicher Übersetzung) die Grenzen des Sagbaren einer Sprache als Nationalsprache he‐ rausfordert. Durch das Spiel mit „Eigenem“ und „Fremdem“ exponieren exo‐ phone Verfahren das vermeintlich „Eigene“, wie eben die „Muttersprache“, als immer schon vom „Anderen“ herkommend, folglich als enteignet. Besonders im deutschen Sprachraum macht Tawada die Tendenz aus, Sprache beherrschen zu wollen. Diesem Herrschaftsgestus, der sich auf Sprachlernende gewaltsam aus‐ wirkt, setzen exophone Verfahren ihre Strategie entgegen: Das Spiel mit An‐ eignung und Umdeutung befördert eine Form von Handlungsfähigkeit, die nicht in einer Um- oder Neuverteilung von Deutungshoheit aufgeht, sondern viel‐ mehr das immerwährende Potential der Gefährdung ausstellt und damit eine geteilte Gefährdetheit einklagt. In anderen Worten regen exophone Verfahren dazu an, „sich eine Blöße zu geben“, und zwar im Sinne der Wortherkunft, die verletzliche Stelle des Selbst dem Anderen darzubieten. Damit einher geht eine veränderte Form des Zuhörens, die eben nicht mehr auf Wissen und Erkenntnis abhebt, sondern auf das Gehör-Leihen als ein Öffnen des Selbst auf den Anderen hin. Wenn Heeg bemerkt, dass die Scham lediglich als Geste wahrgenommen werden kann, und gleichzeitig dazu auffordert „die Geste der Scham, die jede Darstellung durchquert und erschüttert, […] wieder neu zu entdecken“ 21 , dann möchte sich dieser Beitrag auf eine solche Entdeckungsreise begeben. Im Fol‐ genden sollen unter dem Gesichtspunkt eines „exophonen Blöße-Gebens“ Spiel‐ formen des „anderen“ Sprechens bei Stemann und Mroué beleuchtet werden, um deren ethisch-politisches Potential einer theatralen Praxis geteilter Gefähr‐ detheit auszuloten. 3. Die Schutzbefohlenen Sowohl Elfriede Jelineks Theatertext Die Schutzbefohlenen als auch seine Insze‐ nierung durch Nicolas Stemann stellen in ihren jeweiligen medialen Konstella‐ tionen Verhandlungen von ZuGehörigkeit und das damit verbundene Recht auf Anerkennung und Schutz dar. Die textuellen wie theatralen Anordnungen und Verfahren lassen die Stimmen des „anderen“, fremdkulturellen Körpers in einer 270 Julia Prager <?page no="271"?> 22 Vgl. Butler, Frames of War, S. 1-32. 23 Elfriede Jelinek, „Die Schutzbefohlenen“, www.elfriedejelinek.com/ fschutzbefohlene.htm / (30.5.2018). Weise sicht- und hörbar werden, die als exophones Heraustreten beschreibbar wird. Deren ethisch-politisches Potential des „Blöße-Gebens“, das sich als Aus‐ druck einer unhintergehbaren Relationalität gibt, kündigt sich bereits im Titel an. Wenn Jelineks Text Aischylos’ „Schutzflehende“ zu „Schutzbefohlenen“ um‐ deutet und damit eine Spaltung in der Adressierung erwirkt, dann erscheint das Asylgesuch der Geflüchteten eben nicht nur als Antrag, sondern auch als An‐ spruch, Menschenrechte als unbedingte Verantwortlichkeit geltend zu machen. Der Text setzt ein mit einer Spaltung, die Relationalität ein- und gleichermaßen auch aussetzt, indem offensichtlich wird, dass den Menschenrechten ein Paradox eingeschrieben ist. Denn das Menschsein meint keine universale Kategorie, sondern benennt vielmehr eine Praxis des Ein- und Ausschlusses. Sollen die Menschenrechte Anwendung finden, gilt es zunächst auszumachen, wer über‐ haupt als Mensch anerkannt wird. 22 Wären geflüchtete Menschen als solche tatsächlich anerkannt, stünde ihr durch die Menschenrechte gesicherter Schutz nicht in Frage und dem Appell, Schutz zu bieten, würde anstandslos Folge ge‐ leistet. Der hier gesetzte Konjunktiv reflektiert auf die Verflechtung von Ver‐ unmöglichungsszenarien, wobei sich der Entzug des menschlichen Status mit dem Unvernehmen ihres Appells verbindet. Jelineks Text reagiert auf die Do‐ minanz des Konjunktivischen, indem er selbst ein unmögliches, ein konjunkti‐ visches Sprechen einsetzt, das sich an folgender Passage ablesen lässt: Den Herrn in diesem Land und den Stellvertretern der Herren in diesem Land und den Stellvertretern der Stellvertreter der Herren in diesem Land würden wir, wir dürfen ja nicht, aber wir würden, würden wir, wies Fremdlingen ziemt, verständig unsere blutschuldlose Flucht erzählen, bereitwillig jedem erzählen, er müßte ein Stell‐ vertreter gar nicht sein, wir würden das machen, Ehrenwort, wir erzählen es jedem, wir erzählen es allen, die es hören wollen, aber es will ja keiner, nicht einmal ein Stellvertreter eines Stellvertreters will es hören, niemand, aber wir würden es er‐ zählen, wir würden über unsere Flucht ohne Schuld, unsre schuldlose Flucht, die Sie ja immer als Flucht vor Schulden darstellen, die Flucht von Schuldlosen also erzählen, in unserer Stimme wird nichts Freches sein, nichts Falsches, wir werden ruhig und freundlich und gelassen und verständig sein, aber verstehen werden Sie uns nicht, wie auch, wenn Sie es gar nicht hören wollen? 23 In Jelineks Textverfahren lösen chorisches Sprechen und die Exzitation ein‐ zelner Stimmen einander ab, wobei die jeweiligen Reden ihrerseits von teilweise transformierten Zitatfragmenten von Aischylos, Heidegger und Medienbe‐ 271 Blöße-Geben. Postdramatische Spielformen der Exophonie <?page no="272"?> 24 Bettine Menke, Juliane Vogel: „Das Theater als transitorischer Raum. Einleitende Be‐ merkungen zum Verhältnis von Flucht und Szene“, in: dies. (Hgg.): Flucht und Szene: Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden, Berlin 2018, S. 7-23, hier S. 15. 25 Elfriede Jelinek, „Sinn egal. Körper zwecklos“, www.elfriedejelinek.com/ fsinn-eg.htm (30.5.2018). 26 Jelinek, „Sinn egal. Körper zwecklos“. richten durchsetzt sind. Dabei expliziert das chorische Sprechen die dominie‐ rende Bezeichnungspraktik einer verallgemeinernden Rede über eine anonyme Masse von „Flüchtlingen“. Die Tragödie einer solchen Depersonalisierung kul‐ miniert in Jelineks Schwanken zwischen einem metaphorischen und einem buchstäblichen Gebrauch von „Masse“, bringt diese doch nicht nur die enorme Anzahl von Flüchtenden zum Ausdruck, sondern auch das in Booten, Frach‐ träumen oder Lagern zusammengezwängte Körpermaterial. Ihr Stimmver‐ fahren gestaltet sich nicht als einfacher Versuch, jenen, die keine Stimme haben, eine solche zu verleihen, sondern exponiert vielmehr deren Unvernehmbar‐ keit. 24 Das Verfahren depersonalisierenden Sprechens scheint sich dem „Menschlichen“ zu stellen, indem es dessen vermeintliche Wesenhaftigkeit in einen unsicheren Status des Menschseins überführt und aushandelt, welche an‐ deren Formen von „Zwischenmenschlichkeit“ oder Relationalität aus der Krise des Menschseins hervorgehen können und was eine solche Krise für Text und Theater bedeuten kann. In einem ihrer „Texte zum Theater“ verknüpft Jelinek das Sprechen und Auf‐ treten auf der Bühne mit einer spezifischen Form von Handlungsmacht: Jeder einzelne, der auf dem Theater auftritt, drängt sich vor, weil er den stillen Bestand all der Menschen gefährden möchte, die sich damit zufriedengeben, gerade so eben bestanden zu haben und es, darüber hinaus, nicht einmal zulassen wollen, daß einer vor sie hintritt und über sie herausgehoben wird. 25 Zunächst wird in dieser Passage anschaulich, dass das Heraustreten aus dem Kollektiv Selbstüberhöhung und Gefährdung ins Verhältnis setzt: Die paradoxe Verfasstheit des Subjekts besteht darin, sowohl handelndes Individuum als auch ein den Anderen überantwortetes Wesen zu sein. Erst in der Doppeltheit der hybris, ihrem selbstermächtigenden und gleichzeitig selbst-aussetzenden Mo‐ ment, wird die Relationalität des Einzelnen mit (allen) Anderen erfahrbar. Be‐ sonders interessant erscheint das Zitat im Hinblick auf ein „exophones Blöße-Geben“ als veränderte Form des Zuhörens: Wenn Jelinek das Publikum als „stillen Bestand“ 26 der Menschen adressiert, wird den still Schauenden zum einen eine gewisse Mittäterschaft zugesprochen. Zum anderen klingt in der Anklage aber auch die programmatische Forderung an, Stille wie auch Gefähr‐ 272 Julia Prager <?page no="273"?> 27 Vgl. Margarete Sander, Textherstellungsverfahren bei Elfriede Jelinek: Das Beispiel „To‐ tenauberg“, Würzburg 1996, S. 21. 28 Vgl. Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek − Theater des Nachlebens, München 2005. 29 Bettine Menke, „Zitierfähigkeit: Zitieren als Exzitation“, in: Andrea Gutenberg, Ralph J. Poole (Hgg.), Zitier-Fähigkeit. Findungen und Erfindungen des Anderen, Berlin 2001, S. 153-171, hier S. 154. dung im Rahmen eines sich selbst-aussetzenden Gehör-Leihens umzudeuten. Die Schutzbefohlenen machen zwar den unvernommenen Appell der Schutz‐ flehenden hinsichtlich der „unerhörten“ Klangkörper durchgängig thematisch, klagen aber durch die stimmliche Konfiguration des Textes und den daraus her‐ vorgehenden Rhythmus ein anderes Verstehen im Sinne eines veränderten Zu‐ hörens ein. In Bezug auf die wissenschaftliche Verhandlung des Textes lässt sich darin auch eine kritische Wendung gegen solche Lesarten ausmachen, die darum bemüht sind, die jeweiligen Zitatfragmente „dingfest“ zu machen. Entgegen der vielfach an Jelineks Textverfahren geübten Kritik, ihre Texte seien nur einer bestimmten Leserschaft zugänglich, ließe sich so argumentieren, dass das be‐ sondere Potential dieser Texte darin liegt, ein anderes Verstehen zu befördern, indem sie dazu auffordern, den Text als Stimmengewirr und vielfältige Klang‐ dimension wahrzunehmen. 27 Sie fordern eben dazu auf, Gehör zu leihen. Unter diesen Vorannahmen lässt sich Stemanns Inszenierung als weiterfüh‐ rende Aus- und Verhandlung von ZuGehörigkeit betrachten. Dabei arbeitet sich die Inszenierung nicht nur an den vom Text aufgerufenen ethisch-politischen Dimensionen ab, sondern fügt noch eine weitere Ebene hinzu, wenn neben pro‐ fessionellen Schauspieler_innen auch geflüchtete Personen als Laiendar‐ steller_innen auf die Bühne treten. Durch das unausgebildete Sprechen, das Sprechen mit Akzent oder das Sprechen von „Fremdsprachen“ erfährt Jelineks Verfahren der Exzitation eine weitere Volte. Deren volles Potential entfaltet sich im Hinblick auf den Zusammenhang von Exzitation und der rhetorischen Figur der Prosopopöie 28 : In der antiken Rhetorik gleichermaßen mit Schauspiel und Gerichtsszene verbunden setzt die Prosopopöie ein Sprechen ein, das immer schon ein Sprechen durch eine „Maske“ ist. Die Sprachmaske selbst verleiht der sprechenden Stimme ein Gesicht und setzt so die ent-sprechende Person nach‐ träglich als ihr vorausgesetzt. Im weiten Bedeutungsspektrum der Prosopopöie ist für diese Auseinandersetzung zudem jene antike Zuschreibung von Interesse, die diese als Mittel betrachtet, vor Gericht die Gedanken der Gegner derart zum Vorschein zu bringen, als ob sie „mit sich selbst sprächen“. Loben, Klagen wie auch Jammern ließen sich so „geeigneten Personen in den Mund legen“ 29 . Ste‐ manns Inszenierung spielt mit Jelineks Haltung, das Verhältnis von Theatertext und Schauspieler_innen als ein solches In-den-Mund-Legen zu begreifen, wobei 273 Blöße-Geben. Postdramatische Spielformen der Exophonie <?page no="274"?> 30 Jelinek, „Sinn egal. Körper zwecklos“. 31 Vgl. Robert Stockhammer: „Zur Theorie der Gespenster oder die Un-Logik der Lite‐ ratur“, in: Mario Grizelj (Hg.), Der Schauer(roman), Würzburg 2010, S. 13-42, hier S. 25-26. sie davon ausgeht, dass die in den Mund gelegten Worte nicht an einem „sicheren Ort“ bleiben, sondern vielmehr durch den gesamten Schauspieler_innenkörper hindurchgehen. Die durch die Prosopopöie verliehene Maske wird durch das Sprechen, das sie erst ermöglicht, gleichzeitig entstellt. Ein derart entstellendes Sprechen verändert auch die theatrale Situation als Gerichtsszene. In diesem Zusammenhang schreibt Jelinek: Die Zeugen meiner Anklage gegen Gott und Goethe, mein Land, die Regierung, die Zeitungen und die Zeit solo, sind die jeweiligen Figuren, jedoch ohne sie darzustellen und ohne sie sein zu wollen, weil sie sie ja schon sind! Also nicht im Sinn einer platten Identifikation mit einem Etwas, sondern im Sinn eines Sinns von etwas! Der Sinn läuft überhaupt durch den Schauspieler hindurch, der Schauspieler ist ein Filter, und durch ihn läuft Sand durch Sand, ein anderer Sand, durch den Sand, Wasser durch Wasser. 30 Insofern die Zeug_innen in Stemanns Inszenierung nicht nur Schauspieler_in‐ nen, sondern auch geflüchtete Personen sind, sprechen sie und sprechen sie nicht als „superstitēs“, als Überlebende. Die Differenzierung des Zeugentypus des „superstes“ von jenem des „testis“ ergibt sich dadurch, dass dessen Aussage keine Gültigkeit vor Gericht zukommt, ist sie doch in höchstem Maße subjektiv und nicht in eine allgemeine Aussage überführbar. Die Aussage des „testis“ hin‐ gegen erfüllt diese Bedingung, da ihm Objektivität zugestanden und damit seine Glaubwürdigkeit gesichert wird. Unterschieden wird folglich anhand der gram‐ matischen Person der Rede: Während die Aussagen des Überlebenden auf die erste Person angewiesen sind, ist jene des anerkannten Zeugen in die dritte Person überführbar. 31 Für das im Stück inszenierte Sprechen lässt sich sagen, dass die geflüchteten Personen als dramatis personae in ihrer emphatischen Rede der ersten Person nicht mit dieser zusammenfallen, denn ihre Rede ist Zitat. Der damit eingezogene Abstand zum Selbst erweckt den Anschein anerkannter Zeugenschaft. Gleichzeitig lässt sich nicht leugnen, dass es sich lediglich um eine inszenierte Anklage handelt. Der zitierte Text ist ein Theatertext, noch dazu ein solcher, der die Möglichkeit von Zeugenschaft wiederholt in Abrede stellt. Worum sich diese Gerichtsszene zu drehen scheint, ist also weniger der Aufweis legitimer Zeugenschaft als eine Verhandlung der Gerichtsbarkeit selbst. 274 Julia Prager <?page no="275"?> 32 Vgl. Bärbel Lücke, „Nachwort. Zu Bambiland und Babel“, www.a-e-m-gmbh.com/ ej/ fess ay.htm (30.5.2018). 33 Vgl. Yoko Tawada, Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesungen, Tübingen 1998, S. 7-22. 34 Vgl. Judith Butler, Excitable Speech: A Politics of the Performative, London 1997. In ihrer eigentümlichen Figuration als „Kippfiguren“ 32 werden die Schutz‐ flehenden auf der Bühne nicht nur als unmögliche Zeugen auf- und angerufen, sondern auch als Angeklagte. Dabei kommt dem Publikum die Funktion zu, stellvertretend für den „stillen Bestand“ der Menschen als Anklagende und Ur‐ teilende in Personalunion einzustehen. Gegenstand der Anklage sind auch die Stimmen der Geflüchteten, wobei auf die Stimme in ihrer mehrdeutigen Bedeu‐ tungsdimension als körperliche und rechtliche Stimme abgehoben wird. Das Sprechen mit Akzent - so schreibt Tawada in ihrer ersten Tübinger Poetikvor‐ lesung - setzt die Grenze von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. 33 Und eben diese Grenze wird in der Inszenierung zum Spieleinsatz, wenn Stemann die teilweise mit starkem Akzent sprechenden Geflüchteten in Beziehung mit den professionellen Schauspieler_innen bringt. Dabei unterläuft die Inszenie‐ rung eine einfache Gegenüberstellung und verfährt in besonderer Weise exo‐ phon, indem die Figuren ein Spiel mit dem Akzent beginnen, das sich der Mög‐ lichkeit widersetzt, eine klare Unterscheidung zu treffen und den jeweiligen Schauspieler_innenkörper als „real geflüchteten“ Körper zu identifizieren. Im Nachahmen von Akzenten und Dialekten gerät die „Sprachstörung“ in Bewe‐ gung und lässt sich als in das theatrale Verfahren eingegangene Störung über‐ haupt nicht mehr als solche werten. Beispielsweise setzt ein solches Spiel mit der Störung ein, wenn sich einer der Schauspieler (bis zu diesem Zeitpunkt drei weiße, männliche, professionelle Darsteller) einen falschen, schwarzen Bart vor das Gesicht zieht und den Text derart in ein Megaphon spricht, dass er in seiner klanglichen Dimension den Gesang des Muezzins parodiert. Unterbrochen wird die Szene, als ein weiterer professioneller, schwarzer Schauspieler die Bühne betritt und allein durch sein Auftreten den nachahmenden, spottenden weißen Darsteller beschämt. Dieser nimmt eiligst den Bart ab und legt ihn zusammen mit dem Megaphon in einer Weise nieder, die an eine Entwaffnungsszene erin‐ nert. Nun spricht allein der schwarze Darsteller Jelineks Text, während die drei weißen Schauspieler am Bühnenrand zu tuscheln beginnen. Sie unterbrechen die Zitation des Theatertextes, indem sie den schwarzen Schauspieler unbe‐ holfen auf Englisch ansprechen, ihn wiederholt mit „Hey“ adressieren. Diese Szene lässt sich durchaus als Parodie der Althusser’schen Anrufungsszene lesen. Anstatt sich umzuwenden und die Position des „Anderen“ einzunehmen, spricht der Angesprochene in einem Butler’schen Sinn zurück. 34 Auf Deutsch stellt er „klar“, dass er ein aus Hamburg kommender, nun in Berlin lebender Schauspieler 275 Blöße-Geben. Postdramatische Spielformen der Exophonie <?page no="276"?> 35 Tawada, Verwandlungen, S. 9. sei. Anstatt zuzuhören wiederholen die drei weißen Darsteller die Anrufung mehrfach und auszehrend. Diese slapstickartige Szene ist in vielfacher Weise mit Scham verbunden bzw. entfaltet sie eine Form des „Blöße-Gebens“, die das beschämende und gefährdete Moment in der Begegnung mit dem „Anderen“ ausstellt. Nicht nur die Anru‐ fenden werden durch das unerhörte Zurücksprechen des auf beschämende Weise Angesprochenen beschämt. Mit den Wiederholungen verstummt zudem das zunächst noch belustigte Publikum. Indem das anfängliche Gelächter nach und nach in der sich ausbreitenden Stille untergeht, wird das Publikum als Mit‐ täter exponiert. Es folgt ein nachahmendes Spiel mit Akzenten und Soziolekten, wobei der schwarze Schauspieler nun seinerseits stereotype Selbstbezeich‐ nungen wie „Dealer“, „Gangster“, „Rapper“ im ebenso stereotypen Klangbild ausruft. In einer anderen Szene zeigt eine Videoprojektion die Schauspieler_innen, die im Hamburger Dialekt skeptische Stimmen der Hamburger Bevölkerung zur Errichtung eines Flüchtlingsheims im Stadtteil Pöseldorf exzitieren. Während die Videosequenz abläuft, stehen die Schauspieler_innen schweigend unter der kreisrunden Projektionsfläche inmitten der auf dem Boden liegenden Geflüch‐ teten. Eine Darstellerin hält ein Schild in den Händen, auf dem „Wir sind Lam‐ pedusa“ zu lesen ist. Die Szene geht in das „Bärli-Lied“ über, das in besonders eindringlicher Weise eine musikalische Struktur der Wiederholung in Ohr‐ wurmqualität mit dem Text „und auf den Sarg setzen wie noch ein kleines Bärli drauf “ und weiter „wir setzen noch eins drauf “ mit projizierten Bildern von Kindersärgen in Lampedusa verkoppelt. Dabei dreht die Schauspielerin das Schild um. Die Rückseite gibt „Wir sind Pöseldorf “ zu lesen. In dieser Konstel‐ lation trifft die ost-österreichische Wendung „Bärli“ aus Jelineks Text auf den von den Schauspieler_innen über den Text gestreiften Hamburger Dialekt und stellt somit eine Verbindung zwischen verschiedenen Sprachkörpern her. Die Verkoppelungen von Dialekten, Soziolekten, Sprachen und Akzenten in den nachahmenden Verfahren stellen das körperliche Moment der Sprache aus und machen so die notwendige Positioniertheit des Subjekts als in Wahrnehmungs- und Verstehensordnungen verstricktes Wesen erfahrbar. Gleichzeitig lassen diese durchweg exophonen Verfahren das Subjekt als ein sich in einem anhal‐ tenden Transformationsprozess befindliches Sprachwesen hervortreten. Im Sprechen einer anderen Sprache, im Nachahmen des neuen Sprachrhythmus durchläuft − wie Tawada schreibt - „jeder Vokal und vielleicht auch jedes Komma […] die Fleischzellen und verwandeln die sprechende Person“ 35 . Diese 276 Julia Prager <?page no="277"?> 36 Elfriede Jelinek, „Theatergraben“, www.elfriedejelinek.com/ fjossi.htm (30.5.2018). Transformation des Selbst ereignet sich jedoch nicht nur im Sprechen, sondern auch im Hören. Voraussetzung ist hierfür eine veränderte Weise des Zuhörens, in der der eigene Körper als Resonanzraum der „anderen“ Stimmen erfahrbar wird. Im Öffnen hin zu den unvernehmbaren Stimmen und Klängen entfaltet sich ein Möglichkeitsraum einer ethischen Praxis geteilter Gefährdetheit und damit ein anderes Verstehen. Dieses sich selbst Aussetzen klingt auch in Jelineks Forderung nach einem Theater der Zurückhaltung an, „wo Fremde zu Fremden Fremdes sprechen“, wo der Zuschauer gerade nicht „seine Wirklichkeit auf die Figuren schmeißt, von denen er nichts wissen kann, weil er gar nichts wissen kann, weil er über nichts etwas wissen will“ 36 . Wenn Stemann die Schauspieler nach einem Dolmetsch für Jelineks Texte fragen lässt, wenn die Schauspieler das Publikum direkt mit den Worten adres‐ sieren „Bemühen Sie sich ein wenig, zu erfahren, was Sie niemals wissen können“, „Verstehen werden Sie uns nicht, wie auch, wenn Sie es gar nicht hören wollen“, dann stellt sich das Theater als Versuchsraum dieses anderen Hörens aus, in dem das Ungehörte und Unerhörte vernommen werden können. Im so erfahrenen „Blöße-Geben“ ereignet sich jene Verschiebung des „Wir“, die der Text wie auch die Inszenierung in Szene setzen und dessen Effekte in Bezug auf das Außen des Theaters im Kommen bleiben. 4. Riding on a Cloud In Riding on a Cloud verhandelt der in Beirut und Berlin lebende Künstler Rabih Mroué ZuGehörigkeit unter gänzlich anderen Vorzeichen. Auch in dieser In‐ szenierung wird das „Blöße-Geben“ in besonderer Weise zum Spieleinsatz, wenn Mroué die Geschichte seines Bruders Yasser in Szene setzt: Yasser wurde, das geht aus dem Programmtext hervor, während des libanesischen Bürgerkriegs im Alter von 17 Jahren angeschossen und verlor dabei die Fähigkeit - so der Wortlaut - „richtig zu sprechen“. Die Performance, die mit einer Verhandlung von Leid einsetzt, gibt Yassers Leiden einen Namen: Aphasie. Sobald die Aphasie thematisch wird und Yasser zum Teil feststellend, zum Teil (selbst)behauptend, die Worte „I am aphasic“ ausspricht, drängt sich jedoch Zweifel an der eindi‐ mensionalen Perspektive auf diese „Sprachstörung“ als Leiden auf, zumal die „Aphasie“ selbst in mehrdeutiger Weise verfasst ist: Denn der griechische Begriff aphasía (Sprachlosigkeit) steht sowohl für eine Sprachstörung ein, die vielfach mit einem Stottern einhergeht, wie auch − in einer philosophischen Wendung 277 Blöße-Geben. Postdramatische Spielformen der Exophonie <?page no="278"?> 37 Yoko Tawada, „Festrede Lange Nacht der Shortlist & Preisverleihung 2014“, https: / / ww w.hkw.de/ de/ programm/ projekte/ 2014/ internationaler_literaturpreis/ preisverleihung_lan ge_nacht_der_shortlist_2014/ festrede_yoko_tawada.php (30.5.2018). − für die Enthaltung des Urteils in Bezug auf Dinge, über die nichts Sicheres bekannt ist. Eine solche Enthaltung des Urteils fordert die Inszenierung von ihrem Pu‐ blikum ein, wenn sie ihr Spiel mit der Sprachstörung im Zusammenhang mit in Szene gesetzten Biographemen und der Stimme als angebliche Versicherung des anwesenden Körpers beginnt: Entgegen der reinen Präsenz des versehrten Kör‐ pers Yassers tritt das inszenierte Spiel mit der gestörten Stimme in Widerspruch zu der investigativen Frage „Wer spricht? “ bzw. „Wie spricht der versehrte Körper? “. Der im Programmtext aufscheinende Hinweis auf Yassers Sprachstö‐ rung lässt sich bereits als Spiel mit der Erwartungshaltung des Publikums lesen. Erwartet wird diese „andere“, stotternde Stimme, die für die Wahrhaftigkeit der vorgestellten Biographie Yassers bürgen soll. Doch während die oder eine Ope‐ rationsnarbe als Folge der Versorgung der Schussverletzung auf Yassers Stirn sichtbar wird und Yassers Bewegungen auf eine Lähmung des rechten Arms hinweisen, entzieht sich das bezeugende Stottern stets seiner Wahrnehmbarkeit. Dieser Entzug wird als exophone Strategie fassbar, insofern das vermeintliche Bloßstellen durch die feinsinnige Verhandlung von „Blöße-Geben“ im Sinne einer postdramatischen Praxis geteilter Gefährdetheit verschoben wird. Dezi‐ diert exophon ist dieses Verfahren, da das Spiel mit der „Sprachstörung“ als „anderes“ Sprechen eine pathologische Beeinträchtigung des Sprechflusses mit dem Sprechen einer Fremdsprache in Beziehung setzt. Die Performance springt zwischen arabischen und englischen Sprachverwendungen hin und her und wird dabei noch von deutschen wie auch französischen Übertiteln begleitet. Diese Verknüpfung von Krankheit und Fremdem stellt auch Tawada her, wenn sie das „andere“ Sprechen als „Stottern“ begreift und in verschiedenen künst‐ lerischen Verfahren begreifbar macht. Anstatt einer Differenzierung verschie‐ dener Modi von Sprachstörungen interessiert sie vielmehr das verbindende Thema der klanglichen Dimension von ZuGehörigkeit und damit verbundene hegemoniale Bestrebungen, Gesundes gegen Krankes abzugrenzen oder eben Nationalität zu begründen: Es ist nicht meine Aufgabe, eine regionale Färbung, einen ausländischen Akzent, einen Soziolekt und einen Sprachfehler medizinischer Art voneinander zu unterscheiden. Stattdessen schlage ich vor, jede Abweichung als eine Chance für die Poesie wahrzu‐ nehmen. Es kommt mir komisch vor, dass ich von einer „Abweichung“ spreche, denn, ich bin nicht sicher, ob es überhaupt den „Standard“ gibt. 37 278 Julia Prager <?page no="279"?> 38 Gilles Deleuze, „Stotterte er …“, in: ders.: Kritik und Klinik, Frankfurt am Main 2000, S. 145-154. Tawadas exophone Wendung des Stotterns kommt dem nahe, was Deleuze in seinem programmatischen Text „Stotterte er …“ zu stotternden Sprachverfahren schreibt: „Wenn die Sprache so gespannt ist, dass sie zu stottern, murmeln, stammeln … beginnt, rührt das Sprachliche insgesamt an eine Grenze […]“ 38 . In eben dieser Weise verfährt Riding on a Cloud selbst stotternd: Die Perfor‐ mance setzt die Störung, folglich auch die Dichotomie Störung-Ordnung aus, indem sie in ihrer spezifischen medialen Anordnung von Live-Performance, Vi‐ deoprojektion und Tonbandaufnahmen Sprache als Klangmaterialität ausstellt. Hierfür generiert Yasser in der Funktion eines Djs eine Abfolge von eingespro‐ chenen und wiedergegebenen Sätzen sowie von Projektionen der aufgezeich‐ neten Videosequenzen. Wortwörtlich arbeitet er sich an zwei Stapeln von Da‐ tenträgern ab, einem Stapel von Tonbandkassetten, auf die er spricht, um sie anschließend wieder abzuspielen, und einem Stapel von DVDs, die er in regel‐ mäßigen Abständen in das Laufwerk schiebt, um eine Videoprojektion zu starten. Viele der Textfragmente, die Yasser laut vorliest oder rezitiert und dabei mit einem Tonbandgerät aufnimmt, sind in arabischer Sprache. Für diejenigen, die kein Arabisch sprechen oder verstehen können, bleiben die von Yasser artiku‐ lierten Worte Klangmaterial, Rhythmus ohne eindeutigen Sinn. Weder eine se‐ mantische noch eine rhythmische Störung der Sprache bzw. des Sprechflusses lassen sich ausmachen. Gleichzeitig widersetzt sich die Inszenierung aber auch der geläufigen Praxis, das Fremde dem eigenen Verstehenshorizont zu unter‐ werfen, indem das Gehörte in einem stereotypen Klang-Bild, etwa jenem einer per se poetischen arabischen Sprache, eingefroren wird. Dies gelingt durch das wiederholte Abspielen der eingesprochenen Sätze und der gleichzeitig auf eine Videoleinwand projizierten englischen bzw. französischen Übersetzung, die die Rede vielfach als nicht durch und durch poetische demaskiert. Dabei gerät der Text durch die Zerstückelung und stimmliche Verfremdung durch das Tonband‐ gerät ins Stocken. Teilweise werden noch weitere Stimm-Lagen übereinanderge‐ schichtet, wenn sich die live gesprochene Stimme, die abgespielte Stimme des Tonbandes und die Stimme der Videoprojektion überlagern, verdichten und so‐ wohl klanglich als auch semantisch miteinander konkurrieren. Indem die Sprach‐ störung in ein poetisches Klangexperiment überführt wird, entzieht sich auch dem arabisch sprechenden Publikum das Stottern als körperliche Beeinträchtigung. Das Sprechen des „Anderen“ wird zu einem exophonen Verfahren der Anders‐ sprachigkeit, in dem erfahrbar wird, dass auch die „eigene“ Sprache immer schon 279 Blöße-Geben. Postdramatische Spielformen der Exophonie <?page no="280"?> 39 Vgl. Jacques Derrida, „Die Einsprachigkeit des Anderen oder die Prothese des Ur‐ sprungs“, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2 (2011), S. 153-168. 40 Jürgen Trabant, „Sprach-Passion. Derrida und die Anderssprachigkeit des Einspra‐ chigen“, in: Susan Arndt, Dirk Naguschewski, Robert Stockhammer (Hgg.), Exophonie, Berlin 2007, S. 48-65, hier S. 52. 41 Vgl. Derrida, S. 153. vom „Anderen“ herkommt, dass niemand Sprache besitzt, sondern dass wir in und durch die Sprache werden wie sich auch Sprache unaufhörlich im Werden be‐ findet. In Anlehnung an Derridas Reflexionen zur „Einsprachigkeit des An‐ deren“, die auch in Tawadas Konzeption der Exophonie nachhallt, lässt sich in dieser Erfahrung die konstitutive Fremdheit der „eigenen“ Sprache und der Sprache überhaupt ausmachen. 39 Die Sprache „ist gleichzeitig beim Ich und wo‐ anders, sie gehört gleichzeitig dem Raum des Ich und des anderen zu“ 40 . Mit dieser vermeintlichen Enteignung und der daraus resultierenden Empfindung einer in‐ neren Gespaltenheit geht ein schmerzvolles Moment einher. Die Trennung des Sprechenden von der Sprache, seine gleichzeitige Zugehörigkeit und Nicht-Zu‐ gehörigkeit, wird bei Derrida zum Ursprung seiner Leiden. Gleichzeitig öffnet sich im Spalt zwischen Ich und Sprache ein Möglichkeitsraum; er wird für Derrida zum Ort der Passion, des Begehrens und der Hoffnungen. 41 Vor dieser Folie lässt sich in der Verfahrensweise der Performance eine Umwertung im Ausstellen von Leiden ausmachen, die darauf abhebt, eine ethische Praxis geteilter Gefährdet‐ heit in Gang zu setzen, deren weitere Effekte (außerhalb) des Theaters hoffnungs‐ voll ungewiss bleiben. Um eine Verbindung zwischen dem Theater und seinem Außen zu knüpfen und damit politisch zu werden, muss sich - darauf wurde be‐ reits verwiesen - das Theater als Theater hingeben. In Riding on a Cloud gibt sich das Theater Blöße, wenn es weder seine Maskerade verstellt noch negiert. Das Schwanken zwischen Fiktionalität und Faktualität, insbesondere das paradoxe Verhältnis von Sprechen und In-den-Mund-Legen von Sprache, stellt die Perfor‐ mance von Beginn an aus. So führt sich Yasser als Yasser ein und auf, wenn er folgenden Text rezitiert: We agreed that it would be helpful to play this role, to learn that in theater everything belongs to fiction. We agreed that I have to learn that there is not only one Yasser, but probably two or three, and maybe more than 100 Yassers. But how can Yasser on stage be different from the Yasser outside the theater? Who is he? Who is “I”? How come this is not me, although I am playing myself now? We agreed that I have to learn what it means: to play, to act. We agreed that I have to learn how to differentiate between what is fiction and what is not, between what is real and what is not. These are my words, yet this is not my voice. This is my real story, yet these are not my thoughts. These thoughts are mine, yet this is not my real story. 280 Julia Prager <?page no="281"?> 42 Milan Kundera, Immortality, New York 1991, S. 200. Beharrlich lässt die Inszenierung aufmerken, dass durch Yassers Stimme die Stimme seines Bruders Rabih bzw. die Stimme seiner Texte spricht. Gleichzeitig werden dessen Texte selbst als intertextuelle Räume ausgewiesen, wodurch der Text wie auch der sprechende Körper als Echoraum lesbzw. hörbar wird. Dabei erscheint insbesondere das intertextuelle Spiel mit Milan Kunderas Roman Die Unsterblichkeit im Rahmen dieses Beitrags bedeutsam, insofern sich darin ein weiteres Verfahren der Umwertung von Leid und damit in Zusammenhang ste‐ henden Konzeptionen des Selbst im Verhältnis zu Anderen ausmachen lässt: Während Yasser in arabischer Sprache singt, erscheint auf der Leinwand eine filmische Sequenz, in der eine Hand arabische Wörter auf ein Blatt Papier schreibt. Die Übersetzung markiert eine Textstelle als Zitatfragment aus Kun‐ deras Unsterblichkeit: „In intense suffering the world disappears“. Die nächste Einblendung der Bildunterschrift fügt noch einen weiteren Satzteil hinzu: „and each of us is alone with his self.“ Dem folgt eine fragmentierende bzw. stotternde Darstellung des Romantitels und seiner Zuweisung zu seinem Verfasser: Die in der Projektion dargestellte Handschrift verlangsamt sich, sodass die Graphie in ihrer Schriftbildlichkeit erfahrbar wird. Gleichzeitig überlagern sich in der Pro‐ jektion verschiedene Zeitebenen, die das filmische Bild ins Stocken bringen bzw. neu arrangieren. Momenthaft verdoppelt sich die schreibende Hand. Die sprach‐ liche Übersetzung versucht dieser filmisch-graphischen Darstellung gerecht zu werden, wenn sie das Geschriebene erst nach und nach lesbar macht: „Immo“, „Immortality“, „Immortality by“, „Immortality by Kundera”. In der verschiebenden Wiederholung verfährt die Textwiedergabe in ent‐ scheidender Weise sinnverändernd. Die zitierte Textstelle ist einer Passage des Romans entnommen, in der die Begründung des Selbst in Verbindung mit der singulären Erfahrung von Leid gebracht wird: I think, therefore I am is the statement of an intellectual who underrates toothaches. I feel, therefore I am is a truth much more universally valid, and it applies to everything that’s alive. My self does not differ substantially from yours in terms of its thought. Many people, few ideas: we all think more or less the same, and we exchange, borrow, steal thoughts from one another. However, when someone steps on my foot, only I feel the pain. The basis of the self is not thought but suffering, which is the most fundamental of all feelings. While it suffers, not even a cat can doubt its unique and uninterchangeable self. In intense suffering the world disappears and each of us is alone with his self. Suffering is the university of egocentrism. 42 281 Blöße-Geben. Postdramatische Spielformen der Exophonie <?page no="282"?> 43 Vgl. Jacques Derrida, Die unbedingte Universität, Frankfurt am Main 2001, S. 11. Einmal mehr lässt sich im theatralen Verfahren die Strategie ausmachen, das Leiden von seiner solipsistischen Ausdeutung zu entfernen. Das Leiden Yassers wird mit verschiedenen Ansichten zum menschlichen Leid ins Verhältnis ge‐ setzt. Vielstimmigkeit, Mehrsprachigkeit und Anderssprachigkeit werden in der medialen Anordnung (der filmischen Darstellung eines als körperlich mar‐ kierten Schreibprozesses, der durch die Singstimme ausgestellten Körperlichkeit der Sprache und des durch die stockenden Bildunterschriften wahrnehmbaren Schriftkörpers) derart miteinander relationiert, dass in der theatralen Reflexion von Leid bereits die Unmöglichkeit wahrnehmbar wird, Leid als rein selbstbe‐ zogene Erfahrung zu begreifen. Insofern das Subjekt als diskursives ausgestellt wird, das sich nicht von seiner Bindung an Andere trennen lässt, das Anderen ausgesetzt und in seiner Verletzlichkeit Anderen überantwortet ist, exponiert „sein“ Leid gerade nicht seine Selbstbezogenheit, sondern seine unkündbare Verbundenheit mit (allen) Anderen. Dabei tritt die mediale Anordnung in ihrer Selbstbezüglichkeit auch Kunderas kritischer Betrachtung der Medien in Verschränkung mit dem menschlichen Wunsch nach Unsterblichkeit entgegen. Im Gegensatz zu Kunderas Sorge, dass in der Weltherrschaft der Massenmedien die Persönlichkeit des Einzelnen aus‐ gelöscht werde, scheint die Inszenierung diese Einschätzung umzuwerten: Im Zusammenkommen der (vergangenen) Stimmen im medialen Raum von Riding on a Cloud drückt sich die Relationalität von hier und dort aus bzw. das durch Mediennutzungen noch verstärkte „Weltweit-Werden“ 43 in Zeiten fortschrei‐ tender Globalisierung. Wie auch Kunderas Textverfahren spielt die Inszenierung mit dem Musika‐ lisch-Werden der Sprache, spielt dabei jedoch das (strenge) musikalische Prinzip gegen die Wahrnehmbarkeit von Rhythmus und Klang aus, die sich einer fi‐ xierbaren Komposition oder Struktur entzieht. Auf diese Weise tritt die Insze‐ nierung für eine andere Form des Verstehens und der Wahrnehmung ein und bringt das Potential des aphasischen Sprechens als exophones Stottern zur Auf‐ führung. Aus dem angeblichen „Verlust“ geht eine Chance hervor, in der anderen Sprache, ihrer poetisch-theatralen Form, ein ethisch-politisches Potential aus‐ zumachen, welche das Bloßstellen in eine spezifische Form des „Blöße-Gebens“ verschiebt. In den letzten „Klang-Bildern“ der Performance tritt das exophone Verfahren des „Blöße-Gebens“ noch einmal eindrücklich hervor: Yasser spielt die letzte Projektion ab, Billie Holidays „Solitude“ erklingt, dessen Liedtext Ein‐ samkeit und Verbundenheit aufeinander bezieht, auf der Leinwand erscheinen Fotos von scheinbar nahestehenden Personen. Die filmische Projektion zeigt 282 Julia Prager <?page no="283"?> 44 E-Mail von Yoko Tawada an Corina Caduff, 6.8.2010, zit. nach: Corina Caduff, „Literatur und Komposition. Yoko Tawada trifft Isabel Mundry, Aki Takase und Peter Ablinger“, in: Text+Kritik. Yoko Tawada, München 2011, S. 86-93, hier S. 87. Yasser, Zigarette rauchend und vor einer zu schnell ablaufenden Uhr platziert. Dazu liest (s)eine Stimme ein Gedicht von Mahmud Darwisch, ohne Überset‐ zung. Die Projektion endet, Yasser legt die letzte DVD ein und die Hülle auf den abgearbeiteten Stapel. Er verlässt die Bühne, während auf der Leinwand ein Dialog zwischen Rabih und Yasser aufscheint, in dem sich beide über eine mög‐ liche gemeinsame Performance unterhalten. Beide überlegen, wie eine Zusam‐ menarbeit aussehen, welche Funktion Yasser übernehmen könnte. Als Yasser bemerkt, dass er für gewöhnlich als Soundmixer arbeitet, antwortet ihm Rabih, dass er keine Soundeffekte oder Musik auf der Bühne einsetzen würde, es sei denn, die Musik würde live gespielt. Als sie sich darauf einigen, Yassers Ge‐ schichte bzw. (s)eine erfundene Geschichte auf die Bühne zu bringen, ertönen im ansonst dunklen Bühnenraum zwei Singstimmen, die von einer Gitarre be‐ gleitet werden. Das aufdimmende Bühnenlicht gibt Rabih und Yasser ge‐ meinsam ein und dieselbe Gitarre spielend und dazu eine Melodie ohne Text singend bzw. pfeifend zu (v)erkennen. In diesem abschießenden Klang-Bild tritt noch einmal eindrücklich hervor, was sich als exophone Form des „Blöße-Ge‐ bens“ beschreiben lässt oder in Tawadas Worten: Die wichtigste Musik ist für mich der menschliche Atem selbst, den man beim Spre‐ chen produziert. Wenn man jede Sprachstörung, die durch die Erinnerung an eine andere Sprache zustandekommt, als Rhythmus akzeptiert, kann man nackte Knochen der Sprache sichtbar machen. In diesem Zustand fließt das Gefühl der Trauer fröhlich aus der Stimme heraus. 44 283 Blöße-Geben. Postdramatische Spielformen der Exophonie <?page no="285"?> 1 Shermin Langhoff, „Wer wird das Volk? “, https: / / www.koerber-stiftung.de/ mediathek/ we r-wird-das-volk-986.html (2.3.2017). Mengen, Netze, Schwärme: transkulturelle Inszenierungsstrategien topologischer und imaginärer Kollektivität Jan-Tage Kühling (Freie Universität Berlin) 1. „Wer wird das Volk? “, fragt Shermin Langhoff, die Intendantin des Berliner Maxim Gorki Theater, in ihrer am 8. Dezember 2015 im Rahmen der von der Körber-Stiftung veranstalteten Tagung Nach der ersten Hilfe - Wie sich Deutsch‐ land durch die Flüchtlinge verändert gehaltenen Rede. 1 In dieser reflektiert sie die Veränderungen und die Herausforderungen, die die seit Sommer 2015 stei‐ genden Flüchtlingszahlen dem Einwanderungsland Deutschland stellen. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht die Frage, welcher Begriff von „Volk“ den politischen, kulturellen und affektiven Forderungen der gegenwärtigen Situa‐ tion am angemessensten sei. „Volk“, so Langhoff, bezeichne ein Konzept von nationaler Gemeinschaft, das auf Basis eines vermeintlich gemeinsamen Erbes, einer vermeintlich ethnischen, religiösen oder kulturellen Gleichheit gebildet wird. Brisanz erhielt dieses Verständnis von Volk spätestens seit den 2014 in Dresden ins Leben gerufenen sogenannten „Montagsumzügen“. Hier griffen die rechtsradikalen und nationalkonservativen PEGIDA - Anhänger_innen die Lo‐ sungen der Bürgerrechtsbewegung der DDR auf, und reklamierten durch „Wir sind das Volk “- Rufe nicht nur Identität und Kontinuität mit der deutschen Geschichte, sondern auch die emanzipative Haltung dieses Ausspruches für sich. Dieser Begriff - die Forderungen von PEGIDA machen es deutlich - beruht nicht nur auf einer phantasmatischen Gleichheit derjenigen, die dieses Volk zu re‐ präsentieren meinen, sondern impliziert auch die Ablehnung alles Fremden, <?page no="286"?> 2 Vgl. zum Begriff des Phantasmas: Jacques Lacan, Die Übertragung. Das Seminar: 1960-1961, Wien 2008; Dylan Evans, An introductory dictionary of Lacanian psychoanaly‐ sis, London 1996, S. 60-62. 3 E. J. Hobsbawm, „In troduction: Inventing Traditions“, in: ders., The Invention of Tra‐ dition, Cambridge 2013, S. 1-14. dessen also, was vom Phantasma des Eigenen nicht eingenommen wird. 2 „Volk“ versucht in der Geste eines radikalen Schnittes zwischen dem scheinbar Eigenen und dem vermeintlich Fremden gleichzeitig Veränderung zu leugnen: „Volk“ ist ahistorisch und behauptet im Rückgriff auf „erfundene Traditionen“ einen ver‐ meintlichen Status Quo als überzeitlichen. 3 Doch Langhoff setzt diesem Verständnis von „Volk“ noch ein anderes ent‐ gegen: „Volk“ nämlich, so Langhoff, meine die „Bevölkerung“, meine die Ge‐ samtzahl der in einem Land beheimateten Bürger _ innen, ungeachtet ihres identitären Hintergrundes, ihrer sexuellen, kulturellen, religiösen oder ethni‐ schen Selbst - oder Fremddefinition. „Bevölkerung“ verweist daher auf einen Begriff von Kollektivität, der allein auf der freiwilligen Anwesenheit von Kör‐ pern in einem gemeinsam geteilten Raum beruht. Dieses Verständnis impliziert nicht nur Diversität, sprich eine Beibehaltung der Individualität der Kollektiv‐ teilnehmer_innen, sondern verweist ebenso auf eine zeitliche Offenheit, denn der geteilte Raum beherbergt eine potentiell immer andere Zusammensetzung von Bevölkerung: „‚Bevölkerung‘ ist ein Begriff, der dem republikanischen Ruf in eine nicht absehbare Zukunft Folge leistet“, so Langhoff weiter. Der Titel ihres Vortrags - „Wer wird das Volk? “ - verweist damit nicht auf eine bestimmte, in einem konkreten zukünftigen Moment angelegte Zusammensetzung von Be‐ völkerung, sondern auf ein - wie Langhoff selbst andeutet, utopisch zu verste‐ hendes - Konzept von Kollektivität, das als nie abgeschlossen zu denken ist und in sich eine konstitutive Offenheit birgt. 2. Es wäre falsch, die von Langhoff beschriebene Differenz bloß als Spannung zwischen zwei gleichwertigen, miteinander rivalisierenden Definitionen des Kollektivbegriffs „Volk“ zu verstehen. Was hier auf dem Prüfstand steht, kann auf die Konstitution von Kollektivfiguren per se übertragen werden, wird doch hier auf ein Phantasma des Kollektiven rekurriert, das in der Figuration von Volk nur eine, wenn auch besonders prägnante, Ausformung findet. Daher gilt es, die Differenz zwischen „Volk“ und „Bevölkerung“ stellvertretend als Suchbewegung zwischen zwei Formen einer Praxis des Kollektiven zu verstehen: zwischen einem Begriff von Kollektivität, der als „überindividuell verfasstes Ganzes das 286 Jan-Tage Kühling <?page no="287"?> 4 Kai van Eikels, Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, Paderborn 2013, S. 11. 5 Ebd., S. 12. 6 Vgl. Evans, S. 84-85; Hanna Gekle, Tod im Spiegel. Zu Lacans Theorie des Imaginären, Frankfurt am Main 1996. 7 Vgl. Benjamin Wihstutz, Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Ge‐ genwartstheater, Zürich 2012, S. 62. 8 Judith Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin 2016, S. 31. 9 Vgl.: Eikels, S. 29: „Performance in der Perspektive der praxis [sic] aufgreifen heißt, Organisation weniger von der Planung und Anordnung, von den Mitteln und Formaten der Herrschaft über das Wirkliche her zu verstehen, vielmehr die organisierenden Kräfte im Wirklichen und Wirklich-Werden wahrzunehmen.“ 10 Vgl. Butler, S. 16. Handeln der Einzelnen integriert“ 4 (Volk), und einem solchen, der auf der Er‐ fahrung fußt, dass „Handeln sich immer schon selbst kollektiv organisiert“ 5 und damit hinter eine basale Form von Kollektivität nicht zurückfallen kann (Be‐ völkerung). Insofern erster Begriff auf ein Verständnis von Kollektivität rekur‐ riert, das eine Selbstidentifikation des Subjekts über Vorstellungsinhalte der Ganzheit, der Autonomie und Ähnlichkeit ermöglicht, produziert er ein Imagi‐ näres des Kollektiven. 6 Letzter Begriff hingegen, zielt er doch auf die „räumlichen Relationen, Gefüge […] und Konstellationen“ 7 , benennt eine Topologie des Kol‐ lektiven. Die Spannung zwischen diesen Kollektivbegriffen ist nicht nur als Frage des Politischen, also der Möglichkeit von Teilhabe zu beschreiben, sondern zeigt sich im Politischen als Frage eines medialen wie performativen Verständnisses von Kollektivität: als Frage des Medialen nicht nur, weil jedes Kollektiv auf seine mediale Repräsentation angewiesen ist, auf die autoreflexive Geste als „Stoff der Selbstkonstitution“ 8 . Ein Sprechen über Kollektivität meint dasjenige zu suchen, das als Mediales zwischen den Menschen steht, ihre Kommunikation ermöglicht und dadurch Kollektivität organisiert. Insofern sind Kollektive Organisations‐ formen sozial realisierter Medialität. Verstehen wir Performativität wiederum als Praxis der Organisation, der eine mediale Körperlichkeit inne liegt, so wird dies als Frage des organisatorischen Vollzugs verschiedener Formen von Kollektivität deutlich. 9 Eine Inszenierung von Kollektivität betrifft somit eine Ebene des prozessualen Herstellens, ver‐ sucht aber nicht, Kollektivität als schon statisches Konstrukt manifest werden zu lassen. 10 In Frage steht somit, in welcher Weise sich Kollektive zwischen den beiden Polen eines imaginären und eines topologischen Verständnisses changie‐ rend, performativ konstituieren, (re-)präsentieren und auch - durch die mediale Vermittlung - in Frage stellen können. Es handelt sich also um ein Reflektieren, 287 Mengen, Netze, Schwärme <?page no="288"?> 11 Vgl. Günther Heeg, „Das transkulturelle Theater. Grenzüberschreitung der Theater‐ wissenschaft in Zeiten der Globalisierung“, in: Gerda Baumbach, Veronika Darian, ders., Patrick Primavesi, Ingo Rekatzky (Hgg.), Momentaufnahme Theaterwissenschaf; . Leip‐ ziger Vorlesungen, Berlin 2014, S. 150-63, hier S. 154. 12 Die Performances wurden jeweils in verschiedenen Städten aufgeführt, wobei die Teilnehmer_innen für jede der Inszenierungen am Ort der Produktion neu gecastet wurden, jede Aufführung somit von einem spezifischen „Lokalkolorit“ geprägt ist. Erproben und Experimentieren mit Bildern und Zuschreibungen von Kollek‐ tivformen. Dadurch kann Theater zum Raum werden, in dem durch das Aufführen, Dar‐ stellen und den performativen Vollzug von Kollektivität somatisch - visuell nicht nur eine Politik und ein Vorstellungswissen, sondern auch eine affektive Ebene von Kollektivität zur Anschauung kommt. Als immer wieder erneute Geste der Inszenierung von Kollektivformen und ihren Orten, nimmt diese Be‐ wegung in der Befragung des Fremden im vermeintlich Eigenen ihren Anfang: als politische und kulturelle Dynamik, die im Sinne einer Transkulturalität die bildlichen und performativen Konstitutionsprozesse von Kollektivität zur Dis‐ position stellt. 11 Anhand dreier zeitgenössischer Theateraufführungen möchte ich diesen Pro‐ zess im Folgenden nachzeichnen. Es handelt sich um das Stück 100% Stadt des Performancekollektivs Rimini Protokoll, das Projekt Inventory of Powerlessness der ungarischen Regisseurin Edit Kaldor sowie um das Projekt Schwalbe sucht Masse des niederländischen Kollektivs Schwalbe. Allen drei Arbeiten ist gemein, dass sie nicht nur Kollektivfiguren auf der Bühne zur Darstellung bringen und damit verschiedene soziale, politische und affektive Facetten des Kollektiven theatral aus- und zur Disposition stellen. Dadurch nämlich, dass alle drei Pro‐ duktionen mit im Aufführungsort beheimateten (Laien-)Performer_innen aus‐ geführt werden 12 , thematisieren sie die Spannung zwischen der Topologie des Kollektiven - aufgrund der Tatsache, dass die Performer_innen von den Zuschauer_innen a priori als städtische Kollektive wahrgenommen werden - und ihren imaginären Spielformen. 3. Das Projekt 100% Stadt wird von Rimini Protokoll seit 2008 aufgeführt und wurde inzwischen an über 27 verschiedenen Orten produziert und gezeigt. Der Titel der Performance ist programmatisch zu verstehen: Auf einer grünen, kreisförmigen Bühne erscheinen 100 Einwohner_innen des jeweiligen Produk‐ tions- und Aufführungsortes, wobei jede_r Teilnehmer_in einem Prozent der 288 Jan-Tage Kühling <?page no="289"?> Bevölkerung dieser Stadt entspricht. Je nach Stadtgröße repräsentiert ein_e Performer_in somit zwischen einigen tausend und einigen zehntausend Bürger_innen, wobei sich die Zusammensetzung der auf der Bühne Anwe‐ senden an den statistisch-demographischen Realia wie Alter, Geschlecht, Her‐ kunft des jeweiligen Aufführungs- und Produktionsortes orientiert. Auf der Bühne entsteht ein statistisches Abbild von Stadt. All diese 100 Menschen stellen sich zu Anfang der Performance mit kleinen Anekdoten vor, geben an, welchen Bruchteil der Stadt sie darstellen, für welches eine Prozent sie einstehen. Das Folgende kann als eine Abfolge von verschie‐ denen Scores, Handlungsanweisungen, gelesen werden: Es werden verschiedene Fakten über die Stadt präsentiert, zu denen sich die Performer_innen jeweils verhalten ; in pantomimischen Choreographien ahmen sie die Tätigkeiten nach, die sie zu bestimmten Tageszeiten im Alltag ausführen; am Mikrophon stellen die Bürger_innen einander verschiedene ja- und nein - Fragen, etwa nach po‐ litischen Überzeugungen, privaten Hoffnungen oder persönlichen Erfahrungen, seien sie religiöser, sexueller oder beruflicher Natur. Auf diese bekunden sie je entsprechend ihre Zugehörigkeit: entweder durch eine klare Zuordnung im in Sektoren geteilten Bühnenraum oder aber mit Hilfe von zweifarbigen Schildern. Es entstehen repräsentative Querschnitte von Bevölkerung, deren Antwortver‐ hältnis als Diagramm auf einem über dem Bühnenraum hängenden Monitor sichtbar gemacht wird. Die 100 Performer_innen bilden somit Fraktionen und Gruppen von immer wieder anderer Zusammensetzung; die Fragen und Scores provozieren immer neue Felder von Zugehörigkeit zwischen einzelnen Indivi‐ duen untereinander, von Individualität zu Gruppe wie auch von verschiedenen Mengen zueinander. „Stadt“ ist hier kein homogenisierender Signifikant, der aus den Performe‐ r_innen schon eine jeweils qualitativ zu bestimmende Kollektivmenge macht. Berlin, Tokio, Kraków, Dresden, London etc. präfigurieren zwar bestimmte Kon‐ zepte, Ideen und Ahnungen, doch sind diese keine Präskription von Kollekti‐ vität, sondern meinen den Rahmen, in dem diese sich erst bilden kann. Stadt und Bühne sind der Raum, in dem Bevölkerung in stets neue Mengen und Anordnungen aufgespalten wird, in dem sich je neue Kollektivformen bilden. So kann der Blick auf die Fluchtlinien gelegt werden, die nicht jenseits von, sondern innerhalb dieser Bevölkerung liegen. Die Relationen zwischen ver‐ schiedenen Individuen werden im Verlauf der Performance durch die jeweiligen Scores produziert - dabei führt der Rahmen der Performance vor, wie Individu‐ alität sich immer wieder in anderen Kollektivformen organisiert, ohne aber des Individuellen verlustig zu gehen. Kollektivität negiert Individualität nicht, bildet sich stattdessen als Organisationform auf Basis der individuierten Per‐ 289 Mengen, Netze, Schwärme <?page no="290"?> 13 Zum Begriff des „Dokumentarischen“ im zeitgenössischen Theater siehe: Boris Nikitin, Dokument, Fälschung, Wirklichkeit. Materialband zum zeitgenössischen Dokumentar‐ ischen Th eater, Berlin 2014; Frank Raddatz, Kathrin Tiedemann (Hgg.), Reality strikes back, Berlin 2007; Frank Raddatz, Kathrin Tiedemann (Hgg.), Reality Strikes Back II: Tod der Repräsentation. Die Zukunft der Vorstellungskraft in einer globalisierten Welt, Berlin 2010. 14 Als einleitende Beispiele führen Kassung und Macho den Gebrauch von Statistiken im literarischen Werk von Stanislaw Lem an. Vgl. Christian Kassung, Thomas Macho, Kulturtechniken der Synchronisation, München 2013, S. 11. former_innen zueinander: Die Bildung von Gruppen und Fraktionen im Verlauf der Performance wird mit Stimmen und Erzählungen der einzelnen Performer_innen verwoben, die vor das Bühnenkollektiv an ein Mikrophon treten und so der Statistik - über eine Ebene des Dokumentarischen - Gesicht verleihen. Das private Dokument ist keine bloße (Re-)Präsentation von individuellen Subjekten und Lebensentwürfen. Das Dokumentarische stellt stattdessen das dramaturgische Mittel dar, durch das die Kollektive sich vom Individuellen ab‐ heben können. 13 Denn die von den Performer_innen präsentierten Erzählungen schaffen etwas Verbindendes, kreieren sie doch ein Moment des Rekurses, der Bezugnahme und - entscheidend - der Folge und der Synchronisation. Indivi‐ dualität wird zu Ordnungen von Kollektivität durch die raum-zeitlichen Kreuz‐ ungen und Parallelitäten, die zwischen den Performer_innen als Bürger_innen einer Stadt bestehen und die auf der Bühne aufgedeckt und sichtbar gemacht werden. Die Einzelschicksale stehen bei 100% Stadt niemals für sich; jede Ge‐ schichte triggert eine bestimmte Reaktion oder Folge, die jeweils in anderer Weise das Bühnenkollektiv organisiert; jede Aussage führt zu einer Veränderung der räumlichen Anordnung der Körper auf der Bühne, jede Frage zu einer ent‐ sprechenden Haltung auch der anderen Performer_innen. In diesem Sinne ist der Untertitel der Performance, Eine statistische Kettenreaktion, zu verstehen: Statistik verstanden als Apparatur, die die diachronen und synchronen Verbin‐ dungen von Individuen und damit die Fluchtlinien von Kollektivität sichtbar macht. Diese erscheint hier als diachrone Koppelung, als Folge, sowie als Syn‐ chronisation von Individualität. Christian Kassung und Thomas Macho weisen darauf hin, dass Synchroni‐ sation nicht nur als individuelles Vermögen zu verstehen ist, sondern als mediale Technik, raumzeitlich definierte Ereignisse zueinander in Beziehung zu setzen - als Kulturtechnik -, was auch heißt, als Technik, Kollektivität zu organi‐ sieren. 14 Dies aber bedarf einer Außenperspektive, die diese Bezugnahme leisten kann. Es wird ein_e aktive_r Zuschauer_in impliziert, der_ie der Synchronisa‐ tion als Prozess der Kollektivwerdung beiwohnt. Die Relationen, die zwischen 290 Jan-Tage Kühling <?page no="291"?> 15 Zur Kritik an einem „authentischen“ Verständnis von Kollektivität im Begriff der Ge‐ meinschaft siehe: Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988. 16 Florian Malzacher, „Dramaturgien der Fürsorge und der Verunsicherung. Die Ge‐ schichte von Rimini Protokoll“, in: Miriam Dreysse, Florian Malzacher (Hgg.), Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 43. den Performer_innen bestehen, unterliegen somit einem Prozess der Sichtbar‐ machung, der als solcher nicht bloß Vorhandenes aufdeckt, sondern immer in Relation zu einem_r jeweiligen Rezipient_in gedacht wird. So wenig wir das Dokumentarische der individuellen Erzählungen als Abgleich mit einer außer‐ ästhetischen Wirklichkeit verstehen können, so wenig repräsentiert die bei 100% Stadt entworfene Figur einen schon im Topologischen enthaltenen Begriff von Kollektivität, der im Dokument beziehungsweise in seiner Geschichte Legiti‐ mation erfahren würde. Der Prozess der Sichtbarmachung ist immer auch ein Prozess der Komposi‐ tion, Inszenierung und Fiktionalisierung des dokumentarischen Materials. Die Kollektivfiguren, die hier über den gemeinsamen Nenner „Stadt“ zur Darstel‐ lung kommen, sind Figuren einer inszenierten, einer medialisierten, niemals aber authentischen Kollektivität. 15 Sie verweisen darauf, dass der Prozess der Kollektivfindung als politischer Prozess von seiner performativen, mediali‐ sierten wie auch fiktiven Komponente nicht zu trennen ist: Theater wie Statistik stellen damit beiderseits Apparate der Fiktionalität dar, die uns einerseits an eine prinzipielle Unmöglichkeit einer unmedialisierten Anschauung von Kollektiven erinnern, andererseits auch auf die fiktionale Komponente hinweisen, die der Aussagekraft von statistischer Repräsentation inne liegt. Die Fiktion, auf der die Performance beruht - die Vereinbarung, dass ein Prozent der in der Stadt le‐ benden Bevölkerung durch eine_n Performer_in auf der Bühne repräsentiert werden kann -, spricht daher von der Unschärfe, nicht aber von der Unmög‐ lichkeit, die diese Geste der (Re-)Präsentation beinhaltet. Florian Malzacher schreibt, das Theater von Rimini Protokoll „[mache] kein Geheimnis daraus […], dass die […] Authentizität der Menschen auf der Bühne nur eine Rolle [sei, w]enn auch die Rolle ihres Lebens“ 16 . So können wir auch über die hier vorge‐ stellten Kollektivfiguren schließen: Die Verbindungen zwischen Bürger_innen, die bei 100% Stadt offensichtlich werden, sind nur so „wahrhaftig“, wie ihre me‐ diale Inszenierung es zulässt; sei es auf der Theaterbühne, sei es in der Statistik. 291 Mengen, Netze, Schwärme <?page no="292"?> 17 Das Projekt wurde in vier Städten - in Berlin, Amsterdam, Prag, Poznań - produziert und aufgeführt. www.houseonfire.eu/ inventory-of-powerlessness/ (26.3.2017). 18 Vgl. Giorgio Agamben, Signatura rerum. Zur Methode, Frankfurt am Main 2009, S. 37. 4. Das 2014/ 15 entstandene Projekt Inventory of Powerlessness der ungarischen Regisseurin Edit Kaldor versammelt circa 25 Teilnehmer_innen verschiedenen Alters, Geschlechts oder auch verschiedener Herkunft, die allesamt nachein‐ ander von einer Ohnmachtserfahrung erzählen. Das kann der traumatische Ver‐ lust einer_s Nächsten im syrischen Bürgerkrieg sein, eine Ohnmachtserfahrung im Job, in einer Beziehung oder im familiären Umfeld. Die einzelnen, nicht als durchgängiges Narrativ angeordneten Geschichten bilden ein Mosaik von Er‐ zählungen der am Projekt teilnehmenden Menschen. Keine berufliche, soziale oder religiöse Gemeinsamkeit stellt hier eine offensichtliche Verbindung zwi‐ schen den Performer_innen her. Das Bühnenkollektiv ist ein a priori disparates. Vereint wird es durch die Tatsache, dass auch beim Inventar der Ohnmacht alle Performer_innen Bürger_innen der jeweiligen Produktions- und Aufführungs‐ orte sind und für jede Produktion bzw. für jeden Produktionsort ausgewählt wurden. 17 Wie in Rimini Protokolls 100 % Stadt werden uns hier dokumenta‐ rische, authentische Geschichten von Bürger_innen des jeweiligen Ortes prä‐ sentiert, in denen die Performance vorbereitet und aufgeführt wird. Bildete sich bei Rimini Protokoll über die Statistik die Fiktion einer authentischen und - der Titel sagte es - zu 100 % vollständigen (Re-)Präsentation des Aufführungsortes, so stellt Kaldor ein Inventar aus, eine Sammlung, die sowohl als Genitivus Subiektivus wie als Genitivus Obiektivus immer auf die Unvollständigkeit und die Erweiterbarkeit desselben hinweist: Präsentiert wird eine nicht abgeschlos‐ sene Sammlung, eine Teilmenge, die immer provisorisch bleibt und nur aus‐ schnitthaft bestimmte Aspekte von Ohnmacht mit bestimmten Aspekten von Stadt zur Darstellung bringt. Das Kollektiv ist weder ein Abbild noch Vorbild von Stadt, steht weder in einem induktiven, noch deduktiven Verhältnis. Weder repräsentiert das Inventar die Bevölkerung des Produktionsortes, es stellt weder einen tatsächlichen Status Quo dar noch eine besondere, der „gewöhnlichen“ Bevölkerung entgegengestellte Kollektivmenge, die hier in spezieller Weise aus‐ gestellt wird. Stattdessen muss die Beziehung zwischen Stadt, Bürger_innen und dem Bühnenkollektiv als paradigmatische verstanden werden, als analogisches Abbildungsverhältnis von Besonderem zu Besonderem. 18 Mit anderen Worten: Was über „Stadt“ augenscheinlich wird - ob auf der Bühne oder jenseits von ihr - kann nie mehr als eine Teilmenge derselben sein; „Stadt“ bleibt ein Referent, der als solcher auf die Unmöglichkeit einer vollständigen Abbildbarkeit hin‐ 292 Jan-Tage Kühling <?page no="293"?> 19 Hartmut Böhme, „Netzwerke: Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion“, in: Zeitschrift für Germanistik 13 (2003), S. 590-604, hier S. 593. 20 Ebd., S. 594. 21 Ebd. weist. Stadt ist immer Teilmenge, ist als solche immer unabgeschlossenes Kol‐ lektiv. Die Verbindungen der Kollektivteilnehmer_innen untereinander verlaufen wiederum von Einzelschicksal zu Einzelschicksal und bilden - auch bildlich - ein feines Beziehungsgeflecht: Nachdem die einzelnen Erzählungen von den Performer_innen präsentiert wurden, wird ihre Ohnmachtserfahrung betitelt und als Projektion auf dem Bühnenhintergrund sichtbar gemacht. Diese Titel wiederum werden über Hashtags mit schon anderen, vorangegangenen ver‐ knüpft. Statt das Bild der Diagramme und Statistiken zu nutzen, ist es hier das (buchstäbliche) Netzwerk, das die Verbindungen zwischen den Performer_in‐ nen herstellt und damit Kollektivität organisiert. Diese Kollektivität muss im mehrfachen Sinne als prekäre verstanden werden: Prekär ist diese Kollektivität einerseits, da die Netzwerke, durch die sie gebildet wird, keine „Räume erfüllen“ oder „Flächen decken“, ergo keine räum‐ liche Festigkeit besitzen. 19 Sie konstituieren sich stattdessen durch das Dazwi‐ schen, als (Frei-)Raum zwischen den Knotenpunkten und Linien, die das Netz aufspannen. Als gegen diesen Raum sich abhebend, der nicht als Leere gedacht werden kann, sondern als ihre funktionale Differenz, stellen Netze „Regime der Ordnung dar, die von Unordnung umgeben und von innen immer wieder be‐ droht werden.“ 20 Gleichzeitig „wollen und können [Netze] Unordnung nicht gänzlich aufheben. Denn dies würde heißen, dass das Netz alles wäre“ 21 . Sie sind Formen von Konnektivität, deren Medialität nur in der Spannung zur konstitu‐ tiven Unordnung und der von ihr ausgehenden Bedrohung begriffen werden kann. Mit anderen Worten: Netze stellen sich durch den sie konstituierenden Negativraum permanent selbst in Frage. Die Verbindungen, die als Netz zwi‐ schen den Performer_innen beim Inventar der Ohnmacht geschlossen werden, nehmen Raum - im übertragenen Sinne auch den Stadtraum - ein, ohne ihn zu füllen, können dadurch aber von diesem potentiell in jedem Moment aufgehoben werden. Zum zweiten stellen die Verbindungen, die zwischen den einzelnen Punkten bestehen und somit das Netz erst bilden, eine substantielle Leerstelle dar: Die Netze, die die Geschichten der einzelnen Performer_innen untereinander orga‐ nisieren, sind nicht Effekt einer direkten Kausalität. Sie begründen keinen lo‐ gisch-semantischen Zusammenhang, sie sind keine offensichtlichen Verbin‐ dungen, die etwas nachzeichnen, was anschaulich bereits vorläge: Der 293 Mengen, Netze, Schwärme <?page no="294"?> 22 Den bei Deleuze und später bei Žižek gebrauchten Begriff der „Quasi-Ursache“ macht André Eiermann für die theaterwissenschaftliche Debatte fruchtbar. Siehe: André Ei‐ ermann, Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld 2009, S. 135-136. 23 Dies unterscheidet das Inventar der Ohnmacht von Arbeiten, in denen auf der Bühne identitätspolitisch zu begreifende „Randgruppen“ von Gesellschaft dargestellt werden. Zu denken ist hier beispielsweise an Volker Löschs Chortheater. Vgl. Christian Engel‐ brecht, Weber, Woyzeck, Wunde Dresden ein Versuch über Volker Löschs chorische Thea‐ terarbeiten am Staatsschauspiel Dresden, Marburg 2013. 24 Vgl. Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hgg.), Performanzen des Nichttuns, Wien 2008; Bar‐ bara Gronau, Alice Lagaay (Hgg.), Ökonomien der Zurückhaltung: kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld 2010, S. 8. Erfahrung eines Burnouts im Job und einer Stigmatisierung als Fremder liegt keine direkte Verbindung zugrunde. Dennoch wird eine solche über den Begriff der Ohnmacht und das dadurch entstehende Netz geschlossen. Die Verbin‐ dungen zwischen den Erzählungen und den von ihnen bedeuteten Performer_innen zeigen sich in einem virtuellen Raum, sind Effekte von Wir‐ kungen verschiedener Aktanten als reziproke Aufzeichnung dessen, was in keinem direkten, sondern in einem quasi-kausalen Zusammenhang zueinander steht. Den Begriff der Quasi-Kausalität beziehungsweise der Quasi-Ursache können wir als Überschuss an Wirkung verstehen, als Un-Sinn im Feld des Sinns, als ästhetischen Mehrwert, der deutlich macht, dass diese Verbindungen als Wirkungen spezifisch nur als ereignishafte Schreibprozesse auf der Theater‐ bühne ihre Geltung erfahren. 22 Ihre Existenzweise ist die des ästhetischen Raumes. Der Versuch einer Übertragung auf den Raum des Außerästhetischen muss daher von der Tatsache einer ästhetischen, un-sinnigen Ursprünglichkeit dieser Verbindungen ihren Ausgang nehmen. Prekär sind diese Verbindungen aber auch auf Grund der Semantik des Be‐ griffs der Ohnmacht selbst: Ohnmacht wird beim Wort genommen und stellt die Abwesenheit von Handlungsmacht, von Agency dar. Kaldor präsentiert hier keinen Chor der Ohnmächtigen, keine wütende Stimme, die ihr Unglück als gemeinsames historisches Kollektiv-Ich beklagt und die Bühne als Ort des Em‐ powerment nutzt. 23 Das Kollektiv bildet sich gerade an der öffentlichen Darstel‐ lung von Ohnmacht, an einer Performanz des Passiven, der Handlungsein‐ schränkung und des Bekenntnisses zu einer Art von Selbst, das nicht an einer Ökonomie der Aktivität und des Gelingens gebildet werden kann. 24 Damit wird der Blick auf eine Qualität der Versammlung gelenkt, die Judith Butler insbe‐ sondere für prekäre Körper beansprucht, also für solche Minderheiten, Staaten‐ lose oder Ausgegrenzte, die sich unter keiner gemeinsamen Identität versam‐ 294 Jan-Tage Kühling <?page no="295"?> 25 „Prekarität ist die Rubrik, die Frauen, Queers, Trans-Personen, Arme, anders Begabte, Staatenlose, aber auch religiöse und ethnische Minderheiten unter sich vereinigt: Sie ist ein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Zustand, aber keine Identität (tatsächlich durchschneidet sie die genannten Kategorien und schafft potenzielle Allianzen zwi‐ schen denjenigen, die nicht erkennen, dass sie zueinander gehören).“ (Butler, S. 80.) 26 Ebd., S. 11. 27 Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt am Main 2017, S. 30. 28 Vgl. Sebastian Vehlken, „Schwärme. Zootechnologien“, in: Anne Heiden, Joseph Vogl (Hgg.), Politische Zoologie, Zürich 2007, S. 235-257, hier S. 240-241. 29 Ebd., S. 236-237. meln lassen. 25 Es ist die performative Kraft des Erscheinens von Körpern jenseits von aktiver Diskursivität, von Diskursivität also, die einem Körper politische Wirksamkeit erst unter der maßgeblichen Bedingung von Sprache, Verstand und politischer Anerkennung zuspricht und damit schon a priori politische Schnitte vornimmt. 26 Das ohnmächtige Kollektiv der Bürger_innen bei Kaldor vereint somit der Hinweis auf eine vorgängige Verbindung jenseits von Identität und (Handlungs-)Macht. Es handelt sich um Verbindungen, die sowohl in ihrer Qua‐ lität wie auch in ihrer Medialität als quasi-ursächliche, Potentialitäten bergende Netze auf die Figur des Prekären hindeuten. 5. Als letztes Beispiel möchte ich das Projekt Schwalbe sucht Masse des nieder‐ ländischen Performancekollektivs Schwalbe erwähnen. War es bei Rimini Pro‐ tokoll die Statistik, bei Kaldor das Inventar, so ist hier Masse die titelgebende Kollektivfigur. Doch dieser Begriff darf nicht täuschen, denn mit dem Begriff der Masse, wie er einschlägig von Elias Canetti unter den vier Aspekten des Wachstums, der Gleichheit, der Dichte und der Unidirektionalität beschrieben wird, werden wir hier nicht konfrontiert; 27 stattdessen erscheint es naheliegend, das Bild des Schwarms zu bemühen, einer Figuration, die dem Bild der Masse zwar nahesteht, aber sich als Schwarm erst durch eine spezifische Differenz zu jenem Bild von Kollektivität konstituiert. 28 Der Schwarm ist zwischen Indivi‐ duum und Kollektivität gelegen, ist eine Figur des relationalen Seins. 29 Schwärme sind des Weiteren spezifisch als vierdimensionale Kollektive zu ver‐ stehen, als Organisationsformen, die nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich 295 Mengen, Netze, Schwärme <?page no="296"?> 30 So bestimmen Brandstetter, Risi und van Eikels Dynamik als „die Disposition einer Gegenwart, die zu einem Teil zwischen Potenzialität und Aktualität in der Schwebe bleibt und so gegenwärtig stets schon mehr verspricht, als sie jetzt einlöst, und die zudem als Zeitort einer jederzeit möglichen Überraschung durch das Emergente, Ereig‐ nishafte eine stets prekäre Grenze zwischen Gewolltem und Widerfahrenem, Aktivität und Passivität, Fortsetzung und Unterbrechung eines Prozesses markiert. Dynamik steht für Veränderung, ist aber dennoch nicht dasselbe wie Veränderung […]. Je zweife lhafter und strittiger die einzelnen konkreten Veränderungen werden, desto mehr Ge‐ wicht erhält die Affektivität des In-Bewegung-Seins, die das Wesen von Dynamik aus‐ macht.“ (Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels (Hgg.), SchwarmE‐ motion: Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg 2007, S. 8-9.) 31 Vgl. Evelyn Annuß, „Zur Historizität postdramatischer Chorfiguren. Einar Schleef und das Thingspiel“, in: Stefan Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen. Zu gegenwär‐ tigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 361-374. unter den Aspekten der Dynamik verstanden werden müssen, der „Selbstinze‐ nierung der Bewegung auf der Grenze von Möglichkeit und Wirklichkeit“ 30 . Bei Schwalbe sucht Masse nun gehen, laufen und rennen während der circa einstündigen Performance etwa 20 Performer_innen jeden Alters, Geschlechts und Hautfarbe kreisförmig über die Theaterbühne. Nach circa 30 Minuten kommt die Menge zum Stillstand. Etwa 60 weitere Performer_innen betreten die Bühne, schließen sich der nun wieder langsam gehenden Gruppe in der Bühnenmitte an. Die Körper der Performer_innen verdichten sich, nehmen einen Richtungswechsel vor, stieben auseinander und laufen nun in hohem Tempo in entgegengesetzter Richtung kreisförmig um ein leeres Bühnen‐ zentrum. Richtung und Tempo der Bewegung werden synchron geändert, ebenso die Verteilung der Körper im Raum sowie die Dichte des Kollektivkör‐ pers, also die Nähe der einzelnen Performer_innen zueinander. Woher die Im‐ pulse für die Bewegungs- und die Richtungsänderungen kommen, ist nicht er‐ kennbar - das Kreisen der Gruppe ist buchstäblich um eine leere Mitte hin angeordnet, die Bewegung nimmt von einem Nirgendwo ihren Anfang und führt ebenso dorthin. Das gemeinsame Rennen ist kein Bild von Uniformität, wie es gewissen Formen des chorischen Theaters eigen ist; 31 zwar verliert sich der Blick für das Individuelle, doch ist dies nicht Effekt einer gleichförmigen Synchronisation von Bewegung und Ausdruck, der die einzelnen Körper unter ein gemeinsames Ge‐ setz zwänge, denn einer Vervielfältigung von Differenz. Ausdruck, Mimik und Gestik der einzelnen Performer_innen bleiben individuiert - die Unmöglichkeit, diese Individuation in den Blick zu nehmen, ist nicht einem Überschuss an Gleichmaß, sondern einem Überschuss an Verschiedenheit geschuldet - der Schwarm flimmert. Entsprechend zeigt sich das Kollektiv nicht trotz, sondern 296 Jan-Tage Kühling <?page no="297"?> 32 Brandstetter, S. 33. 33 Gabriele Brandstetter, „Schwarm und Schwärmer. Übertragungen in/ als Choreogra‐ phie“, in: Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels (Hgg.), SchwarmE‐ motion: Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg, 2007, S. 65-92, hier S. 69. auf Basis aller Unterschiede der einzelnen Kollektivteilnehmer_innen unterein‐ ander: Nicht Kostüm, Gleichschritt oder gemeinsames Bekenntnis stellen das Verbindende zwischen den Körpern dar. Allein die Dynamik und der Rhythmus der Bewegung sind es, die über den gesamten Verlauf der Performance nicht abbrechen und damit das das Kollektiv ordnende Muster vorgeben. Hier von Rhythmus zu sprechen heißt allerdings, nicht die Wiederkehr des Regelmäßigen zu suchen, sondern Individualität und Gemeinsamkeit zusam‐ menzudenken: So beschreibt Brandsteller et. al. den Schwarm als Figur der „nur lokal synchronisierte[n] Polyrhythmik“, als „Form, ohne auf vereinheitlichende Formalisierung angewiesen zu sein“ 32 . Damit bringen sie das genuine Paradox der Formalisierung dieser Art von Kollektivität zum Ausdruck: Bei 100% Stadt und beim Inventar der Ohnmacht konnten wir zweier Modelle ansichtig werden, die den Blick auf die dynamischen Prozesse von Kollektivwerdung lenken. Im Mittelpunkt der Aufführung stehen die Transformationsprozesse, die vom In‐ dividuellen zum Kollektiven, von städtischen Kollektiven über Bühnenkollek‐ tive zu imaginären Kollektivbildern innerhalb und jenseits der topologischen Ordnungen führten. Die die Kollektive im Rahmen der Performances organi‐ sierenden Mechanismen können damit als Maschinen zur Produktion von Kol‐ lektivität, als genuine Subjektivierungsdispositive von Kollektivität verstanden werden. Bei Schwalbe sucht Masse zeigt sich im Bild des Schwarms hingegen eine Ordnung, die nicht auf der den Transformationsprozessen innewohnenden Dy‐ namik von Kollektivwerdung beruht, sondern Kollektivität als Dynamik fin‐ giert. Die durch die Bewegungen der einzelnen Performer_innen gebildeten Kollektivfiguren sind multirelationale, sich räumlich und zeitlich stets verän‐ dernde Verknüpfungen, wodurch das von ihnen geschaffene Gebilde - der Schwarm - die Dichotomien von Individuum und Kollektiv, topologischem sowie imaginärem Begriff von Kollektivität unterwandert. Das Sein des Schwarms ist nur relationale Körperbeziehung, die beweglich in eine kollektive Gesamt-Be‐ wegung eingebunden ist. 33 Statt statischen Ordnungen der Kollektivität werden wir hier einer nur beweglich zu fassenden Konnektivität ansichtig. Allein die Relationalität der einzelnen Kollektivteilnehmer_innen tritt als ihr Gemein‐ sames hervor. Das Gemeinsame des Schwarms ist sein Mediales, ist die Relatio‐ nalität der einzelnen Schwarm-Individuen untereinander. Um es mit Sebastian Vehlken zu sagen: „In den medialen Prozessen von Schwärmen liegt ihr Orga‐ 297 Mengen, Netze, Schwärme <?page no="298"?> 34 Vehlken, S. 235. 35 Ebd., S. 240. 36 Eikels, S. 27. 37 Vehlken, S. 240. 38 Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan. Oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bür‐ gerlichen Staates; Teil I und II, Berlin 2011. nisationsprinzip.“ 34 Im Schwarm - und bei Schwalbe werden wir dessen ansichtig - ist Organisation Dynamik, Dynamik wiederum Organisation. Ein so allein auf dynamischen Prozessen beruhender Begriff von Kollektivität deutet damit auf die Ränder einer Repräsentationslogik hin, die uns erlauben würde, Kollektivität in bestimmten Begrifflichkeiten zu fixieren und festzuschreiben: „Schwärme verweisen […] auf eine Grenze des Bestimmbaren, von der an eine Wahrneh‐ mung des Schwarms unmöglich wird - was bleibt ist Störung“ 35 , schreibt Vehlken und benennt damit nicht nur die wahrnehmungstheoretische und epis‐ temologische, sondern ebenfalls die affektive Dimension, die dieser Unbestimm‐ barkeit zugrunde liegt. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Schwarmeu‐ phorie, in der Schwärme ob ihrer Flüchtigkeit als Akteure der Zukunft gehandelt werden, 36 sondern ebenfalls um einen genuinen Horror vor dem „Rauschens des Schwarms“, vor der Unmöglichkeit, etwas Gestalt werden zu lassen. 37 So funk‐ tioniert der Bühnenschwarm bei Schwalbe sucht Masse nicht zuletzt auf einer somatischen Ebene, die dieses Unbehagen spürbar macht: Nicht nur sind die von den Performer_innen bewegten Luftmassen auf den Sitzplätzen deutlich fühlbar, auch erscheint gerade die anfangs im Dunkeln stattfindende Choreographie nicht klar kontrolliert, mehr ein Treiben und Hetzen denn relationale Steuerung. Es scheint, dass das nicht zur Ruhe kommende, in immerwährender Dynamik sich befindliche Bühnenkollektiv gerade ob dieser Dynamik Unbehagen weckt. Das Schwarmkollektiv ist ein Kollektiv der perpetuierenden Verausgabung, ein Kollektiv auch, dessen Organisationsform sowohl individuelle, topologische wie imaginäre Repräsentation negiert. 6. Es läge nahe, dieses Unbehagen im aus dem Feld der Natur transponierten Bild des Schwarms mit jener Furcht zu parallelisieren, die Thomas Hobbes im Levia‐ than dem im fiktiven Naturzustand stehenden Menschen zuschreibt, bevor jener seine eigene Handlungsmacht auf den Souverän, die Repräsentationsfigur po‐ litischer Kollektivität schlechthin, überträgt. 38 In dieser Lesart läge das Unbe‐ hagen in einem Mangel an Organisation begründet, in der Un-Ordnung vor Transposition in politische Repräsentation. Dies ist jedoch nicht der Fall - der 298 Jan-Tage Kühling <?page no="299"?> 39 Vgl. Giorgio Agamben, Stasis: der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frankfurt am Main 2016. Schwarm ist stattdessen eine hochkomplexe Figur kollektiver Organisation. Die Gleichung von kollektive Organisation gleich Ordnung qua Repräsentation geht nicht auf. Daher ist man versucht, die Hobbes’schen Dichotomien zu proble‐ matisieren: Wie zuletzt Giorgio Agamben dargestellt hat, sollte die Parabel vom Übergang des Menschen aus dem Naturzustand in einen Zustand von staatlicher Repräsentation durch den Souverän nicht als Theorie zweier, klar voneinander scheidbarer Zustände, sondern als Theorie des Bürgerkrieges gelesen werden, in der die Grenzziehung zwischen Krieg und Frieden, zwischen Natur- und Kul‐ turzustand als Prozess des andauernden Ausnahmezustandes, als Effekt von politischen Ein- und Ausschlüssen gelesen wird. 39 Damit steht aber auch die Form der sich durch den Übergang über jene Grenze bildenden Kollektive zur Debatte - die Repräsentation von Kollektivität in der Figur des Leviathans ist keine statische, sondern Effekt einer in andauernder Schwebe gehaltenen Ver‐ handlung. Volk und Bevölkerung - um zu der eingangs zitierten Rede von Shermin Langhoff zurückzukehren - stehen stattdessen stellvertretend für zwei Enden eines Spektrums, zwischen denen sich Kollektive als prozessuale Organisati‐ onsformen konstituieren, niemals aber mit nur dem einen oder anderen Ende des Spektrums deckungsgleich werden. Konstruieren wir Kollektivität idealiter in der Dichotomie des Topologischen und des Imaginären, so ist offensichtlich, dass jeder der beiden Begriffe im jeweils anderen als Kehrseite enthalten bleibt. Wie die hier analysierten Beispiele zeigten, kann ein topologischer Begriff von Kollektivität zwar eine operative Basis bilden, Kollektive zu greifen, nicht aber diese abschließend definieren. Aus diesem Begriff nämlich treten immer andere qualitative, affektive Konfigurationen von imaginärer Kollektivität hervor ohne ihn jedoch gänzlich zu verdecken. Gleichzeitig wurde deutlich, dass bei den un‐ terschiedlichen imaginären Figurationen von Kollektivität stets ein definitori‐ scher Rest erhalten bleibt der ein Aufgehen der auf der Bühne versammelten Menschen in jenen Kollektivbegriff verunmöglicht. Kollektive sind stets mehr als das Örtliche vorgibt; gleichzeitig scheitert der Versuch, sie nur in einer Spielart des Imaginären als nur phantasmatische Kollektivität festzulegen. Die Leistung der hier vorgestellten Performances läge insofern darin, Kollektivwer‐ dung als organisatorische Praxis vorzuführen und gleichzeitig als unmögliche Praxis zu problematisieren. Dies hieße, sowohl der Repräsentation des Kollek‐ tiven in einem scheinbaren Nullpunkt des Imaginären - als welchen ich Lang‐ hoffs Begriff der Bevölkerung erachten möchte - wie auch seinem imaginären 299 Mengen, Netze, Schwärme <?page no="300"?> 40 Horst Bredekamp, Thomas Hobbes: Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder; 1651-2001, Berlin 2003, S. 72. und erst recht seinen phantasmatisch übersteigerten Gegenstück zu misstrauen. Dies heißt jedoch nicht eine Unrepräsentierbarkeit und Sprachlosigkeit von Kollektivität zu predigen. Denn kollektive Prozesse werden sehr wohl - und auch dies wurde über die hier vorgestellten Analysen deutlich - in bestimmten Manifestationen anschaulich, denn als Organisationsformen sind sie auf Formen von (bildlicher) Repräsentation angewiesen. Die Menge, das Netzwerk, der Schwarm waren Beispiele einer derartigen Repräsentation. Diese Repräsentati‐ onsformen müssen jedoch als Hilfskonstruktion verstanden werden, als Bilder des Kollektiven, die gleichzeitig von Kollektiven sprechen machen sowie die Unmöglichkeit, Kollektive abschließend repräsentativ zu fassen, vor Augen führen. Auf dieses Paradox weist Horst Bredekamp hin. So schreibt er über das von Abraham Bosse 1651 gestaltete Frontspitz zum Leviathan: „[D]as Bild [schließe] die Lücke zwischen Repräsentant und Repräsentiertem, um damit die symbolische Achillesverse des Leviathan zu heilen, als Gesamtkörper nicht kör‐ perlich erfahrbar zu sein“ 40 . 300 Jan-Tage Kühling <?page no="301"?> 1 Francois Julien, Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, Berlin 2017, S. 80. 2 Ebd., S. 48. 3 Ebd., S. 80. 4 Stuart Hall, Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, S. 29. Transkulturalität und das Theater der Vorahmung Kevin Rittberger (Berlin) 1. Transkulturalität / Verschränkung / Sympoiesis Synkretismus gilt als Verschmelzung von Kulturen (Religionen, Bräuchen), als Ineinanderfließen zu etwas Neuem, Eigenem, Ganzen. Doch ist das ein brauch‐ barer Begriff, um Transkulturalität zu begründen? Mir scheint der Anspruch entscheidend, dass Identitäten nicht eingehegt werden können und dass Trans‐ kulturalität der Tendenz der Homogenisierung, welche die Globalisierung mit sich bringt, widersteht und damit im emphatischen Sinn Welt-Werdung sein kann. Transkulturalität würde sich damit zweierlei Bedrohungen widersetzen, der Uniformisierung und dem Identitären. Es gibt keine kulturelle Identität, so Francois Julien, wohl aber Ressourcen, die gemeinsam genutzt werden können: „Das Gemeinsame ist der Ort, an dem sich die Abweichungen / Abstände ent‐ falten, und die Abstände bringen das Gemeinsame zur Entfaltung.“ 1 Da sich das Gemeinsame so nur im Gewahrwerden eines „Zwischen“ 2 entfalten kann, hält Julien auch am Begriff des „Inter-Kulturellen“ 3 fest. Stuart Halls postkoloniale Perspektive hingegen negiert kulturelle Identität nicht völlig, betont aber auch die Permanenz der Übersetzung. Mit Hall ist kulturelle Identität eine „Frage des ‚Werdens‘ wie des ‚Seins‘. Sie gehört ebenso zur Zukunft wie zur Vergangenheit. Sie ist nicht etwas, was schon existiert, was Ort, Zeit, Geschichte und Kultur transzendiert“ 4 . Hall zufolge lassen sich Identitätsbildungen als diskontinuier‐ lich, brüchig, eben übersetzt beschreiben. Übersetzte, migrantische, kulturelle Identitäten können sich im Falle von rassistischen Anfeindungen und/ oder bspw. Ausschlüssen durch eine weiße Mehrheitsgesellschaft auch strategisch ermächtigen und kollektive, bisweilen essentialistische Identitäten formen. Es‐ <?page no="302"?> 5 Carl Zuckmayer, Des Teufels General, Frankfurt am Main 1970, S. 64. 6 Hall, S. 135. 7 Vgl. Luca di Blasi, Der weiße Mann. Ein Anti-Manifest, Bielefeld 2013, S. 51. sentialismus wäre dergestalt, in dem er Identität (nur) zeitweise konstruiert, allerdings immer strategisch, wie Gayatri Spivak betont hat. Die Übersetzung, das permanente Pendeln zwischen mehreren Identitäten und Identitätsforma‐ tionen ist folglich einem andauernden Wandel ausgesetzt. Wolfgang Welsch at‐ testiert der transkulturellen Gesellschaft eine eigene innere Transkulturalität. Am Beispiel des Monologs des Luftwaffengenerals Harras in Carl Zuckmayers „Völkermühle“ in Des Teufels General spricht Welsch von einer historischen Transkulturalität: […] stellen Sie sich doch einmal ihre Ahnenreihe vor - seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. - Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedi‐ scher Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant - das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt - und der Goethe, der kam aus demselben Topf und der Beethoven, und der Gutenberg und der Matthias Grünewald, und - ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt - wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. 5 Was hier ganz nach einer Einswerdung klingt, nach einer natürlichen Vermi‐ schung und organischen Höherentwicklung, verschweigt aber „Rassismus als eine ideologische Konfiguration in jeweils bestimmten Gesellschaftsformati‐ onen und dominanten Klassenverhältnissen“ 6 . Die affirmierte Geschichte der Auslöschung, Unterdrückung und Diskriminierung auf der einen und die un‐ reflektierte Geschichte des eigenen „Mehrfachgeschontseins“ 7 auf der anderen Seite gerät in einer unkommentierten „Völkermühle“-Erzählung unter die Räder. In postkonstruktivistischen Ansätzen erscheint Welt-Werdung im Sinne der Science Studies Donna Haraways und Karen Barads als herrschaftsfreie Ver‐ schränkung von Mensch, Nicht-Mensch, Tieren, Pflanzen, Technologien und Materie. Barads feministischer, „agentieller Realismus“ setzt auf die Intra-Ak‐ 302 Kevin Rittberger <?page no="303"?> 8 Vgl. Karen Barad, Agentieller Realismus, Berlin 2012, S. 19. 9 Vgl. ebd., S. 15. 10 Vgl. Donna Haraway, Staying with the trouble. Making kin in the Chthulucene, Durham 2016, S. 9. 11 Ebd., S. 33-58. tion, nicht die Interaktion und begreift sich ebenso wie Haraway als wissen‐ schaftshistorisch situiertes Wissen. 8 „Undoing Identity“ nennt Barad ihre queere, repräsentationskritische Ontologie, die auf die Verschränkung, nicht die Trennung der Elemente abzielt. Als Beispiel dient ihr der Licht-Wellen-Dua‐ lismus. Die Elemente, das sind bei ihr Lichtquanten, nicht bestimmbar, ob Par‐ tikel oder Wellen. Entscheidend ist die Messung bzw. der Eingriff des_r Ak‐ teur_in in das zu Messende. In Barads wissenschaftlicher Repräsentationskritik gibt es daher kein Außerhalb der Beobachtung, das auf zu Trennendes herab‐ sieht. Hierin entwickelt sie Niels Bohrs Erkenntniskritik weiter. Diskurs ist in Barads Ontologie Raum-Zeit-Materialisierung, alles ist intra-aktiv ver‐ schränkt. 9 Der Apparat, der diese Verschränkung nicht mitdenkt, entspricht - und Barads Sprache ist hier gerade für Künstler_innen und Theaterschaffende äußerst brauchbar - dem weißen Guckkasten, der eigene Blind Spots mitunter verleugnen oder systemtheoretisch als Beobachtung der Beobachtung relati‐ vieren und neutralisieren kann. Intra-Aktion zer-setzt konstruierte Identitäten in jedem Moment der Setzung. In Haraways „string figures“ materialisiert sich wiederum etwas, was über menschliche Lebenswelten und Kulturen weit hinausreicht. 10 Es gilt das Anthro‐ pozän, das den Mensch ins Zentrum rückt, zu verabschieden und mit dem „Chtchuluzän“ ein alternatives, ökologisches Zeitalter an seine Stelle zu setzen, das die „Game-Over“-Mentalität der Wissenschaftsgemeinde und Kulturkri‐ tiker_innen verabschiedet und Handlungsoptionen aufzeigt, indem allem und jeder_m „Agency“ zugestanden wird: If it is true that neither biology nor philosophy any longer supports the notion of independent organisms in environments, that is, interacting units plus context/ rules, then sympoiesis is the name of the game in spades. Bounded (or neoliberal) individu‐ alism amended by autopoiesis is not good enough figurally or scientifically; it misleads us down deadly paths. […] Sympoiesis is a word proper to complex, dynamic, respon‐ sive, situated, historical systems. It is a word for worlding-with, in company. […] The unfinished Chthulucene must collect up the trash of the Anthropocene, the exter‐ minism of the Capitalocene, and chipping and shredding and layering like a mad gardener, make a much hotter compost pile for still possible pasts, presents, and fu‐ tures. […] It matters how kin generate kin. 11 303 Transkulturalität und das Theater der Vorahmung <?page no="304"?> 12 Der Begriff „Thymos“ wurde von Marc Jongen (AfD) aus Peter Sloterdijks Zorn und Zeit: politisch-psychologischer Versuch übernommen und für die Neue Rechte anverwandelt. 13 Vgl. Barad, S. 100-102. In einer Zeit, in der sich rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen Stuart Halls Begriff der kulturellen Identität nicht-strategisch-essentialistisch angeeignet haben, ebenso wie andere, v. a. linke, politische und ästhetische Stra‐ tegien und Konzepte ko-optiert wurden, ist allerdings Vorsicht angebracht. Blutsverwandtschaft und nationale Verwurzelung, Einhegung und Abschottung stehen jedweden Trans-Konzepten antagonistisch gegenüber. Wenn sich die of‐ fene, permanent im Werden begriffene Gesellschaft für die einen am besten als Übersetzung, Transition und Verschränkung, ja als neues Zeitalter beschreiben lässt, wird sie von den anderen, für die sich Identität sehr wohl trennscharf repräsentieren lässt, angriffslustig abgelehnt. Transkulturalität, im Folgenden emphatisch verstanden als fortwährende Neu‐ verschränkung und „Reassemblage“ von Lebenswelten und Ökosystemen, bildet dergestalt eine Fluchtlinie zu jenen „thymotischen“ 12 Energien, welche zurück zu einem Ethnopluralismus drängen und Konsequenzen aus dem sogenannten Schei‐ tern eines (behaupteten) Multikulturalismus zu ziehen versprechen: Oder anders gesagt, wir brauchen so etwas wie eine Ethico-onto-epistemo-logie - das Ernstnehmen der Verflechtung von Ethik, Erkenntnis und Sein - da jede Intraaktion wichtig ist, da die Möglichkeiten dafür, was die Welt werden mag, in der Pause aufge‐ rufen werden, die jedem Atemzug vorangeht, bevor ein Augenblick ins Sein tritt und die Welt neu gemacht wird, weil das Werden der Welt etwas zutiefst Ethisches ist. 13 2. Ästhetik / Nicht-Identität / Re-Assemblage Welche theater- und kunstgeschichtlichen Referenzen lassen sich nun für eine Ästhetik der Transkulturalität heranziehen? Sind die Arbeiten von Christoph Schlingensief etwa transkulturell zu nennen oder synkretistisch? Ich würde unter den oben ausgeführten Prämissen davon ausgehen, dass Transkulturalität nicht das Verschmelzen zu etwas Neuem und Ganzheitlichem, folglich nicht den „großen, lebendigen Strom“ meint, der die kulturgeschichtliche Verschiedenheit der Ressourcen verschwimmen lässt, den Abstand der Versatzstücke zueinander auflöst sowie unterschiedliche Geschichten von Herrschaft und Unterdrückung in Abrede zu stellen bereit ist, wie es das Beispiel der „Völkermühle“ nahelegt. Im Gegensatz dazu, behaupte ich, wären die Einzelteile einer transkulturellen Verschränkung oder Assemblage - dem postkonstruktivistischen Ansatz Barads folgend - immer noch dergestalt erkennbar, dass das Zwischen nicht ausgefüllt 304 Kevin Rittberger <?page no="305"?> 14 Alexander Kluge, Verdeckte Ermittlung: Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann, Berlin 2001, S. 84. 15 Rudolf Kerstig, Wie die Sinne auf Montage gehen. Zur ästhetischen Theorie des Kinos/ Films, Frankfurt am Main 1989, S. 449. wäre oder - in der Sprache der Dramaturgie - linear gekittet. Dahingegen würde das synkretistische Kunstwerk vormals getrennte Teile und Einflüsse fusio‐ nieren und homogenisieren, sodass sich Uniformität und Identität herausbildete. Man müsste die Naht des synkretistischen Kunstwerks schon auf links drehen, um die vereinheitlichende Tätigkeit sichtbar zu machen. Ich gehe davon aus, dass das wichtigste Element des Werks von Christoph Schlingensief das dadaistische Moment ist. Auch für Alexander Kluge, einem weiteren Erben der Dadaisten und älteren Weggefährten Schlingensiefs, sind Instrumente oder Techniken: Cut-up, Collage und Cross-Mapping; „Mit der Straßen-Karte von Groß-London den Harz durchwandern“ 14 . Die Montage‐ technik als „Kollisionsmontage“ oder „Montageschock“ 15 bezeichnet die asso‐ ziative, konstruktive Arbeit an immer neuen Zusammensetzungen, die immer den Bruch, die Lücke, das Dazwischen als gleichwertige Geste aufführt. Die Dramaturgie bewerkstelligt nicht das Ineinanderfließen und die Aufhebung kontrastierender Elemente, sondern wirkt wie eine zentripetale Teilchensch‐ leuder. Sie bildet den Hintergrund eines avantgardistischen Kunstverständ‐ nisses zum einen und einer mimetischen Neuverortung von Kulturen, gesell‐ schaftlichen Zusammenhängen, historischen Kontexten samt jeweiligen Codierungen und symbolischen Ordnungen zum anderen. Es ist kein formaläs‐ thetisches Spiel der Beliebigkeit, kein anything goes, sondern ein materialisti‐ sches Fest der Sinne, das Zuschauer_innen als Ko-Autor_innen einsetzt. Die Bilder und die einzelnen Elemente werden geradezu in Abkehr von konven‐ tionellen Techniken daran gehindert, zu amalgamieren. Die Montageleistung ist eine Sprengkraft, die den Sinnzusammenhang bersten lässt und eine Neuorga‐ nisation herausfordert. Schlingensiefs Kunstaktivismus zitiert u. a. Wiener Ak‐ tionismus, Fluxus, Wagners Gesamtkunstwerk, die Heilige Messe, zerschneidet: Biografisches, Kulturelles, Wissenschaftliches, Mythologisches, Religiöses, usw.. Die transkulturelle Leistung ist keine synkretistsche, wenn darunter das Zusammenfinden von etwas nunmehr nicht mehr Trennscharfem zu etwas neuem Ganzen verstanden wird, sondern das permanente Auseinanderreißen und neu Zusammensetzen kultureller Referenzen, das Sprengen von Sinn: Dé‐ tournement, Décollage, Culture Jamming, Re-Assemblage. Sinn und Sinnlichkeit erscheinen disparat. Ich erinnere mich an Bernhard Schütz, den Performer in einem von Schlin‐ gensiefs Animatographen - bei der Arbeit für das Burgtheater Wien mit dem 305 Transkulturalität und das Theater der Vorahmung <?page no="306"?> 16 N. N., „Schlingensiefs Animatograph - Einleitung“, http: / / www.schlingensief.com/ projek t.php? id=t052&article=einleitung (12.11.2017). Titel Area 7 -, der mir mit dem geliehenen Jargon des Teilchenphysikers auf der Bühne umherrennend und brüllend erklärte, dass die „Urscheiße“ mit Lichtge‐ schwindigkeit durchs All flöge. Der Animatograph ist ein Set, das sich quer durch das gesamte Bühnenhaus samt Zuschauerraum zieht, ein permanent sich fortbewegender Transformationskörper: „All diese Fundstücke, die wir sam‐ meln, sind atmende Poren in der Haut der Welt.“ 16 Der Animatograph erinnert in der Kreisform nicht von ungefähr an eine Zentrifuge, auch die dadaistischen Fliehkräfte sind zentripetal. Kluge und Schlingensief rühren keinen neuen Kitt an, sondern entfernen ihn: Hier der Adorno-Schüler, der essayistischere von beiden, mit der Nähe zur Frankfurter Schule und zur russischen Avantgarde, der u. a. als Fernsehmacher auf eine Form der eigensinnigen Gegenöffentlichkeit - vis-à-vis zur Kulturindustrie - vertraut hat, noch lange bevor sie von der Neuen Rechten gegenüber einer sogenannten „Lügenpresse“ in Geiselhaft genommen wurde; dort Schlingensief, der das Gesamtkunstwerk, näher an Wiener Aktio‐ nismus und Fluxus, mit Segen und Fluch, Schimpf und Schande in einen per‐ formativen Gesamtkunstslum verwandelte. Im spätkapitalistischen Zeitalter der Globalisierung schwimmen sowohl Kluges als auch Schlingensiefs Arbeiten dem Strom der Waren entgegen und setzen den kulturindustriellen Dienstleis‐ tungen und dem hegemonialen Bildregime eine eigensinnige, nicht kulinarische, unverdauliche, - mit Adorno - idiosynkratische, nicht-identische Assoziations‐ flut entgegen. Epiphanie ist für Kluge das dritte Bild zwischen den collagierten, zusammengesetzten beiden anderen und entsteht im Kopf des_r Zuschauers_in. Es ist eine materialistische Ästhetik nach Marx’ freier Assoziation der Produ‐ zent_innen, nicht-hierarchisch, anarchistisch. Eine Ästhetik der Transkulturalität speist sich so aus der Phantasieleistung von Produzent_innen und Rezipient_innen, wenn das Zwischen kenntlich wird. Kluge verortet im Zwischenraum zweier Bilder ein „drittes Bild“, das der_ie Zuschauer_in selbst kreiert. Kultur wird nicht-identisch als gemeinsame Kon‐ struktionsarbeit von etwas Veränderbarem betrachtet und selbst aktiv betrieben, ideologiekritisch, emanzipatorisch und auf die Vitalität von Selbstorganisation vertrauend. In Kluges Die Patriotin etwa wird Patriotismus als Haltung und kul‐ turgeschichtliches Phänomen dekonstruiert und umgedeutet. Besseres Aus‐ gangsmaterial für den Geschichtsunterricht zu schaffen, wie es die fiktive Ge‐ schichtslehrerin Gabi Teichert - gespielt von Hannelore Hoger - auf dem SPD-Parteitag fordert, ist jedoch nicht reaktionär oder essentialistisch zu ver‐ stehen. Radikalemanzipatorisch ist an Teicherts argloser Forderung, anzu‐ 306 Kevin Rittberger <?page no="307"?> 17 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1977, S. 1628. 18 Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt am Main 1975, S. 215. nehmen, dass Demokratie permanenten Veränderungs- und Aushandlungs‐ prozessen unterliegt und durch die Formalisierung von parlamentarisch-repräsentativen Institutionen noch keineswegs abgegolten ist. Heimat ist so nicht ein Zurück zur Nation, sondern etwas, das es - mit Ernst Blochs anti‐ zipierendem Bewusstsein - noch zu gewinnen gilt, für die gesamte Menschheit: Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäu‐ ßerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat. 17 Es ist eine Welt-Werdung als Permanenz der Neuzusammensetzung (Schlingen‐ siefs Kunstreligion; Kluges geschichtlicher Gesamt-Gegen-Zusammenhang, der Geschichte aus dem Kontinuum sprengt usw.), die immer wieder aufs Neue hervorgebracht werden kann. Transkulturalität, das kann für Kluges Werk auch als das geltend gemacht werden, was die historischen Veränderungsprozesse der Kultur anbelangt sowie die Art und Weise, wie die Erzählung von Geschichte diachron und synchron stattfindet und sich in einem offenen Prozess befindet, der Deutung, der An‐ eignung und der Gegenerzählung zu einer Geschichte der Sieger: Es muss möglich sein, die Realität als die geschichtliche Fiktion, die sie ist, auch dar‐ zustellen. […] Den einzelnen trifft sie real, als Schicksal. Aber sie ist kein Schicksal, sondern gemacht durch die Arbeit von Generationen von Menschen, die eigentlich die ganze Zeit über etwas anderes wollten und wollen. Insofern ist sie in mehrfacher Hinsicht gleichzeitig wirklich und unwirklich. […] kollektive Wünsche der Menschen, Arbeitskraft, Produktionsverhältnisse, Hexenverfolgung, Geschichte der Kriege, Le‐ bensläufe der Einzelnen. Jeder dieser Ausschnitte für sich und alle zusammen haben antagonistische Eigenschaft: sie sind eine reißerische Erfindung und sie treffen wirk‐ lich. 18 Auch hier gilt es zu betonen, dass Kluges poetologische Facts und Fakes und kontrafaktische, mit Robert Musils Möglichkeitssinn bestückte Erzählungen lange vor den instrumentalisierten Alternative Facts und Fake News eines soge‐ nannten postfaktischen Zeitalters entwickelt worden und davon scharf abzu‐ grenzen sind. Kluges Fakes spielen mit der Wahrheit, zwischen Dokument und Fiktion lässt der Autor ausreichend Platz. Fake News verteidigen einen alleinigen Wahrheitsanspruch, indem sie die Lücken ausbessern und die Naht kaschieren. 307 Transkulturalität und das Theater der Vorahmung <?page no="308"?> 19 Ebd., S. 222. 20 Tania Canas, „Diversity is a white word“, www.artshub.com.au/ education/ news-article/ o pinions-and-analysis/ professional-development/ tania-canas/ diversity-is-a-white-word-2 52910 (12.11.2017). 21 3. Berliner Herbstsalon, Maxim Gorki Theater 2017, (Redaktion Aljoscha Begrich und Ludwig Haugk). Ließen sich letztere (nur) ästhetisch beschreiben, wäre eine hohe Kunstfertigkeit zu attestieren. Die Filmemacherin und postkoloniale Theoretikerin Trinh T. Minh-ha hin‐ terlässt ihre Zuschauer_innen in ihrem Film Reassemblage, der nur vorder‐ gründig wie eine ethnographische Dokumentation wirkt, ähnlich orientie‐ rungslos wie Kluge sein Publikum - dem Titel seines programmatischen Artistenfilms folgend - ratlos macht. Es ist aber eine Strategie, die ebenso auf Ko-Autor_innenschaft abzielt: Die Zuschauer_innen sollen die semiotischen Ebenen verknüpfen, selbst assoziieren und mit eigenen Erfahrungen anreichern. Die „eigentliche Grundform der Sinne“ ist „die Komplexität der Wahrneh‐ mung“ 19 : Auch für Minh-ha, die filmische Monteurin, bedeutet das radikale Konstruktionsarbeit. Eine der Aussagen in Minh-has Film, ein disparates Ele‐ ment der auf die eigene Perspektive reflektierenden, sprachlichen Ebene, ist folgende - und die Autorin spricht wie Kluge mit ihrer eigenen, zurückhal‐ tenden Stimme selbst ein: „I do not intend to speak about, just speak nearby.“ Tania Canas, Direktorin der australischen Organisation RISE, hat an die Ver‐ antwortung von Künstler_innen appelliert, in partizipatorischen Theaterpro‐ jekten mit Geflüchteten die eigene Machtposition zu reflektieren („Diversity is a white word“ 20 ). Die künstlerische Arbeit mit den „Anderen“ könnte andernfalls auch zur herablassenden Charity-Veranstaltung verkommen. Auch für den „3. Berliner Herbstsalon“ des Berliner Maxim Gorki Theaters etwa sind die Ab‐ stände und Eigenheiten der verschiedenen Künstler_innen kennzeichnend für die Kuration. Integration wird als Homogenisierungsdruck durch die weiße Mehrheitsgesellschaft erfahren und radikal abgelehnt. Das Festival trägt daher die Überschrift „Desintegriert euch! “ und versucht sich so, „aus Vereinfa‐ chungen, Zuschreibungen und Kategorisierungen herauszuspielen.“ 21 Transkulturelles, identitätskritisches Theater kann hier eine Übersetzung leisten, d. h. etwas, was Stuart Hall als Positionierung einer hybriden, kulturellen Identität beschrieben hat, sich nämlich von einer vorgestellten Gemeinschaft zu verabschieden (auch von der Dichotomie verwurzelt oder ausgelöscht), sich als etwas Gewordenes und Veränderbares zu begreifen und gegen das vorgefundene Repräsentationsregime zu intervenieren. Transkulturalität kann so auch als ra‐ dikale Inklusion verstanden werden, als permanente Neu-Konstituierung einer 308 Kevin Rittberger <?page no="309"?> 22 Isabell Lorey entwickelt den Begriff der „radikalen Inklusion“ innerhalb ihres Konzepts einer „Präsentischen Demokratie“, http: / / transversal.at/ blog/ Presentist-Democracy? lid=p raesentische-demokratie (12.11.2017). 23 Haraway, S. 103. Sorgegemeinschaft, die nach anderen Beziehungsweisen und Solidaritätsnetz‐ werken strebt. 22 Quer zu einer binären Logik sind Refugees und Prekarisierte aber kein neues Kollektivsubjekt, auf das man sich (auch im Theater) beziehen, das als etwas Identisches repräsentiert werden könnte. „It matters how kin ge‐ nerate kin.“ 23 Es wird in der gemeinsamen Handlung, im verschränkten Neben‐ einander aller Akteur_innen erst hervorgebracht. So wenig wie es in Barads Onto-Epistemologie ein Außerhalb der Versuchs‐ anordnung gibt, ist auch für Paulo Virno ein Außerhalb des Empire, der uns durchdringenden weltweiten Wirtschaftsordnung - und damit einhergehenden Machtverhältnissen und symbolischen Ordnungen - einzunehmen. Diesen Prä‐ missen folgen auch weitestgehend postdramatische, performative Theater‐ formen, die von keinem Jenseits der Bühnenrealität mehr ausgehen, das es zu analysieren und repräsentieren gilt. So findet bereits im Titel von Andcom‐ pany&Cos Black Bismarck ein Détournement im Umgang mit deutscher Ge‐ schichte statt. Die deutsche Kolonialzeit wird aus dem Kontinuum einer Ge‐ schichte der Sieger gerissen und mit Gegenerzählungen konfrontiert, von denen die Umbenennung von (diskriminierenden) Straßennamen nur ein kleines Teil‐ stück innerhalb einer collageartigen Aneinanderreihung und Verknüpfung von diskursiv-dialogischen, Lecture-artigen und choreographierten Szenen dar‐ stellt. In einer weiteren Szene überlagert das performative Empowerment von Dela Dabulamanzi, der Schauspielerin of Color, die für eine kurze Szene in die Rolle der Kriemhild schlüpft, die repräsentative Ebene, die der Darstellung auch über die Sprache Hebbels zukommt. Hier sind zwei Ebenen übereinander gelegt, eine performative und eine repräsentative, die durch den Kontext einer heu‐ tigen, postkolonialen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte inter‐ ferieren. Die kulturelle Ressource - um den Begriff Juliens aufzugreifen - in‐ terferiert mit der Übersetzungsleistung, womit hier auch die Aneignungs- (un)möglichkeiten gemeint sind. Indem die Schauspielerin auf reale Ausschlüsse und Ausgrenzungen von Schauspieler_innen of Color in Deutschland zu spre‐ chen kommt, wird an dieser Stelle kritisch auf bestehende Hierarchien und Normen der weißen Mehrheitsgesellschaft verwiesen. Jedwede Wirkung mit‐ zudenken, sei es die des performativen Sprechakts, ist Aufgabe und Verantwor‐ tung dieser Spielweise eines realistischen Theaters, das sich nicht auf vorher und außerhalb der Bühnenrealität bereits vorgefundene, politische Realitäten verlassen und diese lediglich nachspielen, ästhetisieren oder politisieren kann. 309 Transkulturalität und das Theater der Vorahmung <?page no="310"?> 24 Vgl. Dietmar Kamper, Mimesis und Simulation. Von den Körpern zu den Maschinen, Köln 1991, S. 86-94. 25 Bei Gunter Gebauer und Christoph Wulf wird „Vorahmung“ etwa im Zusammenhang mit rituellen Praktiken genannt: „Zauberer und Schamanen schaffen Riten und Opfer, die die Natur im Sinne der Ziele der Menschen beeinflussen sollen.“ (Gunter Gebauer, Christoph Wulf, Mimesis. Kultur - Kunst - Gesellschaft, Hamburg 1998, S. 391.) Transkulturelles Theater wird folglich auf das „N-Wort“ verzichten und die „M-Straße“ unbenannt lassen und eben dadurch eine ermächtigende Über‐ schreibung der deutschen Kolonialgeschichte vornehmen, dessen Drastik sich nicht mittels spiegelbildlicher Wiederholung veranschaulichen ließe, sondern Hierarchien durch die erneute Bezeichnung nur reproduzieren würde. 3. Mimesis / Präfiguration / Vorahmung Ich habe mich auf der Suche nach alten und neuen Zusammensetzungsformen, Methoden, Übungen, Ritualen und transkulturellen Techniken für das Theater auf Alexander Kluges Montagetechnik berufen und einen kollektiven Geist des Autorenfilms, auch weil ich denke, dass der Begriff der Gegenöffentlichkeit noch nicht abgegolten ist. Ihn für die Gegenwart neu zu gewinnen, heißt zum einen, sich rechtspopulistischen Aneignungstrategien entgegen zu stellen und zum anderen, dass sich Transkulturalität als Phänomen einer offenen Gesellschaft auch und gerade durch eine Ästhetik der Transkulturalität hervorbringen lässt. Für ein Theater der Vorahmung gilt es grundsätzlich, die transkulturelle, sich im Werden befindende Gesellschaft nicht-defätistisch, nicht-pesssimistisch, nicht-resignativ zu begleiten. Und es heißt zu erkennen, dass die transkulturelle Gesellschaft zwar in einem Wechselverhältnis zu einer Ästhetik der Transkul‐ turalität steht, diese sich aber andauernd fortschreibt und in einem unendlichen Prozess je performativ hervorgebracht wird. Für eine Ästhetik der Transkultu‐ ralität ist es außerdem gewinnbringend, den Begriff der Mimesis zu öffnen, um darunter nicht das Abbildende und Nachahmende zu verstehen. Mimetische Kunst, etwa den Ausführungen Dietmar Kampers folgend, enthält sich der Si‐ mulation und ist auch als prägende Praktik zu sehen. 24 Sie ist ferner, und darin möchte ich auch Gunther Gebauers und Christoph Wulfs Ausführungen zum Mythos und zum Ritual folgen, Präfiguration als körperlicher Ausdruck oder Geste, etwas gemeinsam zur Darstellung zu bringen, sich auf einen anderen Menschen oder eine andere Welt zu beziehen, etwas nachahmen, was es nie gegeben hat, in den Prozess der Vorahmung übergehen, wie das auch in Formen magischer Mimesis untersucht wurde. 25 310 Kevin Rittberger <?page no="311"?> 26 Haraway, S. 30-58. 27 Judith Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin 2016, S. 180. Ein Theater der Vorahmung und Arglosigkeit, das ich nun zu umreißen ver‐ suche, arbeitet hieran mit einem Vertrauensvorschuss, selbst wenn und gerade weil Metaerzählungen der Zukunft in der Vergangenheit bereits häufig gründ‐ lich schief gegangen sind. Es bricht mit Adornos Diktum, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe. Setzt Haraways Chthuluzän auf „Tentacular Thinking“ und „Sympoiesis“ 26 aller Kreaturen, so setzt auch das Theater der Vorahmung darauf, mit dem Optimismus des Optativs gerüstet, dass es Inseln des Gelingens gäbe, in einem Meer der Ergebnisoffenheit, in einer Ontologie der Unabsehbar‐ keit. Das Theater der Vorahmung ist, so möchte ich annehmen, ein transkultu‐ relles Theater, weil es von der Überwindung einer Homogenität getrennter Kul‐ turen ausgeht, über die man sprechen, die sich repräsentativ darstellen ließen. Es entwirft nicht ein anderes Bild vom Verhältnis der Kulturen (die diachron diffundiert sind oder synchron verschmolzen), sondern Transkulturalität setzt sich - in Annäherung an Barads agentiellen Realismus - immer neu verschränkt zusammen. Das transkulturelle Theater der Vorahmung ist dergestalt ein The‐ ater der radikalen Inklusion. Der Ethnopluralismus der Neuen Rechten hin‐ gegen, auch wenn er ebenso den Anschein macht, das Dazwischen als Abstand unter Gleichrangigen zu behaupten, steht dem Begriff der Transkulturalität an‐ tagonistisch gegenüber. Es handelt sich nur um eine vermeintliche Gleichwer‐ tigkeit der Kulturen. Tatsächlich verbergen sich hinter dem Konzept des Ethno‐ pluralismus Hierarchisierungen, die Mehrfachgeschonte vornehmen, um die Anderen zu rassisieren, zu diskriminieren und aus der Volksgemeinschaft aus‐ zuschließen. Das Theater der Vorahmung hat Exklusion, Grenzziehungen, Brüche im Ge‐ meinwesen und identitäre Setzungen überwunden. Es betont den Abstand, nicht die Homogenität. Es konstituiert sich jeden Moment neu. Vorahmen beinhaltet Erfinden, Werden, Schöpfen, Schaffen, achtsam sein, sich begegnen, gemeinsam handeln. Sprache, Stimme, Aussage, Musik, Klang, Gesten, Tanz, Bewegung der Körper setzen sich zusammen durch das Miteinander. Und das Miteinander ist bereits durch die Performativität der anwesenden Körper gegeben. Durchaus im Anklang mit Judith Butlers Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung wird auch das Theater der Vorahmung „bei diesen kleineren Ver‐ sammlungen bestimmte Grundsätze“ erarbeiten, „die geeignet sind, Ideale von Gleichheit und Interdependenz hervorzubringen - oder zu erneuern -, die sich durchaus auch auf größere […] Zusammenhänge übertragen lassen.“ 27 311 Transkulturalität und das Theater der Vorahmung <?page no="312"?> 28 Alberto Acosta, Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben, München 2015, S. 169. 29 Gayatri Chakravorty Spivak, Imperative zur Neuerfindung des Planeten, Wien 2013, S. 73. Manch eine transkulturelle Theaterbehauptung, die von der gleichwertigen Verschränkung der Elemente ausgeht, mag indes außer Acht lassen, dass das Fremde immer auch exotisierend oder ursprünglich betrachtet werden kann. So kann ein Theater, das Referenzen außerhalb der „eigenen Kultur“ sucht, un‐ möglich transkulturell genannt werden, wenn es die „fremde Kultur“ einverleibt oder in einer Art und Weise eingemeindet, ohne den Abstand sichtbar zu ma‐ chen. Wenn beispielsweise die südamerikanische Praxis des Buen Vivir oder der islamische Begriff des Haq Eingang in die Probenarbeit eines Theaters der Vor‐ ahmung finden, so kann das einzelne Werk Gefahr laufen, als Plädoyer für ein Zurück-Zu vormodernen, ursprünglichen Gemeinschaftsformen verstanden zu werden; wenn es so tut, als könnte mensch Kulturtechniken, Lebensformen und Rituale einfach aneignen und im Kunstraum wiederholen. Alberto Acosta, der das Konzept in Europa bekannt gemacht hat, hebt hervor: „Viele dieser Praktiken sind unter anderen Namen auch in anderen Regionen bekannt und können für den Aufbau einer neuen Wirtschaft genutzt werden, die im Dienst der Mensch‐ heit und im Einklang mit der Natur steht.“ 28 Das Theater der Vorahmung nutzt auch den Abstand zu anderen kulturellen Ressourcen, die übersetzt werden können, ohne ihren Eigenwert zu verlieren. Als Beispiel dient Acosta Karl Marx’ Kritik am Gothaer Programm: Jede_r nach seinen_ihren Fähigkeiten, jedem_r nach seinen_ihren Bedürfnissen. So benutzt auch Gayatri Spivak den Begriff des Haq explizit nicht, um einer ursprünglichen Identität das Wort zu reden, sondern um eine Neuerfindung des Planeten mit „Umrissen einer sozialen Praxis der Ver‐ antwortlichkeit“ auszustatten, „welche ihren Grund in einem Imperativ der Al‐ terität hat.“ 29 Umgekehrt kann das Eigene vor dem Hintergrund der Warnung vor einer kulturellen Globalisierung im essentialistischen, rassisizierenden Jargon der Neuen Rechten des Westens ebenso als indigene Kultur stilisiert werden, die sich selbstbestimmt gegen eine sogenannte „multikulturelle Kolo‐ nialisierung“ zu wehren habe. Die Terminologie beispielsweise der Identitären Bewegung („Reconquista! “), ist reichlich verquer, nicht nur weil sie zumeist linke Diskurse und künstlerische Strategien (z. B. die „subversive Aktion“, den Situationismus u. a.) ko-optiert. So können sich Streitigkeiten rund um das Mi‐ nenfeld „kulturelle Aneignung“ als anschlussfähig zum Gedankengut der Neuen Rechten erweisen, wenn versäumt wird darauf hinzuweisen, dass die Kritik von Formen kultureller Aneignung nicht mit einer Essentialisierung autochtoner 312 Kevin Rittberger <?page no="313"?> 30 Vgl. Marcus Latton, „Jedem Stamm seine Bräuche“, https: / / jungle.world/ artikel/ 2016/ 35/ j edem-stamm-seine-braeuche (12.11.2017). 31 Beim Spiel, dessen Regeln zu verhandeln sind, handelt es sich um eine performative Arbeit der Berliner Künstlerin Sonja Hornung, aufgeführt am 22. Oktober 2016 am Maxim Gorki Theater Berlin, kuratiert von Kevin Rittberger im Rahmen der Veranstaltung „Alchemie des Neuanfangs“. 32 Jan Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2003, S. 358. Kulturen einhergehen darf. 30 Auch das muss bei der Vorbereitung und Erpro‐ bung eines transkulturellen Theaters der Vorahmung berücksichtigt werden. Entscheidend für den ästhetischen Prozess ist allerdings auch, ob die Struk‐ turen des Theaters räumliche und zeitliche Rahmenbedingungen für eine ge‐ meinsame Verantwortung überhaupt gewährleisten können, damit die künst‐ lerischen Möglichkeiten am Ende nicht lediglich in einzelnen Interventionen oder Projekten münden, deren Nachhaltigkeit durch die Kurzatmigkeit einer Gesellschaft des Spektakels stets bedroht ist. Wie kann man sich das Theater der Vorahmung nun vorstellen? Ist es arglos, naiv, konsensorientiert? Ist es eine artistische Leistung, die Komplexität eines gemeinsamen, vielfachen Nenners in Szene zu setzen? Oder übersetzt es auch Komplexitäten und Agonismen, die das Politische ausmachen, in den künstle‐ rischen Raum? In seinem Film Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos entwirft Alexander Kluge die poetologische Losung, gegen die Unmenschlichkeit und schwierige Weltlage könne man nur dadurch ankommen, indem alle Artisten in der Welt gleichzeitig den Schwierigkeitsgrad erhöhen. Auch die Verschränkungen, die das Theater der Vorahmung konstruiert und entstehen lässt, gerinnen nicht zur einfachen, unterhaltsamen Lektion, zum Resultat oder Produkt. Auch verkör‐ pert es das Andere zu neuerlichen Gemeinschafts-Moden wie Karma-Kapita‐ lismus oder Share-Economy. Das Theater der Vorahmung, das das artistische Spiel neu bestimmt, handelt aber auch nicht vom Ludic Turn oder der Gamifi‐ cation, von denen in den Kulturwissenschaften die Rede ist. Nichtsdestotrotz geht es um ein Spiel: Ein Spiel, dessen Regeln zu verhandeln sind. 31 Das Theater der Vorahmung ist kein Theater der Vorahnung, das die Zukunft zu kennen vorgibt, es ist auch nicht die Generalprobe, als die sie Jan Assmann im ägyptischen Totenkult ausweist: „Man spielt in der Nacht schon einmal durch, was dann am morgen öffentlich vollzogen und für immer Bestand haben wird.“ 32 Ich werde an dieser Stelle aber auch nicht auf den Begriff der Vorahmung bei Hans Robert Jauß eingehen können, der ihn wiederum von Hans Blumenberg übernommen hat. 313 Transkulturalität und das Theater der Vorahmung <?page no="314"?> 33 Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, Berlin 1932, S. 35. 34 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 26. 35 Ebd. Neuzusammensetzung oder radikale Inklusion sind Konzepte aus der politi‐ schen Theorie, im Besonderen von Isabell Lorey, und ich versuche diese Kon‐ zepte einer präsentischen Demokratie auf das Theater anzuwenden. Diese prä‐ sentische, permanent sich neu konstituierende Demokratie kann als außerparlamentarisches, oppositionelles Modell verstanden werden, das von den neu‐ eren, sozialen Bewegungen innerhalb der am meisten unter der Krise und dem Austeritätsdiktat leidenden Staaten Südeuropas seit 2007 hervorgebracht und praktiziert wurde - aber nicht um die parlamentarische, repräsentative Politik vollständig auszuhebeln, sondern vielmehr um sie zu hinterfragen und zu er‐ neuern. Um die Rechte von Minderheiten, Marginalisierten und Papierlosen zu stärken, werden die Fragen nach Sichtbarkeit, Ermächtigung, Redemacht und Repräsentation völlig neu gestellt. Auch das Theater der Vorahmung wird nicht (bloß) auf dem Rücken der Repräsentation (oder Nachahmung) ausgetragen, sondern stellt die Darstellung von Gemeinschaft radikal in Frage, um das Gemeinsam-Werden in immer neuen Konstellationen je neu zu konstruieren und für eine Ästhetik der Transkulturalität Neuland zu beschreiten. 4. Bewegung / Welt-Denken / politische Ästhetik Marx hat geschrieben, Kommunismus sei die „wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“, nicht „ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten habe“ 33 . Auch bei Butler ist von Idealen die Rede, die sich bei den Ver‐ sammlungen auf den Plätzen im tatsächlichen Miteinander bewahrheiten müssen. Deleuze hat über Nietzsche geschrieben, das Theater sei „die reale Be‐ wegung; und aus allen Künsten, die es verwende, gewänne es die reale Bewe‐ gung“ 34 . Deleuzes Philosophie gewinnt von Nietzsche die Einsicht, „die mittel‐ baren Repräsentationen durch direkte Zeichen zu ersetzen; Schwingungen, Rotationen, Drehungen, Gravitationen, Tänze oder Sprünge auszudenken, die den Geist direkt treffen“ 35 . Wagner, so Deleuze mit Nietzsche, habe uns plant‐ schen und schwimmen gemacht, anstatt schreiten und tanzen. Bei Brecht heißt das Nautische später das Aristotelische oder Einfühlungs-Theater und die Ele‐ mente, die das Ganze der Theateraufführung ausmachen, gehörten, so der Für‐ sprecher des Epischen Theaters, getrennt; getrennt wohlgemerkt, nicht um der Präsenz der Aufführung willen, sondern um Stellvertreterschaft und Vermitt‐ lung zu behaupten, um die Erkenntnis anstelle der Einfühlung zu setzen, sich mit den vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten eines wissenschaftlichen Sozia‐ 314 Kevin Rittberger <?page no="315"?> 36 Bertolt Brecht, Der Messingkauf. Schriften zum Theater 5, Frankfurt am Main 1963, S. 81. 37 Isabell Lorey, Die Regierung der Prekären, Wien 2012, S. 128. 38 Achille Mbembe, Kritik der Schwarzen Vernunft, Berlin 2014, S. 326. lismus auseinanderzusetzen, Positionen mittels eines Lehrstücks auch selbst durchzuspielen, sprich die Linearität einer marxistisch-leninistischen Ge‐ schichtsphilosophie zu überprüfen. Es ist dann später die postdramatische Lesart von Brechts „Sich-Direkt-an-den-Zuschauer-Wenden“ 36 , welche neue, performative Spielweisen hervorbringt. Und einem politischen Theater, das sich in die Tradition Brechts stellt, wird es immer darum gehen, die Geschichte nicht nur verschiedentlich zu interpretieren, sondern als gemacht und veränderbar aufzuzeigen. Die Denkbewegung der politischen Theorie Isabell Loreys wie‐ derum widerspricht der zeitlichen Kontinuität einer Geschichte von Klassen‐ kämpfen, die sich vom historisch-dialektischen Materialismus noch darstellen ließ. Deleuzes Konzept von Wiederholung und Differenz auf die neuen, sozialen Bewegungen seit der Jahrtausendwende anzuwenden, heißt mit Lorey, auf den besetzten Plätzen und in den Stadtteilversammlungen (15M, Nuit debout, Taksim u. a.) allerorten Diskontinuitäten und Brüche wahrzunehmen, Anfänge und Ereignisse. Politische Praxen, die auf diese Weise von der Vielfalt der Prekären ausgehen, brechen hier mit einer Repräsentationslogik und sind gegen eine kol‐ lektive Identitätsbildung gerichtet: Wie das Prekärsein ist auch das Gemeinsame nichts immer schon Bestehendes, auf das zurückgegriffen werden könnte; es ist vielmehr etwas, das im politischen Handeln erst hergestellt wird, denn die geteilte Verschiedenheit existiert nicht jenseits des Sozialen und des Politischen. Das Gemeinsame muss sichtbar gemacht werden, weil es verdeckt ist, es wird wahrnehmbar im Fliehen und im Prozess der Konstituie‐ rung. 37 Allerdings baut diese Form der radikalen Inklusion auf das Empowerment von minoritären Gruppen, also auf selbstorganisierte Erfahrungswerte, die sich ad‐ dieren, solidarisieren und vernetzen. Und auch einem an der wirklichen Bewegung interessiertes Theater der Vor‐ ahmung geht es um Spielregeln des Gemeinsamen, Spuren der Verbindlichkeit und um brauchbare Erfahrungswerte, welche eine Ethico-Onto-Epistemo-Logie begleiten, die das Werden von Transkulturalität als eine Transkulturalität des Werdens beschreibt. Es geht nicht um ein neues, geschlossenes System, sondern um die permanente Verschränkung, Tentacular Thinking, ein bewegungsfreies Denken, über nationalstaatliche Grenzen hinweg, „ein Denken in Zirkulation, ein Denken der Durchquerung, ein Welt-Denken.“ 38 So beschreibt Achille Mbembe, 315 Transkulturalität und das Theater der Vorahmung <?page no="316"?> 39 Ebd., S. 325. 40 Ebd., S. 331. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 325. 43 Ebd. 44 Gabriele Wittmann, Ursula Schorn, Ronit Land, Anna Halprin, Tanz - Prozesse - Ge‐ stalten, München 2013, S. 35. dessen Kritik der Schwarzen Vernunft eine Denkschrift der „Restitution, Wie‐ dergutmachung und Gerechtigkeit“ 39 ist, die „universelle Gemeinschaft“, 40 in Begriffen des „Im-Offenen-Wohnens, der Sorge um das Offene“. 41 Dem Werden von Transkulturalität, das dem Theater der Vorahmung dergestalt innewohnt, geht es um die Voraussetzungen zum „kollektiven Aufstieg zum Menschsein.“ 42 Es ist notwendig ein „Denken des Lebens, der Lebensreserven, dessen, was nicht geopfert werden darf.“ 43 Brechts Theater und auch noch Müllers Theater, wenn auch hier schon im Verfall begriffen, kannten noch das Kollektivsubjekt namens Proletariat, Anti‐ rassistische, feministische und queere Kämpfe waren dem Klassenkampf unter‐ geordnet, bzw. wurden im Vergleich zum Hauptschauplatz als marginal be‐ trachtet. Ein Theater der Vorahmung, das sich als reale Bewegung (Deleuze) begreift, im Austausch mit der wirklichen, politischen Bewegung (Marx) steht und sich als Philosophie des Welt-Denkens versteht (Mbembe), wird gemeinsam neue Praxen, Gesten, Übungssysteme, Rituale entwickeln und performativ her‐ vorbringen. Es gilt sich von neoliberaler Subjektivierung, von Isolation und In‐ dividualitätsfetisch abzuwenden und gemeinsam zu handeln, eine Hinwendung zur Kooperation zu wagen, politische Kämpfe intersektional zu denken, zum gemeinsam bespielten Raum zu finden und zur Aufmerksamkeit für das Mit-Sein als solches. In der US-amerikanischen Performance hat Anna Halprin in ihren RSPV Cycles beispielsweise seit Mitte der 1960er Jahre antihierarchische Methoden entwickelt, um den Einzelnen im Kollektiv zu stärken und einen gemeinsamen künstlerischen Prozess zu bewältigen: „One person determining everything for everybody: it just isn’t like that any more.“ 44 Halprins Performances, wie der spätere Planetary Dance, der 1987 an 63 Orten in 27 Ländern gleichzeitig statt‐ fand, lebten von kollektiver Kreativität, die Halprin in ihren Scores so ausfor‐ mulierte, dass sie allen Partizipierenden erlaubten, in den Gruppenprozess ein‐ zusteigen und eigene Bausteine mitzubringen. Eine weitere kunstgeschichtliche Referenz, die ich nennen möchte, wäre der Düsseldorfer Fluxus-Künstler Carlheinz Caspari. Mit seinem künstlerischen Prinzip LABYR erarbeitete er Konstruktionsregeln für einen anderen Sozial‐ 316 Kevin Rittberger <?page no="317"?> 45 Vgl. Wilfried Dörstel, Ein Labyr ist kein Labyr. Carlheinz Casparis Modell ästhetisch-ethi‐ scher Selbstbildung zwischen Cage, Constant und den Situationisten, Köln 2009, S. 134. raum, der das Verlernen alter und das Einüben und Praktizieren neuer Denk‐ gewohnheiten ermöglichen sollte. Caspari entwickelte LABYR im Austausch mit Constant Nieuwenhuys und dessen utopischem Stadtmodell New Babylon. 45 Ab den späten 1950er Jahren laborierte Constant beinahe zwanzig Jahre lang an seinem antikapitalistischen Stadtmodell. New Babylon ist eine Stadt der Zu‐ kunft, eine Stadt der Gastfreundschaft, der - mit Ivan Illich - Konvivialität, eine nomadische Stadt, Dériville oder Drift City. Es ist der Angriff eines Nicht-Ar‐ chitekten gegen die Architektur schlechthin, die Geste des Künstlers gegen die Kunst, namentlich De Stijl. Constant verabscheut die quasi-religiöse Fetischi‐ sierung der Linie und so ist New Babylon auch eine Unterwanderung eines ge‐ ometrischen Formalismus: Jede Linie löscht die vorige aus. Alle sind Miter‐ schaffer_innen einer neuen Form von horizontaler Architektur. Keiner soll als Fremder angesehen werden. Alle oder keine_r geben dem Ganzen die Form. Ein labyrinthartiges Geflecht soll sich rhizomartig, ohne Anfang und Ende, zu einem weltweiten Netzwerk verästeln. Ein weiteres Arbeitskonzept eines Fluxuskünstlers ist das der Dé/ Coll-age von Wolf Vostell. Dieses Abtragen und Abkratzen eines dergestalt umgedrehten Pa‐ limpsests steht in einem Theater der Vorahmung im produktiven Verhältnis zum Aufschichten und Hinzufügen, zum Zusammenfügen und Verschränken. RSPV Cycles, LABYR, New Babylon und Dé/ Coll-age schaffen dergestalt Räume für kulturelle Übersetzungen, Verschränkungen und Neuanfänge. Das Politische muss sich ein politisches, der Vorahmung verpflichtetes The‐ ater gar nicht unbedingt auf die Fahne schreiben. Selbst von der Negation der Verhältnisse kann es sich abwenden. Viel wichtiger ist es, mithilfe von alterna‐ tiven Übungssystemen und Methoden gemeinsam zu anderen Formen des Spiels zu gelangen, zur Möglichkeit des gemeinsamen Spiels schlechthin. Die andere Spielform, Vorahmung genannt, ist nun weniger Schauspiel als Spielschau, sie legt den Akzent auf das Werden des Gemeinsamen. Es geht um die Weiterent‐ wicklung und Neuerfindung von kulturellen Spielgeräten, Spielapparaturen und Spielanordnungen für neu sich bildende Gesellschaften. Dieses Werden des Ge‐ meinsamen ist achtsam und riskant, weniger wirkungsästhetisch ausgerichtet: Das Sein als Werden bejahen, auch den Zufall, die Ergebnisoffenheit annehmen. Gedachte ein politisches Theater des sozialistischen Realismus noch entlang einer negierenden Bewegungsform zu operieren, so wendet sich das bejahende Theater der Vorahmung, das der dialektischen Verneinung opponiert, gegen die Arbeit am Negativen. Dem schwerfälligen Nachweis etwa, dass sich ein Ent‐ 317 Transkulturalität und das Theater der Vorahmung <?page no="318"?> 46 Friedrich Georg Jünger, Die Spiele, Frankfurt am Main 1959, S. 41. 47 Ebd. wicklungsgesetz dafür verbürgt, die gesellschaftlichen Widersprüche mittels Klasssenkampf aufzuheben - also die Bewerkstelligung von Rückblick und Vo‐ rausblick in marxistisch-leninistischer Terminologie (Diamat) - wird die Leich‐ tigkeit entgegengesetzt, dass dem Werden Vielheit anhaftet, vielfache Möglich‐ keit der Neuzusammensetzung, die nicht vorweggenommen oder vorausgeplant werden kann. Politisches Theater wird sich, wenn es den Raum des Gemein‐ samen dergestalt neu bestimmt - als Sinn und Sinnlichkeit des Gemeinsamseins - zur Vorahmung anderer Verhältnisse durchringen. Eine Haltung büßt es darum nicht ein, gewinnt aber einen Spielraum für kulturelle Fantasie, die in Zeiten, da jede Bühnenhandlung zur Krisenbehandlung (oder pessimistischer, defätistischer, nihilistischer Handlungsohnmacht) zu verkommen droht, am Boden liegt. 5. Vorahmung II / Neotenie / Etre-Ensemble Zurück zum Eingemachten! Was ist auf einer Bühne eines Theaters der Vorah‐ mung zu sehen? Gibt es eine Bühne? Ist das Impro-Theater, Kitsch oder Perfor‐ mance? Was wird vorgeahmt? Hat die Vorahmung einen Gegenstand oder ist sie Selbstzweck? Was ist überhaupt Vorahmung? Auch performatives Theater ist mit Brecht und Kluge eine artistische Leis‐ tung, kein Abbild, das sich im Authentizitätseffekt erschöpft. Es ist die anthro‐ pologische Annahme eines spielenden, werdenden Menschen, der seiner Phan‐ tasie, Neugier und Offenheit zeitlebens nicht verlustig gehen wird. Friedrich Georg Jünger schreibt über Kinderspiele, sie seien Vorahmung und Nachah‐ mung zugleich. Ein Kind, das mit einer Puppe spiele, ahmt nicht nur nach, sondern auch vor. Es tut in der Gegenwart etwas spielend, was in der Zukunft nicht als Spiel getan wird. […] Das Kind spielt mit der Puppe; es spielt nicht die Puppe. Würde es auf den Gedanken kommen, die Puppe zu spielen, das heißt, sich durch Ahmung selbst zur Puppe zu machen, dann wäre das ein ganz anderes Spiel. […] Es zeigt sich, dass das Kind, das mit der Puppe spielt, nichts darstellt. 46 Über nicht-darstellende Spielformen schreibt Jünger weiter: „Mit der Ahmung kann ich so nicht spielen, kann nicht mein Spiel mit ihr treiben. Ich spiele nicht mit der Ahmung, sondern ahme; darin steckt das Spiel“. 47 Jüngers Begriff der Vorahmung handelt vom schieren Werden und Schöpfen und davon, dass das Andere nichts ist, was sich domestizieren lässt. Auch steckt darin eine Reprä‐ 318 Kevin Rittberger <?page no="319"?> 48 Jane Bennett, Vibrant Matter. A political ecology of things, Durham 2010, S. 8. 49 Ebd. 50 Vgl. Spivak, S. 73. 51 Vgl. Ashley Montagu, Zum Kind reifen, Stuttgart 2000. sentationskritik. Es ist mit Minh-ha das Nebeneinander-Sprechen, nicht das Füreinander-Sprechen, das Jünger an der Vorahmung im Spiel mit der Puppe interessiert. Jane Bennett hat in Vibrant Matter dargelegt, wie es Kafka in der kurzen Erzählung Die Sorge des Hausvaters gelingt, eine Zwirnspule namens Odradek zu beleben. Mit menschlichen Zügen ausgestattet ist Odradek der nicht-menschliche Charakter einer grotesken Erzählung, welche einen Gegen‐ stand mit „Agency“ ausstattet: „Wooden yet lively, verbal yet vegetal, alive yet inert, Odradek is ontologically multiple. He/ it is a vitel materiality and exhibits what Gilles Deleuze has described as the persistent, hint of the animate in plants, and of the vegetable in animals.“ 48 Was Jünger als dasjenige adressiert, was in Zukunft nicht mehr als Spiel getan wird, sind bei Bennett z. B. die Garbage patches, schwimmende Müllinseln, die heute auf dem Pazifik und Atlantik treiben, Ausgeburten des Anthropozäns, welches das „Werden der Dinge“ 49 bestreitet und das es mit Haraway zu über‐ winden gilt. So möchte ich schließlich Haraways Chthuluzän als Arbeitsbegriff eines The‐ aters der Vorahmung in Stellung bringen, weil er uns helfen kann, das vorah‐ mende Spiel von Menschen mit Menschen und Nicht-Menschen (etwa Hara‐ ways string figures, die Menschen, Tiere, Pflanzen, Technologien verknüpfen können) nicht zu idealisieren, aber auch jene Game-Over-Mentalität zu über‐ winden. Es ist das ethische Bewusstsein für die Ontologie unendlicher Ver‐ schränkungen von allen mit allem, das Spivak als „Verantwortung-als-Recht“ und „Imperativ der Alterität“ bezeichnet. 50 Für die Vorahmung möchte ich nun neben Möglichkeitssinn, Arglosigkeit, Nebeneinander-Sprechen, Mitsein und Gemeinsam-Werden noch einen wei‐ teren Begriff, den der Neotenie verwenden. 51 In Zum Kind reifen geht es Ashley Montagu darum, sich und anderen die Fähigkeit zuzusprechen, neu anfangen zu können bzw. Neuanfangen-Können schlechthin als anthropologische Inva‐ riante anzuerkennen. Für die tägliche Übung und den ästhetischen Prozess geht es um Resilienz und Unvoreingenommenheit, auch und gerade nach geschei‐ terten Versuchen und zahlreichen Niederlagen. Neotenie bezeichnet nämlich gerade die Unabgeschlossenheit der menschlichen Entwicklung, d. h. ein per‐ manentes Werden und Neuanfangen, das keinesfalls mit dem Erreichen der Volljährigkeit abgeschlossen sei. Die Menschen könnten sich, so Montagu, ihre Neugierde, Offenheit, Liebesfähigkeit und das Vertrauen in gemeinsame Hand‐ 319 Transkulturalität und das Theater der Vorahmung <?page no="320"?> 52 Auch gewisse Schulen der Managementkybernetik argumentieren dahingehend, dass die Summe aller individuellen Teilergebnisse schlicht kleiner sei als die synergetisch bewerkstelligte. So hat z. B. Fredmund Malik die Organisationstheorien und -modelle Stafford Beers weiter in Richtung Effizienzsteigerung entwickelt. 53 Vgl. Kevin Rittberger, Arglosigkeit, Hamburg 2016, S. 63-72. 54 Jean-Luc Nancy, Demokratie und Gemeinschaft. Im Gespräch mit Peter Engelmann, Wien 2015, S. 60. 55 Haraway spricht im Orig inal von „critters“ (Haraway, S. 100). lungen zeitlebens erhalten. Ergänzt um Hannah Arendts Begriff einer politi‐ schen Natalität, die Möglichkeit stets den Neubeginn zu erkämpfen, und Peter Kropotkins Mutualismus, die Annahme, Menschen seien überhaupt nur deshalb eine derart hoch entwickelte Spezies, weil sie von gegenseitiger Hilfe und Ko‐ operation Gebrauch machen können (und nicht nur von sozialdarwinistischem Daseinskampf um den individuellen Vorteil), stützt sich ein Theater der Vorah‐ mung im Wesentlichen auf diese Grundannahmen. In der Vorahmung steckt ein neotenes, mit der Wirksamkeit der anderen verschränktes Spiel. Wichtig er‐ scheint dabei, dass die Wirksamkeit aller nicht auf ein Ergebnis fixiert ist, das als Synergieeffekt das bessere Verkaufsargument abgeben könnte. 52 Die eigene, vorahmende Tätigkeit, vor den Augen der anderen und mit den anderen ge‐ meinsam im Raum vollzogen, in permanent anderer Konstellation, ist indes be‐ reits die Belohnung. Es ist nicht der Bonus, den das Team am Ende einfährt und der für die individuellen Leistungsträger_innen ausdividiert werden kann. Das Theater der Vorahmung handelt von der arglosen, ergebnisoffenen, transkulturellen Begegnung, die um die Abstände weiß, aber nicht am Begriff der Identität festhält: (An-)Teil sein, (An-)Teil nehmen, (An-)Teil haben. 53 Die Achtsamkeit für die Anderen, deren Stimmen und Körper, deren Sprache und Präsenz, bilden die Grundlage und zugleich die Wirkung. Gleichwohl ist der Begriff der Gemeinschaft nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts problematisch. Jean-Luc Nancy bezeichnet ihn als undarstellbar und spricht vom „Etre-ensemble“: Mehr vom „Mitsein sprechen als von der Ge‐ meinschaft. […] Im Mitsein wird etwas zu etwas, es wird geteilt und mitgeteilt, kommuniziert - womit wir wieder beim lateinischen cum wären.“ 54 Undoing Identity meint hingegen den Prozess der fortwährend hervorgebrachten Neu‐ zusammensetzung. Vorahmung schießt auch Vertrauen in die neuen Organe vor, in Cyborgs und Humanoide, ebenso wie jene miteinander verschränkten „Vie‐ cher“ 55 und Multispezies, von denen Haraways Chthuluzän nur so wimmelt. Das Theater der Vorahmung achtet genauso Formen der Sympoiesis und längst er‐ probte Kulturtechniken, wie es um kommende, technologische Erfindungen weiß. Es geht darum, das Ergebnis offenzuhalten und einen erfinderischen, ge‐ meinsamen Prozess stets zu ermöglichen. 320 Kevin Rittberger <?page no="321"?> So geschieht es auch mit einer ersten Annäherung an eine Ästhetik der Vor‐ ahmung, deren wuselnde und wimmelnde Teilchen ich versucht habe zu skiz‐ zieren: als Verschränkung, als Gemengelage, als Zusammen-Sein und nicht zu‐ letzt als Ressource. 321 Transkulturalität und das Theater der Vorahmung <?page no="323"?> Ästhetische Erziehung zum Kiezdeutsch? Anmerkungen zum multi-/ inter-/ transkulturellen Theater anlässlich aktueller Inszenierungen am Berliner Gorki Ernest W.B. Hess-Lüttich (Berlin/ Bern/ Kapstadt) Im Kontext der aktuellen Flüchtlingsdebatte und in kritischer Auseinanderset‐ zung mit dem politischen Diskurs über die Integration von Ausländern nimmt der Beitrag die erfolgreiche Inszenierung des Theaterstücks Verrücktes Blut von Nurkan Erpulat und Jens Hillje am Berliner Gorki-Theater in den Blick und versucht, die Diskrepanz zwischen der Intention der Künstler und der Rezeption der Inszenierung durch Kritik und Publikum zu verstehen. Die Frage nach der Rolle der Ironie in der Bühnensprache des Stücks führt zur Antwort auf die Frage nach den Gründen für den Erfolg dieser Inszenierung, die das Spannungsver‐ hältnis von Identität und Integration problematisiert und zugleich kritische Fragen nach den (sprachpolitischen) Zielen der Integration von Zuwanderern nichtdeutscher Muttersprache aufwirft, die ergänzend mit einem abschließ‐ enden Blick auf eine aktuelle Uraufführung des Stücks Get Deutsch or die tryin' von Necati Öziri diskutiert werden. 1. Multikulturalität und Theater der Metropolen Nicht erst seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 sind wir alle Zeugen einer deutlichen Verschiebung des politischen Spektrums in Europa zugunsten des parlamentarischen Konservativismus und Nationalismus. Namentlich im deutschsprachigen Mitteleuropa, aber auch im nord- und ostmitteleuropäischen Raum verzeichnen rechtspopulistische und fremdenfeindliche Parteien und Be‐ wegungen zunehmend Erfolge. In der Schweiz ist die xenophobe SVP längst die stärkste Regierungspartei, in Deutschland zieht mit der AfD, unterstützt von Pegida und Identitärer Bewegung, bei den Wahlen 2017 erstmals seit 1945 wieder eine rechtsradikale Partei in das Bundesparlament ein, in Österreich gewinnen ÖVP und FPÖ mit Parolen gegen Migranten über 60 % der Wählerstimmen, in <?page no="324"?> 1 Vgl. Sven Sappelt, „Theater der Migrant/ innen“, in: Carmine Chiellino (Hg.), Interkul‐ turelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart 2007, S. 275-293. den Visegrád-Staaten suspendieren die Regierungen ungehindert demokrati‐ sche Grundwerte und hetzen gegen Minderheiten jeglicher Art. Die Liste ließe sich verlängern. Wer traut sich noch, in diesem Umfeld unbefangen von Multi‐ kulturalität zu sprechen? In dieser Atmosphäre geraten auch die seit je plurikulturellen Szenen der Künstler in den Metropolen unter Druck. Deshalb erhöhen sie den Gegendruck und wehren sich mit ihren Mitteln des ästhetischen Ausdrucks kultureller Viel‐ falt. Nie gab es z. B. in der vielsprachigen deutschen Hauptstadt Berlin (wo über 150 Sprachen gesprochen werden) mehr Autoren mit nichtdeutscher Mutter‐ sprache, mehr Theaterschaffende mit ausländischen Wurzeln, mehr in der Film-, Kunst-, Tanz- und Theaterszene erfolgreiche Regisseure, Dramaturgen, Schau‐ spieler, Tänzer, Bühnenbildner aus anderen Kulturen als heute. Multikulturelle Pluralität ist in Berlin mit Einwohnern aus über 190 Ländern schlechterdings kaum zu leugnen: aktuellen Angaben des Berliner Amtes für Statistik zufolge stieg der Anteil melderechtlich registrierter Ausländer und Bürger mit Migra‐ tionshintergrund auf 30,7 % und erreichte damit im Juni 2016 einen neuen Höchststand. Was den einen Anlass zu „völkischem“ Protest ist („Überfremdung! “), ist den anderen Impuls zu kreativer Inspiration. In diesem Umfeld gedeiht auch eine sehr aktive multikulturelle Literatur- und Theaterszene. Allerdings blieben die von Sven Sappelt porträtierten Theatergruppen mangels nachhaltiger Subven‐ tionierung zunächst meist ein transitorisches Phänomen. 1 Zu den ersten Versu‐ chen, in Deutschland ein interkulturelles Theater zu begründen, gehörte gewiss das türkische Ensemble an der Berliner Schaubühne und das „Kollektiv-Theater“ des türkischen Regisseurs Vasif Öngören zu Beginn der 1980er Jahre. Die Initi‐ ativen scheiterten indes alsbald nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch an der wachsenden Kritik aus den Reihen türkischer Theaterleute, die ihre Arbeit unzureichend gewürdigt sahen. Die überaus facettenreiche internatio‐ nale und multikulturelle Theaterszene in Berlin harrt freilich noch systemati‐ scher Erforschung (unter www.berlin.de findet man eine lange Liste gegen‐ wärtig aktiver „Theaterbühnen von A [wie Acud] bis Z [wie Zebrano]“). Das Maxim Gorki Theater hat sich hier in jüngster Zeit besonders profiliert. Mit der Spielzeit 2013/ 14 übernahm Shermin Langhoff, die zuvor erfolgreich das Ballhaus Naunynstraße geleitet hatte, die Intendanz des Hauses zwischen der Humboldt-Universität und dem Deutschen Historischen Museum. Seither trägt die (1969 als Şermin Özel im türkischen Bursa geborene und) vielfach ausge‐ 324 Ernest W.B. Hess-Lüttich <?page no="325"?> 2 http: / / gorki.de/ de/ ensemble/ shermin-la nghoff (8.3.2018). Apropos Gender: Gemäß altrömischem Rechtsgrundsatz ("Pronuntiatur sermonis in sexu masculino ad utrum sexum plerumque porrigatur") und in vager Erinnerung an früher gültige Regeln auch der deutschen Grammatik möge die generisch gebrauchte maskuline Form in diesem Beitrag Personen jedweden Geschlechts bezeichnen. 3 Vgl. Sylvia Supper, Minderheiten und Identität in einer multikulturellen Gesellschaft, Wiesbaden 1999, S. 47. 4 Axel Schulte, „Multikulturelle Gesellschaft, Integration und Demokratisierung“, in: H. Elcin Kürsat-Ahlers (Hg.), Die multikulturelle Gesellschaft: Der Weg zur Gleichstellung? , Frankfurt am Main 1992, S. 94-128, hier S. 94. zeichnete Theatermacherin dazu bei, den Begriff des „Postmigrantischen The‐ aters“ zu etablieren und die erste genuin interkulturelle Bühne im Berliner The‐ aterleben zu verankern. 2016 wurde ihr gemeinsam mit ihrem Co-Intendanten Jens Hillje der Theaterpreis Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung ver‐ liehen für ihre Verdienste um das Gorki, das (wie die Jury in ihrer Begründung schreibt) „die Vielfalt der Stadtbevölkerung spiegelt, in seinem performativen und diskursiven Programm wie in seinem Ensemble: deutsche Schauspieler aus allen Teilen der Welt, die sich herausspielen aus Schubladen, Zuschreibungen und (Gender-)Eindeutigkeiten.“ 2 2. Multikulturalität, Interkulturalität, Transkulturalität Bisher war von multikulturellem, interkulturellem, internationalem und post‐ migrantischem Theater die Rede, nicht jedoch von transkulturellem. Dies bedarf in einem Buch zum transkulturellen Theater der begriffsystematischen Recht‐ fertigung. Der Ausdruck Multikulturalität bezeichnet zunächst nur das Nebeneinander-Bestehen unterschiedlicher Kulturen und Milieus innerhalb einer Gesellschaft; 3 deshalb werden westliche Gesellschaften heute als multi‐ kulturelle bezeichnet, sofern und soweit es in ihnen (neben der Mehrheitsbe‐ völkerung) autochthone oder immigrierte (ethnische) Minoritäten gibt, die sich definieren durch „Vorstellungen gemeinsamer Herkunft, ein Zusammengehö‐ rigkeitsbewusstsein, Gemeinsamkeiten von Kultur und Sprache, eine auf ‚ei‐ genen‘ und ‚fremden‘ Zuschreibungen beruhende kollektive Identität.“ 4 Wie stark die Identifikation empfunden und zeichenhaft entäußert wird, hängt u. a. ab von Faktoren wie Nationalität, Generation, Erziehung, Religion, Gruppen‐ bindung, Normen und Wertsystemen. Da diese konkurrieren mit denen der Mehrheitskultur, kommt es nicht selten zu Konflikten zwischen subjektiven (Familie, Geschlecht, Generation etc.) und kollektiven Identitäten (Religionsge‐ meinschaften, Berufsvereinigungen, Parteien, Freizeitvereinen etc.). Das bikul‐ turelle Individuum bewegt sich also permanent in einer Pluralität potentiell 325 Ästhetische Erziehung zum Kiezdeutsch? <?page no="326"?> 5 Vgl. Ursula Lischke, Heinz Rögl (Hgg.), Multikulturalität. Diskurs und Wirklichkeit, Wien 1993; Ernst-Peter Brezovsky, Arnold Suppan, Elisabeth Vyslonzil (Hgg.), Multikultura‐ lität und Multiethnizität in Mittel-, Ost- und Südeuropa, Frankfurt am Main 1999. 6 Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993, S. 34. 7 Paul Michael Lützeler, „Vom Ethnoszentrismus zur Multikultur. Europäische Identität heute“, in: Michael Kessler, Jürgen Wertheimer (Hg.), Multikulturalität. Tendenzen, Pro‐ bleme, Perspektiven, Tübingen 1995, S. 91-105, hier S. 99. 8 Vgl. Gabriele Pommerin-Götze, „Multikulturelle Gesellschaften als Gegenstand der Landeskunde“, in: Gerhard Helbig, Lutz Götze, Gert Henrici, Hans-Jürgen Krumm (Hgg.), Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch, Berlin 2001, S. 1194-1204, hier S. 1199. konfligierender Wert- und Symbolsysteme, was Identifikationsprozesse instabil werden lässt. 5 Umso wichtiger ist die Erfahrung sozialer Anerkennung zur Entwicklung stabil positiver Selbstbilder. Den rechtlichen Rahmen dafür bieten in Mitteleu‐ ropa die Grundrechte, in Deutschland das Grundgesetz und die Antidiskrimi‐ nierungsgesetze. In der Alltagspraxis multikultureller Gesellschaften trifft frei‐ lich der Rechtsrahmen einer „Politik der universellen Würde“ auf eine die Eigenheit und Andersartigkeit der Minorität respektierende „Politik der Diffe‐ renz“ - ein strukturelles Dilemma und eine weitere Quelle potentieller Kon‐ flikte: „Die erste Konzeption wirft der zweiten vor, sie verstoße gegen den Grundsatz der Nicht-Diskriminierung. Die zweite wirft der ersten vor, sie ne‐ giere die Identität, indem sie den Menschen eine homogene, ihnen nicht gemäße Form aufzwinge“ 6 . Dieses Struktur-Dilemma kennzeichnet noch immer die heu‐ tige Debatte zwischen Universalisten und Differentialisten: diese werfen jenen vor, sie betrieben die Assimilierung und Homogenisierung der Minorität, das Etikett universeller Gleichheit maskiere nur ihren „diskriminierenden Partiku‐ larismus“ 7 ; jene werfen diesen vor, sie förderten in Wahrheit Diskriminierung und Segregation, das Etikett des Rechts auf Andersartigkeit verdecke die Praxis subkultureller Ab- und Ausgrenzung. 8 Die Konsequenzen dieses Dilemmas lassen sich in einander widersprech‐ enden Integrationskonzepten besichtigen, wenn die eine Position populistisch zu Anti-Multikulturalismus, die andere zu einem Kultur-Relativismus mit der Gefahr der Preisgabe eines in der Gesellschaft geteilten Rechts- und Wertekon‐ sensus’ missbraucht wird. Wenn diese Debatte nicht in die Sackgasse führen soll, bedarf es in öffentlichen Institutionen und Bildungseinrichtungen eines verbindlichen Orientierungsrahmens, der im Respekt vor kultureller Diversität der Tradition der europäischen Aufklärung verpflichtet bleibt und der Freiheit individueller Selbstentfaltung erst das Fundament von Grundrechten und Bür‐ 326 Ernest W.B. Hess-Lüttich <?page no="327"?> 9 Vgl. Jürgen Straub, Arne Weidemann, Doris Weidemann (Hgg.), Handbuch interkultu‐ relle Kommunikation und Kompetenz, Stuttgart 2007. 10 Vgl. Hamid Reza Yousefi, Grundbegriffe der interkulturellen Kommunikation, Konstanz 2014, S. 28. 11 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink, Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahr‐ nehmung, Kulturtransfer, Stuttgart 2005, S. 14. 12 Christoph Barmeyer, „Interkulturalität“, in: ders., Petia Genkova, Jörg Scheffer (Hgg.), Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Wissenschafts‐ disziplinen, Kulturräume, Passau 2011, S. 36-71, hier S. 53. 13 Vgl. Rolf Elberfeld, „Forschungsperspektive ‚Interkulturalität‘. Transformationen der Wissensordnung in Europa“, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 1 (2008), S. 7-36, hier S. 35-36. 14 Yousefi, S. 29. gerpflichten, Recht und Verfassung und gemeinsamer Sprache verleiht. Für das Schul- und Bildungssystem mit der zunehmenden kulturellen Heterogenität seiner Populationen ist das eine ernst zu nehmende Herausforderung. Erst vor diesem gesellschaftlichen Horizont ist die Rezeption des interkulturellen Thea‐ ters der Gorki-Produktionen angemessen zu beurteilen. Im öffentlichen Diskurs konkurriert der Begriff der Multikulturalität mit dem der Interkulturalität. 9 Das Präfix interbezeichnet darin das Zwischen zweier Entitäten; der Begriff hat sich „für die Bezeichnung von individueller Kommu‐ nikation zwischen Vertretern verschiedener Nationalkulturen“ mit gleichbe‐ rechtigtem Status durchgesetzt und umfasst als zugleich gesellschaftliches und individuelles Problem 10 jegliche Phänomene, die aus dem Kontakt zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen entstehen. 11 In Prozessen interkultureller Verständigung kommt es zu einem Austausch zwischen Kultur A und Kultur B, wobei dadurch die Interkultur C entsteht, die freilich Dominanz, Assimilation oder Divergenz keineswegs ausschließt. 12 Es handelt sich um ein interdiszipli‐ näres Konzept, das methodologisch in verschiedenen Fächern als Forschungs‐ perspektive dient, 13 weil es religiöse, ethnologische, soziologische, pädagogi‐ sche, psychologische, linguistische, philosophische und auch politische, wirtschaftliche, historische und kulturelle Dimensionen betrifft. 14 Diese kon‐ zeptionelle Vielfalt des Interkulturalitätsparadigmas birgt zwar die Gefahr be‐ grifflicher Unschärfe, ist aber der Vielfalt des damit exponierten Phänomens geschuldet und erscheint insofern zugleich als Schwäche und Stärke des Be‐ griffs: Interkulturalität, als eine Realität, die in allen Gesellschaften seit Menschengedenken anzutreffen ist, lässt sich aus vielerlei Gründen kaum auf weltweite Migrationsbewe‐ gungen und die Berührung mit dem kulturell Anderen beschränken. Eine solche An‐ 327 Ästhetische Erziehung zum Kiezdeutsch? <?page no="328"?> 15 Hamid Reza Yousefi, Ina Braun, Interkulturalität. Eine interdisziplinäre Einführung, Darmstadt 2011, S. 27. 16 Vgl. Anil Bhatti, „Heterogenität, Homogenität, Ähnlichkeit“, in: Andrea Allerkamp, Gérard Raulet (Hgg.), Kulturwissenschaften in Europa - eine grenzüberschreitende Dis‐ ziplin? , Münster 2010, S. 250-266, hier S. 250. 17 Vgl. Karl Esselborn, „Von der ‚Hermeneutik der Fremde‘ zur interkulturellen/ transna‐ tionalen Germanistik/ Literaturwissenschaft“, in: Ernest W. B. Hess-Lüttich, Corinna Albrecht, Andrea Bogner (Hgg.), Re-Visionen. Kulturwissenschaftliche Herausforde‐ rungen interkultureller Germanistik, Frankfurt am Main 2012, S. 159-178, hier 159. 18 Vgl. Leo Kreutzer, Dialektischer Humanismus. Herder und Goethe und die Kultur(en) der globalisierten Welt, Hannover 2015, S. 37-45; Johann Gottfried Herder, Auch eine Philo‐ sophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Frankfurt am Main 1967. 19 Vgl. Andrea Leskovec, Fremdheit und Literatur. Alternativer hermeneutischer Ansatz für eine interkulturell ausgerichtete Literaturwissenschaft, Berlin 2009, S. 60; Vgl. Ernest W.B. Hess-Lüttich, Carlotta von Maltzan, Katherine Thorpe (Hgg.), Gesellschaften in Bewe‐ gung. Literatur und Sprache in Krisen- und Umbruchzeiten, Frankfurt am Main 2016. nahme würde die grundsätzliche Homogenität aller Kulturen als geschlossener Ge‐ bilde voraussetzen oder zur Folge haben. 15 Genau dies - also die Homogenität von Kulturen als geschlossenen Gebilden - unterstellt indes der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch dem Interkulturali‐ tätsparadigma und setzt ihm das der Transkulturalität entgegen, mit dem er das im kulturwissenschaftlichen Diskurs geläufige Feld von Begriffen wie Herme‐ neutik der Fremde, Trans-Differenz, Hybridität, Similarität 16 usw. um einen weiteren konkurrierenden Terminus bereichert, an dem sich die Geister scheiden. 17 Heute herrscht in der einschlägigen Forschung leider eine ziemliche Begriffsverwirrung, oft werden die Begriffe synonym gebraucht oder der eine gegen den anderen ausgespielt. Welschs Grundannahme, wonach das Interkulturalitätskonzept auf einem von Herder entworfenen Inselbzw. Kugelmodell basiere, hält einer genaueren Prüfung nicht stand, wie Leo Kreuzer nachgewiesen hat. 18 Welschs Transkul‐ turalität sucht Kultur zu überwinden. Konsequent weitergedacht führt dies dazu, dass es bald nur noch die eine Kultur, die Transkultur geben wird, weil sich die Kulturen untereinander vermischen und letztlich zu einer Unikultur ver‐ schmelzen. Ist das eine zutreffende Beschreibung dessen, was wir in der Welt täglich empirisch beobachten können? Wohl eher nicht. Ist Welschs Konzept der Transkulturalität ein Paradigmenwechsel im kulturwissenschaftlichen Diskurs? Wohl eher nicht. Der Begriff der Interkulturalität bleibt der Rahmenbegriff in der interkulturellen Germanistik. 19 Hat sich der Transkulturalitätsansatz auf breiter Front durchgesetzt? Wohl eher nicht. 328 Ernest W.B. Hess-Lüttich <?page no="329"?> 20 Vgl. Yousefi, Braun, S. 108. 21 Vgl. Elberfeld, S. 22. Können wir den Transkulturalitätsbegriff also getrost ad acta legen? Viel‐ leicht nicht ganz. Wenn wir ihn z. B. mit Yousefi & Braun 20 verstehen als einen „Ansatz, der eine gemeinsame Kultur jenseits bestehender kultureller Eigen‐ heiten annimmt“, so ist er durchaus für einzelne Phänomene interkultureller Praxis verwendbar. Das Suffix -ität bezeichnet einen Zustand, der über das Kul‐ turelle transzendiert zu einer universalen Ebene, die bestimmte Subkulturen erreichen können. 21 Vielleicht lenkt auch das anhaltende Gefecht um die Vor‐ silben inter- oder transnur unnötig ab von wesentlicheren Problemen. Viel‐ leicht sind wir alle zu erpicht darauf, die Überlegenheit des einen gegenüber dem anderen Ansatz zu beweisen und die unüberbrückbaren Differenzen zwi‐ schen ihnen aufzuzeigen? Vielleicht wäre es in der Debatte um Inter-, Multi- und Transkulturalität auch an der Zeit, statt der Differenz die Ähnlichkeit und Vereinbarkeit der konkurrierenden Ansätze zu ergründen? Vielleicht ginge es weniger um die Durchsetzung eines Paradigmas, um die Dominanz eines Be‐ griffs, als um die Lösung gesellschaftlicher Probleme, deren Opfer wir täglich beklagen? 3. Postmigrantisch-postdramatisches Theater in Deutschland Erst diese soziopolitische Einbettung, forschungsgeschichtliche Herleitung und begriffssystematische Begründung erlaubt m. E. ein angemessenes Verständnis der Beobachtungen zum interkulturellen Theater der Gorki-Bühne, deren Pro‐ duktionen ja nicht in einem diskursanalytisch luftleeren Raum operieren. Es war nicht zuletzt Feridun Zaimoğlus Buch Kanak Sprak (1995), das die Sensibilität für die neue sprachliche Diversität in der interkulturellen Literatur weckte. Zaimoğlu lauschte den deutsch-türkischen Jugendlichen (nicht nur) im Neu‐ köllner Kiez und schuf daraus das Kunstidiom einer Sprache des „Aufstandes, des wütenden Protests und des Vergnügens an Veränderung“ (so der Klappen‐ text zu Zaimoğlus Kopf und Kragen, 2001). Aus dem türkischen Ensemble der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer ging (nach Zwischenstufen) schließ‐ lich das eigenständige türkische Theater Tiyatrom in Kreuzberg hervor, das heute von Yekta Arman geleitet wird und in seinen Produktionen das Doppelziel verfolgt, dem deutschen Publikum die kulturellen Traditionen der Türken zu vermitteln und beim türkischen Publikum nicht nur Heimatgefühle zu wecken, sondern auch die türkische Sprache zu pflegen. Deshalb war die Sprache der meisten Inszenierungen zunächst noch Türkisch, was eher die kulturelle Isola‐ 329 Ästhetische Erziehung zum Kiezdeutsch? <?page no="330"?> 22 Vgl. Dirk Pilz, „Das Fremde Wir“, https: / / www.nzz.ch/ das_fremde_wir-1.9263860 (8.3.2018). tion beförderte als zur Integration beitrug. Heute ist der Spielplan jedoch durchaus gemischt, und das Ensemble sucht eine (Bühnen-)Sprache zu entwi‐ ckeln, die auch vom deutschen Publikum angenommen wird. Das gilt auch für das im Europäischen interkulturellen Jahr 2008 wieder er‐ öffnete Berliner Ballhaus Naunynstraße, ebenfalls in Kreuzberg, das mit seinem international bunt zusammengesetzten Ensemble und seinen Produktionen in mehreren Sprachen längst aus einem migrantischen Nischendasein herausge‐ treten ist. Es versteht sich nach seinen noch vornehmlich türkisch geprägten Anfängen heute programmatisch als „interkulturelle Spielstätte“ in einem eth‐ nisch gemischten Stadtviertel (berlinisch Kiez) und verbindet unter der Leitung von Wagner Carvalho, dem Gründer des brasilianischen Tanzfestivals Move Berlim, in zahllosen Kooperationen Schauspieler, Autoren und Regisseure aus den verschiedensten Ländern, um mit großem Erfolg einen Spielplan mit (post-)migrantischen Geschichten aller Art zu präsentieren. Die seinerzeitige künstlerische Leiterin Shermin Langhoff und ihr Dramaturg Tunçay Kulaoğlu bezeichneten ihre Bühne als Postmigrantisches Theater mit dem erklärten Ziel, Künstlern mit Migrationshintergrund den Zugang zur Kulturlandschaft in Deutschland zu eröffnen, weil sie die interkulturelle Wirklichkeit der Stadt (außer vielleicht in einzelnen Recherche- oder Jugendprojekten) in den großen Häusern kaum repräsentiert sehen. 22 Mit dem Ballhaus wurde ein Ort geschaffen, an dem das Interesse an neuen Entwicklungen in Tanz, Theater, Performance, Film, Musik, Kunst und Literatur gepflegt wird. Das bunte Programm wird ergänzt durch Projekte zur kulturellen Bildung, durch Ausstellungen und Podiumsdiskussionen, durch die Kooperation mit freien Gruppen und durch das Diyalog Festival, zu dem Produktionen un‐ terschiedlicher Art aus der Türkei und anderen Ländern eingeladen werden. Das erstaunliche Repertoire umfasst Stücke von großer formaler und inhaltlicher Vielfalt aus allen Sparten künstlerischen Bühnenausdrucks, von eigenen Thea‐ terproduktionen (keineswegs mehr nur türkischer und deutsch-türkischer Au‐ toren) über Sing-Spiele, Film-, Musik- und Tanz-Performances bis hin zu qu‐ eeren Interventionen und fröhlich-originellen Dragshows (z. B. der lateinamerikanisch inspirierten Gruppe der Frutas Afrodisíacas). Den vielleicht größten Erfolg erzielte das Theater bislang mit dem 2010 - passend zur seinerzeit gerade heißlaufenden Mediendebatte um den Bestseller Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin mit seinen umstrittenen Thesen zur mangelnden Integrationsbereitschaft junger Muslime - als Co-Produktion mit der Ruhrtriennale in Duisburg entstandenen Stück Verrücktes Blut, das von 330 Ernest W.B. Hess-Lüttich <?page no="331"?> 23 Vgl. N. N., „Kiezdeutsch rockt, ischwör“, www.spiegel.de/ unispiegel/ wunderbar/ professor in-heike-wiese-verteidigt-den-jugendslang-kiezdeutsch-a-824386.html (12.4.2014); Vgl. Heike Wiese, Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht, München 2012; Diana Marossek, Kommst du Bahnhof oder hast du Auto? Warum wir reden, wie wir neuerdings reden, Berlin 2016. (Der feuilletonistische Untertitel - Warum wir reden, wie wir neuerdings reden - ist empirisch einigermaßen waghalsig: „wir“ alle sprechen keineswegs „Kiez‐ deutsch“; sozial-beruflich erfolgreiche Deutsche mit oder ohne Migrationshintergrund würden sich vermutlich verbitten, ihren gelungenen Erwerb der Standardsprache als „Kiez deutsch“ gewürdigt zu finden. Vgl. Matthias Heine, „In Wahrheit ist Kiezdeutsch rassistisch“, http: / / www.welt.de/ 129622721 (12.11.2017). Nurkan Erpulat und Jens Hillje frei aus dem französischen Film La journée de la jupe (von Jean-Paul Lilienfeld, 2009 mit Isabelle Adjani, dt. Heute trage ich Rock) entwickelt worden war, in dem eine verzweifelte Lehrerin versucht, ihren Schülern mit Migrationshintergrund die Stücke Molières nahezubringen. Das von Jens Hillje nach Berlin verlegte und von Nurkan Erpulat temporeich als pièce bien faite inszenierte Stück wurde von der Kritik hoch gelobt: es wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen, von der Kritiker-Jury des Fachblatts Theater heute zum „Deutschsprachigen Stück des Jahres“ gekürt, Einladungen zu weiteren internationalen Festivals folgten. Nurkan Erpulat, in Ankara ge‐ boren und in Izmir ausgebildet, war am Ballhaus Naunynstraße bereits mit seinem (mit Tunçay Kulaoğlu verfassten) Stück Jenseits - Bist Du schwul oder bist Du Türke? - ein Stück über die interkulturell problematisierte Identitäts‐ differenz zwischen Schwul- und Türke-Sein - bekannt geworden, aber der Er‐ folg wurde von Verrücktes Blut noch weit übertroffen. Mit dem Wechsel von Shermin Langhoff in die Leitung des Gorki-Theaters wurde das neue Stück in dessen Repertoire übernommen und zur Spielzeit 2013/ 14 dort neu herausge‐ bracht (Premiere am 22.11.2013). Eine der letzten Aufführungen dort konnte ich 2017 noch einmal besuchen und es zum Anlass einer kritischen Auseinander‐ setzung mit dem (unveröffentlichten) Vortrag einer jungen türkischen Kollegin nehmen, die das Stück im Rahmen einer Tagung der Gesellschaft für interkultu‐ relle Germanistik 2013 in Johannesburg behandelt hatte, indem ich die Gorki-In‐ szenierung in Verbindung bringe mit der kontroversen Debatte über das Kiez‐ deutsch, das zuerst die Potsdamer Linguistin Heike Wiese (2012) sprachwissenschaftlich untersucht und Diana Marossek in ihrer Dissertation dokumentiert hat. 23 4. Verrücktes Blut am Gorki-Theater 2017 Während der Theatersaal sich langsam füllt, sind auf der bis auf ein paar Stühle weitgehend leeren Bühne (Magda Willi) - von der Decke hängt ein altes Klavier 331 Ästhetische Erziehung zum Kiezdeutsch? <?page no="332"?> 24 „Der Flug der Liebe“ erschien zuerst 1778 in Herders Sammlung Stimmen der Völker in Liedern und wurde in die von Achim v. Arnim und Clemens Brentano zusammenge‐ stellte Liedersammlung aufgenommen. - sieben Jugendliche, fünf Männer, zwei Frauen, damit beschäftigt, sich in aller Ruhe umzuziehen und ihre Schuluniform anzulegen: Jogginghosen, T-Shirts, Hoodies, Kopftuch für Mariam. Dabei machen sie ziemlichen Lärm, vor allem die jungen Männer provozieren sich gegenseitig, posieren als Machos, greifen sich in den Schritt, spucken auf die Bühne, geraten aneinander, fordern „Res‐ pekt! “, rangeln aggressiv um ein Handy, schreien sich an („Kanaken! “), machen die Frauen an und erfüllen körpersprachlich, aber auch verbalsprachlich jedes Klischee („Was guckst Du! ? “, „Bin ich Kino! ? “, „Willst du sterben, oder was! ? “), vor dem sich der deutsche „Normalbürger“ graust. Die hier halb erschreckte, halb amüsierte Theaterabonnentin aus Dahlem und Charlottenburg würde den jungen Männern, offenkundig in jener kritischen Phase ihrer Adoleszenz, in der ihr Blut in Wallung gerät und ihnen das Testosteron aus jeder Pore quillt, au‐ ßerhalb des Theaters lieber nicht zu nahe kommen wollen. Daraus ist übrigens der Titel des Stücks entstanden. Der Dramaturg Tunçay Kulaoğlu erklärt ihn (im Flyer zur Aufführung) als wörtliche Übersetzung aus dem türkischen Wort delikanlı (zusammengesetzt aus deli = verrückt und kan = Blut), das junge Männer mit allzu prononciertem Männlichkeitsgefühl bezeichne. Ob es auch weibliche Machos gibt, die sich (wie die britische Premierministerin Theresa May im Wahlkampf) als „women with balls“ empfinden? Die sieben Schau‐ spieler, männliche wie weibliche, geben sich jedenfalls redlich Mühe, diesen Eindruck zu erwecken, um damit die einschlägigen Vorurteile des bürgerlichen Publikums gegenüber jugendlichen Migranten aus dem türkisch-arabischen Kulturraum zugleich grell zu bestätigen und ironisch zu unterlaufen. Auf der Gorki-Bühne sind die jungen Leute unterdessen in ihre Kostüme und in ihre Rollen als schwer erziehbare Schüler geschlüpft und pöbeln sich in grammatisch verstümmeltem Kiezdeutsch gegenseitig an, bellen in ihre Handys, spucken auf den Boden, ohne die unauffällig dazugekommene Lehrerin, Frau Kehlich (Sesede Terziyan / Aylin Esener), zu beachten, die vergeblich gegen den prolligen Lärm der Schüler anzukämpfen und sie für Schillers „ästhetische Er‐ ziehung“ zu erwärmen versucht. Kaum haben sich die Zuschauer mit gelindem Grusel auf die Pöbeltruppe eingestellt, formiert sich diese zum Chor und trällert in lieblichem Wohlklang die aus Des Knaben Wunderhorn geläufige Volksweise „Wenn ich ein Vöglein wär’ / Und auch zwei Flügel hätt’ / Flög’ ich zu Dir. / Weil es aber nicht kann sein, / Bleib’ ich allhier“ 24 ins ergriffen lauschende Audito‐ rium, das zugleich sich ertappt fühlt, dem grell inszenierten Cliché so distanzlos aufgesessen zu sein. Während die Chorknaben sofort wieder ihre Macho-Posen 332 Ernest W.B. Hess-Lüttich <?page no="333"?> 25 Friedrich Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen“, in: ders., Schillers Werke Band. 8: Philosophische Schriften, hgg. von Ludwig Kellermann, Leipzig 1793, S. 170-282, hier S. 224. einnehmen und Eskalationsgrenzen testen, sucht sich die Lehrerin schwach vernehmbar zu behaupten gegen das Getöse, bis ihr im Gerangel um ein Handy jählings eine Pistole in die Hand gerät, die aus dem Rucksack des Ober-Machos glitt. Abb. 1: Jahnke 2016: „Schiller lesen oder ich schieße“, aus: postmondän. Digitales Magazin © Thomas Aurin/ www.gorki.de Das ändert die Machtbalance grundlegend. Wer die Knarre hat, hat das Sagen. „So, Ihr haltet jetzt mal die Fresse! “ ruft die Kehlich ins Getümmel. Stille. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist“, zitiert sie triumphierend aus dem 15. Brief Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen, „und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ 25 und fragt mit ihm die Runde: „Wie kann der Mensch dazu gebracht werden, mit seiner Freiheit ver‐ antwortlich umzugehen? “. Mit zitterndem Engagement erklärt sie den Schülern, wie wichtig Kunst und Spiel für die Selbstbildung des Menschen seien. Aufklä‐ rung und Verantwortung des Ich! „Ich, nicht Isch! “ Individualität des Subjekts im Gemeinschaftshandeln der Gruppe. „FriedriCH SCHiller! CH - SCH! ! , Ver‐ nunft - oder ich schieße! “ Sie verlangt, dass sie „das schöne deutsche Wort“ Vernunft korrekt aussprechen. „VernuNft! Nicht Vernumpft! Nochmal! Ver‐ 333 Ästhetische Erziehung zum Kiezdeutsch? <?page no="334"?> 26 Vgl. Sarah Heppekausen, „Ästhetische Erziehung mit der Knarre“, https: / / www.nachtkr itik.de/ index.php? option=com_content&view=article&id=4634%3Averruecktes-blut-nurka n-erpulat-erzaehlt-qla-journee-de-la-jupeq-mithilfe-schillers-dramen-als-aesthetische-er ziehung&catid=259&Itemid=83 (8.3.2018). nuNft! ! “, Wiederholen! „Freiheit und Verantwortung! Freiheit UND Verantwor‐ tung! “. Den Lauf der Pistole auf sich gerichtet, sollen die Schüler aus Schillers Räubern und aus Kabale und Liebe lesen, mit verteilten Rollen aus gelben Reclam-Bändchen: „WelCHe MenSCHen heuCHleriSCH! “ Auf die Aussprache kommt es an! Die feixenden Schüler amüsieren sich köstlich. „WelSCHe Men‐ schen heuSCHlerisch“. Der Ober-Macho wittert Oberwasser. Schiller auf Kiez‐ deutsch: lustig, nur leider nicht zu verstehen. Da schießt die Kehlich. Der ver‐ letzte Macho windet sich im Schmerz. Das hilft. Aber schon am Boden stößt er noch ein „Du alte Schlampe! “ aus. Woraufhin die Lehrerin ausgerechnet der mit Kopftuch verhüllten Schülerin Mariam die Erläuterung des Wortes Schlampe befiehlt. Die Machos wollen „Respekt“? Sie hat die Waffe! Also los: Lesen! Die Kraftmeier und Sprücheklopfer werden zum „saNftmütigen Lamm“. Der schmächtige Hassan als von den anderen gedemütigter Kurde muss jetzt den Macho geben, die brave Mariam soll sich gefälligst emanzipieren, Latifa muss den Mitschüler herzen, den sie am wenigsten leiden kann. Plötzlich kann der Hauptmann seinen Text. Schillers Sprache leuchtet in Siebs’scher Bühnenhochlautung. Man fühlt sich an die grandiose Szene in Hauptmanns Ratten erinnert, in der Hassenreuter, der Theaterdirektor, den Les‐ sing-Verehrer Spitta durch das Schiller-Pathos der Braut von Messina zu er‐ schüttern versucht. Vergeblich natürlich. Und doch staunt der Zuschauer über die Aktualität der seit eigenen Schülerzeiten vergessenen Zeilen, die die Kehlich hier aus den Räubern, aus Kabale und Liebe mit Hassenreuterschem Pathos de‐ klamiert. Mit Schiller die Multikulti-Jugend im Migrantenkiez verstehen? „So erklärt die Szene um Räuberhauptmann Karl Moor den Vater-Sohn-Konflikt, die Szene Amalias die Befreiung der selbstbewussten Frau, die Szene mit Luise und Ferdinand den Ehrenmord. 26 Aufklärung mit Gewalt? Die Lehrerin gibt ihr Bestes, aber dann bricht es aggressiver Resignation aus ihr heraus: „Hier rum‐ ficken wie Sau und am Ende eine Unberührte aus dem Dorf importieren! Das ist für Euch Tradition! Und ihr Mädels, schön die Haare bedecken, damit ihr nicht in die Hölle kommt“. Aber da kommen ihre Schüler erst richtig in Fahrt. Hassan, der Underdog, findet Gefallen an seiner Macho-Rolle, er möchte Franz bleiben und Macht haben. Mariam reißt sich den Schleier vom Kopf und entdeckt die Schönheit ihrer vollen Haarpracht. Keiner hat mehr „Bock auf die Kanaken‐ selbsthassnummer“, aber alle sind gegen Gewalt und für Freiheit und Brüder‐ lichkeit und Schiller. Ästhetische Erziehung geglückt. Die Lehrerin löst ihren 334 Ernest W.B. Hess-Lüttich <?page no="335"?> 27 Vgl. Necla Kelek, Himmelsreise. Mein Streit mit den Wächtern des Islam, Köln 2010; Thomas Meyer (Hg.), Deutsche Leitkultur - Wege und Abwege, Bonn 2017. Knoten und entdeckt die unterdrückte Türkin in sich und weiß sich unvermittelt eins mit ihren Schülern, alle wollen zum Türken und Döner essen und vorher noch ein Lied. Vorhang. Applaus. 5. Deutsch? Türkisch? Identität und Integration Die Theaterkritik hat das Erfolgsstück und dessen Inszenierungen so ausgiebig gewürdigt, dass ihre Erträge hier nicht rekapituliert zu werden brauchen. Hier steht vielmehr der aktuelle politische Kontext und, damit verbunden, das Inte‐ resse an der Sprache im Vordergrund. Die Uraufführung fiel, wie gesagt, in die Zeit der kontroversen Debatte über das umstrittene Buch Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin. Diese Debatte hat seither im Zeichen von islamkri‐ tischer Skepsis gegenüber Flüchtlingen und nach den Wahlerfolgen der rechts‐ populistischen AfD eher noch an Brisanz gewonnen. In der Spannungsbalance zwischen „Multikulti-Romantik“ und „deutscher Leitkultur“ bezieht das Stück m. E. eine nicht so eindeutige Position wie die überwiegende Rezeption durch die bisherige Kritik suggeriert. Die Grenzen zwischen den Spielebenen sind fließend, der Wechsel von Türken-Cliché und deutschem Liedgut, der Kontrast von Kiezdeutsch und Schiller-Pathos, die Vermischung von Spiel und Realität schaffen ästhetischen Abstand, wirken brechtisch verfremdend, buhlen um So‐ lidarisierung und dementieren sie zugleich. Sesede Terziyan spielt in der Rolle der Lehrerin Frau Kehlich gegen jede Identifikationsdramaturgie an und lässt zuweilen an die türkisch-stämmige So‐ ziologin Necla Kelek denken, die sich in ihren preisgekrönten Büchern kritisch mit dem Islam auseinandersetzt. So schreibt sie in ihrem jüngsten Buch Him‐ melsreise, dass der Islam nie in der Moderne angekommen sei. Er war nie allein ein Glaube, sondern von Anfang an kriegerisch und auf Eroberung ausgerichtet; er sei, da er nicht zwischen Alltagssitten, Glaube und Recht trenne, zu einer Leitkultur mit einer eigenen Werteorientierung geworden, die zu einem anderen als in der deutschen Mehrheitsgesellschaft üblichen Verhalten führe. 27 Sie plä‐ diert konsequent für die Integration der Muslime in die europäische Säkular-Kultur. Ähnliches versucht im Stück die Lehrerin mit Schillers Texten. Der gutaussehende Ferit beginnt zu verstehen, warum Karl ein Räuber wird; der schüchterne Hasan kann auf der Bühne sein „trauriges Kurdenschicksal“ über‐ winden; die verschleierte Mariam befreit sich von ihrem Kopftuch; alle singen deutsche Volkslieder zwischen den Szenen und beginnen sich - zuerst aus Angst 335 Ästhetische Erziehung zum Kiezdeutsch? <?page no="336"?> 28 Vgl. Erol M. Boran, Eine Geschichte des Deutsch-Türkischen Theaters und Kabaretts, Dis‐ sertation University of Ohio, S. 295. 29 Vgl. Beliz Güçbilmez, Sophokles’ten Stoppard’a İroni ve Dram Sanatı, Ankara 2005. 30 Shermin Langhoff, „Aufklärung und Rassismus, oder die komplizierte Sache mit dem Verrücktem Blut“, unveröffentlichtes Manuskript. vor der Lehrerin mit ihrem Schießeisen, dann aus eigener Einsicht - immer mehr mit ihren Rollen zu identifizieren, ihre Aussprache wird besser, ihre Beziehung untereinander entspannt sich, auch die zwischen den Geschlechtern: die „äs‐ thetische Erziehung“ funktioniert, die Emanzipation aus den Fesseln des Glau‐ bens und der Tradition gelingt. So scheint es. Oder ist das Ironie? Die grellen Kontraste und jähen Brüche sind Mittel einer ironischen Büh‐ nensprache, wie sie schon ein Markenzeichen des Ballhauses geworden ist und nun am Gorki als ein Stilmittel der deutsch-türkischen Kunst kultiviert wird. Es ist die Sprache, die Erol Boran 28 in seiner Dissertation über türkisches Theater in Deutschland beschrieben hat, wenn es auf stereotype Askriptionen mit spött‐ ischer Überzeichnung und entlarvenden Gegenbildern reagiert. Am Gorki bietet diese Art des Sprechens den türkischstämmigen Künstler eine Art Selbstschutz, indem es emotionale Distanz zur Handlung herstellt und den Autor selbst Ab‐ stand gewinnen lässt zu den Attributionen der Fremdheit. 29 Von solchen ironischen Gegensätzen lebt das Stück, und sie werden am Gorki durch die Inszenierung noch akzentuiert. Das Dilemma der Lehrerin ist, dass sie ihre frohe Botschaft von Schillers Freiheitsdenken nur an den Mann bringen kann, indem sie das Klassenzimmer zum Gefängnis macht, aus dem kein Ent‐ rinnen ist; ihr Problem ist, dass die Emanzipation der Aufklärung und der Kant’‐ sche „Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen“ sich kaum mit vorgehaltener Waffe verordnen lässt. Dem Erfolg beim Publikum tat das keinen Abbruch, im Gegenteil, man schlug sich in gemeinsamer Gegnerschaft zu Sarrazins Kas‐ sandrarufen gegenseitig auf die Schulter, erklärte das Stück zum Pflichtpensum von Schulklassen und gratulierten der Darstellerin von Mariam zur Selbstbe‐ freiung von ihrem Kopftuch. Damit hätte es nach Meinung der türkischstäm‐ migen Intendantin die eigentliche Intention des Stücks, ihm kritisch einen Spiegel vorzuhalten, offenbar gerade verfehlt: Wichtig scheint mir nur, dass der hier wie selbstverständlich beschriebene Leitkul‐ turchauvinismus sich so stark festgesetzt hat, dass er differenziertere künstlerische Auseinandersetzungen nicht mehr wahrzunehmen vermag und Kritik zurechtstutzt auf seine triumphierende Bestätigung. 30 Es gibt also kein Happy-End, weder auf der Bühne, noch im Auditorium. Die ironische Brechung der Cliché-Askription durch das deutsche Umfeld soll Mi‐ 336 Ernest W.B. Hess-Lüttich <?page no="337"?> 31 E in erstes kritisches Resümee der Debatte boten Hess-Lüttich und Steinig: Ernest W.B. Hess-Lüttich, Wolfgang Steinig, „Differenz oder Defizit? Überlegungen zu kontroversen sprachlichen Sozialisationshypothesen“, in: Wirkendes Wort 33.5 (1973), S. 327-342. 32 Vgl. Laurenz Volkmann, Klaus Stiersdorfer, Wolfgang Gehring (Hgg.), Interkulturelle Kompetenz. Konzepte und Praxis des Unterrichts, Tübingen 2002. granten deren Bewältigung ermöglichen und zu einer post-migrantischen Iden‐ tität verhelfen, die sich ihrer Herkunft bewusst bleibt, ohne sich auf wohlfeile Etikettierungen festlegen oder reduzieren zu lassen. Aber im Gegensatz zu dem oben erwähnten GiG-Vortrag in Johannesburg, in dem die junge türkische Re‐ ferentin sich scharf von jeder islamkritischen Interpretationsmöglichkeit des Stücks distanzierte und das Kiezdeutsch der Migranten, das auf der Bühne zu‐ verlässig für Lacher und zuweilen auch Szenenapplaus sorgt, ganz im Sinne der Potsdamer Linguistin Heike Wiese unkritisch romantisierte, möchte ich die kompensatorischen Intentionen des Stücks hervorheben. Meines Erachtens ver‐ folgen die Autoren mit ihrem Stück - und die Art der Inszenierung am Gorki scheint mir diese Lesart zu bestätigen - nämlich durchaus das aufklärerische Programm einer Integration, die die Chancengleichheit der jugendlichen Mi‐ granten in der deutschen Gesellschaft erhöht. Emanzipation bedeutet hier ge‐ rade nicht Abgrenzung durch aggressive Behauptung einer vermeintlichen tür‐ kischen (oder arabischen) Identität, sondern selbstbewusste Einübung in eine bikulturelle Kompetenz. Dies gilt auch und erst recht für die Sprache. Die anhaltende Debatte über das Kiezdeutsch erinnert uns an die von dem (politisch Labour-orientierten) Lon‐ doner Soziologen Basil Bernstein Anfang der 1970er Jahre formulierte emanzipativ-kompensatorische Theorie von den elaborierten und restringierten Codes, mit der er zugleich das neue Fach Soziolinguistik inaugurierte (und die von politisch weiter links motivierter Seite aus sofort als „Defizit-Theorie“ de‐ nunziert wurde, gegen die eine „Differenz-Theorie“ die vollkommene Gleich‐ wertigkeit zweier funktional adäquater Sprachvarietäten proklamierte). 31 Die Einsicht, dass Integration nur über ausreichende Sprachkompetenz ge‐ lingen könne, wird längst auch von konservativer Seite geteilt, die ein ver‐ nünftiges Einwanderungsgesetz seit Jahrzehnten blockiert hat. 32 Allzu nach‐ sichtige Duldsamkeit gegenüber grammatischen Fehlern - etwa im Sinne einer falsch verstandenen „kommunikativen Kompetenz“ innerhalb der peer group oder eben Verharmlosung zum Kreativjargon der Migrantenkinder - erweist sich als ebenso nachteilig für den (im Blick auf die soziale und berufliche Inte‐ gration) erfolgreichen Spracherwerb wie die zuweilen geäußerte Vermutung, Kenntnisse der schriftsprachlichen Normen würden die Verständigung im di‐ rekten Alltagsgespräch mit Einheimischen eher behindern und könnten den 337 Ästhetische Erziehung zum Kiezdeutsch? <?page no="338"?> 33 N. N. „Kiezdeutsch rockt, ischwör“. Ausländer in den Verdacht eines etwas verschrobenen Konservativismus ge‐ raten lassen. Tatsächlich dürften ihm hyperkorrekte Formen eher nachgesehen werden als ein mit Gesprächsfloskeln und Phraseologismen pseudo-routiniert befrachtetes Kiezdeutsch auf niedrigem Sprachniveau, für das sich auch heute wieder etliche Linguisten stark machen zu sollen glauben. Für Heike Wiese etwa ist das Kiezdeutsch „[…] ein Beispiel für eine besonders gelungene sprachliche Integration: ein neuer, integrativer Dialekt, der sich im gemeinsamen Alltag ein- und mehrsprachiger Jugendlicher, deutscher ebenso wie anderer Herkunft, ent‐ wickelt hat“ 33 . Nur ist es eben gerade kein Dialekt regional fest verwurzelter Menschen eines Landstrichs, sondern der Soziolekt einer soziologisch genau be‐ schreib- und abgrenzbaren Gruppe von Jugendlichen (zumeist) nichtdeutscher Muttersprache in den Metropolen, im Glücksfalle ein Interimlekt von Deutsch lernenden Zuwanderern im Prozess ihrer Integration in die neue Residenzge‐ sellschaft, viel zu oft aber auch ein fossilierter Spracherwerbsstand, der zugleich soziale Aufwärtsmobilität begrenzt. Genau dies zu überwinden, war 1970 das Ziel der kompensatorischen Erziehung bei Basil Bernstein und ist es heute, ein halbes Jahrhundert später, erst recht, wenn Integration in Zeiten zunehmender Migration überhaupt den Hauch einer Chance der politischen Akzeptanz ge‐ winnen und bewahren soll. Dabei ist der Soziolekt deutlich zu unterscheiden vom Akzent, der herkunftssprachlich bedingt oft sogar Charme entfaltet und Neugier weckt, vielleicht Anlass metasprachlicher Konversation sein kann. Eine kritische Beschreibung des Soziolekts der Migranten ist gerade kein Rassismus, wie Wiese oder Marossek suggerieren, sondern verteidigt umgekehrt die Inte‐ ressen der ohnehin von mancherlei Benachteiligungen Betroffenen vielleicht nachhaltiger als deren paternalistische Zuweisung ins Ghetto des türkisch-ara‐ bisch geprägten Kiezes, aus dem es dann irgendwann kein Entrinnen mehr gibt. Die Lehrerin Kehlich hat recht: Auf die Aussprache kommt es an. Ihre pho‐ netischen Übungen haben - gegen ihre ironische Lesart verstanden - durchaus ihren guten Sinn. Es muss nicht gleich Schillersche Sprachkunst sein, aber ein mühelos gepflegtes Alltagsdeutsch wäre im Sinne Harald Weinrichs eher im Interesse der gelingenden beruflichen Integration und vielleicht eines erfolg‐ reichen Studiums, solange Personalchefs die Beherrschung des Kiezdeutsch oder der Kanak Sprak nicht als Ausdruck besonderer sprachlicher Kreativität zu wür‐ digen wissen. In den Worten von Yasmina Reza (anlässlich der Vorstellung ihres Romans Babylon): „In der Verballhornung der Sprache, im Gruppenjargon ma‐ 338 Ernest W.B. Hess-Lüttich <?page no="339"?> 34 Yasmina Reza, „Merkel sehe ich mit zärtlichen Augen“, in: Der Spiegel 5.8.2017. nifestiert sich die Ablehnung der Integration. Die Parallelsprache konstituiert die Parallelgesellschaft“ 34 . Ich stimme Kalkan Kocabay zu, wenn sie (gegen Sarrazin, aber mit Bourdieu) argumentiert, das Stück zeige, wie beharrungsstark Teile der Mehrheitsgesell‐ schaft in Zeiten politischer Umbrüche und sozialer Bewegung an den traditio‐ nellen Denkmustern und Handlungsschemata festhalten, die ihrem bürgerli‐ chen Habitus entsprechen. Aber ich ziehe daraus die entgegengesetzte Konsequenz. Die Schulen haben nicht den Auftrag, den Straßenjargon der mi‐ grantischen Jugendlichen zu tolerieren oder gar zu fördern (den lernen sie in ihren peer groups ohnehin), sondern sie „kompensatorisch“ zu einer Registerf‐ lexibilität zu erziehen, die ihnen erlaubt, sich mühelos in formalen wie infor‐ mellen Konstellationen ganz im Sinne des aptum-Postulats der antiken Rhetorik situativ und partnerorientiert angemessen zu verhalten. Das ist weder links noch rechts, sondern im Respekt vor ihrer kulturellen Identität emanzipativ, nützt der Identifizierung mit einer säkularen Gesellschaft und schützt vor der Suche nach zweifelhafter Selbstbestätigung in islam(istisch)en Parallelgesell‐ schaften. 6. Necati Öziri: Get Deutsch or die tryin' Genau zu dieser nach wie vor kontrovers geführten Debatte, die im Zuge der jüngsten migrationspolitischen Entwicklungen noch einmal an Brisanz ge‐ wonnen hat, passt das Gorki-Debüt des jungen deutsch-türkischen Autors Ne‐ cati Öziri, 1988 in Datteln geboren, seit seinem 18. Lebensjahr auch deutscher Staatsbürger, erstmals 2014 mit der Farce Vorhaut am Ballhaus Naunynstraße bekannt geworden, seit der Spielzeit 2014/ 15 künstlerischer Leiter des Studio Я am Gorki-Theater. Anstelle eines Fazits sei daher zum Schluss noch ein kurzer Blick auf dieses 2017 am Gorki uraufgeführte Stück geworfen, das den berühm‐ testen Hit des Gangsta-Rappers 50 Cent (Curtis James Jackson III) variiert: Get Deutsch or die tryin', inszeniert von Sebastian Nübling, mit Musik von Lars Wit‐ tershagen. Statt eines Programmheftes mit nützlichen Hinweisen der Drama‐ turgie (hier: Ludwig Haugk) bekommt der Theaterbesucher nur ein Blatt mit einer Art deutsch-türkischem Glossar (zusammengestellt von Beliban zu Stol‐ berg) in die Hand gedrückt, auf das er sich selbst einen Reim machen soll. Von der Kritik wurde das Stück durchweg positiv aufgenommen, aber ihr Interesse 339 Ästhetische Erziehung zum Kiezdeutsch? <?page no="340"?> 35 N. N., „Grabrede auf den Vater“, in: taz 23.5.2017. 36 Vgl. Wolfgang Behrens, „Auf der B-Seite gerockt“, https: / / www.nachtkritik.de/ index.php ? opt ion=com_content&view=article&id=14032: get-deutsch-or-die-tryin&catid=52&Itemi d=100476 (12.11.17). 37 Patrick Wildermann, „Mutter blau, Vater weg“, http: / / ww w.tagesspiegel.de/ kultur/ get-d eutsch-or-die-tryin-am-maxim-gorki-theater-mutter-blau-vater-weg/ 19838820.html (12.11.2017). galt vor allem der eher dürren Story über jugendliche „Loser mit Migrationsde‐ fizit“ 35 . Die ist schnell zusammengefasst. 36 Im Mittelpunkt steht der 17-jährige Arda (Dimitrij Schaad), der die Geschichte seiner Eltern erzählt, von seinem ver‐ schlossenen Vater Murat (Taner Şahintürk), der vor einer drohenden Gefäng‐ nisstrafe aus der Türkei geflohen ist, von seiner enttäuschten Mutter Ümran (Pinar Erincin), die dem Alkohol verfällt, von seiner Schwester, die sich ange‐ sichts der häuslichen Misere aus dem Staub gemacht hat, von seiner Clique mit seinem Jugo-Kumpel Bojan (Aleksandar Radenković) und der leicht erregbaren Susanna aus Polen (Linda Vaher), von sich selbst nicht zuletzt und seinem Ein‐ bürgerungstest bei Herrn Kozminski (Aram Tafreshian) vom Ausländeramt, der von ihm den Nachweis seiner schriftlichen Sprachkompetenz verlangt. „Du schreibst: ‚Ich vögel deine Tochter, bis sie arabisch spricht. Ich klau deinem Sohn den Praktikumsplatz, mach ihn drogenabhängig und verkauf seine Organe auf dem Türkenmarkt.‘ Sehr witzig, Herr Yilmaz“ 37 . Abb. 2: Ardas Clique in Get Deutsch or die tryin', aus: nachtkritik.de © Ute Langkafel / Maifoto 340 Ernest W.B. Hess-Lüttich <?page no="341"?> 38 Vgl. Ernest W.B. Hess-Lüttich, „Rap-Rhetorik. Eine semiolinguistische Analyse schwei‐ zerischer rap-lyrics“, in: Kodikas/ Code. An International Journal of Semiotics 32.1-2 (2009), S. 109-121. Der Kritiker des Berliner Tagesspiegels Patrick Wildermann fühlt sich von der larmoyanzfreien Lakonie der Erzählung an die Filme von Fatih Akın erinnert und an die Beschreibung der „Trabanten vom sozialen Rand“ bei Clemens Meyer. Das ist sicher richtig, aber der Sprachrhythmus scheint auch von der Rap-Rhe‐ torik beeinflusst. 38 Schon die Eingangsszene setzt den Akzent: mit den harten Beats der Drums (Almut Lustig). Die Choreographie der torkelnden Mutter, die mit schlenkernden Gliedmaßen ihre Dosis „Jelzin-Wodka“ aus dem Kühlschrank fingert, um ihren Spiegel zu halten, wird loopartig wiederholt, bis jeder die Bot‐ schaft begriffen hat. Arda im farblich auf das Bühnenbild abgestimmten lila Anzug berichtet als eine Art Stage Manager, halb zu seiner Clique gewandt und halb zum Publikum, von seinen familiären und interkulturellen (Identi‐ täts-)Problemen, vom Kontrast zwischen Türken und Kurden, vom abwesenden Vater, von den Konflikten mit deutschen Behörden und dem Integrationstest mit seinen bizarren Frage-Antwort-Spielen. Hier setzt der Dialog die schönsten Pointen, etwa wenn grammatische Fehler im Deutsch des sechs Sprachen be‐ herrschenden Bojan bespöttelt werden, wenn immer irgendwelche Belege, Be‐ scheinigungen, Urkunden fehlen, wenn ein Ingenieursdiplom nur für’n Job in der Dönerbude taugt oder wenn danach gefragt wird, wie häufig „Deutschland“ in der Bibel erwähnt werde („16 mal! In der Form des Wortes ‚Paradies‘“). Erst allmählich schält sich in der Erzählung der Perspektivfigur das Typische dieser Immigrantenfamilie heraus: die Frustration des in seiner Heimat politisch verfolgten Vaters, der in der neuen Umgebung nicht heimisch wird, aber seine Wut, sein Aufbegehren gegen die alltäglichen Demütigungen nicht heraus‐ schreit, sondern in sich verkapselt; die Verbitterung der desillusionierten Mutter, die sich vom Aufbruch aus dem schönen Smyrna (= Izmir) an den der Ägäis zugewandten arkadischen Gestaden des türkischen Westufers in die andere Kultur so viel versprochen und sich das verheißungsvoll Neue ganz anders vor‐ gestellt hatte, die bikulturelle Spannungsbalance des Sohnes, der als Türkenkind in Deutschland seit fast achtzehn Jahren eine Existenz als Deutscher auf Probe zu führen gezwungen ist, der Wegfall des Halts durch die Bindungen innerhalb der peer group, deren Mitglieder längst anderswo ihr Glück versuchen oder re‐ signiert in die türkische Heimat zurück ‚fliehen‘ aus der Tristesse des Lebens im Dazwischen. Erst nach dem Perspektivwechsel gewinnen die Figuren in der zweiten Hälfte des Stücks (der B-Seite, wie der Autor bemerkt hat) eigene indi‐ viduelle Kontur. Der Stage Manager verknüpft die Episoden, die manchmal wie eine Nummernrevue in den Erzählstrang eingehängt erscheinen, etwa wenn die 341 Ästhetische Erziehung zum Kiezdeutsch? <?page no="342"?> Hochzeit der Eltern als zwanghaftes Ritual mit Varieté-Einlagen inszeniert wird, dem der Keim des Scheiterns schon innewohnt. Es ist keine romantische Verklärung multikultureller Diversity, die hier er‐ zählt wird, sondern eine unverkrampfte Stimme aus der postmigrantischen Community, keine Feier des vermeintlich so „kreativen“ Kiezdeutsch aus dem sicherem Abstand der Premieren-Schickeria, Charity-Dinner und akademischen Projekte, sondern nuancenreiche Registervielfalt einer heterogenen Gruppe am Rande mit all ihren internen kulturellen Spannungen, aber auch in ihrer Orien‐ tierung auf die Mehrheitsgesellschaft, die Deutsch spricht und in der man, viel‐ leicht, irgendwann zu Hause sein könnte: „Es kommt der Tag, da sind wir zu‐ hause“ - wenn wir es denn wollen, wir, die wir Teil dieser Gesellschaft sein wollen und wir, die es möglich machen (könnten). 342 Ernest W.B. Hess-Lüttich <?page no="343"?> 1 I am grateful to Sasha Marianna Salzmann for providing a digital copy of the premiere of Zucken performed at the Maxim Gorki Theatre on March 17, 2017. 2 As the former artistic director of the Ballhaus Naunynstraße and the current Intendantin of the Maxim Gorki Theatre, Langhoff is considered the pioneer of postmigrant theatre. For her, postmigrant theatre as a term was indicative of the struggle theatre practi‐ tioners, artists, and performers of color faced (and still do) in getting their theatre staged, their narratives performed, and their voices heard. (Rüdiger Schaper, “Nach dem The‐ atercoup: Wie Langhoff und Hillje das Gorki leiten wollen”, www.tagesspiegel.de/ kultur / nach-dem-theatercoup-wie-langhoff-und-hillje-das-gorki-leiten-wollen/ 6661782.html (22.12.2017). 3 A published translation of Salzmann’s play does not exist. A direct translation would be Understanding Jihad in Eight Steps (Twitching). While “Zucken” directly translates as “to twitch”, throughout I expand on this translation to include “to shudder” and even “to spasm.” All translations from German to English are my own unless otherwise in‐ dicated. Anger as Theatrical Form in Sasha Marianna Salzmann’s Zucken 1 Olivia Landry (Lehigh University) If postmigrant theatre, as the manifestation of an explicitly open and politically transnational theatre movement in Germany, still resonates as a Kampfbegriff (“fighting concept”), as indicated by Shermin Langhoff in 2012, 2 then Sasha Ma‐ rianna Salzmann’s play Zucken energetically takes up the charge and Sebastian Nübling’s 2017 production gives it theatrical form. Zucken is an angry play. Carrying the original title, Verstehen Sie den Dschihadismus in acht Schritten (Zucken), 3 it presents four stories about marginalization, violence, and radical‐ ization. In Nübling’s dramatic version, four become three and narrative fre‐ quently gives way to form. Put another way, both corporeal (even haptic) and sonic registers of “Zucken”, as an action, take over. Violent twitching, shud‐ dering, and spasming become the embodiment of anger on stage - an anger that knows no bounds. This essay explores Zucken in its performance at the Maxim Gorki Theatre in Berlin as an engagement with contemporary discourses about the ostensibly destructive nature of anger and the teleology of violence, or even terrorism, that is routinely thought to arise from anger. Instead of giving into <?page no="344"?> 4 Cf. Matt Cornish, Performing Unification: History and Nation in German Theater after 1989, Ann Arbor 2017, pp. 171-190 (the Epilogue “Hybridized History”). 5 Cf. Hans-Thies Lehmann, Postdramatic Theatre, translated by Karen Jürs-Munby, London 2006, p. 17. 6 Cf. Fatima El-Tayeb, Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft, Bielefeld 2016. 7 Wendy Brown, Walled States, Waning Sovereignty, New York 2010, p. 33. these popular claims about anger, the play explicitly invites contemplation about anger as an important, radical theatrical form and site of social protest. A focus on form and performance in theatre opens up a reading with Hans-Thies Lehmann’s concept of postdramatic theatre, which Matt Cornish has persuasively brought into conversation with postmigrant theatre. Cornish posits that in its drive to challenge traditional modes of representation, post‐ dramatic theatre holds the capacity to rupture (dominant) structures of national narratives, thereby making space for transnational ones. 4 As a conceptual model of theatre that postulates inter alia a dialectical relationship between content and form, postdramatic theatre is particularly concerned with the drama of “heavy” bodies on the stage. 5 In other words, it asks what stories the gestures and movements of the body, its legible form, tell the audience. Postdramatic theatre does not simply imply a moving away from the dramatic text to a ‘be‐ yond’ or an ‘afterness’ of drama. The prefix “post-” should be understood as a break and a fissure. Postdramatic theatre is a demand to rethink dramatic the‐ atre. Similarly, the “post-” of postmigrant theatre must not be interpreted as being over and done with migration, as some have cautioned. 6 It should be read in a more nuanced manner, as Wendy Brown lucidly asserts: the prefix ‘post’ signifies a formation that is temporally after but not over that to which it is affixed. ‘Post’ indicates a very particular condition of afterness in which what is past is not left behind, but, on the contrary, relentlessly conditions, even dominates a present that nevertheless also breaks in some way with this past. 7 This essay does not profess to make a broad argument for the similarities be‐ tween postmigrant and postdramatic theatre, but it considers the postdramatic impulse at work in Zucken as a play that has developed out of the postmigrant theatre movement and one that fiercely turns to the body as it pulses with en‐ ergy. Postmigrant theatre may be described in general terms as theatre dedicated to first-, second-, and third-generation and minoritized Germans, and one which 344 Olivia Landry <?page no="345"?> 8 There is a capacious archive of literature on individual plays linked to postmigrant theatre but still only a growing number of texts that address “postmigrant theatre” as a broader movement. (Cf. Lizzie Stewart, “Postmigrant Theatre: The Ballhaus Naunyn‐ straße Takes on Sexual Nationalism”, in: Journal of Aesthetics & Culture 9 (2017), pp. 56-68; Olivia Landry, “Rethinking Migration: The Intervention Theater”, in: The German Quarterly 90 (2017), pp. 222-224; Azadeh Sharifi, “Ich rufe meine Schwestern und Brüder”, in: Freitext: Kultur- und Gesellschaftsmagazin 22 (2013), pp. 102-105; Katrin Sieg, “Class of 1989: Who Made Good and Who Dropped Out of German History? Postmi‐ grant Documentary Theater in Berlin”, in: Marc Silberman (ed.), The German Wall: Fallout in Europe, New York 2011, pp. 167-185.) is socially and politically active and aesthetically experimental. 8 Salzmann’s dramatic work is representational of postmigrant theatre, and in particular of its later, profoundly intersectional directions. Consider, for instance, her pieces Schwimmen lernen (Learning to Swim, 2013), Wir Zöpfe (We Braids, 2015), and Meteoriten (Meteorites, 2016), all part of the repertoire at the Maxim Gorki The‐ atre and all equally concerned with cultural diversity and LGBTQI identities and narratives. Several of Salzmann’s earlier plays were also produced and per‐ formed at the Ballhaus Naunynstraße in Berlin (for instance, Beg your Pardon, Fahrräder können eine Rolle spielen [Bicycles Could Play a Role]) between 2008 and 2013 under the artistic direction of Shermin Langhoff. When Langhoff and her team later migrated from the Ballhaus to the Maxim Gorki Theatre in 2013, Salzmann became and remains the only permanent playwright there. Her in‐ fluence also extended to the artistic direction of the experimental box theatre at the Gorki, Studio Я, from 2013 to 2015. Salzmann’s theatre work is powerfully contemporary, political, and intersectional. One of her most recent plays, Ver‐ stehen Sie den Dschihadismus in acht Schritten (Zucken) is also one of her more aggressive and manifestly critical works in its direct response to Europe’s dis‐ cursive preoccupation with the radicalization of many youths compelled into battle in Syria and Iraq, and particularly with ISIS. It condemns Europe for its tragic failure to examine its own role in the cultural, social, and political mar‐ ginalization of minority groups. As a matter of course, Zucken is also one of Salzmann’s angrier plays, which willfully cuts with indictment. This ethos, to be sure, framed the premiere of the play. In a video introduction featured on YouTube and linked to the Maxim Gorki website, entitled 5 Fragen, Salzmann directly poses five questions to the viewer about discrimination: (1) Gehst du jedes Wochenende in den Club und weißt, du kommst wieder nicht rein? ; (2) Durchsucht man immer deine Tasche, wenn du aus dem Supermarkt rausgehst? ; (3) Packen Fremde ungefragt in deine Haare? ; (4) Bist du Schwul? Ich meine, es 345 Anger as Theatrical Form in Sasha Marianna Salzmann’s Zucken <?page no="346"?> 9 “5 Questions: (1) Do you go to the club every weekend and know that you won’t be allowed in again? ; (2) Is you bag subject to search when you leave the supermarket? ; (3) Do strangers touch your hair without being asked; (4) Are you gay? I mean, I don’t care; I just wanted to know; (5) But what are you, then? ” 10 Cf. Doris Meierhenrich, “Gorki-Theater Premieren-Doppel ‘Zucken’ und ‘Mythen der Wirklichkeit’”, https: / / www.berliner-zeitung.de/ kultur/ gorki-theater-premieren-doppel- -zucken--und--mythen-der-wirklichkeit--26228438 (22.12.2017). 11 Cf. ibid. 12 Cf. Sophie Diesselhorst, “Let’s Talk Dschihad”, https: / / www.nachtkritik.de/ index.php? optio n=com_content&view=article&id=13751: zucken-ein-stueck-ueber-sich-radikalisierende-juge ndliche-von-sasha-marianna-salzmann-von-sebastian-nuebling-am-berliner-gorki-theater-u raufgefuehrt&catid=38: die-nachtkritik-k&Itemid=40 (10.1.2018). ist mir egal; ich wollte es nur wissen; (5) Aber was bist du denn? 9 These questions evoke the grim reality of the pervasiveness of discrimination in German and European society and the daily adversity and injustice experienced by minori‐ tized Germans. 1. Zucken Staged Dubbed the “Körperkommunikator” (“body communicator”), Seabastian Nübling’s productions are known both for their genre fluidity and their emphasis on physi‐ cality. 10 He often works with young actors and is active at the Junges Theater Basel, where Zucken has also been performed. Nübling’s staging of Zucken signifi‐ cantly departs from Salzmann’s original text. It converts a one-hundred-page play into an accelerated seventy-five-minute performance, in which dance and move‐ ment frequently take over. Nübling creates what the daily Berliner Zeitung adroitly refers to as a “rhythmisch sportliches Kampf-Tanz-Theater” (“rhythmic athletic fighting-dance-theatre”). 11 Yet Salzmann’s text is not a conventional one to begin with. Structurally exceptional and experimental, there is no dramatic teleology. The text also does not have clear-cut characters and contains more prose than thea‐ trical dialogue or monologue. Four stories about radicalization coincide but inter‐ sect only thematically. Nübling only applies three of the narratives from the text directly, which he also modifies, as well as an extended chorus scene. One could easily summarize the stories as follows: (1): Girl becomes radicalized and tries to go to Syria; (2) Boy becomes radicalized and decides to go to eastern Ukraine; (3) Girl had become radicalized, already went to Kurdistan, and sends a video report of her experience there. Overall, the dearth of text, not to mention dramatic content and development, has been a source of criticism of Nübling’s production of the play. 12 However, such criticism not only fails to recognize the significance of form in the play as more than just auxiliary to the text, but also Salzmann’s own nod to bodily 346 Olivia Landry <?page no="347"?> 13 Cf. Pankaj Mishra, Age of Anger, New York 2017. 14 “You expect something, you expect something from the world, and this expectation is a nerve that twitches.” (Sasha Marianna Salzmann, Aristokraten: Drei Stücke, Frankfurt am Main 2017, p. 25.) form with the application of the subtitle Zucken. A corporeal twitch stands in place of the dramatic feelings and verbal expression that can, regardless, hardly articu‐ late the complexity of how contemporary young people become radicalized and what it means. If we are, as Pankaj Mishra claims, living in an “age of anger”, then Zucken, I propose, gives this age theatrical form through the violent spasms of bodies. 13 Put another way, Salzmann’s political ethos is not lost in Nübling’s pro‐ duction; it is rather accelerated and distilled into rhythmic form. The play begins: seven performers climb upon a stage occupied by four large black leather couches, the cumbersome but not completely immobile fixtures of the performance space. The performers are young and dressed casually. All seven are nonor semi-professional actors and actresses. They all tightly clutch Smartphones, whose blue screens glow in the semi-darkness of the theatre. The area lights remain lit. Clustered at first to the right of the stage atop two of the couches and ignoring the audience, the performers begin to play the utterly sentimental Pachelbel’s Canon in D on their phones. The effect is confusing. Finally, one performer stands, plugs his phone into an amp intentionally creating a loud jolt of beam noise and the word “Zucken” appears across the back wall upstage. Pachelbel ends, “Zucken” begins. Throughout the performance, music and speech, like movement, come in spurts and stutters, in unexpected out‐ breaks. Music and movement are always synchronized. Just as these performers treat their phones as prosthetics of their own bodies, their bodies seem to move at the will of the music. The first sequence of Zucken contains four punctuated, collective dance routines to hip-hop with sound effects. Each time, these rou‐ tines abruptly end with flailing agitation as though the performers’ bodies were being pumped full of bullets from an assault rifle, or tasered. It should be noted that the promotional poster for the performance of Zucken at the Junges Theater Basel in fact features an image of a taser in disrepair. The heart of Zucken is its pulsing nerve center. As Salzmann writes in the original text, “Du erwartest etwas, du erwartest etwas von der Welt, und diese Erwartung ist ein Nerv, der zuckt.” 14 The play’s dramaturgy takes the act of “Zucken” literally and affectively. It is composed of a choreography of almost relentless movement but it is also full of hiccupping sequences. Movement can erupt and then quickly stop. This kinesthetic stuttering in dance has been con‐ ceptualized as the manifestation of anxiety about its own ontology as a form. André Lepecki lucidly describes this phenomenon of contemporary dance in the 347 Anger as Theatrical Form in Sasha Marianna Salzmann’s Zucken <?page no="348"?> 15 André Lepecki, Exhausting Dance: Performance and the Politics of Movement, New York 2006, p. 1. 16 Lehmann, p. 145. 17 Ibid., p. 37. 18 On anxiety, see Sören Kierkegaard, The Concept of Anxiety: A Simple Psychologically Orienting Deliberation on the Dogmatic Issue of Hereditary Sin, ed. and translated by Reidar Thomte, Princeton 1980; Jacques Lacan, Anxiety: The Seminar of Jacques Lacan, Book X, translated by Cormac Gallagher, ed. Jacques-Alain Miller, Cambridge 2016. 19 Cf. Aristotle, Nicomachean Ethics, translated by Terence Irwin, Indianapolis 1985, p. 105. See also Philip Fisher, The Vehement Passions, Princeton 2001, p. 175; Sianne Ngai, Ugly Feelings, Cambridge, MA 2005, p. 182. following way: “Perception of a hiccupping in choreographed movement pro‐ duces critical anxiety; it is dance’s very future that appears menaced by the eruption of kinesthetic stuttering.” 15 Extended to theatre, this ontological anxiety manifested in movement is likewise a concern of postdramatic forms, which similarly attend to dynamic formations and energies that not only create hiccups and breaks in movement but also extend these to dramatic narratives. In theatre, these kinesthetic breaks bring forth the presence of the bodies of the performers. According to Lehmann, “In postdramatic theatre, breath, rhythm and the present actuality of the body’s visceral presence take precedence over the logos.” 16 Post‐ dramatic theatre is a form of “energetic theatre”, which employs movement and corporeal intensities that elide direct representation. In lieu of metaphysics of presence and transcendental meaning, postdramatic theatre evokes real “‘forces, intensities, present affects.’” 17 Circling back around to the affects of bodies in movement in Zucken, if anxiety can take the form of hiccupping in dance, then anger can also be displayed through corporeal spasming and twitching. As af‐ fects, anxiety and anger are markedly distinct. The former is without end or definite object; the latter by contrast responds to something and ultimately leads us somewhere. 18 Aristotle notably posits in Nicomachean Ethics that anger can be the appropriate response to injustice and useful to the pursuit of justice. 19 On the surface, the physical manifestations of anxiety and anger do intersect. How‐ ever, when dancing, jumping, and kinesthetic sputtering transform into fighting in a scene in which the stage is converted into a makeshift boxing club and the couches are turned upwards to serve as punching bags, anxiety effectively gives way to anger. While Nübling’s version contains three separate stories of radicalization, it is the performance of the second one that is most kinesthetically galvanized with anger, which assumes its most explicit form: fighting. There is no direct de‐ scription of fighting in Salzmann’s text, but Pawlik, a student of Russian Ukrai‐ nian parentage, who gets caught between emotional nationalist debates, when 348 Olivia Landry <?page no="349"?> his father demands that he make a choice between being Russian or Ukrainian, struggles within himself. “Bist du Russe oder Ukrainer? ” (“Are you a Russian or a Ukrainian? ”) is a question posed only twice in Salzmann’s text, but it heaves with such paternal force as it pathetically yet threateningly spills from the lips of Pawlik’s blubbering and drunken father that its assault feels relentless. The same question is posed in the performance in chorus multiple times. All the while, one performer moves back and forth, sparring atop a semi-raised platform center-stage. The performer playing Pawlik physically performs his inexhaus‐ tible anger as an inescapable circular pattern of physical aggression. That Pawlik decides to travel to eastern Ukraine to fight in the war may be a somewhat predictable outcome. However, the fact that it curiously remains unclear for which side he will fight belies his (if any) nationalist ideologies and attests rather to a more personal battle with the pressures of identity and belonging. This is a battle that actually lies much closer to home - in Germany. Before making the decision to set off for Ukraine, he also has a sexual encounter with his friend, Rüzgar. In Salzmann’s text, interiority conveys Pawlik’s struggle with the en‐ counter, which on the one hand he violently contests and on the other hand cannot resist due to overpowering desire. Again, Nübling relies on kinetic force. At first, Pawlik challenges Rüzgar to a fight. They both remove their shirts. Rüzgar prepares by exuberantly and generously applying body spray. The action elicited chuckles from the audience. The two playfight and then Rüzgar lights a joint and the music changes. They smoke and the scene becomes playful. Physical intimacy swells during this energetic scene of foreplay and ends with the two on top of each other on one of the couches, turned away from the audience. Playfulness as well as moments of comedy in Nübling’s production undoubt‐ edly pare down some of the anger and the gravity of the central turn to violence and radicalism. Rüzgar and another character (who remains nameless) are per‐ formed with pronounced Swiss dialects such that their speech requires transla‐ tion and is subtitled and projected onto the upstage back wall. This performance flourish marks difference and potential miscommunication even within “nati‐ vist” concepts of community. Many spectators responded with laughter during these scenes. In the first story adopted in Nübling’s production, a girl falls for a young man she meets online in a chatroom. He is supposedly a jihadist and is in Syria. They text each other and the performers speak their text messages aloud, including the emojis. Immediately and naively ready to take up his ideol‐ ogies as her own, the girl tries to join him in Syria. When this fails, she instead packs up all the kitchen knives in her backpack and takes them to school and then stabs someone in the train station. What is so striking, even comically 349 Anger as Theatrical Form in Sasha Marianna Salzmann’s Zucken <?page no="350"?> 20 “Cut! That’s too easy! Much too uncomplicated! It’s like a love story.” (This line is not in Salzmann’s text.) 21 Cf. Lehmann, p. 122. 22 Peter Sloterdijk, “Mobilization of the Planet from the Spirit of Self-Intensification”, in: TDR: The Drama Review 50 (2006), pp. 36-43, here p. 38. entertaining, about this spectacle is, however, not the absurdity of the narrative so much as the way in which it is performed. That this maladroit girl in an oversized purple sweatshirt and athletic pants, with her strong Swiss dialect and her childishly angry bursts of energetic stomping around and screaming that she hates her mother, would become radicalized, seems utterly ridiculous. The narrative itself precipitously ends in a coup de théâtre when another performer abruptly and clamorously calls an end to the story. “Cut! Das ist zu einfach! Viel zu unkompliziert! Es ist wie eine Liebesgeschichte.” 20 He assures the audience that the remainder of the play will be completely different. “Wir brauchen mehr Beat”, he says, “viel mehr Beat” (“We need more beat”, “much more beat”). De‐ spite their potential irony, moments such as these directly open up a reading with postdramatic theatre. A refusal to rest with rote and predictable structures, particularly as mandated by the logics of genre, is critical. Rupturing the generic structures of drama and rendering them obsolete, or at least non-representa‐ tional, is the crux of postdramatic theatre. This non-mimetic principle frequently turns into improvisation without plot or specific roles and emphasizes the in‐ tensive physical presence of the performers. 21 Suffice to say, a call for more “beat” signals the drive for corporeal intensity, experience, and ultimately perform‐ ance. In Zucken, and in postmigrant theatre more generally, performers do not physically alight to the auditorium, but the space of the theatre is a shared space of co-presence, in which frequent outbreaks of direct address (particularly in the choral scenes, to be examined more fully in the next section) effortlessly strike a blow to the fabled fourth wall. The energy of the performance is so powerful and fervent that it becomes contagious. Palpable twitching among spectators as the performance progressed displays this. Yet the convulsive twitching of the collective body on stage does not mirror that of the house or vice versa. If anything, Zucken, as much of postmigrant theatre, takes on an antagonistic position vis-à-vis the audience - this European social body. 2. The Body’s Kinetic Form of Anger If, according to Peter Sloterdijk, modernity ushered in a kinetic excess that hinged on a subjectivity of mobilization, what he refers to as “being-unto-move‐ ment”, 22 then it was, in Lepecki’s analysis, one of complete fantasy, unburdened 350 Olivia Landry <?page no="351"?> 23 Lepecki, Exhausting Dance, p. 14. 24 Salzmann, p. 25. by history and politics of repression. Lepecki writes: “The kinetic spectacle of modernity erases from the picture of movement all the ecological catastrophes, personal tragedies, and communal disruptions brought about by colonial plun‐ dering of resources, bodies, and subjectivities.” 23 Certainly, postmodernity and postcolonial discourse have recuperated movement in productive ways, but not without maintaining a degree of skepticism. While the scope of this essay does not permit a more extensive consideration of this important discourse and tra‐ jectory, it proposes a rethinking of movement and the kinetic force of the body as a potential site of recognition, resistance, and antagonism against suppres‐ sion. “Zucken” (as “twitching”, “shuddering”, or “spasming”), I argue, is an exterior form that presents an affective state of collective anger in the play. It incites and is incited by the physical stomping and the roiling that fills, even overwhelms, this particular theatre experience. Such is the anger that also threatens and ad‐ monishes the audience directly with the words from Salzmann’s text in the chorus section, entitled “Wir” (“We”): Du hast eine Geschichte. Sie steht fest. In die vertraust du. Du hast Pyramide auf uns gebaut. Wir sind der Grund deiner Geschichte. Du hast Angst, aber nicht wirklich. Weil du glaubst, wenn du die Polizei rufst, dann kommt sie und rettet dich, und danach gibt es ein faires Verfahren, ein Gericht, Krankenhausaufenthalt, Entscheidungen, Entschädigung sogar und die Ordnung ist wiederhergestellt. Wenn einer mit Kalaschnikow im Kinosaal auftaucht. 24 [You have a history. It is certain. In which you trust. You have built pyramids on our backs. We are the foundation of your history. You are afraid, but not really. Because you believe that when you call the police, then they will come and rescue you, and after that there will be due process, a court of law, a stay at the hospital, decisions reached, compensation even and order will be reestablished. 351 Anger as Theatrical Form in Sasha Marianna Salzmann’s Zucken <?page no="352"?> 25 Cf. bell hooks, Talking Back, Thinking Feminist, Thinking Black, Boston 1989, p. 5. 26 Audre Lorde has most prominently followed this line of thinking in: “The Uses of Anger: Women Responding to Racism”, in: Sister Outsider, CA 1984, pp. 124-133. For further references see note 16. When someone appears in a cinema with a Kalaschnikow.] Even in its experimental structure and lack of clearly demarcated roles, Zucken is a play definitively directed at a European public that intransigently perceives itself as the innocent victim of terrorism, a terrorism that ostensibly hails from elsewhere. This ruse of innocence is anchored to a blind spot. It presents an emphatic refusal to bear the burden of the indelible reality of global entangle‐ ments, conflict, terrorism, and war, perpetuated by centuries of Western colo‐ nialism and neocolonialism. Zucken certainly does not defend radicalization and especially not terrorism, but it brings into relief the fault lines of the dominant European position. Frequent choral interludes of speech and movement also resonate with postdramatic aesthetics. A collective “Wir” on stage is both po‐ litical and performative. Salzmann’s text and the performance thereof are a re‐ minder of the important practice of “talking back.” In its black feminist tradition, “talking back” means speaking to authority figures as though they were equals; it is about speaking out (of turn), and speaking up about injustice. 25 From Aris‐ totle to Audre Lorde and bell hooks, the long discursive history of anger is in‐ veterately linked to talking back as political struggle for social justice. 26 This is the exhortative ethos of the chorus in Zucken. In the theatre, “talking back” is also structurally disintegrative insofar as it shifts the theatricality from stage to house in its verbal assault on the audience. In the form of that detested informal “du”, the spectators are made to feel personally targeted and under attack. Rhetorically echoing Peter Handke’s Publikumsbeschimpfung (Offending the Au‐ dience, 1966), the performers speak directly to the spectators, taunt them, and berate them. The significant difference here is the vehemence of unapologetic anger displayed this time on the part of the performers (and not the audience). Despite its narrative link to the radicalization of young people in this play, anger should not be pathologized. These youths are not simply angry misfits. Rather, anger proposes that something is wrong and not that something is wrong with these people. Anger becomes critically attributed to the injustices of the social and political present. Its manifestation is brought forth in the labile move‐ ments of dance, fighting, marching, jumping, and gymnastics performed on stage. The extended chorus sequence concludes with the performers donning black balaclavas, which have become iconic symbols of both terrorism and col‐ lective protest (consider, for instance, the radical feminist protest group Pussy 352 Olivia Landry <?page no="353"?> 27 Caitlin Bruce discusses the transnational affective iconicity of the balaclava since the Pussy Riot’s infamous anti-Putin performance at Moscow’s Christ the Savior Cathedral in February 2012. (Cf. Caitlin Bruce, “The Balaclava as Affect Generator: Free Pussy Riot Protests and Transnational Iconicity”, in: Communication and Critical/ Cultural Studies 12 (2015), pp. 42-62.) 28 Lehmann, p. 163. 29 José Esteban Muñoz, Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity, New York 2009, p. 67. Riot and its outgrowths), 27 and a kinetic outburst when several performers use the assembled couches as a tumbling mat for leap frog and somersaults. At every moment, the body is a spectacle of its own dynamism, a figure of its own pos‐ sibilities for physical expression. Zucken galvanizes the potential of the thea‐ trical body. Anger’s form ultimately cleaves to the corporeal refusal to stay still and remain put. It is a form generated by body and motion. Sharp, aggressive, and heavy movements, which elicit loud thuds and bangs, create this physical topography of anger. To propose that the young bodies on stage in Zucken are merely representa‐ tional of an ethos of anger and radicalization would be an oversimplification. This essay does not follow a narrowly construed semiotic reading of the spasming bodies on stage. The impulse of postdramatic theatre continues in a different direction. The dramatic process occurred between the bodies; the postdramatic process occurs with/ on/ to the body. The mental duel, which the physical murder on stage and the stage duel only translate metaphorically, is replaced by the physical motor activity or its handicap, shape or shapelessness, wholeness or fragmentation. While the dramatic body was the carrier of the agon, the postdramatic body offers the image of its agony. 28 Postdramatic theatre is the theatre of the body, whose drama is the drama of the body. Gesture becomes a radical expression of energy, movement, and perfor‐ mance. This is not gesture in the Brechtian sense of an alienated Gestus; it is gesture that opens itself up to affective form, which, borrowing José Esteban Muñoz’s words, “atomizes movement.” 29 Put another way, gesture brings bodies and movement under a microscope, in which every twitch, turn, and shrug can be scrutinized as performance. Dance, as the emphatic outburst of gestures, es‐ pecially has the capacity to put bodies on display in a manner that heeds such scrutiny. Much of the dance in Zucken is reminiscent of contemporary breakout dance with hip-hop influence. The style of dance of one performer in particular, Elif Karcı, stuns and provokes the audience with its sharp angular movements that 353 Anger as Theatrical Form in Sasha Marianna Salzmann’s Zucken <?page no="354"?> 30 Cf. Marvin Carlson, Performance: A Critical Introduction, London 2004, p. 179. 31 Cf. Meierhenrich. violently pierce the space around her body. Maintaining a rigid and steady frame, her arms and hands aggressively whip around her head and body. Through these vogueing moves, hands are altogether expressive; they shade and highlight the body and the face. There is something combatively angry about Karcı’s dancing that easily slides into fighting when she dons boxing gloves mid performance and begins using everyone and everything as a punching bag. That each per‐ former dances in a different way, and with varying levels of ability and flair, underscores the unchoreographed nature of dance in Zucken. The performers were likely instructed to dance as they normally would to such beats. Indeed, variation of movements can be detected between performances, as well. What becomes foregrounded is the pure presence of the body as body. Much can be said about the body in theatre more generally. But what is the body in postmi‐ grant theatre, in particular, and how it ultimately be conceptualized in Zucken? 3. Conclusion: The Body in Postmigrant and Postdramatic Theatre Postmigrant theatre and postdramatic theatre are keenly concerned with bodies. Postdramatic theatre is hailed as the return of the centrality of the body with its emphasis on presence over representation. For postmigrant theatre, the return of the body brings into relief the reality of prejudice in German theatres and the qualities of the majoritarian theatrical body, which must be subverted and dis‐ mantled. A nub of postmigrant theatre resonates with cultural performance, defined by Marvin Carlson as the ambition to insert often absent racialized and minoritized bodies into theatre and performance spaces hitherto populated with white (frequently male and cis-gender) bodies. 30 The vast majority of the per‐ formers in postmigrant theatre, and in Zucken this is certainly exemplary, are performers of color, who vociferously claim and performatively embody their place on stage - and in the theatre. At one point during the performance all seven performers assemble on a single couch as though in preparation for a group photo and from a standing position yell in chorus “wir” multiple times to the pounding beat of a drum. Each “wir” is accompanied by a physical jolt of this hostile mass and is akin to a verbal bullet. 31 The in-your-face impulse of this scene candidly declares the presence of these performers - this collective of bodies - that must be reckoned with. This act of directly antagonizing the au‐ dience is reminiscent of Nurkan Erpulat’s opening prelude in Verrücktes Blut (Crazy Blood, 2010), another a play about delinquent youth that is often consid‐ 354 Olivia Landry <?page no="355"?> 32 “Where to? You don’t know, what could come after us? ” ered the crest of postmigrant theatre. In this earlier play, the young performers assemble in a line downstage and perform a repertoire of anti-social and threat‐ ening gestures in the direction of the audience, including expectorating, cursing, and striking menacing “gangster” poses. Whereas Verrücktes Blut addresses the problematic phenomenon that anger regularly becomes attached to certain bodies - in this case to young, male, Muslim bodies - Zucken at once looks for the sources of anger and displays its energetic potential in the struggle against injustice in and beyond the theatre space. At a time when Europe uncompromisingly perceives itself in a state of se‐ curity and cultural crisis - even in a war against terror, as former French pres‐ ident François Hollande was eager to declare in the wake of the Charlie Hebdo tragedy in 2015 - a play such as Zucken is an exhortation of protest against not only this myopia but also the resulting panic, territorial hedging, social mar‐ ginalizing, and new nativism in Europe and around the world. It works to undo the audience’s assumption that radicalization is cultural (not least religious) and particular rather than political and universal, and that it is something happening to Europe and not (because) of Europe. Zucken does not apply the phenomenon of jihadism exclusively to the pursuit of holy war within the Islamic context, a connection many in the West are wont to make. Neither Salzmann’s text nor Nübling’s production offer conclusions about how and why young people are drawn to jihadism (despite Salzmann’s ironically suggestive longer title). In‐ stead, Zucken clamorously revels in a state of (out)rage predicated not on hate per se but on protest against the unjust conditions of the present. Bodies on stage pulsing with energy and anger become powerful modes of contest when “information” and “facts” seem to sneak around the codes of truth and sincerity. This essay has sought to examine Zucken as a manifestation of theatrical anger through an extraordinary excess of bodily movement and presence. In its confluence of postdramatic and postmigrant practices, Zucken wrests theatrical performance from its aesthetic and structural rules of logic and takes it in the direction of an event of diversity, politics, and collective activism that resonates beyond the theatre space. Reading anger as a physical and energetic perform‐ ance of recalcitrant intervention into dominant forms and narratives of theatre, reestablishes its potential as a productive instrument for social justice. Finally, the concluding question posed in chorus to the audience - “Wohin? Ihr wisst es nicht, was nach uns kommen könnte? ” 32 - articulates this outward turn in Zucken and so much of postmigrant theatre, which always resonates like a de‐ mand and threat rather than a simple question. Zucken thus ends with pugna‐ 355 Anger as Theatrical Form in Sasha Marianna Salzmann’s Zucken <?page no="356"?> cious denunciation and warning that swells with the exhilarating experience of anger and a heady promise of more to come, albeit in yet unknown form. 356 Olivia Landry <?page no="357"?> Autor_innenverzeichnis Christopher Balme, Dr., Professor für Theaterwissenschaft an der LMU Mün‐ chen. Promotion an der Universität Otago, Neuseeland, Habilitation 1993 an der Universität München. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Forum Modernes The‐ ater. Wichtigste Publikationen: Decolonizing the Stage: Theatrical Syncretism and Post-Colonial Drama (1999); Einführung in die Theaterwissenschaft (1999). Das Theater der Anderen (Hg.) (2001); Pacific Performances: Theatricality and Cross-Cultural Encounter in the South Seas (2007); Cambridge Introduction to Theatre Studies (2008); The theatrical public sphere (2014). Jack Davis, Ph.D., Assistant Professor of German at Truman State University in Kirksville, Missouri. He received his PhD in 2014 from the University of Wis‐ consin-Madison, with a dissertation on the works of Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek and Christoph Schlingensief. His current research interests include post‐ dramatic German-language theater, ecocriticism, and the films of Christoph Schlingensief. Publications include scholarly articles on Bernhard, Schlingen‐ sief, René Pollesch and George Tabori as well as translations into English of writing by Bertolt Brecht and several plays by the German performance group Rimini Protokoll (forthcoming). He currently serves as co-editor of the Com‐ munications of the International Brecht Society. Günther Heeg, Dr., Professor am Institut für Theaterwissenschaft und Direktor des Centre of Competence for Theatre (CCT) der Universität Leipzig. Seine ge‐ genwärtigen Forschungsschwerpunkte sind die Idee eines transkulturellen The‐ aters, Konzepte der Wiederholung und Aneignung von Geschichte, Bertolt Brecht und zeitgenössisches Musiktheater. Er ist Vizepräsident der International Brecht Society und Kodirektor des japanischen-deutschen Forschungsprojekts „Tradition und Transkulturalität im japanischen und deutschen Gegenwarts‐ theater“. Neue Publikationen: Das transkulturelle Theater (2017), Willkommen anderswo. Theaterarbeit mit Einheimischen und Geflüchteten (2017), Recycling Brecht (2018). Julius Heinicke, Dr., Professor für angewandte Kulturwissenschaften an der Hochschule Coburg. Nach dem Studium der Kultur- und Theaterwissenschaften promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin und forschte und lehrte danach vier Jahre lang am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Univer‐ <?page no="358"?> sität Berlin zu den Themenfeldern Applied Theatre und Transkulturalität. Seit 2016 unterrichtet er zudem an der Theaterakademie der HFMT Hamburg. Julius Heinicke initiierte mehrere Theater- und Kunstprojekte in Deutschland und im südlichen Afrika insbesondere im Bereich der Kulturvermittlung, war u. a. Com‐ pany Manager beim Musical Die Venus in Berlin und künstlerischer Koordinator des „Zimbabwe Arts Festival Berlin“, einer Kooperation mit dem Auswärtigen Amt. Zuletzt gab er zusammen mit Joy Kristin Kalu und Matthias Warstat den Band Kunst und Alltag der internationalen Zeitschrift für historische Anthro‐ pologie Paragrana heraus. Marina Ortrud M. Hertrampf, PD Dr. habil., lehrt und forscht im Bereich französische und spanische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik der Universität Regensburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Raumtheorien, Theater als intermediale Raumkunst, Intermedialität, Comic/ graphic novel, Transkulturalität, Migration, Roma-Literaturen/ Kulturen, Literatur der Reformationszeit, des Ersten Weltkriegs und der Gegen‐ wart. Publikationen in Auswahl: Le printemps des arabes en bulles oder Der Ara‐ bische Frühling im Spiegel frankophoner Graphic Novels (2016); (Hrsg.), Der ,(un)heilige‘ Raum. Die Dimensionen des Raumes im auto sacramental. Eine (raumtheoretische) Gattungsgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Postmo‐ derne (2018). Ernest W.B. Hess-Lüttich, Prof. em. Prof. h. c. Dr. Dr. Dr. h. c., Germanist m. Schwerpunkt Diskurs-/ Dialogforschung, Hon. Prof. TU Berlin (seit 2015) u. Stellenbosch (bis 2017), Autor/ Hrsg. v. 60 Büchern u. Editionen, Verf. v. ca. 370 Aufsätzen (zur sozialen, literarischen, ästhetischen, intermedialen, interkultu‐ rellen, intra-/ subkulturellen, institutionellen, fachlichen, öffentlichen, politi‐ schen, urbanen Kommunikation), Hrsg. div. Zeitschriften u. Buchreihen, (Vize-)Präsident u. Ehrenmitglied div. Fachgesellschaften u. Advisory od. Edi‐ torial Boards, Gastprof. an zahlreichen Universitäten in Europa, Amerika, Af‐ rika, Asien, Australien. Eiichiro Hirata, Dr., Professor für Theaterwissenschat am Institut für Germa‐ nistik der Keio-Universität Tokio. Er studierte Germanistik und Theaterwissen‐ schaft an derselben Universität und an der Humboldt-Universität zu Berlin und promovierte über Abwesenheit und Präsenz im Gegenwartstheater. Z.Z. leitet er das JSPS-Forschungsprojekt über das Theater und die Kultur. Wichtige Pu‐ blikationen: Theater in Japan (Hg., Berlin 2009); Dramaturgen (japanisch, Tokio 2010); Theater der Prä- und Absenz (japanisch, Tokio 2016). 358 Autor_innenverzeichnis <?page no="359"?> Lore Knapp, Dr., Akademische Rätin auf Zeit an der Universität Bielefeld, Pro‐ motion an der Freien Universität Berlin, Habilitationsprojekt zur Rezeption bri‐ tischer Schriften in der deutschen Aufklärungsästhetik, wichtigste Publika‐ tionen: Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke - Christoph Schlingensief, Fink 2015, Britisch-deutscher Literaturtransfer, hg. mit Eike Kronshage, de Gruyter 2016, Embodied Cognition around 1800 (hgg. mit Katharina Engler-Coldren und Charlotte Lee als Sonderband von German Life and Letters 2017), sowie Aufsätze zu Schlingensiefs Blog, zu seinen Aktionen und zu seinem Musiktheater. Teresa Kovacs, Ph.D., Visiting Scholar at the Department of Germanic Lang‐ uages and Literatures, University of Michigan, Ann Arbor, USA (Erwin Schrö‐ dinger Fellowship, FWF). Between 2011 and 2017 she held a position at the Re‐ search Platform Elfriede Jelinek, University of Vienna, Austria. She received her Ph.D. at the University of Vienna with a dissertation on Elfriede Jelinek’s “Se‐ condary Drama”, which won several awards. Publications (Selection): „Postdra‐ matik“. Reflexion und Revision (Praesens 2015, co-ed. with Pia Janke), Drama als Störung. Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas (transcript 2016), Schlin‐ gensief-Handbuch (in preparation, Metzler 2020, co-ed. with Peter Scheinpflug and Thomas Wortmann). Jan-Tage Kühling, M. A., Studium der Theaterregie und der Angewandten Theaterwissenschaften, zurzeit Doktorand der Tanzwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Arbeitete als freischaffender Regisseur und Kurator in Polen und Deutschland. Wissenschaftliche Arbeits‐ schwerpunkte: Performance und Ökologie, das Politische des Theaters, Theo‐ rien der Gemeinschaft, Theater und Postkolonialismus. Seit 2016 Promotions‐ stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung. Olivia Landry, Ph.D., Assistant Professor of German at Lehigh University, USA. Her main areas of research are contemporary cinema, performance theory, and postmigrant theatre. Her first book, Movement and Performance in Berlin School Cinema will appear in 2019 with Indiana University Press. Her most recent ar‐ ticles have appeared in Transgender Studies Quarterly, Black Camera, Film-Phi‐ losophy, TRANSIT and Women and Performance. Her contribution to the pre‐ sent volume is part of a larger book project on anger in contemporary transnational theater. Fabian Lehmann, M. A., Doktorand an der Bayreuth International Graduate School of African Studies (BIGSAS) der Universität Bayreuth. In seiner For‐ schung befasst er sich mit bildender Gegenwartskunst, die das Erinnern an die deutsche Kolonialzeit in Deutsch-Südwestafrika (heutiges Namibia) themati‐ 359 Autor_innenverzeichnis <?page no="360"?> siert. Zwischen 2012 und 2016 war Lehmann Mitherausgeber von DIENADEL - Kulturwissenschaftliche Zeitschrift für Kunst und Medien. Zusammen mit Nadine Siegert und Ulf Vierke hat er im Juli 2017 den Sammelband Art of Wagnis. Chris‐ toph Schlingensief ’s Crossing of Wagner and Africa herausgegeben. Janine Lewis, Dr., Professor and Head of Department of Entertainment Tech‐ nology at the Tshwane University of Technology, South Africa; her direct fields of specialisation include theatre for empowerment, physical theatre, devising and acting. She has taught internationally at the Ohio State University USA (2007), the Hunter Gates Physical Theatre Academy in Edmonton, Canada (2007) and the 6th Annual International Festival of Making Theatre in Athens, Greece (2010); and has presented papers at various conferences in countries across the world and South Africa. Lewis has devised, directed and performed more than 46 artistic products, and continues to use her extensive knowledge of the theatre for design and management purposes. Koku G. Nonoa, Dr., forscht im Forschungsfeld „Dynamik der Ordung(en)“ vom Forschungsschwerpunkt „Kulturelle Begegnungen - Kulturelle Konflikte“ der Universität Innsbruck. Juli 2017-Juni 2018 war er Universitätsassistent am Institut für Sprachen und Literaturen/ Bereich Vergleichende Literaturwissen‐ schaft an der Universität Innsbruck. August 2013-Mai 2017 Stipendiat der Uni‐ versität Innsbruck und des Marietta-Blau-Stipendiums des OeAD, finanziert aus Mitteln des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft zur Durchführung seines im Juni 2018 abgeschlossenen Disser‐ tationsprojektes. Publikationen: Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater (Dissertation/ erscheint 2019); gemeinsam mit Julius Heinicke gibt er auch 2019 den Sammelband Transkultureller Theaterschauplatz: Grenzen und die Odyssee Fliehender - Interdisziplinäre Überlegungen heraus. Katharina Pewny, Dr. habil., Professor of Performance Studies at Ghent Uni‐ versity. Fields of research: theatre, dance, performance and ethics; spirituality and interreligiousness; dramaturgy, migration and multilingualism; working conditions in the arts. Main publications: Spirits of Performance (in preparation). Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Perfor‐ mance (2011), Ihre Welt bedeuten. Theater, Feminismus, Repräsentation (2002). Editor of, among others: Choreographies of Precariousness. Dance Research Journal (in preparation, 2019, eds. with Annelies van Assche and Simon Leen‐ knegt); Migration and Multilingualism (2018, eds. Yana Meerzon et al.). Drama‐ turgy of Migration: Staging Multilingual Encounters in Contemporary Theatre (in preparation, 2020, eds. with Yana Meerzon), Occupy Antigone (2016, eds. with Luk van den Dries and Charlotte Gruber). 360 Autor_innenverzeichnis <?page no="361"?> Julia Prager, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin (OTPP) an der Professur Me‐ dienwissenschaft und NdL der TU Dresden. Davor Post-Doc-Stipendiatin am Lehrstuhl für AVL der Universität Erfurt. Promotion an der Universität Inns‐ bruck sowie an der FU Berlin mit einer Arbeit zu performativen Schreibweisen und Auftrittsformen bei Judith Butler. Publikationen (Auswahl): Frames of Cri‐ tique. Kulturwissenschaftliche Handlungsfähigkeit „nach“ Judith Butler (2013), Heraus-Treten - Zur Konzeption eines exophonen lyrischen Ich bei Yoko Tawada (2016), Feministische Philosophie und Gendertheorie: Rhetoriken des Körpers (2015), Paradoxien des Abstand-Nehmens: Butlers politische Theorie des Medialen (2018). Patrick Primavesi, Dr., Professor am Institut für Theaterwissenschaft der Uni‐ versität Leipzig und Direktor des Tanzarchiv Leipzig e. V. Aktuelle Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind Praxis und Theorie von Theater, Tanz und Performance, Körperpolitik und Repräsentationskritik, Öffentlichkeit und Be‐ wegung im urbanen Raum, Archive in digitalen Umgebungen. Kevin Rittberger, Autor, Regisseur und Kurator, studierte an der Freien Uni‐ versität Berlin Neuere Deutsche Literatur, Publizistik- und Kommunikations‐ wissenschaften. Sein Stück Kassandra oder Die Welt als Ende der Vorstellung wurde 2011 für den Mülheimer Dramatiker-Preis nominiert. 2014 zeigte Ritt‐ berger beim Taipeh Arts Festival die Uraufführung seines Stückes Mulian Res‐ cues Mother Earth. Am Theater Basel zeigte Rittberger 2015/ 16 die Lecture- und Performance-Reihe Community in Progress. Am Gorki-Theater kuratierte Ritt‐ berger 2016 während des Berliner Herbstsalons Alchemie des Neuanfangs. 2017 inszenierte er am Theater Basel sein Stück Revolution in St. Tropez. Stück für die linke Hand. Rittberger veröffentlicht neben wissenschaftlichen Texten auch Prosa (zuletzt Arglosigkeit) und schreibt für die Berliner Zeitung. Ralf Schnell, Dr. phil., war von 1981 bis 1987 Professor für Neuere Deutsche an der Universität Hannover. Von 1988 bis 1991 lehrte er als Lektor des DAAD und von 1991 bis 1997 als Ordentlicher Professor für Deutsche Gegenwartslite‐ ratur an der Keio-Universität in Tokio. Von 1997 bis 2006 war er Inhaber des Lehrstuhls für Germanistik/ Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Uni‐ versität Siegen und von 2006 bis 2009 Rektor der Universität Siegen. Er war Mitherausgeber der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (1999-2010), Sprecher des Kulturwissenschaftlichen DFG-Forschungskollegs 615 „Medienumbrüche. Medienkulturen und Medienästhetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und im Übergang zum 21. Jahrhundert“ (2002-2006). Publikationen (Auswahl): Deutsche Literatur von der Reformation bis zur Gegenwart (2011), Geschichte der deutschen Lyrik Band. 5: Von der Jahrhundertwende bis zum Ende 361 Autor_innenverzeichnis <?page no="362"?> des Zweiten Weltkriegs (2013), Heinrich Böll und die Deutschen (2017, 2. Auflage 2018). Mziwoxolo Sirayi, Dr., is a drama scholar and currently Professor and Execu‐ tive Dean of the Faculty of the Arts, Tshwane University of Technology in Pre‐ toria in South Africa. His research interest is in African drama and theatre. His thesis, “The Pre-colonial Tradition of Black South African Drama and Theatre”, makes him the first scholar to have done research on pre-colonial indigenous drama in South Africa. Some of his Professional Fellowships & Awards are: 2006: The Ohio State University, United States (Fulbright scholar) Post-doctoral re‐ search in Local Cultural Policy & Cultural Planning / 2002: Universities of Berlin & Hamburg, Germany (DAAD grant) Post-doctoral research in Drama, Cultural Policy and Urban Regeneration & Management / 1994 & 1995: University of Mainz, Germany (DAAD grant) PhD Research. Guy Zimmerman, Ph.D., Recently completing a doctoral degree in theatre studies at UC Irvine, Zimmermann now teaches at CalArts and CalPoly Pomona. His book, Fugitive City: Situated Theatre in Avant-Garde LA is currently out for external review with University of Michigan Press. His articles and essays about film, theater, art and politics have been published in Theatre Journal, SubStance, Shakespeare Bulletin, the critical anthology, Architecture in the Anthropocene (Open Humanities 2013), TheaterForum, LA Weekly, and LA Theater Magazine. An award-winning writer, director, and producer, Zimmermann has since 2001 served as the artistic director of the influential avant-garde new play theatre company Padua Playwrights in Los Angeles. Under his direction, the company has staged over fifty productions of new plays, moving several to stages in At‐ lanta, New York City, Edinburgh, Prague, and Berlin, garnering a host of LA Weekly, Ovation, Garland, and Los Angeles Drama Critics Circle awards and nominations. 362 Autor_innenverzeichnis <?page no="363"?> Postdramatisches Theater verschiebt den Fokus des Theaters von der Representation hin zur Präsenz. Dadurch geraten Aufführungen unterschiedlicher Kulturräume in den Blick, ohne einem Text und damit einem Theater der nationalen Sprachen zu großes Gewicht zu verleihen. Die Beiträge des Bandes entwickeln ausgehend von der Engführung von Postdramatischem und Transkulturellem innovative Methoden und Analyseverfahren gegenwärtiger Theaterformen, Theatertexte und Inszenierungen. Sie plädieren für einen analytischen Zugang zu Theater, der bewusst nationale, kulturelle sowie fachliche Grenzen überschreitet. Postdramatic theatre shifts the focus of the theater from representation to presence. In so doing, performances of different cultural spaces come into view without overemphasizing a given text and thus a national theatre based on language. Based on the interconnection of the postdramatic and the transcultural, the contributions of this volume develop innovative theoretical frames, methods, and approaches to contemporary theatrical forms, theatrical texts and stagings. They argue for an analytical approach to theatre that deliberately crosses national, cultural and professional boundaries. 24,6 Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 51 ISBN 978-3-8233-8191-4 Kovacs, Nonoa (Hrsg. / Eds.) Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater Teresa Kovacs, Koku G. Nonoa (Hrsg. / Eds.) Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater / Postdramatic Theatre as transcultural Theatre Eine transdisziplinäre Annäherung / A transdisciplinary approach 18191_Umschlag_V3.indd Alle Seiten 20.12.2018 11: 00: 33