Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht
Eine explorative Studie im Rahmen eines Weiterbildungsprojekts im Fach Französisch
0528
2018
978-3-8233-9192-0
978-3-8233-8192-1
Gunter Narr Verlag
Gabriele Bergfelder-Boos
Erzählen als kommunikative und kreative Tätigkeit stellt eine der wichtigsten sprachlichen und kulturellen Fähigkeiten dar, die im Fremdsprachenunterricht bisher noch nicht als eigenständiges Kompetenzziel in den Blick genommen wurden. Diesen Weg geht der vorliegende Band, indem er die Potenziale mündlichen und performativ-gestaltenden Erzählens in der Fremdsprache darstellt und anhand von Beispielen erläutert, auf welche Weise sie in der Praxis genutzt werden können. Das Werk ist deshalb sowohl für Studierende und für Lehrende als auch für (Aktions-)Forschende in Schule und Hochschule von Interesse.
<?page no="1"?> Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht <?page no="2"?> GIESSENER BEITRÄGE ZUR FREMDSPRACHENDIDAKTIK Herausgegeben von Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Jürgen Kurtz, Michael Legutke, Hélène Martinez, Franz-Joseph Meißner und Dietmar Rösler Begründet von Lothar Bredella, Herbert Christ und Hans-Eberhard Piepho <?page no="3"?> Gabriele Bergfelder-Boos Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht Eine explorative Studie im Rahmen eines Weiterbildungsprojekts im Fach Französisch <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. D 188 © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de ISSN 0175-7776 ISBN 978-3-8233-8192-1 <?page no="5"?> 15 17 1 19 2 22 2.1 22 2.1.1 22 2.1.2 24 2.1.3 28 2.2 29 2.2.1 29 2.2.2 30 2.2.3 35 2.3 37 2.3.1 38 2.3.2 40 2.4 41 2.5 42 2.6 48 53 Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtkonzeption der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgegenstand und Forschungsziele . . . . . . . . . . . . . . Die Ausgangssituation und ihre Folgen für das Forschungsprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thema, Zielsetzungen und Desiderata . . . . . . . . . . . . . . Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungstheoretische und -methodologische Rahmung . . . Verortung des Vorhabens im fremdsprachendidaktischen Forschungsfeld . . . . . . . . . Forschungsentscheidungen der Gesamtstudie . . . . . . . . Forschungsentscheidungen der empirischen Studie . . . Forschungsverfahren und Forschungsinstrumente . . . . . . . . . Datenerfassung und -gewinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chancen, Herausforderungen, Konsequenzen des komplexen Vorhabens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulsgebende empirische Untersuchungen zum mündlichen Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf und Gesamtaufbau der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil A: Mündliches Erzählen als Performance: konzeptionelle Grundlagen . . . . . <?page no="6"?> 3 55 3.1 55 3.1.1 58 3.1.2 62 3.1.3 65 3.2 66 3.2.1 67 3.2.2 69 3.2.3 73 3.3 75 3.4 79 3.5 82 3.5.1 82 3.5.2 83 3.5.3 85 3.6 94 3.7 97 4 102 4.1 102 4.1.1 103 4.1.2 108 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen . . . . . . . . . . . . . Intermediale, grenzüberschreitende Konzeptualisierung des Narrativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstituenten des intermedialen Erzählmodels: das Narrative und die Narreme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionen des Prototypen: Illustration und Operationalisierung, Stimulus und Gradmesser des Narrativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse des intermedialen Modells für die Konzeption der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündlich-verbales Erzählen (1): (Re-)Konstruktions- und Interaktionsprozesse beim Gebrauch der Diskursform . . . . . . Erzählen als Diskurseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narrationsspezifische Aufgaben der Diskursteilnehmer Das Prinzip der Erzählwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündlich-verbales Erzählen (2): fiktionales Erzählen . . . . . . . Mündlich-verbales Erzählen (3): Erzählen von Märchen- und Album-Adaptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündlich-verbales Erzählen (4): ästhetische Konzeption fiktionaler Diskurse zwischen zwei Mündlichkeitsformen . . . Die Medialität der mündlichen Erzählsituation . . . . . . Mediale Mündlichkeit vs. konzeptionelle Mündlichkeit Modellierungsmöglichkeiten konzeptioneller Mündlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analysekriterien und Teil 1 des Fünf-Dimensionen-Modells FDM-P . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: das werkseitige, narrative Potenzial mündlichen Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen Erzählen als Performance (1): die Aufführung als Ereignis . . . Der Performance- und der Aufführungsbegriff . . . . . . . Die Erzählperformance als Aufführung . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 <?page no="7"?> 4.2 109 4.2.1 109 4.2.2 111 4.3 113 4.3.1 114 4.3.2 119 4.3.3 120 4.3.4 128 4.4 130 4.4.1 131 4.4.2 133 4.4.3 135 4.5 135 4.5.1 136 4.5.2 138 4.6 141 5 145 5.1 145 5.2 146 5.2.1 147 5.2.2 148 5.2.3 150 5.3 151 5.3.1 153 Erzählen als Performance (2): Medialität und Materialität der Aufführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündlichkeit und Körperlichkeit der Erzählperformance - die Nähe zum Theater . . . . . . . . . Kommunikationsmodell mündlich-fiktionalen Erzählens als Performance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählen als Performance (3): die Herstellung von Bedeutung in der Aufführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die prosodischen Elemente, ihre Art und ihre Funktionen in primärer Verwendung . . . . . . . . . . . . . . . Das Zeicheninventar des Theaters . . . . . . . . . . . . . . . . . Die linguistischen und non-verbalen Zeichen in erzählperformativer Verwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwendungsmöglichkeiten erzählperformativer Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählen als Performance (4): die Aufführung als Erlebnis . . . Der Rahmen der Aufführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Feedback-Schleife . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der performative Pakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählen als Performance (5): Inszenierung und Interpretation von Erzählperformances und Teil 2 des Modells FDM-P . . . . . Inszenierungsmöglichkeiten zwischen den Extremen performativer Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretationskriterien und -schritte und Teil 2 des Fünf-Dimensionen-Modells FDM-P . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: das performative Potenzial mündlichen Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle und Konzeption der werkexternen Dimension . . . . . . . Erzählen in Mündlichkeit (1): die kulturpsychologische Sicht Die Ich-Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kulturelle Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bruners Liste der Anforderungen an die Fähigkeit des Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählen in Mündlichkeit (2): die erzähldidaktische Sicht . . . Anforderungen an die Fähigkeiten des Erzählens . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 5.3.2 155 5.3.4 156 5.4 159 5.4.1 161 5.4.2 163 5.5 166 5.6 171 6 174 6.1 174 6.2 175 6.2.1 177 6.2.2 180 6.3 184 6.3.1 184 6.3.2 187 Die Konstruktion eines Kontinuums narrativer Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Förderliche Einflussfaktoren auf den Erwerb narrativer Fähigkeiten und ressourcendidaktische Strategien zu deren Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählen in Mündlichkeit (3): die erzählpädagogische und ästhetische Praxis professioneller Erzählerinnen und Erzähler Die Kreativität des Erzählens in den märchenpädagogischen Konzepten Georges Jeans und Gianni Rodaris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poesie und Musikalität des Erzählens in den Erzählkonzepten und Erzählperformances Marie-Célie Agnants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählen in Mündlichkeit (4): Analyse narrativer Diskurse und Teil 1 des Fünf-Dimensionen-Modells FDM-R . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: das werkexterne, kulturelle Potenzial mündlichen Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündliches Erzählen im Fremdsprachenunterricht: die fremdsprachendidaktische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzeption und Gliederung der fremdsprachendidaktischen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündliches Erzählen im Fremdsprachenunterricht (1): Perspektiven bildungspolitischer Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . Mündliches Erzählen als Bestandteil kommunikativer Aktivitäten im GeR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündliches Erzählen als Bestandteil produktiver und rezeptiver Strategien und der Diskurskompetenz im GeR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündliches Erzählen im Fremdsprachenunterricht (2): mündliches Erzählen als Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Storytelling als inhaltsbezogenes, ganzheitliches Unterrichtsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein narratives Gesamtkonzept im Fremdsprachenunterricht: narrative Dimensionen und narrative Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 <?page no="9"?> 6.4 191 6.4.1 192 6.4.2 193 6.5 195 6.6 199 7 202 209 8 211 8.1 211 8.1.1 211 8.1.2 214 8.1.3 215 8.2 216 8.2.1 216 8.2.2 218 8.3 219 8.3.1 220 8.3.2 224 9 234 9.1 234 9.1.1 235 Mündliches Erzählen im Fremdsprachenunterricht (3): mündliches Erzählen als Aufgabe der Akteure . . . . . . . . . . . . . Konzeptionelle und performative Aufgaben sowie Reflexionsaufgaben der Lehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsame Aufgaben der Akteure: die Nutzung des fremdsprachlichen Klassenzimmers zur Realisierung des mündlichen Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analysekriterien der Unterrichtsdesigns und Teil 2 des FDM-R Zusammenfassung: das fremdsprachendidaktische Potenzial mündlichen Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit: Strukturierung der recherchierten Potenziale mündlichen Erzählens als Performance und der Analyseinstrumente . . . . . . . . . . . . . Teil B: Die Entwicklung narrativer Diskurse in den Erzählstunden: die empirische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchführung der empirischen Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weiterbildungs- und Aktionsforschungskontext . . . . . . . Das Erzählcurriculum im Weiterbildungsstudiengang . Verabredungen zwischen den an den Erzählprojekten Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausforderungen der Projekt- und Forschungsarbeit Die Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Akteure der Erzählstunden und die von ihnen gewählten Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenerhebung und Reduktion der Daten für die Zwecke der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenaufbereitung und Analyseschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Videografien der beiden Erzählstunden . . . . . . . . . Die Interviews der Akteure der beiden Erzählstunden Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die geplanten Erzähldiskurse beider Erzählstunden . . . . . . . . Analyse des Märchentextes Le conte des échanges : Brüdermärchen und Kettengeschichte . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="10"?> 9.1.2 245 9.1.3 250 9.2 252 9.2.1 252 9.2.2 256 9.2.3 273 9.3 298 9.3.1 299 9.3.2 302 9.3.3 312 9.4 328 9.4.1 329 9.4.2 329 9.4.3 334 10 340 10.1 340 10.1.1 340 10.1.2 341 10.1.3 345 Vergleichende Analyse der Textadaptionen und Adaptionsstrategien beider Erzählstunden . . . . . . . . . . Ergebnis der Analyse: die Entwicklung der Erzähldiskurse für ihren Einsatz in medialer Mündlichkeit im Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . . Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse des Unterrichtsdesigns: eine Erzählstunde mit intermedialem Schwerpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse der Erzählperformances als Aufführung: Le conte des échanges als Höhepunktgeschichte . . . . . . . . Die Analyse der Rekonstruktion der Erzählung . . . . . . Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleichende Analyse des Unterrichtsdesigns: eine Erzählstunde mit einem verbalen Gestaltungschwerpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleichende Analyse der Erzählperformances als Aufführung: Le conte des échanges als Fortsetzungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleichende Analyse der Rekonstruktion der Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretation der Analyseergebnisse als Zwischenfazit . . . . . Die Anwendung des Erzählmodells und des Potenziale-Modells auf den Fremdsprachenunterricht Die realisierten Potenziale mündlichen Erzählens als Performance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gebrauch der Fünf-Dimensionen-Modelle - funktionale und flexible Instrumente der mehrdimensionalen Analyse narrativer Aktivitäten . . Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden . . . . . . . . . . . . . Die Reflexionen der Lehrenden und Lernenden zur ersten Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Erzählstunde . . . . Erste Eindrücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die erste Hauptkategorie: Reflexionen der Erzählung Die zweite Hauptkategorie: Reflexionen der Erzählstunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 10 <?page no="11"?> 10.1.4 348 10.1.5 356 10.1.6 360 10.1.7 362 10.2 365 10.2.1 366 10.2.2 366 10.2.3 370 10.2.4 372 10.2.5 381 10.2.6 384 10.2.7 386 10.3 388 10.3.1 388 10.3.2 390 10.3.3 396 399 Die dritte Hauptkategorie: Reflexionen der Erzählperformance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vierte Hauptkategorie: Reflexionen der Rekonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsfragen und Ideen zur Weiterarbeit . . . . . . . Erste Interpretation der Interviewanalyse: Vergleich der Perspektive der Akteure mit den Analyseergebnissen der ersten Erzählstunde . . . . . . . . Analyse der Reflexionen der Lehrenden und Lernenden zur zweiten Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Eindrücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die erste Hauptkategorie: Reflexionen der Erzählung Die zweite Hauptkategorie: Reflexionen der Erzählstunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die dritte Hauptkategorie: Reflexionen der Erzählperformance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vierte Hauptkategorie: Reflexionen der Rekonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsfragen und Ideen zur Weiterarbeit . . . . . . . Erste Interpretation der Interviewanalyse: Vergleich der Perspektiven der Akteure mit den Analyseergebnissen der zweiten Erzählstunde . . . . . . . Zwischenfazit: die erste und die zweite Interpretation der Analyseergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung der ersten Interpretation: Vergleich der Akteure-Perspektive mit den Analyseergebnissen der Erzählstunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zweite Interpretation: wirksame Faktoren der Weiterbildung - die von den Akteuren entdeckten Potenziale mündlichen Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenführung der Interpretationsergebnisse . . . . Teil C: Ergebnisse der Studie: die performative Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 11 <?page no="12"?> 11 401 11.1 401 11.2 405 11.2.1 405 11.2.2 407 11.2.3 409 11.2.4 410 11.2.5 414 11.2.6 414 11.2.7 415 11.3 416 11.3.1 416 11.3.2 423 11.3.3 426 12 431 12.1 431 12.2 432 12.3 433 12.4 436 12.5 439 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse . . . . . . . . Diskussion der Ergebnisse vor dem Hintergrund der ausgewählten empirischen Studien zum mündlichen Erzählen Bedingungsfaktoren und Impulse für das Ausschöpfen des Potenzials mündlichen Erzählens als Performance . . . . . . . . . Genrespezifische, mündlichkeitsorientierte, erzählwürdige Konstruktion von Erzähldiskursen für die Erzählperformances im Fremdsprachenunterricht . Ereignis- und publikumsorientierte Gestaltung von Erzählperformances . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungs- und mündlichkeitsorientierte Konzeption der Erzählstunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charakteristische Merkmale und Funktionen mündlichkeitsorientierter und kreativer narrativer Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle und kooperative, abwechslungsreiche und progressive Gestaltung der Rekonstruktion der Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausforderungen und Chancen für Lehrende und Lernende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der performative Pakt: die Nutzung des performativen Raums und der pädagogischen Situation zur Entwicklung narrativer Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrdimensionale, performative Konzepte zur Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts und der Weiterbildung . . . . . . . . . Das performative Erzählkonzept zur Entwicklung narrativer Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das mehrdimensionale Analysekonzept . . . . . . . . . . . . Das mehrdimensionale Weiterbildungskonzept . . . . . . Reflexion des Forschungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ausgangspunkt der Forschungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . Der spiralförmige Forschungsverlauf und der Theorie-Praxis-Bezug der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Forschungsprozess der Forscherin als Aktionsforschungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gütekriterien der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reichweite der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 12 <?page no="13"?> 13 442 448 473 499 501 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 13 <?page no="15"?> Vorbemerkung Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2016/ 17 am Fachbereich für Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dis‐ sertation angenommen. Auf dem langen Weg von den ersten Ideen und Entwürfen bis zur Endfassung der Arbeit haben mich viele Menschen begleitet und auf unterschiedliche Art und Weise inspiriert und unterstützt. Mein besonderer Dank gilt meiner Dok‐ tormutter, Frau Prof. Dr. Daniela Caspari. Sie hat mit ihrer konstruktiven Kritik und ihrer Bereitschaft, auch ungewöhnliche Forschungswege mitzugehen und neue, auf die Verbindung von Theorie und Praxis ausgerichtete Konzepte mit‐ zutragen, meiner Forschungs- und Schreibarbeit wichtige Impulse gegeben und mich davor bewahrt, mich im Gestrüpp des komplexen Forschungsansatzes zu verlieren. Frau Prof. Dr. Lieselotte Steinbrügge danke ich für Ihre Unterstützung und das Zweitgutachten. Den am Erzählprojekt beteiligten Weiterbildungsstudierenden und ihren Schülerinnen und Schülern danke ich für ihr Engagement, ihre Erzähl- und Dis‐ kussionsfreude, ihre wertvollen Anregungen und die interessanten Erzählungen in Bild und Wort. Der Erzählerin und Autorin Marie-Célie Agnant danke ich für ihre mitreißenden Erzählperformances. Sie waren mir und meinen Erzählpart‐ nerinnen und -partnern Ansporn zu performativen Eigenversuchen. Danke auch für die zum Weitererzählen geschenkten Märchen Tipège und Petite ma‐ dame. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Arbeitsbereichs „romandid“, ins‐ besondere Helene Pachale, danke ich für die kollegiale Zusammenarbeit der letzten Jahre, die gewinnbringenden Gespräche, die organisatorische und me‐ dientechnische Unterstützung und die aufmunternden Worte. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Forschungskolloquiums der Di‐ daktik der romanischen Sprachen danke ich für die fruchtbare wissenschaftliche Diskussion und die zahlreichen Anregungen, die mich nach jeder Präsentation der Arbeit einen entscheidenden Schritt weiterbrachten. Einen besonderen An‐ teil daran hatten Frau Sabrina Noack-Ziegler, Frau Dr. Bettina Deutsch und Frau Dr. Manuela Franke, denen ich deshalb besonders danke. Meinen Freunden und Freundinnen danke ich für ihre moralische und pro‐ fessionelle Unterstützung, besonders Jürgen Helmchen für die Fensterge‐ spräche. Wilma Melde danke ich für die gemeinsame approche du théâtre. <?page no="16"?> Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Familie, ohne deren ermunternde Worte und tatkräftige Unterstützung ich diese Arbeit nicht hätte zu Ende bringen können. Meinem Mann danke ich für die langjährige und liebevolle Geduld und die intensive Unterstützung in der Endphase der Arbeit. Alexander Kruchten danke ich für die langjährige, professionelle Begleitung und seine un‐ endliche Geduld bei der Arbeit an den Grafiken und am Layout der Arbeit. Meiner Tochter Angela danke ich für ihren liebevollen, kompetenten und kri‐ tischen Blick, ihr Interesse an den Ergebnissen meiner Arbeit und die unter‐ schiedlichen Formen, die sie für ihre Feedbacks fand. Meinem Sohn Martin und seiner Frau Karolina danke ich für ihre moralische und tatkräftige Unterstüt‐ zung auf dem langen Weg in die Zielgerade. Mein Dank gilt auch Carla und Viktor Bergfelder, die mir durch ihr begeistertes Zuhören, Nachfragen und Mit‐ wirken intensive Erzählerlebnisse geschenkt haben. Vorbemerkung 16 <?page no="17"?> Abkürzungsverzeichnis Neben den gebräuchlichen Abkürzungen (s., f., ff., a. a. O., u. a. m.) wurden die nachfolgenden Abkürzungen verwendet: 1AJuw Beispiel für den Codenamen einer Schülerin in Interviewtranskripti‐ onen AT-EZ / 1 Adaptionstext des Erzähltextes einer Erzählstunde (hier der ersten Er‐ zählstunde) EZ / 1 Beispiel für die Nummerierung der Erzählstunden (hier der ersten Er‐ zählstunde) FDM-P Das Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse von Erzählperformances im Fremdsprachenunterricht FDM-R Das Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse produktiver Narrativie‐ rungsleistungen in Rekonstruktionsgesprächen FDM-R-V Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse produktiver Narratvierungs‐ leistungen in Rekonstruktionsgesprächen, Zielprodukt: performativ gestalteter Vortrag von Fortsetzungsgeschichten FDM-R-WBS Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse produktiver Narrativierungs‐ leistungen in Rekonstruktionsgesprächen, Zielprodukt: performativ gestaltete Wort-Bilder-Serie Fg-1 Beispiel für die Nummerierung von Fortsetzungsgeschichten F1-Sw3a Beispiel für die Codifizierung der Zeichnungen der Schülerinnen und Schüler FS Fremdsprache GeR Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen ILKT-EZ / 1 Transkription des Interviews mit den Lehrkräften der ersten Erzähl‐ stunde ISchT- EZ / 1A Transkription des Interviews mit den Schülerinnen und Schülern der Gruppe A der ersten Erzählstunde KJL Kinder- und Jugendliteratur LK Lehrkräfte OT Bezeichnung des Originaltextes PDLK-EZ / 1 Projektdossier der Lehrkräfte einer Erzählstunde (hier von EZ / 1) <?page no="18"?> PM Potenziale-Modell Sm1 Beispiel für den Codenamen eines Schülers in Videotranskriptionen Sp Sprecherinnen und Sprecher SuS Schülerinnen und Schüler TFg-1 Beispiel für die Nummerierung schriftlicher Notizen von Fortsetzungs‐ geschichten VT-EZ / 1 Transkription der Videoaufnahme der ersten Erzählstunde (EZ / 1) Abkürzungsverzeichnis 18 <?page no="19"?> 1 Marie-Célie Agnant wurde mehrmals nach Berlin eingeladen, um vor Studierenden und auch vor Schülerinnen und Schülern der Berliner Schule zu erzählen. Ein Interview mit Marie-Célie Agnant (Agnant / Bergfelder-Boos 2006), Informationen zur Autorin und Erzählerin und weitere Ergebnisse ihrer Berlinbesuche sind auf der Homepage der Di‐ daktik der Romanischen Sprachen und Literaturen der Freien Universität Berlin ver‐ fügbar unter: Das Erzählprojekt im Weiterbildungsstudiengang Französisch (ESPO): http: / / www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/ we05/ romandid/ fort-und-weiterbildung/ erzaehlprojekt/ index.html [28.12.2017] 2 Wie die meisten modernen Erzählerinnen und Erzähler / Storyteller (Kap. 5.4.2) ist Marie-Célie Agnant nicht nur Autorin und Erzählerin, sondern engagiert sich auch im pädagogischen Bereich in Erzählprojekten und Ateliers mit Schülerinnen und Schülern aller Altersstufen. 1 Einleitung Die vorliegende Publikation untersucht das Phänomen des mündlichen Erzäh‐ lens im Fremdsprachenunterricht auf theoretischer und empirischer Ebene. Dabei werden beide Ebenen forschungsmethodisch so aufeinander bezogen, dass daraus Erkenntnisse über das Potenzial mündlichen Erzählens für den Fremdsprachenunterricht gewonnen werden können. Unmittelbarer Anlass zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem mündlichen Erzählen war das Erlebnis einer Erzählperformance im Rahmen einer universitären Lehrveranstaltung. Marie-Célie Agnant, eine fran‐ kophone Erzählerin aus Montréal, stellte die Gattung Märchen als outil d’ap‐ prentissage dans la classe de langue vor, indem sie vor und mit Studierenden der Freien Universität Berlin 1 Märchen eigener Kreation und Märchen ihrer ur‐ sprünglichen Heimat Haïti erzählte. Gemeinsam mit dem Publikum entfaltete sie den Plot der Geschichten, schmückte die eine oder andere Handlungsstation aus und gestaltete sowohl die Erzählerals auch die Figurenrede theatralisch - mithilfe ihrer Körperlichkeit und ihrer Musikalität. Narration und Theater ver‐ banden sich in dieser Vortragsweise zu einer ästhetischen Einheit. Dabei war der pädagogisch-didaktische Wirkungszusammenhang präsent, störte aber nicht das ästhetische Erlebnis. Das war für mich neu und faszinierend. Neugier und Motivation, hinter das Geheimnis dieser Performance zu kommen, waren geweckt. Es schien mir lohnenswert, das Potenzial dieses Instruments der äs‐ thetischen Kommunikation und der Interaktion mit dem Publikum für den Fremdsprachenunterricht auszuloten. Weitere Inspiration lieferten die Ausfüh‐ rungen Marie-Célie Agnants zu ihrem ästhetischen und didaktischen Konzept 2 , <?page no="20"?> 3 s. Nünning 2004d: 483, Fludernik 2010: 10, Martínez 2011b: 1f. Gegenüber dieser Zwei‐ teilung werden in der strukturalistischen Narratologie Genettes drei Ebenen angesetzt (Genette 1972: 71-76, Fludernik a. a. O.): der Erzählakt (l’acte narratif), die Erzählung (le discours narratif) als Text oder als mündliche Rede und die erzählte Geschichte (l‘histoire). Dieser Unterscheidung kommt im Forschungszusammenhang der Studie keine große Bedeutung zu, so dass sie im Folgenden nicht vorgenommen wird. das sie in Gesprächen und Interviews erläuterte. Marie-Célie Agnant betont die Formbarkeit des zu erzählenden Textes im Augenblick der Performance und die Wirkmächtigkeit der mündlich Erzählenden, die ihren Diskurs der Erzählsitu‐ ation anpassen können. Sie richtet ihr Erzählen auf die Teilhabe des Publikums am Erzählen aus und begreift das Erzählen als Recherche neuer Ausdrucks‐ formen. Eine tragende Rolle bei dieser Recherche kommt dem Wortmaterial, der Musikalität der Wörter und dem Rhythmus der Rede zu: [L]e conte pour moi, c´est le matériau premier. Et je dis toujours que le conte, c´est un élastique qu´on peut changer selon la journée, selon… Dans le conte, il y a toute la liberté, tu sais, de se mouvoir. Et souvent, j´encourage les enfants à changer les textes. A changer la fin du texte. En fait, le conte, c´est l´exploration de nouvelles façons, de nouveaux mots, d´une nouvelle musique. C´est ça, l´important pour moi. Pas le conte lui-même. C´est la musique qui va …. C´est le rythme qui va ouvrir les horizons. (Agnant / Bergfelder-Boos 2006: 2) Dieser erste Kontakt mit der Kunst des mündlichen Erzählens lieferte Ideen für ein Forschungsprojekt, bei dem die Auffassung vom Text als Erzählmaterial und die Auffassung vom Erzählen als Recherche im Mittelpunkt stehen sollten. Ich machte mich auf die Suche nach Anknüpfungspunkten für meine Recherche. Erste Auseinandersetzungen mit dem Forschungsgegenstand und der For‐ schungsliteratur ließen vermuten, dass das Potenzial mündlichen Erzählens in seiner Mehrdimensionalität begründet ist (Kap. 3.1). Sie beruht zum einen in der Auffassung vom Narrativen als einem Konstrukt, in dem sich zwei Dimen‐ sionen miteinander verbinden: die Dimension des Erzählten, die histoire, und die Dimension des Erzählens, der discours .3. Sie beruht zum anderen darin, dass an der mündlichen Realiserung einer Erzählung mehrere Zeichensysteme be‐ teiligt sind: verbale, paralinguistische, akustische und visuelle Zeichen. Mit dieser Nähe zum Theater gewinnt das mündliche Erzählen eine weitere Dimen‐ sion: die der Aufführung und des Performativen (Kap. 4.1). Die Recherche führte weiter zur Mehrfunktionalität mündlichen Erzäh‐ lens. Mündliches Erzählen kann in unterschiedlichen Wirkungszusammen‐ hängen eingesetzt werden, von denen in dieser Studie vor allem die Institution Unterricht und die Institution Theater, d.h. die didaktische und die ästhetische 1 Einleitung 20 <?page no="21"?> Anwendung, relevant sind. Aus der Erzählpraxis in anderen Verwendungszu‐ sammenhängen wie dem Erzählen im Alltag oder dem Erzählen in gesellschaft‐ lich-kultureller Praxis (Kap. 5.1) können ebenfalls Anregungen für seinen Ein‐ satz im Fremdsprachenunterricht gewonnen werden. Gerade seine vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten machen das mündliche Erzählen für eine Potenzi‐ alrecherche interessant. Zur Mehrdimensionalität und Mehrfunktionalität des Forschungsgegen‐ standes kommt die Mehrperspektivität seiner Untersuchung im Rahmen dieser Studie hinzu, denn das mündliche Erzählen wird aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven erkundet. Dazu gehören die Perspektive der narrato‐ logischen Forschung (Kap. 3), der Theaterwissenschaft (Kap. 4), außerdem die Perspektive von Erzählpraktikerinnen und -praktikern (Kap. 5.4), der Erzähl- und der Fremdsprachendidaktik (Kap. 6) und vor allem die Perspektive der Un‐ terrichtspraxis und ihrer Akteure (Kap. 8, 9, 10). Diese Perspektive wird durch die Projektarbeit von Teilnehmerinnen und Teilnehmern einer von der For‐ scherin betreuten Lehrkräfteweiterbildung einbezogen. Deren Projektarbeit liefert das empirische Material der Studie. Die bisher genannten Leitideen der Studie sind im Titel der Dissertation wie‐ derzufinden. Es handelt sich um eine explorative Studie, die mit dem Begriff ‚mündliches Erzählen als Performance‘ ihren Forschungsgegenstand aus der werkseitigen und aus der Perspektive ihrer Realisierung als Aufführung erfasst, auf der Basis von Materialien der Weiterbildung empirisch erforscht und sich zum Ziel setzt, die Forschungsergebnisse für die Praxis des Fremdsprachenun‐ terrichts fruchtbar zu machen. 1 Einleitung 21 <?page no="22"?> 2 Gesamtkonzeption der Studie In diesem Kapitel wird die Gesamtkonzeption der Studie präsentiert und die Komplexität des Forschungsvorhabens erläutert. Informationen über die Aus‐ gangssituation und deren Konsequenzen für das Forschungsprojekt (Kap. 2.1.1) eröffnen das Kapitel. Es folgt die Darlegung des Themas, der Zielsetzungen der Studie und der Forschungsdesiderata (Kap. 2.1.2). Anschließend werden die For‐ schungsfragen entwickelt und aufgelistet (Kap. 2.1.3). Kapitel 2.2 stellt die for‐ schungstheoretische und -methodologische Rahmung der Studie vor. Die For‐ schungsentscheidungen (Kap. 2.2.2) werden begründet, die Grundlagen der theoretischen und empirischen Forschungsarbeit (Kap. 2.2.3) und die ange‐ wandten Forschungsverfahren (Kap. 2.3) werden vorgestellt. Kapitel 2.4 legt Überlegungen zu Chancen und Herausforderungen der Komplexität des For‐ schungsvorhabens dar. Es folgt die Präsentation von empirischen Studien aus dem Gebiet der Spracherwerbsforschung und der Fremdsprachendidaktik, die wichtige Impulse zur Konzeption der Studie geben konnten (Kap. 2.5). Abschlie‐ ßend werden der Verlauf der Studie und der Gesamtaufbau des Dissertations‐ textes (Kap. 2.6) dargestellt. 2.1 Forschungsgegenstand und Forschungsziele Die in der Einleitung (Kap. 1) skizzierten Entscheidungen für ein Forschungs‐ vorhaben zum mündlichen Erzählen werden im Folgenden präzisiert und in den Planungs- und Forschungszusammenhang gestellt. 2.1.1 Die Ausgangssituation und ihre Folgen für das Forschungsprojekt Am Anfang des Forschungsprojekts standen, wie bereits ausgeführt, zum einen die Begegnung mit der Erzählerin Marie-Célie Agnant, zum anderen meine Tä‐ tigkeit als Leiterin und Dozentin von zwei aufeinander folgenden berufsbeglei‐ tenden Weiterbildungsstudiengängen Französisch für Lehrkräfte der Berliner Schule von 2004-2007 und 2005- 2008. Diese Situation bot die Chance eines di‐ rekten Zugangs zum Forschungsfeld Schule, denn die Weiterbildungsstudie‐ renden waren während ihres Studiums weiterhin als Lehrkräfte tätig. Der Fran‐ <?page no="23"?> zösischunterricht ihrer Lerngruppen bot sich den Weiterbildungsstudierenden als Experimentierfeld für Erzählprojekte an, für mich als Beobachterin der Er‐ zählprojekte konnte er zum Forschungsfeld meiner Studie werden. Die Weiterbildungssituation bot weitere Vorteile. Sie eröffnete Möglich‐ keiten, Forschung und Lehrkräftebildung sowie Theorie und Praxis miteinander zu verknüpfen. Diese Verbindung konnte über das Erzählen als Gegenstand fachwissenschaftlicher Forschung und als Gegenstand und Kompetenzziel des Fremdsprachenunterrichts hergestellt werden - ganz im Sinne einer Transfor‐ mation fachwissenschaftlicher Inhalte in fachdidaktische und unterrichtsprak‐ tische Fragestellungen, wie sie Steinbrügge als Aufgabe universitärer fachdi‐ daktischer Lehre einfordert: als einen „Versuch, die Wissensbestände der Disziplin für die Schule nicht didaktisch zu reduzieren, sondern zu transfor‐ mieren“ (Steinbrügge 2008: 17). Dies kann realisiert werden anhand von „In‐ halten, die sich an schulische Lernziele und zu vermittelnde Kompetenzen an‐ binden lassen“ (Steinbrügge 2008: 18). Auf diesem Wege konnten die Studierenden einerseits am Forschungsprozess der Forscherin partizipieren und andererseits forschendes Lernen praktisch erproben. Diese für beide Seiten profitable Situation birgt jedoch auch Gefahren für den Forschungskontext in sich. In actu kann sich eine Vermischung der Arbeitsge‐ biete, der Verantwortlichkeiten und der Interessen der am Forschungsprozess Beteiligten ergeben. Diese Situation zu meistern wird sich mir als forschungs‐ ethische und -methodische Aufgabe stellen. Die von mir zur Lösung des Prob‐ lems eingesetzten Strategien werde ich im Zusammenhang mit den Erläute‐ rungen zum Weiterbildungs- und Forschungskontext (Kap. 2.2 und Kap. 8.1) vorstellen. Die Weiterbildungssituation trug einen weiteren problematischen Aspekt in sich. Ich musste mich sofort entscheiden und mit der Projektplanung beginnen, denn die Weiterbildungsstudiengänge waren zeitlich begrenzt. Ich entschloss mich, den ersten Weiterbildungskurs (2004-2007) für ein Pilotprojekt zu nutzen. Die Rahmenbedingungen dieses ersten Studiengangs erwiesen sich jedoch nicht als durchweg projektförderlich. Das Fehlen eines unterrichtspraktischen und fachdidaktischen Lernbereichs in der Studienordnung und die hohe Arbeitsbe‐ lastung der studierenden Lehrkräfte brachten es mit sich, dass ein kontinuier‐ liches, verlässliches und motiviertes Arbeiten nur teilweise zu realisieren war. Diese und andere Voraussetzungen, u. a. meine zum damaligen Zeitpunkt noch nicht weit entwickelten Vorstellungen von einem systematischen Umgang mit empirischen Daten, waren verantwortlich dafür, dass ich aus dem Pilotprojekt zwar Ideen zur Ausarbeitung einer Studie entwickeln und die ‚Stolpersteine‘ des partizipatorischen Ansatzes absehen konnte, aber nicht genügend Möglich‐ 2.1 Forschungsgegenstand und Forschungsziele 23 <?page no="24"?> keiten zur Erprobung der Datenerhebung und -auswertung hatte. Die Lehrkräfte setzten sich intensiv mit dem narrativen Ansatz der Fachdidaktik und der Er‐ zählpädagogik, insbesondere mit den Videoaufnahmen der von Marie-Célie Ag‐ nant gehaltenen Erzählstunden und der literaturwissenschaftlichen Erzählthe‐ orie auseinander. Sie waren jedoch lediglich bereit, Unterrichtsstunden zu entwerfen und zu diskutieren, nicht aber sie durchzuführen. Auch wollten sie keine Videoaufnahmen ihres eigenen Erzählens zulassen. Aus dem Pilotprojekt ergab sich als erste Konsequenz eine Veränderung des Studienplans (Kap. 8.1.1) und des von mir verantworteten Lernbereichs, was ein höheres Maß an Ver‐ bindlichkeit erbrachte. Als zweite Konsequenz für den Forschungskontext wurden bereits im Vorfeld Verantwortlichkeiten geklärt und Verabredungen getroffen (Kap. 8.1.2). Die Entscheidung für das Projekt war getroffen. Einen weiteren, wesentlichen Faktor hatte ich jedoch übersehen. Ich hatte keinen Einfluss auf den Zeitpunkt der Datenerhebung. Die Erzählprojekte waren zu Beginn des Studiengangs im Kontext der vorgesehenen Lehrveranstaltungen durchzuführen. Es blieb keine Zeit für meine eigene intensive Auseinandersetzung mit den neueren, von mir zur Lektüre vorgesehenen wissenschaftlichen Ansätzen. Bei Durchsicht des Materials wurde mir klar, dass ich den performativen Aspekt der in den Erzähl‐ projekten vorgeführten narrativen Aktivitäten nicht ohne eingehendes Studium des Performativen, seiner Theorie und seiner Analyseinstrumente analysieren konnte. Weitere Theoriearbeit war notwendig. Aus den genannten Gründen er‐ gibt sich als dritte Konsequenz der Ausgangslage ein spiralförmiger Verlauf des Forschungsprozesses, in dem Phasen der Feldbeobachtung, der Datenerhebung, der Theoriebildung und der Datenauswertung aufeinander folgen und sich aus‐ einander ergeben. Auf dieselbe Weise veränderten sich Zielsetzungen und Ge‐ samtkonzeption der Studie. Deren endgültige Fassung wird im Folgenden dar‐ gestellt. 2.1.2 Thema, Zielsetzungen und Desiderata Das Thema meiner Arbeit umfasst 1. die Erkundung einer spezifischen Form des Erzählens - des mündlichen Erzählens als Performance, 2. die Verwendung dieser sprachlich-ästhetischen Ausdrucksform im Fremdsprachenunterricht, 3. die Weiterbildungssituation als Arbeits- und Forschungskontext der Pro‐ jektteilnehmerinnen und -teilnehmer und der Forscherin. 2 Gesamtkonzeption der Studie 24 <?page no="25"?> Ziel der Arbeit ist es, die Potenziale des mündlichen Erzählens als Performance für die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht zu erfor‐ schen und damit einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Fremdsprachenun‐ terrichts und der Lehrerbildung zu leisten. Als Arbeitshypothese dieses Vorha‐ bens diente mir von Beginn an die Mehrdimensionalität der Diskursform Erzählen (Kap. 1). Als ich nach erster Durchsicht meines empirischen Materials feststellte, dass die mir zur Verfügung stehenden Analyseinstrumente keinesfalls ausreichten (Kap. 2.1.1), suchte ich zunächst in der fachdidaktischen und literaturwissen‐ schaftlichen Fachliteratur nach Modellen, Konzepten und Instrumenten, mit denen die Mehrdimensionalität mündlichen Erzählens zu fassen sein könnte. Die entscheidenden Anregungen fand ich nicht in der Fachdidaktik, sondern in der interdisziplinären Erzählforschung (Nünning / Nünning 2002c), der inter‐ medialen Erzähltheorie (Wolf 2002a) und der Performancetheorie (Fi‐ scher-Lichte 2004). Diese Ansätze trugen dazu bei, dass ich mehrere Dimensi‐ onen des Forschungsgegenstandes entdecken und aufeinander beziehen konnte. Dazu gehörten in erster Linie die Dimension des in Mündlichkeit sich realisie‐ renden Narrativen und die Dimension des performativ-ästhetischen Handelns. Da die genannten Ansätze jeweils auf eine mehrdimensionale Konzeptuali‐ sierung ihres Forschungsgegenstandes ausgerichtet sind, konnte ich mit ihrer Hilfe drei weitere Dimensionen des Erzählens erfassen: • die Dimension der werkinternen Komponenten und charakteristischen Merkmale des Narrativen und des Performativen, • die Dimension ihrer Realisierung in unterschiedlichen Vermittlungs‐ formen, z. B. als mündliches oder schriftliches verbales Erzählen und als Performance sowie • ihre funktionale Dimension, z. B. Sinn und Bedeutung zu schaffen, zu un‐ terhalten, zu bilden - Funktionen, die in unterschiedlichen Anwendungs‐ feldern auf unterschiedliche Weise realisiert werden. Damit eröffneten sie meiner Forschung die Möglichkeit, den Forschungsgegen‐ stand in zwei große, übergreifende Dimensionen zu gliedern: in eine werkseitige Dimension, die das Narrative und das Performative mit den werkinternen Kom‐ ponenten und Vermittlungsformen erfasst, und in eine werkexterne Dimension, die unterschiedliche Anwendungsmodi in unterschiedlichen Praxisfeldern er‐ fasst. Die Aufgliederung der werkexternen Dimension habe ich unter Zuhilfe‐ nahme der die Praxis des Erzählens erforschenden Fachliteratur (Kap. 2.2.2) vorgenommen. Daraus ergeben sich zwei für das mündliche Erzählen als Per‐ 2.1 Forschungsgegenstand und Forschungsziele 25 <?page no="26"?> formance im Fremdsprachenunterricht relevante werkexterne Dimensionen: die Dimension der gesellschaftlich-kulturellen, erzähldidaktischen und ästheti‐ schen Praxis und die Dimension einer fremdsprachendidaktischen Perspektive auf das mündliche Erzählen. Meine Recherche nach Möglichkeiten der mehrdimensionalen Modellierung mündlichen Erzählens als Performance führte demzufolge zu vier Dimensionen, die sich den zwei großen Dimensionen - der werkseitigen und der werkexternen Dimension ‒ zuordnen lassen. Dies illustriert die folgende Grafik: Abb. 1: Die Dimensionen mündlichen Erzählens als Performance Diese Dimensionen werde ich auf ihre Potenziale für den Fremdsprachenun‐ terricht befragen, auf dieser Grundlage Strukturierungs- und Analysemodelle entwickeln und diese auf die unterrichtliche Praxis anwenden. Aus den Ergeb‐ nissen der theoretischen Arbeit und der empirischen Analyse werde ich pra‐ xisrelevante Konzepte zur Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachen‐ unterricht erarbeiten. Für den Fremdsprachenunterricht sind Zielsetzungen und Ergebnisse des Forschungsvorhabens insofern relevant, als mit ihrer Hilfe Desiderata fremd‐ sprachendidaktischer Forschung aufgearbeitet werden können. Dies aus fol‐ genden Gründen: 1. Die Diskursform mündliches Erzählen wird in der Fremdsprachenfor‐ schung vornehmlich als eine Form monologischen oder interaktiven Sprechens erforscht und erfüllt somit überwiegend dienende Funktion im Hinblick auf die Kompetenz Sprechen (s. Sambanis 2007: 218-227, Diehr / Frisch 2008: 136-115, Grum 2010: 326-354). Ihren Eigenwert darzustellen 2 Gesamtkonzeption der Studie 26 <?page no="27"?> 1 Das Erzählen von Geschichten spielt vor allem in den fremdsprachendidaktischen Pub‐ likationen für das Fremdsprachenlernen in der Grundschule eine Rolle (Bleyhl 2002a, 2002b, Muller 2004, Piepho et al. 2007) bzw. für den Anfangsunterricht (Giribone-Fritz / Muller 2011). Dabei handelt sich jedoch überwiegend um Erläuterungen zur Relevanz des Erzählens für den Spracherwerb und um konkrete Ratschläge zur Arbeit mit Ge‐ schichten, nicht aber um theoretische bzw. empirische Forschung. Besonders für den Englischunterricht der Grundschule gibt es reiches Material zur Arbeit mit Geschichten. Zwei Ausgaben der Zeitschrift Grundschule Englisch (23/ 2008 und 44/ 2013) widmen sich dem Erzählen und Vorlesen von Märchen. Nur wenige fachdidaktische Beiträge und Unterrichtsvorschläge liegen für die Sekundarstufe I vor (Bergfelder-Boos 2007, Çevik / Kräling 2015). ist insofern eine lohnende Aufgabe, als damit Impulse für die fachdidak‐ tische Diskussion um den Einsatz der Diskursform Erzählen als Kompe‐ tenzziel (Bredella 2007, 2012b, Nünning / Nünning 2007, 2010, Hallet 2007) und als Unterrichtsprinzip (Bleyhl 2002b, Muller 2004, Bergfelder-Boos 2007, Mertens 2007, Bredella 2012a, 2012b) - nicht nur für die Grund‐ schule 1 - gegeben werden können. 2. Bisher wurde noch nicht der Versuch unternommen, mithilfe eines in‐ terdisziplinären Ansatzes das Potenzial der narrativen Diskursform und des performativen Gestaltens einerseits und die werkexternen Anwen‐ dungspotenziale andererseits für den Fremdsprachenunterricht auszu‐ loten und diese Zusammenhänge anhand konkreter unterrichtlicher Ak‐ tivitäten zu beobachten. Gleichwohl ist ein solches Vorhaben für die fremdsprachendidaktische Diskussion um den Einsatz der Diskursform von Interesse, denn es erweitert Ziele und Unterrichtsprinzipien um bisher nicht erforschte Dimensionen und stellt Instrumente zu deren Analyse bereit. 3. Die Verknüpfung des Erzählens mit dem Performativen ist darüber hinaus interessant für die fremdsprachendidaktische Diskussion um den Stel‐ lenwert literarischen Lernens im Fremdsprachenunterricht (Bur‐ witz-Melzer 2005, Bergfelder 2007, Bredella 2007, 2012b, Küster 2014, Steinbrügge 2015, 2016), denn damit wird die Diskussion um eine bisher weniger beachtete Dimension literarischen Lernens - die ästhetische Kommunikation im Medium der Mündlichkeit - erweitert. Diesem Desi‐ darat werde ich im Kontext der vor allem von Hallet und Schewe eröff‐ neten Debatte um den performativen Fremdsprachenunterricht nach‐ gehen (Hallet 2010c, Surkamp / Hallet 2015, Schewe 2011, 2015, Kap. 11.3.1 der Studie). 4. Die Ergebnisse der Studie können einen Beitrag zur Theoriebildung für den o. g. performativen Fremdsprachenunterricht leisten, denn der An‐ 2.1 Forschungsgegenstand und Forschungsziele 27 <?page no="28"?> satz verfügt noch nicht über ein konsistentes erzähl- und performance‐ theoretisches Modell. Auch kann sie einen ersten Beitrag zum Auffüllen eines von Bonnet und Küppers (2011: 41-45) im Hinblick auf die Dra‐ menpädagogik erwähntes, auf das performative Erzählen übertragbares Desiderat leisten: Aufgrund der Komplexität des Forschungsgegenstandes liegen bisher kaum Studien vor, die die Wirkungsweise der DP [Dramenpädagogik, Einfügung durch Verf.] im Hinblick auf den Lernzuwachs im Fremdsprachenunterricht systematisch ergründen und damit vorliegende Konzepte empirisch fundieren. (Bonnet / Küppers 2011: 43) Darüber hinaus können die in meiner Studie entwickelten Erzähl- und Analy‐ sekonzepte einen Beitrag für eine theoriebasierte Erzählpraxis, die Becker / Wieler (2013b: 7f. und Kap. 2.5, Kap. 13 der Studie) für den Erstspracherwerb einfordern, für den Fremdsprachenunterricht leisten. Dies gilt insbesondere für den Zusammenhang von Rezeption und Produktion performativer Genres. 2.1.3 Forschungsfragen Die fremdsprachendidaktische Perspektive gibt den Anstoß für die Richtung (Schumann / Steinbrügge 2008b: 8), in die die Forschungsfragen gehen. Deshalb habe ich aus den ersten beiden Aspekten des Themas und den Zielsetzungen des Forschungsprojekts folgende leitende Forschungsfrage entwickelt: Worin besteht das Potenzial des mündlichen Erzählens als Performance und wie kann es zur Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunter‐ richt genutzt werden? Die übergeordnete Forschungsfrage wird in folgende Leitfragen aufgefächert: 1. Welche Potenziale bietet die Diskursform des mündlichen Erzählens für ihren Einsatz im Fremdsprachenunterricht? 2. Welche Potenziale bietet das mündliche Erzählen als Performance? 3. Welche Potenziale bietet das mündliche Erzählen aus kultureller, ent‐ wicklungspsychologischer, erzähldidaktischer und ästhetischer Praxis und aus fachdidaktischer Perspektive? 4. Wie werden die Potenziale des mündlichen Erzählens als Performance in den Erzählstunden sichtbar? Mit welchen Mitteln werden sie realisiert? 2 Gesamtkonzeption der Studie 28 <?page no="29"?> 5. Welche Erfahrungen konnten Lehrende und Lernende in den Erzähl‐ stunden machen und wie beurteilen sie sie? Welche Erkenntnisse konnten sie aus den Erzählstunden gewinnen? 6. Welche Potenziale mündlichen Erzählens als Performance entdecken Lehrende und Lernende in den Erzählstunden? 7. Unter welchen Bedingungen konnten die Potenziale mündlichen Erzäh‐ lens als Performance für die Entwicklung narrativer Diskurse in den Er‐ zählstunden genutzt werden? Welche Rolle spielt die Weiterbildungssi‐ tuation? 8. Welchen Beitrag kann das mündliche Erzählen als Performance für die Weiterentwicklung narrativer und performativer Kompetenzziele und Prinzipien des kompetenzorientierten Fremdsprachenunterrichts leisten? Unter den Leitfragen 1-3 werden die charakteristischen Merkmale des mündli‐ chen Erzählens und der performativen Gestaltung aus werkseitiger und werk‐ externer Perspektive herausgearbeitet, unter den Leitfragen 4-6 wird das empi‐ rische Material der Studie untersucht. Unter Fragestellung 4 werden die Erzählstunden analysiert, unter Fragestellung 5 und 6 die Stellungnahmen der Lehrenden und Lernenden zu den gemeinsam gestalteten und erlebten Erzähl‐ stunden. Unter Fragestellung 7 werden die Ergebnisse der empirischen Unter‐ suchung ausgewertet und auf die Weiterbildungssituation bezogen. Fragestel‐ lung 8 gibt einen Ausblick auf Nutzungs- und Erweiterungsmöglichkeiten der Studie. 2.2 Forschungstheoretische und -methodologische Rahmung Im folgenden Kapitel werden die zur Erarbeitung des Forschungsgegenstandes und zur Realisierung seiner Ziele getroffenen forschungsmethodologischen und -methodischen Entscheidungen dargelegt und vor dem Hintergrund der Mehr‐ dimensionalität des Forschungsgegenstandes und der mehrperspektivischen Forschungsfragen diskutiert. 2.2.1 Verortung des Vorhabens im fremdsprachendidaktischen Forschungsfeld Folgt man der von Grünewald / Küster vorgeschlagenen, auf dem Didaktischen Dreieck (Decke-Cornill / Küster 2010: 3, Klippel 2016a: 26) beruhenden Drei‐ 2.2 Forschungstheoretische und -methodologische Rahmung 29 <?page no="30"?> 2 Grünewald/ Küster unterscheiden zwischen folgenden drei Bereichen: „den Gegen‐ ständen des Lernens und Lehrens, den Akteuren der Lern- und Lehrprozesse, den Pro‐ zessen und den Ergebnissen des Lernens und Lehrens“ (Grünewald / Küster 2009: 76). Bausch / Christ / Krumm (2007b: 1) und Klippel (2016a: 28) unterscheiden zwischen vier Feldern. S. auch Gnutzmann / Königs / Küster 2011, Schumann / Steinbrügge 2008b. 3 Die in Kapitel 2.2 zitierten Beiträge von Caspari, Klippel, Legutke und Schramm 2016 sind dem 2016 erschienen und von ihnen herausgegebenen Handbuch „Forschungs‐ methoden in der Fremdsprachendidaktik“ entnommen. Die Einteilung der Forschungs‐ traditionen, der Forschungsarbeiten u. a. m. bilden das Gesamtkonzept des Handbuchs und liegen deshalb allen Beiträgen zugrunde. gliederung 2 der Forschungsfelder (Grünewald / Küster 2009: 76), so ist das Thema der Studie im Feld der Lerngegenstände und im Feld der Prozesse und Ergebnisse des Lehrens und Lernens vertreten. In der von Caspari 2016a vor‐ genommenen Einteilung 3 in Forschungsfelder ist die Studie in vier Feldern an‐ zusiedeln, und zwar 1. im Feld der Lernforschung, denn sie „untersucht die komplexen Voraus‐ setzungen, Prozesse und Ergebnisse individuellen und kooperativen Spra‐ chenlernens unter […] gesteuerten Bedingungen.“ (Caspari 2016a: 15), 2. im Feld der Konzeptforschung, denn sie zielt auf die „Entwicklung und systematische Analyse umfassender Konzepte und tragender Konstrukte der Fremdsprachendidaktik“ (a. a. O.), 3. in Teilen im Feld der Kompetenzforschung, denn die Studie leistet mit der Entwicklung eines mehrdimensionalen Modells zur Analyse von Narra‐ tivierungsleistungen einen Beitrag zur Modellierung von Erzählfähigkeit, 4. in Teilen auch der Lehr- und Professionsforschung, denn sie geht auch Fragen der Weiterbildung nach. 2.2.2 Forschungsentscheidungen der Gesamtstudie Eine wichtige, die weiteren Forschungsentscheidungen leitende Frage betrifft das Verhältnis von Theorie und Praxis im Forschungsdesign (Caspari 2011, 2016d). Die Frage bezieht sich auf den Ausgangspunkt der Forschung, die Ziele, die Forschungsverfahren und die Rolle der Praxis in der Theoriebildung: Geht man von bereits vorliegenden Theorien, d.h. von elaborierten Theorien, Mo‐ dellen oder Konzepten (zur Unterscheidung vgl. Kron 1999: 77-78), auch aus anderen Disziplinen, aus oder ist die beobachtbare bzw. erlebte Praxis der Ausgangspunkt? Danach ist zu entscheiden, welches Ziel mit der Forschungsarbeit verfolgt wird: Möchte man primär einen Beitrag zur Theoriebildung oder primär einen Beitrag für die Praxis leisten? In Abhängigkeit von Ausgangspunkt und Zielsetzung der For‐ 2 Gesamtkonzeption der Studie 30 <?page no="31"?> schungsarbeit sind unterschiedliche Forschungszugänge und -designs geeignet. (Ca‐ spari 2016d: 366) Was den Ausgangspunkt der Forschung betrifft, so besteht das primäre Ziel meiner Studie in der Weiterentwicklung unterrichtlicher Praxis und der fremd‐ sprachlichen Lehrkräftebildung (Kap. 2.1). Mein Interesse richtet sich vor allem auf die Einbeziehung ästhetischer Praxis in den Fremdsprachenunterricht. Für diese Zielsetzung möchte ich für das mündliche Erzählen als Performance Mo‐ delle und Konzepte für die Unterrichtspraxis erarbeiten. In den von Caspari (2016d: 364-369) entwickelten fünf Grundtypen des Theorie-Praxis-Bezugs ordnet sich das Projekt damit in Typ 3 ein. Berücksichtigt man bei der Klärung des Theorie-Praxis-Bezugs meines Forschungsprojekts auch die Rolle der Wei‐ terbildung und die Anteile von Aktionsforschung (Kap. 2.2.3), so ergibt sich eine Mischung von Typ 3 und Typ 5: Besteht das Ziel der Forschung in der systematischen und überprüfbaren Veränderung konkreter Praxissituationen, so eignet sich Typ 5. Ausgehend von der Analyse dieser Praxis werden theoriegeleitete Handlungsmöglichkeiten erarbeitet und systematisch erprobt. (Caspari 2016d: 368) Der Theorie-Praxis-Bezug der Studie und ihre auf die Erkundung des Potenzials einer Diskursform und die Entwicklung von Modellen und Konzepten ausge‐ richteten Forschungsziele führen zu einer Verortung des Vorhabens in der theo‐ retischen Forschungstradition: Theoretische Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass sie bemüht ist, den Gegen‐ standsbereich Lehren und Lernen von Fremdsprachen und seine verschiedenen Teil‐ bereiche zu bestimmen, zu systematisieren, Konzepte zu entwickeln bzw. diese einer kritischen Reflexion zu unterziehen und / oder angesichts […] neuerer Forschungs‐ ergebnisse weiter zu entwickeln. Theoretische Forschung ordnet empirische Befunde, systematisiert Phänomene des Gegenstandsbereichs, entwirft handlungsleitende Mo‐ delle und erörtert deren Grenzen und Reichweite. (Legutke 2016a: 39) Die zu ordnenden und zu systematisierenden Befunde empirischer Forschung werden allerdings nicht nur aus vorhandenen empirischen Ergebnissen, son‐ dern auch aus eigens für den Zweck der Potenzialrecherche erhobenen Daten gewonnen und in einer empirischen Studie dargestellt und ausgewertet. Die Empirie dient in dieser Konzeption des Forschungsvorhabens 1. der Überprüfung der Ergebnisse der Potenzialrecherche und der erarbei‐ teten Modelle und ggf. ihrer Überarbeitung (Kap. 9.4), 2.2 Forschungstheoretische und -methodologische Rahmung 31 <?page no="32"?> 2. der Konkretisierung und Erweiterung der Potenzialrecherche, denn erst die Analyse der Unterrichtspraxis wird den spezifischen Gebrauch der Potenziale zeigen (Kap. 9.4, 10.5), 3. der Entwicklung eines Erzählkonzepts für den Fremdsprachenunterricht (Kap. 11.3). Als ‚Auslöser‘ und Ausgangspunkt des Forschungsvorhabens ist die Empirie der theoretischen Forschung zeitlich vorgelagert. Sie ist außerdem ständiger Be‐ gleiter und Fundament der theoretischen Arbeit, denn diese greift bei der Arbeit an den Modellen laufend auf das empirische Material zurück und das empirische Material löst bei erneuter Lektüre weitere Fragen aus, die auf theoretischer Ebene geklärt werden. Da die Ergebnisse der Praxis in Verbindung mit den Er‐ kenntnissen der theoretischen Forschung zu einem theoriebasierten Unter‐ richtskonzept führen, ist die Praxis auch an der Theoriebildung beteiligt (Ca‐ spari 2016b: 70). Beide Teile der Studie sind verbunden durch ein gemeinsames Sprach- und Kommunikationskonzept. Das Sprach- und Kommunikationskonzept Die mehrdimensionale Potenzialrecherche verlangt nach einem komplexen Sprach- und Kommunikationskonzept, das die kommunikativen Aktivitäten von Lehrenden und Lernenden nicht nur unter kognitiven, sondern auch emo‐ tionalen und körperlichen Aspekten erfasst (Hu 2001: 21ff.) und sowohl verbale als auch non-verbale Zeichen als Bestandteil der narrativen Interaktion begreift. Dazu gehören u. a. der Ausdruck von Gefühlen, das Aufnehmen, Verweigern und Beenden von Kontakten, dazu gehören die Mittel der Kommunikation wie z. B. Prosodie, Gestik, Mimik, Bewegung, Rhythmus. Auf der Basis eines solchen Sprach- und Kommunikationskonzepts kann ich die beim mündlichen Erzählen als Performance eingesetzten Kommunikationsmittel in ihrer semiotischen Viel‐ falt in den Blick nehmen und nicht nur die referenzielle Funktion von Sprache, sondern auch ihre expressive, phatische und poetische Funktion berücksich‐ tigen. Die Grundlagen der theoretischen Forschungsarbeit Die Zusammenstellung der Texte und Dokumente (Legutke 2016b: 61-66) für die theoretische Forschungsarbeit erfolgt unter mehrperspektivischen und inter‐ disziplinären Gesichtspunkten. Es werden unterschiedliche Arten von Texten und Dokumenten aus unterschiedlichen Wissensbereichen so ausgewählt, dass die Potenzialrecherche der Komplexität des o. g. Sprach- und Kommunikations‐ konzepts gerecht werden kann. 2 Gesamtkonzeption der Studie 32 <?page no="33"?> 4 Was ihre wissenschaftlichen Ansätze betrifft, so vertreten die konsultierten Texte mit dem kognitiven und intermedialen Ansatz (Wolf 2002a), dem transgenerischen und transmedialen (Nünning / Nünning 2002d) und dem semiotischen Ansatz Fischer- Lichtes (2004, 2005a-e, 2007, 2009) unterschiedliche Facetten poststrukturalistischer Wissenschaftsorientierung. Zur Exploration der Perspektive der Erzählpraktikerinnen und -praktiker werden zwei populärwissenschaftliche Texte ( Jean 1990, Rodari 1979) und zwei Dokumente herangezogen - ein Filmdokument, das die Erzählerin Marie-Célie Agnant beim Erzählen mit Berliner Schülerinnen und Schülern (Agnant 2006a, 2006b) zeigt, und ein Interview mit der Erzählerin (Agnant / Bergfelder-Boos 2006). Die Texte und Dokumente liefern Anschauungsmaterial für den krea‐ tiven, ‚handwerklichen‘ Aspekt professionellen Erzählens und für die Realisie‐ rung der phatischen, expressiven und poetischen Funktion der Sprache. Zur Exploration der Potenziale des Forschungsgegenstandes werden wissen‐ schaftliche Texte unterschiedlicher Disziplinen herangezogen: • zur Erkundung der werkinternen Potenziale Texte der literaturwissen‐ schaftlichen Erzählforschung (Fludernik 2010, Martínez 2011b, Nünning 2004d, Reuter 1991, Wolf 2002a, 2004), der sprachwissenschaftlichen Er‐ zählforschung (Ehlich 2007), der Theaterwissenschaft (Fischer-Lichte 2005a-e, 2007, 2009) und der Theaterpädagogik (Schewe 2011, 2015, War‐ detzky 2007), • zur Erkundung der werkexternen Potenziale Texte der Kulturwissen‐ schaft (Bruner 1997, Straub 1998), der Erzählerwerbsforschung und der Erzähldidaktik (Boueke et al. 1995, Becker / Wieler 2013a, Ohlhus 2013, Stude 2013) und der Fremdsprachendidaktik (Bleyhl 2002b, Nünning / Nünning 2007, 2010, Bredella 2012b). Unterschiedlich sind auch die Forschungsschwerpunkte 4 . Mit ihrer Hilfe können verschiedene Komponenten des Forschungsgegenstandes erkundet werden: • die Medialität des Narrativen mithilfe intermedialer Forschungsansätze (Wolf 2002a, 2004, Rajewsky 2002), • das Mündlichkeitsprinzip mithilfe der Oralitätsforschung (Koch-Oester‐ reicher 1985, Ong 1987, Nänny 1988, Raible 1988a, 1988b, Müller-Ober‐ häuser 2004a, 2004b), • das Performative mithilfe der Performancetheorie (Fischer-Lichte 2004), • der interaktive Aspekt mithilfe gesprächstheoretischer Ansätze (Hausen‐ dorf / Quasthoff 1996, Gühlich / Hausendorf 2000; Quasthoff 2001, 2012), 2.2 Forschungstheoretische und -methodologische Rahmung 33 <?page no="34"?> • die prosodische Gestaltung mithilfe der Phonologie (Pompino-Marschall 2003, 2010a, Sokoll 2001, Bußmann 2008, Glück 2010, Hall 2011), • das Literarische mithilfe der Fiktionalitätsforschung (Hempfer 2002a, 2002b, Kablitz 2008), der Märchenforschung (Lüthi 2005, Lange 2007b, Perrot 2004) und der kinderliterarischen Forschung (Lypp 1984, Ewers 1990, 1991a, 1991b, 2000a, 2000b, O’Sullivan 2000). Die interdisziplinäre und mehrperspektivische Textauswahl verhindert eine Fo‐ kussierung auf den referenziellen Aspekt von Sprache. Der gesprächstheoreti‐ sche Ansatz erschließt die phatische, der theatersemiotische die expressive und poetische Funktion von Sprache. So unterschiedlich wie die Forschungsschwerpunkte sind auch die For‐ schungsparadigmen der ausgewählten Texte, denn es werden auch empirische Studien herangezogen, die Impulse für die Erkundung des Potenzials der nar‐ rativen Diskursform und ihrer Entwicklung im Sprachunterricht geben (Kap. 2.5). Die Textsammlung wird durch den Gemeinsamen europäischen Referenz‐ rahmen für Sprachen (Europarat 2001, im Folgenden GeR) ergänzt. Dessen Kom‐ petenzbeschreibungen dienen mir zur Situierung der narrativen Diskursform in den Bereichen rezeptiver und produktiver sprachlicher Aktivitäten und prag‐ matischer Kompetenzen. Die Gelenkstelle zur empirischen Forschung übernimmt ein Erzähltext (Gou‐ gaud 1999b), der von den Projektteilnehmerinnen und -teilnehmern zur Gestal‐ tung ihrer Erzählperformances genutzt wird. Er wird als prototypischer Erzähl‐ text mithilfe der erarbeiteten Analyseinstrumente zu Beginn des empirischen Teils der Studie vorgestellt (Kap. 9.1) und dient mir im Laufe der theoretischen Arbeit als Instrument der Veranschaulichung und der Orientierung. Die Grundlagen der empirischen Forschungsarbeit Die Grundlagen der empirischen Forschung bilden halboffizielle Dokumente, die im Rahmen der Projektarbeit und der Weiterbildung entstanden sind, und Daten, die in diesem Rahmen erhoben wurden (s. die Datengewinnung in Kap. 2.3.1). Dazu gehören: • halboffizielle Dokumente wie die Arbeitsdossiers der Projektteilnehme‐ rinnen und -teilnehmer sowie unterrichtsbezogene Produkte, • qualitative, diskursive Daten wie die in Projektarbeit entstandenen Er‐ zählstunden und die Stellungnahmen der Akteure der Erzählstunden. Diese Dokumente liefern mir Anschauungsmaterial für den werkexternen Ge‐ brauch der narrativen Diskursform im anvisierten Zielfeld. 2 Gesamtkonzeption der Studie 34 <?page no="35"?> 5 Zur Entdeckung des fremdsprachlichen Klassenraums als Feld ethnografische For‐ schung s. Hu 2001, Müller-Hartmann 2001, Gnutzmann / Königs / Küster 2011). 2.2.3 Forschungsentscheidungen der empirischen Studie Aus den Forschungszielen, dem Kontext der Datenerhebung und den im Fol‐ genden erläuterten Forschungsentscheidungen ergibt sich das qualitative Pa‐ radigma der Studie (s. für die Sozialwissenschaften Bortz / Döring 2006: 296ff., Flick / Kardorff von / Steinke 2007b: 13-23, Prengel / Friebertshäuser / Langer 2010: 17-39, für die Fremdsprachenforschung Hu 2001: 12f.; Caspari / Helbig / Schmelter 2007: 499, Grotjahn 2006: 247-270, 2007: 494f., Riemer 2006: 454, Schramm 2016: 52). Da es im empirischen Teil der Studie darum geht, die nar‐ rativen Interaktionen der Akteure des Unterrichts in deren Aktionsfeld situati‐ onsbezogen zu erforschen und daraus Erkenntnisse über den Gebrauch der Po‐ tenziale mündlichen Erzählens als Performance zu gewinnen und da zur Auswertung der Daten interpretative Verfahren angewandt werden sollen, liegt eine Festlegung auf das explorativ-interpretierende Paradigma vor, in dem […] das Ziel verfolgt [wird], zu einem Verstehen komplexer Zusammenhänge zu ge‐ langen, wie sie beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen entstehen. Dieses Ver‐ stehen geschieht mittels einer detaillierten und zugleich umfassenden Beschreibung und Interpretation des entsprechenden Wirklichkeitsbereichs (Exploration). (Ca‐ spari / Helbig / Schmelter 2007: 499) Die beiden von mir gewählten diskursiven Daten, der Erhebungskontext und die gewählten Untersuchungsperspektiven geben der Studie eine ethnografi‐ sche Ausrichtung, für die eine wichtige Einschränkung gilt: Die Datensamm‐ lung erfolgt nicht „unter hochgradig unkontrollierten Bedingungen“ (Schramm 2016: 51). Andere, für die ethnografische Forschung wesentliche Merkmale treffen jedoch auf meine Studie zu. Im Rekurs auf die von Müller-Hartmann vorgetragenen Prinzipien ethnografischer Forschung für das fremdsprachliche Klassenzimmer lassen sich folgende ethnografische Charakteristika meiner Studie festhalten (Müller-Hartmann 2001) 5 : die Forschung in natürlichen Set‐ tings (Kap. 2.1.1), die aktive Rolle der Beforschten innerhalb des Forschungs‐ prozesses (Kap. 8.1), die Verknüpfung der Außensicht auf den Forschungsge‐ genstand mit der Innensicht der Akteure (Kap. 10) und eine mehrfache Perspektivierung des Forschungsgegenstandes durch Daten- und Methodentri‐ angulation (Kap. 12.4). 2.2 Forschungstheoretische und -methodologische Rahmung 35 <?page no="36"?> 6 In der Bildungswissenschaft werden die Begriffe Praxis- und Aktionsforschung meist synonym gebraucht, manchmal wird der Begriff Praxisforschung übergreifend ver‐ wendet. Einzelfallstudien als Basisdesign der empirischen Studie Die Wahl des Basisdesigns ergibt sich aus dem Weiterbildungskontext. Dieser bietet die Möglichkeit, die Unterrichtsprojekte der Teilnehmerinnen und -teil‐ nehmer als Forschungsgrundlage zu wählen. Zwischen den Polen Einzelfall und Vergleichsstudie ist meine Studie in einer Zwischenstufe (Flick 2007a: 254) an‐ gesiedelt und „stellt die Verbindung mehrerer Fallanalysen dar, die als solche durchgeführt werden und dann komparativ oder kontrastierend gegenüber ge‐ stellt werden.“ (Flick a. a. O.) Dabei wird ein in der Fremdsprachendidaktik an‐ gewandtes „engeres Verständnis von Fallstudie zugrunde gelegt: Fallstudie ver‐ standen als eine mehrmethodische Untersuchung unterschiedlicher Konstituenten eines oder mehrerer komplexer Fälle.“ (Caspari 2016b: 69). Die Verknüpfung der Einzelfallstudie mit Prinzipien von Aktionsforschung Legt man die von der Bildungswissenschaft und seit den 2010er Jahren auch in der Fremdsprachendidaktik vertretene Konzeption von Praxis- und Aktionsfor‐ schung 6 zugrunde, so sind einige wichtige Charakteristika von Aktionsfor‐ schung in den Projekten der Weiterbildungslehrkräfte realisiert (Altrichter/ Posch 2007: 15ff., Altrichter / Aichner / Soukup-Altrichter / Welte 2010: 803, Hermes 1997: 5ff., Bergfelder-Boos 2011, Prengel 2010: 785f., Caspari 2016c: 72f.). Dazu gehört vor allem der subjektbezogene Ansatz, denn in diesem Projekt sind Lehrkräfte nicht nur ‚Beforschte‘, sondern werden selbst als Forschende ihres eigenen Unterrichts tätig. Weitere Merkmale von Aktionsforschung sind die innovative, auf die Weiterentwicklung ihrer Praxis ausgerichtete Zielsetzung der Projekte, ferner die prozesshafte Verbindung von Aktion im Unterricht und Reflexion in der Weiterbildung, die Perspektivierung der Forschung durch Ein‐ beziehung unterschiedlicher Sichtweisen sowie die kollegial-kooperativen Ar‐ beitsformen und die Einbettung der Forschung in eine professionelle Gemein‐ schaft. Ein weiteres Merkmal - eine aus der Praxis sich ergebende Fragestellung - trifft nur bedingt zu, denn die Motivation zur Erkundung des Potenzials mündlichen Erzählens ist zwar eine für die Praxis relevante Fragestellung, sie 2 Gesamtkonzeption der Studie 36 <?page no="37"?> 7 Die Forschungsliteratur geht inzwischen nicht mehr von einem „defizitären Lehrer‐ modell“ (Hermes 1997: 6) aus, bei dem Problemsituationen des Unterrichtsalltags als Auslöser und als Ausgangspunkt von Lehrerforschung fungieren, sondern sieht das Durchbrechen von Unterrichtsroutine durch Diagnose und Reflexion praktischer Un‐ terrichtsfragen als Grundmotivation an. In diesem Verständnis ist Praxisforschung „le‐ benslanges Programm“ (Hermes 1997: 6) und dient der Lehrkräfteprofessionalisierung. entstand jedoch außerhalb des Praxisfeldes 7 . Nur in Ansätzen vorhanden ist der „wissenschaftlich-reflexive Habitus“ (Altrichter / Posch 2007: 337), der sich in einem systematischen methodischen Vorgehen realisieren müsste, das Prengel für die Praxisforschung wie folgt beschreibt: Alle systematischen Methoden der Praxisforschung enthalten im Kern zwei Phasen: erstens diagnostizieren sie „was ist“, zweitens entwerfen sie, „wie es weitergeht“. Die vorhandene Perspektive auf den „Fall“ wird analysiert und zum Ausgangspunkt ge‐ nommen für intendierte und inszenierte Suche nach neuen Perspektiven. (Prengel 2010: 791) Für die Lehrkräfte dieser Weiterbildung wird ihre eigene Unterrichtssituation nicht zum ‚Fall‘. Sie führen weder eine selbstständige Datenerhebung wie z. B. eine Befragung der Schülerinnen und Schüler noch eine systematische Daten‐ auswertung auf der Grundlage ausgewiesener methodischer Verfahren durch. Die sehr zeit- und arbeitsaufwändige Projektarbeit sollte machbar, die inhaltli‐ chen und organisatorischen Anforderungen sollten überschaubar sein. Aus den bisher erläuterten Aspekten folgt, dass die Projektarbeit der Lehrkräfte lediglich Elemente von Aktionsforschung enthält. Diese verleihen ihr ein besonderes Profil, das in Abgrenzung vom o. g. wissenschaftlich-reflexiven Habitus als ex‐ perimentierend-reflektierend charakterisiert werden kann. Anders verhält es sich mit dem Projekt der Forscherin. Für sie stellen die Ergebnisse der Unter‐ richtsprojekte die Einzelfälle dar, die systematisch, anhand ausgewiesener For‐ schungsmethoden untersucht werden. Chancen und Herausforderungen dieses Forschungskontextes werden im Zusammenhang mit der Präsentation der Pro‐ jektarbeit und der Darstellung der Datenerhebung erläutert (Kap. 8.1). 2.3 Forschungsverfahren und Forschungsinstrumente Zur Umsetzung der Zielsetzungen und Forschungsentscheidungen wähle ich einen Mehr-Methodenansatz, mit dessen Hilfe sich eine reichhaltige und de‐ taillierte Beschreibung des Forschungsgegenstandes realisieren lässt (Riemer 2006: 452). 2.3 Forschungsverfahren und Forschungsinstrumente 37 <?page no="38"?> 2.3.1 Datenerfassung und -gewinnung Zur Durchführung der empirischen Studie werden einige für den ethnografi‐ schen Ansatz und die Einzelfallstudie typische Verfahren der Datenerfassung und -gewinnung eingesetzt: die Sammlung unterrichtsbezogener Dokumente (1), die Beobachtung (2) und die Befragung (3). 1. Das Erfassen von Dokumenten (Kap. 2.2.2), die im Rahmen der Projekt‐ arbeit entstehen, bietet sich an, weil diese den Arbeitsprozess der Lehr‐ kräfte und die Ergebnisse der narrativen Aktivitäten der Lernenden auf besonders gewinnbringende Weise abbilden: Der große Gewinn der Arbeit mit unterrichtsbezogenen Texten liegt darin, dass diese nicht gezielt für Forschungszwecke verfasst wurden, sondern in natürlichen Kontexten entstanden sind. Das heißt, dass es keine durch Designs und Instru‐ mente sonst notwendigerweise einhergehende Beeinflussungen, Begrenzungen und Artefakte gibt, sondern dass sie das Resultat authentischer Lehr-/ Lernbzw. Aus- und Weiterbildungssituationen in der Gegenwart oder der Vergangenheit sind. (Caspari 2016e: 200) 2. Das Verfahren der Beobachtung bietet sich an, weil auf diese Weise die Gestaltung der Erzählperformances und die narrative Interaktion der Ak‐ teure der Erzählstunden erfasst werden können. Als Instrument der Be‐ obachtung werden die direkte Beobachtung und die Videografie einge‐ setzt. Die direkte Beobachtung nutze ich, um mir einen unmittelbaren, nicht durch die Kamera gefilterten akustischen und visuellen Eindruck von der unterrichtlichen Aktion und dem ästhetischen Erlebnis der Per‐ formances zu verschaffen. Ich führe sie durch als observer-as-participant (Schramm / Götz 2016: 143) aus überwiegend etischer Perspektive (s. die Diskussion dieser Problematik in Kap. 8.1.3). Allerdings nutze ich das In‐ strument der direkten Beobachtung nicht zur Auswertung des empiri‐ schen Materials, sondern stütze mich auf das zweite Erhebungsverfahren, die Videografie. Die Videografie eignet sich in besonderem Maße zur mehrdimensionalen Erforschung des mündlichen Erzählens. Das Daten‐ material ist dynamisch und vielschichtig (Burwitz-Melzer 2001: 137), weil es sowohl das Verbale als auch das Non-Verbale, das Körperliche und das Atmosphärische einfängt und Möglichkeiten bietet, das Material in Mikro- und Makrosequenzen einzuteilen und damit einzelne Szenenaus‐ schnitte, aber auch den Gesamtablauf in den Blick zu nehmen. 2 Gesamtkonzeption der Studie 38 <?page no="39"?> 3. Das Verfahren der Befragung von Lehrenden und Lernenden bietet sich an, weil mit ihrer Hilfe die Innenperspektive der Akteure erforscht werden kann: Mit Blick auf das allgemeine Erkenntnisinteresse der Erforschung des Lehrens und/ oder des Lehrens von Fremd- und Zweitsprachen, bietet es sich häufig an, hierfür gerade die Protagonisten - die Lehrenden und Lernenden - selbst mit ihrer Binnensicht zu Wort kommen zu lassen. Es hat aber auch damit zu tun, dass viele Untersuchungsgegenstände (wie etwa Erfahrungen, Einstellungen, Motiva‐ tionen oder Haltungen von Lehrenden und Lernenden) nicht aus der Außenper‐ spektive beobachtbar sind […]. (Riemer 2016: 155) Als Erhebungsinstrument dient mir das leitfadengestützte Interview mit halboffenen Fragestellungen. Dieses Format hat gegenüber dem erzähl‐ generierenden Interview den Vorteil, dass ich die theoretischen Voran‐ nahmen zum Potenzial mündlichen Erzählens in die zu erfragenden The‐ menkomplexe einbeziehen, die Interviewten nach einem einheitlichen Fragengerüst befragen und gleichzeitig auch vertiefende, auf den spezi‐ fischen Fall eingehende Zusatzfragen stellen kann: Leitfaden-Interviews setzen ein Vorverständnis des Untersuchungsgegenstandes auf Seiten der Forschenden voraus, denn das Erkenntnisinteresse richtet sich in der Regel auf vorab bereits als relevant ermittelte Themenkomplexe. Deren Be‐ deutung kann sich aus Theorien, eigenen theoretischen Vorüberlegungen, bereits vorliegenden Untersuchungen, ersten eigenen empirischen Befunden oder ei‐ gener Kenntnis des Feldes ableiten. (Friebertshäuser / Langer 2010: 439) Die Interviews sollen retrospektiv im Anschluss an die Erzählstunden als Gruppeninterviews geführt werden. Ich gehe davon aus, dass die Inter‐ viewpartnerinnen und -partner unmittelbar nach einer gemeinsam ge‐ stalteten Erzählstunde ein Bedürfnis nach Austausch haben, das sie in das Interviewgespräch hineintragen können. Ihre Interaktion kann als zu‐ sätzliche Erkenntnisquelle genutzt werden (Caspari / Helbig / Schmelter 2007: 502, Deutsch 2016: 95). Darüber hinaus sind pragmatische Gründe ausschlaggebend, denn die Gruppendiskussion ist weniger zweitauf‐ wändig und lässt sich unter schulorganisatorischen Bedingungen besser realisieren als Einzelinterviews. 2.3 Forschungsverfahren und Forschungsinstrumente 39 <?page no="40"?> 2.3.2 Datenauswertung Zur Auswertung der Dokumente und Daten werden folgende interpretative Verfahren angewandt: 1. Texte und Dokumente werden mithilfe funktionaler Textanalysen unter‐ sucht. Die Kriterien dieser Analysen werden im konzeptionellen Teil der Studie entwickelt. 2. Um die Vielschichtigkeit und Dynamik der Erzählstunden anhand der Videoaufnahmen zu erfassen, werde ich Analyseverfahren entwickeln, mit deren Hilfe ich unterschiedliche Aspekte im Detail und in ihrem Zu‐ sammenwirken untersuchen kann. Dazu gehören die gesprächsanalyti‐ sche (Kap. 9.2.2.2, Kap. 9.3.2.1) und die theatersemiotische Analyse der Erzählperformances (Kap. 9.2.2, Kap. 9.3.2) sowie die Interaktionsanalyse der narrativen Aktivitäten (Kap. 9.2.3, Kap. 9.3.3). Die Analysen erfolgen auf der Basis von Kriterien der Analysemodelle, die ebenfalls im konzep‐ tionellen Teil erarbeitet werden. 3. Um die Innenperspektive der Akteure möglichst unvoreingenommen zu erfassen, werde ich die Leitfadeninterviews durch eine Kombination von zusammenfassender und strukturierender Inhaltsanalyse (Mayring / Brunner 2010: 328; Schmidt 2010: 473-486) auswerten. Einen Überblick über die dem Forschungsdesign zugrunde liegenden methodi‐ schen Entscheidungen enthält die folgende Übersicht: 2 Gesamtkonzeption der Studie 40 <?page no="41"?> Methodologie Theoretische Rahmung Datenauswahl, Datenerhebung und -aus‐ wertung Forschungstra‐ dition: theoretische Forschung & empirische Studie Generalisie‐ rungsziel: - Potenziale‐ modell - Analysemo‐ delle - Konzepte für die Unterrichts‐ praxis Grundlagen der Theoriearbeit: intermediale Narratologie semiotische Performance‐ theorie - Theorien des Erzählerwerbs - Erzähldidaktik Empirische Ar‐ beit: - Einzelfälle - Ethnografie - Elemente von Aktionsfor‐ schung Methoden der Erhe‐ bung ausgewählte Daten Methoden der Auswertung Beobach‐ tung Videoauf‐ nahmen semiotische Analyse - Interaktions‐ analyse Dokumen‐ tensamm‐ lung - Märchentext - Unterrichts‐ dokumente funktionale Textanalyse Befragung Leitfadeninter‐ views - Inhaltsanalyse Tab. 1: Das Forschungsdesign der Studie im Überblick 2.4 Chancen, Herausforderungen, Konsequenzen des komplexen Vorhabens Neben der Chance auf eine vielfältige Erkundung des Gegenstandes und seiner Einsatzmöglichkeiten hält der komplexe Ansatz der Studie aber auch Stolper‐ steine bereit. Für die Forscherin bedeutet es eine Herausforderung, das Vorhaben in einer für das Format der Studie und die zur Verfügung stehenden Ressourcen angemessenen Form zu bewältigen. Aus dieser Situation habe ich folgende Kon‐ sequenzen gezogen: Exemplarisches Vorgehen Aus der Vielzahl erzähltheoretischer Arbeiten greife ich auf die in der aktuellen Erzählforschung aufgrund ihrer wegweisenden, impulsgebenden Ansätze meist rezipierten Autorinnen und Autoren zurück und untersuche ihre Texte exemp‐ larisch für die von ihnen vertretenen Forschungsrichtungen. Dasselbe gilt für alle weiteren Disziplinen (Kap.2.2.2) und die Auswahl der empirischen Studien (Kap. 2.5). 2.4 Chancen, Herausforderungen, Konsequenzen des komplexen Vorhabens 41 <?page no="42"?> Materialreduktion Was das erhobene Datenmaterial betrifft, so werde ich den Datensatz reduzieren und lediglich zwei Erzählstunden und die dazu gehörenden Interviews für eine systematische Datenaufbereitung und -auswertung vorsehen (zur Begründung der Auswahl s. Kap. 8.2.2). Die andern drei Erzählstunden werden in Form von Kurzberichten so aufbereitet, dass sie punktuell ergänzend herangezogen werden können. Umfang und Tiefe der theoretischen und empirischen Analyse Im Gegenzug zur Materialreduktion setze ich auf Tiefe und Präzision der Ana‐ lyse. Aus diesem Grund werde ich ein umfangreiches Repertoire non-verbaler Zeichen zusammenstellen (Kap. 4.3) und deren performative Verwendung in den Erzählstunden (Kap. 9) analysieren. Die detaillierte Darstellung hat den Vorteil, reiches Material für die Entwicklung des Erzählkonzepts und Anschauungsma‐ terial für interessierte Praktikerinnen und Praktiker zu liefern, sie hat aber auch den Nachteil eines umfangreichen Textvolumens. Die Zusammenfassung der Ergebnisse am Ende des Kapitels (Kap. 9.4) bietet dafür einen Ausgleich. Spiralförmiges Vorgehen und Bearbeitungszeit Die relativ lange Bearbeitungszeit und das Hin und Her zwischen theoretischer und empirischer Arbeit bot die Chance, theoretische Ansätze und Analysein‐ strumente zu überarbeiten und zu schärfen sowie neue Impulse aufzunehmen. Dies betrifft vor allem einige empirische Studien, die ich vor, während und auch nach Abschluss der Datenauswertung nicht als Forschungsgrundlage (Kap. 2.2.2), sondern als Impulsgeber für ausgewählte Aspekte der Potenzialrecherche nutzen konnte. Diese Zusammenhänge werden im folgenden Kapitel gezeigt. 2.5 Impulsgebende empirische Untersuchungen zum mündlichen Erzählen Die von mir ausgewählten empirischen Untersuchungen sind - mit einer Aus‐ nahme - in den Nullerjahren der Erst-, Zweit- und der Fremdsprachenforschung entstanden. Es handelt sich um Studien zur Sprach- und Erzählentwicklung vor allem von Kindern im Grundschulalter (Becker 2013a). Sie sind für mein For‐ schungsprojekt von besonderem Interesse, weil sie ihre Fragestellungen mit denen der Erzählforschung und -didaktik verbinden. Ziel der Erzählforschung der Nullerjahre war es, in kritischer Auseinandersetzung mit den Ergebnissen 2 Gesamtkonzeption der Studie 42 <?page no="43"?> der Erzählforschung der 80er und 90er Jahre (z. B. dem Stufenmodell von Boueke et al. 1995) Neuansätze einer Erzähldidaktik zu entwickeln, die bisher vernach‐ lässigte Faktoren der Erzählentwicklung und ihrer Förderung in der Schule be‐ rücksichtigt. Dazu gehören z. B. die Abhängigkeit der Erzählkompetenz von der Erzählsituation und dem Erzählgenre (Becker 2013b) sowie die Aktivierung von Ressourcen des Wissens und Könnens der Lernenden und der Erzählsituation (Schramm 2006). In den Zehnerjahren ziehen Becker / Wieler 2013b in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband Erzählforschung und Erzähldidaktik heute eine erste Bilanz der Bemühungen um Einwirkung auf die Erzählwirklichkeit der Schule: Der Blick auf die Schulpraxis stellt sich für die gegenwärtige Erzählforschung und Erzähldidaktik als besondere Herausforderung dar, zumal dort trotz der festen Ver‐ ankerung im Curriculum, und damit auch im Unterricht vor allem der Primarstufe, weder ein erzähldidaktisches Konzept noch ein Konzept von Erzählen selbst kon‐ sensfähige Verbreitung gefunden haben. Als mögliche Ursache dafür wurde angeführt, dass viele didaktische Ansätze unvermittelt nebeneinander stehen, und selbst aktuelle Förderkonzepte für das Vor- und Grundschulalter schwer miteinander vereinbar sind. Damit einher geht wiederum, dass maßgebliche Erkenntnisse der Erzählforschung die (Vor-)Schulpraxis nicht erreichen. (Becker / Wieler 2013b: 7f.) Das von Becker / Wieler evozierte Desiderat, das sich auf den Erstsprachenun‐ terricht bezieht, stellt für mich einen wichtigen Anknüpfungspunkt dar. In meinem Forschungsansatz verbindet sich - wie von Becker / Wieler angemahnt - die Suche nach dem Potenzial mündlichen Erzählens mit der Absicht, die konkreten Bedingungen des Erzählens anhand konkreter Unterrichtsaktionen zu erforschen und auf dieser Basis ein konsensfähiges performatives Erzähl‐ konzept für den Fremdsprachenunterricht zu entwickeln. Möglicherweise kann die Verknüpfung von Weiterbildung und Elementen von Aktionsforschung, die meiner Forschungsarbeit zugrunde liegt, einen Beitrag zu der von Becker / Wieler anvisierten Praxiseinwirkung leisten (Kap. 11.3.3). Die ausgewählten empirischen Studien werden im Folgenden kurz vorgestellt und deren Impulse für die Studie benannt. Flader / Hurrelmann 1984: eine Studie zum freien Erzählen in der Erstsprache Die von Dieter Flader und Bettina Hurrelmann zu Beginn der 80er Jahre durch‐ geführte Studie zum freien Erzählen im Unterricht (1984: 223-241) ist für meine Studie im Hinblick auf ihre Fragestellungen und Analysekriterien von Interesse. Flader / Hurrelmann untersuchen, ob und unter welchen Bedingungen das freie, 2.5 Impulsgebende empirische Untersuchungen zum mündlichen Erzählen 43 <?page no="44"?> spontane, alltägliche Erzählen im Unterricht möglich ist. Das empirische Mate‐ rial der Studie bilden die in der Erstsprache der Probanden durchgeführten Er‐ zählstunden in zweiten und dritten Grundschulklassen. Zielgenre ist die münd‐ lich erzählte Erlebnisgeschichte. Die Analyse der Erzählstunden geht zwei Leitfragen nach: Welche Idee von einer ‚guten Erzählung‘ dient dem Lehrer, der ‚freies‘ Erzählen in den Unterricht aufnimmt, als Orientierungspunkt für seine Kommentare und Inter‐ ventionen? […] Welche Konflikte ergeben sich für den Lehrer und die Schüler aus dem Transfer der Form des alltäglichen Erzählens in die Unterrichtssituation? (Flader / Hurrelmann 1984: 226) Zur Analyse der Aktivitäten von Lehrenden und Lernenden wird ein dreiglied‐ riges Interaktionsschema zur Einbettung des Erzählens in den Klassenzimmer‐ diskurs entwickelt. Auf der Basis des Interaktionsschemas werden Charakteris‐ tika der narrativen Interaktion zwischen den erzählenden Kindern und den Lehrkräften, die die Erzählungen der Kinder begleiten, herausgearbeitet. Zwei Impulse für meine Studie zum Erzählen als Performance ergeben sich aus den Erzählstundenanalysen von Flader / Hurrelmann: 1. Die von ihnen erarbeiteten Einmischungsstrategien der Lehrkräfte boten mir schon vor der Lektüre der Studie von Schramm 2006 Anregungen zur Entwicklung von Kriterien zur Analyse der Rolle von Lehrkräften in der narrativen Interaktion. 2. Die Frage nach den Vorstellungen der Lehrkräfte von einer ‚guten Er‐ zählung‘ und nach möglichen Konflikten, die sich aus dem Transfer dieser Vorstellungen in die Unterrichtspraxis ergeben und die nach Einschät‐ zung von Becker / Wieler (2013b) immer noch ein Problem der Erzähl‐ praxis in der Schule darstellen, haben mich dazu angeregt, die Rolle von Erzählkonzepten der Weiterbildungsstudierenden zu reflektieren und sie in die Interpretation meiner Analyseergebnisse einzubeziehen. Karen Schramm 2006: eine Studie zur Interaktion bei Erzählungen in der Zweitsprache Die von Schramm durchgeführte Studie zur narrativen Interaktion in der Grund‐ schule (mit dem Schwerpunkt Deutsch als Zweitsprache) ist für meine Studie interessant im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Kriterien zur Analyse von Lehrkräftestrategien (Flader / Hurrelmann 1984), die Schramm als narrative Scaffolding-Verfahren vorstellt. Das empirische Material der Studie bilden In‐ teraktionen von Lehrkräften mit Schülerinnen und Schülern der ersten und zweiten Klassen der Grundschule, von denen im Durchschnitt 80 Prozent 2 Gesamtkonzeption der Studie 44 <?page no="45"?> 8 Die Dissertation von 2001 erschien 2013 in 4. unveränderter, mit einem Vorwort ver‐ sehenen Auflage. Sie wird im Folgenden mit Becker 2013a zitiert. Deutsch als Zweitsprache sprechen. Schramm untersucht das Potenzial schuli‐ schen Erzählens für die langfristige zweitsprachige Förderung in der Grund‐ schule. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das narrative Scaffolding, d.h. die Unterstützung der Lernenden durch soziale Interaktion. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen […] Korrekturen, bei denen der Sprecher seinen Mitteilungsfokus aufgibt, und Repa‐ raturen, bei denen der Sprecher seine Äußerungsabsicht mit Hilfe des Hörers reali‐ sieren kann (Schramm 2006: 171), legt Schramm ihren Untersuchungen die drei folgenden Analysekriterien zu‐ grunde: „(a) Selbstvs. Fremdinitiierung, (b) Selbstvs. Fremddurchführung, (c) Reparatur vs. Korrektur.“ (a. a. O.) Den von ihr untersuchten Interaktionsbei‐ spielen entnimmt sie zwei unterschiedliche Scaffolding-Verfahren. Das erste wird durch sog. didaktische Fragen (Schramm 2006: 173f.) umgesetzt. Diese dienen der Lehrkraft meist nicht zur Klärung von Verständnisproblemen, son‐ dern zur Fehlerkorrektur und Ausrichtung der Erzählung nach ihren Vorstel‐ lungen bzw. der Orientierung am Original. Das zweite erfolgt durch sog. genuine Fragen (Schramm 2006: 176), affektive Markierungen und inhaltliche Erweite‐ rungen. Diese Verfahren dienen dem „Ausbau der Geschichte“ (a. a. O.). Das erste Verfahren birgt die Gefahr, dass der Sprechende seinen Beitrag abbricht, das zweite hilft ihm, seine Sprechabsicht weiterzuverfolgen. Die Unterscheidung zwischen narrativer Korrektur und narrativer Unterstützung und zwischen den beiden kommunikativen Absichten nehme ich als weitere Anregung zur Ent‐ wicklung von Analysekriterien der narrativen Interaktion. Tabea Becker 2013 4 : eine Studie zur Erzählentwicklung in der Erstsprache Die von Becker Ende der 90er Jahre im Rahmen ihrer Dissertation (2001) 8 durchgeführte Untersuchung zur Erzählentwicklung von Kindern im Vorschul- und Grundschulalter ist für meine Studie von Interesse im Hinblick auf ihre zentrale Frage nach dem Zusammenhang von Erzählleistung und Erzählform und im Hinblick auf die ihrer Erzählanalyse zugrunde gelegten Untersuchungs‐ dimensionen und Analyseinstrumente. Becker untersucht vier verschiedene, von den Kindern erzählte Formen: Erlebnis- und Phantasiegeschichten, die sie Primärerzählungen zuordnet, sowie Bildergeschichten und Nacherzählungen, die sie reproduktiven Erzählungen zurechnet. Zur Analyse der vier Erzähl‐ formen entwickelt Becker in Auseinandersetzung mit verschiedenen erzählthe‐ 2.5 Impulsgebende empirische Untersuchungen zum mündlichen Erzählen 45 <?page no="46"?> 9 Die drei Dimensionen sind: mündliches Erzählen geformt als sprachliche Einheit, glo‐ balstrukturiert von einem übergeordneten Erzählschema und eingebettet in eine kom‐ munikative Situation. 10 Als Passung kann folgender Verlauf angesehen werden: zuerst mündlicher Vortrag oder Vorlesen einer Geschichte (Präsentation), dann interaktive mündliche Nacherzählung der Geschichte (Erzählsituation). 11 Das Projekt „Förderunterricht Deutsch-als-Zweitspracherwerb - eine longitudinale Untersuchung zur mündlichen Sprachkompetenz bei Schülerinnen und Schülern nicht-deutscher Herkunftssprache (ndH) in Berlin (FöDaZ)“ - wurde 2003-2005 unter der Leitung von Ulrich Steinmüller, der Ko-Leitung von Bernt Ahrenholz und unter Mitarbeit von Beate Lütke und Martina Rost-Roth durchgeführt. Seit 2010 wird es an den Universitäten Jena und Augsburg weitergeführt. oretischen Ansätzen, vor allem mit dem interaktiven Ansatz von Hausendorf / Quasthoff (1996) und dem schematheoretischen Ansatz von Boueke / Schülein (1991), einen dreidimensionalen Erzählbegriff 9 , der für die Entwicklung meines Erzählmodells relevant ist. Folgende Impulse für meine Studie ergeben sich aus ihrer Untersuchung: 1. Von großem Interesse sind die Zusammenhänge, die Becker zwischen den Bedingungsfaktoren mündlichen Erzählens nachweist. Sie zeigt, dass sich eine Passung zwischen der Präsentation der Erzählung und der Erzählsi‐ tuation positiv auf die Erzählungen der Lernenden auswirkt 10 . Dieser Passung werde ich bei der Analyse der Erzählstunden nachgehen. 2. Als wichtigsten Impuls ihrer Studie kann ich die von ihr recherchierten narrationsspezifischen Kriterien der Analyse von Erzähltexten und -dis‐ kursen zur Konstruktion von Analysemodellen nutzen (Kap. 3.1.1, Kap. 5.3.1). Ahrenholz 2006b: eine Studie zur Entwicklung mündlicher Sprachkompetenz Die unter Ko-Leitung von Bernt Ahrenholz im Rahmen des DFG-Projekts FöDaZ 11 von 2003 bis 2005 durchgeführte Studie (Ahrenholz 2006a: 91-109) zur Entwicklung mündlicher Sprachkompetenzen bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund ist für meine Studie von Interesse wegen ihrer de‐ taillierten, erzähltheoretisch basierten Analyseinstrumente und eines ihrer zentralen Ergebnisse. Ziel der Studie von Ahrenholz ist eine empirisch basierte Beschreibung mündlicher Sprachkompetenzen von Schülerinnen und Schülern dritter und vierter Grundschulklassen. Informanten sind 29 Schüler mit Migra‐ tionshintergrund und acht Kinder mit Deutsch als Erstsprache aus zwei unter‐ schiedlichen Berliner Grundschulen. Schwerpunkt der Untersuchung sind die Diskurstypen Beschreiben und Erzählen und - bezogen auf die Diskursformen 2 Gesamtkonzeption der Studie 46 <?page no="47"?> - vor allem Fragen der Kohärenzbildung. Erzählaufgaben für die Schülerinnen und Schüler sind freie Erlebniserzählungen sowie Nacherzählungen von Filmen, mündlich präsentierten Geschichten und Bilderfolgen. Für meine Studie ergeben sich folgende Impulse: • Mit der Unterscheidung von Haupt- und Nebenstrukturen einer Erzäh‐ lung nach dem Quaestio-Modell (Kap. 3.1.1) gewinnt Ahrenholz ein In‐ strument für eine präzise Beschreibung von Erzählkompetenzen im Erst‐ spracherwerb. • Die Ergebnisse seiner Studie zeigen einen Zusammenhang von fortge‐ schrittener Sprachkompetenz und häufigem Einsatz von Hauptstrukturen und Ausgestaltung von Nebenstrukturen - gegenüber einer Fokussierung auf das „Skelett einer Handlung“ (Ahrenholz 2006b: 106). Beide Ergebnisse werde ich als Anregung zur Gestaltung der Analysemodelle gebrauchen. Diehr / Frisch 2008: eine Studie zur Förderung und Beurteilung von Sprechleistungen im Englischunterricht der Grundschule Die unter Federführung von Diehr und Frisch von 2005 bis 2007 durchgeführte TAPS-Studie (Testing and Assessing Spoken English in Primary Scool) zur Fest‐ stellung und Beurteilung der Sprechleistungen von Grundschülerinnen und -schülern im frühen Fremdsprachenunterricht Englisch ist für meine Studie von Interesse wegen ihres praxisbezogenen Forschungsansatzes und ihres diskurs‐ spezifischen Schwerpunkts. Den Forscherinnen der TAPS-Studie ging es vor allem um die Bereitstellung von standardbasierten und gleichzeitig praxistaug‐ lichen Diagnoseinstrumenten für die Unterrichtspraxis. Diese wurden in Ko‐ operation mit Lehrkräften der Grundschule und ihren Lerngruppen, 216 Schü‐ lerinnen und Schülern dritter und vierter Klassen, entwickelt, erprobt und evaluiert. Die von den beteiligten Lerngruppen gelieferten Sprechdaten wurden, vergleichbar mit der Datengewinnung meiner Studie, im Rahmen von Unter‐ richtssequenzen erhoben. Langfristiges Ziel war es, den Schülerinnen und Schü‐ lern mithilfe geeigneter Aufgaben und Sprechanlässe die Möglichkeit zu ver‐ schaffen „in kleinen Schritten vom imitativen zum produktiven und schließlich zum freien Sprechen“ (Diehr / Frisch 2008: 8) zu gelangen und diese Fortschritte datenbasiert nachzuweisen. Zur progressiven Entwicklung der Sprechleis‐ tungen von Ein-Wort-Äußerungen bis zum kohärenten Diskurs wurden acht 2.5 Impulsgebende empirische Untersuchungen zum mündlichen Erzählen 47 <?page no="48"?> 12 Dazu gehören in aufsteigendem Schwierigkeitsgrad u. a. der Minidalog, das Rollenspiel, das Präsentieren, Erzählen, Berichten und als höchste Stufe das freie Sprechen. Diskursformen ausgewählt und von den Lernenden erarbeitet 12 . Für jede Dis‐ kursform wurden Lernaufgaben und Beurteilungsbögen entwickelt, mit deren Hilfe die Sprechleistungen nicht nur allgemein, sondern auch diskursspezifisch erfasst werden. Folgende Impulse für meine Studie ergeben sich aus den Unter‐ suchungen der TAPS-Studie: 1. Die für die Forscherinnen überraschend guten Ergebnisse der Studie, d.h. der Nachweis guter, progressiv sich entwickelnder diskursiver Fähig‐ keiten der Grundschullernenden, geben Hinweise auf ein Fähigkeitenpo‐ tenzial, das im weiterführenden Unterricht der Sekundarstufe als Res‐ source genutzt und weiterentwickelt werden kann. Vor allem aber geben die mehrfach von den Forscherinnen erläuterten Voraussetzungen der guten Sprechleistungen - die Abhängigkeit der Kompetenzentwicklung von den gestellten Aufgaben und Arbeitsaufträgen (Diehr / Frisch 2008: 64) - Anregungen zur Erforschung dieser Zusammenhänge in dem von den Erzählprojekten gestellten Datenmaterial. 2. Die im Ansatz mehrdimensional konzipierten Beobachtungsbögen zur Leistungsfeststellung geben weitere Anregungen für die Konzeption des Analyseinstrumentariums meiner Studie. 2.6 Verlauf und Gesamtaufbau der Studie Das folgende Ablaufschema bietet einen Überblick über den spiralförmigen Verlauf des Forschungsprozesses der Studie: Forschungsphase Forschungskontext und Material‐ bezug Ja‐ nuar 2006 Zugang zum Feld (1): erste Feldbeo‐ bachtungen in der Weiterbildung und der Schule Erzählperformances der Erzählerin Marie-Célie Agnant in Berliner Schulen, Interviews mit Marie-Célie Agnant SoSe 2006 erste Konzeption und Durchführung eines Erzählcurriculums im ersten Weiterbildungsstudiengang (Pilot‐ studie) erster Weiterbildungskurs Franzö‐ sisch (2004-2007) 2 Gesamtkonzeption der Studie 48 <?page no="49"?> Reflexion der Ergebnisse der Pilot‐ studie Entwicklung narrationstheoretischer und -praktischer Vorannahmen, erste Literaturrecherche 2006- 2007 Theoriebildungsphase (1) funktionale Aufarbeitung literatur‐ wissenschaftlicher, linguistischer und fachdidaktischer Narrationstheorie Überarbeitung und Durchführung des Erzählcurriculums zweiter Weiterbildungskurs Franzö‐ sisch (2005-2008) 2007- 2008 Theoriebildungsphase (2) Aufarbeitung von forschungsmetho‐ dologischer Literatur und von Akti‐ onsforschungsliteratur erste Forschungsentscheidungen Überlegungen zur Datenerhebung, Verabredungen mit den Akteuren Durchführung des Erzählcurriculums Planung der Erzählprojekte durch die Lehrkräfte Zugang zum Feld (2): Unterrichtsbeo‐ bachtung der Forscherin, Datenerhe‐ bung Videoaufnahmen der Erzählstunden, Interviews mit den Akteuren 2008- 2009 Datenaufbereitung (1) Transkription der Interviews, erste Entwürfe von Videotranskriptionen Datenauswertung (1): erste Durch‐ sicht des Materials wiederholtes Anschauen der Video‐ filme, punktuelle Analyse von Filmse‐ quenzen, erste Durchsicht der Inter‐ viewtexte 2009 Theoriebildungsphase (3) Aufarbeitung forschungsmethodolo‐ gischer Literatur Datenauswertung (2): zweite Durch‐ sicht des Materials Interaktionsanalyse des Falls EZ / 1, punktuelle Analyse des Falls EZ / 2 Theoriebildungsphase (4) Aufarbeitung von gesprächsanalyti‐ scher Erzähltheorie und Mündlich‐ keitsforschung Verfassen einiger Theoriekapitel in vorläufiger Fassung Analyse von Erzähltexten, Entwurf eines Kommunikationsmodells 2010- 2011 Theoriebildungsphase (5) Aufarbeitung von Aspekten der Thea‐ tersemiotik, suprasegmentaler Phono‐ logie, Intermedialitätsforschung und Theorie des Performativen 2012 Datenauswertung (3): erneute Durch‐ sicht des Materials Erarbeitung der Analysemodelle unter Einbeziehung semiotischer, phonolo‐ gischer, intermedialer, interaktionaler und performativer Aspekte 2.6 Verlauf und Gesamtaufbau der Studie 49 <?page no="50"?> Datenaufbereitung (2) systematische Datenauswertung (4) Überarbeitung der Videografie, er‐ neute, erweiterte Analyse der Erzähl‐ stunden mithilfe der Analysemodelle 2013 Verfassen des Theorieteils A Kapitel 1-7 2014- 2015 Verfassen des empirischen Teils B Kapitel 8-9 Datenauswertung (5) Inhaltsanalyse der Interviews Schreiben des empirischen Teils B Kapitel 10 2016 Theoriebildungsphase Auswertung der Ergebnisse der Studie, Erarbeitung der Konzepte für die Unterrichtspraxis Formulieren der Ergebnisse der Studie, Verfassen von Teil C der Arbeit Kapitel 11, 12, 13 Überarbeitung des Manuskripts Tab. 2: Ablaufschema der Studie Die Ergebnisse des Forschungsprozesses werden in der vorliegenden Studie in einem Dreierschritt dargestellt. Der konzeptionelle Teil A (Kap. 3-7) erkundet die Potenziale mündlichen Erzählens als Performance in den vorgesehenen vier Dimensionen. Verbunden mit der Potenzialrecherche werden in diesen Kapiteln die für die Analyse der Erzählperformances und der narrativen Aktivitäten der Lernenden relevanten Kriterien entwickelt und in Analysemodellen dargestellt. Kapitel 7 führt in einem Zwischenfazit die Ergebnisse des konzeptionellen Teils zusammen und erstellt ein mehrdimensionales Potenziale-Modell. Der empirische Teil B (Kap. 8-10) enthält die detaillierten Analysen der Videografien der beiden ausgewählten Erzählstunden und die Analysen der In‐ terviews mit ihren Akteuren. Kapitel 10.3 führt die empirischen Analyseergeb‐ nisse zusammen. Es vergleicht die in den Erzählstunden sichtbar gewordenen Potenziale mit den von den Akteuren entdeckten Potenzialen. Die in Teil A er‐ stellten Modelle werden überarbeitet. Im abschließenden Teil C werden die Ergebnisse des konzeptionellen und des empirischen Teils der Studie zusammengeführt und Impulse zur performa‐ tiven Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht formuliert. Kapitel 11 erläutert die in der Analyse der Erzählstunden ermittelten Gelin‐ gensbedingungen zur Ausschöpfung der Potenziale mündlichen Erzählens und entwickelt auf dieser Basis praxisorientierte Konzepte. Kapitel 12 reflektiert den Forschungsprozess der Studie, erläutert ihre Gütekriterien und diskutiert ihre 2 Gesamtkonzeption der Studie 50 <?page no="51"?> Reichweite. Kapitel 13 gibt einen Ausblick auf Möglichkeiten, die Ergebnisse der Studie für den kompetenzorientierten und performativen Fremdsprachenun‐ terricht zu nutzen und weiterzuentwickeln. 2.6 Verlauf und Gesamtaufbau der Studie 51 <?page no="53"?> Teil A: Mündliches Erzählen als Performance: konzeptionelle Grundlagen <?page no="55"?> 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen In diesem Kapitel werden die Potenziale der werkseitigen, narrativen Dimension mündlichen Erzählens als Performance erforscht. Ausgehend von dem inter‐ medialen Erzählmodell Werner Wolfs (Kap. 3.1) werden zunächst die Natur des Narrativen als kognitives Schema, die Konstituenten des Modells, die Funkti‐ onen des Narrativen sowie seine prototypischen Elemente und damit die Gra‐ duierbarkeit des Narrativen erläutert. Die intermediale Konzeptualisierung des Narrativen liefert zum einen die konzeptionellen Voraussetzungen zu einer mehrperspektivischen Recherche des Erzählpotenzials, zum andern die struk‐ turellen Potenziale der narrativen Diskursform. Nach der intermedialen Öff‐ nung der Perspektiven wird in einem zweiten Schritt (Kap. 3.2) eine mediale Realisierung, das verbale Erzählen, in den Blick genommen und aus der Dis‐ kursform mündlich-verbales Erzählen dessen kommunikatives und interaktives Potenzial ermittelt. Der dritte Schritt (Kap. 3.3) fokussiert auf das Potenzial fik‐ tionaler Erzählungen und der vierte auf das Potenzial des Märchens als Genre der Allgemein- und der Kinder- und Jugendliteratur (Kap. 3.4). In einem letzten Schritt (Kap. 3.5) wird das Potenzial der Medialität mündlichen Erzählens er‐ kundet. Dabei wird unterschieden zwischen der medialen und der konzeptio‐ nellen, werkinternen Mündlichkeit. Strategien der Modellierung konzeptio‐ neller Mündlichkeit werden erläutert. In Kapitel 3.6 werden aus den zuvor erörterten Merkmalen des Narrativen und des mündlich-verbalen Erzählens Kriterien zur funktionalen Interpretation mündlich-verbaler Erzählungen ent‐ wickelt und der erste Teil des Fünf-Dimensionen-Modells zur Analyse von Er‐ zählperformances wird erstellt. Kapitel 3.7 stellt die Potenziale der narrativen Dimension im Gesamtzusammenhang dar. 3.1 Intermediale, grenzüberschreitende Konzeptualisierung des Narrativen In diesem Kapitel (3.1) werden die strukturalistische Modellbildung und davon abgegrenzt die intermediale Modellierung des Narrativen erörtert und daraus die konstitutiven (Kap. 3.1.1) und prototypischen (Kap. 3.1.2) Elemente des Er‐ zählmodells entwickelt. <?page no="56"?> 1 Die in der poststrukturalistischen Narratologie geführte Diskussion einer Verzichtbar‐ keit des Erzählers (Kablitz 2008: 28-42) - bezogen auf schriftlich und mündlich verbale Kommunikation - würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die Vermittlungsinstanz des Erzählers wird in dieser Arbeit als notwendig für das mündlich-verbale Erzählen, nicht aber für andere mediale Realisierungen des Erzählens gesetzt. 2 Scheffel unterscheidet zwischen den textwissenschaftlichen und den neueren, „post‐ klassischen“ (Scheffel 2010: 329) Ansätzen, die „im Zeichen des ‚cultural turn’ und des nachlassenden Interesses für eine als reine ‚Textwissenschaft’ verstandenen Philologie“ (a. a. O) entwickelt wurden. Er beruft sich hierbei auf den einleitenden Beitrag von Nünning / Nünning (2002d) in dem von ihnen herausgegebenen Handbuch zur Erzähl‐ theorie (2002c). Die systematischen Modellbildungen der textwissenschaftlich orientierten, strukturalistischen Narratologie beschränken sich überwiegend auf das verbale Erzählen (Scheffel 2010: 328f., Nünning 2004b: 160, Fludernik 2010: 118f.). Eine Forschungsrichtung dieser Narratologie pflegt einen weiten Begriff des Erzäh‐ lens, in dem „als notwendig die Darstellung der zeitlichen Sequenzialität eines Geschehens, nicht aber der Entwurf von Geschichten“ (Scheffel 2010: 329) an‐ gesehen wird. Eine zweite Forschungsrichtung fasst den Begriff enger und for‐ dert als zusätzliches Kriterium das der Kausalität (a. a. O.) ein. Bei beiden Rich‐ tungen, d.h. in „jeder Art von narratologischer Modellbildung“ (a. a. O.), gilt die Unterscheidung zwischen der Tätigkeit Erzählen und ihrem Produkt, der Er‐ zählung, sowie die Unterscheidung zwischen histoire und discours als grundle‐ gend. Zentral für die textwissenschaftlich ausgerichtete Narratologie ist darüber hinaus die Annahme einer erzählerischen Vermittlungsinstanz 1 . Die bisher ge‐ nannten, „als kanonisch“ (a. a. O.) angesehenen Konstituenten strukturalisti‐ scher Erzähltheorie, das Zwei-Ebenen-Modell und die Annahme der Erzählin‐ stanz sowie ein weiter Begriff des Erzählens, werden in der vorliegenden Studie der narratologischen Konzeption des Forschungsgegenstandes Erzählen zu‐ grunde gelegt. Da ich mich nicht auf die Untersuchung rein verbaler Vermitt‐ lungsformen beschränken möchte, werde ich weitere Modellierungen des Nar‐ rativen heranziehen. Dazu gehören narratologische Forschungsrichtungen, die der postklassischen Phase der Narratologie (Scheffel 2010: 330) zugerechnet werden, einen kognitivistischen Ansatz verfolgen und die pragmatische Di‐ mension des Erzählens (Nünning 2004b: 160) in ihre Modellbildungen einbe‐ ziehen 2 . Postklassische narratologische Ansätze sehen das Erzählen als ein interme‐ diales, grenzüberschreitendes Phänomen an (u. a. Nünning / Nünning 2002d: 1-22, Wolf 2002a: 23). Ansgar und Vera Nünning versuchen, von der in der klas‐ sischen Phase der Narratologie vertretenen monomedialen zu einer transgene‐ rischen, intermedialen und interdisziplinären Auffassung des Narrativen (Nün‐ 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 56 <?page no="57"?> 3 Nünning / Nünning sehen drei in der postklassischen Erzähltheorie vollzogene Grenz‐ überschreitungen (Nünning / Nünning 2002d: 3f.). Grenzen werden, Nünning / Nünning zufolge, überschritten zwischen klassischen narrativen Genres wie z. B. dem Roman und anderen als ‚affin’ narrativ angesehenen Genres wie dem Drama, zum anderen zwischen Erzähltexten und Realisierungen des Narrativen in anderen Medien wie z. B. dem Film und letztlich zwischen philologischer Forschung und anderen Forschungs‐ bereichen wie der Geschichtswissenschaft, der Psychologie, den Sozialwissenschaften, den Kultur- und Medienwissenschaften, der Pädagogik u. a. m. 4 Dazu gehören die „klassischen“ literaturtheoretischen Ansätze (s. dazu die Darstellung von Erzähltypologien in Fludernik 2010: 103-123 und Scheffel 2010: 328f.). Als bahn‐ brechende Innovation in Richtung eines intermedialen Konzepts wird in der Forschung vor allem das Texttypenmodell Chatmans (Nünning / Nünning 2002d: 7 und Fludernik 2010: 118) genannt, der seinem Modell einen „weiten Begriff von Narrativität“ (Nün‐ ning / Nünning a. a. O.) zugrunde legt. Darin wird unterschieden zwischen erzähler‐ vermittelten Gattungen wie der Novelle und solchen, die ohne die Vermittlung eines Erzählers auskommen wie z. B. dem Film. Diese Unterscheidung liegt auch dem Modell von Wolf zugrunde (Wolf 2002a: 42). ning / Nünning 2002d: 1-22) zu gelangen und, anknüpfend an die Ergebnisse der klassischen Phase, neue Modelle für eine grenzüberschreitende Erzähltheorie zu entwickeln, die sich nicht auf das verbale Erzählen beschränkt. Erzählen, so Nünning / Nünning, habe Hochkonjunktur (2002b: 2) in vielen Gattungen und Medien 3 . Die sich darin repräsentierenden narrativen Formen und deren unter‐ schiedliche Funktionen sind „seit einigen Jahren zu einem zentralen Anliegen unterschiedlicher Disziplinen geworden (a. a. O.)“. Zu diesen Disziplinen ist auch die Fremdsprachenforschung zu rechnen, in der Erzählungen einerseits als Un‐ tersuchungsobjekte, andererseits als Darstellungsmodi genutzt werden. Die von Werner Wolf (Wolf 2002a, 2002b) entwickelte Konzeptualisierung des Narrativen stellt einen ersten systematischen Versuch narratologischer Neu‐ konzeptualisierung dar, die sich in besonderer Weise dazu eignet, einem grenz‐ überschreitenden Potenzial des Erzählens auf die Spur zu kommen. Aus diesem Grund lege ich meiner eigenen Konzeptualisierung das grenzüberscheitende Wolfsche Modell zugrunde und ziehe das kanonische Modell zur Lösung ver‐ balspezifischer Problemfelder heran. Letzteres als bekannt voraussetzend, er‐ läutere ich im Folgenden lediglich die Basisentscheidungen und Strukturele‐ mente des Wolfschen Konzepts unter dem Aspekt ihrer Brauchbarkeit für die Recherche grenzüberschreitender Erzählpotenziale. Die Konzeptualisierung einer grenzüberschreitenden Erzähltheorie geht, so Wolf, von einer „bislang hauptsächlich intramediale[n]“ (Wolf 2002a: 26) zu einer intermedialen Narratologie“ (a. a. O.) und muss in einem notwendig ersten Schritt das Phänomen des Narrativen ausleuchten. Um die „Einäugigkeit“ (a. a. O.) intramedialer Narratologie 4 zu vermeiden, die das Narrative vornehm‐ 3.1 Intermediale, grenzüberschreitende Konzeptualisierung des Narrativen 57 <?page no="58"?> lich aus der Perspektive verbal-literarischer Medien untersucht, eröffnet Wolf neue Perspektiven dadurch, dass er in einem dreistufigen Modell das Konzept des Narrativen von dessen Vermittlungsformen in unterschiedlichen Medien und von dessen Erscheinung in Gestalt konkreter Werke konzeptionell trennt und das Narrative selbst als ein medienunabhängiges Phänomen definiert. Im Rekurs auf einen „kognitiven, funktionalen und prototypischen approach“ (a. a. O.) macht Wolf zur Definition des Phänomens drei Fragenbereiche aus: „die Frage nach der Natur des Narrativen“ (2002a: 28), „die Frage nach den Funkti‐ onen“ (a. a. O.) und „die Frage nach seinen werkinternen Faktoren, d.h. seiner werkinternen Organisation“ (a. a. O.). 3.1.1 Konstituenten des intermedialen Erzählmodels: das Narrative und die Narreme Die erste Frage, die Frage nach der Natur des Narrativen, löst Wolf im kog‐ nitiven approach. Er legt sich in Abwägung von drei unterschiedlichen Positi‐ onen zum ontologischen Status des Narrativen auf „die für eine intermediale Narratologie brauchbarste Variante“ (2002a: 29) fest, auf das Narrative als kog‐ nitives Schema: Ich fasse also das Narrative (und damit auch den Akt seiner Realisierung, das Erzählen) als kulturell erworbenes und mental gespeichertes kognitives Schema im Sinne der frame theory auf, d.h. also als stereotypes verstehens-, kommunikations- und erwar‐ tungsgesteuertes Konzeptensemble, das als solches medienunabhängig ist und gerade deshalb in verschiedenen Medien und Einzelwerken realisiert, aber auch auf lebens‐ weltliche Erfahrung angewandt werden kann.“(a. a. O.) Die Konzeptualisierung des Narrativen als kognitives Schema schließt eine in‐ teraktive Vorstellung des Rezeptionsprozesses ein. Danach enthält das narrative Werk Signale des Narrativen, sog. Narreme, die als Stimuli (a. a. O.: 43ff.) des Narrativen fungieren und von den Rezipienten des Werks zu erfassen sind. Auf dieser Grundlage können sie das gespeicherte kognitive Schema aufrufen und aktivieren. Das Narrative setzt also einen beidseitigen (produzenten- und re‐ zipientenseitigen) Narrativierungsprozess voraus (Wolf 2002a: 52f.). Der funktionale approach führt zur zweiten Frage, der Frage nach den Funk‐ tionen des Narrativen. Wolf kann sich zur Diskussion dieses Aspekts auf eine umfangreiche Literatur stützen, die mit ihm als Grundfunktion des Narra‐ tiven die „Bedeutung für und die Wirkung auf bestimmte Bedürfnisse des Men‐ schen“ (a. a. O.: 32) sieht. Drei „anthropologische Grundbedürfnisse des Men‐ schen“ (a. a. O.), auf die das Narrative antworten kann, lassen sich herausschälen: 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 58 <?page no="59"?> 5 Alle drei Funktionen spielen im Kontext des fremdsprachlichen Klassenzimmers eine Rolle. Sie bilden in Kapitel 5 die theoretische Basis der werkexternen Perspektive auf das mündliche Erzählen. • „die Sinngebungs- oder ‚philosophische’ Funktion“ (a. a. O.) des Narrativen, das für den Empfänger Sinnangebote bereitstellt und Impulse zur Kon‐ stitution des eigenen Ich und zur Fremdwahrnehmung gibt, • „die repräsentierende und (re-)konstruierende Funktion“ (a. a. O.: 33) des Narrativen, das für den Rezipienten Konstruktionen von Fiktivem in ko‐ härenter Form bereit hält und ihm als Produzenten die (Re-)Konstruktion von eigenem und fremdem Erlebtem ermöglicht, wobei hier (im Gegen‐ satz zur nächsten Funktion) auf innersubjektive Vorgänge abgehoben wird, und • „die kommunikative, soziale und unterhaltende Funktion“ (a. a. O.) des Nar‐ rativen, das zur Mitteilung von eigenem oder fremden Erlebtem aus un‐ terschiedlichen Anlässen, zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden kann, wobei hier auf intersubjektive Vorgänge abgehoben wird 5 . Der funktionale approach ergänzt den kognitiven approach dadurch, dass er pragmatische Aspekte ins Spiel bringt und mit der Frage ‚Wozu und mit welchen Wirkungen wird erzählt? ‘ den Blick über die intermedialen Aspekte des Narra‐ tiven hinaus auf werkexterne, kulturelle und soziale Aspekte richtet. Die dritte Frage, die Frage nach den werkinternen Faktoren des Narra‐ tiven, löst Wolf in Auseinandersetzung mit drei verschiedenen Forschungsan‐ sätzen, wozu erstens die Minimaldefinition des Narrativen (bei der Zeitlichkeit und Ereignishaftigkeit als die bestimmenden Faktoren fungieren), zweitens der Versuch einer Maximaldefinition (in Gestalt einer umfassende Liste von narra‐ tiven Merkmalen) und drittens der prototypische approach gehören. Letzteren hält er für geeignet, um der Frage nach denjenigen Elementen nachzugehen, die notwendig sind, „um das Schema des Narrativen in einem Text, einem Artefakt zu realisieren“(Wolf 2002a: 34). Der prototypische Ansatz hat den Vorteil, dass das Narrative mit einer „Pluralität von Faktoren, die der Prototyp besitzt“ (a. a. O.: 35), er erfasst werden kann, dass aber „ein konkret dem Prototypen zuzuordnendes Phänomen nicht alle diese Faktoren […] aufweisen muss und trotzdem noch eine ‚Familienähn‐ lichkeit’ mit diesen haben kann.“ (a. a. O.). Das Narrative ist demzufolge gradu‐ ierbar, was bedeutet, dass ein konkretes Werk eine mehr oder eine weniger große Nähe zum Prototypen haben und trotz größerer Ferne immer noch als Realisie‐ rung des Narrativen angesehen werden kann. In der Graduierbarkeit des Narrativen liegen letztlich seine intermedialen Fähigkeiten begründet, denn 3.1 Intermediale, grenzüberschreitende Konzeptualisierung des Narrativen 59 <?page no="60"?> 6 Zur Diskussion des Intermedialen und Transmedialen s. Wolf 2002b und Rajewsky 2002 sowie Kap. 3.2 der Studie. 7 Das Erzählmodell ist am verbalen Erzählen orientiert, das Wolf als Prototypen setzt. Es ist jedoch grundsätzlich offen gegenüber andern medialen Formen des Narrativen. Zur Übersicht über das Erzählmodell s. die Zusammenstellung in Schema 1 (Wolf 2002a: 42). 8 Auf die Vermittlungsformen des Narrativen werde ich in Kap. 3.5.1 ausführlicher ein‐ gehen, auf die Resultate des Narrativen im Zusammenhang mit der funktionalen Ana‐ lyse des Märchens Le conte des échanges (Kap. 9.1). die Möglichkeit eines großen Abstandes zwischen dem Prototypen und einem ‚fernen Verwandten’ bietet die Chance, unter dem Begriff des Narrativen viel‐ fältige Realisierungsformen zu subsummieren. Die Graduierbarkeit des Narra‐ tiven ist auch Voraussetzung dafür, dass das Narrative nicht nur als interme‐ diales Phänomen angesehen werden kann, das sich von einem Medium ins andere überführen lässt (z. B. aus dem verbal-literarischen ins theatralische), sondern dass es auch ein „transmediales Phänomen innerhalb einer Typologie intermedialer Formen“ (Wolf 2002a: 36) darstellt, das sich, weil grundsätzlich medienunabhängig, in unterschiedlichen medialen Formen realisieren kann 6 . Aus den bisher erläuterten Basiselementen des Wolfschen Erzählmodells er‐ geben sich folgende Qualitäten des Narrativen: • Das Narrative wird als kognitives Schema definiert, das „auf lebenswelt‐ liche Erfahrung wie Artefakte verbaler und nicht-verbaler Art anwendbar ist.“ (a. a. O.: 42) • Das Narrative „ist […] funktional determiniert.“ (a. a. O.: 38) • Das Narrative wird als transmediales und graduierbares Phänomen auf‐ gefasst. • Das Narrative ist „wesentlich formaler Natur, d.h. inhaltsunspezifisch und daher […] unzähligen Inhalten offen stehend.“ (a. a. O.) • Die Grundqualitäten des Narrativen lassen sich auf einen Prototypen be‐ ziehen. Das Narrative als kognitives Schema ist Bestandteil der Konstituenten des in‐ termedialen Erzählmodells 7 , das seinerseits drei Ebenen umfasst: die Konstitu‐ enten des Erzählens, die narrativen Vermittlungsformen und die Resultate des Erzählens 8 , worunter konkrete narrative Werke bzw. Werkteile zu verstehen sind. Von zentraler Bedeutung für die Recherche des Erzählpotenzials sind neben der Auffassung des Narrativen als kognitivem Schema die Charakterisierung und Kategorisierung der Narreme als Konstituenten des Erzählens. Sie sind Grundlage für die Ausarbeitung des Prototypischen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Narreme fungieren im Wolfschen Modell als werkinterne Faktoren des Narrativen. Sie sind zugleich „Stimuli, die innerhalb des Textes das Schema 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 60 <?page no="61"?> 9 Reuter (1991) fasst im Rekurs auf Larivaille (1974) die Makrostruktur des Récit in fol‐ gende fünf große Etappen: L’état initial, la complication ou force perturbatrice, la dyna‐ mique, la résolution ou la force équilibrante, l’état final (Reuter 1991: 46). Zum Umgang mit dem schéma quinaire im Fremdsprachenunterricht s. Bergfelder-Boos (2007: 47f.). des Narrativen indizieren.“ (a. a. O.: 43) Wolf teilt sie ein in qualitative, inhalt‐ liche und syntaktische Narreme (Wolf 2002a: 44). 1. Zu den qualitativen Narremen gehören die aus der Funktion des Narra‐ tiven resultierenden, d.h. erzählerische Elemente, die „auf eine insbeson‐ dere die Zeitlichkeit involvierende Sinndimension“ (a. a. O.) zielen, ferner repräsentierende und rekonstruierende Elemente, die seine Darstellungs‐ qualität und diejenigen, die seine „Erlebnisqualität […] bzw. die Qualität des Miterleben-Lassens des Erzählten“ (a. a. O.) ausmachen. 2. Zu den inhaltlichen Narremen rechnet Wolf die in der strukturalistischen Erzähltheorie vornehmlich zur histoire gehörenden Elemente Zeit, Ort, anthropomorphe Wesen als Figuren einer Geschichte und „de[n] Kern des Narrativen, die äußere Handlung bzw. das Geschehen“ (2002a: 45), den er als das „prototypische Rückgrat des Narrativen“ (2002a: 46) bezeichnet. 3. Unter syntaktischen Narremen versteht Wolf die für das Erzählerische typischen Gestaltungsprinzipien, mit deren Hilfe die inhaltlichen Nar‐ reme zusammengefügt werden. Das sind die Prinzipien der textinternen Relevanz und der formalen Einheitsbildung (2002a: 47), die realisiert werden durch: • narrationstypische Verknüpfungsformen wie die Chronologie der er‐ zählten Zeit, • eine begrenzte Wiederholung von Ähnlichem oder Identischem“ (a. a. O.), • die „vorwärts gewandte“ (Wolf 2002a: 49) Teleologie, d.h. ein Erzählen auf den (Höhe-)Punkt hin, und das Gegenstück, die rückwärts ge‐ richtete Kausalität, wobei Teleologie und und Kausalität von Wolf als typische, nicht aber notwendige Narreme angesehen werden (2002a: 50), • die „intellektuelle wie emotionale Spannung“ (2002a: 48), • die thematische Einheitsstiftung, wozu Wolf auch die Erzählwürdig‐ keit, die Tellability (2002a: 50) rechnet. Zu den syntaktischen Narremen werde ich auch die (prototypische) Makro‐ struktur narrativer Diskurseinheiten rechnen und mich dabei auf das von Lari‐ vaille (1974: 387) entwickelte und von Reuter (1991: 46) 9 aufgenommene schéma quinaire mit den fünf großen Etappen stützen. 3.1 Intermediale, grenzüberschreitende Konzeptualisierung des Narrativen 61 <?page no="62"?> Ebenfalls zu den syntaktischen Narremen werde ich die von Becker (2013a) im Rekurs auf Boueke / Schülein (1991) entwickelte Kategorie des Planbruchs zählen. Der Planbruch bewirkt im Gegenzug zum Prinzip der Teleologie, „daß der ursprüngliche ‚Plan‘ der Aktanten durch ein nicht zu erwartendes Ge‐ schehen durchbrochen wird.“ (2013a: 37) Im Zusammenwirken von Zielorient‐ heit des Geschehens und der damit verbundenen Aufgabe des Helden, Hinder‐ nisse zu überwinden, sieht Becker „ein Kriterium zur eindeutigen Definition der Erzählung.“ (a. a. O.) Zum Prinzip der Spannung, die durch Hindernisüberwin‐ dung, Planbruch, Erwarten der Lösung hervorgerufen wird, gehört für Becker als weiteres Merkmal des Narrativen die Affektmarkierung - Textelemente, die die Emotionalität der Geschichte hervorbringen. Dazu gehören u. a. die Wie‐ dergabe von Gedanken und Gefühlen und die emotionale Bewertung der Ereig‐ nisse durch den Erzähler. Die Kategorien des Planbruchs und der Affektmarkierung können durch die von Ahrenholz (2006b: 95, 106) im Rekurs auf das Quaestio-Modell entwickelten Kategorien der Haupt- und Nebenstrukturen ergänzt werden. In diesem narra‐ tionstheoretischen Bezugsrahmen gilt als Hauptstruktur das Handlungsgerüst der Geschichte, das „prototypische Rückgrat des Narrativen“ (Wolf 2002a: 46). Als Nebenstrukturen werden die den „Kern des Narrativen“ (a. a. O.: 45) erwei‐ ternden Elemente wie z. B. Beschreibungen von Figuren, Stimmungen, Gefühlen angesehen. Nebenstrukturen stellen wie die Prinzipien der Teleologie und Kau‐ salität typische, aber nicht notwendige narrative Narreme dar. Die Unterscheidung von Haupt- und Nebenstrukturen wird in die Liste so‐ wohl der inhaltlichen als auch der sytaktischen Narreme aufgenommen: als Er‐ weiterung des ‚prototypischen Rückgrats des Narrativen‘ und als Beispiel zur Herstellung semantischer Kohärenz. In dieser Funktion werden sie im Kontext der Erarbeitung von Kriterien zur Analyse produktiver Narrativierungsleis‐ tungen eine wichtige Rolle spielen. 3.1.2 Funktionen des Prototypen: Illustration und Operationalisierung, Stimulus und Gradmesser des Narrativen Der Prototyp des Narrativen übernimmt im intermedialen Erzählmodell vier wichtige Funktionen, die auch im Kontext meiner Studie relevant sind. 1. Auf der Ebene der Darstellung des Modells übernimmt der Prototyp als „beste[r] Vertreter einer Kategorie“ (Bußmann 2008: 560) illustrierende Funktion. In dieser Funktion nutzt Wolf das Märchen vom ‚Ritter Blau‐ bart‘ (2002a: 43-53). Er setzt das Märchen und mit ihm das episch-litera‐ 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 62 <?page no="63"?> 10 Im Gegensatz zu Fludernik, die als Prototyp die mündliche Alltagserzählung setzt (Wolf 2002a: 35; Fludernik 2010: 122), wählt Wolf „fiktives Erzählen“ (a. a. O.: 36) als prototy‐ pisches Erzählen „wie es im Märchen in elementarer Form und mit noch relativer Nähe zur Urform des mündlichen Erzählens realisiert ist“ (a. a. O.). Da hier zwei Kriterien eine wichtige Rolle bei der Wahl des Prototypen spielen - das Prototypische des Genres Märchen bzw. des fiktionalen Erzählens und die Nähe des schriftlichen Textes zur Tra‐ dition der oral poetry, also der mündlichen Realisierung - werde ich als Prototypen das Märchen in schriftlicher und in mündlicher Realisierung wählen. Auf diese Weise kann das in den Unterrichtsprojekten vorliegende Material auf seine prototypischen Ele‐ mente untersucht werden. rische Erzählen als Prototypen des Narrativen 10 . Anhand einer funktio‐ nalen Analyse des Märchens zeigt er, dass die o. g. qualitativen, inhaltlichen und syntaktischen Narreme die prototypischen Merkmale des Erzählens darstellen. Eine vergleichbare Funktion übernimmt in meiner Studie die Analyse des Märchens Le conte des échanges, das den beiden von mir exemplarisch untersuchten Erzählstunden als Basistext zugrunde liegt (Kap 9.1). 2. Auf der Ebene der Konzeptualisierung dient der Prototyp der Operatio‐ nalisierung (Wolf 2002a: 43) der Basiselemente des erzähltheoretischen Modells. Er schafft damit die Verbindung zwischen der theoretischen Modellierung und dem konkreten Text. Dieses Vorgehen ergibt sich aus der kognitionstheoretischen Vorannahme, dass die Narreme sich als pro‐ totypische Strukturelemente in konkreten inhaltlichen Elementen der Textebene manifestieren. 3. Auf der interaktionellen Ebene zwischen den Rezipierenden und der Er‐ zählung übernehmen die als prototypische Strukturelemente identifi‐ zierten Narreme die Funktion von Stimuli des Narrativen, die von den Rezipierenden wahrgenommen werden können. Sie leisten damit die Ver‐ bindung vom Text zu den Rezipierenden, indem sie letztere dazu bringen, das kognitive Schema des Narrativen zu aktivieren und für sich abzu‐ rufen. 4. Da im kognitionstheoretischen und transmedialen Ansatz von der Gra‐ duierbarkeit des Narrativen ausgegangen wird, übernimmt der Prototyp auf konzeptioneller Ebene zusätzlich die Funktion eines Gradmessers des Narrativen. Die Graduierbarkeit des Narrativen impliziert, dass der Prototyp als „Kern des Narrativen“ (Wolf 2002a: 45) ein Maximum an typischen Elementen des Narra‐ tiven enthält. Aus diesen Elementen wiederum lässt sich eine Minimaldefinition des Narrativen entwickeln, die dessen Kern auf das Wesentliche so zusammen‐ 3.1 Intermediale, grenzüberschreitende Konzeptualisierung des Narrativen 63 <?page no="64"?> schmilzt, dass in jedem konkreten Einzelfall entschieden werden kann, was als mehr oder weniger narrativ, was noch als narrativ und was nicht mehr als nar‐ rativ bezeichnet werden kann. Diese Minimaldefinition formuliert Wolf wie folgt: Erzählen wäre damit […] die Darstellung wenigstens von Rudimenten einer vorstell- und erlebbaren Welt, in der mindestens zwei verschiedene Handlungen oder Zustände auf dieselben anthropomorphen Gestalten zentriert sind und durch mehr als bloße Chronologie miteinander in einem potentiell sinnvollen, aber nicht notwendigen Zu‐ sammenhang stehen. (Wolf 2002a: 51) Diese Minimaldefinition ist als Klassifizierungsinstrument auch für den Fremd‐ sprachenunterricht geeignet. Auf dieser Basis können die in unterschiedlicher medialer Realisierung hervorgebrachten Produkte der Lernenden, z. B. verbale Erzählungen, Bilder, szenische Darstellungen auf ihre Narrativität hin unter‐ sucht werden. Auch der Grad der Narrativität der Produkte kann angegeben werden, denn aufgrund der Nachweisbarkeit der Stimuli des Narrativen in kon‐ kreten Werken können einerseits die Nähe und Ferne konkreter Werke oder Werkteile zum Prototypen genauer bestimmt, andererseits auch diejenigen Ele‐ mente ausgemacht werden, die den Grad an Narrativität erhöhen. Dazu zählt Wolf „konfliktbeladene und spektakuläre Handlungen“ (Wolf 2002a: 52), „die Konzentration auf spezifische Figuren“ (a. a. O.), „die Situierung der Geschichte in einer abgeschlossenen […] Vergangenheit“ (a. a. O.), „die Klarheit und Ein‐ deutigkeit der Sinn- und Kohärenzbezüge […], ferner die Fiktionalität“ (a .a. O.) und den Gebrauch ästhetischer Gestaltungsmittel. Besonders diese Elemente der Graduierung sind für den Einsatz des Narrativen im Fremdsprachenunterricht interessant, weil sie möglicherweise Einfluss auf den Prozess der Narrativierung durch die Rezipierenden, hier die Lernenden, haben. Es kann davon ausge‐ gangen werden, dass bei einer Rezeption in der Erstsprache diejenigen Werke und diejenige mediale Realisierung, die die meisten Narreme, damit die meisten Stimuli des Narrativen bereit halten, die geringste Narrativierungsleistung der Rezipierenden verlangen, während umgekehrt, die Medien mit der geringsten Anzahl an Narremen, d.h. der geringsten Narrativität, die höchste Narrativie‐ rungsanstrengung verlangen. Aber ist das auch in der fremdsprachlichen Re‐ zeption so? Auf diese Frage wird die Analyse der Narrativierungsleistungen der Schülerinnen und Schüler in den Erzählstunden (Kap. 9.2.3, 9.3.3, 9.4) eingehen. Um die Nähe und Ferne zum Prototypen und den Grad an Narrativität wei‐ terer Medien geht es Wolf in seinen Ausführungen zur Realisierung des Narra‐ tiven im Medium der bildenden Kunst und der Musik. Was die bildnerische Darstellung betrifft, die in der vorliegenden Studie als Narrativierungsleistung 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 64 <?page no="65"?> 11 In einem der Unterrichtsprojekte (Kap. 9.2) stellen die von den Lernenden hergestellten Bilder intermedial vollzogene Narrativierungen der in dominant verbaler Vermittlung gehörten Geschichte dar. Die von Wolf vorgeschlagenen Indikatoren des Narrativen werden zur Analyse dieses Datenmaterials herangezogen. der Lernenden eine Rolle 11 spielt, so legt Wolf eine Zusammenstellung „poten‐ tiell narrativer Bilder“ (Wolf 2002a: 56) vor, zu denen zwei Haupttypen, die Bild‐ serien und Einzelbilder, mit jeweils zwei Untergruppierungen gehören. Auch hier ist die Narrativität der Produkte anhand der Indikatoren des Prototypischen graduierbar. So besitzen Bildserien die Fähigkeit, Narratives darzustellen, Ein‐ zelbilder sind eher geeignet, Narratives zu indizieren. Das Medium der (Instru‐ mental-)Musik bietet nach Wolfs Untersuchungen den geringsten Grad an Nar‐ rativität, da es lediglich Geschichtenanaloga hervorbringt, also „quasi-narrativ“ (a. a. O.: 96) funktioniert und deshalb von den Rezipierenden die höchste Nar‐ rativierungsanstrengung verlangt. Das abschließend von Wolf entwickelte Modell des narrativen Potenzials un‐ terschiedlicher Medien (s. Schema 3 in Wolf 2002a: 96) erfasst die von ihm un‐ tersuchten medialen Darstellungen des Narrativen und den jeweiligen Anteil an werkinternen Narremen und rezipientenseitiger Narrativierung. Aus dem Mo‐ dell „ergeben sich drei grobe Typen innerhalb des Skalars zwischen maximaler und minimaler werkseitiger Narrativität“ (a. a. O.): erstens „geschichtendarstel‐ lende, genuin narrativ verwendbare Medien“ wie literarisch-episches Erzählen, Drama, Film, in Teilen auch Bildserien, zweitens ein „als narrationsindizie‐ rendes […] narrativ verwendbares Medium“ wie das Einzelbild und drittens das „quasi-narrativ verwendbare Medium der (Instrumental-)Musik“ (a. a. O.). 3.1.3 Impulse des intermedialen Modells für die Konzeption der Studie Die dem Wolfschen Modell zugrunde liegenden konzeptionellen Entschei‐ dungen und die Konstituenten des Modells liefern für die Erkundung des Er‐ zählpotenzials folgende Impulse: • Sie eröffnen Möglichkeiten, das Potenzial des Narrativen sowohl struk‐ turell zu erfassen als auch seine Manifestationen in konkreten Werken zu beobachten und zu analysieren. Neben der transmedialen Konzeptuali‐ sierung bietet das Wolfsche Modell Anregungen für die Analyse inter‐ medialer Prozesse, die in den zu untersuchenden Erzählstunden zum Tragen kommen (Kap. 9.2.2.2). 3.1 Intermediale, grenzüberschreitende Konzeptualisierung des Narrativen 65 <?page no="66"?> • Sie liefern Anregungen für eine mehrdimensionale Recherche des Er‐ zählpotenzials. Die Öffnung des Konzepts gegenüber den pragmatischen, werkexternen Aspekten macht das Konzept in besonderem Maße ge‐ eignet, seine Kategorien zur Analyse konkreter sprachlicher Werke und damit zur Analyse des empirischen Materials des Fremdsprachenunter‐ richts zu nutzen. • Der kognitive Ansatz des Modells bietet Anregungen, die (fremd-)sprach‐ lichen kommunikativen Aktivitäten der Lernenden als ‚Narrativierungs‐ leistungen‘ aufzufassen und den Umgang mit den Stimuli des Narrativen zu beobachten und zu analysieren. Aus diesem Grund werde ich diese von Wolf gebrauchte Kategorie zur Bezeichnung der narrativen Aktivitäten der Lernenden verwenden. • Der funktionale Ansatz des Modells liefert für die empirische Analyse der Studie besonders fruchtbare Impulse. So werden die verbalen und non-verbalen kommunikativen Tätigkeiten von Lehrenden und Lern‐ enden nicht nur unter werkinternen Aspekten betrachtet, sondern auch als Manifestationen von Funktionen des Narrativen - u. a. seiner sozialen und kommunikativen Funktion - aufgefasst und unter diesem Aspekt beobachtet. • Der prototypische Ansatz liefert Anregungen für den Umgang mit pro‐ totypischen Elementen des Narrativen im Hinblick auf die Auswahl und Aufbereitung der Erzähltexte durch die Lehrkräfte und auf die Planung und Durchführung ihrer Erzählprojekte. • Die mit dem prototypischen Ansatz verbundene Auffassung von der Gra‐ duierbarkeit des Narrativen liefert im konzeptionellen Teil Anregungen zur Erarbeitung des Erzählens als narrativer Vermittlungsform zwischen dem epischen und dramatischen Erzählen, im empirischen Teil u. a. zur Analyse von Narrativierungsleistungen der Lernenden. Aufgrund der vielfältigen Impulse werde ich das intermediale Erzählmodell von Wolf als Referenzmodell zur Entwicklung des Potenziale-Modells (Kap. 2.1.2, Kap. 7) nutzen. 3.2 Mündlich-verbales Erzählen (1): (Re-)Konstruktions- und Interaktionsprozesse beim Gebrauch der Diskursform In Kapitel 3.2 wird zunächst der zugrunde gelegte Diskursbegriff (3.2.1) erläu‐ tert, um auf dieser Basis die interaktionelle Gesprächsstruktur und die interak‐ tionellen Aufgaben (3.2.2) zu beschreiben. Abschließend (3.2.3) wird das Prinzip 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 66 <?page no="67"?> 12 Quasthoff geht es um die Abgrenzung der narrativen Diskurseinheiten vom turn-by-turn-talk (Quasthoff 2001: 1300) in Alltagsgesprächen. der Erzählwürdigkeit erläutert und dessen Bedeutung für den narrativen Dis‐ kurs im Fremdsprachenunterricht erörtert. 3.2.1 Erzählen als Diskurseinheit In Abgrenzung zu einem weiten, vor allem in der Semiotik zum Tragen komm‐ enden Textbegriff, der jedes eingrenzbare Segment einer Botschaft oder jegliche in einem kulturellen System gesendete Nachricht (Volli 2002: 79, Bußmann 2008: 719) oder, weniger weit, sowohl mündliche als auch schriftliche sprachliche Äu‐ ßerungen als Texte begreift (Lewandowski 1994: 1153ff., Vater 2001: 14, Heine‐ mann / Heinemann: 2002: 97, Bußmann 2008: 719), nehme ich eine für meinen Forschungszusammenhang funktionale Trennung zwischen den Begriffen Text und Diskurs vor und fasse unter ‚Text‘ lediglich schriftlich-verbale, unter ‚Dis‐ kurs‘ mündlich-verbale Äußerungen (Quasthoff 2001: 1302, Ehlich 2007: 4, Buß‐ mann 2008: 141). Für meinen Forschungszusammenhang entscheidend ist ein in der Pragmatik vorzugsweise auf die mündliche Kommunikation bezogener Dis‐ kursbegriff, wie ihn Ehlich formuliert: In der Pragmatik wird er [der Begriff Diskurs: Einfügung durch Verf.] zur Bezeichnung von strukturierten Ensembles von Sprechhandlungen verwendet, die aus einfachen oder komplexen Sprechhandlungsfolgen bestehen. Diese setzen sprachliche Hand‐ lungsmuster oder ihre systematische Kombination zu größeren kommunikativen Ein‐ heiten kommunikativ um. Die Strukturiertheit dieser kommunikativen Formen be‐ stimmt sich über die Zwecke der daran beteiligten sprachlichen Handlungen und ihrer spezifischen Integration. So entstehen Diskursarten. (Ehlich 2007: 4) Um bei der Analyse des empirischen Materials die im fremdsprachlichen Klas‐ senzimmer hervorgebrachten Diskurse voneinander abzugrenzen und die nar‐ rativen Diskurse zu identifizieren, teile ich, Ehlich folgend, die Diskursarten in Sprechhandlungssequenzen (z. B. Frage-Antwort-Sequenzen) vs. Sprechhand‐ lungsverkettungen (z. B. Vortrag, Bericht, Erzählung) und in unterschiedliche Diskurstypen wie argumentative, explizierende, narrative etc. Typen ein (s. auch Werlich 1975: 30ff.). Den von Quasthoff privilegierten Begriff der „narrativen Diskurseinheit“ (Quasthoff 2001: 1300) verwende ich synonym für narrative Sprechhandlungsverkettungen, vor allem dann, wenn diese Einheiten aus den klassenzimmerspezifischen Sprechhandlungen heraus zu lösen sind 12 . 3.2 Mündlich-verbales Erzählen (1): Konstruktions- und Interaktionsprozesse 67 <?page no="68"?> 13 Die Untersuchungen und Konzeptualisierungen narrativer Diskurseinheiten beziehen sich auf Gespräche im Alltag, sind jedoch auf Diskurse in institutionellen Zusammen‐ hängen übertragbar (Quasthoff 2001: 1304f.). Die von der Gesprächslinguistik (Gühlich / Hausendorf 2000, Quasthoff 2001) gelieferten Untersuchungen mündlichen Erzählens bieten geeignete Instru‐ mente zur Identifikation und zur Analyse narrativer Diskurseinheiten 13 aus in‐ teraktioneller Perspektive. Von besonderem Interesse sind die Betonung des ge‐ meinsamen Aufbaus der narrativen Tätigkeit, die als eine „gemeinsame Leistung der beteiligten Partner“ (Quasthoff 2001: 1301) angesehen wird, und die Vergabe der Rollen und der narrationsspezifischen Aufgaben an die Akteure auf der Basis der folgenden Definition narrativer Interaktion: Erzählen im interaktionstheoretischen Sinn ist eine Form der verbalen Aktivität, die mindestens zwei Teilnehmer gemeinsam und aufeinander zugeschnitten kontextua‐ lisierend betreiben, indem sie für sich wechselseitig deutlich die Rollen Erzähler und Zuhörer installieren. (Quasthoff 2001: 1300) Von den sie umgebenden Sprechhandlungssequenzen grenzen sich nach Quast‐ hoff die narrativen Diskurseinheiten ab durch folgende Merkmale: • Sie werden eingeleitet und abgeschlossen durch Gliederungselemente, sog. „discourse markers“ (a. a. O.) und weisen ein spezifisches Struktur‐ schema auf. • Sie realisieren das „Prinzip des primären Sprechers“ (Quasthoff 2001: 1300 im Rekurs auf Wald 1978), was eine „eine spezielle Variante des Spre‐ cherwechsels“ (a. a. O.) darstellt. Zur Identifikation der von den Lehrenden als „primären Sprechern“ verantwor‐ teten narrativen Diskurseinheiten eignen sich (Kap. 3.2.2) die von Quasthoff und Gühlich entwickelten Instrumente der Interaktionsanalyse. Zur Beschreibung der Schüleräußerungen bedarf es weiterer begrifflicher Klärungen. Hier ist es schwierig festzustellen, inwieweit Diskurseinheiten vorliegen und inwieweit überhaupt von einem ‚Erzählen‘ der Schüler gesprochen werden kann. Anre‐ gungen bietet der von Ehlich entwickelte Begriff des „Architerms“ (Ehlich 2007: 372). Ehlich versteht darunter einen die Vielfalt des Wortfeldes ‚Erzählen‘ neut‐ ralisierenden Oberbegriff und nennt ihn „Erzählen 1 “. Darunter subsummiert er die in der Alltagssprache als ‚Erzählen‘ bezeichneten unterschiedlichen sprach‐ lichen Tätigkeiten wie das Erzählen 2 , Berichten, Mitteilen, Schildern, Be‐ schreiben, Wiedergeben, Darstellen. Lediglich ‚Erzählen 2 ‘ in der o. g. Reihe be‐ zeichnet den Diskurstypen ‚Erzählen‘. Es wird zu untersuchen sein, ob diese 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 68 <?page no="69"?> 14 Im intermedialen Erzählkonzept Wolfs stellen die Handlungen, Ereignisse, Vorkomm‐ nisse die inhaltlichen Narreme dar, die „das prototypische Rückgrat des Narrativen“ (Wolf 2002a: 46) bilden. Der von Quasthoff vorgenommenen Konzeptualisierung des Erzählens als narrativer Aufgabe entspricht bei Wolf der Begriff der Narrativierung. Beide Konzeptualisierungen sind miteinander kompatibel. Sie erfassen den Prozess des Erzählens lediglich unter einer anderen Perspektive. unter dem Architerm ‚Erzählen 2 ‘ subsummierten sprachlichen Aktivitäten im Anschlussgespräch an die Erzählperformances der Lehrenden zu identifizieren sind und welche Rolle sie darin spielen. Es wird auch zu untersuchen sein, wel‐ ches besondere Profil sie ggf. diesem Unterrichtsdiskurs verleihen. 3.2.2 Narrationsspezifische Aufgaben der Diskursteilnehmer Ausgehend von dem textlinguistischen und gesprächslinguistischen Zugriff auf das Erzählen ist es möglich, zum einen den „prozesshaften, sequenziell geord‐ neten Charakter“ (Quasthoff 2001: 1296) des mündlichen Erzählens zu erfassen, zum anderen die sprachhandelnden interaktiven Tätigkeiten der Diskursteil‐ nehmer als spezifisch narrative zu identifizieren. Inspirierend für die Übertra‐ gung des Konzepts auf den Fremdsprachenunterricht ist auch die von Quasthoff vorgenommene Unterscheidung zwischen der kommunikativen und der inter‐ aktiven Funktion mündlichen Erzählens (Quasthoff 2001: 1295). Quasthoff zu‐ folge müssen, damit eine narrative Diskurseinheit realisiert wird, die kommu‐ nikativen und interaktiven Funktionen von den Erzählenden und von den Zuhörerenden als kommunikative und als interaktive Aufgabe bzw. Leis‐ tung wahrgenommen werden. Die erste Funktion bzw. Aufgabe wird über die (Re-)Konstruktion narrativer Inhalte, die zweite über die gemeinsame narrative Tätigkeit realisiert. Zu den wesentlichen narrativen Inhalten rechnen Quasthoff und Gühlich übereinstimmend die - vom Zeitpunkt des Erzählens aus gesehen - zurückliegenden bzw. als zurückliegend imaginierten Handlungen bzw. Ereig‐ nisse und Vorkommnisse 14 . In der „situativ angemessenen, adressatenbezogenen Rekonstruktion der Ereignisse“ (Quasthoff 2001: 1303) besteht die kommunika‐ tive Hauptaufgabe des Erzählens. Auf Seiten der Erzählenden erfordert diese Aufgabe eine produktive, auf Seiten der Zuhörenden eine rezeptive Narrativie‐ rungsleistung. Auf der Ebene der Interaktion besteht diese Aufgabe im Elabo‐ rieren bzw. Dramatisieren der Handlung. Diese und weitere interaktive Auf‐ gaben werden in der Gesprächslinguistik als „gesprächsorganisatorische Jobs“ (a. a. O.: 1302f.) der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des narrativen Diskurses aufgefasst. 3.2 Mündlich-verbales Erzählen (1): Konstruktions- und Interaktionsprozesse 69 <?page no="70"?> 15 Die Sequenzierung in fünf Einheiten lehnt sich an die klassische Sequenzierung von Labov / Waletzky in die Phasen Orientierung, Komplikation, Evaluation, Auflösung, Coda (Labov / Waletzky 1967: 111-125, Quasthoff 2001: 1293) an, stellt jedoch eine ge‐ sprächsanalytische Weiterentwicklung des Modells dar. Ebenfalls auf die fünf Se‐ quenzen von Labov / Waletzky rekurriert das von Larivaille entwickelte schéma quinaire (Reuter 1991: 46), das ich der Analyse des in den Erzählstunden gewählten Märchens (Kap. 9.1) zugrunde legen werde. In dem von Quasthoff entwickelten Modell der narrativen Gesprächsorgani‐ sation fungieren die o. g. gesprächsorganisatorischen Jobs als Kriterien der Se‐ quenzierung der narrativen Diskurseinheit, indem sie entweder eine Sequenz einleiten, abschließen oder steuern. Mit der Anwendung des Modells auf den Klassenzimmerkontext wird zum einen das Instrument der Globalsequenzie‐ rung 15 der mündlichen narrativen Interaktion, zum anderen - im Abgleich mit der Gesprächssituation des Alltags - ein Instrument zur Bestimmung der Spe‐ zifika der narrativen Jobs im fremdsprachlichen Kontext gewonnen. Sequen‐ zierung und Jobs der Diskurseinheit sollen deshalb im Folgenden kurz vorge‐ stellt und anhand einer auf Quasthoff rekurrierenden Visualisierung veranschaulicht werden. Ersetzt man den gesprächsanalytischen Begriff turn-by-turn-talk durch ‚Klassenzimmerdiskurs‘ und ergänzt den Job des Ela‐ borierens / Dramatisierens durch die in der Studie relevante Aufgabe der per‐ formativen Gestaltung, so ergibt sich folgender Ablauf mit folgenden narra‐ tiven Aufgaben: Verlassen der Unterrichtsdiskursebene durch Darstellen der Erzählrelevanz, Thematisieren, Elaborieren / performatives Gestalten, Ab‐ schließen der Erzählung, Überleiten in den auf die Erzählung folgenden Unter‐ richtsdiskurs. Zur Visualisierung des Erzählprozesses und der Sequenzierung wählt Quast‐ hoff die Form einer Schüssel (Quasthoff 2001: 1302), die in der folgenden Ab‐ bildung (Abb.2) beibehalten wurde. Damit sollen die Übergänge von der Dis‐ kurswelt des turn-by-turn-talk bzw. des Klassenzimmerdiskurses in die Diskurswelt des Narrativen verdeutlicht werden. Die Höhe bzw. Breite der Schüssel kann bei Darstellung von Einzelfällen den jeweiligen Beispielen ange‐ passt werden. Wird der Übergang von der einen in die andere Welt kurz ge‐ halten, kommt eine flache Schüssel zustande, dauert sie länger, ist die Schüssel tief usw. 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 70 <?page no="71"?> Abb. 2: Narrative Jobs in einer narrativen Diskurseinheit im Fremdsprachenunterricht. Nach: „Gesprächsorganisatorische Jobs einer narrativen Diskurseinheit“ (Quasthoff 2001: 1302) Mit der Übernahme der narrationsspezifischen Jobs werden folgende Tätig‐ keiten ausgeführt • Mit dem Darstellen von Inhalts- / Form- / Unterrichtsrelevanz „wird in der Regel ein Hintergrund etabliert, auf dem sich die Erzählung entwi‐ ckeln kann“ (Gülich / Hausendorf 2000: 376). In der Unterrichtssituation wird es voraussichtlich darum gehen, den Grund, die Bedeutung, das Procedere der Performance zu erläutern bzw. diese anzukündigen. In‐ haltsbezogen ist diese Ankündigung dann, wenn sie bereits Hintergrund‐ informationen zur Geschichte liefert, formbezogen, wenn sie sich auf die Form der Präsentation, unterrichtsrelevant, wenn sie sich auf fremd‐ sprachliche Zielsetzungen bezieht. • Das Thematisieren macht die nun folgende Geschichte für den Zuhörer erwartbar. Die Erzählenden erwerben sich mit der Ankündigung eines besonders erzählwürdigen Inhalts der Geschichte die „Eintrittskarte“ 3.2 Mündlich-verbales Erzählen (1): Konstruktions- und Interaktionsprozesse 71 <?page no="72"?> 16 In ritualisierten Formen des mündlichen Erzählens wird zwischen Erzählenden und Publikum um die ‚Erzählerlaubnis‘ gerungen, die durch entsprechende Zustimmungs‐ formeln gewährt wird. Ein Beispiel dieses Rituals stellt die Eröffnungsformel Marie-Célie Agnants bei ihrem Auftritt in einer Berliner Schule dar. Sie beginnt dieses Ritual mit dem Ruf Et cric? und erwartet vom Publikum die Antwort Et crac. (Agnant 2006a) (Quasthoff 2001: 1297) zum Erzählen - das Recht auf die Rolle des „pri‐ mären Sprechers“ 16 . • Mit dem Elaborieren und Dramatisieren wird die narrative Hauptaufgabe, d.h. die der Darstellung bzw. (Re-)Konstruktion der Ereignisse, über‐ nommen. In der Gesprächslinguistik wird zwischen zwei Formen der Darstellung unterschieden: dem Elaborieren, bei dem das Geschehen eher als Bericht präsentiert wird, und dem Dramatisieren, das Elemente der szenischen Gestaltung einbezieht. • Das Abschließen stellt „das Pendant zum Thematisieren“ (Gülich / Hau‐ sendorf 2000: 380) dar. Die im Laufe der Handlung aufgetretene Kompli‐ kation wird aufgelöst, das Ende der Geschichte markiert. • Das „Überleiten [leistet] die Einbettung der narrativen Einheit in die an‐ schließende Kommunikation“ (Gülich / Hausendorf 2000: 381) ‒ im Falle der Erzählstunden in den folgenden Unterrichtsdiskurs. Zentral für die Anwendung des gesprächslinguistischen Modells und seiner Elemente auf den Fremdsprachenunterricht sind die theoretischen Voran‐ nahmen, dass „jede Art direkter Kommunikation in ihrer Struktur eine gemein‐ same Leistung der beteiligten Partner darstellt“ (Quasthoff 2001: 1301), dass die interaktiven Strukturen auf der „manifesten Oberfläche des verbalen und sons‐ tigen Interaktionsgeschehens“ (a. a. O.) beobachtbar sind und stets „adressaten‐ bezogen kontextualisiert“ (a. a. O.) auftreten. Die unterschiedlichen Formen und möglicherweise auch der unterschiedliche Grad an Gemeinsamkeit der interaktiven Leistungen bilden einen der Schwer‐ punkte meiner empirischen Untersuchung, bei der ich als Beobachtungs- und Analyseinstrumente folgende Elemente des gesprächslinguistischen Modells anwenden werde: die narrationsspezifischen Jobs, die pragmatischen und die ästhetisch-verbalen sowie die performativen Mittel, mit denen sie realisiert werden. Was die Gemeinsamkeit in der Wahrnehmung der narrationsspezifischen Jobs der Interakteure betrifft, so gehe ich - Quasthoff folgend - davon aus, dass sie in der Übernahme ihrer Rollen als Erzählende (Produktion) und Zuhörende (Rezeption) besteht. Beobachtbar ist die Wahrnehmung der Jobs anhand der zum Einsatz kommenden pragmatischen Mittel. Zu diesen zähle ich die Handlungs‐ 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 72 <?page no="73"?> züge der Akteure, die entweder die Globalsemantik der Erzählung (wie z. B. das Beachten der Chronologie der Ereignisse auf Seiten der Erzählenden und den Versuch des Identifizierens wichtiger Erzählbausteine auf Seiten der Zuhö‐ renden) oder die Interaktionsebene (wie z. B. den Einsatz von Frage-Antwort-Se‐ quenzen) betreffen. Was die verbalen Mittel zur Realisierung der Jobs betrifft, so interessieren in meinem Forschungskontext vor allem die Mittel zur Gliederung der Textober‐ fläche, die sog. Diskursmarker. Die Diskursmarker stellen für die Erzählenden ein wichtiges Instrumentarium zur Gestaltung ihrer Aufgabe des Elaborierens dar. Für die Rezipierenden in der mündlich-fremdsprachlichen Kommunikation können sie als Verstehenshilfe genutzt werden, um die Textbausteine und den Erzählplan (s. dazu Ehlers 1998: 200) zu identifizieren und zu verfolgen, d.h. um die im Unterricht geforderte Narrativierungsleistung zu erbringen. Von besonderem Interesse für meine Untersuchung ist auch die Annahme einer adressatenbezogenen Kontextualisierung der narrativen Jobs und der Ge‐ staltungsmittel. Der Adressatenbezug betrifft u. a. die Textauswahl und -bear‐ beitung durch die Lehrkräfte und das Prinzip der Erzählwürdigkeit, das im Fol‐ genden thematisiert wird. 3.2.3 Das Prinzip der Erzählwürdigkeit Die Frage nach der Erzählwürdigkeit ist die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Erzählungen und der Sinnstiftung durch das Erzählen - die Frage nach dem, was eine Erzählung aus welchen Gründen erzählenswert macht. Konsens be‐ steht in der Forschung darüber, dass die Erzählwürdigkeit (auch Tellability) ein wichtiges Gütekriterium narrativer Werke und ein Interaktionskriterium zwi‐ schen Erzählung und Rezipierenden (Ehlers 1998, Wolf 2002a, Fludernik 2010) darstellt. Je nach Forschungsansatz ist die Zuordnung der Erzählwürdigkeit zu den Konstituenten des Erzählens unterschiedlich. Aus werkinterner Perspektive kann die Erzählwürdigkeit einer Geschichte als Realisierung qualitativer Narreme (Kap. 3.1.1) angesehen werden. Diesen Weg geht Fluderniks ‚Natural‘ Narratology (Fludernik 2010: 122). Für Fludernik, die das Wesentliche des Narrativen nicht nur in der Darstellung von Handlungen und Ereignissen, sondern vor allem in der „Vermittlung anthropozentrischer Erfahrung“ (Fludernik, 2010: 73), d.h. in der „Vermittlung von Gedanken und Gefühlen und [der] Darstellung von Wahrnehmung und Reflektion“ (a. a. O.), sieht, liegt in dieser Erlebnisqualität die Tellability des Narrativen begründet. Aus werkinterner Perspektive wird Erzählwürdigkeit auch an der Realisie‐ rung inhaltlicher Narreme festgemacht. Diesen Weg geht Ehlers lesetheoreti‐ 3.2 Mündlich-verbales Erzählen (1): Konstruktions- und Interaktionsprozesse 73 <?page no="74"?> 17 Den von der literaturwissenschaftlichen Narratologie gebrauchten Begriff ‚Erzählwür‐ digkeit‘ benutzt Bruner nicht explizit, aber seine Ausführungen zu einem der wesent‐ lichen Merkmale des Erzählens - den „Verbindungen zwischen dem Außergewöhnli‐ chen und dem Gewöhnlichen“ (1997: 64) - können mit dem literaturwissenschaftlichen Terminus ‚Erzählwürdigkeit‘ zusammengefasst werden. scher Ansatz. Für sie ist erzählwürdig, was in einer Erzählung aus dem Alltäg‐ lichen heraustritt: Das Erzählen setzt dort ein, wo das Kontinuum von Alltagserfahrungen unterbrochen wird, um hervorzutreiben, wofür es keine Einordnung gibt: das Neue oder das Beson‐ dere. Je nach Wahrnehmung lassen sich Phänomene, die zum erzählerischen Antrieb werden, als neu, besonders fremd oder anders kategorisieren. Ereignisse, die nicht einordbar sind, sich dem kanonischen Wissen, dem Regelhaften und Konventionali‐ sierten entziehen, besitzen eine Signifikanz. (Ehlers 1998: 199) Erzählenswert in diesem Lichte ist das, was die Leserinnen und Leser irritiert, was sie zur Reflexion auffordert. Ehlers geht über die werkinterne Perspektive hinaus, indem sie Erzählwürdigkeit auch aus deren Perspektive definiert. Um das Neue oder das Besondere zu würdigen, müssen die Rezipierenden ihr Wissen über den der Erzählung zugehörigen Kulturraum aktivieren. Nur so können sie verstehen, „was jeweils die Basis des Alltäglichen und Bekannten ist und was innerhalb einer Kultur als neu oder besonders und somit für erzählenswert gilt“ (a. a. O.). Für Jerome Bruner ist sind ebenfalls die in Geschichten dargestellten All‐ tagserfahrungen erzählenswert, weil sie, um Aufmerksamkeit zu erregen, das Besondere brauchen (1997: 64) 17 . Das Besondere steckt für Bruner im Durch‐ brechen dessen, was in einer Kultur als kanonisch gilt. Die Erzählwürdigkeit von Geschichten besteht für ihn darin, dass individuell und gesellschaftlich re‐ levante Konflikte als menschliche Dramen so dargestellt werden, dass sowohl dem Kanonischen als auch dem Durchbrechen des Kanonischen Sinn und Be‐ deutung verliehen wird. Bruners kulturpsychologisches und Ehlers lesetheore‐ tisches Konzept treffen sich dort, wo die Sinngebung letztlich durch die Inter‐ pretationsleistung der Rezipierenden erfolgt. Beide Konzepte sind für das interkulturelle Lernen anhand literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht von Relevanz. Zur Erzählwürdigkeit auf werkinterner Ebene trägt auch die den syntakti‐ schen Narremen zuzurechnende thematische Einheitsstiftung (Wolf 2002a: 50) bei. Die Zentrierung auf eine die gesamte Erzählung leitende Problematik schafft als ‚roter Faden‘ der Erzählung inhaltliche Kohärenz. Viele Märchen beziehen aus diesem Phänomen ihren Kanon-Status. Sie stehen - prototypisch - für 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 74 <?page no="75"?> anthropomorphe Verhaltensweisen wie Neugier, Verführung, Schlauheit usw. Dieser Aspekt von Erzählwürdigkeit kann von den Rezipierenden im Fremd‐ sprachenunterricht zur Unterstützung des Verstehens genutzt werden. Diesen Aspekt verstärkt m. E. ein weiteres syntaktisches Narrem, die Teleologie, die der formal-erzähllogischen Einheitsstiftung zuzurechnen ist. Mithilfe dieses Nar‐ rems kann die Abfolge der Handlungen und Geschehnisse so gestaltet werden, dass die Rezipierenden entdecken, worauf die Handlung abzielt, und damit in emotionale und / oder intellektuelle Spannung versetzt werden. Beim mündlich-fiktionalen Erzählen im Fremdsprachenunterricht wird als ein wichtiger werkexterner Faktor der Lernstand der Lerngruppe zu beachten sein. Aber auch das Alter der Lerngruppe, aktuelle Modeerscheinungen, bisher erworbene literarische Kompetenzen der Lernenden u. a. m. sind zu bedenken. Für die empirische Untersuchung interessant ist die Wechselwirkung zwischen werkexternen und werkinternen Faktoren. So ist es möglich, dass die Lernenden die Erzählwürdigkeit der gehörten Geschichte übereinstimmend auf Seiten der inhaltlichen Narreme sehen, während die Lehrkraft eher auf die qualitativen Narreme bei der Textauswahl setzt. Möglich ist auch eine individuell unter‐ schiedliche Wahrnehmung und Beurteilung innerhalb der Lerngruppe. Als Konsequenz aus der Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Erzähl‐ würdigkeit ergeben sich weitere narrationsspezifische Aufgaben für die Akteure der narrativen Interaktion. Die Lehrkräfte als Erzählende haben die Aufgabe, die Erzählwürdigkeit der ausgewählten Geschichte auf werkinterner Ebene aus ihrer Perspektive zu definieren, diese in Beziehung zu dem von ihnen erwarteten Rezeptionsverhalten der Lernenden zu setzen und die Erzählwürdigkeit der Ge‐ schichte in ihrer Performance zum Tragen zu bringen. Die Lernenden als Zu‐ hörende haben die Aufgabe, in der direkten Kommunikation Erzählwürdiges wahrzunehmen und dessen Erscheinungsformen für das individuelle Verstehen zu nutzen. 3.3 Mündlich-verbales Erzählen (2): fiktionales Erzählen Da es sich bei den von den Lehrkräften ausgewählten Erzählungen um fiktionale und schwerpunktmäßig um Märchentexte handelt, wird im Folgenden das Spe‐ zifische des fiktionalen Erzählens in Mündlichkeit herausgestellt und vom kon‐ 3.3 Mündlich-verbales Erzählen (2): fiktionales Erzählen 75 <?page no="76"?> 18 Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem für die Literaturwissenschaft zentralen, teilweise heftig umstrittenen Begriff der Fiktionalität (Hempfer 2002a: 107ff., Zipfel 2001: 13-29, Kablitz 2008: 13, Zymner 2010b: 315) ist für die Studie nicht funktional und wird deshalb auch nicht geführt. 19 Lejeune geht, was den autobiografischen Pakt betrifft, von einer stillen Übereinkunft zwischen Autorinnen und Autoren und ihrer Leserschaft aus. Darin versichern sie ge‐ genüber ihrer Leserschaft, dass es eine „Namensidentität zwischen Autor, Erzähler und Protagonisten“ (Lejeune 1994: 28) gibt. Die Vorstellung von einem stillen Pakt überträgt er auf den Roman. Hier besteht der Pakt in der beidseitigen Übereinkunft darüber, dass es sich um ein fiktionales Textangebot handelt (Lejeune 1994: 29). Die Signale für eine solche Übereinkunft gehen vom Genre - der Autobiografie bzw. des Romans - aus. versationellen Erzählen abgegrenzt 18 . Die in der Literaturwissenschaft bis in die 90er Jahre kontrovers diskutierte Frage, ob Fiktionalität als eine Eigenschaft von Texten oder als eine Zuschreibung von Seiten der Rezipierenden zu verstehen ist (Hempfer 2002a: 117), ist auch für meine Studie relevant. Inzwischen besteht Konsens darüber, dass sowohl die Ebene des Textes als auch die der Rezeption zur Definition des Begriffes hinzugezogen werden müssen. Konsens besteht au‐ ßerdem darin, Fiktionalität als ein ‚Spiel‘ bzw. als ein ‚Als-Ob-Handeln‘ (s. auch Barsch 2004: 181, Klinkert 2004: 30, Hempfer 2002a: 121), als ‚inszenierten Dis‐ kurs‘ zu begreifen, der die Wirklichkeit der Existenz der entworfenen Welten vortäuscht, die Rezipierenden aber auffordert, an diesem Spiel mitzuwirken. Das fiktionale Spiel realisiert sich dann, wenn beide Seiten mitspielen - wenn von Seiten des Textes eine „Einladung zum Eintritt ins fiktionale Universum“ (Ge‐ nette: 1992: 49) und von Seiten der Rezipierenden „das mehr oder weniger still‐ schweigende Einverständnis“ (a. a. O.: 51) zum Eintritt in die Welt der Fiktion vorliegt. Eine solche Übereinkunft werde ich - in Anlehnung an den pacte auto‐ biographique und den Romanpakt von Lejeune - als einen pacte de fiction be‐ zeichnen 19 . Damit der Fiktionalitätspakt funktioniert, braucht es einen Rahmen (z. B. den der öffentlichen Aufführung in der Institution Theater) und es braucht Rezipientinnen und Rezipienten, die sich auf den Pakt einlassen bzw. die Signale der Fiktionalen wahrnehmen können und wollen. Einen wichtigen Impuls zur Zusammenführung der textuellen und der prag‐ matischen Ebene geben Hempfers fiktionstheoretische Überlegungen, die so‐ wohl textinterne als auch textexterne Aspekte der Fiktionalität in den Blick nehmen, so dass Fiktionalität als textstrukturelles und als interaktives Phä‐ nomen zwischen Rezipierenden und Text begriffen werden kann. Genau dieser Zusammenhang wird bei der empirischen Untersuchung eine Rolle spielen. Hempfers Ansatz liefert dazu passende Instrumente, indem er zwischen Fikti‐ onsmerkmalen und Fiktionssignalen unterscheidet: 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 76 <?page no="77"?> 20 Die in der Literaturwissenschaft geführte Diskussion zum Verzicht auf diese Unter‐ scheidung in Bezug auf narrative Texte in schriftlicher Kommunikation (Kablitz 2008) spielt im Kontext meiner Studie keine entscheidende Rolle und wird deshalb auch nicht thematisiert. Fiktionssignale sind kommunikativ relevant und damit notwendig variabel, sie ga‐ rantieren, daß ein Text von den Rezipienten bei adäquater Kenntnis der zeitgenössisch jeweils gültigen Diskurskonventionen als ein fiktionaler verstanden wird - Fiktions‐ merkmale sind demgegenüber Komponenten einer Theorie, die ein solches Ver‐ ständnis zu rekonstruieren versucht, indem sie explizit die Bedingungen formuliert, die vorliegen müssen, um einen Text als - mehr oder weniger - fiktional einzustufen. (Hempfer 2002a: 119) Zentrale Fiktionsmerkmale sind die Doppelung der Sprechsituation in narra‐ tiven Texten (durch textexterne und textinterne Sprecherinnen und Sprecher bzw. reale Autorinnen und Autoren und implizite Erzählerinnen und Erzähler), ferner die bereits erwähnte ‚Als-Ob-Struktur‘ (Hempfer 2002a: 120) und eine „auffällige Ausgestaltung der textinternen Sprechsituation“ (a. a. O.). Letztere besteht in der fast unbeschränkten „Verfügungsgewalt über [die erzählte] Welt“ (a. a. O.), wie sie in nicht-fiktionalen Diskursen nicht möglich ist. Die Verfü‐ gungsgewalt des textintern Sprechenden äußert sich z. B. in den diversen Mög‐ lichkeiten der Perspektivierung und des Ausspielens erzählerischer Allwissen‐ heit. Diese drei Merkmale lassen sich zur Modellierung der mündlich-fiktionalen Kommunikation und zur Abgrenzung des fiktionalen narrativen Diskurses ge‐ genüber dem konversationellen Alltagserzählen nutzen. Was das erste Merkmal, die Sprechsituation, betrifft, so sind beim konversa‐ tionellen Erzählen die mündlich Erzählenden im Augenblick des Erzählens gleichzeitig Autorinnen und Autoren 20 und diskursinterne Erzählende ihrer Ge‐ schichte. Eine Verdoppelung der Sprechsituation liegt nicht vor. Beim münd‐ lich-fiktionalen Erzählen bleibt der Unterschied zwischen Autorinnen und Au‐ toren und diskursinternen Erzählenden erhalten. Die fiktionale Erzählsituation reguliert sich über den pacte de fiction. Die mündlichen Erzählerinnen und Er‐ zähler können den Pakt explizit machen, indem sie ihrem Publikum erklären, dass sie eine ihnen zur Verfügung gestellte, gehörte oder gelesene Geschichte erzählen werden. Selbst wenn sie die Geschichte selbst erfunden haben, sind sie doch nicht mit dem diskursinternen Erzähler ihrer Geschichte identisch. Aber sie übernehmen dessen Rolle, denn sie werden in der mündlichen Situation zu Darstellerinnen und Darstellern des diskursinternen Erzählers. Sie eröffnen als ‚präsente‘ Erzählende ihrem Publikum die Möglichkeit, sich mit ihnen ge‐ meinsam auf das ‚Als-Ob-Spiel‘ der Fiktion einzulassen. 3.3 Mündlich-verbales Erzählen (2): fiktionales Erzählen 77 <?page no="78"?> Das zweite Merkmal des Fiktionalen, das ‚Als-Ob-Spiel‘, liegt zum einen der erzählten Geschichte zugrunde und unterscheidet die fiktionale Erzählung von der auf Vermittlung tatsächlich erlebter Geschichten abzielenden konversati‐ onellen Erzählung. Es ist zum anderen auch als Rezeptionsprinzip präsent. Das Spielerische der Rezeption können die Erzählenden performativ verstärken durch den Einsatz entsprechender Mittel (Kap. 4.3). Auch über das dritte Merkmal von Fiktionalität, der Verfügungsmächtigkeit über die erzählte Welt, grenzt sich das mündlich-fiktionale vom konversatio‐ nellen Erzählen ab. Mündlich Erzählende können das in der Erzählung angelegte Mächtigkeitsprinzip performativ nutzen, indem sie mit dem Text und den per‐ formativen Gestaltungsmitteln flexibel umgehen. Sie können z. B. eine Passage der Erzählung kürzen, die andere ausgestalten oder das Verhalten der Figuren wie ein allwissender Erzähler verbal und non-verbal kommentieren und so mit der Perspektivierung der Narration spielen. Die Fiktionsmerkmale mündlich-fiktionaler Erzählungen manifestieren sich demzufolge in textuellen und pragmatischen Fiktionssignalen. Eine wichtige Rolle beim mündlich-fiktionalen Erzählen im Klassenzimmer spielen • als pragmatische Fiktionssignale die Gestaltung der Kommunikationssi‐ tuation und des Kommunikationsraumes, wozu die Übernahme der nar‐ rativen Jobs, die Haltung und inszenierte Aufmerksamkeitslenkung der Erzählenden sowie evtl. besondere räumliche Arrangements gehören, • als paratextuelle Fiktionssignale Genrebezeichnungen und weitere text‐ externe Ankündigungen, besonders in der Phase der Darstellung von In‐ haltsrelevanz (Kap. 3.2.2), • als textuelle Fiktionssignale prototypische Oberflächensignale wie Eröff‐ nungs- und Schlussformeln, genretypische Angaben zu Ort, Zeit und Per‐ sonen (Nünning 2004c: 182) sowie narrationstypische Diskursmarker. Auf der Ebene der konkreten unterrichtlichen Kommunikation interessieren im Rahmen meiner Studie die Bedingungen, unter denen der pacte de fiction zu‐ stande kommen kann. Für die Realisierung des mündlich-fiktionalen Erzählens genügt nicht allein die Übernahme der narrativen Jobs (Kap. 3.2.2) durch die Kommunikationspartnerinnen und -partner. Auf Seiten der Rezipierenden be‐ darf es der Disposition, die fiktionale Inszenierung wahrzunehmen und sich damit auf eine Interaktionsform mit der Erzählung einzulassen, die Klinkert als „ästhetische Einstellung“ (Klinkert 2004: 33) bezeichnet. Auf Seiten der Erzäh‐ lenden bedarf es der Bereitschaft, das mündliche Erzählen als Inszenierung (Kap. 4.1) mit performativen Mitteln auszugestalten und damit eine Interaktionsform anzubieten, die ich in Anlehnung an die Disposition der Rezipierenden als äs‐ 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 78 <?page no="79"?> 21 Der prototypische Charakter des Märchens erlaubt es, die textuelle Realisierung der qualitativen, inhaltlichen und syntaktischen Narreme anhand eines beliebigen Mär‐ chentextes beispielhaft aufzuzeigen, wie es bei der funktionalen Analyse des Märchen‐ textes Le conte des échanges (Kap. 9.1) erfolgt. 22 Die Begriffe „Strukturmuster / Handlungsstereotype“ sind auf die Proppschen Funkti‐ onen (Propp 1970: 147-154) rückführbar. Zur Konzeption und Rezeption der Proppschen Morphologie durch die Märchenforschung s. Göbler 2004: 553-554, Lüthi 2005: 115-121, Neuhaus 2005: 25-26. thetische Angebotshaltung bezeichnen möchte. Das Zustandekommen des pacte de fiction auf der Grundlage textueller Signale und ästhetisch-interaktioneller Übereinkünfte der Kommunikationspartner macht es möglich, dass das münd‐ liche Erzählen im Klassenzimmer zu einem ästhetischen Erlebnis der Fremd‐ sprache werden kann. Damit ist auch je nach Lernstand, Lernalter und Fremd‐ sprachenprofil der Rezipierenden die Möglichkeit gegeben, die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Handlung der Erzählung, sondern auch auf ihre „Gemachtheit“ (Klinkert 2004: 33) zu richten und diese sprachpraktisch zu nutzen. Die Ver‐ wandlung der narrativen Diskurseinheit in eine Aufführung wird in der Unter‐ suchung der performativen Dimension (Kap. 4.1), die Überführung des fiktio‐ nalen in einen performativen Pakt wird in der Auswertung der empirischen Ergebnisse (Kap. 11.2.7) thematisiert. 3.4 Mündlich-verbales Erzählen (3): Erzählen von Märchen- und Album-Adaptionen Da es sich bei den von den Lehrkräften ausgewählten Erzählungen in erster Linie um Märchentexte, in zweiter um Albums pour enfants handelt, wird die Recherche des Potenzials mündlich-fiktionalen Erzählens im Hinblick auf diese literarischen Genres, schwerpunktmäßig auf das Genre Märchen, fortgesetzt. Dies geschieht unter drei Gesichtspunkten: dem prototypischen Charakter des Märchens, seiner Markierung durch das Mündlichkeitsprinzip (Kap. 3.5.3) und der Frage seiner Zugehörigkeit zum System der Literatur. Als Prototyp des Narrativen 21 wird das Märchen wegen seiner „noch rela‐ tiven Nähe zur Urform des mündlichen Erzählens“ (Wolf 2002a: 36, Lange 2007b: 23-25) und wegen seines Bekanntheitsgrades, seiner Kürze und seiner Über‐ schaubarkeit (Wolf 2002a: 44) gesetzt. Die Nähe zur ‚Urform‘, d.h. der primären Mündlichkeit, ist an den noch in der schriftlichen Verfasstheit identifizierbaren strukturbildenden Elementen (Kap. 3.5.3) erkennbar. Dazu gehören das Erzählen in Mustern bzw. Handlungsstereotypen wie Auszug, Entfernung, Vertreibung, Bewährung, Rückkehr des Helden 22 , ferner die Dominanz der Handlung, die 3.4 Mündlich-verbales Erzählen (3): Erzählen von Märchen- und Album-Adaptionen 79 <?page no="80"?> additive Gestaltung des Erzählflusses, die Dialogisierung, das Formelhafte des Diskurses sowie das Prinzip der Wiederholung (Koch / Oesterreicher 1985: 30, Ong 1987: 30ff., 42ff. ). Diese strukturellen Merkmale bilden das „prototypische Rückgrat des Narrativen“ (Wolff 2002a: 46). Weitere märchenspezifische Struktur- und Stilelemente tragen zur Einheitsbildung des Genres bei und cha‐ rakterisieren wesentlich den vom Märchen angebotenen pacte de fiction. Dazu gehören u. a. das Wunderbare, das in der eindimensional gehaltenen Märchen‐ welt „nicht fragwürdiger [ist] als das Alltägliche“ (Lüthi 2005: 11), die flächen‐ hafte, auf binären Oppositionen beruhende Figurengestaltung, die märchenspe‐ zifische Topografie, die märchenspezifischen Requisiten und Symbolzahlen (Lüthi 2005: 8-12, 13-24). Die Nähe zur Mündlichkeit wird in der kinderliterarischen Forschung als ein wesentliches Merkmal der Kinder- und Jugendliteratur bezeichnet. [Die Kinderliteratur] hat sich bemüht, eine gewisse Nähe zur Mündlichkeit zu wahren; ja, sie erscheint streckenweise als eine schriftliterarische Imitation mündlicher Rede […]. Mit Blick auf die neueren Epochen darf man in dieser Nähe zur Mündlichkeit wohl das auffälligste stilistische Merkmal kinderliterarischer Texte sehen. (Ewers 2000b: 263) Die starke Markierung durch das Mündlichkeitsprinzip teilen die Genres des Märchens und des Album mit der Kinder- und Jugendliteratur. Während sich das Album eindeutig der Kinder- und Jugendliteratur zuweisen lässt, ist die Zu‐ gehörigkeit des Märchens zur Kinder- und Jugendliteratur umstritten. Je nach kulturellen Traditionen, denen das Märchen entstammt, je nach lite‐ rarhistorischen Gegebenheiten, nach literarischen Moden oder Einflüssen des Marktes, je nach medialen oder anderen Bearbeitungen des Märchens (Ewers 1990: 20, Neuhaus 2005: 3ff.) ist ein Erwachsenen- oder ein Kinder- / Jugend‐ publikum anvisiert bzw. wird es von der jeweiligen Gruppe als Märchen für Erwachsene oder als Märchen für Kinder / Jugendliche wahrgenommen. Wei‐ terführend im Kontext meiner Studie sind die Kriterien zur Bestimmung der Kinder- und Jugendliteratur, die O’Sullivans kinderliterarische Kompara‐ tistik auf systemischer Ebene liefert. O‘Sullivan weist die Kinder- und Jugend‐ literatur als ein relativ selbstständiges Subsystem des literarischen Systems aus, „das über ein eigenes literarisches Handlungssystem von Hervorbringung, Ver‐ trieb und Rezeption verfügt, welches sich von der Allgemeinliteratur abgrenzt […].“ (O’Sullivan 2000: 110). Drei Leitcharakteristika arbeitet O’Sullivan zur Ab‐ grenzung der Systeme heraus: die Zuweisung kinderliterarischer Texte zum Subsystem durch institutionelle Vermittlungsinstanzen, die Doppelzugehörig‐ keit der Texte zu zwei Systemen, dem pädagogischen und dem literarischen, und 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 80 <?page no="81"?> 23 Dazu gehören vor allem Ewers 1990, 2000a, 2000b und Lypp 1984. 24 O’Sullivan geht literaturtheoretisch davon aus (O’Sullivan 2000: 122), dass sich die text‐ externe Asymmetrie textintern auf der Ebene des Erzählkonzepts fortsetzt, und zwar in der Kommunikation des impliziten Autors (als Autorenbewusstsein, das die Ent‐ scheidungen über histoire und discours fällt) mit dem impliziten Leser (als Vorstellung von der Rezeption des Textes). Die Entscheidungen zur Überwindung der kommuni‐ kativen Instanz werden hier gefällt. Sie materialisieren sich im (fiktiven) Erzähler und im figural ausgestalteten oder als Figur nicht präsenten (fiktiven) Adressaten: „Hier kann die Ungleichheit der Kommunikation zwischen Erwachsenem und Kind augen‐ fällig werden oder in den Hintergrund treten; mit einer entsprechenden Gestaltung des Erzählers wird eine Kommunikation zwischen gleichen Partnern möglich.“ (a. a. O) 25 Die Doppeladressierung wird in der Theorie der Kinder- und Jugendliteratur konsen‐ suell als innertextuelles Phänomen diskutiert (O’Sullivan 2000: 122ff. und Ewers 1990: 19ff.). die Asymmetrie der Kommunikation zwischen erwachsenem Autor und ju‐ gendlichem Leser (a. a. O.: 111). Die Zugehörigkeit der Kinderliteratur zu beiden Systemen macht diese Literatur für den Einsatz im Unterricht besonders ge‐ eignet, weil die Wirkungsabsichten beider Systeme, die pädagogische und die ästhetische, gemeinsam zur Realisierung unterrichtlicher Zielsetzungen genutzt werden können. Die institutionelle Zuteilung durch außenstehende Vermittler spielt im Kontext des mündlichen Erzählens eine untergeordnete Rolle. Von großer Relevanz ist die asymmetrische Kommunikation. O’Sullivan und andere Forscher der Kinder- und Jugendliteratur setzen an diesem Phänomen an, um zu zeigen, wie das Asymmetrieverhältnis der systemischen Ebene auf textinter‐ ner Ebene ästhetisch gelöst wird 23 . Im ‚Schreiben auf Augenhöhe‘ wird versucht, die kommunikative Distanz zwischen den ungleichen Partnern zu überwinden. Mittel der Überwindung sind die innertextuelle Adressierung 24 und der Einsatz poetischer Mittel, mit denen der (jugendliche) implizite Leser auf Augenhöhe angesprochen wird. Eine andere Variante der Ansprache der Adressatinnen und Adressaten ist die der Doppeladressierung, bei der Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen als Adressatinnen und Adressaten in den Text eingeschrieben sind 25 . Dazu werden Vertextungsmittel eingesetzt, die unterschiedliche Lesarten erlauben, z. B. eine Lesart auf der Handlungsebene (für die kindliche Leserschaft) und eine auf der tieferen Bedeutungsebene (für die Erwachsenen). Auf diese Weise werden für alle Adressatinnen und Adressaten ästhetische Angebote be‐ reitgehalten, die die realen Leserinnen und Leser je nach Interesse und literari‐ scher Kompetenz wahrnehmen. Die meisten, einem breiten Publikum bekannten europäischen Volksmärchen in der Fassung ihrer Sammlerinnen und Sammler des 19. Jahrhunderts werden heute als Texte der Kinder- und Jugendliteratur gelesen, wenn sie nicht in einer besonderen textuellen oder medialen Bearbeitung, z. B. als Comic oder Musical, 3.4 Mündlich-verbales Erzählen (3): Erzählen von Märchen- und Album-Adaptionen 81 <?page no="82"?> vorliegen. Dasselbe gilt für das Genre Album. Deshalb kann das Erzählen von Märchen oder von Zaubergeschichten ein kommunikatives Problem zwischen Erzählenden und einem - zumindest im Unterricht der Sekundarstufe I - nicht mehr kinderliterarischen Publikum darstellen. Die empirische Untersuchung der Erzählstunden wird herausarbeiten, ob und mit welchen Mitteln eine Kom‐ munikation auf Augenhöhe zustande kommt. 3.5 Mündlich-verbales Erzählen (4): ästhetische Konzeption fiktionaler Diskurse zwischen zwei Mündlichkeitsformen Die Recherche des Potenzials mündlich-verbalen Erzählens wird durch die Frage nach der ästhetischen Konzeption des fiktionalen narrativen Diskurses fortge‐ setzt. Leitgedanke ist, dass die mediale Mündlichkeit der narrativen Vermitt‐ lungsform ‚Erzählperformance‘ die ästhetische Konzeption des Diskurses we‐ sentlich beeinflusst. Deshalb werden zunächst die Charakteristika der mündlichen Erzählsituation benannt (Kap. 3.5.1) und anschließend Merkmale der Anpassung des Erzähldiskurses an die mündliche Erzählsituation heraus‐ gearbeitet. Sie bestehen in der Modellierung der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit des Erzähldiskurses (Kap. 3.5.3). 3.5.1 Die Medialität der mündlichen Erzählsituation Die mündliche Kommunikation von Erzählungen kann von der schriftlichen Kommunikation im Wesentlichen anhand von zwei Faktoren unterschieden werden. Der eine Faktor besteht in der direkten Form der Kommunikation, der zweite in den strukturbildenden Merkmalen der als Medium aufgefassten Münd‐ lichkeit. In der direkten Form, der face-to-face-Kommunikation, stehen sich die Kom‐ munikationspartnerinnen und -partner ohne vermittelnde Instanz gegenüber. Es handelt sich um eine […] elementare Konstellation, in der (mindestens) zwei Aktanten miteinander kom‐ munizieren. Beide haben an einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum teil, worauf sich der Ausdruck ‚face to face‘ mit Blick auf die wechselseitige visuelle Wahrnehmung bezieht. Die Hervorhebung der visuellen Wahrnehmung lässt den Ausdruck besonders zur Bezeichnung nonverbaler Kommunikation geeignet erscheinen. Übertragen auf die akustische Wahrnehmung, bezeichnet er aber auch insgesamt die für die Sprech‐ situation kennzeichnende gleichzeitige Präsenz von Sprecher und Hörer (Diskurs), die bei vermittelteren Kommunikationsformen (Text) aufgegeben ist. (Ehlich 2007: 5) 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 82 <?page no="83"?> In der Hier-und-Jetzt-Situation (Bühler 1965: 102) sind die Kommunikations‐ partnerinnen und -partner gleichzeitig präsent und kommunizieren über das‐ selbe räumliche und zeitliche Zeigfeld. An der direkten Kommunikation ist die Körperlichkeit der gleichzeitig präsenten Partnerinnen und Partner beteiligt: Auge, Ohr, Stimme, Bewegung, Gesichtsausdruck, Stimmung, Gefühle. Damit sind mehrere Zeichensysteme im Spiel, neben dem verbalen das akustische und das visuelle. Strukturbildende Merkmale des Mediums Mündlichkeit sind die Linearität der Produktion und Rezeption, die Irreversibilität und Flüchtigkeit des Gespro‐ chenen (Zollna 1999: 14). Im Rekurs auf intermediale literaturwissenschaftliche Ansätze (Wolf 2002b: 163-192, Wolf 2002a: 23-104, Rajewsky 2002: 7) kann die narrative Vermittlungs‐ form ‚Erzählperformance‘ als eine medienspezifische Gattung bzw. selbst als Medium aufgefasst werden. Wolf definiert Medium als ein […] distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv. Dieses ist in erster Linie durch einen spezifischen (z. B. symbolischen oder ikonischen) Gebrauch eines semiotischen Systems (Sprache, Bild), in manchen Fällen auch durch die Kombination mehrerer Zeichensysteme […] zur Übertragung kultureller Inhalte gekennzeichnet und erst in zweiter Linie […] durch bestimmte technische Medien bzw. Kommunikationskanäle. Medium in diesem Sinne umfasst also die traditionellen Künste mit ihren Vermitt‐ lungsformen ebenso wie neue Kommunikationsformen, gleichgültig, ob ihnen - ein ohnehin heute vielfach problematisierter - Kunststatus zuerkannt wird oder nicht.“ (Wolf 2002b: 165) Die Erzählperformance stellt dieser Definition zufolge eine narrative Kunstform dar, die in direkter, mündlicher Kommunikation zwischen Erzählenden und ihrem Publikum hervorgebracht wird. 3.5.2 Mediale Mündlichkeit vs. konzeptionelle Mündlichkeit Die Medialität der Mündlichkeit (Kap. 3.5.1 und Kap. 4.2) stellt nur die eine Seite der mündlichen narrativen Präsentationsform dar. Die zweite Seite erschließt sich, wenn man das Phänomen der Mündlichkeit unter konzeptionellem Aspekt aus werkinterner Perspektive betrachtet. Konzeptionelle Mündlichkeit bedeutet im Unterschied zur medialen Mündlichkeit die innertextuell bzw. diskursintern konstruierte Mündlichkeit eines Textes bzw. eines Diskurses. Diese wird erzeugt 3.5 Mündlich-verbales Erzählen (4): ästhetische Konzeption fiktionaler Diskurse 83 <?page no="84"?> 26 Den Begriff „Bezugnahme“ verwende ich im Sinne des Intermedialitätskonzepts von Rajewsky (2002) als Mediengrenzen überschreitendes textuelles Verfahren, bei dem das kontaktnehmende Medium sich auf ein kontaktgebendes Medium bezieht. Die Anwen‐ dung des Begriffs auf den Kontext mündlichen Erzählens bedeutet, dass der Text bzw. der Diskurs als kontaktnehmendes, eindimensionales Medium aufgefasst wird, der sich auf Verfahren des kontaktgebenden, pluridimensionalen Mediums der Mündlichkeit bezieht. Allerdings geht es in diesem Fall nicht um die Simulation von Plurimedialität (Rajewsky 2002: 69-77), sondern um die Simulation der Merkmale ꞋGegenwärtigkeit / Unmittelbarkeit der KommunikationꞋ medialer Mündlichkeit. durch Bezugnahme auf die Merkmale medialer Mündlichkeit 26 . Der Text bzw. der Diskurs versucht damit, über seine mediale Verfasstheit hinauszuweisen und Gegenwärtigkeit zu simulieren. Das Phänomen der Mündlichkeit unter beiden Aspekten, dem medialem und dem konzeptionellem Aspekt, zu betrachten, ist für die Recherche des Potenzials mündlichen Erzählens und für Analyse der Erzählperformances der Studie aus folgenden Gründen relevant: 1. Mediale und konzeptionelle Mündlichkeit stellen unterschiedliches äs‐ thetisches Potenzial für den Fremdsprachenunterricht bereit, das sich vor allem im Zusammenhang nutzen lässt. Während die mediale Mündlich‐ keit ein breites Spektrum plurimedialer Zeichen zur ästhetischen Gestal‐ tung bereithält, verfügt die konzeptionelle Mündlichkeit nur über mono‐ mediale, sprachliche Zeichen. Bei der Realisierung der mündlichen Präsentation der Erzählung als Performance müssen die Zeichen aufei‐ nander bezogen werden, um ihr jeweiliges Potenzial und ihr (aufeinander bezogenes) Gesamtpotenzial zu entfalten. Wie die Beziehung gestaltet wird, hängt von der ästhetischen und pädagogischen Konzeption der Er‐ zählperformance ab. 2. Mediale und konzeptionelle Mündlichkeit sind unterschiedlichen Welten zuzuordnen, die im Augenblick der Produktion und Rezeption gleichzeitig gegenwärtig sind. Während die mediale Mündlichkeit Teil der realen Welt ist, wird die konzeptionelle Mündlichkeit künstlich erzeugt. Sie gehört zur ästhetischen Illusionsbildung. Beide Aktionen, das Erzählen in di‐ rekter Kommunikation durch reale Erzählende und die Erzählung der Handlung und die Dialoge der Figuren, spielen sich in unterschiedlichen Handlungsräumen ab, dem realen und dem imaginären Raum des Fikti‐ onalen. Die erzählte Geschichte ist immer nur Repräsentation von Zeiten, Orten, Geschehnissen, Handlungen und Dialogen, die sich nicht in der real ablaufenden Zeit abspielen. Und genau das ist der Grund dafür, dass ein Text / ein Diskurs zu Mitteln greift, um die Gegenwärtigkeit seiner Welt mit dem ihm zur Verfügung stehenden verbalen Mitteln vorzutäu‐ 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 84 <?page no="85"?> schen, d.h. zur Strategie des Mündlichkeitsbezugs zu greifen. Die kon‐ zeptionelle Mündlichkeit hält strukturelles Potenzial bereit, um die beiden Welten für die Zeit der Rezeption in eine Beziehung zu bringen, die die Rezeptionsdisposition der Zuhörerschaft steigert. Konzeptionelle Münd‐ lichkeit erzeugt Spannung, involviert die Zuhörer in das fiktionale Ge‐ schehen. 3. Konzeptionelle Mündlichkeit kann in einer weiteren hörerbezogenen Funktion eingesetzt werden. Es ist davon auszugehen, dass ein Diskurs, der seinen mündlichen Rezeptionsmodus mitbedenkt, anders gestaltet wird als ein ausschließlich zur schriftlichen Rezeption produzierter Text. Der Mündlichkeitsbezug stellt Mittel zur Diskursstrukturierung zur Ver‐ fügung, die darauf ausgerichtet sind, den Rezeptionsmodus in Mündlich‐ keit zu berücksichtigen, d.h. die Prozesshaftigkeit, Flüchtigkeit und Irre‐ versibilität der mündlichen Rezeption (Kap. 3.5.1) auszugleichen. Konzeptionelle Mündlichkeit hält strukturelles Potenzial zur hörerbezo‐ genen Diskursstrukturierung bereit. Dieses Potenzial kann pädagogisch zur Regulierung der (fremd-)sprachlichen Rezeption genutzt werden. Aus den genannten Gründen ist davon auszugehen, dass die Lehrkräfte bei der Auswahl der Erzählung bereits ihre künftige Rolle als reale Erzählerinnen und Erzähler bedenken und demzufolge die mediale Mündlichkeit der Erzählsitua‐ tion und die performative Gestaltung ihres Erzählens im Blick haben - oder sich von der Erzählung für eine bestimmte Performance inspirieren lassen. Die Mög‐ lichkeiten der Modellierung der konzeptionellen Mündlichkeit werden deshalb im folgenden Kapitel dargestellt. 3.5.3 Modellierungsmöglichkeiten konzeptioneller Mündlichkeit Die konzeptionelle Mündlichkeit eines Textes bzw. Diskurses übernimmt in der werkinternen Kommunikation die Rolle eines Gegenpols zur konzeptionellen Schriftlichkeit. Beide Prinzipien bilden ein Spannungsfeld, zwischen dem sich 3.5 Mündlich-verbales Erzählen (4): ästhetische Konzeption fiktionaler Diskurse 85 <?page no="86"?> 27 Ich werde im Folgenden im Rekurs auf die Oralitätsforschung der 80er und 90er Jahre (Koch / Österreicher 1985, Raible 1991b, 1991c und auch Fischer-Lichte 1991) ‚konzep‐ tionelle Mündlichkeit und konzeptionelle Schriftlichkeit‘ verwenden, auch wenn Koch / Österreicher im Hinblick auf die poésie orale primärer Mündlichkeit und auf den künst‐ lerisch-ästhetischen Diskurs sekundärer Mündlichkeit den Begriff ‚elaborierte Münd‐ lichkeit‘ vorschlagen. Der Begriff ‚elaborierte Mündlichkeit‘ scheint mir mehr Verwir‐ rung zu stiften als der Gebrauch ‚konzeptionelle Schriftlichkeit‘ für mündlich präsentierte Diskurse, weil ‚Elaboriertheit‘ auch als Merkmal konzeptioneller Schrift‐ lichkeit verwendet wird. Ich gehe davon aus, dass das Prinzip ‚konzeptionelle Schrift‐ lichkeit‘ als textbzw. diskursgenerierendes Prinzip aufgefasst wird. Die Medialität der Schriftlichkeit ist damit nicht gemeint. der Text bzw. Diskurs bewegt, wobei die konzeptionelle Schriftlichkeit 27 das Prinzip kommunikativer Distanz, die konzeptionelle Mündlichkeit das Prinzip kommunikativer Nähe darstellt. Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen konzeptioneller Schriftlichkeit und konzeptioneller Mündlichkeit als Gegen‐ satzpaar zur medialen Schriftlichkeit / Mündlichkeit stütze ich mich im We‐ sentlichen auf die Ergebnisse der Oralitätsforschung von Koch / Oesterreicher (1985) und des Freiburger Sonderforschungsbereichs „Übergänge und Span‐ nungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ (Raible 1988b, 1991b, 1991c). Zur präzisen Erarbeitung der Kategorien für die funktionale Analyse des mündlich-fiktionalen Erzähldiskurses (Kap. 3.6) verbinde ich die in der Orali‐ tätsforschung gewonnenen Gestaltungsprinzipien von Texten bzw. Diskursen mit denen der intermedialen Narrativik. Für eine Übertragung der Prinzipien konzeptioneller Schriftlichkeit und Mündlichkeit auf textbzw. diskursgenerierenden Prinzipien narrativer Werke bieten sich Erzählmodus und Erzählhaltung an - darin insbesondere die Merk‐ male telling vs. showing (Antor 2004: 115), Situationsentbundenheit vs. Situati‐ onsverschränkung, Strukturiertheit vs. Vorläufigkeit, (Koch / Oesterreicher 1985: 23), Entspanntheit vs. Gespanntheit der Sprecherhaltung (Weinrich 2001: 47-53) - ferner Strukturprinzipien wie z. B. die syntaktischen Narreme sowie besondere Versprachlichungsstrategien der Textoberfläche. Da im Zusammen‐ hang der Studie überwiegend von einem mündlichen narrativen Werk ausge‐ gangen wird, werde ich zur Bezeichnung der Gegenpole statt ‚konzeptioneller Schriftlichkeit vs. konzeptioneller Mündlichkeit‘ die Begriffe konzeptionelle Distanz vs. konzeptionelle Nähe (Koch / Oesterreicher 1985: 21) verwenden. Während bei der Medialität der Mündlichkeit ein Entweder - Oder (Raible 1991b: 7) vorliegt, d.h. die narrative Präsentationsform entweder mündlich oder schriftlich erfolgt, ist die konzeptionelle Mündlichkeit graduierbar. Die Bezug‐ nahme eines Textes bzw. Diskurses auf die mediale Mündlichkeit lässt sich demzufolge auf einem Skalar zwischen den Polen konzeptioneller Distanz und 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 86 <?page no="87"?> 28 Eine Einteilung in zwei sich durch ihre Tradierungsformen unterscheidende Groß‐ formen findet sich bei Nänny als diachrone und synchrone Mündlichkeit (Nänny 1998: 215 f., Bergfelder-Boos / Bergfelder 2015: 11-16). konzeptioneller Nähe positionieren. Die Regulierung des Verhältnisses zwi‐ schen konzeptioneller Nähe und konzeptioneller Distanz fasse ich als Model‐ lierung der diskursinternen, konstruierten, konzeptionellen Mündlichkeit. Die Modellierung erfolgt mithilfe narrativer Verfahren, die sich den Merkmalen narrativer Texte bzw. Diskurse zuordnen lassen. Sie stehen dem schriftlichen Text wie auch dem mündlichen Diskurs zur Verfügung, werden jedoch unter‐ schiedlich, im Hinblick auf das ‚Bedienen‘ des jeweils intendierten Rezeptions‐ modus genutzt. Die Bezugnahme narrativer Werke auf die Mündlichkeit kann in zwei „Groß‐ formen“ (Bergfelder-Boos / Bergfelder 2015: 11-13) realisiert werden 28 . Die erste Großform (A) setzt vor allem auf den „Schein mündlichen Kommunizierens“ (Ewers 1991b: 106) durch Illusionsbildung. Dafür stehen narrative Verfahren zur Verfügung, die an charakteristische Merkmale alltäglicher mündlicher Kom‐ munikation anknüpfen bzw. sie fingieren, weshalb diese Verfahren auch als ‚fingierte Mündlichkeit‘ (Koch / Oesterreicher 1985: 24, Anm. 23, Müller-Ober‐ häuser 2004a: 475) bezeichnet werden. Als zweite Großform (B) stehen gat‐ tungstypologische Verfahren diverser Textgenres (wie z. B. die des Märchens, der Legende, aber auch der Novelle und des Romans) und der Rekurs auf poe‐ tische Verfahren vergangener oder aktueller poésie orale zur Verfügung (Zum‐ thor 1983: 47, 62). Die folgende Übersicht (Abb. 3) listet, aufgeteilt in die Großformen A und B, Ansatzpunkte zur Modellierung konzeptioneller Mündlichkeit auf: 3.5 Mündlich-verbales Erzählen (4): ästhetische Konzeption fiktionaler Diskurse 87 <?page no="88"?> 29 Die Auflistung der Gestaltungsmerkmale ist auf die für die Studie wichtigen Punkte fokussiert und erhebt deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es soll auch nicht behauptet werden, dass sie die einzigen Möglichkeiten der Herstellung von Nähe dar‐ stellen bzw. umgekehrt, dass diese Verfahren auf die Zielsetzung und Wirkungsweise der ‚Bezugnahme auf mediale Mündlichkeit‘ zu reduzieren wären. Einige nicht ge‐ nannte Verfahren, die dem Erzählmodus zuzurechnen sind (wie die Wahl und figurale bzw. nicht-figurale Ausstattung z. B. eines extra- oder intradiegetischen Erzählers oder die verschiedenen Formen der Fokalisierung), werden nicht aufgeführt. Die genannten Verfahren sind für den schriftlichen Text wichtiger als für den mündlichen Diskurs und der Versuch einer Skalierung dieser Verfahren würde im Rahmen dieser Studie zu weit führen. Abb. 3: Ansatzpunkte zur Modellierung konzeptioneller Mündlichkeit Für die Großform A sind fünf Merkmale der Tiefen- und Oberflächenstruktur des narrativen Diskurses aufgeführt. Den Merkmalen werden unter der Rubrik Distanz-Prinzip und Nähe-Prinzip die Gestaltungsprinzipien der Merkmale zu‐ geordnet 29 . Die mittlere Position (ausgeglichen) wird angezeigt, aber nicht be‐ grifflich ausdifferenziert. Die Möglichkeiten der Modellierung konzeptioneller 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 88 <?page no="89"?> Mündlichkeit werden im Folgenden anhand der in der Übersicht aufgelisteten Gestaltungsprinzipien vorgestellt. Großform A: fingierte Mündlichkeit: ① Erzählmodus: telling vs. showing: Diese beiden Prinzipien des Erzählmodus (Antor 2004: 115) stehen in der Nar‐ rativik für die Prinzipien Diegese vs. Mimesis und bezeichnen ein dominant szenisches Erzählen (Wolf 2004: 157). Zwei Möglichkeiten der Modellierung sind für den Mündlichkeitsbezug wichtig. a. Die eine besteht in der Regulierung der temporalen Beziehungen zwi‐ schen Geschichte und Erzählen (Fludernik 2010: 44-47, 103f., 113-115, Ge‐ nette 1972: 77). Wichtigster Faktor ist hier das Erzähltempo, die durée (Genette 1972: 122-144, Reuter 1991: 76-83). Dieser Faktor hält auf der Distanz-Seite das Prinzip der Raffung (sommaire bei Genette 1972: 129, 130-133) bereit, bei dem Ereignisse größerer Zeiträume der erzählten Zeit zusammengefasst werden, auf der anderen Seite das Prinzip der Zeit‐ gleichheit (scène bei Genette 1972: 141-144 ), das auf dem Prinzip der Dehnung beruht und zur Ausgestaltung von Szenen führt. Mithilfe der Szene-Technik kann der Eindruck vermittelt werden, die erzählte Hand‐ lung finde gerade zum Zeitpunkt des Erzählens statt. Szenische Gestal‐ tung bedient das Prinzip der Gegenwärtigkeit und verleiht der Erzählung Anschaulichkeit und Dramatik. b. Die zweite Möglichkeit besteht in der Regulierung des Verhältnisses von Erzähler- und Figurenrede. Ein Text mit ausschließlicher Figurenrede spielt ebenfalls mit der Vergegenwärtigung der Erzählung. Die Figuren‐ rede suggeriert die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption. Im Extrem kann diese Gestaltung den Eindruck erzeugen, die Erzählung er‐ zähle sich von alleine, ohne vermittelnde Erzählinstanz. Die Figuren scheinen direkt zum Adressaten zu sprechen (s. auch das monologische Sprechen in Rajewsky 2002: 125). Die dramatische Variante dieser Regu‐ lierung besteht in der direkten Rede, denn sie suggeriert die mediale Mündlichkeit der Origo-Situation. ② Erzählhaltung / Sprechhaltung Was die Haltung des Erzählers gegenüber seinem Gegenstand und die Haltung und Gemütsverfassung der Figuren betrifft, so können sie oszillieren u. a. zwi‐ schen Situationsentbundenheit und Situationsverschränkung, zwischen Reflek‐ 3.5 Mündlich-verbales Erzählen (4): ästhetische Konzeption fiktionaler Diskurse 89 <?page no="90"?> 30 Weinrich sieht das in das entspannte Erzählen eingebaute gespannte Erzählen als ein momentan-besprechendes Erzählen an, denn: „Er [der Erzähler, Einfügung durch Verf.] erzählt also als ob er bespräche. Dieses Als-ob ist ein wichtiges Konstituens der «span‐ nend» erzählenden Literatur.“ (Weinrich 2001: 53) tiertheit und Involviertheit (Koch / Oesterreicher 1985: 23), Expressivität und Affektivität (a. a. O.). Die beiden Pole „entspanntes vs. gespanntes Erzählen“ (Weinrich 2001: 47-53) sind sowohl dem Erzählmodus als auch der Erzählhaltung zuzuordnen. Ent‐ spanntes Erzählen führt den Adressaten der Erzählung weit in die Vergangen‐ heit zurück. Dem gegenüber zoomt das gespannte Erzählen die Ereignisse nahe an die Gegenwart heran. Der Wechsel von entspanntem in gespanntes Erzählen kündigt die Höhepunkte der Erzählung an. Entspanntes Erzählen findet im Tempus der Vergangenheit (Tempusgruppe I, z. B. im imparfait und passé simple) statt, gespanntes im Tempus der Gegenwart (Tempusgruppe II: z. B. présent, passé composé). Der Gebrauch des Präsens in der gespannten Sprechhaltung (Weinrich 2001: 52f.) ist besonders für den Fremdsprachenunterricht wegen des Schwierigkeitsgrads der Vergangenheitstempora interessant und stellt ein Mittel performativer Gestaltung dar. Die erzählenden Lehrkräfte gestalten - ebenso wie die Erzählerin Marie-Célie Agnant (2006b) - die Phasen des Dra‐ matisierens im Präsens, denn ihr performatives Erzählkonzept ist insgesamt auf eine gespannte, die Erzählsituation in die Gegenwart hineinholende Haltung ausgerichtet 30 . ③ Strukturierung der Erzählung / syntaktische Narreme Was die Strukturierung der Erzählung betrifft, so gehören zum Prinzip der Dis‐ tanz eine stringente Rhythmisierung der Erzählsequenzen und eine komplexe Gesamtstruktur. Das Nähe-Prinzip imitiert die assoziative Struktur alltäglicher, mündlicher Kommunikation. Die Gesamtstruktur erscheint hier einfach und vermittelt den Eindruck von Vorläufigkeit (Koch / Oesterreicher 1985: 23). Auf der Distanz-Seite sind außerdem syntaktische Narreme wie thematische Ein‐ heitsstiftung (Wolf 2002a: 50) und Teleologie (Wolf 2002a: 48) verortet. Auf der Nähe-Seite fehlt es der Kohärenzbildung an Elaboriertheit und die Themen können schon mal in alle Richtungen gehen. Für die Analyse des empirischen Materials spielen die von Brinker / Aus‐ born-Brinker (2010: 30-31) als grammatische Kohärenzbildung bezeichnete Wie‐ deraufnahme durch sog. Pro- Formen, die für die Nähe-Sprache typischen line‐ aren Verknüpfungen (Heinemann / Heinemann 2002: 70f.) und die anaphorische Wiederaufnahme eine große Rolle. 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 90 <?page no="91"?> 31 Obwohl die binäre Thema-Rhema-Strukturierung in der Textlinguistik nicht unum‐ stritten ist - z. B. wegen der Vermischung semantischer und kommunikativ-pragmati‐ scher Gesichtspunkte (Brinker / Ausborn-Brinker 2010: 45, Bußmann 733) - wird sie hier in die Charakterisierung der Nähe-Sprache aufgenommen, denn sie ist gerade bei konkreten Textanalysen, besonders für die Berücksichtigung kommunikativ-pragma‐ tischer Aspekte, hilfreich (s. auch Heinemann / Heinemann 2002: 72). Dasselbe gilt für die thematische Entfaltung. ④ Versprachlichungsstrategien Mit der Gegenüberstellung von Distanz- und Nähe-Sprache beziehe ich mich auf die von Koch / Oesterreicher herausgearbeiteten „universale[n] Merkmale der Sprache der Nähe“ (1985: 27), aber auch auf weitere, vor allem auf pragma‐ tisch ausgerichtete linguistische Forschungen. Charakteristisch für die Distanz-Sprache ist eine hohe Informationsdichte und ein hoher Grad an Elaboriertheit (Koch / Oesterreicher 1985: 22), während die spontane Nähe-Sprache des mündlichen Alltagserzählens sich wegen des geringen Planungsaufwandes durch Vorläufigkeit und Prozesshaftigkeit aus‐ zeichnet. Auf der Ebene der Lexik sind für die Nähe-Sprache hohe Affektivität und Redundanz (Söll 1974: 55) charakteristisch. Der hohe Wiederholungsgrad der Lexik verleiht dem Diskurs Länge und holt auf diese Weise seine geringere Informationsdichte ein: „Die geringere Dichte eines oralen Textes wird also durch seinen größeren Umfang kompensiert.“ (Söll 1974: 54) Die Affektivität der Nähe-Sprache manifestiert sich im häufigen Gebrach direktiver und expressiver Sprechakte, in Exklamationen, im Gebrauch von kraftvollen (Koch/ Oesterrei‐ cher 1985: 22), onomatopoetischen, oft sensuellen, bildhaften Ausdrücken. Auf der Ebene der Syntax ist für die Distanz-Sprache ein gezielter Einsatz der Hypotaxe charakteristisch, während die Nähe-Sprache Parataxe bevorzugt (Koch / Oesterreicher 1985: 21f.). Weitere Charakteristika sind Unvollständigkeit der Syntax und Segmentierung bzw. Linksversetzung (Söll 1974: 45-47, 123-132, 140, Stark 1997: 27-33). Auf der Ebene der Pragmatik sind Signale des Sprecherwechsels (wie z. B. Et toi? Qu’en penses-tu? ) oder Rückversicherungsstrategien (wie z. B. Pas vrai? ), Unterbrechungs- und Gliederungssignale für das mündliche Erzählen charak‐ teristisch. Ein weiteres, für die mündliche Kommunikation typisches Merkmal ist die Umkehrung der Thema-Rhema-Folge 31 . Charakteristisch für das Deutsche wie das Französische ist, dass der höchste Mitteilungsgrad, das Rhema, am Ende des Satzes steht (Blumenthal 1997: 37, 40, Bußmann 2008: 732). Die Sprache der Nähe kehrt die Endstellung in Frontierung des Rhemas (Söll 1974: 47f.) und 3.5 Mündlich-verbales Erzählen (4): ästhetische Konzeption fiktionaler Diskurse 91 <?page no="92"?> 32 Zur Definition des Begriffs poésie orale / oral poetry schließe ich mich der Auffassung Zumthors an, für den eine strikt formalisierte, rhythmische, poetisch überformte Kom‐ position des Sprachgebildes (Zumthor 1983: 47) ausschlaggebendes Kriterium der Gat‐ tungszugehörigkeit ist. Mündlich produzierte und tradierte Genres wie chansons de geste chantées, mythes und contes lassen sich darunter subsummieren. Die poésie chantée, ein sous-groupe der poésie orale, ist für Zumthor die poetisch interessanteste Variante der Gattung (1983: 47). durch Linksversetzung um und hebt es dadurch hervor. Von dieser Technik ma‐ chen die Lehrkräfte beim mündlichen Erzählen häufig Gebrauch (Kap. 9.2.23). Großform B: gattungstypologische Verfahren Was die Großform B betrifft, so interessieren im Rahmen der Studie zwei mit‐ einander verwandte Verfahren. ① genretypische Verfahren narrativer Textsorten Im Kontext der Studie sind besonders die gattungstypologischen Verfahren des Märchengenres von Bedeutung (Kap. 3.4), das der „Urform mündlichen Erzäh‐ lens“ (Wolf 2002a: 36) nahesteht und deshalb selbst in seiner schriftlichen Ver‐ fasstheit noch über Erzählstrategien verfügt, die es seiner ursprünglich oralen Tradierung verdankt. Es handelt sich um mnemotechnische Strategien, die den narrativen Diskurs für erzählende Poeten memorierbar machen und der Zuhö‐ rerschaft das Verstehen und Behalten der wichtigsten Informationen erleich‐ tern. Dazu gehören das Erzählen in Mustern und die Dominanz der Handlung sowie die additive Gestaltung des Erzählflusses und das Prinzip der Wiederho‐ lung (Kap. 3.4). ② gattungstypologische Verfahren der poésie orale Das zweite Verfahren der Großform B rekurriert gattungstypologisch auf die poésie orale / oral poetry 32 und knüpft damit ebenfalls an mnemotechnische Ver‐ fahren der primären Mündlichkeit an, setzt aber stärker auf poetische Verfahren, die dem Diskurs ein hohes Maß an Elaboriertheit verleihen und die Distanz‐ sprache dominieren lassen. Mit dem Rekurs auf die poésie orale werden in kon‐ genialer Weise die Herausforderungen des mündlichen Rezeptionsmodus mit einer poetischen, zwischen Epik und Lyrik oszillierenden Gestaltung des Dis‐ kurses verbunden. Für Zumthor zielen die poetischen Verfahren der poésie orale darauf, das Merkmal der Flüchtigkeit medialer Mündlichkeit in den Diskurs zu integrieren, damit einen flexiblen, elaborierten, suggestiv wirkenden Diskurs zu formen. Einheitsstiftend seien die den Diskurs dominierenden Rhythmen: 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 92 <?page no="93"?> 33 Gesungene und musikalisch rhythmisierte Erzählungen wie z. B. Chansons, Rockbal‐ laden, Raps und slam poetry können einer modernen, urbanen poésie orale zugeordnet werden. Argumente dafür liefern die Berliner Rapper Sookee und Megaloh, die in einem Interview mit der Zeit die pädagogische und poetische Funktion ihres urbanen Rap wie folgt erläutern: „Zeit: Was hat Rap andern Jugendkulturen voraus? Sookee: Das Dia‐ logförmige. Das Orale. Das Zusammenarbeiten und Schreiben. Die Textdichte. Das Format an sich, wir wissen ja, dass Musik Gefühle transportiert. Du arbeitest mit Sätzen, mit Wörtern, mit Silben, mit Sounds. Du kannst Sprache total atomisieren und dann wieder riesengroß werden lassen. Das finde ich ganz besonders und sehr schön. Me‐ galoh: Da bin ich jetzt ganz bei dir. Man kann mit Worten ganze Welten entstehen lassen.“ (Groß / Winkler 2013) L’art poétique consiste pour le poète à assumer cette instantanéité, à l’intégrer dans la forme de son discours. D’où la nécessité d’une éloquence particulière, d’une aisance de diction et de phrase, d’une puissance de suggestion: d’une prédominance générale des rythmes. L’auditeur suit le fil, aucun retour n’est possible: le message doit porter (quel que soit l’effet recherché) au premier coup. (Zumthor 1983: 126) Der Diskurs der poésie orale wird damit durch einen poetisch-lyrischen, melo‐ dischen Rhythmus strukturiert, der gesungen und getanzt werden kann. Weitere charakteristische Verfahren der poésie orale (s. Zumthor 1983: 136-144) sind « la rime, l’allitération, les échos sonores de toute espéce, […] la scansion des rythmes » (Zumthor 1983: 140). Moderne Formen der poésie orale finden sich Zumthor zufolge in chansons contestataires (1983: 62), sie finden sich im Rap und in der slam poetry (Anders / Brieske 2007: 52-53, Anders / Krommer 2007: 46-48, Mertens 2007: 28-39), die als urbane Poesie sehr lebendig sind und an die o. g. Verfahren anknüpfen bzw. Markierungen der poésie orale aufweisen 33 . Im Bereich der Großform A bieten sich folgende Modellierungen an: • die konsequente Privilegierung eines Extrems (Distanz oder Nähe) oder die Einnahme einer ausgeglichen-mittleren Position, • die Kombination von Distanz-Elementen mit Nähe-Elementen, • der Paradigmenwechsel an markanten Stellen, z. B. den Höhepunkten der Erzählung, • eine Steigerung von Distanz in Nähe und umgekehrt. Auf jeden Fall dramatisieren die Privilegierungen der Nähe-Verfahren den nar‐ rativen Text und verstärken innerhalb des Diskurses die phatische und expres‐ sive sprachliche Funktion ( Jakobson 1960: 94). Im Hinblick auf die Großform B bieten sich folgende Modellierungen an: • die Verstärkung gattungstypologischer Merkmale, z. B. der äußeren Handlung durch Akkumulation von Ereignissen und Wiederholungen, 3.5 Mündlich-verbales Erzählen (4): ästhetische Konzeption fiktionaler Diskurse 93 <?page no="94"?> • die Integration von poetisch-lyrischen Elementen in den narrativen Text wie Lieder, Reime, Gedichte, Sprüche, • der Rekurs auf Sonderformen der „Urform des Erzählens“ wie Kettenge‐ schichten. Die Hereinnahme bzw. Verstärkung gattungstypischer Verfahren primärer Mündlichkeit können einerseits den Diskurs rhythmisieren und poetisieren, andererseits zu einer besonderen Ökonomie des Diskurses beitragen, die diesen für Erzähler und Zuhörer nachvollziehbar und memorierbar machen. Diese Ver‐ fahren verstärken die phatische, expressive und poetische und auch die päda‐ gogische Funktion des Diskurses. 3.6 Analysekriterien und Teil 1 des Fünf-Dimensionen-Modells FDM-P Aus den Merkmalen mündlichen Erzählens (Kap. 3.1-3.5) werden nunmehr Kri‐ terien für eine funktionale Analyse der Erzähltexte und Diskurse sowie der nar‐ rativen Interaktion im Rahmen der Erzählperformances gewonnen und in einem Fünf-Dimensionen-Modell (FDM-P, Teil 1) zur Analyse von Erzählperformances festgehalten. Das Modell wird im empirischen Teil der Studie zur Analyse der von den Lehrkräften durchgeführten Erzählperformances (Kap. 9) angewandt. Zu analysieren sind in diesem Kontext verbale Erzählungen, die in unter‐ schiedlicher medialer Kommunikation verfasst sind. Dazu gehören: • ein von den Lehrkräften ausgewählter schriftlicher Originaltext, • eine für die mündliche Kommunikation verfasste Textvorlage und • der in mündlicher Kommunikation tatsächlich realisierte Erzähldiskurs. Zu analysieren sind ferner die narrativen Interaktionen zwischen den Erzäh‐ lenden und ihrem Publikum. Möglich ist, dass die drei Fassungen der verbalen Erzählungen identisch sind, leicht voneinander abweichen oder aber auch bemerkenswerte Unterschiede aufweisen. Da diese Unterschiede für die Beantwortung der Forschungsfragen der Studie relevant sind, werde ich ein Analyseinstrumentarium entwickeln, das diesen Differenzen Rechnung trägt, aber auch den Gesamtzusammenhang der Performance in den Blick nimmt. Zur Modellierung dieses Instrumentariums nehme ich eine Gliederung in fünf Dimensionen vor. 1. Die erste Dimension wird von der Textkonstruktion in medialer Schrift‐ lichkeit gebildet. 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 94 <?page no="95"?> 34 In einer ersten Fassung des Modells waren lediglich vier Dimensionen vorgesehen. In dieser Fassung war die jetzige zweite Dimension Teil der ersten Dimension. Da sich bei der Erstellung des Modells für die Narrativierungen der Lernenden eine weitere Di‐ mension - die der Markierung der Textoberfläche - ergab (Kap. 5.5) und beide Modelle parallel konstruiert werden sollten, nehme ich, um Verwirrungen im Hinblick auf die Dimensionen vorzubeugen, bereits an diesem Punkt der Erarbeitung (Kap. 3.6) eine Einteilung in fünf Dimensionen vor. a. - - - - 2. Die zweite Dimension enthält die narrative und genrespezifische Mar‐ kierung der Textoberfläche 34 . 3. Die dritte Dimension wird von der Diskurskonstruktion in medialer Mündlichkeit gebildet. Zu dieser Dimension rechne ich die Textvorlage, die für das Erzählen in medialer Mündlichkeit verfasst wird, und den tat‐ sächlich realisierten Erzähldiskurs. 4. Die vierte Dimension erfasst die narrative Interaktion zwischen Erzäh‐ lenden und Publikum. 5. Die fünfte Dimension, die performative Gestaltung, wird aus der Dimen‐ sion des Performativen und der Perspektive der Aufführung gewonnen und im nächsten Kapitel als Teil 2 (Kap. 4.5.2) hinzugefügt. Den ersten drei Dimensionen weise ich Kriterien der Analyse zu, die ich den Konstituenten des Narrativen (Kap. 3.1.1), den Funktionen des Prototypen (Kap. 3.1.2), den Prinzipien der Erzählwürdigkeit (Kap. 3.2.3), dem fiktionalen Er‐ zählen (Kap. 3.3), dem Erzählen von Märchen und den Ausführungen zur me‐ dialen und konzeptionellen Mündlichkeit (Kap. 3.4, 3.5) entnehme. Die Kriterien für die vierte Dimension leite ich aus den narrationsspezifischen Aufgaben der Diskursteilnehmer (Kap. 3.2.2.) ab. Das Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse von Erzählperformances stellt ein Basismodell dar, das auf den jeweiligen Fallkontext flexibel anzuwenden, zu ergänzen, zu erweitern und zu verändern ist (Kap. 9.4.2). Die folgende Übersicht (Tab. 3) zeigt die Gliederung in fünf Dimensionen. Den ersten vier Dimensionen werden Kriterien der Analyse mit entsprechenden Leitfragen zugeordnet. 1. Konstruktion der verbal-schriftlichen Erzählung: der Erzähltext Realisierung qualitativer Narreme: Mit welchen Mitteln wird Darstellungsqualität erreicht? Worauf beruht die Erlebnisqualität der Erzählung? Welche Sinndimensionen werden eröffnet? Worin besteht die Erzählwürdigkeit der Erzählung? 3.6 Analysekriterien und Teil 1 des Fünf-Dimensionen-Modells FDM-P 95 <?page no="96"?> b. - c. - - - d. e. - - a. b. a. - b. Realisierung inhaltlicher Narreme: die prototypische Gestaltung der histoire: Mit welchen protototypischen Textbausteinen wird die Geschichte gebildet? Mit welchen Gefühlen, Stimmungen, Konflikten werden die Handlungen der Fi‐ guren verbunden? Gebrauch syntaktischer Narreme: Sequenzierung und Herstellung semantischer Kohärenz: Welche Makrostruktur (z. B. schéma quinaire) liegt der Erzählung zugrunde? Welche Untergliederungen der großen in kleine Sequenzen liegen vor? Wie sind die einzelnen Episoden miteinander verknüpft (z. B. durch chronologi‐ sche, teleologische Prinzipien)? Worin besteht der Planbruch? genretypische Merkmale: Welche genretypischen Merkmale des Märchens / von Zaubergeschichten / von Tiergeschichten werden gebraucht? Modellierung der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Welche Verfahren konzeptioneller Mündlichkeit der Großform A (z. B. szenische Gestaltung, Figurenrede) werden mit welcher Wirkung eingesetzt? Welche Verfahren konzeptioneller Mündlichkeit der Großform B (z. B. Redundanz der poésie orale) Schriftlichkeit werden eingesetzt? Welche Verfahren konzeptioneller Schriftlichkeit kommen zum Tragen? 2. narrative und genrespezifische Markierung narrationsspezifische Markierungen der Textoberfläche: Welche narrationstypischen Diskursmarker werden gebraucht? genretypische Markierungen der Textoberfläche: Welche genretypischen Fiktionssignale (z. B. formelhafter Beginn des Märchens, formelhafte Wendungen) werden gebraucht? 3. Konstruktion der verbal-mündlichen Erzählung: der Erzähldiskurs Vertextung der Erzählvorlage: Worin unterscheidet sich die Textvorlage zum Erzählen vor der Lerngruppe im Hinblick auf die Kriterien 1.a-e, 2.a-b vom Originaltext? Welche Strategien der Adaption werden mit welchen Konsequenzen eingesetzt? Realisierung des Erzähldiskurses: 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 96 <?page no="97"?> a. - b. - - Welche textuellen Veränderungen erfährt die Erzählvorlage bei ihrer Realisierung als Erzähldiskurs? 4. narrative Interaktion Sequenzierung der narrativen Diskurseinheit: Wie verläuft die narrative Gesprächsorganisation? Wie wird der Wechsel zwischen narrativen Diskurseinheiten und Klassenzim‐ merdiskurs realisiert? Übernahme narrativer Jobs: Wie sind die Jobs während der Erzählperformance verteilt? Welche Konsequenzen hat die Verteilung für die Redeanteile und Redevergabe? 5. performative Gestaltung (Wird ergänzt in Kap. 4.5.2) Teil 2 Tab. 3: Das Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse von Erzählperformances im Fremd‐ sprachenunterricht (FDM-P, Teil 1) 3.7 Zusammenfassung: das werkseitige, narrative Potenzial mündlichen Erzählens Die Ergebnisse der Recherche des Potenzials mündlichen Erzählens für den Fremdsprachenunterricht in der Dimension des Narrativen (Kap. 3.1-3.5) lassen sich zwei Aspekten zuordnen. Der erste Aspekt (A) betrifft die Natur, die Fä‐ higkeiten und die Struktur des Narrativen allgemein. Der zweite betrifft das spezifische Vermittlungsmedium mündlichen Erzählens und seine Präsentati‐ onsform (B). Die Ergebnisse fasse ich in einer ‚Potenziale-Liste‘ wie folgt zu‐ sammen: 1) Die Medienunabhängigkeit bzw. Transmedialität des Narrativen (Kap. 3.1.1) Die Möglichkeit des Narrativen, sich in unterschiedlichen medialen Vermitt‐ lungsformen zu realisieren, bietet eine mediale Vielfalt narrativer Werke für die fremdsprachliche Rezeption: narrative Texte und Diskurse, Filme, Comics, Bilder, Musik. Medial vielfältig sind auch die Möglichkeiten der schriftlichen und mündlichen (Re-)Konstruktion von Erzählungen, deren Plots unter Beibe‐ haltung des narrativen Paradigmas von einer medialen Präsentationsform in 3.7 Zusammenfassung: das werkseitige, narrative Potenzial mündlichen Erzählens 97 <?page no="98"?> eine andere übertragen werden können. Beispiel: Die Transformation von Handlungsstationen einer in Mündlichkeit rezipierten Erzählung in Bilder - oder die Transformation eines schriftlich verfassten Textes in einen mündlich vorzutragenden Erzähldiskurs. 2) Die Graduierbarkeit des Narrativen (Kap. 3.1.2) Die Graduierbarkeit des Narrativen birgt für den Fremdsprachenunterricht Möglichkeiten der Steuerung des Schwierigkeitsgrades bei der Rezeption und Produktion eines narrativen Werkes: Da jede mediale Präsentationsform des Narrativen unterschiedliche Narrativierungsleistungen bei der Produktion und der Rezeption verlangen, kann der Grad der (verbalen) Narrativierung bei der Aufgabenstellung der Anschlusskommunikation berücksichtigt werden. Bei‐ spiel: Die Transformation der Handlungsstation eines Märchens in ein Bild ver‐ langt eine weniger hohe Narrativierung als die Transformation in ein anderes, dominant verbales Genre wie z. B. einen Brief, einen Tagebucheintrag etc. 3) Der Prototyp des Narrativen (Kap. 3.1.2 und 3.4) Der Prototyp des Narrativen, das Märchen, enthält Bausteine des Narrativen in einfacher, modellhafter Form, d. h. qualitative, inhaltliche und syntaktische Narreme wie Erlebnisqualität, Kohärenzbildung durch Chronologie und Kau‐ salität, eine leicht durchschaubare und erwartbare Makrostruktur, anthropo‐ morphe Figuren als Träger der Handlung etc. Der Prototyp und ihm verwandte Genres wie Zauber- und Tiergeschichten halten für den Anfangsunterricht au‐ thentische Texte und Diskurse zur Rezeption in der Fremdsprache bereit. Es besteht darüber hinaus die Möglichkeit, das Prototypische der Texte und Dis‐ kurse durch eigene Bearbeitungen zu verstärken. Beispiel: Das Hinzufügen spektakulärer Handlungen, die Konzentration auf wenige Figuren, die Erhö‐ hung der Anzahl an Gliederungssignalen. 4) Die transgenerische Verfasstheit des Narrativen (Kap. 3.2) Die Realisierung des Narrativen in unterschiedlichen narrativen Kurztexten wie Märchen, Legenden, Sagen, Kurzgeschichten und Großformen des Episch-Nar‐ rativen wie der Novelle, dem Roman bietet zum einen eine Vielfalt an Genres für die unterrichtliche Kommunikation, zum andern eine Vielfalt intramedialer (innerhalb der schriftlich-verbalen Vermittlungsform) Transformationsmög‐ lichkeiten von einem Genre ins andere. Die Realisierung des Narrativen in un‐ terschiedlichen Varianten des Architerms Erzählen bietet dem Diskurstyp Er‐ zählen verwandte Diskursarten wie Aufzählen, Beschreiben, Berichten, Schildern als Ergänzung zum ‚rein‘ narrativen Diskurstyp Erzählen. 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 98 <?page no="99"?> 5) Interaktives Potenzial durch die Realisierung narrativer Diskurseinheiten im fremdsprachlichen Klassenzimmer (Kap. 3.2.2) Die Integrierbarkeit narrativer Diskurse in den Klassenraumdiskurs bietet Chancen zum Durchbrechen routinemäßiger Diskurs- und Handlungsmuster des Fremdsprachenunterrichts. Die klare Rollenverteilung der narrativen Inter‐ aktion, die narrativen Jobs zur Hervorbringung der Erzählung, die klare Glie‐ derung der Interaktionsphasen und des Diskurses, die deutlichen Gliederungs‐ signale an der Textoberfläche und die Gemeinsamkeit in der Hervorbringung der Erzählung durch die Kommunikationspartnerinnen und -partner liefern in‐ teressante, für die Lernenden gut zu bewältigende kommunikative und inter‐ aktive Alternativen zum Klassenraumdiskurs und darüber hinaus authen‐ tisch-ästhetische Kommunikationssituationen. Die Kontextgebundenheit der Diskursform kann für pädagogische Zwecke genutzt werden. Sie stellt eine He‐ rausforderung zur adressatengerechten Anpassung an die fremdsprachliche Unterrichtssituation dar. 6) Ästhetisches Potenzial durch das Prinzip der Erzählwürdigkeit von Geschichten (Kap. 3.2.3) Das Erzählwürdige des narrativen Diskurses ist in hohem Maße verantwortlich für den Reiz und das Vergnügen seiner Rezeption und für seinen Bildungswert. ‚Erzählwürdige‘ Texte und Diskurse bieten interessante Alternativen zu aus‐ schließlich in pädagogischer Intention produzierten Texten und Diskursen. Da das Erzählwürdige in unterschiedlichen Bausteinen des Erzählens wie dem Un‐ erhörten, Irritierenden, Fremden der Themen und Ereignisse, dem ungewöhn‐ lichen Profil der Figuren, der poetischen Rhythmisierung der Erzählung oder der abwechslungsreichen Gestaltung der Figurenrede begründet sein kann bzw. von unterschiedlichen Rezipienten in unterschiedlichen Bausteinen situiert wird, steckt im Erzählwürdigen ästhetisches Potenzial und Potenzial für den individuellen Rezeptionsprozess. Für die Lehrkräfte ist die Erzählwürdigkeit von Geschichten ein wichtiges Kriterium der Textauswahl. 7) Die fiktionale Variante der narrativen Diskursform (Kap. 3.3) Die Rezeption fiktionaler Diskurse bietet Möglichkeiten ästhetischen Erlebens. Der fiktionale Charakter des narrativen Diskurses bietet dem mündlichen Fremdsprachenunterricht Diskurse mit Erlebnis- und Darstellungsqualität und liefert Lehrenden und Lernenden Chancen, sich nicht nur mit dem Was der Ge‐ schichte, sondern auch mit dem Wie der Gestaltung zu beschäftigen. Der 3.7 Zusammenfassung: das werkseitige, narrative Potenzial mündlichen Erzählens 99 <?page no="100"?> Als-Ob-Charakter des Fiktionalen kann zum Erleben, Anwenden, Reflektieren von Geschichten genutzt werden. 8) Das Märchen als Prototyp des Narrativen (Kap. 3.4, 3.5) Der Bekanntheitsgrad der Märcheninhalte und -strukturen, die Kürze des Mär‐ chens, die Fokussierung auf die äußere Handlung, die binäre Figurenkonstella‐ tion, d.h. die Fokussierung auf den ‚Kern des Narrativen‘, erleichtern die Re‐ zeption in der Fremdsprache. Das Zauberhafte des Märchens fungiert als Verstärkung des pacte de fiction für jede Zielgruppe. Bekanntheitsgrad, Gat‐ tungskonventionen, Prototypeninkarnation, Merkmale konzeptioneller Münd‐ lichkeit und ggf. Doppeladressierung machen das Märchen zu einem geeigneten Genre für das mündliche Erzählen in der Fremdsprache auf unterschiedlichen Niveau- und Jahrgangsstufen. 9) Die Medialität der direkten Mündlichkeit bei Erzählperformances (Kap. 3.5.1) Die kommunikative Nähe der face-to-face Kommunikation bietet vielfältige Möglichkeiten, die narrative Kommunikation in engem Kontakt zwischen Leh‐ renden und Lernenden einerseits und zwischen Erzählwerk und Rezipierenden andererseits zu gestalten. Weitere Merkmale des Mediums wie Flüchtigkeit, Ir‐ reversibilität und Linearität der Produktion und Rezeption ‚zwingen‘ Erzäh‐ lende und Rezipierende, den besonderen Charakter des Mediums in die Kom‐ munikation einzubeziehen. Die Erzählenden müssen die Flüchtigkeit der mündlichen Kommunikation durch Maßnahmen ausgleichen, die das spontane, augenblickliche Verstehen fördern. Mittel dazu stellt ihnen die Verfasstheit des Mediums als Kompositmedium durch ein reiches Angebot non-verbaler Gestal‐ tungsmittel zur Verfügung. Die Erzählenden können die mündliche Situation aber auch nutzen, um in Reaktion auf die Situation und ihr Publikum ihren Diskurs spontan zu verändern. Für die Zuhörerschaft bietet die Kommunikation in direkter Mündlichkeit die Chance auf Mitgestaltung des Diskurses und auf das Erproben medienspezifischer Verstehens- und Memorierungsstrategien. 10) Die konzeptionelle Mündlichkeit (Kap. 3.5.2 und 3.5.3) Das Erzählen in Mündlichkeit kann den Rezipierenden den Eindruck vermitteln, das Geschehen und die Reden der Figuren, d.h. die face-to-face-Situationen der fiktionalen Welt, fänden im Hier und Jetzt der direkten Kommunikation statt. Diese dem theatralischen Spiel mit der Gegenwärtigkeit der Situation (Kap. 4.1) vergleichbare Illusionsbildung wird nicht nur durch die mediale Mündlichkeit erzeugt, sondern ist auch der konzeptionellen Mündlichkeit des Diskurses zu 3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen 100 <?page no="101"?> verdanken. Durch Modellierung der textbzw. diskursinternen konzeptionellen Mündlichkeit können Autorinnen und Autoren und reale Erzählende das Ver‐ hältnis von Distanz und Nähe zur fiktionalen Welt regulieren, die phatische und expressive Funktion gegenüber der referentiellen privilegieren, Memorierungs‐ hilfen geben und damit ihren Diskurs flexibel gestalten - je nach ästhetischem und pädagogischem Erzählkonzept und je nach kontextuellen Klassenraumbe‐ dingungen. 3.7 Zusammenfassung: das werkseitige, narrative Potenzial mündlichen Erzählens 101 <?page no="102"?> 1 Zur Konzeptualisierung der Semiotizität der Aufführung übernehme ich die von Fi‐ scher-Lichte vorgenommene Dreiteilung des theatralischen Codes in die Ebenen System, Norm und Rede, denen drei Ebenen der Untersuchung bzw. theaterwissen‐ schaftliche Bereiche entsprechen, die theatertheoretische, die theaterhistorische und die Ebene der Analyse einer konkreten Aufführung (Fischer-Lichte 2007: 22-23). 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen In diesem Kapitel werden die Potenziale der werkseitigen, performativen Di‐ mension mündlichen Erzählens als Aufführung erforscht. Dabei werden die wesentlichen Merkmale einer Aufführung auf der Ebene des Systems 1 (Kap. 4.1-4.4), der Norm (4.5) und der Rede (4.6) herausgearbeitet und auf das Erzählen als Performance bezogen. Kapitel 4.1 stellt die Ereignishaftigkeit der Aufführung in den Mittelpunkt. Kap. 4.2 untersucht die Nähe der Erzählperformance zum Theater. Diese Nähe bildet die theoretische Basis für die Erarbeitung des Kom‐ munikationsmodells „Mündlich-fiktionales Erzählen als Performance“ (4.2.1). Kapitel 4.3 untersucht die Semiotizität der (Performance-)Aufführung auf der Ebene des Systems. Dazu werden die der Erzählperformance zur Verfügung ste‐ henden Zeichen und Zeichenkombinationen aufgelistet und deren Funktionen und Wirkungsweisen in der Performanceaufführung erläutert. Mit der Erörte‐ rung des Prinzips der Verwandlung werden in Kapitel 4.4 die Merkmale der Aufführung miteinander verbunden, die Erlebnishaftigkeit von Aufführungen, deren Rahmung und deren Kommunikationsmöglichkeiten dargestellt. In Ka‐ pitel 4.5 werden auf der Ebene der Norm Inszenierungs- und Gestaltungsmög‐ lichkeiten der Erzählperformances diskutiert (Kap. 4.5.1). Auf der Ebene der Rede werden Kriterien zur funktionalen Analyse der Erzählperformances und Teil 2 des Fünf-Dimensionen-Modells erarbeitet (4.5.2). Kapitel 4.6 stellt die Po‐ tenziale der performativen Dimension im Gesamtzusammenhang dar. 4.1 Erzählen als Performance (1): die Aufführung als Ereignis Das folgende Kapitel erfasst das mündlich-verbale Erzählen aus der Perspektive einer Aufführung. In der theater- und literaturwissenschaftlichen Literatur (Fi‐ <?page no="103"?> scher-Lichte 2005a: 16, 22, Pfister 2004: 516f.) wird der Begriff der Aufführung schwerpunktmäßig auf Veranstaltungen im öffentlichen Raum und auf Thea‐ teraufführungen oder Konzerte angewandt. Die Auffassung vom mündlichen Erzählen als Aufführung im Fremdsprachenunterricht ist im Augenblick noch eher ungewöhnlich, im Rahmen der aktuellen Diskussion um den performativen Fremdsprachenunterricht (Hallet 2010c, Surkamp / Hallet 2015, Schewe 2011, 2015 und Kap. 11.3.1 der Studie) jedoch von großem Interesse. Um die Erkundung des performativen Potenzials für den Fremdsprachenun‐ terricht mithilfe des Aufführungsbegriffs durchführen zu können, werde ich im Rekurs auf die Performancetheorie Fischer-Lichtes ein Konzept für das münd‐ liche Erzählen als Performance und als Aufführung entwickeln und an jeder Station der Konzeptentwicklung die Frage nach der Übertragung auf die Un‐ terrichtssituation klären. 4.1.1 Der Performance- und der Aufführungsbegriff Zentral für die Klärung des Performancebegriffs ist die Unterscheidung aus sprachwissenschaftlicher und aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Aus sprachwissenschaftlicher, auf Austin zurückzuführender Perspektive (Bußmann 2008: 514f, Fischer-Lichte 2004: 31, 2005b: 234) wird mit Performanz die indivi‐ duelle Sprachverwendung (im Gegensatz zur Kompetenz, der allgemeinen Fä‐ higkeit zur Sprachverwendung) bezeichnet. Aus kulturwissenschaftlicher Per‐ spektive wird Performance bzw. Performativität unterschiedlichen Aktionen in unterschiedlichen Handlungsfeldern wie z. B. dem Theater, der bildenden Kunst, Konzerten, Festlichkeiten, Wettkämpfen sowie rituellen, aber auch alltäglichen Handlungen zugeschrieben. Beide Perspektiven bezeichnet Pfister als die „beiden semantischen Hauptachsen <Ausführung> und <Aufführung>“ (Pfister 2004: 516). Fischer-Lichte unterscheidet zwischen drei Konzepten: • erstens einem schwachen Konzept, das „die Handlungs- und Gebrauchs‐ dimension von Sprache“ (Fischer-Lichte 2005b: 234) meint, • zweitens einem starken, das sich bezieht „auf eine Äußerung, die das, was sie bezeichnet, zugleich auch vollzieht“ (a. a. O.), also auf eine performa‐ tive Äußerung in einem illokutionären Sprechakt, • drittens einem radikalen Konzept, das „auf die Fähigkeit des Performa‐ tiven, eine operativ-strategische Funktion zu erfüllen […]“ (a. a. O.) ver‐ weist. In dieser Funktion wird das Performative seit der performativen Wende in den 90er Jahren als Ausdruck für kulturelle, als Aufführung inszenierte Handlungen 4.1 Erzählen als Performance (1): die Aufführung als Ereignis 103 <?page no="104"?> 2 Im Prinzip können Aufführungen auch in privaten Räumen stattfinden, wobei hier der Teilnehmerkreis eingeschränkt bleibt. verwendet: „Die Metapher von <Kultur als Performance> begann ihren Auf‐ stieg.“ (Fischer-Lichte 2005b: 237) Den Begriff der Aufführung definiere ich im Rekurs auf Fischer-Lichte (2005a: 16) wie folgt: Unter Aufführung wird ein Ereignis verstanden, das zu einem bestimmten Anlass an einem verabredeten Ort zur verabredeten Zeit stattfindet und „aus der Konfrontation zweier Gruppen von Personen hervorgeht.“ (Fischer-Lichte 2005a: 16) Beide Gruppen teilen sich die Rollen der Akteure und der Zuschauerinnen und Zuschauer und „durchleben“ (a. a. O.) das Ereignis gemeinsam. Die Rollen sind klar getrennt, ein Rol‐ lenwechsel ist jedoch möglich. Die Bedeutungserzeugung erfolgt im Augenblick des Ereignisses aus der Kommunikation der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und deren Wahrnehmung des Geschehens. Die Besonderheit der Kommunikation in einer Auf‐ führung besteht in ihrer Medialität und Materialität einerseits, in der Semiotizität der zum Einsatz kommenden Zeichen sowie dem ästhetischen Prinzip der Verwandlung andererseits. Darüber hinaus wird der Charakter der Aufführung bestimmt durch den Grad an Öffentlichkeit bzw. Privatheit der Aufführung, durch die o. g. und weiteren kontextuellen Faktoren, die als Rahmen der Aufführung dienen, sowie durch das In‐ szenierungsbzw. Aufführungskonzept. Der Öffentlichkeitscharakter von Aufführungen wird von Seiten der Theater‐ soziologie und teilweise auch der Mündlichkeitsforschung als unabdingbare Voraussetzung bzw. als eines ihrer wesentlichen Charakteristika (Rapp 1973: 175, Zumthor 1983: 40) angesehen. Meiner Studie werde ich einen weiten Auf‐ führungsbegriff zugrunde legen, der auch Veranstaltungen, die in halb-öffent‐ licher, d.h. auch in institutioneller Sphäre 2 stattfinden, als Aufführungen ansieht, soweit sie die o. g. Prinzipien realisieren. Der weite Aufführungsbegriff ist m. E. aus zwei Gründen gerechtfertigt: Erstens ist der Öffentlichkeitscharakter einer Aufführung im einzelnen Klassenzimmer zwar eingeschränkt dadurch, dass der Teilnehmerkreis geschlossen ist, aber das einzelne Klassenzimmer ist Teil eines größeren Ganzen. Nachrichten von den in geschlossenen Klassen‐ zimmern angewandten Lerninhalten und -methoden dringen nach außen, in die Schulöffentlichkeit hinein und auch über die Grenzen der einzelnen Schule hi‐ naus, und sie sind von öffentlichem Interesse. Insofern ist auch hier Öffentlich‐ keit hergestellt. Zweitens stellt der Öffentlichkeitscharakter nur einen der Ein‐ flussfaktoren dar, die den Rahmen der Aufführung bilden. Es wird darum gehen, die eingeschränkte Öffentlichkeit einer Aufführung im Klassenzimmer zu be‐ 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 104 <?page no="105"?> rücksichtigen und diesen Faktor zusammen mit anderen, vom schulischen Kon‐ text vorgegebenen Rahmenfaktoren in den Blick zu nehmen und deren Einfluss auf die Realisierung der Erzählperformances festzuhalten (Kap. 4.4.1). Das Performative definiere ich im Rekurs auf Fischer-Lichte (2005b: 234) und Pfister (2004: 516-518) wie folgt: Das Performative wird gefasst als die Eigenschaft von Handlungen, im Augenblick ihres Vollzugs sichtbar, beobachtbar und wirksam zu werden. Mithilfe des Performa‐ tiven können Absichten und Wirklichkeiten dargestellt (z. B. durch Gesten, Gestiku‐ lieren, alltäglichen Gebrauch von Gegenständen) oder konstituiert (z. B. durch Er‐ schaffen von Gegenständen, Tatsachen u. a. m.) werden. Das Performative kann auch dazu dienen, über alltägliche Absichten und Wirklichkeiten hinauszuweisen (z. B. durch ästhetische Gestaltung und / oder die Grenzen von Alltag und Kunst über‐ schreitende performing arts). Im ersten Fall wird das Performative im alltäglichen, in letzterem im kulturell-ästhetischen Zusammenhang realisiert. In jedem Fall bewirkt die Realisierung des Performativen eine Transformation, sei es von Zuständen, Ge‐ genständen, Werken, Personen oder von Beziehungen zwischen Personen. Den Begriff der Performance verwende ich in meiner Studie ausschließlich für inszenierte Handlungen in kulturell-ästhetischem und pädagogischem Zusam‐ menhang und definiere die Performance ebenfalls im Rekurs auf die o. g. Fach‐ literatur wie folgt: 4.1 Erzählen als Performance (1): die Aufführung als Ereignis 105 <?page no="106"?> 3 Eine der traditionellen Konzeption verpflichtete Erzählperformance ist vergleichbar dem traditionellen Inszenierungskonzept dramatischer Texte (Fischer-Lichte 1991: 38f.). Dabei handelt es sich um ein naturalistisches Theaterkonzept, das jedoch nicht eins zu eins der Epoche des Naturalismus entspricht, sondern eine psychologisch-realistische Darstellungsform (Fischer-Lichte 2007: 59) meint, die bereits in der Klassik gepflegt wurde und auch heute noch Theaterkonzepte prägt. Traditionelle Konzepte verstehen die Aufführung als Repräsentation, nicht aber als Realerfahrung und werden in der aktuellen Theaterszene als ‚museal‘ empfunden. 4 Merkmale der radikal-avantgardistischen Performance-Konzepte (Pfister 2004: 518) sind: • die Realisierung von Kunst als Aktion, als Realerfahrung, was bedeutet, dass die Künstlerinnen und Künstler in ‚Echtzeit‘, an realen Orten und real ausführend, nicht aber repräsentierend, ihre Aktionen durchführen, • das Prinzip der Entgrenzung, d.h. der Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Alltag, Traum, Spiel und Wirklichkeit, • die Nähe des Performativen zum Ritual und die Einbeziehung des Publikums in die künstlerische Aktion, • die Betonung der Medialität der darstellenden Künste, d.h. des Augenblicklichen, Ver‐ gänglichen, des Überraschenden, nicht Geplanten, Spontanen, damit der Offenheit der Aufführung, bei der nicht das Endprodukt, sondern der Prozess der Gestaltung wichtig ist und die sich als grundsätzlich nicht wiederholbar begreift, • eine plurimediale Inszenierung durch Einbeziehung unterschiedlicher Medien wie Videoinstallationen in Ausstellungen und Theateraufführungen und durch Kombina‐ tion mit unterschiedlichen darstellenden Künsten wie dem Theater und dem Tanz, • die Betonung der Materialität der jeweiligen darstellenden Künste, z. B. der Körper‐ lichkeit der Darsteller, der Beschaffenheit des Materials u. a. m. Unter einer Performance wird eine gestaltete Präsentation verstanden, die das Per‐ formative je nach Zielsetzung, ästhetischem Konzept, Art der performativen Kunst und dem Aufführungsrahmen in unterschiedlicher Ausprägung realisiert. Das eine Extrem der Ausprägung bildet ein traditionelles, an der psychologisch-realistischen Theatertradition orientiertes 3 und das andere ein radikales, der postmodernen Avant‐ garde verpflichtetes Inszenierungskonzept 4 . Allgemeine Charakteristika von Performances sind Plurimedialiät und Theatralität der Gestaltung, eine intensive Beziehung zwischen Akteuren und Publikum, die Be‐ tonung des Augenblicklichen, Flüchtigen, aber auch der Materialität der Performance und eine prozesshafte Gestaltung, die den Willen zur Grenzüberschreitung, sei es im Bereich des Medialen, des Materialen oder der Beziehung zum Publikum zumindest nicht ausschließt. Performances können sich ästhetisch-künstlerisch als Erzähl-, Tanz-, Musik-, Aus‐ stellungs-, Theater-Performances konstituieren bzw. die o. g. Darstellungskünste 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 106 <?page no="107"?> 5 s. die Darstellung der Aktionskünstlerin Marina Abramović in Fischer-Lichte (2004: 9-30). Kunst als Realerfahrung geht in radikal-avantgardistischen Konzepten (wie dem von Abramović) so weit, dass Performancekünstlerinnen und -künstler sich in öffent‐ lichen Aufführungen Schmerzen zufügen, um über die eigene körperliche Erfahrung Erfahrungen und Reaktionen beim Publikum auszulösen. kombinieren oder als Aktionskunst bzw. body-art 5 in Erscheinung treten und damit eine Form annehmen, die den o. g. Künsten nicht eindeutig zuzurechnen ist. Als erstes Ergebnis der Recherche des Potenzials mündlichen Erzählens als Per‐ formance und als Aufführung lässt sich festhalten: 1. Ein wesentliches Charakteristikum sowohl der Aufführung als auch der Performance ist das Ereignis. 2. Das Ereignishafte der Aufführung beruht auf folgenden vier Merkmalen: auf ihrer Medialität, ihrer Materialität, ihrer spezifischen Form der Be‐ deutungserzeugung und im Prinzip der Verwandlung. 3. Zwischen Aufführung und Performance besteht eine Art Aufgabentei‐ lung. Während sowohl der Begriff der Aufführung als auch der Begriff der Performance das Ereignis selbst bezeichnet, bietet die Aufführung eher den Realisierungsrahmen für das Entstehen des Ereignisses und die Performance stellt eine mögliche Form der Realisierung dar. Die Perfor‐ mance nutzt den Aufführungsrahmen, um das Ereignis hervorzubringen. Sie setzt die Komponenten der Aufführung in unterschiedlicher Art und Weise und in unterschiedlicher Radikalität in Aktion um und macht es für das Publikum erlebbar. Da das Potenzial von Erzählperformances als Aufführung in den o. g. vier Merk‐ malen der Aufführung und in den möglichen Ausprägungen bzw. Inszenie‐ rungen der Erzählperformances zu vermuten ist, werden diese im Folgenden dargestellt und auf ihre Wirkmöglichkeiten für den Fremdsprachenunterricht befragt. 4.1 Erzählen als Performance (1): die Aufführung als Ereignis 107 <?page no="108"?> 6 Ich bezeichne die direkte vs. indirekte Präsentation als „Realisierung“ oder „Präsenta‐ tion“, während Wolf sie als „formalen Modus der Präsentation“ (Wolf 2002a: 40) fasst. Ich möchte damit den Begriffsapparat vereinfachen und eine begriffliche Vermischung der drei von Wolf vorgeschlagenen Vermittlungsebenen (Wolf 2002a: 39-41 vermeiden. Mit „Realisierung“ oder „Präsentation“ ist die dritte Vermittlungsebene gemeint: ein narrativ-indirekter Diskursmodus (mit Erzählinstanz) in direkter Präsentationsform. Diese Unterscheidung ist die Grundlage für das „Kommunikationsmodell mündlich-fik‐ tionalen Erzählens als Performance“ (Kap. 4.3). 4.1.2 Die Erzählperformance als Aufführung Mithilfe der intermedialen Erzähltheorie (Kap. 3.1) wurden schriftlich-verbale und mündlich-verbale Erzählungen als Realisierungen 6 des Narrativen in un‐ terschiedlicher medialer Verfasstheit dargestellt. Mithilfe der Theorie des Per‐ formativen (Kap. 4.1.1) kann nunmehr die Präsentationsform ‚mündlich-ver‐ bales Erzählen‘ als Erzählperformance aufgefasst und wie folgt definiert werden: Unter Erzählperformance wird die von einer realen Erzählerin oder einem realen Er‐ zähler bzw. von mehreren realen Erzählenden vor einem Publikum inszenierte und realisierte Präsentation einer Erzählung verstanden. Der Präsentationsmodus ist mündlich-direkt, der Diskursmodus dominant narrativ. Die Erzählperformance stellt somit eine performative Präsentationsform des Narrativen dar. Die Erzählperformance realisiert das Narrative als Ereignis. Dazu bedient sie sich der Medialität, der Materialität und der Verwandlungsmöglichkeiten der Aufführung und nutzt als Mittel der Bedeutungserzeugung und der ästhetischen Gestaltung das verbale Zeichensystem sowie die performativen Gestaltungsmittel der Aufführung. Mithilfe der intermedialen Erzähltheorie und der Theorie des Performativen können zwei unterschiedliche, im Rahmen der Studie relevante Hervorbrin‐ gungen des Narrativen ausgemacht werden: die von Autorinnen und Autoren schriftlich und die von Erzählenden performativ hervorgebrachte Realisierung des Narrativen. Die schriftliche Realisierung führt zum Erzählwerk und zu dessen Deutungen durch die Leserschaft, die performative zum Ereignis der Aufführung und zur Wahrnehmung und Deutung der Erzählperformance durch das Publikum. Beiden Präsentationsformen gemeinsam ist die Realisierung der Erzählung mithilfe des verbalen Systems und ein indirekter, weil durch eine Erzählinstanz vermittelter Diskursmodus. Das Erzeugen von Bedeutung ist je‐ doch beim performativen Präsentationsmodus nicht auf das verbale Zeichen‐ system beschränkt, sondern als ereignishafte Hervorbringung definiert. Deshalb ist die performative Realisierung einer schriftlich verfassten Erzählung als ein Transformationsprozess aufzufassen, bei dem das Performative als Realisie‐ 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 108 <?page no="109"?> rungsprinzip, die Aufführung als Realisierungsrahmen und die Erzählperfor‐ mance als Realisierungsform fungieren. Die Bedingungen, unter denen Erzählperformances als Aufführungen im fremdsprachlichen Klassenzimmer realisiert werden können, sowie die Mittel ihrer Realisierung werden im Folgenden (Kap. 4.2 und 4.3) erörtert. 4.2 Erzählen als Performance (2): Medialität und Materialität der Aufführung Das folgende Kapitel erläutert die Charakteristika der medialen und materiellen Verfasstheit der Aufführung (Kap. 3.5.1). 4.2.1 Mündlichkeit und Körperlichkeit der Erzählperformance - die Nähe zum Theater Aufführungen finden im Medium der Mündlichkeit statt. Charakteristisch für die Aufführung von Erzählperformances sind deshalb die face-to-face-Kommu‐ nikation und weitere, bereits erläuterte Merkmale des Mündlichkeitsmediums (Kap. 3.5.1). Das Medium der Mündlichkeit ist verbunden mit einer Materialität (Fi‐ scher-Lichte 2005a: 18), die im Modus der Aufführung in besonderer Weise zu‐ tage tritt und die Grundlage dafür bildet, dass die Aufführung als Ereignis statt‐ finden kann. Gemeint sind die Körperlichkeit der agierenden Personen, aber auch die des Raumes, in dem sie gemeinsam präsent sind und die Zeit der Auf‐ führung verbringen, sowie die Lautlichkeit, die von der performativen Gestal‐ tung hervorgebracht wird. Die Materialität der Aufführung schafft körperlich wahrnehmbare Hör- und Seh-Räume. Die Erzählperformance ist unter medialem und materialem Aspekt und auch im Hinblick auf die ihre Art der Bedeutungserzeugung einer Theateraufführung vergleichbar. Ein Vergleich zwischen Erzählperformance- und Theaterauffüh‐ rung ist aus folgenden Gründen fruchtbar: 4.2 Erzählen als Performance (2): Medialität und Materialität der Aufführung 109 <?page no="110"?> 7 Eine systematische Zuordnung des mündlich-fiktionalen Erzählens zu einem eigenen semiotischen System liegt nach meiner Kenntnis bisher nicht vor. Fischer-Lichte greift das Problem punktuell auf, wenn sie im Rekurs auf Lessings Auffassung vom ‚Transi‐ torischen‘ des Theaters eine Parallele zwischen Theater, Musik und mündlichem Er‐ zählen zieht; gemeint ist als gemeinsames Merkmal der Verlauf der Aufführung in der Zeit (Fischer Lichte 2007: 15). Ich verwende weiterhin den Begriff „mündliches Erzählen als Performance“, wenn es um die Auffassung bzw. theoretische Modellierung des mündlichen Erzählens als performativer Präsentationsform geht. Den Begriff „Erzähl‐ performance“ verwende ich zur Bezeichnung der Präsentationsform. 8 Beide Bezeichnungen- theatralisch oder theatral - für den Code und die Zeichen des Theaters finden sich bei Fischer-Lichte. Ich werde mich auf den überwiegend in Fi‐ scher-Lichte 2007 und 2009 gebrauchten Begriff theatralisch beschränken und ihn durchgehend verwenden. • Aus den Gemeinsamkeiten mit dem Theater lassen sich die der Erzähl‐ performance zur Verfügung stehenden non-verbalen Zeichen als perfor‐ mative Gestaltungsmittel herausarbeiten 7 . • Aus den Unterschieden und Gemeinsamkeiten mit dem System Theater lassen sich die Besonderheiten der performativen narrativen Kommuni‐ kation entwickeln. • Aus der Nähe zum Theater lässt sich der bereits erwähnte performative Pakt ableiten. Überträgt man die drei von Fischer-Lichte entwickelten Konstituenten des Sys‐ tems Theater (Fischer- Lichte 2007: 14ff.) auf die Erzählperformance als Auf‐ führung, so sind einige wesentliche Übereinstimmungen, aber auch Unter‐ schiede zum Theater feststellbar. Die erste Konstituente des Theaters, das Transitorische und die absolute Ge‐ genwärtigkeit, stellt auch ein Merkmal der mündlichen Kommunikationssitua‐ tion dar (Kap. 3.5.1) - mit dem Unterschied, dass das einmalige Ereignis nicht vom Ensemble der Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern von real exis‐ tierenden mündlich Erzählenden hervorgebracht wird. Die zweite Konstituente, die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption vor Publikum im öffentlichen Raum, gilt ebenfalls für beide mediale Vermitt‐ lungsformen. Die dritte Konstituente, die Form der Darstellung, ist der des Theaters nur bedingt verwandt. Das Theater verfügt über eine eigene Sprache, einen theatra‐ lischen 8 Code (Fischer-Lichte 2007: 21), mit dem es Bedeutung erzeugt (Kap. 4.3). Dem mündlichen Erzählen als Performance fehlen die Schauspielerinnen und Schauspieler. Und gerade deren Tätigkeit in Verbindung mit den ihnen zur Ver‐ fügung stehenden theatralischen Zeichen macht die Sprache des Theaters aus. Das mündliche Erzählen wird dagegen dominant über die verbale Sprache und 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 110 <?page no="111"?> 9 Damit soll keine historische Folge von Theaterspiel und performativem Erzählen vor Publikum - oder umgekehrt des Erzählens vor dem Theaterspiel - behauptet werden. Es wird lediglich festgehalten, dass das Theater als ästhetisches System und seine Be‐ deutungserzeugung systematisch erforscht sind und diese Ergebnisse für die Untersu‐ chung der Performance-Aufführung genutzt werden können. im narrativen Diskursmodus realisiert. Seine non-verbalen Ausdrucksformen (Kap. 4.3) entnimmt das mündliche Erzählen dem theatralischen Code. Sie werden deshab in der Performanceforschung aus dem System Theater entwi‐ ckelt 9 . 4.2.2 Kommunikationsmodell mündlich-fiktionalen Erzählens als Performance Das folgende - in Anlehnung an Chatman (1989: 151) und O’Sullivan (2000: 121) entwickelte - Modell (Abb. 4) stellt die Kommunikation mündlich-fiktionalen Erzählens als Performance schematisch dar. Aus dem Modell wird ersichtlich, dass in der schriftlichen wie in der performativen bzw. der theatralischen Kom‐ munikation zwischen realen Autorinnen und Autoren und den realen Zuschau‐ erinnen und Zuschauern keine Kommunikation stattfindet. Abb. 4: Kommunikationsmodell mündlich-fiktionalen Erzählens als Performance 4.2 Erzählen als Performance (2): Medialität und Materialität der Aufführung 111 <?page no="112"?> In der Kommunikationssituation mündlich-fiktionalen Erzählens als Perfor‐ mance kommunizieren real die Erzählenden und die als Publikum versammelte Zuhörerschaft. Die Erzählenden repräsentieren als Personen den fiktiven Er‐ zähler der Narration und übernehmen die Aufgabe, die diegetische Welt in Mündlichkeit zu realisieren. Sie können dies auf vielfältige, multimediale Weise tun: mit ihrer Stimme, mit Gestik und Mimik und unter Einsatz weiterer Medien wie z. B. dem Tanz, dem Gesang, der Musik, der Videoprojektion. Sie haben auch die Möglichkeit, in die Figuren der Diegese zu schlüpfen und ihnen durch the‐ atralische Darstellung Körperlichkeit zu verleihen. In diesem Fall gleichen sie Schauspielerinnen und Schauspielern des Theaters. Was sie allerdings nicht können, das ist, eine theatralische Situation zwischen mehreren auf der Bühne präsenten Akteuren zu erspielen. Sie können aber, um die gegenüber dem The‐ ater eingeschränkten Möglichkeiten zu überspielen, mehrere Figuren im Wechsel darstellen und damit ihre gleichzeitige Präsenz simulieren und das Publikum in den Erzählvorgang einbeziehen. Allerdings muss von Seiten der Zuhörerschaft die Bereitschaft bestehen bzw. entwickelt werden, die so dargebotene Performance zu akzeptieren bzw. sich auf diese Kommunikation einzulassen. Aus diesem Grund werde ich denjenigen Raum, in dem die Kommunikation zwischen realen Kommunikationspartnern stattfindet, als ‚performativen Raum‘ (s. auch Fischer-Lichte 2005a: 19) auf‐ fassen, wobei mit dem Begriff ‚Raum‘ nicht nur der Ort, sondern der Ereignis‐ raum der Aufführung erfasst werden soll. In diesem Raum kann - in Analogie zum fiktionalen Pakt (Kap. 3.3) - ein ‚performativer Pakt‘ zwischen Erzählenden und Publikum geschlossen werden. Mit diesem Pakt wird ein Einverständnis hergestellt darüber, dass die narrative Kommunikation als ‚performatives (The‐ ater-)Spiel‘ angesehen wird, bei dem die Rollen in Erzählende und (evtl. mit‐ wirkendes) Publikum verteilt sind. Das Kommunikationsmodell verdeutlicht, dass das mündlich-fiktionale Er‐ zählen als Performance den performativen Künsten zuzurechnen ist, aber kein eigenes semiotisches System darstellt. Als performative Kunst gehört es den direkten Präsentationsmodi an und kann sich in einer Aufführung realisieren. Als Kunst des Erzählens mit einer ‚doppelten‘ Erzählinstanz (dem realen und dem fiktionalen Erzähler) gehört es dem narrativen Diskursmodus an. Das mündlich-fiktionale Erzählen nimmt unter kommunikationstheoretischen Ge‐ sichtspunkten eine Stellung zwischen vermittelter und unvermittelter Darstel‐ lung ein, unter ästhetisch-performativen Gesichtspunkten besteht eine Nähe-Beziehung zwischen der Erzählperformance und dem Theater. Diese Be‐ ziehung kann deshalb als eine graduelle angesehen werden, wobei der Grad der 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 112 <?page no="113"?> Nähe von den zum Einsatz kommenden theatralischen und grenzüberschrei‐ tenden Mitteln der Darstellung abhängt. Die Nähe zum Theater liefert dem Einsatz der Erzählperformance im Fremd‐ sprachenunterricht ein flexibles Gestaltungsinstrument, mit dessen Hilfe die Aufführung inszeniert und die Performance sich zwischen Tradition und Expe‐ riment positionieren kann. Zur weiteren Erkundung dieses Gestaltungspoten‐ zials werden die Darstellungsmittel des theatralischen Codes im folgenden Ka‐ pitel (Kap. 4.3) dargestellt. 4.3 Erzählen als Performance (3): die Herstellung von Bedeutung in der Aufführung In diesem Kapitel (4.3) geht es darum, das dritte Charakteristikum der Auffüh‐ rung, deren spezifische Semiotizität, zu erläutern und damit diejenigen Gestal‐ tungsmittel vorzustellen, die auch die Erzählperformance zu ihrer Inszenierung einsetzen kann: das Zeichenrepertoire des Theaters und daraus abgeleitet die für die Gestaltung von Erzählperformances relevanten, im Folgenden von mir mit dem Begriff ‚erzählperformativ‘ gefassten Zeichen. Wie bei den theatrali‐ schen Zeichen handelt es sich auch bei den erzählperformativen Zeichen um transformierte Zeichen, um „Zeichen von Zeichen“ (Fischer-Lichte 2005c: 300), die erst durch ihre Verwendung im theatralischem bzw. erzählperformativen Zusammenhang zu theatralischen bzw. erzählperformativen Zeichen werden (a. a. O). Sie können dieselbe Bedeutung haben wie die entsprechenden primären Zeichen, durch ihre Verwendung in der Erzählperformance sind sie jedoch auf den Erzählzusammenhang der Geschichte, auf die Handlung, die Figuren, deren Gefühle und Beziehungen und auf den Erzählvorgang selbst bezogen. Zur Vorstellung der theatralischen und erzählperformativen Zeichen werden in einem ersten Schritt die prosodischen Elemente in ihrer primären Verwen‐ dung mithilfe der Phonologie präsentiert, weil sie in dieser Verwendung für den Fremdsprachenunterricht besonders relevant sind. In einem zweiten Schritt werden sie gemeinsam mit den weiteren akustischen, verbalen, visuellen Zei‐ chen mithilfe der Theatersemiotik als erzählperformative Zeichen kategorisiert. Ihre Funktionen und ihre Möglichkeiten der Bedeutungserzeugung (Kap.4.3.3 und 4.3.4) in Erzählperformances werden erläutert. Die Frage nach dem Poten‐ zial der Gestaltungsmittel wird in die Erörterung einbezogen. 4.3 Erzählen als Performance (3): die Herstellung von Bedeutung in der Aufführung 113 <?page no="114"?> 10 Die Darstellung der prosodischen Elemente stützt sich auf folgende Nachschlagewerke und Forschungsarbeiten: (1) Handbücher, Lexika (Bußmann 2008, Glück 2010, Hall 2011, Lewandowski 1994, Pompino-Marschall 2003, Sokol 2001, Willi 2004, (2) linguistische Publikationen speziell für die Weiterbildung konzipiert (Zollna 1999, Mordellet 1998) oder (3) didaktisch ausgerichtet (Champagne-Muzar / Bourdages 1998) und (4) auf be‐ stimmte Probleme fokussierte linguistische Publikationen (Stark 1997, Blumenthal 1997). 11 Während Konsens über die pragmatische Funktion der prosodischen Elemente besteht, wird deren Fähigkeit zur Bedeutungskonstitution unterschiedlich beurteilt. So schreibt Stark der Intonation in demarkativer und modaler Funktion die Fähigkeit zur „syntak‐ tischen Strukturierung von Äußerungen“ (1997: 115; Anm. 325) und zur „Demarkation einzelner Phrasen im Satz“ (a. a. O.) zu. Andere Intonationsmuster sieht sie nicht als „Zeichen im eigentlichen Sinne“, weil sie „keine ‚Bedeutung’ haben, sondern als ganz‐ heitlich-analoge Ausdruckskonfigurationen eher als ‚Signale’ zu verstehen sind“ (a. a. O.). Willi unterstreicht, dass in der modalen Funktion Akzent, Dauer und Intona‐ tion bedeutungsdifferenzierend agieren und sich mit ihrer Hilfe „vielfältigste Nuancen auf allen Ebenen der Kommunikation ausdrücken“ (Willi 2004: 483) lassen. 4.3.1 Die prosodischen Elemente, ihre Art und ihre Funktionen in primärer Verwendung Suprasegmentalia wie z. B. Intonation und Akzent werden in der Sprachwis‐ senschaft als prosodische Elemente (Sokol 2001: 73-74, Pompino-Marschall 2003: 237-252, 2010a: 24-25, 2010b: 539, Willi 2004: 482-484) definiert, die über die phonetische Segmentierung hinausreichen und Resultate lautlicher Aktionen darstellen 10 : Als prosodische Elemente oder Suprasegmentalia werden die lautlichen Gegeben‐ heiten bezeichnet, die sich über den Einzellaut (Phonem, Allophon) und die Silben‐ struktur hinaus artikuliert finden. Hierzu gehören die Resultate unterschiedlicher In‐ tonationsstrategien wie Akzent (Betonung), Tonhöhe (Melodie), Längung und Intensität (Lautstärke). (Sokol 2001: 73) Die prosodischen Elemente übernehmen in den Intonationssprachen pragma‐ tische Funktionen (Stark 1997: 115, Sokol 2001: 73) 11 . Sie dienen den Spreche‐ rinnen und Sprechern zur Variation ihrer Rede und bieten den Kommunikati‐ onspartnerinnen und -partnern Verstehenshilfen. Sie sind aus diesem Grund besonders wichtig für das mündliche Erzählen im Fremdsprachenunterricht. Die Anzahl der pragmatischen Funktionen wird unterschiedlich angegeben. Champagne-Muzar / Bourdages (1998) gehen von einer großen Diversität der 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 114 <?page no="115"?> 12 Die von mir aufgestellte Reihenfolge stimmt nicht ganz mit der von Cham‐ pagne-Muzar / Bourdages überein. Ich setze die fonction démarcative an die dritte Stelle und damit in den Kontext der eher sprachlich-hinweisenden Funktionen 1-4. prosodischen Funktionen aus und identifizieren folgende acht Funktionen (1998: 31), denen sie jeweils eine bestimmte Hilfeleistung zuordnen 12 . 1. In der fonction distinctive geben prosodische Elemente Hilfestellung bei der Unterscheidung von Lauten. 2. In der fonction contrastive heben sie - wie z. B. eine Akzentsetzung - Ele‐ mente des Satzes hervor und unterstreichen damit meist das Rhema des Satzes. 3. In der fonction démarcative markieren sie zusammengehörende Syn‐ tagmen und gliedern damit die Rede. 4. In der fonction modale wird der Modus des Satzes (déclaratif, interrogatif, jussif, appellatif) determiniert. 5. In der fonction identificatrice werden Hinweise auf die Person der Spre‐ chenden, auf ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre soziale Herkunft usw. gegeben. 6. In der fonction expressive zeigt die Prosodie Stimmungen, Gemütszu‐ stände etc. der Sprechenden an. 7. In der fonction discursive gibt die Prosodie Hinweise auf die Art des Dis‐ kurses. Sie zeigt z. B. an, ob es sich um eine Erzählung oder einen wis‐ senschaftlichen Vortrag handelt. 8. In der fonction communicative können prosodische Elemente Kommuni‐ kationsabsichten signalisieren, z. B. Unmut deutlich machen, Neugier we‐ cken, die Kommunikationspartnerinnen und -partner zum Eingreifen be‐ wegen. Die von Champagne-Muzar / Bourdages genannten Funktionen werden zur Analyse der Erzählperformances herangezogen, weil auf dieser Grundlage so‐ wohl die kommunikative als auch die ästhetische Inszenierung von Erzählper‐ formances erfasst werden kann. Die ersten vier Funktionen geben vor allem Auskunft über die bedeutungsunterstützende Rolle der Prosodie, die fünfte, sechste und siebte Funktion über die Rolle der Prosodie als performatives und die achte als interaktives Gestaltungselement. Die folgende Übersicht (Tab. 4) listet die prosodischen Elemente, ihre Er‐ scheinungsformen und Funktionen auf und illustriert diese anhand von Bei‐ spielen aus Erzähldiskursen so, dass sie einerseits in ihrer primären Funktion gelesen werden können und andererseits einen ersten Einblick in ihre erzähl‐ 4.3 Erzählen als Performance (3): die Herstellung von Bedeutung in der Aufführung 115 <?page no="116"?> 13 Eine phonologisch präzise und umfassende intonatorische oder artikulatorische Be‐ schreibung der prosodischen Elemente wäre im Hinblick auf den Schwerpunkt der Studie nicht funktional. Die in Kap. 4.3.1 gelieferte Kurzbeschreibung prosodischer Ele‐ mente der französischen Sprache fokussiert auf den Schwerpunkt der Studie und liefert Informationen, die die in den folgenden Kapiteln greifende, auf die Systematik Fi‐ scher-Lichtes rekurrierende theatralische bzw. erzählperformative Verwendung (Kap. 4.3.3) nicht geben kann. In Fischer-Lichtes Systematik werden die Besonderheiten der französischen Sprache (besonders deren Akzent- und Betonungsstruktur) nicht be‐ rücksichtigt. Sie spielen jedoch in den Performances eine wichtige Rolle. 14 Bei den zwischen «…» gekennzeichneten Beispielen handelt es sich um prosodisch ge‐ staltete sprachliche Äußerungen aus dem empirischen Material der Studie (Kap. 9.2.2). 15 Beispiel 1a steht für einen accent tonique, die Beispiele 1b und 1c stehen für pragmatisch gewichtete accents d’insistance. Zu deren funktionaler Markierung werden die ent‐ sprechenden Silben unterstrichen, fett unterstrichen oder in Großbuchstaben fett ge‐ druckt (s. „Transkriptionsregeln der Videografie“ in Anhang 1). performative Rolle geben 13 . Die Beispiele werden in der Transkriptionsfassung der Videografie (s. „Transkriptionsregeln in den Videografien“ in Anhang 1) wiedergegeben. prosodische Elemente 1-9: Beispiele 14 Erscheinungs‐ formen mögliche Funktionen 1) Akzent mit Lautstärke, Druck, Län‐ gung, Tonhöhe: Silben-, Wort-, Satz‐ akzent, pragmatisch ge‐ wichtet 15 1a) « En haut de ce fagot↗ (VT-EZ / 1, 4) accent tonique fonction démarcative 1b) il y a deux oiseaux rouges↘. » (a. a. O.) accent d‘insistance fonction contrastive hier zur Hervorhebung einer Besonderheit 1c) « HE↗, que faites-vous ↺ ? » (VT-EZ / 1 : 10) accent d’insistance (auf HE↗) HE↗ : fonction communi‐ cative zum Ausdruck von Ge‐ fühlen gegenüber anderen 2) Intonation mit Tonhöhe: « Tu n’aimes pas l’eau ↺ ? » (VT-EZ / 1 : 9) Die Intonation zeigt den Verlauf der Sprach‐ melodie über die Äuße‐ rung hinweg. fonction modale zur Angabe des Satzmodus Frage: ↺ ; Ausruf: ; Be‐ fehl: ↴ 3) Pause « Je l’ai changée (.) contre ↺ (5 Sek) contre (.) un oiseau rouge. » (VT-EZ / 1 : 13) stille Pause kurz (.) stille Pause länger (5 Sek) (inkl. einem accent d’in‐ sistance) fonction communicative Die Pause ist zu verstehen als Aufforderung an das Publikum zum Mitspre‐ chen. 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 116 <?page no="117"?> 4) Dauer, Dehnung mit Intensität, Tempo: « J’ai une faim de loup. » (EZ / 1 : 4) Zerdehnung der Wort‐ gruppe, wobei jede Silbe betont, die Sprechgeschwindig‐ keit verlangsamt wird fonction expressive zum Ausdruck von Stim‐ mungen, Gefühlen des Sprechenden 5) Lautstärke mit Tempo, Intensität, Deh‐ nung: « Lauter : DONNE-NOUS↗ ton oiseau rouge! » (VT-EZ / 1 : 5) lautes und / oder leises Sprechen von Redean‐ teilen. Die pragmatische Ge‐ wichtung der Laut‐ stärke wird im Tran‐ skript verbal angegeben. fonction expressive 6) Sprechgeschwindigkeit mit Lautstärke, Pausen, Dauer: « MOI↗, schneller, lauter: je garde mon oiseau, je vais l’é-chan-ger. » Verlangsamung vs. Be‐ schleunigung der Dauer von Lauten, Wortketten, Sprechan‐ teilen Das Tempo wird verbal angegeben. fonction expressive und communicative 7) Stimmqualität mit Tonhöhe, Lautstärke, Arti‐ kulationsweise helle vs. dunkle Stimme, hohe vs. tiefe Stimme Artikulation, Stimmfärbung fonction identificatrice Die Stimmqualität ver‐ weist auf Charakteristika der Figur wie Alter, Her‐ kunft. Rhythmus mit Akzentuierung, Tonhöhe, Dehnung, Geschwindigkeit, Pause rhythmisierend : « Rends-moi le sac de sel que j’ai changé contre le panier↗ que j’ai changé contre le couteau↗[…] » Der Wechsel von be‐ tonten und unbetonten Silben in bestimmten Abständen ergibt den spezifischen Rhythmus der Rede / des Redeab‐ schnitts. Der Rhythmus wird verbal angegeben. fonction discursive Die Rhythmisierung bringt den liedhaften Cha‐ rakter des Reims zum Tragen und verweist auf das Märchenhafte des Dis‐ kurses. Tab. 4: Prosodische Elemente und ihre Funktionen Die prosodischen Elemente der Akzentuierung und Intonation übernehmen bei der lautlichen Realisierung der Rede durch die Sprechenden und der Dekodie‐ rung durch die Hörerinnen und Hörer in der fremdsprachlichen Kommunika‐ tion und speziell auch in den Erzählperformances eine wichtige Aufgabe. Rea‐ lisierung und Wirkungsweise dieser beiden Elemente werden deshalb kurz dargestellt. Die Akzentuierung des Französischen stellt für Französischlernende eine be‐ sondere Herausforderung dar: 4.3 Erzählen als Performance (3): die Herstellung von Bedeutung in der Aufführung 117 <?page no="118"?> 16 Der accent tonique wird auch als Fokusakzent bezeichnet (Stark 1997: 120). 17 Die Transkription der prosodischen Elemente (s. die Erläuterungen in Tab. 4 und in Kap. 8.3.1.1) zeigt, dass nicht jede Akzentuierung markiert wird und die Intensität des Drucks auch nicht gemessen wird. Die subjektive Wahrnehmung der Stärke, des Drucks etc. soll als pragmatisches Markierungs- und Gewichtungsinstrument genügen (siehe dazu auch Stark 1997: 121, Anm. 351). 18 Dies geschieht, wie die Beispiele in Tab.4 zeigen, durch Fettdruck für die fonction ex‐ pressive, Fettdruck und Unterstreichung für die fonction contrastive sowie Großbuch‐ staben für die fonction communicative (s. die Übersicht über die „Transkriptionsregeln der Videografie“ in Anhang 1). Das auffälligste Kennzeichen der französischen Intonation ist, daß Wortgrenzen, an‐ ders als etwa im Deutschen, nicht hörbar sind, sondern Sinn- und Satzeinheiten zu‐ sammengefasst artikuliert werden (sog. mot phonétique oder phonique ). Der Haupt‐ akzent liegt auf der letzten Silbe des zusammenhängend intonierten mot phonique. (Sokol 2001: 73f.) Hilfe kommt für die Lernenden, wenn die Sprecherinnen und Sprecher von der Möglichkeit der pragmatischen Gewichtung Gebrauch machen, denn sie können entscheiden, wie stark der Hauptakzent - der sog. accent tonique - hörbar gemacht werden soll 16 . Sie können die Akzentuierung mithilfe der Ton‐ höhenabstufung (s. Bsp. 1b, c in Tab. 4), Längung, Pause verstärken und dadurch bestimmte Einheiten besonders hervorheben oder von anderen abgrenzen. Auf diese Weise bedienen sie die fonction démarcative, contrastive, expressive und communicative. Die pragmatisch gewichteten Akzente werden im Unterschied zum Hauptakzent als accents d’insistance (Zollna 1999: 37, Champagne-Muzar / Bourdages 1998: 30, Sokol 2001: 74) bezeichnet. Da es in meiner Studie um pädagogische und ästhetische Gestaltung der Per‐ formances geht, interessieren besonders die pragmatischen Gewichtungen der Erzählenden. Deshalb werden nicht alle im Redefluss auftretenden Akzentuie‐ rungen analysiert, sondern nur die offensichtlich als Gestaltungsmittel einge‐ setzten oder der Verstärkungen dienenden 17 . Dies betrifft besonders die accents d’insistance, die in den Erzählperformances häufig eingesetzt und deshalb in der Videografie markiert und in die Analyse der Performances einbezogen werden. Da auch die jeweiligen Funktionen der accents d’insistance für die Analyse von Bedeutung sind, werden sie ebenfalls markiert (Tab. 4) 18 . Die Intonation als „Klangestalt bzw. Kontur von Äußerungen / Sätzen“ (Levan‐ dowski 1994: 491) und als melodische, die Äußerung begleitende Bewegung (Mordellet 1998: 30) ist für die fremdsprachliche Kommunikation zur Verdeut‐ lichung der Rede und der Redeabsicht der Sprechenden von entscheidender Be‐ deutung. 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 118 <?page no="119"?> 19 Als Charakteristika theatralischer Zeichen nennt Fischer-Lichte die Tatsache, dass sie „Zeichen von Zeichen“ (Fischer-Lichte 2005c: 300, 2007: 180-183) darstellen, Mobilität und Polyfunktionalität aufweisen. 20 Tabelle 5 ist der Theatersemiotik (Fischer-Lichte 2007: 28) entnommen und wird ge‐ ringfügig (um den Terminus „kinesische Zeichen“) ergänzt. Fischer-Lichte fasst die mi‐ mischen, gestischen und proxemischen Zeichen unter dem Terminus „kinesische Zei‐ chen“ zusammen (Fischer-Lichte 2007: 25). Ihre Gemeinsamkeit beruht darauf, dass sie durch Bewegungen hervorgebracht werden: durch Bewegungen des Gesichts (Mimik) und des Körpers. Um Gestik handelt es sich, wenn die Bewegungen (z. B. Kopf-, Schulter-, Arm-, Beinbewegungen) am Ort stattfinden, um Proxemik, wenn die Bewe‐ gung mit einem Ortwechsel verbunden ist. En simplifiant, on peut dire que, en français, l’intonation sert à différencier les diffé‐ rentes phrases énonciatives, interrogatives et impératives. (Mordellet 1998 : 32) Auch in der Erzählperformance übernimmt die Intonation in ihrer fonction mo‐ dale eine wichtige Rolle. Mit ihrer Hilfe können die Erzählenden die Figurenrede modellieren (z. B. durch ansteigende und fallende Tonhöhe) und die Kommuni‐ kation mit dem Publikum regulieren. Steigende und fallende Intonation wird deshalb in der Videotranskription (s. Tab. 4) ebenfalls angezeigt. 4.3.2 Das Zeicheninventar des Theaters Im Folgenden werden im Rekurs auf die Theatersemiotik Fischer-Lichtes die für das System Theater relevanten Zeichen (Fischer-Lichte 2007: 26-30) zusammen‐ gestellt und anschließend - gemeinsam mit den bereits klassifizierten prosodi‐ schen Zeichen - auf ihre Verwendung in Erzählperformances untersucht (Kap. 4.3.3). Dabei handelt es sich um Zeichen, die - wie die prosodischen Elemente ‒ in primärer Funktion zur Anwendung kommen, hier jedoch auf den Auffüh‐ rungszusammenhang bezogen werden. Sie zeigen damit ihr erstes, für den Ver‐ wendungszusammenhang wichtiges Charakteristikum: Theatralische Zeichen sind transformierte Zeichen 19 . Sie bedienen sich der primären Zeichen, ver‐ wenden sie jedoch in einem spezifischen Kontext und können ihnen damit spe‐ zifische Bedeutungen zuweisen. Die Zusammenstellung macht zwei weitere Charakteristika theatralischer Zeichen deutlich: ihre Heterogenität und ihre Plurimedialität. Von den 14 in der folgenden Übersicht (Tab.5) aufgeführten Zeichen sind vier Zeichen als akustische und zehn als visuelle Zeichen, davon zwei als kinesische Zeichen und ein Zeichen als proxemisches Zeichen ausge‐ wiesen. Sie lassen sich „mit Hilfe der Oppositionspaare ‚akustisch / visuell’, ‚transitorisch / länger andauernd’ und ‚schauspielerbezogen / raumbezogen’“ (Fischer-Lichte 2007: 27) wie folgt klassifizieren 20 : 4.3 Erzählen als Performance (3): die Herstellung von Bedeutung in der Aufführung 119 <?page no="120"?> Zeichenart Wahrneh‐ mungskanal Einsatz und Bezug Geräusche akustische Zei‐ chen transito‐ risch raumbezogen Musik linguistische Zeichen schauspielerbe‐ zogen paralinguistische Zeichen mimische Zeichen kinesi‐ sche Zeichen visuelle Zei‐ chen gestische Zeichen proxemische Zeichen Maske länger an‐ dauernd Frisur Kostüm Raumkonzeption raumbezogen Dekoration Requisiten Beleuchtung Tab. 5: Klassifikation theatralischer Zeichen (nach Fischer-Lichte 2007: 28) 4.3.3 Die linguistischen und non-verbalen Zeichen in erzählperformativer Verwendung Um die spezifischen Funktionen, Verwendungen und Wirkungsweisen linguis‐ tischer und non-verbaler Zeichen in den Erzählperformances und damit die Art und Weise, in der sie dort Bedeutung erzeugen, zu erarbeiten, werden die o. g. Zeichen (Kap. 4.3.2) aus ihrer theatralischen in die erzählperformative Verwen‐ dung überführt. Dabei folge ich der Systematik Fischer-Lichtes, die aus den Bühlerschen Grundfunktionen der Sprache (Ausdrucks-, Appell- und Darstel‐ lungsfunktion) drei Ebenen der Bedeutungserzeugung ableitet (Fischer-Lichte 2007: 33-36): 1. die Objektebene, 2. die Beziehungsebene, 3. die Subjektebene. 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 120 <?page no="121"?> Um in dieser Systematik auch die Ebene der ästhetischen Gestaltung und der Inszenierung zu erfassen, füge ich den drei Ebenen im Rekurs auf Jakobsons sprachliche Funktionen ( Jakobson 1960: 83-121) eine weitere Ebene hinzu: 4. die poetisch-ästhetische Ebene. Die Möglichkeit der Bezugnahme auf vier verschiedene Bedeutungsebenen zeigt ein viertes, wichtiges Charakteristikum theatralischer Zeichen: ihre Multifunk‐ tionalität. 4.3.3.1 Die Funktionen linguistischer Zeichen in Erzählperformances Die linguistischen Zeichen übernehmen in der Aufführung von Erzählperfor‐ mances folgende Funktionen: 1. auf der Objektebene stellen sie Sachverhalte, den Handlungsablauf einer Szene und den Gesamtzusammenhang der Aufführung dar, 2. auf der Beziehungsebene geben sie Hinweise auf die Beziehung von einer Figur zu einer anderen oder für die Rolle, die eine Figur für die andere spielt, oder sie stellen den Kontakt zwischen Erzählenden und Publikum her, 3. auf der Subjektebene können sie als Ausdruck „für beispielsweise Her‐ kunft, Alter, Geschlecht, soziale Stellung, Geisteszustand, Gemütsverfas‐ sung, Gefühle, Wünsche, Willen, augenblickliche Stimmung“ der darge‐ stellten Figur (Fischer-Lichte 2007: 34) interpretiert werden, 4. auf der poetisch-ästhetischen Ebene lenken sie die Aufmerksamkeit auf die ästhetische Gestaltung und Inszenierung der Aufführung. 4.3.3.2 Die Funktionen non-verbaler Zeichen in Erzählperformances Die non-verbalen Zeichen gehen mit den linguistischen Zeichen auf allen vier Bedeutungsebenen besondere Beziehungen ein. Sie gliedern den Erzähldiskurs in parasyntaktischer Funktion, sie deuten und illustrieren ihn in parasemanti‐ scher, sie regulieren die Kommunikation in parapragmatischer Funktion und sie gestalten die Performance in poetischer Funktion. Sie begleiten damit den Er‐ zähldiskurs je nach Situation, Inszenierungsabsicht, spontaner Eingebung oder alltagssprachlicher Routine. Sie bilden sein ‚performatives Rückgrat‘ und stehen damit im Zentrum der empirischen Analyse der Erzählperformances. Um die für die Analyse der Erzählperformances notwendigen Instrumente zu gewinnen, werden im Folgenden die für die Erzählperformance relevanten non-verbalen Zeichen aufgelistet und auf ihre Funktionen im erzählperforma‐ tiven Zusammenhang untersucht. In die Darstellung werden diejenigen Zeichen aufgenommen, die nach der ersten Durchsicht des empirischen Materials re‐ 4.3 Erzählen als Performance (3): die Herstellung von Bedeutung in der Aufführung 121 <?page no="122"?> 21 Eine zusammenfassende, tabellarische Übersicht der Zeichen und ihrer Funktionen (Kap. 4.3.3) findet sich in Anhang 2: „Zeichenübersicht: Art und Funktionen erzählper‐ formativer Zeichen“. 22 Die im Folgenden verwendeten Siglen P, R, M, G, Prox, Ko, entsprechen denen in den „Traskriptionsregeln der Videografien“ (Anhang 1) und der „Zeichenübersicht: Art und Funktionen erzählperformativer Zeichen“ (Anhang 2) gebrauchten Siglen. 23 Eine grobe Einteilung der paralinguistischen Zeichen nimmt Fischer-Lichte zunächst im Hinblick auf deren theatralische Funktion vor: „Unter paralinguistischen Zeichen verstehen wir alle vokal erzeugten Laute, die weder als a) linguistische Zeichen noch als b) musikalische Zeichen noch als c) ikonische vokale Zeichen für nicht von Men‐ schen stammende Laute (wie Hundegebell, Vogelgezwitscher, Bahngeratter etc.) her‐ vorgebracht werden (Fischer-Lichte 2007: 38). Zur Ausdifferenzierung rekurriert sie auf phonologische Aspekte wie Betonung, Tonhöhe, Lautstärke etc. (a. a. O.) Die sprach‐ ersetzenden paralinguistischen Zeichen sind gegenüber der von mir in sprachwissen‐ schaftlicher Systematik aufgelisteten Elementen neu. kurrent in verschiedenen Kombinationen und Funktionen der Performanceins‐ zenierungen auftauchen 21 . 4.3.3.3 Die paralinguistischen Zeichen (P) und ihre Funktionen in Erzählperformances 22 Auf der Basis der Klassifizierung theatralischer Zeichen (Kap. 4.2.2) und unter Einbeziehung der von der Sprachwissenschaft kategorisierten prosodischen Zeichen (Kap. 4.2.1) lassen sich die paralinguistischen Zeichen in drei Katego‐ rien einteilen: in die sprachbegleitende, stimmliche Qualität (P 1 ), die sprach‐ begleitenden Zeichen nicht stimmlicher Art (P 2 ) und die sprachersetzenden Zei‐ chen (P 3 ). Die beiden sprachbegleitenden, paralinguistischen Zeichenarten entsprechen den auf das System Sprache bezogenen suprasegmentalen bzw. prosodischen Elementen 23 . Die durchgängig eingesetzte stimmliche Qualität (P 1 ) Die Kategorie der stimmlichen Qualität wurde bereits (Kap. 4.2.2) in ihrer ‚iden‐ tifizierenden‘ Funktion aufgeführt (Beispiel 7 der Tabelle 4, Kap. 4.3.1). Diese Funktion übernimmt sie auch im Theater, denn hier „kann der Schauspieler entweder seine eigenen stimmlichen Qualitäten verändern oder aber sie gerade in ihren stimmlichen Qualitäten als bedeutungstragendes Element einsetzen.“ (Fischer-Lichte 2007: 40) Die Qualität der Stimme identifiziert die Figur, z. B. deren Alter, deren Herkunft. Die transitorisch eingesetzten, nicht stimmlichen Zeichen (P 2 ) Der zweiten Kategorie gehören alle paralinguistischen Mittel an, d.h. alle bisher aufgeführten prosodischen Elemente - mit Ausnahme der stimmlichen Qualität. 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 122 <?page no="123"?> Diese Zeichen können in erzählperformativer Verwendung vor allem zur Glie‐ derung des Diskurses, zur Gestaltung der Sprechakte und zur anschaulichen Vermittlung der augenblicklichen Gefühle und Stimmungen der Figuren einge‐ setzt werden. Sie werden streng transitorisch angewendet. Sprachersetzende Zeichen (P 3 ) Zu dieser Kategorie gehören paralinguistische Zeichen wie „Lachen, Weinen, Schreien oder auch ‚hm’“ (Fischer-Lichte 2007: 45). Als Ersatz für linguistische Zeichen können sie zum Ausdruck von Stimmungslagen und zur Gestaltung von Krisensituationen oder Höhepunkten der Geschichte eingesetzt werden. Aus der Zusammenstellung der Zeichen wird ersichtlich, dass die paralingu‐ istischen Zeichen (P1, P2, P3) in erzählperformativer Verwendung eine enge Verbindung mit den linguistischen Zeichen eingehen. Sie bedienen deren Be‐ deutungsebenen in folgenden vier Funktionen: • die Objektebene in parasyntaktisch-gliedernder Funktion „so dass eine bestimmte Weise, [die Erzählerrede] zu verstehen, nahe gelegt wird“ (Fi‐ scher-Lichte 2007: 43), • die Beziehungsebene in parapragmatisch-hinweisender Funktion, so dass hör-und sichtbar gemacht wird, wie die Kommunikation zwischen den Figuren der Erzählung verläuft und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, • die Subjektebene in parasemantisch-emotiver Funktion, so dass „eine ge‐ wisse Kenntnis über die inneren Vorgänge der Rollenfigur“ (a. a. O.) ver‐ mittelt wird, • die poetische Ebene in gestaltender Funktion, indem sie die Art des Dis‐ kurses, das mündliche Erzählen als Erzählperformance, tragen und ver‐ deutlichen. Die bereits (in Kapitel 4.3.1) aufgeführten acht Funktionen der prosodischen Elemente können in die auf Erzählperformances bezogenen vier Funktionen integriert werden. Die folgende Übersicht (Tab. 6) fasst diese Funktionen para‐ linguistischer Zeichen und ihre Beziehung zu den linguistischen Zeichen wie folgt zusammen: 4.3 Erzählen als Performance (3): die Herstellung von Bedeutung in der Aufführung 123 <?page no="124"?> Funktionen paralinguistischer Zei‐ chen Bedeu‐ tungse‐ benen Funktionen linguisti‐ scher Zeichen Fonction distinctive Fonction contrastive Fonction démarcative den Erzähldis‐ kurs parasyn‐ taktisch gliedernd Objektebene Darstellung der Sachver‐ halte, des Handlungsver‐ laufs, des Gesamtzusam‐ menhangs Fonction modale Fonction communicative auf die Kommu‐ nikation para‐ pragmatisch verweisend Beziehungs‐ ebene Hinweis auf die Bezie‐ hungen zwischen den Fi‐ guren, auf deren Rolle in der Handlung Fonction identificat‐ rice Fonction expressive den Ausdruck von Emotionen parasemantisch mittragend Subjektebene Ausdruck der Herkunft, der Gemütsverfassung, der Ge‐ fühle von Figuren Fonction discursive die Diskursge‐ staltung leitend poetische Ebene Ausrichtung auf die erzähl‐ performative Gestaltung Tab. 6: Die Funktionen paralinguistischer Zeichen und ihre Beziehung zu den linguisti‐ schen Zeichen in erzählperformativer Verwendung 4.3.3.4 Die kinesischen Zeichen (K) und ihre Funktionen in Erzählperformances Die kinesischen Zeichen, d.h. alle Gesichtsbewegungen (mimische Zeichen) und Körperbewegungen (gestische Zeichen), lassen sich wie die paralinguistischen in sprachbegleitende und sprachersetzende Zeichen einteilen. Mimische Zeichen (M) Nach der von Fischer-Lichte im Rekurs auf den Ekmanschen Emotionskatalog vorgeschlagenen Kategorisierung lassen sich die mimischen Zeichen grob in sieben Grundemotionen einteilen, die sich insgesamt auf die Subjektebene be‐ ziehen: Glück, Überraschung, Angst, Traurigkeit, Ärger, Ekel/ Verachtung, In‐ teresse (Fischer-Lichte 2007: 49). Die mimischen Zeichen kann das Publikum als Ausdruck der Gefühle der Figuren interpretieren, weil von einer allgemeingül‐ tigen „Verbindung zwischen Gesichtsausdruck und Emotion“ (a. a. O.: 56) aus‐ gegangen werden kann. Dies muss allerdings unter Beachtung der gesellschaft‐ lich-kulturell tradierten Regeln der Anwendung der Zeichen geschehen: durch Übertreibung und ihr Gegenteil, ferner die Neutralisierung und die „Maskierung einer Emotion durch einen Gesichtsausdruck, der eine andere Emotion be‐ deutet.“ (a. a. O.: 52) 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 124 <?page no="125"?> 24 Die von Fischer-Lichte vorgenommene Unterscheidung in zwei große Kategorien, bei denen die eine Kommunikations- und Interaktionsprozesse erfasst, die andere das „Er‐ füllen einer Intentionalität“ (Fischer-Lichte 2007: 66), werde ich nicht vornehmen, da die zweite Großkategorie in meinem empirischen Material nur an einigen Stellen eine Rolle spielt, und zwar in den Szenen, in denen die Erzählenden pantomimische Gestal‐ tungselemente einsetzen bzw. auch Requisiten gebrauchen oder deren Gebrauch mimen. Stattdessen setze ich insgesamt fünf Kategorien: vier Kategorien (G 1 , G 2 ,G 3 , G 4 ), um die Gesten zur Darstellung und zum Ausdruck von Kommunikations- und Interak‐ tionsprozessen zu klassifizieren, und eine fünfte zur Klassifizierung von Gesten zur ‚Darstellung einer Handlung‘(G 5 ). Interessant für die Analyse der Erzählperformances ist sowohl die Auswahl, die die Erzählenden treffen, als auch die Art und Weise, in der sie die Mimik einsetzen: Welche Gefühle welcher Figuren werden visualisiert und ggf. gegen‐ einander abgesetzt? In welchen Momenten, welchen Szenen? Wie wird die Mimik eingesetzt: übertrieben, punktuell, durchgehend, sich steigernd? Gestische Zeichen (G) Im Gegensatz zu den mimischen können die gestischen Zeichen unterschied‐ liche Bedeutungen annehmen. Eine geballte Faust kann z. B. als Gruß oder als Ausdruck von Wut oder als Drohung (Fischer-Lichte 2007: 65) eingesetzt werden. Gestische Zeichen sind deshalb nur aus dem Kontext, aus den ablau‐ fenden Kommunikations- oder Interaktionsprozessen zu deuten. Sie lassen sich fünf Kategorien 24 zuordnen, denen unterschiedliche Funktionen entsprechen. Dies sind: Sprachbegleitende gestische Zeichen in parasyntaktischer Funktion (G 1 ) : Interpunktion und Illustration Sprachbegleitende gestische Zeichen können in engem Zusammenhang mit den linguistischen Zeichen zur Interpunktion und Illustration des Erzähldiskurses dienen. Bei der Interpunktions-Gruppe handelt es sich um „akzentuierende bzw. glie‐ dernde Gesten, die auf der Ebene der linguistischen Zeichen das jeweils Wich‐ tige hervorheben, verdeutlichen und unterstreichen“ (Fischer-Lichte 2007: 66), z. B. durch Heben der Augenbrauen für eine fragende / tadelnde / erstaunte Haltung. Diese Zeichen erhöhen wie die prosodische Akzentuierung die Ver‐ ständlichkeit der Rede. Die Gruppe der Illustratoren spielt beim mündlichen Erzählen im Fremd‐ sprachenunterricht ebenfalls eine große Rolle, denn sie sorgt für die Veran‐ schaulichung der Rede: 4.3 Erzählen als Performance (3): die Herstellung von Bedeutung in der Aufführung 125 <?page no="126"?> Die der Illustration der Rede dienenden gestischen Zeichen können die Richtung der Gedanken anzeigen, eine räumliche Beziehung bedeuten, auf anwesende Subjekte zeigen, körperliche Handlungen bezeichnen oder ein Bild dessen ‚malen’, was die lin‐ guistischen Zeichen denotieren. Auch diese gestischen Zeichen, die Illustratoren, treten zu den linguistischen Zeichen in ein enges Wechselverhältnis; so werden bei‐ spielsweise die Worte ‚Er ist schon so groß’ von einer entsprechenden Handbewegung ergänzt. (Fischer-Lichte 2007: 67) Interpunktionen und Illustratoren (G 1 ) sind geeignet, Darstellungsfunktionen wahrzunehmen, d.h. auf der Objektebene der linguistischen Zeichen zu wirken. Wichtig für die Gestaltung von Erzählperformances ist die Möglichkeit, mit ihrer Hilfe die Verständlichkeit der Rede visuell zu unterstützen. Sprachbegleitende und ersetzende gestische Zeichen in parasemantischer Funktion: Indices (G 2 ) Neben der Darstellungsfunktion können Gesten auch Ausdrucksfunktionen übernehmen und damit auf der Subjektebene als Indices wirken. Diese Art der Gestik lässt z. B. auf Alter, Geschlecht, sozialen Status, körperliche Verfassung und Stimmungen des Sprechers schließen. Auch kann die Art der Ausführung, z. B. eine besonders hektische oder besonders langsame Gestik, auf die Emotion des Sprechers verweisen. Indices können in den Erzählperformances verbale und mimische Zeichen verstärken, begleiten oder ersetzen, z. B. wenn Trauer oder Ärger über einen Verlust durch Senken des Kopfes oder Verstecken des Kopfes in den Händen angezeigt wird (Kap. 9.2.6). Sprachersetzende Zeichen in parasemantischer Funktion: Ikonen (G 3 ) Die ikonischen Gesten in ihrer ‚reinen‘ Gestalt werden konsequent spracher‐ setzend verwendet. Als Ausdrucksmittel der Pantomime sind sie ein Sonderfall theatralisch-parasemantischer Verwendung. Sie […] geben ein Bild des von ihnen gemeinten Gegenstandes, sie stellen z. B. ein ‚Haus’ durch die Andeutung von Giebeldach und Seitenwänden dar, eine ‚Kirche’ durch Hin‐ zufügung eines Kreuzes zum Zeichen des Hauses, ‚Rauch’ durch eine spiralige Dre‐ hung des Zeigefingers von unten nach oben, ‚sprechen’ durch nachahmende Lippen‐ bewegungen, ‚verbergen’ durch Verstecken der rechten Hand unter der Kleidung der linken Seite u. a. m. (Fischer-Lichte 2007: 68) Im Unterschied zu den Illustratoren stellen die ikonischen Gesten Umrisse oder Bewegungen eines Gegenstandes bildlich-nachahmend dar. Während Illustra‐ toren eher stilisierend vorgehen, nehmen ikonische Gesten Einzelheiten des nachzuahmenden Objekts oder der Bewegung in die Darstellung auf, so dass 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 126 <?page no="127"?> 25 Ich bezeichne diese Gruppe von Gesten als ‚interaktive Gesten‘, weil sie im Unterschied zu den Gesten G 1 und G 2 auf Prozesse entweder zwischen den Teilnehmern der Per‐ formance oder zwischen den Figuren der Diegese verweisen und damit „dominant auf der Ebene der Intersubjektivität Bedeutung erzeugen.“ (Fischer-Lichte 2007: 76) diese Gesten detaillierter veranschaulichen als dies Illustratoren tun. Ikonische Gesten in ‚reiner‘, sprachersetzenden Form kommen in den Erzählperformances der Studie nicht vor. Stattdessen nähern sich einige parasyntaktisch verwendete Illustratoren aufgrund ihrer detaillierten Ausführung einer ikonischen Gestal‐ tung an. Sie werden deshalb als Mischformen (G 1/ 3 ) in diese Übersicht aufge‐ nommen. Interaktive Gesten (G 4 ) in parapragmatischer Funktion Mithilfe der interaktiven 25 Gesten (Fischer-Lichte 2007: 76-82) können die Er‐ zählenden einerseits die Interaktion mit dem Publikum regulieren, weshalb diese Gesten auch als „Regulatoren“ (Fischer-Lichte 2009: 117) bezeichnet werden. Andererseits können sie Hinweise auf die Interaktion zwischen den Figuren der Erzählung geben. Zu den Regulatoren gehören Zeichen zur Eröff‐ nung, zur Aufrechterhaltung und zur Beendigung der Kommunikation. Interaktive Gesten zur Regulierung des Kontakts zum Publikum In der Eröffnungs- und Beendigungsphase einer Erzählperformance können in‐ teraktive gestische Zeichen zur Gestaltung des Übergangs vom Klassenraum‐ diskurs in die Aufführung und wieder zurück in den Unterrichtsdiskurs einge‐ setzt werden. Hierzu gehören gestische Zeichen der Zuwendung und der Kontaktaufnahme (Fischer-Lichte 2007: 78), die darauf ausgerichtet sind, Kon‐ sens über das (erwünschte) Verhalten der Teilnehmer zu erzielen. In der Verlaufsphase können Gesten angewandt werden, die das Arrangement des Sprechens und Zuhörens regeln. Dazu gehören z. B. eine dem Publikum zu‐ gewandte, offene Körperhaltung, das Heben des Kopfes zur Initiierung von Fragen u. a. m. Interaktive Gesten zum Hinweis auf die Stimmung zwischen den Figuren Zum Hinweis auf die in einer Szene herrschende Stimmung zwischen den Fi‐ guren der Erzählung werden interaktive Gesten meist in Kombination mit pa‐ ralinguistischen und mimischen Zeichen eingesetzt - z. B. ein akzentu‐ iertes «Non! » (P 2 ) in Verbindung mit hochgezogenen Augenbrauen (M) und heftigem Kopfschütteln (G 4 ) als Zeichen der Zurückweisung. Diese Zeichenart steht der zweiten Kategorie, der Geste zum Ausdruck von Emotionen (G 2 ) sehr nahe. Aber während diese parasemantisch verwendete Gesten (G 2 ) im Hinblick 4.3 Erzählen als Performance (3): die Herstellung von Bedeutung in der Aufführung 127 <?page no="128"?> auf die Subjektebene wirken, verweisen die interaktiven Gesten auf die Bezie‐ hungsebene und verlangen vom Gesprächspartner eine Reaktion. Beide As‐ pekte, der Ausdruck von Gefühlen der Figuren und die Interaktion zwischen den Figuren, sind für die Rezeption der prototypischen inhaltlichen Narreme (Kap. 3.6) relevant, weshalb diese Zeichenverwendung eine tragende Rolle in den Er‐ zählperformances spielt. Gesten zur Darstellung einer Handlung mit einem Objekt (G 5 ) Zu dieser Kategorie rechne ich Gesten, mit deren Hilfe ein Gegenstand ge‐ braucht (Fischer-Lichte 2007: 85) bzw. eine Handlung mit einem Gegenstand durchgeführt wird, wobei der Gegenstand real existiert oder gemimt wird. Diese gestischen Handlungen können auf allen Bedeutungsebenen in allen Funkti‐ onen verwendet werden. Je nachdem, ob der Gegenstand als Requisit vorhanden ist oder nicht, liegt ein Spiel mit einem Gegenstand oder eine Pantomime vor. In den Erzählperformances kommt diese Art von Gesten zum Einsatz, wenn länger andauernde Handlungen mit einfachen gestischen Mitteln zu einer kurzen Szene ausgestaltet werden. Proxemische Zeichen der Fortbewegung und des Abstandes zwischen den Interaktionspartnerinnen und -partnern (Fischer-Lichte 2007: 87) spielen in den Erzählperformances eine untergeordnete Rolle ‒ ebenso wie die nicht zu den kinesischen Zeichen zugehörigen Kostüme und Dekorationen. Eine wichtige Rolle spielen in den Erzählstunden jedoch Gegenstände, Bilder, Zeichnungen, die im erzählperformativen Zusammenhang die Rolle von Requisiten über‐ nehmen (Kap. 9.2.2.3, Kap. 11.2.4). 4.3.4 Verwendungsmöglichkeiten erzählperformativer Zeichen Im Folgenden werden die erzählperformativen Verwendungsmöglichkeiten der Zeichen dargestellt und auf ihr Potenzial für die Gestaltung von Erzählperfor‐ mances befragt. Die Transformation der Erzählung in eine Erzählperformance erfordert ei‐ nige grundsätzliche Entscheidungen, zu denen in erster Linie die Dominanten‐ bildung (Fischer-Lichte 2007: 83f.) gehört. Dominanten können festgelegt werden im Hinblick auf ein Zeichensystem, auf bestimmte Zeichenarten, auf Funktionen und Bedeutungsebenen. Neben der Dominantenbildung stehen für die Gestaltung der Erzählperfor‐ mances folgende sich ergänzende bzw. zusammen wirkende Verwendungsmög‐ lichkeiten (Fischer-Lichte 2007: 83f., 2009: 85-96) bereit: 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 128 <?page no="129"?> 26 Den Begriff ‚Privilegierung‘ verwende ich für die strukturbildende, wiederholte Ver‐ wendung einer Zeichenart bzw. einer Zeichenkombination. • die Selektion und Kombination von Zeichenarten und die Privilegierung von Zeichen und Zeichenkombinationen, • die simultane oder sequenzielle Verwendung der Zeichen, • die Äquivalenz- und Oppositionsbeziehung zwischen den Zeichen. Selektion, Privilegierung und Kombination von Zeichen Die Selektion, Kombination und Privilegierung 26 bestimmter Zeichen erfolgt im Hinblick auf die Gesamtinszenierung und die Konzeption einzelner Szenen der Aufführung. Was die Selektion der Zeichen betrifft, so können die Erzählenden z. B. pro‐ sodische Zeichen wie Akzentuierung, Dehnung oder Lautstärke für die Gestal‐ tung eines bestimmten Dialogs, Requisiten zur Hervorhebung eines in der Nar‐ ration ‚mitspielenden‘ Gegenstandes einsetzen. Die Privilegierung von Zeichenarten stellt ein Instrument zur Strukturierung der Performance dar. Ein einzelnes Zeichen kann privilegiert eingesetzt werden, indem es in bestimmten Abständen oder an bestimmten Stellen wiederholt ge‐ braucht wird. Aufgrund seiner Einmaligkeit und seiner absehbaren Wiederkehr innerhalb der Inszenierung zieht es Aufmerksamkeit auf sich. So kann z. B. eine wiederkehrend gesungene oder instrumental vorgetragene Melodie zum Leit‐ motiv werden und / oder eine Signalfunktion übernehmen. Zeichen können auf unterschiedliche Weise miteinander kombiniert werden. Es ist möglich, gestische und mimische oder, was meist der Fall ist, verbale Zei‐ chen mit paralinguistischen, mimischen und gestischen zu kombinieren. „Als wichtigste derartige Relationen lassen sich Ersetzung, Ergänzung, Modifizie‐ rung, Neutralisierung und Widerspruch anführen.“ (Fischer-Lichte 1991: 41) Für die Gestaltung von Erzählperformances ist die Ergänzung besonders wichtig, denn alle non-verbalen Zeichen können dazu dienen, die verbalen zu bekräf‐ tigen, zu verdeutlichen und ihre Wirkung zu verstärken (Fischer-Lichte 1991: 42) - eine für den Fremdsprachenunterricht zentrale Funktion. Simultane und sequenzielle Verwendung von Zeichen Zeichen können auf die oben beschriebene Weise simultan verwendet, d.h. mit‐ einander kombiniert werden. Es ist aber auch möglich, bestimmte Zeichen nur an bestimmten Stellen, in bestimmten Szenen einzusetzen oder sie in einem bestimmten Rhythmus aufeinander folgen zu lassen. Diese Form der Verwen‐ dung strukturiert den Gesamtablauf, trägt zur Erhöhung von Spannung, aber 4.3 Erzählen als Performance (3): die Herstellung von Bedeutung in der Aufführung 129 <?page no="130"?> 27 ‚Verwandlung‘ als das dem Theater bzw. den Theateraufführungen innewohnende Prinzip ist mit dem Begriff der ‚Transformation‘ in die Theorie des Performativen und in die moderne Theaterwissenschaft eingegangen und dort noch relativ ‚jung‘ (Sollich 2005: 370). Er schließt an den Begriff der Katharsis an und wird als ein Prozess der Veränderung verstanden, der grundsätzlich ergebnisoffen ist und vor allem im Kontext postmoderner Theaterkonzeptionen als eine krisenhafte Grenzerfahrung erlebt werden soll. Eine weniger radikale Auffassung begreift die Veränderung im Sinne einer „An‐ steckung“ (Sollich 2005: 371). In diesem Sinne werde ich den Begriff im Kontext der Studie verwenden. auch zur Memorierung bei. Soll diese Technik zum Einsatz kommen, müssen die Erzählenden präzise arbeiten, um dasselbe Zeichen auf dieselbe Art hervorzu‐ bringen bzw. ein Zeichen für das Publikum wiedererkennbar einzusetzen. Äquivalenz und Opposition Neben der Kombination von Zeichen sind zwei Arten von Beziehungen (Fi‐ scher-Lichte 2009: 89-94) zwischen den Zeichen von zentraler Bedeutung: die Äquivalenz, d.h. Ähnlichkeitsbeziehung zwischen „zwei Einheiten, die auf der‐ selben Ebene der semantischen Kohärenz ermittelt sind“ (Fischer-Lichte 2009: 89), und die Opposition bzw. das gegenseitige Sich-Ausschließen (s. auch Buß‐ mann 2008: 496). Äquivalenz kann in der Erzählperformance z. B. zur Wieder‐ erkennung einer Figur genutzt werden, indem die Erzählenden bei jedem Auf‐ tritt der Figur mit derselben Stimmfärbung sprechen. Eine Oppositionsbeziehung könnte durch unterschiedliche Stimmfärbungen ent‐ stehen und damit auf eine Opposition zwischen den Figuren verweisen: Eine hohe, helle Stimme, die eher auf Jugendlichkeit hindeutet, kann einer tiefen, rauen Stimme, die ein höheres Alter anzeigt, entgegengesetzt werden. 4.4 Erzählen als Performance (4): die Aufführung als Erlebnis Die Verwandlung als viertes Merkmal der Aufführung stellt das Verbindungs‐ stück zwischen den Merkmalen der Medialität, Materialität und der Bedeu‐ tungserzeugung dar. Verwandlung 27 im Sinne der Theorie des Performativen meint eine spezifische Art der ästhetischen Erfahrung (Fischer-Lichte 2005d: 100). Sie wird in der Performancetheorie als ein ‚Erfasst-Werden‘ von der Situ‐ 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 130 <?page no="131"?> 28 In der Theatertheorie (Fischer-Lichte 2004: 101-114) wird das ‚Erfasst-Werden‘ auch als ein ‚Berührt-Werden‘ bezeichnet. Ich verwende im Folgenden den Begriff ‚Er‐ fasst-Werden‘, der wie auch der Begriff ‚Berührung‘ auf das Körperliche, Kognitive und Emotionale des Vorgangs abhebt, aber stärker auf das Involviert-Sein des Einzelnen und auf das Mitgehen im Sinne des Zulassens von ‚Ansteckung‘ fokussiert. ation der Aufführung verstanden 28 . Es handelt sich um einen Prozess, den die Erzählenden / die Schauspielerinnen und Schauspieler und ihr Publikum kog‐ nitiv, körperlich, affektiv und als sozialen Vorgang erfahren, der sie aus dem Alltag heraushebt und damit privilegierte Momente erleben lässt. Verwandlung bedeutet, dass aus dem Ereignis Erlebnis (Rapp 1973: 200) wird. Voraussetzung dafür, dass dieser Prozess in Gang gesetzt wird, ist die Rahmung der Aufführung. Aus diesem Grund werden im Folgenden drei für eine Aufführung zentrale ‚Rahmen‘ benannt und auf ihre Wirkung und Funktion bei Aufführungen von Erzählperformances in der Klassenzimmersituation befragt. 4.4.1 Der Rahmen der Aufführung Als Rahmen der Aufführung werden in der Theaterwissenschaft die Faktoren Raum, Zeit und Konventionen (Rapp 1973: 202 ff., Roselt 2005: 260-267, Fi‐ scher-Lichte 2005a: 16-23) gesetzt. Was den Faktor Raum betrifft, so sind Gebäude, Ort und Lage des Auffüh‐ rungsraums entscheidende Voraussetzungen für die Art und Weise, wie die je‐ weilige Aufführung vom Publikum aufgefasst wird. Die Anordnung des Auf‐ führungsraumes legt eine bestimmte Beziehung zwischen Schauspielerinnen und Schauspielern und ihrem Publikum fest. Während z. B. die Guckkasten‐ bühne den Raum durch die ‚vierte Wand‘ in zwei getrennte Zonen teilt und damit das Publikum deutlich auf seine Plätze verweist, versucht eine offene Raumkonzeption dieser Trennung entgegenzuwirken. Die Unterrichtssituation als Raum-Rahmen stellt eine Herausforderung für die Realisierung der oben beschriebenen Verwandlungsprozesse dar. Unterrichtsgeschehen und Auffüh‐ rung werden im Schulalltag nicht unbedingt als kompatibel erfahren. Eine Mög‐ lichkeit des Umgangs mit diesem Problem ist die konkrete Raumgestaltung des Klassenzimmers, von der ein wichtiges Signal ausgehen kann. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, den Raumrahmen nicht nur als den medialen Bühnen- und Zuschauerraum, sondern auch als „Kunstraum" (Roselt 2005: 264) zu gestalten. Ein solches Raumverständnis wurde dem „Kommunikationsmodell mündlichen Erzählens als Performance“ mit dem Begriff des ‚performativen Raums‘ (Kap. 4.2.2) zugrunde gelegt. Der performative Raum ist ein Erlebnis‐ raum, der durch die Interaktion von Erzählenden und Publikum geschaffen wird. 4.4 Erzählen als Performance (4): die Aufführung als Erlebnis 131 <?page no="132"?> Was den Faktor Zeit betrifft, so hebt die Zeitspanne, in der die Aufführung stattfindet, die Akteure der Aufführung aus der ‚Normalzeit‘ heraus: „Die All‐ tagszeit wird als suspendiert erlebt, während die Aufführung ihre eigene Zeit‐ dauer hat.“ (Rapp 1973: 202) Bei der Erzählperformanceaufführung im Klassen‐ raum sind dabei drei zeitliche Ebenen zu unterscheiden, die von den Akteuren der Aufführung unterschiedlich erfahren werden. Das Zusammenspiel der zeit‐ lichen Ebenen wird in der folgenden Darstellung (Abb.5), die das Verlaufsschema einer narrativen Diskurseinheit (Abb.2, Kap. 3.2.2) aufnimmt, veranschaulicht: Abb. 5: Der Faktor Zeit als Rahmen der Aufführung von Erzählperformances Wurde im gesprächsorganisatorischen Verlaufsschema die Abgrenzung der nar‐ rativen Diskurseinheit vom Klassenzimmerdiskurs unter dem Aspekt der nar‐ rativen Jobs dargestellt, so wird dieser Verlauf nunmehr unter dem Aspekt der unterschiedlichen Zeitebenen gesehen. Die Zeit, in der die Performance stattfindet, entspricht der Zeit des Thema‐ tisierens, des Elaborierens und des Abschließens der Diskurseinheit: Die erste zeitliche Ebene ist die der real ablaufenden Zeit innerhalb der Unterrichtsstunde - die Zeit, die als ‚Normalzeit‘ suspendiert ist, tatsächlich aber weiter läuft. Die 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 132 <?page no="133"?> zweite Ebene ist die der Fiktion, eine Zeit, in die die Erzählenden das Publikum entführen. Il était une fois. Es ist aber auch die Zeitspanne, die den Figuren zur Verfügung steht, um ihre Abenteuer zu bestehen. Die Zeit der Fiktion hat einen Anfang, zu dem die Thematisierung die Erzählenden hinführt, und ein Ende, mit dem sie die Erzählung abschließen und die Zuhörerenden in die Normalzeit entlassen. Diese erzählte Zeit kann das Publikum miterleben, mitfühlen. Die dritte Ebene, die der Erzählzeit, ist die von den Erzählenden erzähltechnisch und performativ gestaltete Zeit. Dabei spielen die Faktoren Dauer und Frequenz (Kap. 3.6) eine wichtige Rolle. Die Erzählenden können - ihrer Inszenierungs‐ idee folgend - bei einer Szene länger verweilen oder eine Szene weglassen bzw. sie wiederholen. Sie können das Erzähltempo beschleunigen oder die Handlung auf der Stelle treten lassen. Die Regulierung der Erzählzeit stellt ein Gestal‐ tungsmittel der Performance dar - ein Mittel, die Performance zu gliedern und Spannung zu erzeugen. Die real ablaufende Zeit, die erste Ebene wirkt in be‐ sonderer Weise in die zweite und dritte Ebene hinein. Die Lernenden haben - zunächst - nur diese Zeit zur Verfügung, um die Erzählung in der Fremdsprache zu verstehen. Können sie in die erzählte Zeit eintauchen, auch wenn das Ver‐ stehen der Handlung nur unvollkommen ist? Der Umgang mit diesem Problem stellt eine Herausforderung für beide Kommunikationspartnerinnen und -partner dar. Andererseits: Gerade die Unterrichtssituation bietet Möglich‐ keiten, das Verstehen und das Erleben zu üben bzw. das eine und das andere miteinander zu verknüpfen. Der dritte Rahmen, die Konventionen, betrifft explizit vereinbarte oder im‐ plizit vorliegende Kommunikationsregeln. Hierzu gehören die Übernahme der narrativen Jobs bzw. der Rollen innerhalb der Aufführung sowie die Regeln, nach denen das ‚Als-Ob-Spiel‘ gestaltet werden soll. Die Rollenverteilung während der Performance weist den Erzählenden eine ‚prominente‘ Stellung zu: Sie sind derjenigen, die die Rede und die Performance gestalten, sie haben das erste Re‐ derecht. Das Publikum setzt sich aus Individuen zusammen, die individuell, aber auch als ‚Menge‘ gegenüber den Erzählenden reagieren. Interessant ist nicht nur der Rahmen, der die beiden Pole ‚Prominenz‘ und ‚Menge‘(Rapp 1973: 193) trennt, sondern auch die Verbindung zwischen beiden, die sog. Feed‐ back-Schleife, die im Folgenden erläutert wird. 4.4.2 Die Feedback-Schleife Während die Rahmung der Aufführung (Kap. 4.2.1) als externe Voraussetzung des Verwandlungsprozesses angesehen werden kann, so kann die Feed‐ back-Schleife als intern wirkender Motor der Aufführung aufgefasst werden. 4.4 Erzählen als Performance (4): die Aufführung als Erlebnis 133 <?page no="134"?> Unter dem in der Theorie des Performativen (Fischer-Lichte 2004: 58-114) zen‐ tralen Begriff der ‚Feedback-Schleife‘ ist die gegenseitige Beeinflussung der Ak‐ tion von Schauspielerinnen und Schauspielern und Zuschauerinnen und Zu‐ schauern zu verstehen. Die Schleife kann gesehen werden als ein elastisches Band, das an beiden Enden gezogen wird und ‚Schleifen dreht‘, wenn es hin und her bewegt wird. Das Band kann aber auch durchschnitten werden - individuell oder gemeinschaftlich. In jedem Fall rufen die Aktionen auf der einen Seite fortwährend Reaktionen auf der anderen hervor und umgekehrt. Während die Schauspielerinnen und Schauspieler sichtbar agieren, besteht die Aktion des Publikums in seiner Erwartungshaltung, seiner Aufmerksamkeit und in der Wahrnehmung der Aktionen von Schauspielerinnen und Schauspielern. Aber: Zwar mögen diese Reaktionen teilweise ‚innerlich‘ ablaufen, einen ebenso wichtigen Teil stellen jedoch wahrnehmbare Reaktionen dar: Die Zuschauer lachen, juchzen, seufzen, stöhnen, schluchzen, weinen, scharren mit den Füßen, rutschen auf dem Stuhl hin und her, lehnen sich mit gespanntem Gesichtsausdruck vor oder mit entspanntem zurück, halten den Atem an und werden beinahe starr; sie schauen wiederholt auf die Uhr, gähnen, schlafen ein und fangen an zu schnarchen; sie […] klatschen oder zischen und buhen, stehen auf, verlassen den Raum und knallen die Tür hinter sich zu. (Fi‐ scher-Lichte 2004: 58) Auch am anderen Ende der Schleife finden sichtbare Reaktionen statt: Das Spiel der Schauspieler gewinnt oder verliert an Intensität; ihre Stimmen werden laut und unangenehm oder im Gegenteil immer anziehender; die Schauspieler fühlen sich animiert, Gags und andere Improvisationen hinzuzuerfinden oder verpassen Auftritte und Einsätze […]. (Fischer-Lichte a. a. O.: 58f.) So extrem wie hier in Bezug auf das Theater dargestellt, fallen die Reaktionen auf die Erzählperformances im Klassenzimmer nicht aus - jedenfalls nicht in den Erzählstunden der Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer (Kap. 9.2.2, 9.3.2). Aber auch hier ist eine Feedback-Schleife wirksam. Sie entfaltet wie die des Theaters eine Eigendynamik (Fischer-Lichte: a. a. O.) und ist nur einge‐ schränkt steuerbar bzw. planbar. Und wie im Theater ist auch im Klassenzimmer das Ergebnis offen. Diese Gegebenheiten vorausgesetzt: Worin könnte das Po‐ tenzial der Feedback-Schleife für den Fremdsprachenunterricht bestehen? Die folgenden Überlegungen zu einem ‚performativen Pakt‘ gehen dieser Frage nach (s. ‚fiktionaler Pakt‘ in Kap. 3.3). 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 134 <?page no="135"?> 29 Eine Art dramatischen Pakt bei einer Theateraufführung im Rahmen theaterpädagogi‐ scher Arbeit erwähnen Bonnet / Küppers (2011). Dabei handelt es sich um einen ‚Drama Contract‘, mit dem die Akteure der Aufführung sich symbolisch zur Kooperation ver‐ pflichten (Bonnet / Küppers 2011: 41). 4.4.3 Der performative Pakt Ein ‚performativer Pakt‘ im fremdsprachlichen Klassenzimmer könnte darin bestehen, dass Erzählende und Publikum nicht nur die Teilhabe an der Fiktion, sondern auch die Realisierung der Erzählperformance als ein ‚Als-Ob-Spiel‘ an‐ sehen, auf das sie sich gemeinsam einlassen. Der performative Pakt könnte als ein Angebot von beiden Seiten angesehen werden, die Erzählperformance als ein gemeinsames Experiment (Kap. 1) durchzuführen. Auf der Grundlage eines solchen Pakts 29 könnten beide Seiten ihre narrativ-performativen Jobs erproben und der jeweils anderen Seite Interaktions-Angebote machen, so dass sich Feed‐ back-Schleifen entwickeln. So gesehen bestünde das Potenzial der Feed‐ back-Schleife für den Unterricht einerseits in gemeinsamen Lernverabredungen, die bis zur Bewusstmachung des Lernprozesses gehen können, andererseits im Erproben der narrativen und der ästhetisch-performativen Jobs bei der Reali‐ sierung von Erzählperformances. Kommunikatives Potenzial steckt auch in der gemeinsamen Ausübung der narrativen Jobs durch die Lernenden, denn aus dieser gemeinsamen Situation und Aufgabe heraus können sie ihre Gespannt‐ heit und Aufmerksamkeit gegenseitig verstärken. Sie können sich gegenseitig ‚anstecken‘. Die Analyse der Interviews (Kap. 10) und das performative Erzähl‐ konzept (Kap. 11.2.7) werden zeigen, auf welche Weise und mit welcher Wirkung ein solcher Pakt zustande kommen kann. 4.5 Erzählen als Performance (5): Inszenierung und Interpretation von Erzählperformances und Teil 2 des Modells FDM-P Während die Aufführung bisher auf systemischer Ebene untersucht wurde, so kommen mit der Frage nach der Inszenierung nunmehr auch die Ebene der Norm und die sie prägenden Kräfte in den Blick. Unter dem Begriff der Norm werden im Kontext der performativen Künste die in unterschiedlichen Epochen wirksamen Inszenierungsformen und die sie prägenden ästhetischen Auffas‐ sungen verstanden. Wichtiger als die historisch prägenden Kräfte sind im Kon‐ text von Erzählperformances im Fremdsprachenunterricht jedoch kontextuelle Faktoren wie unterrichtliche Voraussetzungen, didaktische Konzepte und äs‐ 4.5 Erzählen als Performance (5): Inszenierung und Teil 2 des Modells FDM-P 135 <?page no="136"?> 30 Die Ebene der Norm ist bei Fischer-Lichte epochal-historisch zu begreifen, denn Nor‐ mierungen konkretisieren sich in historisch nachweisbaren Theaterformen wie z. B. dem antiken oder elisabethanischen Theater, dem Theater der Weimarer oder der fran‐ zösischen Klassik, der commedia dell’arte, dem Musical des 20. Jh., dem postmodernen Theater des 21. Jh. (Fischer-Lichte 2007: 22; Umathum 2005: 232). Derartige Normie‐ rungen sind, jedenfalls im Augenblick, für Performances nicht nachweisbar ‒ vor allem nicht für Erzählperformances im Fremdsprachenunterricht. Ausnahmen bilden einige Inszenierungsformen wie die bereits erwähnten (Kap. 3.5) Raps oder Poetry-Slams, die ich im Folgenden (Abb. 8) als Beispiele für Erzählperformances einsetzen werde. thetische Vorbilder. Aus diesem Grund werde ich den historisch-epochal ge‐ prägten Normbegriff auf den Unterrichtskontext übertragen und Kriterien ent‐ wickeln, mit deren Hilfe Performanceinszenierungen im Fremdsprachenunterricht interpretiert werden können 30 . Unter dem Begriff Inszenierung verstehe ich im Rekurs auf Fischer-Lichte die „Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien“ (Fischer-Lichte 2005e: 146), auf deren Grundlage Aufführungen entstehen. Demzufolge interessieren an dieser Stelle strategische Entscheidungsmöglichkeiten zwischen Konzepten und konkreten Vorbildern von Erzählperformances sowie weitere normbildende Kräfte, die Inszenierungsentscheidungen beeinflussen. 4.5.1 Inszenierungsmöglichkeiten zwischen den Extremen performativer Gestaltung Als Alternativen performativer Gestaltung im Fremdsprachenunterricht stelle ich im Rekurs auf die Definitionen des Performativen (Kap. 4.1.1) zwei extreme Konzepte einander gegenüber: das Konzept der Tradition und des Experiments. Als traditionelles Erzählperformancekonzept fasse ich in Parallele zu einem tra‐ ditionellen, psychologisch-realistischen Theaterkonzept eine ‚werkorientierte‘ Inszenierung des mündlichen Erzählens, die sich ausschließlich auf das Ver‐ ständlich-Machen der Struktur und der Inhalte der Erzählung konzentriert. Als experimentelles Konzept fasse ich in Parallele zur Theorie des Performativen ‚erlebnisorientierte‘ Inszenierungen, die auf Transformationsprozesse der Auf‐ führung (Kap. 4.4) setzen. Damit wird der Begriff der „Avantgarde“ (s. Definition „Die Performance“, Kap. 4.1.1 und Anm. 4, 5) in eine ‚abgeschwächte‘, mit der Unterrichtssituation kompatible Form überführt, die den Aspekt der ‚Machbar‐ keit‘ berücksichtigt. Die von mir vorgenommene Abschwächung besteht in einer Modellierung des experimentellen Extrempunktes, dem ich vier im Un‐ terricht realisierbare Merkmale des Experimentellen zuordne (Abb. 6). Die vier Merkmale entwickle ich aus den bisher erarbeiteten Merkmalen von Auffüh‐ rungen und Performances (Kap. 4.1.-4.4) und einer ersten Durchsicht des em‐ 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 136 <?page no="137"?> pirischen Materials: das Prinzip der Körperlichkeit (1), der Multimedialität (2), der Spontaneität und Offenheit (3) und der Einbeziehung des Publikums (4). Eine Erzählperformance, die das eine oder andere dieser Merkmale zu realisieren versucht, kann somit als eine Facette experimenteller Inszenierungen gelten. Das folgende Schema (Abb. 6) veranschaulicht die möglichen Positionen zwi‐ schen den Extrempunkten und dient als Grundlage für die im Folgenden erläu‐ terten Inszenierungskonzepte und -strategien: Abb. 6: Möglichkeiten der Inszenierung von Erzählperformances zwischen zwei ex‐ tremen Konzepten Ein erstes Inszenierungskonzept liefert die Position C zwischen den Extremen A und B. Diese Position geht einen Mittelweg. Sie verortet sich vorwiegend traditionell, kombiniert jedoch ihr Konzept mit einem oder mehreren experi‐ mentellen Merkmalen. So ist es z. B. möglich, das Prinzip der Spontaneität (3) oder die Einbeziehung des Publikums (4) an bestimmten Stellen vorzusehen, die Körperlichkeit der Performance (1) mit einem deutlich wahrnehmbaren Einsatz non-verbaler Gestaltungsmittel zu betonen und diese Mittel nicht nur in erklä‐ rend-hinweisender, sondern auch poetischer Funktion zu nutzen. Das multime‐ diale Prinzip (2) lässt sich durch Einbeziehung auditiver, visueller oder audio‐ visueller Medien oder direkt über künstlerische ‒ bildnerische oder musikalische ‒ Aktivitäten realisieren. 4.5 Erzählen als Performance (5): Inszenierung und Teil 2 des Modells FDM-P 137 <?page no="138"?> Ein zweites Inszenierungskonzept liefern unterschiedliche Inszenierungs‐ formen. Als Vorbilder können Erzählperformances professioneller Erzähler‐ innen und Erzähler fungieren (Kap. 5.4.2). Eine Quelle der Inspiration können auch Performanceaktionen darstellen, die sich non-verbaler und / oder musi‐ kalischer Mittel bedienen wie das Statuentheater, wie Tanz, Pantomime, Rhythmus, Gesang, Rap-Performances. Dieses Inszenierungskonzept besteht in der Orientierung an diesen Vorbildern bzw. in der Adaption dieser Mittel an die eigenen Bedürfnisse. Ein drittes Inszenierungskonzept, die Dominantenbildung, wurde als Stra‐ tegie der Verwendung theatralischer Zeichen und Zeichenkombinationen (Kap. 4.3.5) bereits vorgestellt. Die Dominantenbildung interessiert an dieser Stelle als eine Grundsatzentscheidung für die Privilegierung eines Zeichensystems, die ihrerseits mit der Entscheidung für eine der Positionen A, B, oder C zusam‐ menhängt. Es ist naheliegend, für die Inszenierung einer Erzählperformance im fremdsprachlichen Klassenzimmer das verbale Zeichensystem als Leitsystem zu setzen. Es ist auch davon auszugehen, dass als leitende Norm der Inszenierung das pädagogische Handlungsfeld gesetzt und das ästhetische dem pädagogi‐ schen untergeordnet wird. Die Festlegung auf das verbale Zeichensystem als dominierendem Leitsystem und die Orientierung an pädagogisch-fachdidakti‐ schen Normen lässt jedoch, wie oben gezeigt, alle Möglichkeiten der Kombina‐ tion mit anderen Handlungsfeldern wie dem ästhetisch-literarischen oder mit anderen Zeichensystemen wie dem musikalischen und dem bildlichen System sowie die Integration anderer Inszenierungsformen in eine dominierend verbale Inszenierung zu. 4.5.2 Interpretationskriterien und -schritte und Teil 2 des Fünf-Dimensionen-Modells FDM-P In diesem Teilkapitel wird das Instrumentarium für die empirische Analyse von Erzählperformances aus den bisher erarbeiteten Merkmalen von Aufführungen (Kap. 4.1-4, 5.1) entwickelt und mit dem Instrumentarium zur Interpretation von Erzählungen verbunden. Damit wird die fünfte Dimension des Modells zur Analyse von Erzählperformances - die performative Gestaltung - erstellt und in das Gesamtmodell integriert. Die vierte Dimension des Modells wird um ein 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 138 <?page no="139"?> 31 Die hier (Kap. 4.5.2) abgedruckten Dimensionen (4 und 5) sind zusammen mit den an‐ dern drei Dimensionen (Kap. 3.6) in einer Gesamtübersicht als Tabelle „Fünf-Dimensi‐ onen-Modell zur Analyse von Erzählperformances (FDM-P)“ in Anhang 3 dokumen‐ tiert. c. - - a. - - b. - - c. - d. Kriterium, die narrative Interaktion, erweitert. Das Fünf-Dimensionen-Mo‐ dell wird damit wie folgt vervollständigt (Tab. 7) 31 : 4. narrative Interaktion Gestaltung des performativen Raums: Wie ist der Raum für Erzählende und für das Publikum arrangiert? Wie werden die Übergänge vom performativen Raum in den Unterrichtsraum gestaltet? Welche Zeichen des Kontakts zwischen Erzählenden und Publikum sind er‐ kennbar? 5. performative Gestaltung Realisierung der Performance durch den Einsatz non-verbaler Zeichen (s. die „Zeichenübersicht: Art und Funktionen erzählperformativer Zeichen“ in Anhang 2) Welche Zeichen werden ausgewählt? Welche Zeichen werden privilegiert? In welchen Szenen? Welche Zeichenkombinationen entstehen? In welchen Szenen? Bezug der non-verbalen zu den linguistischen Zeichen: Welche Funktionen übernehmen die ausgewählten non-verbalen gegenüber den verbalen Zeichen (z. B. Veranschaulichung, Gliederung des Diskurses)? Wie interpretieren sie die verbalen Zeichen - ergänzend, verstärkend, abtönend, widersprechend? Welche Bedeutungsebenen bedienen sie vor allem: die Objekt-, Beziehungs-, Sub‐ jektebene? An welcher Stelle? Mit welcher Wirkung? Strukturierung der Performance durch die Zeichenverwendung: Welche Zeichen werden simultan, welche sequenziell verwendet? Mit welcher Wirkung? Welche Äquivalenz- und welche Oppositionsbeziehungen werden mit welcher Wirkung verwendet? performative Gestaltung der Erzählzeit: 4.5 Erzählen als Performance (5): Inszenierung und Teil 2 des Modells FDM-P 139 <?page no="140"?> - e. - - - Welche Passagen werden zeitlich gedehnt oder gerafft? Wie wird die Sprechgeschwindigkeit reguliert? Inszenierungsstrategien: Welche Dominantenbildungen liegen vor? Welche Performance-Konzepte (traditionelle vs. experimentelle Konzepte) und -formen (z. B. Märchenerzählerinnen und -erzähler als Vorbilder) liegen der Er‐ zählperformance zugrunde? Welche Gestaltungsprinzipien (z. B. Teamerzählen) werden angewandt? Tab. 7: Das Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse von Erzählperformances im Fremd‐ sprachenunterricht (FDM-P, Teil 2) Die Analyse der Performance erfolgt auf der Basis von Videoaufnahmen (Kap. 9) und wird anhand eines in der Text- und Theatersemiotik üblichen Verfahrens (Volli 2002: 49-92, Fischer- Lichte 2009: 69-118) durchgeführt. Zur Erläuterung des Verfahrens werde ich im Folgenden die Untersuchungsebenen klären und diesen die oben aufgelisteten Kriterien zuordnen. Die erste, elementare Ebene der Untersuchung wird von den einzelnen Zei‐ chen (Kriterium 5a) gebildet. Hier ist zu fragen, welche Zeichen und welche Zeichensysteme (linguistische, paralinguistische, mimische, gestische, Requi‐ siten etc.) eingesetzt werden, ferner welche Zeichen innerhalb welcher Zei‐ chensysteme auffallend häufig verwendet werden. Dabei werden nur Zeichen ausgewählt, die deutlich wahrnehmbare Funktionen in der Performance über‐ nehmen. Die zweite, klassemantische Ebene wird von kurzen, überschaubaren Hand‐ lungseinheiten gebildet. Hier ist zu fragen, welche Zeichen und Zeichenkom‐ binationen in welchen Handlungseinheiten häufig gewählt und wie sie kombi‐ niert werden - simultan und / oder sequenziell (Kriterium 5c). Ferner ist zu fragen, welche Funktionen sie im Hinblick auf die verbalen Zeichen über‐ nehmen und auf welche Weise sie diese interpretieren - ergänzend, verstärkend, abtönend, widersprechend (Kriterium 5b). Daran anschließend kann die Frage gestellt werden, welche Bedeutungsebenen (Objekt-, Subjekt-, Beziehungs‐ ebene) in den untersuchten Handlungseinheiten schwerpunktmäßig bedient werden (Kriterium 5b). Auf der klassemantischen Ebene werden nur diejenigen Zeichenkombinationen untersucht, die im Hinblick auf die Gesamtinszenierung eine deutlich wahrnehmbare Funktion übernehmen. Die dritte Ebene, die der Isotopie, wird von den Hauptszenen und Hauptfi‐ guren der Erzählperformance gebildet. Hier ist zu fragen, welche Zeichen und 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 140 <?page no="141"?> Zeichenkombinationen und Relationen eingesetzt werden, um die Szenen bzw. die Figuren zu gestalten und voneinander abzugrenzen (Kriterium 5a, 5c). Die vierte Ebene wird von der Gesamtkonzeption der Inszenierung (Kriterium 5d, 5e) gebildet. Hier ist zu fragen, wie die analysierten Zeichen und Zeichen‐ kombinationen der ersten, zweiten und dritten Ebene aufeinander bezogen sind, welche Gesamtwirkung sich daraus ergibt und welche Inszenierungsstrategien der Gesamtkonzeption zugrunde liegen. Den vier Untersuchungsebenen entsprechen die Interpretationsschritte: (1) Zeichenselektion, (2) Anwendung der Zeichen und Zeichenkombinationen in kurzen Handlungssequenzen, (3) Zeichenkombinationen und -relationen in der Szenen- und Figurengestaltung und (4) Gesamtkonzept der Inszenierung. Die Analyse der Erzählperformances wird exemplarisch anhand zentraler Szenen und Handlungselemente durchgeführt. Kriterien der Auswahl sind die Relevanz der ausgewählten Performancemomente für den Gesamtablauf und die Narration, ihre Vergleichbarkeit mit bzw. ihre Unterschiede zu anderen Mo‐ menten sowie eine deutlich wahrnehmbare Schwerpunktsetzung der Erzäh‐ lenden und die Spannungsentwicklung der Performance. 4.6 Zusammenfassung: das performative Potenzial mündlichen Erzählens Die Ergebnisse der Recherche des performativen Potenzials mündlichen Erzäh‐ lens (Kap. 4.1-4.5.1) für den Fremdsprachenunterricht lassen sich wie die Re‐ chercheergebnisse der narrativen Potenziale (Kap. 3.7) zwei Aspekten zuordnen, wobei der erste Aspekt (A) die charakteristischen Merkmale der Aufführung und des Performativen allgemein, der zweite (B) die Erzählperformance im Be‐ sonderen betrifft. Die Ergebnisse fasse ich wie folgt zusammen: A: Die Aufführung und das Performative 1) Das Ereignishafte der Aufführung (Kap. 4.1) Die für eine Aufführung charakteristische Medialität, Körperlichkeit, mehrdi‐ mensionale Bedeutungserzeugung und die Möglichkeiten der Verwandlung bieten dem Fremdsprachenunterricht Chancen, ereignishafte Momente durch die gemeinsame Aktivität von Lehrenden und Lernenden hervorzubringen und diese für die fremdsprachliche Kommunikation zu nutzen. 4.6 Zusammenfassung: das performative Potenzial mündlichen Erzählens 141 <?page no="142"?> 2) Das Experimentelle der Performance (Kap. 4.1.1) Die für Performances typischen Gestaltungselemente wie die plurimedialen In‐ szenierungsformen, die Aktivierung der Zuhörerinnen und Zuhörer, der inten‐ sive Kontakt zwischen Performerinnen und Performern und ihrem Publikum, die Betonung des Augenblicklichen, Flüchtigen, Materiellen der Aufführung und die prozesshafte Gestaltung der Performances liefern dem Fremdsprachenun‐ terricht Anregungen zum Experimentieren mit der fremdsprachlichen Kommu‐ nikationssituation. 3) Die Nähe der Performance zum Theater (Kap. 4.2.1.) Die in der Medialität und Materialität der Performance begründete Nähe zum Theater bietet dem mündlichen Erzählen im Fremdsprachenunterricht eine dem Theater ähnliche Kommunikationssituation, die zur Gestaltung eines erzähl‐ spezifischen, performativen Kommunikationsraums genutzt werden kann. Die Nähe zum Theater hält darüber hinaus ein breit gefächertes Instrumentarium zur Gestaltung von Erzählperformances bereit. Beispiele: Die Erzählenden können unterschiedliche Rollen im Hinblick auf die Diegese übernehmen. Sie können ihre Hauptrolle als Erzählende für diejenigen Augenblicke verlassen, in denen sie in die Figuren der Diegese schlüpfen und ihnen damit Präsenz und Körperlichkeit verleihen. Im performativen Raum können sie diese Rollen auch an Zuschauerinnen und Zuschauer abgeben, die an ihrer Stelle z. B. eine Figur mimen oder Redeanteile übernehmen. 4) Die Bedeutungserzeugung in der Aufführung (Kap. 4.3) Die Bedeutungserzeugung durch Zusammenspiel heterogener, polyvalenter, plurimedialer und multifunktionaler Zeichen in theatralischer und erzählper‐ formativer Verwendung macht die Erzählsituation der Performances für die Zuhörerinnen und Zuhörer individuell und gemeinschaftlich erlebbar und nach‐ vollziehbar. Beispiele: • Die prosodischen Zeichen (Kap. 4.3.1) liefern in ihrer den Redefluss glie‐ dernden und interpretierenden Funktion ein geeignetes Instrument zur Verdeutlichung der Rede. • Die kinesischen Zeichen (Kap. 4.3.2) liefern ein reiches Material zur Fi‐ gurengestaltung und zur Veranschaulichung der Handlung, der Gefühle der Figuren und ihrer Beziehungen. • Die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten (Kap. 4.3.4) der Zeichen, die Möglichkeit der Selektion und Privilegierung von Zeichen, der simul‐ tanen und sequenziellen Kombination sowie der Herstellung von Äqui‐ 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 142 <?page no="143"?> valenz- und Oppositionsbeziehungen stellen Material zur pädagogischen und ästhetischen Gestaltung und Rhythmisierung der Erzählperfor‐ mances zur Verfügung. 5) Das Prinzip der Verwandlung(Kap. 4.4) Die Verwandlung der Unterrichtszeit in Erzählzeit, der Lernenden / Leh‐ renden-Rollen in Erzählende- / Zuhörende-Rollen, des Unterrichtsdiskurses in einen narrativ-ästhetischen, sinnlich wahrnehmbaren Diskurs und des Klas‐ senzimmers in einen performativen Raum eröffnet Möglichkeiten, dass die Auf‐ führung als Erlebnis erfahren wird. Verwandlung kann allerdings nur dann stattfinden und deren Potenzial kann sich dann entfalten, wenn beide Seiten sich auf einen performativen Pakt einlassen, indem sie ihre Rollen wahrnehmen und eine erlebnisfördernde Feedback-Schleife entstehen lassen. B: Die spezifische Vermittlungsform performativen Erzählens 6) Die Inszenierung von Erzählperformances (Kap. 4.5.1) Mithilfe einer strukturierten Inszenierung der Erzählperformance können die Erzählerinnen und Erzähler den narrativen Diskurs aus dem Unterrichtsdiskurs herausheben und Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Lernenden die Er‐ zählperformance als Aufführung wahrnehmen und sich auf den performativen Pakt einlassen. Potenzial zur Strukturierung liefern die theatralischen Zeichen und die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Verwendung. 7) Traditionelle und experimentelle Inszenierungskonzepte (Kap. 4.5.1) Ästhetisches und pädagogisches Potenzial liefern Inszenierungskonzepte, die eine mittlere Position zwischen Tradition und Experiment einnehmen. Unter Berücksichtigung der fremdsprachlichen Klassenzimmersituation und den Be‐ dürfnissen der Lerngruppe kann die mittlere Position das Potenzial eines ‚werk‐ getreuen‘, auf die Darstellung der Handlung ausgerichteten Inszenierungskon‐ zepts nutzen und gleichzeitig auf das ästhetische Potenzial experimenteller Elemente zurückgreifen - z. B. auf den Einsatz von Körperlichkeit und Multi‐ medialität der Darstellung. 8) Inszenierungsformen (Kap. 4.5.1) Das breit gefächerte Repertoire geeigneter Inszenierungsformen liefert dem Fremdsprachenunterricht Anregungen, um durch Dominantenbildung im Hin‐ blick auf ein Zeichensystem oder durch Integration von Zeichen aus ‚fremden‘ Systemen zu einer Gesamtkonzeption zu finden. So kann die Erzählperformance 4.6 Zusammenfassung: das performative Potenzial mündlichen Erzählens 143 <?page no="144"?> dargeboten werden als vorwiegend mündlich-verbale Erzählung, als Ballade, als Lied, als Sprechgesang, als Tanz, als Figurentheater oder als Kombination meh‐ rerer medialer Elemente. 4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen 144 <?page no="145"?> 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension In diesem Kapitel werden die Potenziale der werkexternen Dimension mündli‐ chen Erzählens als Performance untersucht. Dazu werden Realisierungen der Funktionen des Narrativen in verschiedenen Anwendungsfeldern in den Blick genommen. Kapitel 5.1 erläutert die Konzeption und Rolle der werkexternen Dimension. Kapitel 5.2 untersucht Realisierungen der sinnbildenden und sozi‐ alen Funktion des Narrativen aus kulturpsychologischer Perspektive, Kapitel 5.3 Realisierungen der repräsentierenden und (re-)konstruierenden Funktion des Narrativen aus entwicklungspsychologischer und erzähldidaktischer Sicht, Ka‐ pitel 5.4 die kommunikative und repräsentierende Funktion sowie die unter‐ haltende und poetische Funktion des Narrativen aus der Sicht von Erzählprak‐ tikern. Kapitel 5.5 entwickelt aus der Untersuchung der werkexternen Dimension Kriterien der Analyse von Narrativierungsleistungen in narrativen Gesprächen. Kapitel 5.6 fasst das Potenzial mündlichen Erzählens aus der erör‐ terten werkexternen Dimension zusammen. 5.1 Rolle und Konzeption der werkexternen Dimension Als werkexterne Anwendungsfelder des mündlichen Erzählens wurden die ge‐ sellschaftlich-kulturelle, die erzählpädagogische und -didaktische sowie die äs‐ thetische Praxis ausgewählt, weil davon auszugehen ist, dass sie vielfältiges Anwendungspotenzial für den Fremdsprachenunterricht bieten. Dies aus fol‐ genden Gründen: 1. Das mündliche Erzählen in diesen Anwendungsfeldern kann als kultu‐ rell-soziales Handeln im Alltag, als gesteuerter Erstspracherwerb und als kreatives und ästhetisches Handeln, unterstützt von professionellen Er‐ zählpraktikerinnen und -praktikern, untersucht werden. Aus diesem praktischen Handeln lassen sich Art und Formen narrativen Wissens und Könnens, das Jugendliche außerhalb des Fremdsprachenunterrichts er‐ werben und anwenden, sowie Strategien der Kompetenzförderung von Seiten der Erwachsenen ableiten. Aus ihnen können Anwendungspoten‐ ziale für den Fremdsprachenunterricht entwickelt werden. <?page no="146"?> 1 Der Begriff der narrativen Strukturierung schließt an den Wolfschen Begriff der Nar‐ rativierung (Wolf 2002a: 52) an, indem er die Realisierung der narrativen Funktionen ebenfalls in die Tätigkeit der Rezipierenden verlegt. Der kulturpsychologische Begriff ist jedoch weiter und tiefer gefasst und bildet den Ausgangspunkt einer umfassenden Kulturphilosophie. 2. Das praktische Handeln in den o. g. Anwendungsfeldern stellt Formen der Realisierung von Funktionen des Narrativen (Kap. 3.1.1) dar. Es ist davon auszugehen, dass sie Auskunft geben über Möglichkeiten, die werkseitigen Potenziale des Narrativen und Performativen für eine funktionale Anwendung zu nutzen. Diese ‚Brückenschläge‘ zwischen werkseitiger und werkexterner Dimension sind als Strategien des Aus‐ schöpfens von Potenzialen mündlichen Erzählens für den Fremdspra‐ chenunterricht von Interesse. 5.2 Erzählen in Mündlichkeit (1): die kulturpsychologische Sicht Für den Fremdsprachenunterricht interessante kulturpsychologische Sicht‐ weisen auf das Erzählen stellen die Positionen von Polkinghorne (1998: 12-45) und Bruner (1997, 1998: 46-80) dar. Polkinghorne und Bruner sehen wie Wolf (2002a) die Funktionen des Narra‐ tiven als Antwort auf anthropologische Grundbedürfnisse, wobei sie die Kon‐ struktion von Sinn und Bedeutung als die wichtigste Funktion ansehen. Beide nehmen ein dem Denken zugrunde liegendes Bedürfnis nach Strukturierung, nach Eingliederung von erlebten oder medial vermittelten Ereignissen und Ge‐ schehnisse in größere Zusammenhänge an (Polkinghorne 1997: 17). Verstehen und Erinnern seien grundsätzlich nur mithilfe dieser mentalen Operation mög‐ lich. Bruner macht zwei strukturierende Grundfigurationen des Denkens aus: die paradigmatische und die narrative. Die paradigmatische Figur ordnet und kategorisiert Ereignisse und Objekte, die narrative gestaltet sie zu einer linear in der Zeit verlaufenden Geschichte. Da die narrative Strukturierung als eine essenzielle Form des Denkens und der Kommunikation angesehen wird, über‐ nimmt sie einen herausragenden Platz im kulturpsychologischen Ansatz von Bruner und Polkinghorne 1 . Der Brückenschlag zwischen werkexterner und werkseitiger Dimension erfolgt aus kulturpsychologischer Perspektive über die kognitiven Leistungen der Akteure des Narrativen, d. h. über die Narrativie‐ rungsleistungen der Erzählenden und ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer (Kap. 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 146 <?page no="147"?> 3.1.1). Der kulturpsychologische Ansatz fügt der kognitiven Perspektive eine weitere, soziale Perspektive hinzu. Dies soll im Folgenden gezeigt werden. 5.2.1 Die Ich-Konstruktion Narrative Strukturierungen, so erläutert Polkinghorne, sind als menschliche Fähigkeiten zum Verstehen und Produzieren von Geschichten aufzufassen. Für die Entwicklung personaler Identität entscheidend ist der Kontakt des Indivi‐ duums zu den im ‚kulturellen Schatz‘ einer Kultur geborgenen Geschichten, die ihm Material liefern, seine eigene Geschichte zu konstruieren. Das Material be‐ steht aus Begriffen und Plots, die sich die Angehörigen einer Kultur interaktiv und in sozialen Beziehungen aneignen. Dabei geht es nicht nur um die Rezeption gegebener Begriffe und ‚fertiger‘ Plots, sondern vor allem um die Art und Weise der Begriffs- und Plotbildung (Polkinghorne 1998: 20), d.h. um die Prinzipien der narrativen Strukturierung. Diese sind kulturspezifisch markiert. Polking‐ hornes Interesse gilt der Verwendung dieses Materials bei der Konstruktion personaler Identität. Er geht davon aus, dass Identitätsbildung im Zeitalter der Postmoderne eine besondere Herausforderung darstellt, weil das Individuum nicht mehr „mit einer kohärenten und stabilen Definition des Selbst“ (a. a. O.: 33) versorgt ist, sondern diese Aufgabe selbst übernehmen muss: Anstatt ein einziges, integratives Identitätsmodell anzubieten, überhäuft die Kultur unserer Gegenwart die Menschen mit zahlreichen konfligierenden Modellen und überlässt die Aufgabe, eine einheitliche Identität auszubilden, der Person. Narrative Psychologen meinen, daß Identität eine geschichtenförmige Konstruktion ist und als Selbst-Erzählung einer Person präsentiert wird. […] Selbst-Narrative dienen funkti‐ onal der Integration des menschlichen Lebens, indem sie disparate Erinnerungen ver‐ gangener Geschehnisse, aktuelle Überzeugungen und Erfahrungen sowie zukünftige, imaginierte und antizipierte Handlungen miteinander verknüpfen. (Polkinghorne 1998: 33) Polkinghorne rekurriert damit auf die sinn- und bedeutungsbildende Funktion des Narrativen und verknüpft diese mit der (re-)konstruierenden und repräsen‐ tierenden Funktion (Kap. 3.1.1). Das Individuum konstruiert seine Identität, indem es aus der Retrospektive persönlich Erlebtes zu Episoden einer Geschichte formt und diesen Erlebnissen damit im Nachhinein eine Bedeutung verleiht, die sie im Moment des Erlebens nicht hatten. Die Selbst-Erzählungen stellen nicht bloße Nacherzählungen gelebten Lebens dar, sondern sind gestaltete Erzäh‐ lungen, die spezifische Narrativierungsmerkmale aufweisen. Dazu zählt Pol‐ kinghorne: 5.2 Erzählen in Mündlichkeit (1): die kulturpsychologische Sicht 147 <?page no="148"?> 2 Interessant wäre es, die von Assmann / Assmann vertretene anthropologische Per‐ spektive (1988: 25-50) als dritte gesellschaftlich-kulturelle Perspektive einzubeziehen. Der Gewinn wäre eine Erweiterung des Brunerschen Konzepts der Alltagspsychologie durch das Konzept des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses und das Kon‐ zept der Festtags- und Alltagskultur. Da diese Konzepte weniger Potenzial für den Fremdsprachenunterricht bieten als die entwicklungs- und kulturpsychologische Per‐ spektive wird zugunsten der Recherche weiterer werkexterner, für den Fremdspra‐ chenunterricht relevanter Perspektiven auf die Darstellung des anthropologischen An‐ satzes verzichtet. a. die Erinnerung als Rekonstruktion vergangener Ereignisse, b. die ‚Glättungsvorgänge‘ im Dienst einer Gestaltbildung oder gestalthafter Kon‐ figuration und c. die Verwendung kulturell verfügbarer Plots. (Polkinghorne 1998: 24) Selbst-Erzählungen haben schöpferisch-kreativen Charakter. Sie stellen Inter‐ pretationen eines Lebenslaufs oder von Episoden eines Lebens dar. Sie können immer wieder erzählt und in jedem Erzählakt verändert, umgedeutet, den Au‐ genblicksbedürfnissen angepasst werden. In den von Polkinghorne dargestellten Erzählgelegenheiten und dem narra‐ tiven Genre der Selbst-Erzählung steckt Anwendungspotenzial für den Fremd‐ sprachenunterricht. Geht man mit dem kulturpsychologischen Ansatz davon aus, dass Selbst-Erzählungen der Selbstvergewisserung und der Selbstdarstel‐ lung dienen, so ist für die Lernenden der Fremdsprache sowohl das Verstehen fremdsprachlicher Selbst-Erzählungen als auch die Fähigkeit, sich selbst ge‐ schichtenförmig zu präsentieren, für die Kommunikation in lebensweltlichen Kommunikationssituationen relevant. Im Unterricht können Selbst-Erzählungs‐ situationen z. B. zwischen Tandem-Partnern durchgeführt und dabei Strategien narrativer Strukturierung bewusst gemacht werden. Etappen der eigenen oder einer erfundenen Fremdsprachenbiografie können geschichtenförmig ‒ auch in verschiedenen Fassungen ‒ festgehalten werden u. a.m. 5.2.2 Die kulturelle Teilhabe Das kulturpsychologische Konzept Bruners ist von seinem Verständnis der All‐ tagspsychologie geprägt 2 . Er fasst sie als ein „System […], mit dem Menschen ihre Erfahrungen und Transaktionen in ihrer sozialen Welt ebenso wie ihr Wissen über diese organisieren.“ (Bruner 1997: 53) Die so verstandene Alltags‐ psychologie wird als Teil des Symbolsystems der Kultur begriffen. Sie gibt Aus‐ kunft darüber, 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 148 <?page no="149"?> […] wie Menschen ‚ticken‘, wie unser Geist und der unserer Mitmenschen aussieht, welche Arten situierten Handelns wir erwarten können, was für Lebensweisen mög‐ lich sind, wie man sich dazu verpflichtet, usw.“ (Bruner 1997: 53) Die Alltagspsychologie einer Kultur gibt demzufolge Auskunft über Hand‐ lungen, Handlungsweisen und Erfahrungen der Menschen, aber auch über die „intentionalen Zustände“ (Bruner 1997: 51) wie Glaube, Hoffnung, Wünsche, Verzweiflung, die ihre Handlungen und Erfahrungen motivieren und prägen (s. auch Schwitalla 1998). In diesem Verständnis von Kultur gewinnt menschliches Handeln Bedeutung dadurch, dass es in einem kulturellen Bedeutungssystem situiert ist und deshalb nur interpretativ aus diesem System heraus verstehbar ist. Die Verstehbarkeit ist durch die narrative Organisation der Alltagspsycho‐ logie garantiert. Bruners Konzept von Alltagsphilosophie zeigt, dass sie […] nicht so sehr eine Menge logischer Präpositionen ist, sondern vielmehr im stän‐ digen Erzählen und Machen von Geschichten besteht. Sie wird durch das mächtige Gebäude der narrativen Kultur unterstützt, durch Geschichten, Mythen, literarische Gattungen. (Bruner 1997: 144) Aus Alltagsgeschichten und fiktionalen Geschichten einer Kultur kann man er‐ fahren, wie in dieser Kultur gelebt wird und gelebt werden soll und wie dagegen verstoßen wird. Wesentlich ist diesen Geschichten, dass sie das Kanonische und gleichzeitig die Abweichung vom Kanonischen enthalten. Dieses für Bruner zentrale Merkmal des Narrativen (s. den Begriff der Erzählwürdigkeit in Kap. 3.2.3) ist der Grund dafür, dass Geschichten weitreichende gesellschaftlich-kul‐ turelle Funktionen übernehmen: In Geschichten geht es nämlich immer darum, wie Protagonisten die Dinge interpre‐ tieren, was die Dinge für sie bedeuten. In die Umstände jeder Geschichte eingebaut ist eben sowohl eine kulturelle Konvention als auch eine Abweichung davon, die durch individuelle intentionale Zustände erklärbar ist. Aus diesem Grund können Ge‐ schichten nicht nur moralische, sondern auch epistemische Geltung beanspruchen. (Bruner 1997: 68) Geschichten eignen sich, Bruner zufolge, besonders für den kulturellen Diskurs, weil in ihnen individuell und sozial relevante Konflikte nicht nur thematisiert, sondern als menschliche Dramen dargestellt werden. In Geschichten werde dem Kanonischen und dem Durchbrechen des Kanonischen Sinn und Bedeutung verliehen. Aber nicht nur dies. Sinn und Bedeutung von Geschichten sind von keiner moralischen Instanz eindeutig festgelegt. Sie werden mithilfe weiterer narrativer Interpretationen immer wieder neu verhandelt. Geschichten sind für das Aushandeln von Bedeutungen besonders geeignet, weil das Narrative - im 5.2 Erzählen in Mündlichkeit (1): die kulturpsychologische Sicht 149 <?page no="150"?> 3 Bruner begründet dies mit der grundsätzlichen Offenheit narrativer Diskurse für „va‐ riable Interpretationen“ (Bruner 1997: 70). Dieses Merkmal des Narrativen bezeichnet er im Rekurs auf Ricoeur und Iser als das Konjunktivische des Erzählens (a. a. O.). Damit meint er „lexikalische und grammatische Gestaltungsweisen, die subjektive Zustände, einschränkende Umstände und alternative Möglichkeiten in den Vordergrund treten lassen.“ (a. a. O.) Gegensatz zum Paradigmatischen ‒ vielfältige sinnstiftende Handlungsalterna‐ tiven 3 zulässt, ja dazu herausfordert, diese zu mitzudenken und zu reflektieren. Dies ist auch der Grund dafür, dass sich die Alltagspsychologie und „das mäch‐ tige Gebäude der narrativen Kultur“ (Bruner 1997: 144) ständig wandeln und neu konfiguriert werden. Dieser Prozess stellt Bruner zufolge „eine der krö‐ nenden Leistungen der menschlichen Entwicklung im ontogenetischen, kultur‐ ellen und phylogenetischen Sinn“ (Bruner 1997: 81) dar. Die Diskursform Er‐ zählen erscheint in diesem Lichte als eine sehr mächtige Diskursform, weil sie Kultur schafft und Teilhabe an Kultur ermöglicht. Dieses Potenzial kann für das interkulturelle Lernen im Fremdsprachenunterricht genutzt werden. 5.2.3 Bruners Liste der Anforderungen an die Fähigkeit des Erzählens Wie aber wird die Macht des Erzählens erworben? Grundlage des Erzähler‐ werbs, so betont Bruner, ist die soziale Praxis ‒ zunächst in primärer und se‐ kundärer Sozialisation, dann im lebenslangen Lernen durch kulturelle Teilhabe. Bruner geht davon aus, […] daß wir zwar eine ‚eingeborene‘ und primitive Prädisposition für narrative Or‐ ganisation besitzen, die uns erlaubt, diese sehr rasch und sehr leicht zu begreifen und zu benutzen, daß wir aber von unserer Kultur bald mit neuen Mitteln des Erzählens versorgt werden, wie sie in ihrem Werkzeugvorrat und in den lebendigen Traditionen des Erzählens und Interpretierens für den immer neuen Gebrauch bereitliegen. (Bruner 1997: 93) Zum Erwerb der Erzählfähigkeit in sozialer Praxis sind vier Anforderungen zu bewältigen. Sie bestehen darin (Bruner 1997: 90), 1. menschliches Handeln in den Vordergrund zu rücken und es als zielge‐ richtetes Handeln zu modellieren, 2. Ereignisse in eine sequenzielle Ordnung zu bringen, 3. Sensibilität für das Kanonische zu zeigen und dabei diejenigen Punkte des Kanonischen zu realisieren, die Protagonisten zur Abweichung heraus‐ fordern könnten, und 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 150 <?page no="151"?> 4 Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf die o. g. Anforderungen. Die Ebene der sprachlichen Realisierung wird in Kap. 5.3 aus erwerbstheoretischer und erzähldi‐ daktischer Sicht weiter verfolgt. 4. eine Erzählperspektive zu wählen. Was zeichnet diese Anforderungen aus, die Bruner anschließend um die Ebene der sprachlichen Realisierung 4 ergänzt, und welches Potenzial birgt sie? • Die Anforderungen sind auf vier zentrale, werkseitige Kriterien fokus‐ siert. Drei Kriterien (1, 2, 4) gehören im intermedialen Erzählmodell von Wolff zu den qualitativen, inhaltlichen und syntaktischen Narremen und stellen prototypische Elemente des Erzählens dar (Kap. 3.1.2, 3.1.2). Stellt man diesen Zusammenhang her, so können die Anforderungen an das Erzählen als Aufgabe der Erzählerinnen und Erzähler verstanden werden, in ihren Erzählungen die Stimuli des Narrativen ‚anzulegen‘, so dass sie bei ihrer Rezeption aktiviert werden können. • Die Anforderung, Sensibilität für das Kanonische und für die Abweichung vom Kanonischen zu entwickeln (Punkt 3 der Liste), nimmt in der Liste der Anforderungen eine prominente Stellung ein, denn mit ihr soll die im Brunerschen Konzept zentrale Funktion des Narrativen, die Sinn- und Bedeutungsverleihung, realisiert werden. Das dritte Kriterium stellt einen Brückenschlag von der werkexternen in die werkseitige Dimension dar. • Es handelt sich um ein basales Anforderungsprofil, das wie die Minimal‐ definition des Erzählens (Kap. 3.1.2) auf das Wesentliche der Diskursform fokussiert. Die von Bruner entworfene Anforderungsliste liefert Kriterien zur Modellierung von Erzählfähigkeit. Diese können aus anderen werkexternen Perspektiven er‐ gänzt und erweitert werden, z. B. aus erzähldidaktischer (Kap. 5.3) und fremd‐ sprachendidaktischer (Kap. 6) Perspektive. 5.3 Erzählen in Mündlichkeit (2): die erzähldidaktische Sicht Die werkexterne Dimension des erst- und zweitsprachlichen Erzählerwerbs und die mit ihr verbundene erzähldidaktische Dimension sind für den Fremdspra‐ chenunterricht interessant, weil in diesem Anwendungsfeld Erwerbsprozesse stattfinden und Fördermaßnahmen angewandt werden, die den Fremdspra‐ chenerwerb beeinflussen und auf denen der Unterricht aufbauen kann. 5.3 Erzählen in Mündlichkeit (2): die erzähldidaktische Sicht 151 <?page no="152"?> 5 Ein in Dimensionen und Teilfähigkeiten aufgegliedertes, mit Deskriptoren versehenes konsistentes Modell von Erzählkompetenz kann im Rahmen dieser Studie nicht geliefert werden und ist zur Verfolgung der Forschungsfragen auch nicht notwendig. Ich be‐ schränke mich deshalb auf die Darstellung von Anforderungen an die Erzählfähigkeit bzw. an Narrativierungsleistungen. Auf dieser Ebene sind die von mir verwendeten Begriffe und ihre Zuordnung zu Dimensionen konsistent und aus der Auseinanderset‐ zung mit der Fachliteratur abgeleitet. Zur Recherche des Potenzials dieser Dimension stütze ich mich auf integra‐ tive, mehrdimensionale Ansätze der Erzählerwerbsforschung und der Erzähl‐ didaktik (Becker / Wieler 2013a, Hallet 2007, Nünning / Nünning 2007, 2010), die die Entwicklung der Erzählfähigkeit von Kindern und Jugendlichen im All‐ tags- und im Unterrichtsgespräch untersuchen. Im Zentrum dieser Forschung steht die Frage, welche Kompetenzen Kinder und Jugendliche auf welche Weise erwerben, wenn sie individuell und gemeinsam Geschichten erfinden bzw. mit‐ hilfe von Geschichten miteinander kommunizieren. Ferner wird erforscht, auf welche Weise diese Kompetenzen gefördert werden können. Als Dreh- und An‐ gelpunkt des narrativen Kompetenzerwerbs werden die narrative Sequenzie‐ rung und die Herstellung semantischer Kohärenz gesehen (s. auch Ehlers 2007). Aus erzähltheoretischer Sicht geht es um den Erwerb der Fähigkeit, die reprä‐ sentierende und die soziale Funktion des Erzählens zu realisieren (Kap. 3.1.1). Die mehrdimensionalen Ansätze dieser Erzählforschung fassen Erzählkom‐ petenz 5 als ein komplexes, „multidimensionales Fähigkeitsbündel“ (Becker 2011: 61). Erzählkompetenz wird als Teil der Gesprächskompetenz begriffen und in Teilfähigkeiten ausdifferenziert. Diese werden - wie bei Bruner - aus den An‐ forderungen einer erfolgreichen Erzählpraxis heraus definiert. Zu den Teilfer‐ tigkeiten gehören u. a. die kommunikative Einbettung des Erzählens in den Ge‐ sprächsfluss, die Gestaltung von Ort, Zeit, Figuren und Handlung und die Selektion relevanter Episoden (Becker 2011: 59). Interessant für die Recherche der Anwendungspotenziale des mündlichen Erzählens sind folgende Ergebnisse dieser Erzählforschung: • die Erarbeitung weiterer Anforderungskriterien in Form eines Stufen‐ modells und eines Drei-Dimensionen-Modells mündlicher Erzählkompe‐ tenz, • die Konstruktion eines Kontinuums narrativer Leistungen, • das Aufzeigen von Einflussfaktoren auf die Entwicklung narrativer Fä‐ higkeiten und • das Aufzeigen von Strategien einer ressourcenorientierten Erzähldi‐ daktik. 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 152 <?page no="153"?> 6 Die von Boueke et al. (1995) und die im Folgenden diskutierten Beiträge beziehen sich nicht explizit auf Bruners Ausführungen, können aber vor dem Hintergrund seiner Erzähltheorie gelesen werden. 7 Dazu gehören die Koautorinnen und -autoren des von Becker / Wieler (2013a) heraus‐ gegebenen Sammelbandes „Erzählforschung und Erzähldidaktik heute“. Folgende Bei‐ träge werden in Kap. 5 herangezogen: Andresen (2013: 19-38), Ohlhus (2013: 39-52), Stude (2013: 53-71), Becker (2013b: 193-212), Müller (2013: 233-254). 5.3.1 Anforderungen an die Fähigkeiten des Erzählens Den mehrdimensionalen Ansätzen der Nuller- und der 10er Jahre geht das in den 90er Jahren von Boueke et al. entwickelte Stufenmodell (1995: 130 f., 192-193) voraus. In diesem Modell werden die von Bruner formulierten Anfor‐ derungen an das Erzählen aus erwerbstheoretischer Sicht erweitert und vier Strukturbzw. Texttypen entwickelt, denen die folgenden sprachlich-strategi‐ schen Fähigkeiten narrativer Textproduktion zugeordnet sind 6 : Typ 1: die isolierte Ereignisdarstellung Bei der isolierten Ereignisdarstellung handelt es sich um eine Aufzählung von Ereignissen. Ein Zusammenhang zwischen ihnen wird jedoch nicht hergestellt. Typ 2: die lineare Ereignisdarstellung Hier sind Ereignisse durch additive oder kausale Konnektoren miteinander ver‐ knüpft. Es wird jedoch keine Gewichtung der Ereignisse vorgenommen. Typ 3: die strukturierte Ereignisdarstellung Hier löst innerhalb der Ereignisfolge ein Ereignis das andere ab, so dass ein neuer Zustand entsteht. Ereignisse werden zu Episoden gestaltet, die sich aufeinander beziehen. Unvorhergesehene Ereignisse teilen die Erzählung in ein Vorher und Nachher ein. Typ 4: die narrativ strukturierte Ereignisdarstellung Hier werden die Episoden dadurch zu Ereignissen, dass sie affektiv markiert werden und darauf ausgerichtet sind, den Zuhörer in das Geschehen zu invol‐ vieren. Die vier Texttypen stellen progressiv aufeinander aufbauende Entwicklungs‐ stufen von Erzählkompetenz dar. Im Gegensatz zu Boueke et al. zielt die Er‐ zählforschung der Nuller- und der Zehnerjahre, insbesondere die Erzählfor‐ schung der mit Becker / Wieler (2013a) kooperierende Forschergruppe 7 , nicht mehr auf eine stufenförmige Modellierung von Erzählfähigkeit. Sie steht den 5.3 Erzählen in Mündlichkeit (2): die erzähldidaktische Sicht 153 <?page no="154"?> 8 Einige der im Folgenden genannten, auf die gesprächslinguistischen Beiträge Quast‐ hoffs rekurrierenden Aspekte (wie narrative Sequenzierung, Diskursmarker, Über‐ nahme narrativer Jobs) wurden bereits in Kap. 3.2.1 und 3.2.2 thematisiert. Sie wurden dort zur Definition der narrativen Diskurseinheit herangezogen. Sie werden in Kap. 5.3 wieder aufgenommen, um den Erwerb und die Förderung der zur Realisierung dieser Aspekte notwendigen Fähigkeiten zu erörtern. Stufenmodellen des Erzählerwerbs kritisch gegenüber, nimmt jedoch deren Er‐ gebnisse als Orientierung zur Darstellung einer Progression in der ontogeneti‐ schen Entwicklung (Becker / Wieler 2013b: 7). Diese integriert sie in das neue Konzept von Erzählfähigkeit als einem multidimensionalen Fähigkeitsbündel. Erzählfähigkeit wird somit nicht mehr stufenförmig, sondern modular gefasst. Die Ansätze dieser Forschergruppe sind für meine Studie von Interesse, weil ihnen ein mehrdimensionales Erzählkonzept zugrunde liegt und sie sich auf unterrichtliche Gesprächssituationen beziehen, in denen narrative Diskurse in Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden entwickelt werden. Diese Si‐ tuation ist vergleichbar mit den Erzählstunden der Weiterbildungslehrkräfte. Ein weiteres Interesse für meine Studie besteht in der modularen Konzeption von Erzählfähigkeit. Interessant ist besonders das von Quasthoff im Rekurs auf ihre gesprächslinguistische Konzeptualisierung narrativer Diskurseinheiten 8 entwickelte Drei-Dimensionen-Modell (Quasthoff 2012: 91). Es sieht als Teildi‐ mensionen von Erzählfähigkeit die Fähigkeit zur narrativen Vertextung, zur Kontextualisierung narrativer Einheiten und zur narrativen Markierung der Textoberfläche vor. Stude (2013) nutzt dieses Modell, um ihre Forschungser‐ gebnisse zur narrativen Bewusstheit als Ressource von Erzählfähigkeit diesen Dimensionen zuzuordnen (Stude 2013: 55) Auf dieser Grundlage können fol‐ gende narrative Anforderungen für die o. g. Teildimensionen formuliert werden: • Die Vertextung im narrativen Diskurs fordert von den Sprecherinnen und Sprechern zum einen, narrative Einheiten kohärent aufzubauen und miteinander zu verknüpfen, zum andern, als Zentrum der Geschichte einen Planbruch und / oder einen Höhepunkt zu setzen. • Die Kontextualisierung fordert von den Sprecherinnen und Sprechern die Einpassung der von ihnen formulierten narrativen Einheiten in den Gesprächszusammenhang unter Berücksichtigung der Kommunikations‐ situation und der Beiträge der Gesprächspartnerinnen und -partner. • Die Markierung fordert die Anwendung von narrativen Diskursmar‐ kern und genretypischen Wendungen. 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 154 <?page no="155"?> Das dreidimensionale Modell mündlich-narrativer Kompetenzen (Stude 2013: 55) nimmt die Teilhabe am narrativen Gespräch in den Blick und macht deutlich, dass die Lernenden, wenn sie selbst als Erzählende auftreten, gefordert sind, • narrative Jobs aktiv zu übernehmen (Kap. 3.2.1), indem sie narrative Se‐ quenzen kohärent zusammenfügen und auf das Erzählwürdige ihrer Ge‐ schichte abheben (Vertextung), • sich ‚narrativ einzubringen‘, indem sie ihre Beiträge so platzieren, dass sie sich in den laufenden narrativen Diskurs einfügen (Kontextualisie‐ rung), • den Bezug zu den Zuhörerinnen und Zuhörern bzw. zu anderen Spreche‐ rinnen und Sprechern herzustellen, damit ihr Beitrag gehört und fortge‐ setzt wird (Kontextualisierung) und • ihre Beiträge sprachlich narrativ zu markieren, damit eine narrations- und genretypische Diskurseinheit und ein Spannungsbogen entstehen können (Markierung). 5.3.2 Die Konstruktion eines Kontinuums narrativer Leistungen Die Konzeption von Erzählfähigkeit als einem ‚multidimensionalen Fähigkeits‐ bündel‘ bei Becker (2011: 61) korreliert wie im intermedialen Ansatz bei Wolf mit dem „theoretischen Konstrukt des Kontinuums“ (Becker / Wieler 2013b: 7). Die intermediale Auffassung des Erzählkontinuums sieht die Konstruktion der narrativen Diskursform zwischen den Polen des prototypischen, mündlich-ver‐ balen Erzählens auf der einen Seite und des musikalischen Erzählens auf der anderen, d. h. zwischen maximaler und minimaler werkseitiger Narrativität (Kap. 3.1.2 und Wolf 2002a: 96). Dem entspricht in der Konzeptualisierung von Erzählfähigkeit bei Becker / Wieler ein Kontinuum „zwischen den Polen des idealtypischen, strukturierten, monologischen Erzählens einerseits und dem of‐ fenen, strukturlosen, vielstimmigen Erzählen andererseits“ (Becker / Wieler 2013b: 7). Mit dem Konstrukt eines Kontinuums von Erzählfähigkeit können konkrete Narrativierungsleistungen in einem narrativen Gespräch erfasst werden. Das Kontinuum dient aber auch dazu, die ontogenetische Entwicklung der Erzählfähigkeit „als Entwicklung von der Bewältigung lokaler sprachlicher Aufgaben zur Bewältigung globaler Aufgaben“ (Becker 2011: 60, Stude 2013: 55) zu beschreiben. Bezogen auf die drei Dimensionen von Erzählfähigkeit (Quast‐ hoff 2012: 88-92) können damit folgende Entwicklungen festgehalten werden: 5.3 Erzählen in Mündlichkeit (2): die erzähldidaktische Sicht 155 <?page no="156"?> 9 Zu weiteren milieubezogenen Einflussfaktoren wie den elterlichen Sprachentwick‐ lungskonzepten und Sprachentscheidungen s. Müller (2013: 233-235). • für die Vertextung eine Entwicklung von der lokalen zur globalen Struk‐ turierung, d. h. eine Entwicklung hin zu einem zunehmend semantischen Kohärenzaufbau, • für die Kontextualisierung eine Entwicklung von „rein lokalen Reak‐ tionen […] hin zu einer die Situation und den Kommunikationspartner berücksichtigenden Einpassung des eigenen Beitrags als globale Einheit mit der Fähigkeit, Kontexte für das eigene sprachliche Handeln selbst (sprachlich) zu schaffen“ (Quasthoff 2012: 90), • für die Markierung die Entwicklung von der impliziten zur expliziten Verwendung narrations- und genrespezifischer Wendungen, d.h. zur ge‐ zielten Verwendung sprachlicher Formulierungen, um narrativ relevante Momente wie z. B. den Planbruch hervorzuheben. Die von der Erzählerwerbsforschung entwickelten Teilkompetenzen (Kap. 5.3.1) werde ich zusammen mit bereits entwickelten Kriterien (Kap. 3.1.1) zur Kon‐ struktion des „Fünf-Dimensionen-Modells zur Analyse von Narrativierungs‐ leistungen“ (FDM-R, Kap. 5.5) heranziehen. Die o. g. Beispiele des Entwick‐ lungskontinuums werde ich nutzen, um einige Kriterien des Modells in einem Kontinuum narrativer Leistungen aufzufächern. 5.3.4 Förderliche Einflussfaktoren auf den Erwerb narrativer Fähigkeiten und ressourcendidaktische Strategien zu deren Weiterentwicklung Die Erzählfähigkeit entwickelt sich, wie bereits Bruner zeigt, in kulturell ge‐ prägten Settings in der Familie (Andresen 2013: 30f.). Dies gilt für den Erwerb von Erzählfähigkeit in der Alltagskommunikation und für den Erwerb ästhe‐ tisch geformter narrativer Muster. Einflussfaktoren 9 der narrativen Entwick‐ lung sind sowohl die Häufigkeit als auch die Art der Erzähl- und Vorleseprak‐ tiken (Müller 2013: 233-235). Förderlich sind Erzähl- und Vorlesepraktiken, die eine hörerinnen- und hörerbezogene Interaktion zwischen kindlichen Zuhöre‐ rinnen und Zuhören und den erzählenden Erwachsenen realisieren, also pro‐ zessual orientiert sind. Hier werden im Medium der Mündlichkeit genrespezi‐ fische narrative Konzepte und die Fähigkeit zu ihrer sprachlichen Markierung erworben. Diese Ressourcen sollten zur pädagogisch gesteuerten Weiterent‐ wicklung der Erzählkompetenz in Kindertagesstätten, Vorschule und Schule genutzt werden. Dabei kann sowohl an die erworbenen Fähigkeiten der Ler‐ 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 156 <?page no="157"?> 10 Die Vorschläge von Ohlhus basieren auf einem Korpus von Erzählungen von Grund‐ schulkindern, erhoben in den DFG-Projekten DASS und OLDER (Ohlhus 2013: 40). 11 Die von Ohlhus verwendeten Transkriptionsregeln (Großschreibung) werden origi‐ nalgetreu übernommen. nenden als auch an Erzähl- und Vorlesepraktiken in der Familie angeknüpft werden: Studien in interaktiver Orientierung führen die Gelingensbedingungen des ko-kon‐ struktiven und prozessualen Zustandekommens von Erzählen in Erwach‐ senen-Kind-Dyaden als erwerbsförderlich an (Hausendorf / Quasthoff 1996). Die in‐ teraktive Konstituiertheit des Erzählens wird dabei im Sinne einer externen Erwerbsressource modelliert, die Lernern im Vollzug des Erzählprozesses gleicher‐ maßen einen förderlichen Aneignungsraum zur Verfügung stellt. (Stude 2013: 53) Als Beispiel einer Ressourcennutzung in einem „förderlichen Aneignungsraum“ (a. a. O.) können die von Ohlhus (2013: 39-52) in narrativen Gesprächen einer Schülergruppe der Grundschule erforschten narrativen Verfahren herange‐ zogen werden 10 . Die Ergebnisse seiner Studie zeigen, dass bereits Grundschul‐ kinder in der Lage sind, „vorgeformte Lösungen“ (Ohlhus 2013: 40) aus dem in primärer Sozialisation erworbenen narrativen Erfahrungsschatz zu schöpfen und für den aktuell anstehenden Gebrauch zu aktivieren. Solche ‚narrativen Gesprächszüge‘ werden nach erfolgreicher Anwendung in feste sprachliche Formate überführt und „für die Lösung analoger Probleme“ (a. a. O.: 51) festge‐ halten. Als Minimallösung eines narrativen Gesprächszuges nennt Ohlhus einen Satz, der narrativ und gleichzeitig gesprächsorganisatorisch markiert ist. Das trifft z. B. auf die Antwort einer Schülerin innerhalb eines von Ohlhus analy‐ sierten Gesprächs 11 zu: E: und mit dEnen ist euch noch nie irgendwie was (-) beSONderes (.) PASsiert, S: nur EINmal (.) da MUSsten wir die [Katze] SUchen? (Ohlhus 2013: 42) Solche Sätze fungieren als narrative „Strophe“ (Ohlhus 2013: 44) innerhalb eines narrativen Diskurses. Die Schüleräußerung stellt eine gesprächsorganisatori‐ sche Narrativierungsleistung dar, weil sie mit dem Diskursmarker „EINmal“ den narrativen Zug des Thematisierens vollzieht, an den sich die Phase des Elabo‐ rierens (Kap. 3.2.2) anschließen kann. In dieser Phase kann dann erzählt werden, 5.3 Erzählen in Mündlichkeit (2): die erzähldidaktische Sicht 157 <?page no="158"?> 12 Becker untersucht zum Nachweis literaler Verfahren in Texten von Schülerinnen und Schülern der 5. bis 12. Schulstufe die verwendeten sprachlichen Mittel in drei Bereichen: im Bereich der Syntax die syntaktische Komplexität, im Bereich des Lexikons den Ge‐ brauch literaler Lexeme und Wendungen, im Bereich der Morphologie den Tempusge‐ brauch (Becker 2013b: 196). wie die Suche nach der Katze verlaufen ist. Es handelt sich zwar um eine isolierte Strophe, aber sie eröffnet einen narrativen Zusammenhang und besitzt damit das Potenzial eines globalen narrativen Zuges. Die Nutzung der narrativen Res‐ source durch die Schülerin in diesem Beispiel besteht darin, dass sie einen Rück‐ griff auf „Formulierungsmuster“ (Ohlhus 2013: 40) vornimmt und damit Strate‐ gien zur narrativen Kommunikation einsetzt. Die Nutzung der Ressource durch die Lehrkraft besteht darin, ein für die narrative Kommunikation geeignetes Lernarrangement bereit zu stellen und damit den Einsatz narrativer Kommuni‐ kationsstrategien herauszufordern. Eine weitere Fördermöglichkeit besteht in der aktiven Unterstützung der narrativen Beiträge der Lernenden durch ein narratives Scaffolding der Lehrenden (Schramm 2006; Kap. 2.5 und 9.2.3 und 9.3.3 meiner Studie). Auf die Möglichkeiten einer ressourcenorientierten literalen Sozialisation in der Grundschule verweisen Müller (2013: 235-237) und Becker (2013b: 193, 195). Sie können anhand ihrer empirischen Studien zeigen, wie Schüler lernen, nar‐ rative Handlungsmuster mit narrationsspezifischen Ausdrucksformen zu ver‐ binden, d. h. Handlungsschemata in Sprachroutinen zu überführen und dabei bereits erworbene Text- und Diskursroutinen in unterschiedlicher Medialität und unterschiedlichen Genres anzuwenden 12 . Die hier vertretene ressourcenorientierte Didaktik fordert neue erzähldidak‐ tische Konzepte, die interessante Anregungen für die fremdsprachendidaktische Perspektive (Kap. 6) und die Auswertung des empirischen Materials der Studie (Kap. 9.4, 10.3) liefern. Dies betrifft zum einen die kommunikationsstrategische Nutzung der Ressourcen durch die Lernenden, zum andern die von Becker / Wieler (2013b: 7-10) mit Blick auf die Schulpraxis formulierten erzähldidakti‐ schen Prinzipien und Strategien. Becker / Wieler fordern ein konsensfähiges und konsistentes erzähldidaktisches Konzept, das neue Ansätze der Erzählfor‐ schung zur Kenntnis nimmt und pädagogisch nutzt. Entscheidend für Becker ist, „dass das Erzählen als Aufgabe etabliert wird“ (2013b: 207). Das bedeutet, dass • das Erzählen als „multidimensionales Fähigkeitsbündel“ (Becker 2011: 61) aufzufassen und als solches multidimensional zu fördern ist, 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 158 <?page no="159"?> 13 Von einer Ergänzung kann insofern gesprochen werden, als die im Folgenden disku‐ tierten erzählpädagogischen Positionen von Georges Jean und Gianni Rodari mit den bereits erläuterten erzählerwerbstheoretischen Positionen (Kap. 5.3) kompatibel sind und sich in deren Konzepte einfügen. Allerdings rekurrieren die praxisorientierten Er‐ zählpädagogen auf die „kanonischen“ Konstituenten strukturalistischer Erzähltheorie (Kap. 3.1), was sich jedoch nicht als Widerspruch erweisen wird. • das Lernen am Modell erfolgt, d.h. unterschiedliche Genres in unter‐ schiedlicher Medialität angeboten werden, • die jeweilige Aufgabenstellung und das Lehr- / Lernarrangement die Spe‐ zifik sowohl des Basisbzw. Ausgangstextes als auch die Spezifik des von den Lernenden zu erstellenden Textes zu beachten hat (Becker 2013b: 207). Zu der von Becker geforderten Passung von Ausgangstext und Zieltext gehört, dass zum einen „Textgenres so präsentiert werden, dass deren Eigenschaften, Charakteristiken und Routinen erfasst werden können“ (2013b: 207), zum an‐ dern, dass der von den Schülern zu erstellende Text die Ressourcen des Aus‐ gangstextes nutzen kann. Soll z. B. eine Phantasiegeschichte verfasst und dabei das Präteritum verwendet werden, so ist es sinnvoll, zuvor mit einer Erzählung desselben Genres zu arbeiten, in jedem Fall mit einer Erzählung, die distanz‐ sprachlich markiert ist. Die Vorgabe einer Bildergeschichte ist dagegen kontra‐ produktiv, da dieses Genre nicht das Präteritum und auch keine narrative, son‐ dern eher eine deskriptive Diskursform verlangt. Die interaktive Unterstützung des mündlichen Erzählens ist demzufolge in Abhängigkeit vom jeweiligen Genre zu gestalten. Bestimmte Genres sind eher für eine mündliche, andere für eine schriftliche Kommunikation vorzusehen. Die ressourcenorientierte Didaktik liefert der Studie Impulse für die Analyse der von den Weiterbildungskräften gestellten Aufgaben und deren Bewältigung durch die Schülerinnen und Schüler in den Erzählstunden (Kap. 9.2, 9.3). 5.4 Erzählen in Mündlichkeit (3): die erzählpädagogische und ästhetische Praxis professioneller Erzählerinnen und Erzähler Mit diesem Kapitel erfährt die erzähldidaktische Perspektive eine praxisorien‐ tierte Ergänzung 13 . Das Anwendungsfeld des Narrativen ist nunmehr die er‐ zählpädagogische Praxis professioneller Erzählerinnen und Erzähler. Als Do‐ kumentation ihrer Praxis dienen Darstellungen ihrer Erzählkonzepte, -erfahrungen und -strategien sowie ein Erzählperformancebeispiel. Die Per‐ 5.4 Erzählen in Mündlichkeit (3): die erzählpädagogische und ästhetische Praxis 159 <?page no="160"?> 14 Was die französische und weiter gefasst die frankophone Szene betrifft, so erklärt sich Jean (1990) den renouveau du conte mit einem regain d’intérêt (1990: 12) mündlichen Erzählens in Frankreich, der sich manifestiere in einem neuen wissenschaftlichen In‐ teresse an der Oralité in literatur- und sprachwissenschaftlichen sowie psychoanalyti‐ schen und ethnologischen Arbeiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ferner in zahlreichen Colloquien und Seminaren zum Thema Contes, in der Einrichtung von For‐ schungszentren wie dem Institut international de Charles Perrault, dem Animations‐ zentrum Centre de littérature orale sowie dem Auftauchen einer neuen Generation von Erzählerinnen und Erzählern Ende der 70er, dann vermehrt in den 80er Jahren, und in der Organisation internationaler Festivals mündlichen Erzählens, die den neuen pro‐ fessionellen Erzählerinnen und Erzählern eine Bühne bieten. Die renouveau-Entwick‐ lung, die inzwischen mehr als eine Erzählergeneration umfasst, dauert bis heute an und gilt in gleichem Maße für andere Länder, andere Sprachräume, andere Kontinente wie z. B. für den Québec. spektive dieser ‚reflektierten Praktiker' bezieht sich, wenn man ihre Erzählkon‐ zepte in den Blick nimmt, auf die spielerische Komponente der konstruktiven und auf die ästhetische Komponente der kommunikativen Funktionen des Nar‐ rativen. Nimmt man sie als Akteure im Rahmen von Erzählveranstaltungen in den Blick, so kommt auch die unterhaltende Funktion zum Tragen. Aus dieser Praxisperspektive lässt sich Anwendungspotenzial für das fiktionale mündliche Erzählen im Fremdsprachenunterricht gewinnen, denn ihre Praxis liefert An‐ regungen für pädagogisch motivierte und ästhetisch gestaltete Performanceins‐ zenierungen sowie Konzepte und Strategien für die ‚Erzählarbeit‘ mit einem jugendlichen Publikum. Zur Erkundung dieser Perspektive werden die erzähltheoretischen und -prak‐ tischen Ansätze des Pädagogen und Essayisten Georges Jean (Frankreich) und des Autoren, Erzählers und Pädagogen Gianni Rodari (Italien) sowie die erzähl‐ praktischen Ansätze und performativen Strategien der Autorin und Erzählerin Marie-Célie Agnant (Haïti / Québec) herangezogen. Jean, Rodari und Agnant sind dem sog. renouveau du conte zuzurechnen, einer kulturellen Entwicklung, die, beginnend in den 70er Jahren, das mündliche Erzählen von Märchen wie‐ derentdeckt und für die pädagogische Arbeit fruchtbar macht 14 . Jean und Rodari stehen für die erste, Agnant für die aktuelle Generation mündlicher Erzähle‐ rinnen und Erzähler dieser Renaissance öffentlichen Märchenerzählens. Cha‐ rakteristisch für die Arbeit der Akteure des renouveau du conte ist die Recherche. Die Recherche der beiden o. g. Erzählpädagogen zielt auf das poetische und kreative Potenzial des Märchengenres und auf das Erproben von kreativitäts‐ fördernden Strategien des Märchenerzählens mit Kindern und Jugendlichen. Die Recherche professioneller Erzählerinnen und Erzähler des renouveau zielt auf die Kunst des Erzählens. Ihre Erzählperformances knüpfen an Erzähltraditionen der eigenen Kultur an und lassen sich von Traditionen fremder Kulturen inspi‐ 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 160 <?page no="161"?> 15 Interkulturelle Schwerpunkte bieten auch sprach- und länderübergreifende Projekte, im frankophonen Raum z. B. das Erzählprojekt De bouche noire à oreilles blanches, bei dem afrikanische conteurs für das französische Publikum des Pas-de-Calais erzählen (Rabin 2004: 127-142). rieren. Sie suchen nach neuen Erzählgelegenheiten, neuem Publikum, neuen Erzählstrategien. Neue Erzählgelegenheiten bieten z. B. die inzwischen weit verbreiteten Erzählfestivals. Neue Erzählstrategien finden sich im erzähleri‐ schen Experiment und im Kontakt mit einem multikulturellen Publikum 15 . Prak‐ tikerinnen und Praktiker des renouveau erzählen sowohl für ein erwachsenes als auch für ein jugendliches Publikum. Das Erzählen vor einem multikultu‐ rellen, jugendlichen Publikum ist für sie Chance und Herausforderung zugleich. Sie können neue Erzählformen erproben, sind aber auch gezwungen, das ju‐ gendliche Publikum mit einem ‚Erzählen auf Augenhöhe‘ (Kap. 3.4) für den per‐ formativen Pakt zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, dass ihre Recherche zu Erzählperformances führt, die eine Balance zwischen ästhe‐ tischer und pädagogischer Gestaltung halten. Sie sind deshalb für den Fremd‐ sprachenunterricht besonders interessant. Die Lehrkräfte der Erzählprojekte haben sich im Rahmen ihres Weiterbildungsstudiums mit den praktischen The‐ orien der o. g. Akteure des renouveau auseinandergesetzt, im Falle von M.C. Agnant haben sie deren Erzähltechnik live kennengelernt und videobasiert stu‐ diert. 5.4.1 Die Kreativität des Erzählens in den märchenpädagogischen Konzepten Georges Jeans und Gianni Rodaris Im Zentrum des märchenpädagogischen Konzepts von Jean und Rodari stehen die innere Organisation der Märchenfiktion und die Imaginationskraft der Zu‐ hörer: A la limite, l’un des pouvoirs majeurs des contes est d’introduire l’enfant dans ce que j’appellerais volontiers les territoires vitaux de la littérature narrative. Donc de vivre une ‘créativité’ qui prend son sens dans l’organisation qu’elle propose d’un réel de fiction, que seuls les mots ont pouvoir d’inventer. L’imagination, le rêve ont horreur du vide. Le temps a horreur de l’immobilité. Les contes sont du temps plein ‚qui bouge‘ et s’organise en épisodes ou ‚fonctions‘ […]. ( Jean 1990: 139) Die handlungsorientierte, prototypische Struktur des Märchens (Kap. 3.1.2), die, wie Jean ausführt, keinen Stillstand duldet, rege die Imagination und Kreativität des Zuhörers an, und zwar nicht nur für die Dauer der Erzählung, sondern da‐ 5.4 Erzählen in Mündlichkeit (3): die erzählpädagogische und ästhetische Praxis 161 <?page no="162"?> rüber hinaus. Dies beruhe auf dem Paradox, dass die strenge, gleichwohl leicht durchschaubare Architektur des Märchens, der sog. meccano du conte ( Jean 1990: 97-149), die Fantasie der Rezipierenden nicht etwa einschränke, sondern sie freisetze: Nous touchons là à un paradoxe qui figure sans cesse en filigrane dans ma réflexion sur le ‘pouvoir des contes’: C’est dans la mesure où la ‚mécanique conteuse‘ ne pré‐ sente pas de mystères au niveau de son fonctionnement ‘technologique’, que les dé‐ rives de l’imaginaire à partir d’elle son infinies.” ( Jean 1990: 140) In diesem Paradox liegt für Jean das kreative und pädagogische Potenzial des Märchens begründet. Die leichte Durchschaubarkeit der Märchenarchitektur ermöglicht Kindern und Jugendlichen einen leichten Zugang zum Märchen‐ genre. Die Freude am Verstehen ( Jean 1990: 147) schafft Motivation, die Mär‐ chenkonstruktion ‚auseinander zu nehmen‘ und ihre Bausteine in individueller oder gemeinschaftlicher (Re-)Konstruktion neu zusammen zu setzen. Das Mär‐ chenparadox bietet demzufolge Potenzial für den Rezeptionsprozess ebenso wie für eigene Textproduktionen. Rodaris Märchenpädagogik liegt dieselbe Idee des Spiels mit strukturellen und mit thematischen Elementen des Märchens zugrunde. Er versteht dieses Spiel als eine Art intuitive Strukturanalyse: Le principe de base de ce jeu consiste […] en une ‚analyse‘ du conte, à un niveau intuitif. On joue sur ses structures, sur le système qui l’organise [...]. (Rodari 1979: 87) Sein erzähldidaktisches Werk Grammaire de l’imagination (Rodari 1979) bietet eine Fülle von Anregungen für das Spiel mit narrativen Bausteinen. Märchen, so Rodari, sollten in der pädagogischen Erzählarbeit, gerade weil sie strukturell und thematisch hinreichend bekannt sind, als matière première (Rodari 1979: 78) für eigene (Re-)Konstruktionen behandelt werden. Damit aus diesem Material Neues entstehen kann, gilt es, das Bekannte zunächst zu ver‐ fremden. Das kann während des Erzählens geschehen, indem die Erzählenden ein bekanntes Märchen punktuell ‚falsch‘ erzählen und damit das Publikum zum Widerspruch und zur Reparatur reizen. Faire dérailler les histoires nennt Rodari dieses Verfahren (Rodari 1979: 80-82). Das Verfremdungsprinzip kann sich auch auf die eigenen Märchenproduktionen beziehen. Ein nicht in die thematische Reihe einer Erzählaufgabe passendes Element kann eine neue Märchenversion provozieren - z. B. durch Vorgabe des Erzählgitters: petite fille, bois, fleurs, loup, grand mère, hélicoptère (Rodari 1979: 82). Das Prinzip faire dérailler les histoires gewinnt das pädagogische Anwendungspotenzial aus den inhaltlichen Nar‐ remen, d. h. den Elementen der histoire (Kap. 3.1.1). Für das folgende Spiel mit 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 162 <?page no="163"?> den Bausteinen des Erzählens sind auch syntaktische Narreme wie Chronologie der Ereignisse und formale Einheitsbildung relevant. Spielmaterial bilden die von Propp entwickelten Funktionen (Propp 1970: 35-81). Sie werden, versehen mit einem Titel, als Illustrationen auf Spielkarten gebracht - z. B. départ du héros, réception de l’objet magique, retour du héros, tâche accomplie, mariage (Rodari 1979: 99). Mithilfe der so gestalteten cartes de Propp (Rodari 1979: 95-104) können Märchen entwickelt werden. Die Spielgruppe kann ausgehend von einer einzigen Karte ein Märchen erfinden oder mehrere Karten als Handlungsstati‐ onen auffassen und miteinander verbinden. Das kreative Potenzial dieses Ver‐ fahrens beruht wie das Potenzial des mecaano du conte auf den Strukturprinzi‐ pien des Märchens, die für die eigene narrative Produktion genutzt werden. Es erweist sich damit als ein ressourcendidaktisches Verfahren (Kap. 5.3.4). 5.4.2 Poesie und Musikalität des Erzählens in den Erzählkonzepten und Erzählperformances Marie-Célie Agnants Das Spiel steht auch im Zentrum der pädagogischen Erzählarbeit Marie-Célie Agnants. Sie schlägt ein musikalisches Spiel vor, das sowohl den Prozess der Produktion als auch der Rezeption ihrer Erzählungen betrifft: Tous mes textes, je les travaille à voix haute. Si on voit un de mes textes, on fait l´ expérience, on le lit, on trouve le rythme. Dans la musique. […] Il est important pour moi que vienne le rythme. Je sens le texte venir, mais aussi la musique. […] Et tout le processus, à mon avis, c´est d´arriver aux sons et à la musique. […] Ça encourage les jeunes, on dirait ça apaise. Ce rythme-là a quelque chose d´apaisant. Et c´est comme si tu te laisses porter. Par une musique, par le son. Et dans mon écriture, dans mes romans, on trouve ce même rythme. (Agnant / Bergfelder-Boos 2006: 2-3) Im musikalischen Spiel steckt Agnants bereits erwähnte Recherche neuer Aus‐ drucksformen mündlichen Erzählens (Kap. 1). Ihre Recherche kann als zweifa‐ cher Brückenschlag aufgefasst werden: als eine Brücke von der prosodisch-ex‐ perimentierenden sprachlichen Realisierung („tous mes textes, je les travaille à voix haute“) in die textuelle Prosodie („on le lit, on trouve le rythme“) und von dort in die Realisierung als Performance („Et tout le processus […], c’est d’arriver aux sons et à la musique“). Rhythmus und Musikalität der Sprache stellen für sie das Bindeglied zwischen Text und Performance dar. Die Musikalität der Sprache bei der mündlichen Präsentation zum Ausdruck zu bringen und das Publikum in den Rhythmus des Diskurses hineinzuziehen, ist für sie die wich‐ tigste performative und didaktische Herausforderung. Ihre Erzählperformances in der fremdsprachlichen Unterrichtssituation setzen auf ein musikalisches 5.4 Erzählen in Mündlichkeit (3): die erzählpädagogische und ästhetische Praxis 163 <?page no="164"?> 16 Die Videoaufnahme dieser Erzählstunde in einer Berliner Realschule vom Februar 2006 (Agnant 2006b) ist online abrufbar unter: http: / / www.geisteswissen‐ schaften.fu-berlin.de/ we05/ romandid/ fort-und weiterbildung/ erzaehlprojekt/ video2/ index.html [22.10.2017]. 17 Eine für die Zwecke der folgenden Ausführungen verfasste Transkription der Video‐ aufnahme der Erzählerlaubnis « Cric-Crac » (Agnant 2006a) für die Performance des Märchens Petite Madame (Agnant 2006b) befindet sich in Anhang 5. Das Transkript realisiert für die Zwecke dieser Darstellung nicht die komplexen Transkriptionsregeln der Videografie (Anhang 1). Hörverstehen, das sie, bezugnehmend auf ihr Erzählen vor einer Berliner Schul‐ klasse, in dem allmählich sich verstärkenden rhythmischen Mitvollzug des Er‐ zählens, einer Art reprise du conte, realisiert sieht 16 : Mais je crois que .. qu´il y en a qui ont compris parce que quand on racontait l´histoire, tu vois, l´histoire de la petite dame qui marche, tranquillement, plus on avançait dans l´histoire, plus le groupe reprenait, tout le monde ensemble. Au début, il n´y avait que deux ou trois qui intervenaient. Et ils ont chanté aussi. Ils s´étaient mis à chanter. (Agnant / Bergfelder-Boos 2006 : 3) Rhythmisch-musikalische Teilhabe an der Performance ‒ eine Art performativer Pakt? Ein Blick auf die Realisierung einer ihrer Märchenperformances soll diese Behauptung prüfen. Dazu wird eine ihrer Performanceinszenierungen (Agnant 2006b), die des Kettenmärchens der Zauberin Petite Madame, die von einem Tauschgeschäft ins nächste hastet, um sich zum Schluss mit einem Zauber‐ spruch aus dem Schlund ihrer letzten Tauschpartnerin, einer Schlange, zu retten, im Folgenden kurz erläutert. Agnant (2006b) beginnt ihre Performance mit der Erklärung eines Rituals: mit der Bitte um Erzählerlaubnis 17 . Eine solche Erlaubnis einzuholen sei üblich in ihrer ursprünglichen Heimat Haïti, in der man sich immer noch des Abends im Licht der Sterne unter einem Baum versammelt, um Geschichten zu erzählen. Um Erzählerlaubnis werde in einem Frage-Antwortdialog gebeten. Die Frage der Erzählerin CRIC? muss von der Zuhörerschaft mit einem lauten, deutlichen CRAC! beantwortet werden. Ohne diese permission kann die Erzählerin nicht beginnen. Die Zuhörerinnen und Zuhörer müssen die Geschichte herbeirufen. Und diesen appel de l’histoire fordert sie ein, indem sie den Dialog CRIC? - CRAC! zu einem Sprechrhythmus gestaltet, den sie für das Publikum als Chor mi‐ misch-gestisch und prosodisch durch Aufwärts- und Abwärtsführung der Stimme dirigiert und dreimal wiederholen und damit anschwellen lässt. Sie überträgt ein in der Karibik gepflegtes Eröffnungsritual, die entrée, auf die Berliner Unterrichtssituation und holt damit Fremdes ganz nah an die Zuhörer heran. Vergleicht man die entrée der Performance mit der Eröffnung einer nar‐ 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 164 <?page no="165"?> 18 Die beiden unterschiedlichen entrées der Performance Agnants entsprechen den un‐ terschiedlichen Phasen der Erzähleröffnung, die Charnay (2004) in Bezug auf das indo-europäische Märchenerzählen vorstellt : Die rituell einzuholende Erzählerlaubnis stelle die Eröffnung der Veillée (dem rituellen abendlichen Erzählen) dar, der formelhafte Beginn, mit dem die Erzählenden ihr Publikum in die Vergangenheit der Märchenfiktion entführen, „servait à ouvrir le récit“ (Charnay 2004: 74). rativen Diskurseinheit innerhalb eines Alltagsgesprächs (s. die narrativen Jobs einer narrativen Diskuseinheit bei Quasthoff in Kap. 3.2.2), so entspricht ihre erläuternde entrée der ersten Sequenz einer Diskurseinheit, d.h. der Darstellung von Formrelevanz 18 . Der performativ gestaltete appel de l’histoire entspricht der zweiten Sequenz der Diskurseinheit, dem Thematisieren. In Agnants Perfor‐ mance wird die Erzählerlaubnis nicht argumentativ, sondern magisch-formula‐ risch erworben. Die Eröffnung der Geschichte erfolgt ebenfalls formularisch: Il y avait une fois - il y a très longtemps- dans la ville, il y avait loin, très loin, la montagne. Dans la montagne, il y avait la forêt. Dans la forêt - loin, très loin - il y avait la maison […]. (Agnant 2006b) Für Agnants Inszenierung des Performancehauptteils, der Tauschgeschäfte der Petite madame, sind vier Hauptstrategien charakteristisch. Diese betreffen die Raumgestaltung, die Dramatisierung der Handlung, die Gestaltung der Figu‐ renrede sowie den Kontakt zum Publikum. Was die Raumgestaltung betrifft, so nutzt Agnant den ‚Lehrkräfte-Raum‘ vor der Tafel als Erzählsphäre und schafft sich damit einen performativen Raum, der Platz freigibt für ihre Aktionen als Erzählerin und als Repräsentation der Figuren der Geschichte. Die rampenlose Bühne gibt ihr die Möglichkeit, die räumliche Distanz zum Publikum zu überwinden und auf ihr Publikum zugehen. Zur Dramatisierung der Handlung wechselt Agnant zwischen Erzählerinnen- und Figurenrolle. Als Erzählerin benutzt sie zusätzlich zu paralinguistischen Zeichen vor allem eine die Objektebene (Kap. 4.3.3) bedienende sprachbeglei‐ tende Gestik (Kap. 4.3.4) und kombiniert sie mit akustischen Zeichen, um Ge‐ schehnisse und Handlungen zu illustrieren wie z. B. ein Gewitter, einen Hagel‐ schauer, ein entschlossenes Türklopfen etc. Als Erzählerin verdeutlicht sie die Ortswechsel der Figuren durch unterschiedliche Gänge im Raum. Die Kombi‐ nation von verbalen mit visuellen und akustischen Zeichen (Kap. 4.3.4) zur Dar‐ stellung des prasselnden Hagels, des Klopfens an die Hüttentür und des Mar‐ schierens von Petite madame gestaltet sie zu rhythmischen Folgen. In die Figurenrollen schlüpft Agnant durch Gestaltung der jeweiligen Figu‐ renrede und bedient damit die Subjektebene der Fiktion. Als Gestaltungsmittel setzt sie die Kombination mimischer mit paralinguistischen Zeichen wie Ton‐ 5.4 Erzählen in Mündlichkeit (3): die erzählpädagogische und ästhetische Praxis 165 <?page no="166"?> höhe und Lautstärke (Kap. 4.3.4) mit Gestik und Bewegung ein. So weicht sie z. B. als Petite madame bei jeder Tauschstation, wenn man ihr den Besitz eines Gegenstandes abschwatzen will, nach hinten zurück, kreuzt die Arme vor der Brust, und fragt mit hoher, kreischender Stimmer, ob das Ansinnen wohl ernst gemeint sei, denn ihr gehöre das Objekt ja gar nicht. Es gehöre vielmehr… Mit dieser Verteidigung setzt der Tauschreim ein. Aufgezählt wird, wer mit wem welches Objekt getauscht hat. Das Sprechen des Tauschreims bietet Gelegenheit, die vierte Strategie, den direkten Kontakt zum Publikum herzustellen. Agnant gestaltet aus dem Tausch‐ reim einen Sprechrhythmus, den sie, unterstützt durch ihre Dirigierbewe‐ gungen, gemeinsam mit dem Publikum skandiert. Während des Sprechgesangs wendet sie sich an die Zuhörerinnen und Zuhörer (Kap. 4.5), um von ihnen die Stichwörter für die einzelnen Glieder der Tauschreimkette zugerufen zu be‐ kommen, wiederholt das Stichwort und fährt im eingeschlagenen Rhythmus fort. Die Schülerinnen und Schüler sprechen in der Tat zum Ende hin immer lauter, immer engagierter, immer fröhlicher mit. In dieser Performanceinszenierung steckt ästhetisches und pädagogisches Anwendungspotenzial zur Unterstützung des fremdsprachlichen Verstehens der Schülerinnen und Schüler und ihrer aktiven Teilnahme an der Gestaltung der Erzählperformance. Die Analyse des empirischen Materials wird zeigen, dass die Lehrkräfte sich von Agnants Performance ‒ jedes Lehrkräfteteam auf seine Weise ‒ inspirieren ließ. 5.5 Erzählen in Mündlichkeit (4): Analyse narrativer Diskurse und Teil 1 des Fünf-Dimensionen-Modells FDM-R Im folgenden Kapitel werden der werkexternen Dimension (Kap. 5) die Kriterien zur funktionalen Analyse narrativer Diskurse und produktiver Narrativierungs‐ leistungen im Fremdsprachenunterricht entnommen und in ein Analyse-Instru‐ mentarium überführt. Zu analysieren sind: • Rekonstruktionsgespräche, in denen Lehrende und Lernende zunächst ein gemeinsames Verständnis des Plots der erzählten Geschichte her‐ stellen, • Rekonstruktionsgespräche, in denen die Lernenden, unterstützt von den Lehrenden, eigene narrative Diskurse entwickeln, • die Zielprodukte der Gespräche, die narrativen Eigenproduktionen der Lernenden. 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 166 <?page no="167"?> 19 Eine erste Fassung dieses Modells sah zunächst eine Gliederung in folgende vier Di‐ mensionen vor (s. Kap. 3.6, Anm. 34): Rekonstruktion der Erzählung mit verbalen und / oder anderen narrativen Mitteln, narrative Markierung, narrative Interaktion, kom‐ munikationsstrategische und performative Gestaltung. In dieser Fassung war die münd‐ lich-verbale / intermediale Präsentation der Rekonstruktionen nicht als eigene Dimen‐ sion vorgesehen. Eine erste Analyse des empirischen Materials machte jedoch deutlich, dass - wie bei den Erzählperformances der Lehrenden - auch bei den Narrativierungen der Lernenden textuelle Veränderungen von der ersten narrativen Produktion bis zu ihrer mündlich-performativen Präsentation zu verzeichnen sind und dass diese Verän‐ derungen Auskunft über die Entwicklung der narrativen Diskurse der Lernenden geben. Deshalb wurde die Dimension „Konstruktion der verbal-mündlichen Erzählung“ des Performance-Modells (FDM-P) auch in das Modell zur Rekonstruktionsanalyse (FDM-R) übernommen. Beide Modelle (FDM-P und FDM-R) weisen damit dieselben Dimensionen auf. Die Rekonstruktionsgespräche und die Eigenproduktionen beziehen sich auf die ihnen vorausgehenden Erzählperformances. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Form und ihre Funktion in den Erzählstunden. Zur Modellierung des Analyse-Instrumentariums nehme ich dieselbe Fünf-Dimensionen-Gliederung 19 wie die des Modells zur Analyse von Erzähl‐ performances (FDM-P in Kap.3.6, 4.5) vor. Dabei entsprechen die ersten beiden Dimensionen und die vierte Dimension dem von Quasthoff (2012) vorgelegten Drei-Dimensionen-Modell (Kap. 5.3.1). Die erste Dimension wird von der Re‐ konstruktion der Erzählung mit bildlichen / intermedialen / verbalen und / oder anderen narrativen Mitteln, die zweite von den narrativen und genrespezifi‐ schen Markierungen der Textoberfläche, die dritte von der mündlich-verbalen / intermedialen Präsentation von Eigenproduktionen gebildet. Die vierte Dimen‐ sion erfasst die narrative Interaktion der Rekonstruktionsgespräche, die fünfte Dimension die performative und kommunikationsstrategische Gestaltung. Letz‐ tere wird dem Modell als Teil 2 aus der fachdidaktischen Perspektive (Kap. 6.5) hinzugefügt. In die ersten beiden Dimensionen integriere ich bereits entwickelte, werkin‐ terne Analysekriterien (Kriterien 1 und 2 des FDM-P). Die vierte Dimension statte ich mit Kriterien aus, die ich den Anforderungen an die Fähigkeit des Erzählens (Kap. 5.2, 5.3) entnehme. Im Unterschied zum Modell zur Analyse von Erzählperformances nehme ich da, wo von der Erzähl- und der Erzählerwerbsforschung Beispiele für ein Kon‐ tinuum narrativer Leistungen (Kap. 5.3.2) oder von der Fremdsprachendidaktik Beispiele für die Selbständigkeit sprachlicher Äußerungen (Kap. 6.2.1, 6.2.2) be‐ reitgestellt werden, eine Ausdifferenzierung der Kriterien in ein Indika‐ toren-Kontinuum vor. Mit dessen Hilfe kann ich die Einzelbeiträge der Lern‐ enden als Narrativierungsleistungen erfassen, den Grad der Narrativierung 5.5 Erzählen in Mündlichkeit (4): Analyse narrativer Diskurse und Teil 1 FDM-R 167 <?page no="168"?> 20 Der in Kap. 3.1.2 entwickelte und in den Folgekapiteln weiter verwendete Begriff „Nar‐ rativierungsleistung“ dient weder zur Skalierung in Niveaustufen noch zur Bewertung schulischer Leistungen, sondern stellt die produktive oder rezeptive ‚Narrativierungs‐ arbeit‘ dar, die mithilfe des Kontinuums in unterschiedlichen Ausprägungen und Gra‐ duierungen des Narrativen erfasst werden kann. Das schließt nicht aus, dass das Modell -ergänzt durch weitere Kriterien und Indikatoren - zu einem Instrument der Leis‐ tungsfeststellung ausgebaut werden kann. Möglichkeiten seines Einsatzes als Beobach‐ tungs- und Diagnoseinstrument werden in Kap 11.2.3 diskutiert. a. - - b. - - - - angeben, Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Narrativierungen festhalten und evtl. ihr Zusammenwirken bei der Ko-Konstruktion von Erzählungen er‐ kunden 20 . Das Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse von Narrativierungsleistungen (FDM-R) stellt wie das Modell zur Analyse von Erzählperformances (FDM-P) ein Basis-Modell dar, das auf den jeweiligen Fallkontext flexibel angewandt, ergänzt, verändert werden kann. Unterschiede werden sich besonders aus der Form der Rekonstruktionsgespräche und den Eigenproduktionen der Lernenden ergeben. Die folgende Übersicht (Tab. 8) zeigt die Gliederung in fünf Dimensionen, denen die Kriterien der Analyse mit entsprechenden Leitfragen und - in einigen Fällen - Indikatoren eines Kontinuums zugeordnet sind: 1. Rekonstruktion der Erzählung mit verbalen und / oder anderen narrativen Mitteln Realisierung qualitativer Narreme in bildlichen / verbalen / intermedialen Erzäh‐ lungen: Mit welchen bildlichen / verbalen / intermedialen Mitteln wird Darstellungsqua‐ lität erreicht? Worauf beruht die Erlebnisqualität der verbalen / der bildlichen / der interme‐ dialen Erzählung? Welche Sinndimensionen werden rekonstruiert? Realisierung prototypischer inhaltlicher Narreme: Welche prototypischen Bausteine der gehörten Erzählung werden aufgegriffen? Welche werden häufig aufgegriffen? Wie werden sie aufgegriffen Kontinuum: Die SuS rekonstruieren in Teilen die Ereignisse der gehörten Geschichte. Sie rekonstruieren die wesentlichen Stationen / Episoden der Geschichte. 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 168 <?page no="169"?> - - c. - d. - - - - - a. b. a. Ereignisse werden als zielgerichtete Handlungen von Figuren dargestellt. Die Handlungen der Figuren werden mit Gefühlen, Stimmungen, mit Konflikten zwischen den Figuren verbunden. Die Hauptstrukturen ergänzende Nebenstrukturen werden in die Erzählung auf‐ genommen. Gebrauch prototypischer syntaktischer Narreme ‒ die Sequenzierung: Welche Sequenzen der Handlung werden rekonstruiert? Wie sind sie angeordnet: Wird die sequenzielle Ordnung der gehörten Geschichte erweitert / fortgesetzt / durchbrochen / umgestellt etc.? Gebrauch prototypischer syntaktischer Narreme ‒ Herstellung semantischer Ko‐ härenz: Welche Verknüpfungen zwischen den Ereignissen und Handlungen werden her‐ gestellt? Kontinuum: Die Handlung wird als einfache Aufzählung rekonstruiert. Die Handlung wird durch lineare Aneinanderreihung von Ereignissen rekonstru‐ iert. Die Ereignisse werden chronologisch miteinander verknüpft. Die Ereignisse werden durch kausale und / oder logische Zusammenhänge aufei‐ nander bezogen (z. B. durch Aufzeigen von Nebenstrukturen). Die Ereignisse werden gewichtet durch affektive Markierungen / durch Hervor‐ hebung eines unerwarteten Ereignisses / durch einen Planbruch / durch einen Hö‐ hepunkt etc. 2. narrative Markierung narrationstypische Markierungen der Diskursoberfläche: Welche syntaktischen / lexikalischen Diskursmarkierungen (z. B. sprachliche An‐ lehnung an die Nähe- / Distanzsprache der gehörten Geschichte / Gestaltung von Frage-Antwortsätzen / Einsatz kohärenzstiftender Diskursmarker wie et, et puis, et alors, un jour, soudain, mais, mais puis, lorsque, parce que etc. werden verwendet? genretypische Markierungen der Textoberfläche: Werden märchentypische Wendungen / für das gehörte Märchen typische Wen‐ dungen gebraucht? 3. mündlich-verbale / intermediale Präsentation der Rekonstruktionen Welche mündlich-narrative Präsentationsform wird gewählt? 5.5 Erzählen in Mündlichkeit (4): Analyse narrativer Diskurse und Teil 1 FDM-R 169 <?page no="170"?> - b. - a. - - - b. - - - - Bilderpräsentation / Wort-Bilder-Serien? Lesung / freier Vortrag von Geschichten? Welche Veränderungen erfahren die Erzählungen der Lernenden bei ihrer münd‐ lichen Präsentation? Welche Veränderungen erfahren mehrmals durchgeführte Bildpräsentationen? Welche Veränderungen erfahren Textvorlagen beim freien Erzählen? 4. narrative Interaktion Übernahme narrativer Jobs: Auf welche Weise übernehmen die ko-konstruierenden SuS die pragmatischen, narrationsspezifischen Aufgaben zur Gestaltung der Diskurseinheit? Kontinuum: Die SuS platzieren ihre Beiträge auf Abruf. Sie arrangieren den Wechsel der Rollen von Sprechenden und Zuhörenden eigen‐ ständig. Sie nehmen die Beiträge ihrer Vorgänger wahr / knüpfen an diese an / ergänzen sie / führen sie weiter. Kontextualisierung der narrativen Beiträge in den Rekonstruktionsgesprächen: Auf welche Weise übernehmen die ko-konstruierenden SuS die verbalen narrati‐ onsspezifischen Aufgaben zur Gestaltung einer Diskurseinheit? Kontinuum: Die Schülerbeiträge stellen isolierte, lokale Einzeläußerungen dar. Die SuS formulieren kurze Sprechhandlungssequenzen, die sich in den Verlauf der Handlung / in das Geschehen einfügen. Die Beiträge der SuS stellen übersatzmäßige, die globale Strukturierung organis‐ ierende Äußerungen dar. 5. kommunikative Aktivitäten, kommunikationsstrategische und per‐ formative Gestaltung (Wird ergänzt in Kap. 6.5) Teil 2 Tab. 8: Das Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse produktiver Narrativierungsleis‐ tungen in Rekonstruktionsgesprächen (FDM-R, Teil 1) 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 170 <?page no="171"?> 5.6 Zusammenfassung: das werkexterne, kulturelle Potenzial mündlichen Erzählens Die Ergebnisse der Untersuchung des werkexternen Potenzials (Kap. 5.1-5.4) mündlichen Erzählens lassen sich wie die Rechercheergebnisse der werkseitigen Potenziale (Kap. 3.7, 4.6) zwei Aspekten zuordnen. Der erste Aspekt (A) betrifft den funktionalen Gebrauch des Narrativen und Performativen allgemein, der zweite Aspekt (B) betrifft ausgewählten Formen des Gebrauchs. A: Der funktionale Gebrauch des Narrativen und Performativen 1) Die Realisierung von Funktionen des Narrativen in unterschiedlichen Praxisfeldern (Kap. 5.1) Die Realisierungen des Narrativen und Performativen in gesellschaftlich-kul‐ turellen, erzähldidaktischen und ästhetischen Praxisfeldern liefern Anregungen für den funktionalen Gebrauch der Diskursform im Fremdsprachenunterricht. Sie zeigen die Rolle des Narrativen für die Entwicklung von Gesellschaft und Kultur und der individuellen Enkulturation. Sie geben dem Fremdsprachenun‐ terricht Impulse, das außerhalb des schulischen Lernens erworbene narrative Wissen und Können im Sinne einer Ressourcendidaktik für das Fremdspra‐ chenlernen zu nutzen, Strategien des Erwerbs bewusst zu machen und zu er‐ weitern und auf die Anwendung des Potenzials in fremdsprachlichen Lebens‐ welten vorzubereiten. 2) Brückenschläge zwischen den Dimensionen der narrativen Diskursform (Kap. 5.1) Die Brückenschläge der ausgewählten werkexternen Perspektiven auf werk‐ seitige Konstituenten des Narrativen bieten dem Fremdsprachenunterricht Im‐ pulse, diese Brückenschläge für den fremdsprachendidaktischen Gebrauch zu nutzen und darüber hinaus eigene, für das schulische Fremdsprachenlernen spezifische Brücken zwischen der werkexternen und der werkseitigen Dimen‐ sion des Narrativen und Performativen zu schlagen. 5.6 Zusammenfassung: das werkexterne, kulturelle Potenzial mündlichen Erzählens 171 <?page no="172"?> B: Formen des funktionalen Gebrauchs des Narrativen und Performativen 3) Kulturelle Teilhabe - sinnbildende und soziale Potenziale aus kulturpsychologischer Perspektive (Kap. 5.2) Das aus kulturpsychologischer Perspektive erarbeitete Konzept der kulturellen Teilhabe stellt dem Fremdsprachenunterricht Beispiele von Realisierungen sinn‐ bildender und sozialer Potenziale des Narrativen zur Verfügung. Die aus dieser Perspektive herausgearbeiteten Merkmale des Narrativen wie die Offenheit des narrativen Diskurses, die Forderung nach Einhalten und gleichzeitig nach Durchbrechen des Kanonischen als ‚Kernkonflikt‘ des Narrativen stellt dem Fremdsprachenunterricht Anregungen für das Aushandeln von Bedeutungen und von Handlungsalternativen und damit für das interkulturelle Lernen bereit. Die für die gesellschaftlich-kulturelle Praxis wichtigen narrativen Genres wie die Selbst-Erzählung und die im kulturellen ‚Schatz einer Kultur‘ enthaltenen Alltagsgeschichten und fiktionalen Erzählungen liefern Anregungen für die Auswahl und Gestaltung von Erzähldiskursen. 4) Narrativierungsleistungen - konstruierende, soziale, interaktive und didaktische Potenziale aus der Perspektive des Erzählerwerbs und der Erzähldidaktik (Kap. 5.3) Die aus dieser Perspektive herausgearbeiteten Merkmale der Erzählfähigkeit beim Erstspracherwerb, die aufgezeigten Entwicklungslinien, Einflussfaktoren und Strategien der Förderung von Erzählfähigkeit stellen dem Fremdsprachen‐ unterricht Anwendungspotenziale einer ressourcenorientierten fremdsprachli‐ chen Erzähldidaktik zur Verfügung. Sie zeigen, wie die sozialen und interaktiven Potenziale von Gesprächssituationen im Unterricht genutzt werden können - z. B. durch Ko-Konstruieren des narrativen Diskurses, durch narratives Scaffol‐ ding der Lehrenden. Die Modellierung narrativer Fähigkeiten zu einem ‚mehrdimensionalen Fä‐ higkeitsbündel‘ und die modulare Konzeptualisierung dieses Fähigkeitsbündels setzen Impulse zur Konstruktion eines mehrdimensionalen Instrumentariums zur Analyse fremdsprachlicher Narratativierungen (s. das Analysemodell FDM-R). 5) Kreativität und Poesie des Erzählens - konstruierende, kommunikative und unterhaltende Potenziale aus erzählpädagogischer und ästhetischer Perspektive (Kap. 5.4) Der Rückgriff auf die prototypischen Elemente des Narrativen in der erzählpä‐ dagogischen und erzählpraktischen Arbeit zeigt Möglichkeiten des kreativen 5 Erzählen in Mündlichkeit: die werkexterne, kulturelle Anwendungsdimension 172 <?page no="173"?> Umgangs mit den Bausteinen des Erzählens und gibt z. B. mit dem Prinzip faire dérailler les histoires und dem Kreativspiel les cartes de Propp Anregungen für narrative Lernaufgaben. Die Strategien der Diskursgestaltung von professio‐ nellen Erzählerinnen und Erzählern - der Rückgriff auf prototypische Elemente des Narrativen, die Dramatisierung und Rhythmisierung der Erzähldiskurses - und die Übertragung dieser textuellen in performative Gestaltungmittel, wie dies in ihren Aufführungen geschieht, bieten dem Fremdsprachenunterricht Anregungen für eine zwischen Pädagogik und Ästhetik ausbalancierte Gestal‐ tung von Erzählperformances. 5.6 Zusammenfassung: das werkexterne, kulturelle Potenzial mündlichen Erzählens 173 <?page no="174"?> 6 Mündliches Erzählen im Fremdsprachenunterricht: die fremdsprachendidaktische Perspektive In diesem Kapitel werden unterschiedliche Realisierungen des Narrativen im Anwendungsfeld des Fremdsprachenunterrichts aus fremdsprachendidakti‐ scher Perspektive in den Blick genommen und mit werkexternen Realisierungen der in Kapitel 5 erfassten Praxisfelder zusammengeführt. Kapitel 6.1 erläutert die Konzeption und Gliederung der fremdsprachendidaktischen Perspektive. Kapitel 6.2 geht dem mündlichen Erzählen als Mittel und Medium der mündli‐ chen Kommunikation in der Fremdsprache nach. Kapitel 6.3 erörtert das münd‐ liche Erzählen als Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts. Dabei werden di‐ daktisch-methodische Ansätze vorgestellt, die das Erzählen als Unterrichtsprinzip (Storytelling) und als curriculares Prinzip (Narrative-Dimen‐ sionen-Ansatz) nutzen bzw. Dimensionen narrativer Kompetenzen in einem li‐ teraturdidaktischen Ansatz modellieren. In Kapitel 6.4 werden die verschie‐ denen Aufgaben der Akteure des Fremdsprachenunterrichts und die Möglichkeiten der Nutzung des fremdsprachlichen Klassenzimmers zur Reali‐ sierung der Potenziale des mündlichen Erzählens untersucht und anhand eines Modells narrativer Kommunikation im Fremdsprachenunterricht erläutert. Ka‐ pitel 6.5 ergänzt das „Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse produktiver Nar‐ rativierungsleistungen“ (FDM-R) und formuliert Kriterien zur Beschreibung der Unterrichtsdesigns der Erzählstunden. Kapitel 6.6 fasst das Potenzial der fremd‐ sprachendidaktischen Perspektive zusammen. 6.1 Konzeption und Gliederung der fremdsprachendidaktischen Perspektive Charakteristisch für das Anwendungsfeld des Fremdsprachenunterrichts ist der zweifache Gebrauch des Erzählens, zum einen als Mittel und Medium der Kom‐ munikation, zum anderen als Gegenstand des Unterrichts (Nünning / Nünning 2007: 96). Im ersten Fall kommt ihm eine eher dienende, im zweiten auch eine eigenständige Funktion zu. Betrachtet man das mündliche Erzählen als Medium der Kommunikation in der fremden Sprache, so kommt es als Bestandteil kom‐ munikativer Aktivitäten und Strategien ins Spiel. Betrachtet man das mündliche Erzählen als Gegenstand des Unterrichts, so interessiert es als Diskursform in <?page no="175"?> der Doppelfunktion von narrativem Produkt und narrativer Tätigkeit, als Prä‐ sentationsform und als Genre des Narrativen. In dieser Anwendung kann es zur inhaltlichen und sprachlichen Auseinandersetzung mit narrativen Vermitt‐ lungsformen, z. B. mündlich erzählten Anekdoten, Märchen, Legenden dienen und eine Tätigkeit oder eine zu entwickelnde Fähigkeit darstellen. Ein gegen‐ standsbezogener Umgang mit dem mündlichen Erzählen im Sprachunterricht besteht daher • im Umgang mit Texten, Medien und Diskursen (Erzählen als Tätigkeit und als Produkt), • im Einsatz der Diskursform als Unterrichtsprinzip (Erzählen als Präsen‐ tationsform) (Bleyhl 2002b, Piepho 2002) und • als systematische Schule des Erzählens (Erzählen als Fähigkeit) (Piepho et al. 2007, Hallet 2007, Nünning / Nünning 2007, Bredella 2012b). Beide Gebrauchsformen des mündlichen Erzählens können als Realisierungen der Funktionen des Narrativen aufgefasst werden. Das Erzählen als Mittel der Kommunikation hebt schwerpunktmäßig auf die kommunikative und soziale Funktion des Narrativen ab. Das Erzählen als Gegenstand der Kommunikation konzentriert sich vor allem auf die repräsentierende und (re-)konstruierende Funktion und bezieht auch die sinn- und bedeutungsgebende und die kreative Funktion des Narrativen mit ein. 6.2 Mündliches Erzählen im Fremdsprachenunterricht (1): Perspektiven bildungspolitischer Vorgaben Zur Untersuchung des Potenzials mündlichen Erzählens als Medium und Mittel der Kommunikation beziehe ich mich auf die für den kompetenzorientierten 6.2 Mündliches Erzählen im FU (1): Perspektiven bildungspolitischer Vorgaben 175 <?page no="176"?> 1 Die Prägung der bildungspolitischen und fachdidaktischen Diskussion durch den GeR und andere auf ihn bezogene bildungspolitische Vorgaben wird in der Fremdsprachen‐ didaktik unterschiedlich beurteilt. Zunächst wurde das innovative Potenzial der bil‐ dungspolitischen Vorgaben als ein Weg zur zielgerichteten und nachhaltigen Quali‐ tätsentwicklung des Unterrichts entdeckt (Tesch 2006: 235, Zydatiß 2010: 59, Bergfelder-Boos 2007: 43), da sie eine neue, überschaubare, handhabbare Strukturierung sprachlicher Fähigkeiten in acht kommunikative Aktivitäten und drei kommunikative Sprachkompetenzen sowie eine skalierende Beschreibung dieser Fähigkeiten lieferten. Es erfolgte rasch eine Gegenreaktion. Einerseits wurde die Reduktion auf den sprach‐ praktischen Aspekt und die „auffallende Entkulturalisierung der Inhalte“ (Zydatiß 2010: 63), andererseits die partielle Vagheit und Unklarheit, vor allem das Fehlen einer „ein‐ deutige[n] sachbezogene[n] Vergleichsnorm (benchmark)“ (Zydatiß 2010: 61) der Kri‐ terien der Kompetenzbeschreibungen kritisiert. Zu weiteren Aspekten der Diskussion s. Bausch / Christ / Königs / Krumm: 2007, Quetz 2010, Zydatiß 2010, Bärenfänger 2016, Kecker 2016. 2 Ein Rekurs auf die Bildungsstandards für die erste Fremdsprache für den Mittleren Schulabschluss (Kultusministerkonferenz 2004) und ausgewählte Rahmenlehrpläne (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2006) würden die Argumentation des Kapitels stützen; m. E. ist der bildungspolitischen Aspekt auf der Basis des GeR jedoch ausführlich genug und funktional für die Fragestellung der Studie erörtert. Fremdsprachenunterricht der Nuller und 10er Jahre richtungsweisende 1 Per‐ spektive des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Eu‐ roparat 2001, im Folgenden GeR), den ich stellvertretend für andere standardbzw. outputorientierte bildungspolitische Vorgaben heranziehe. Auf die Perspektive des Referenzrahmens werde ich mich aus folgenden Gründen be‐ schränken 2 : • In vergleichbaren fachdidaktischen Publikationen, zu denen ich Lexika und Handbücher der Fachdidaktik rechne, wird das mündliche Erzählen nicht als Mittel und Medium des Unterrichts, sondern im Wesentlichen als Gegenstand des Unterrichts thematisiert. Der Referenzrahmen be‐ nennt in den Kompetenzbeschreibungen das Erzählen als Mittel der Kom‐ munikation dagegen explizit. • Die Kompetenzbeschreibungen basieren auf einem mehrdimensionalen Kompetenzmodell (Europarat 2001: 21), das nicht identisch, aber kompa‐ tibel mit den in der Studie bereits erarbeiteten Modellen (Kap. 3.6, 4.5, 5.5) ist (Quetz 2010: 45-49). • Der Referenzrahmen bietet über die Kompetenzbeschreibungen hinaus Kriterien zur Beschreibung kommunikativer Ziele und Aufgaben (Euro‐ parat 2001: 59-61), die zur Analyse der Erzählstunden herangezogen werden (Kap. 6.4). 6 Mündliches Erzählen im FU: die fremdsprachendidaktische Perspektive 176 <?page no="177"?> • Die Erläuterungen des GeR zur spielerischen und ästhetischen Sprach‐ verwendung (Europarat 2001: 61-62) schließen an die aus gesellschaft‐ lich-kultureller Perspektive dargestellte Bedeutung des mündlichen Er‐ zählens für die kulturelle Teilhabe an (Kap. 5.2.2), denn sie betonen die Relevanz ästhetischen Lernens auch für den Fremdsprachenunterricht: „Nationale und regionale Literatur leistet einen wesentlichen Beitrag zum europäischen Kulturerbe; der Europarat betrachtet es als einen ‚wert‐ vollen gemeinsamen Schatz, den es zu schützen und zu entwickeln gilt‘“ (a. a O.: 62). Zur ästhetischen Sprachverwendung rechnet der Europarat u. a. das „Nacherzählen von Geschichten; Anhören, Lesen, Schreiben und Sprechen fiktionaler Texte (Geschichten, Reime), […] Aufführung und Rezeption von Liedern, Dramen, Opern usw.“(a. a. O.) 6.2.1 Mündliches Erzählen als Bestandteil kommunikativer Aktivitäten im GeR In dem durch allgemeine und durch kommunikative Sprachkompetenzen in zwei große Dimensionen gegliederten Kompetenzmodell des Referenzrahmens ist die Diskursform Erzählen als Makrofunktion in der zweiten Dimension, und dort in der Teilkompetenz „pragmatische Kompetenzen / Diskurskompetenz“ (Europarat 2001: 109, 123-130) verortet. Als Mittel der Sprachverwendung ist das mündliche Erzählen in den Kompetenzbeschreibungen und den Beispiel‐ skalen kommunikativer Aktivitäten und Strategien (Europarat2001: 63-99) ver‐ ortet. Beschreibungen kommunikativer Aktivitäten Im Bereich der produktiven Aktivitäten kann das in den Erzählstunden prak‐ tizierte mündliche Erzählen dem Sprechen vor Publikum (Europarat 2001: 63) zugerechnet werden. Die im GeR aufgelisteten Beispiele produktiver Aktivitäten beim Sprechen vor Publikum liefern Anregungen zur Formulierung von Ana‐ lysekriterien und Indikatoren der fünften Dimension des Analysemodells (Kri‐ terium 5.a, 5.b des FDM-R, Kap. 6.5). Das sind: • einen geschriebenen Text vorlesen; • anhand von Notizen […] oder mit anderen visuellen Stützen (Diagramme, Bilder, Schaubilder) sprechen; • eine eingeübte Rolle spielen; • spontan sprechen; • singen. (a. a. O.) 6.2 Mündliches Erzählen im FU (1): Perspektiven bildungspolitischer Vorgaben 177 <?page no="178"?> Die für die Analyse der Erzählstunden wichtigste Anregung ist die Unterschei‐ dung in spontanes und in vorbereitetes Sprechen und - beim vorbereiteten Sprechen - in Vorlesen und in materialgestütztes Sprechen. Beide Unterschei‐ dungen werden für das Analysemodell genutzt. Die erste wird gebraucht, um zwei unterschiedliche Formen des Gestaltungskontinuums zu bilden - ein Kon‐ tinuum für das spontane, eines für das vorbereitete Sprechen. Die zweite wird gebraucht, um die Progression im Kontinuum anzuzeigen - vom Ablesen zum Konsultieren von Notizen und zum freien Sprechen (Kriterium 5.a des FDM-R). Im Bereich der rezeptiven Aktivitäten wird das Sprechen vor Publikum in seiner rezeptiven Variante mit der Formulierung „als Zuschauer / Zuhörer im Publikum verstehen“ (Europarat 2001: 71) angeführt und mit Beispielen für fol‐ gende Aufführungen belegt: „Theater, öffentliche Veranstaltungen, öffentliche Vorträge, Unterhaltungsveranstaltungen“ (a. a. O.). Die unterschiedlichen kom‐ munikativen Absichten der produktiven Aktivitäten werden benannt: globales, selektives, detailliertes Verstehen und Schlussfolgerungen ziehen (a. a. O.). Diese verschiedenen Formen des Verstehens werden in meiner Studie - gemeinsam mit der Anwendung von Rezeptionsstrategien - zur Analyse der Interviews ge‐ nutzt. Mit ihrer Hilfe kann geklärt werden, welche Art fremdsprachlichen Ver‐ stehens die Schülerinnen und Schüler vornehmlich realisieren und wie sie ihren Verstehensprozess organisieren. Beispielskalen In den Beispielskalen mündlicher Sprachproduktion fungiert das Erzählen von Geschichten explizit als Element der Deskriptoren. Im Bereich „Zusam‐ menhängendes monologisches Sprechen: Erfahrungen beschreiben“ ist es in fast allen Niveaustufen (in A2, B1, C1) präsent: • Die Niveaustufe A2 fordert: „Kann etwas erzählen oder in Form einer einfachen Aufzählung berichten.“ (a. a. O.: 65) • Die Niveaustufe B1 fordert: „Kann relativ flüssig unkomplizierte Ge‐ schichten oder Beschreibungen wiedergeben, indem er / sie die einzelnen Punkte linear aneinanderreiht.“ (a. a. O.: 64) Und: „Kann eine Geschichte erzählen.“ (a. a. O.) • Die Niveaustufe C1 fordert: „Kann Sachverhalte ausführlich beschreiben und Geschichten erzählen, kann untergeordnete Themen integrieren, be‐ stimmte Punkte genauer ausführen und alles mit einem angemessenen Schluss abrunden.“ (a. a. O.) In den Beispielskalen dienen qualitativ-strukturelle und performative Merkmale des Erzählens wie „in einer einfachen Aufzählung berichten / linear anei‐ 6 Mündliches Erzählen im FU: die fremdsprachendidaktische Perspektive 178 <?page no="179"?> nander[reihen] / ausführlich beschreiben / relativ flüssig wiedergeben“ als In‐ dikatoren der Deskriptoren und damit als Mittel der Skalierung. Auffällig ist, dass Komponenten des Architerms Erzählen (Kap. 3.2.1, Ehlich 2007: 372) wie Berichten, Schildern, Beschreiben als Varianten mündlicher Sprachproduktion neben der Diskursform Erzählen (bei Ehlich Erzählen 2 ) verwendet, nicht aber voneinander abgegrenzt werden. Die Indikatoren der Niveaustufe A2 und B1 - die einfache Aufzählung und die lineare Aneinanderreihung - bestätigen die Modellierung des Kontinuums „Gebrauch prototypischer syntaktischer Narreme - Herstellung semantischer Kohärenz“ (Kriterium 1.d) im Analysemodell produktiver Narrativierungsleis‐ tungen (FDM-R). Beide Indikatoren sind im Analysemodell in derselben Rei‐ henfolge notiert wie im GeR und fungieren dort ebenfalls als Zeichen einer Pro‐ gression beim zusammenhängenden Sprechen bzw. Erzählen. In den Beispielskalen der rezeptiven Aktivitäten erscheint das mündliche Erzählen nur in einem Bereich explizit als Element eines Deskriptors. Es ist präsent im Bereich „Hörverstehen allgemein“ in der Niveaustufe B1. Hier wird gefordert: Kann die Hauptpunkte verstehen, wenn in deutlich artikulierter Standardsprache oder über vertraute Dinge gesprochen wird, denen man normalerweise bei der Arbeit, in der Ausbildung oder der Freizeit begegnet; kann auch kurze Erzählungen verstehen.“ (Europarat 2001: 72) Dieser Deskriptor ist für die Analyse der Narrativierungsleistungen aus zwei Gründen von Interesse. Erstens zeigt er mit der Restriktion „wenn in deutlich artikulierter Standardsprache gesprochen wird“ (a. a. O.) eine der Bedingungen an, unter denen ein Verstehen auf der Niveaustufe B1 erwartet wird. Die Analyse der Erzählstunden wird zeigen, dass textunabhängige Faktoren das textuelle Verstehen erheblich beeinflussen und dass unter der Bedingung ‚performativen Sprechens‘ nicht nur standardsprachliche, sondern auch poetische Texte ver‐ standen werden können. Zweitens stellt die Formulierung „Kann die Haupt‐ punkte verstehen“ eine Verbindung zwischen globalem, fremdsprachlichen Ver‐ stehen und prototypisch strukturierten Erzählungen her: „Hauptpunkte“ wie z. B. die äußere Handlung bilden das „prototypische Rückgrat“ (Wolf 2002a: 46) von Erzählungen. Wenn ihnen in der Erzählperformance besondere Beachtung 6.2 Mündliches Erzählen im FU (1): Perspektiven bildungspolitischer Vorgaben 179 <?page no="180"?> 3 Auf die Darstellung des Skalars zum Bereich „Als Zuschauer / Zuhörer im Publikum verstehen“ (Europarat 2001: 72) wird verzichtet, da er gegenüber dem Bereich „Hör‐ verstehen allgemein“ im Hinblick auf das Erzählen keine wesentlich neuen Informati‐ onen bringt - außer der Tatsache, dass das Verstehen „in groben Zügen“ (a. a. O.) auch hier auf dem Niveau B1 angesiedelt ist. geschenkt wird, kann das Globalverstehen auf besondere Weise unterstützt werden 3 . Die im GeR enthaltenen Beschreibungen der kommunikativen Aktivität Spre‐ chen lassen sich erweitern im Rekurs auf die Fachdidaktik. Dazu gehören fol‐ gende von Lütge dargestellten „Formen mündlichen Sprachgebrauchs“ (Lütge 2010b: 293): • das Nachsprechen, z. B. von Reimen, Dialogen u. a. m., • das Rezitieren als eine Form ästhetischer Sprachverwendung, • das Reproduzieren von Satzmustern, • das zusammenhängende Sprechen, z. B. bei der Präsentation einer Fort‐ setzungsgeschichte . Diese Formen des Sprachgebrauchs können zur Analyse der Narrativierungen von Schülerleistungen herangezogen werden, um die Selbstständigkeit der Äu‐ ßerungen oder die Art der Sprachverwendung zu erfassen. Sie werden in die fünfte Dimension des Analysemodells als Beispiele der kommunikativen Akti‐ vität des Sprechens (Kriterium 5.a des FDM-R) integriert (Kap. 6.5). Den Kompetenzbeschreibungen und Beispielskalen sprachlicher Aktivitäten des GeR kann entnommen werden, dass aus der Sicht dieser bildungspolitischen Vorgaben das mündliche Erzählen auf jeder Kompetenzstufe ein wichtiges Ele‐ ment des Fremdsprachenerwerbs darstellt. Ferner ist davon auszugehen, dass das für den mittleren Schulabschluss anvisierte Kompetenzziel (Niveaustufe B1) im Hinblick auf das mündliche Erzählen das Verstehen einfacher Erzählungen und die Produktion unkomplizierter Geschichten in linearer Aneinanderrei‐ hung vorsieht. Die Indikatoren der Beispielskalen von Niveaustufe A nach Ni‐ veaustufe C zeigen, dass die Fähigkeitsprogression vor allem in der Kohärenz‐ bildung und in der Flüssigkeit des Sprechens anzusetzen ist. 6.2.2 Mündliches Erzählen als Bestandteil produktiver und rezeptiver Strategien und der Diskurskompetenz im GeR Für die Analyse der Erzählstunden und die Gestaltung des Analysemodells (FDM-R) sind auch die Bereiche der „Produktionsstrategien“ (Europarat 2001: 68-71) und „Rezeptionsstrategien“ (a. a. O.: 77-78) sowie die „Non-verbale Kom‐ 6 Mündliches Erzählen im FU: die fremdsprachendidaktische Perspektive 180 <?page no="181"?> 4 Auf die Darstellung der „Paralinguistische[n] Mittel“ (Europarat 2001: 91f.) im GeR wird verzichtet, weil die dort aufgeführten prosodischen Zeichen Bestandteil der in meiner Studie ausführlich gestalteten Liste (Kap. 4.3.1) sind und deshalb lediglich als Bestäti‐ gung ihrer korrekten Auflistung dienen könnten. munikation“ 4 (a. a. O.: 91-92) und die „Pragmatische[n] Kompetenzen“ (a. a. O.: 123-126) relevant. Produktionsstrategien Besonders interessant für die Sprachverwendung in den Erzählprojekten sind die neben den Vermeidungsstrategien aufgeführten ‚positiven‘ verbalen „Pro‐ blemlösungsstrategien“ (Europarat 2001: 69) wie • „Annäherungen an das Gemeinte“ (a. a. O.), • „Verwenden häufig gebrauchter, vorgefertigter Wendungen“ (a. a. O.), • „auf vorhandenem Wissen aufbauen“ (a. a. O.) - im Falle der Erzähl‐ stunden auf Gehörtem aufbauen und es gezielt als Formulierungshilfe einsetzen, • Erproben einer „Formulierung, an die man sich nur halb erinnert, von der man aber glaubt, dass sie richtig sein könnte (Ausprobieren)“ (a. a. O.), • „Kontrolle des Erfolgs“ (a. a. O.) durch Mimik und Gestik und • „Selbstkorrektur“ (a. a. O.) sowie die non-verbalen Mittel der Problemlösung (Europarat 2001: 91) wie • „auf etwas zeigen“ (a. a. O.), • „etwas demonstrieren, z. B. in Verbindung mit deiktischen Mitteln.“ (a. a. O.) Die o. g. Produktionsstrategien und non-verbalen Mittel werden als Indikatoren des Kriteriums „kommunikationsstrategische und performative Gestaltung“ (Kriterium 5. a, b) des Analysemodells verwendet und zur Analyse der narra‐ tiven Interaktion in den Erzählstunden (Kap. 9.2.3, 9.3.2) hinzugezogen. Rezeptionsstrategien Die im Referenzrahmen aufgeführten Rezeptionsstrategien sind mit der auf der frame theory aufbauenden Konzeptualisierung des Narrativen als kognitivem Schema kompatibel (Kap. 3.1.1) und lassen sich als Strategien des Inferierens, des Hypothesen Entwickelns, Testens und Revidierens auf mündliche narrative Rezeptionsprozesse übertragen: 6.2 Mündliches Erzählen im FU (1): Perspektiven bildungspolitischer Vorgaben 181 <?page no="182"?> • Planung: framing (mentales Set auswählen, Schemata aktivieren, Erwartungen auf‐ bauen); • Ausführung: Hinweise identifizieren / erschließen; • Kontrolle: Hypothesen testen: Hinweise und Schemata abgleichen; • Reparatur: Hypothesen revidieren. (Europarat 2001: 78) Die Liste der Rezeptionsstrategien lässt sich erweitern im Rekurs auf Beiträge der Fachdidaktik. Dazu gehören: • „Kompensationsstrategien (z. B. intelligentes Raten, Verwenden von Gestik und Mimik)“ (Viebrock 2010: 191), • „selektive Aufmerksamkeit (z. B. sich beim Hörverstehen auf bestimmte Schlüsselbegriffe konzentrieren)“ (a. a. O.), • die Kombination von buttom-up- und top-down-Strategien bei der Infor‐ mationsverarbeitung (Lütge, 2010a: 104), • das Antizipieren sprachlicher Äußerungen (a. a. O.). Mithilfe der genannten Rezeptionsstrategien können die Interviewäußerungen der Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf die Organisation ihres Verste‐ hensprozesses ausgewertet werden (Kap. 10.1.4, 10.2.4). Lerntechniken Wichtige Anregungen zur Interpretation der in den Interviews beschriebenen rezeptiven Narrativierungsleistungen geben die Listen der Fähigkeiten und Fer‐ tigkeiten im Bereich „Lernfähigkeit (savoir apprendre)“ (Europarat 2001: 108-109). Dazu gehören u. a.: • die Fähigkeit, die im Unterricht geschaffenen Lerngelegenheiten effektiv zu nutzen, wie z. B. der dargebotenen Information gegenüber aufmerksam bleiben; […] • die Fähigkeit, aus direkter Beobachtung und Teilnahme an Kommunikationsereig‐ nissen effektiv zu lernen (sowohl linguistisch als auch soziokulturell), indem man per‐ zeptuelle, analytische und heuristische Fähigkeiten ausbildet […]. (a. a. O.: 109) Zur Anwendung heuristischer Fähigkeiten gehört es, […] mit neuen Erfahrungen umzugehen (mit einer neuen Sprache, mit neuen Men‐ schen, neuen Verhaltensweisen) und in einer Lernsituation andere Kompetenzen ein‐ zusetzen (z. B. durch Beobachten, Erfassen der Bedeutung des Beobachteten, analy‐ sieren, Schlüsse ziehen, Memorieren usw.). (a. a. O.) 6 Mündliches Erzählen im FU: die fremdsprachendidaktische Perspektive 182 <?page no="183"?> 5 Das Kriterium „Sprecherwechsel“ fokussiert auf Niveau A2 und B1 auf Alltagsgespräche und fügt den bisher erarbeiteten Kriterien der Analyse narrativer Interaktion keine neuen Informationen hinzu, weshalb auf die Darstellung verzichtet wird. Diskurskompetenz Für die Diskurskompetenz (Europarat 2001: 123-125) stellt der GeR folgende Beispielskalen bereit: • Flexibilität in Bezug auf die Umstände der Kommunikationssituation, • Sprecherwechsel (turntaking) 5 […], • Themenentwicklung, • Kohärenz und Kohäsion. (a. a. O.: 123) Die Deskriptoren des Kriteriums Flexibilität bieten Anregungen für die Analyse von Rekonstruktionsgesprächen. Als Zeichen der Diskursflexibilität auf der Ni‐ veaustufe A2 wird die Fähigkeit angesehen, bereits erworbene Lexik auf neue Situationen anzuwenden und den neuen Umständen anzupassen (a. a. O.: 124). Vor diese Anforderungen sehen sich die Schülerinnen und Schüler der Erzähl‐ stunden gestellt, wenn sie sprachliche Elemente der gehörten Erzählung in un‐ terschiedlichen Situationen verwenden. In Bezug auf das Flexibilitätskriterium ist ein großer Sprung von der Niveaustufe A2 zu B1 zu verzeichnen. Hier wird verlangt: „Kann ein breites Spektrum einfacher sprachlicher Mittel flexibel ein‐ setzen, um viel von dem, was er / sie sagen möchte, auszudrücken.“ (a. a. O. ) Mithilfe dieser Deskriptoren können Unterschiede und Entwicklungen der Nar‐ rativierungsleistungen der Lernenden gezeigt werden. Die Deskriptoren der Themenentwicklung auf der Niveaustufe A2 und B1 (a. a. O.: 125) bieten keine neuen Informationen. Sie sind mit denen der mündli‐ chen Sprachproduktion identisch (a. a. O.: 64-65). Dasselbe gilt für die Kriterien der Kohärenz und Kohäsion auf Niveau B1. Für das Niveau A2 sind sie präziser. Sie führen für das Erzählen von Geschichten das Verbinden von Äußerungen und Wortgruppen durch einfache Konnektoren an (a. a. O.: 125) - d. h. die Mar‐ kierung der Textoberfläche durch narrationstypische Diskursmarker (Kriterium 2.a des FDM-R). Zusammenfassung Die Kompetenzbeschreibungen des GeR zeigen, dass das mündliche Erzählen im Fremdsprachenunterricht vielfältige Funktionen übernimmt. Es stellt eine spezifische Form produktiver kommunikativer Aktivitäten dar, es dient als Input für das Hörverstehen, es schafft Kommunikationsanlässe, es fordert die An‐ wendung von Produktions-, Rezeptions- und Lernstrategien heraus und es er‐ 6.2 Mündliches Erzählen im FU (1): Perspektiven bildungspolitischer Vorgaben 183 <?page no="184"?> 6 s. die Skalen für die linguistische Kompetenz (Europarat 2001: 110-118). Auf die Dar‐ stellung der Beschreibungen linguistischer Kompetenz wird verzichtet, weil diese Kom‐ petenzen keinen Schwerpunkt der empirischen Untersuchung bilden und nur punktuell zur Analyse der Narrativierungsleistungen hinzugezogen werden. möglicht mündliche ästhetische Sprachverwendung. Die Progression von Nar‐ rativierungsleistungen lässt sich festmachen an Diskurskompetenzen wie Flexibilität, Themenentwicklung, Kohärenz und Kohäsion und an sprachlichen Leistungen - den grammatischen, lexikalischen, phonologischen 6 . Die Kompe‐ tenzbeschreibungen und Beispielskalen präzisieren aus fremdsprachendidakti‐ scher Perspektive die in den werkseitigen Dimensionen und den werkexternen Anwendungsfeldern entwickelten Analysekriterien. 6.3 Mündliches Erzählen im Fremdsprachenunterricht (2): mündliches Erzählen als Gegenstand Zur Recherche des Potenzials mündlichen Erzählens als Gegenstand des Unter‐ richts werden zwei auf Unterrichtsentwicklung ausgerichtete fachdidaktische Perspektiven in den Blick genommen. Die erste, dem Storytelling verpflichtete Perspektive, als deren prononcierteste Vertreter Bleyhl und Piepho (Bleyhl 2002b, Piepho 2002) angesehen werden können, fasst das mündliche Erzählen als Unterrichtsprinzip und ist methodisch orientiert. Die zweite, an die Litera‐ turdidaktik angelehnte Perspektive, als deren Vertreter Bredella (2007, 2012b), Hallet (2007), Nünning / Nünning (2007) und Piepho et al. (2007) angeführt werden, ist auf die Weiterentwicklung curricularer und allgemein didaktischer Prinzipien ausgerichtet. 6.3.1 Storytelling als inhaltsbezogenes, ganzheitliches Unterrichtsprinzip Bei dem mit der Einführung des frühen Fremdsprachenlernens bekannt gewor‐ denen und im Fremdsprachenunterricht der Grundschule inzwischen etab‐ lierten Storytelling-Ansatz handelt es sich um ein narratives Unterrichtsprinzip, dessen Eignung für einen grundschulgemäßen Fremdsprachenunterricht mit 6 Mündliches Erzählen im FU: die fremdsprachendidaktische Perspektive 184 <?page no="185"?> 7 Als „unterschiedliche Blickwinkel“ (Bleyhl 2002b: 8), unter denen das mündliche Er‐ zählen im Fremdsprachenunterricht betrachtet werden kann, bezeichnet Bleyhl die anthropologische Ebene, die Ebene des Sprachenlernens, die literarische, die wahrneh‐ mungspsychologische und psycholinguistische und die methodische Ebene sowie die Ebene der wachsenden Sprachkompetenz der erzählenden Lehrkräfte. (Bleyhl 2002b: 8-19) einem mehrperspektivischen, an den Funktionen des Narrativen orientierten Konzept begründet wird (Bleyhl 2002b: 8-19) 7 . Für das Sprachenlernen finden Bleyhl und Piepho in der repräsentierenden und (re-)konstruierenden Funktion des Narrativen fachdidaktisches Potenzial. Das Storytelling-Prinzip garantiere bereits für den Anfangsunterricht inhalts‐ bezogenes Arbeiten. Geschichten bieten den „extensive meaningful compre‐ hensible input“, der die erste Phase des Zweitspracherwerbs kennzeichnen sollte“ (Piepho 2002: 20), und liefern durch den immer vorhandenen Ko- und Kontext Hilfen zur Semantisierung sprachlicher Zeichen: „Immer stützen sich die Inhalte, die Situationen und die Sprachformen gegenseitig.“ (Bleyhl 2002b: 18) Für die methodische Ebene, mit der Bleyhl die lernstrategische Ebene aus der Sicht der Lernenden anspricht, findet er ebenfalls in der repräsentier‐ enden, aber auch in der kommunikativen Funktion des Narrativen und in dessen Medialität fachdidaktisches Potenzial. Das Storytelling-Prinzip stelle hohe An‐ forderungen an Erzählende und ihr Publikum, biete aber gleichzeitig multisen‐ sorielle Hilfestellung (durch paraverbale und kinesische Zeichen), was einen ganzheitlichen Zugang zum Sprachenlernen ermögliche. Die Entwicklung von Strategien zum Verstehen des mündlichen Inputs sieht Bleyhl als eine grund‐ schulgemäße Vorstufe zur später folgenden Erarbeitung schriftlicher Texter‐ schließungsstrategien. Hilfestellung biete auch die interaktive, intersubjektive Kommunikation des Storytelling-Prinzips. Im Zentrum der Argumentation Piephos steht die Möglichkeit, mithilfe des Storytelling ein langsames, nachhaltiges Sprachwachstum (Piepho 2002: 20) der Lernenden zu erreichen. Außerdem biete es für die Zuhörerinnen und Zuhörer die Chance, ihre eigenen rezeptiven und produktiven (Re-)Konstruktionspro‐ zesse individuell zu gestalten. Dies könne aber nur unter Einhaltung der me‐ thodischen Regeln von stories ways geschehen (Piepho 2002: 20-34). Dazu rechnet Piepho vor allem: a. eine intensive Schulung der Hörkompetenz (Piepho 2002: 25), b. sprachliche und handlungsorientierte Hinführung zum Hören und Hör‐ verstehen - ein setting the stage - (a. a. O.: 20), was auch eine mise-en‐ bouche zentraler Begriffe, Reime etc. einschließt, 6.3 Mündliches Erzählen im FU (2): mündliches Erzählen als Gegenstand 185 <?page no="186"?> c. ein abwechslungsreiches, mehrkanaliges, kommunikatives Angebot nar‐ rativer Aktivitäten vor, während und nach dem Hören (a. a. O.: 20-24), d. eine an Ko- und Kontext angebundene Wortschatzarbeit (a. a. O.: 21), e. die Konzentration der Aktivitäten auf „Verstehenskerne“ (a. a. O.: 25) der Geschichte, die von den wesentlichen Handlungselementen der Ge‐ schichte gebildet und in Reimen und Liedern der Geschichte wiederholt werden, f. ein mehrfaches, die Zuhörerinnen und Zuhörer einbeziehendes Erzählen der Geschichte, das ihnen ein Wiedererkennen und Vorausdeuten von Elementen der Geschichte und damit ein „aktives Verstehen“ (a. a. O.: 28) ermöglicht. Den so ‚geregelten‘ Storytelling-Ansatz sehe ich als eine Gelenkstelle zwischen den Perspektiven ‚Erzählen als Medium und Mittel‘ (Kap. 6.2.1 und 6.2.2) und dem ‚Erzählen als Gegenstand‘ (Kap. 6.3) des Fremdsprachenunterrichts. Einer‐ seits setzt er das Erzählen gezielt als Medium zur Entwicklung des Hörverste‐ hens (s. Punkte a und b) ein, andererseits nimmt er die narrative Diskursform in ihrer Komplexität in den Blick und entwickelt daraus Prinzipien der Unter‐ richtsgestaltung, die die Potenziale des Narrativen ausschöpfen. Dies aus fol‐ genden Gründen: • Die Konzentration auf „Verstehenskerne“ (e) nutzt prototypische, werk‐ seitige Potenziale des Narrativen und die Redundanz der poésie orale, • das mehrkanalige, kommunikative Aktivitäten-Angebot (c) nutzt das in‐ termediale Potenzial mündlichen Erzählens, • das mehrfache, die Zuhörerinnen und Zuhörer einbeziehende Erzählen (f) nutzt die kommunikativen und interaktiven Potenziale, • die Verknüpfung des Erzählens mit ko- und kontextgebundener Wort‐ schatzarbeit (d) macht sich die semantische Kohärenz von Erzähltexten zunutze. Der Storytelling-Ansatz liefert bereits für die Grundschule Anregungen für eine mitteilungs-und inhaltsbezogene Sprachverwendung (Kurtz 2010: 85), bei der „die sprachliche, die inhaltliche und die zwischenmenschliche Dimension mündlicher Kommunikation in Einklang gebracht werden.“ (a. a. O.) Er kann damit Impulse zur fachdidaktischen Diskussion über Bedeutung und Funktion des Narrativen für den kommunikativen, kompetenzorientierten Fremdspra‐ chenunterricht setzen. Den unterrichtenden Lehrkräften der Grundschule bietet er Material zur Planung und Durchführung von Erzählstunden im Anfangsun‐ terricht der Grundschule. Für die Erzählprojekte der Lehrkräfte bietet er Anre‐ 6 Mündliches Erzählen im FU: die fremdsprachendidaktische Perspektive 186 <?page no="187"?> 8 Über die genannten allgemeinen Unterrichtsstrategien hinaus bietet das Grundlagen‐ buch zum Fremdsprachenlernen in der Grundschule (Bleyhl 2000) - darin vor allem die Beiträge von Piepho 2000 und Haudeck 2000 - und das Grundlagenbuch zum Storytel‐ ling (Bleyhl 2002a) - darin vor allem die Beiträge von Dines 2002, Phiepho 2002 - An‐ regungen zur unterrichtspraktischen Realisierung. Eine Fülle unterrichtspraktischer Anregungen für den Englischunterricht findet sich auch in dem Standardwerk des Storytelling von Andrew Wright 1995. Weitere Anregungen für den Englischunterricht liefern u. a. Dieckmann 2008, Dieckmann / Büning 2008, Hughes 2008, Hughes / Nie‐ mann 2008, Ertelt 2013. Für den Französischunterricht liefert die Märchenwerkstatt von Néry-Kaiser & Dräger-Spence 2010 Material. 9 Börner und Edelhoff als Herausgeber der posthum erschienen Publikation von Piephos ‚narrativen Dimensionen‘ erläutern im Vorwort die Schwierigkeit der Titelgebung: „Piepho spricht in Teilen des Manuskripts von der ‚narrativen Dimension beim / im Fremdsprachenunterricht‘, benutzt aber auch den unbestimmten Plural ‚narrative Di‐ mensionen‘ und öffnet damit den Deutungsradius; aus diesem Grund haben wir uns für die zweite Option entschieden.“ (Piepho et al. 2007: 4) gungen, eigene, auf die Forschungs- und Unterrichtsziele fokussierte narrative Unterrichtsstrategien zu entwickeln 8 . 6.3.2 Ein narratives Gesamtkonzept im Fremdsprachenunterricht: narrative Dimensionen und narrative Kompetenzen Das Konzept der ‚narrativen Dimensionen‘ und die Modellierung fremdsprach‐ licher narrativer Kompetenzen führt die durch den Storytelling-Ansatz eröffnete (Kap. 6.3.1) Diskussion über den Stellenwert des Narrativen im Fremdsprachen‐ unterricht fort. Unter dem Begriff ‚narrative Dimensionen‘ 9 ist eine schul‐ form- und jahrgangsübergreifende narrative Globalkonzeption zu verstehen. Es ist Piepho selbst, der auf „die Notwendigkeit und Möglichkeit eines narrativen Konzepts und eines entsprechenden Fertigkeitsstrangs“ (Piepho et al. 2007: 8) hinweist und „konkrete Empfehlungen für ein didaktisch umfassend begrün‐ detes Kontinuum“ (a. a. O.) geben möchte, das von der Grundschule bis zum Ende der Sekundarstufe I reicht, denn: Die narrative Dimension des Fremdsprachenlernens verhilft nicht in erster Linie zur Auswahl motivierender Texte und Erzählmuster für den aktuellen Unterricht auf einer bestimmten Stufe, sondern muss zunächst ein Gesamtkonzept der Praxis und des Stellenwerts narrativer Gehalte im Gesamtkonzept des Englischunterrichts liefern. Das ist ein riskantes Unterfangen, weil ein solcher Strang nur einleuchtend ist, wenn er konkret belegt und begründet ist. (Piepho et al. 2007: 6) Piepho fordert hiermit ebenso wie Becker (2013b: 207) eine Etablierung des Er‐ zählens als Aufgabe. Eine konkrete Belegung und Begründung des „Fertig‐ 6.3 Mündliches Erzählen im FU (2): mündliches Erzählen als Gegenstand 187 <?page no="188"?> keitsstrangs“ anhand empirischer Untersuchungen steht zwar noch aus, aber Piephos Auswertungen seiner eigenen Unterrichtsversuche in dritten und vierten Klassen der Grundschule und seine Überlegungen für weitere Schul‐ stufen in seiner letzten, nicht mehr von ihm endredigierten Publikation können als Anregungen für die Modellierung eines narrativen Gesamtkonzepts gelesen werden. Als konzeptuelles Leitziel setzt Piepho die Modellierung stufenspezifi‐ scher, aufeinander aufbauender narrativer Dimensionen, die ihrerseits in ein Gesamtkonzept des Narrativen und des Fremdsprachenlernens eingebunden sind. Als Qualifikationsziele setzt er selbstständige Hörerinnen und Hörer und folgend Leserinnen und Leser sowie Autorinnen und Autoren eigener mündli‐ cher und schriftlicher Erzählungen in der Fremdsprache sowie ein noch zu de‐ finierendes narratives Wissen und Können. Die Gelingensbedingung bestehen für ihn in einem häufigen, kontinuierlichen Erzählen von Lehrenden und Lern‐ enden. In seinem Gesamtkonzept entsprechen narrative Dimensionen einzelnen Kompetenzstufen (der Klassen 3/ 4; 5/ 6; 7/ 8; 9/ 10), die nach folgenden Prinzipien gestaltet sind: Auf der ersten Stufe gilt die Priorität der Entwicklung von Hör‐ kompetenz mithilfe des mündlichen Erzählens, in der Folge werden eine inte‐ grative Kompetenzentwicklung und Anbahnung von Bewusstmachungspro‐ zessen narrativen Potenzials sowie eine Anpassung der Ausgangstexte und des Anspruchsniveaus an die jeweilige Kompetenzstufe angestrebt. Die narrative Dimension in Klasse 3/ 4 könnte nach Piepho et al. (2007: 23-29) durch Storytelling realisiert werden. Ziel dieser Dimension wäre der langsame Aufbau von Hörstrategien und der Abbau der Angst vor Nicht-Verstehen sowie das Anbahnen eigenen Erzählens auf der Stufe des Nachsprechens, Rezitierens, aber auch schon des eigenen Konstruierens. Als Basistexte werden kurze Spon‐ tanerzählungen und Märchen empfohlen. Die Mündlichkeit steht im Vorder‐ grund. Die nächste Dimension in Klasse 5/ 6 (a. a. O.: 29-42) müsste eine langsame Hinführung zur schriftlichen Eigenproduktion umfassen. Bewusstmachungs‐ prozesse im Hinblick auf die „sprachlichen, textstrukturellen und textschema‐ tischen Mittel und skills, die […] zum Erzählen und Schreiben eigener Ge‐ schichten befähigen“ (a. a. O.: 30), sollten angebahnt werden. Als Basistexte werden nunmehr auch Mythen und Fabeln empfohlen. Die folgenden narrativen Dimensionen erfahren kumulative Progression durch komplexere Kompetenz‐ ziele, Input- und Outputtexte sowie umfangreichere Lernszenarien. Die literaturdidaktischen Ansätze von Hallet (2007) und Nünning / Nünning (2007, 2010) und Bredella (2012b) gehen wie der ‚narrative Dimensionen‘-Ansatz von einem Forschungsdesiderat aus. Nünning / Nünning (2010) konstatieren ein Auseinanderklaffen zwischen der Bedeutung des Erzählens als Schlüsselquali‐ fikation und seiner untergeordneten Rolle in „den fachdidaktischen Diskussi‐ 6 Mündliches Erzählen im FU: die fremdsprachendidaktische Perspektive 188 <?page no="189"?> onen um Kompetenzen und den Bildungsstandards“ (2010: 230). Hallet kritisiert den „pragmatischen Bildungsbegriff “ (2007: 31) bildungspolitischer Vorgaben. Er setzt dagegen die Forderung, Literatur, Kognition und literarische Kompetenz in einem Gesamtkonzept miteinander zu verbinden. Für Hallet könnte in Bezug auf das Erzählen ein solches Konzept in einer „systematische[n] generische[n] Schule des Erzählens“ (Hallet 2007: 42) bestehen. Die literaturdidaktischen Ansätze gehen einen anderen Weg als der vom Storytelling inspirierte ‚narrative Dimensionen‘-Ansatz und weisen andere Be‐ gründungsschwerpunkte auf. Bredella (2012b) geht es um die Bestimmung des „Bildungspotenzials“ (2012b: 5) von Geschichten. Was Bredella als Besonderheit schriftlich-literarischer Re‐ zeption ansieht, kann auch für die mündliche Rezeption gelten: Leser können sich auf das Dargestellte in kognitiver und emotionaler Hinsicht ein‐ lassen, weil sie vom Handlungsdruck in der Lebenswelt entlastet sind und das Dar‐ gestellte ohne Furcht vor Sanktionen bewerten können. Geschichten ermöglichen es, sich gefahrlos auf neue Welten einzulassen und in ihnen probeweise zu handeln. (Bredella 2012b: 12) Mit dem Eintauchen in die ‚neuen Welten‘ der Fiktion nutzen Lesende wie Zu‐ hörende die Erlebnisqualität und die Darstellungsqualiltät des Narrativen (Kap. 3.1.1). An diese Qualitäten des Narrativen kann Bredella zur Formulierung der für ihn wesentlichen literarischen Kompetenzen anknüpfen: In der Auseinan‐ dersetzung mit Handlungen, Motiven, Entscheidungen der Figuren können Em‐ pathie-, Kooperations- und Urteilsfähigkeit entwickelt werden (Bredella 2012b: 11-18). Einen anderen Begründungszusammenhang legen Hallet und Nünning / Nünning vor. Für sie geht es vor allem um ein narratives Gesamtkonzept. Dieses wird zum einen mit der kulturellen Bedeutung des Narrativen im Rekurs auf die kulturpsychologischen Perspektiven Bruners und Polkinghornes (Hallet 2007: 43f., Nünning / Nünning 2007: 102f.), zum andern mit der medialen Bedeutung des Narrativen im Rekurs auf die neuen medialen Erzählformen begründet: Gerade in der heutigen Medienkulturgesellschaft kommt der Kenntnis von neuen Er‐ zählformen und der Ausbildung von narrativer Kompetenz eine überragende Bedeu‐ tung zu. Zum einen ist es wichtig, dass Lernende diese neuen Erzählgenres nicht bloß konsumieren, sondern sich rational und kritisch mit ihnen auseinander setzen und ihre Konventionen bzw. ihre ‚Machart‘ durchschauen. Zum andern ist narrative Kom‐ petenz in einer Gesellschaft, in der es von jedem (Medien-)Ereignis (neudeutsch event) eine unüberschaubare Vielzahl von medial inszenierten Geschichten gibt, in‐ 6.3 Mündliches Erzählen im FU (2): mündliches Erzählen als Gegenstand 189 <?page no="190"?> zwischen durchaus zu den Schlüsselkompetenzen zu zählen. (Nünning / Nünning 2007: 103) Beide Ansätze entwickeln Dispositionen und Dimensionen narrativer Kompetenz, die allerdings nicht progressiv modelliert werden. Hallet sieht drei Dispositionen der narrativen Kompetenz: eine generisch-kognitive, eine sprach‐ lich-diskursive und eine kulturelle Disposition (2007: 44). Die drei Dispositionen konkretisiert er für den Fremdsprachenunterricht in den Fähigkeiten, • die wahrgenommene Wirklichkeit kognitiv zu strukturieren und zu re‐ präsentieren, • medial unterschiedlich vermittelte narrative Texte und Diskurse zu ver‐ stehen, • narrative Texte funktional und adressatengerecht zu produzieren, • die an Geschichten beteiligten Prozesse und strukturellen Elemente zu reflektieren und zu kontrollieren. (Hallet 2007: 44) Die Modellierung der narrativen Kompetenz von Nünning / Nünning (2007: 97, 2010: 230) schließt die von Hallet aufgeführten Fähigkeiten ein, enthält jedoch zwei weitere, für meine Studie relevante Dimensionen: die gattungsbezogene und die performative Dimension. Ihr Modell umfasst sechs Dimensionen, denen sie sechs narrative Fähigkeiten zuweisen: 1. Der passiv-rezeptiven Dimension weisen sie die Fähigkeit zu, auch kom‐ plexe Geschichten zu verstehen, 2. der kognitiven Dimension die „Kenntnis der wichtigsten Elemente und Bauformen narrativer Texte und die Fähigkeit, sie benennen zu können“ (a. a. O.), 3. der gattungsbezogenen Dimension die „Kenntnis der wichtigsten narra‐ tiven Genres und die Fähigkeit, sie erkennen und ggf. verwenden zu können“ (a. a. O.), 4. der analytischen Dimension die Fähigkeit zur Analyse auch komplexerer Geschichten, 5. der aktiven, produktionsästhetischen Dimension die Fähigkeit, Ge‐ schichten zu produzieren, 6. der performativen Dimension die „Fähigkeit, auch komplexe Geschichten mündlich erzählen bzw. vortragen zu können.“ (a. a. O.) Zur Kompetenzentwicklung schlagen Nünning / Nünning kognitiv-analytische Verfahren und Formen „schülerzentrierter, kreativer und produktionsorien‐ tierter Arbeit“ (a. a. O.) sowie Bewusstmachungsprozesse von Regeln der Fabel‐ bildung (a. a. O.: 100) vor. Hallets Vorschlag narrativer Kompetenzentwicklung 6 Mündliches Erzählen im FU: die fremdsprachendidaktische Perspektive 190 <?page no="191"?> (2007: 40ff.) stützt sich dagegen auf ein kognitives Modell kreislaufförmiger Narrativierungsleistungen und entwickelt daraus ein in Feedback-Schleifen ver‐ laufendes, didaktisch-methodisches Verfahren. Es geht darum, die bei der re‐ zeptiven Narrativierung ablaufenden Prozesse der Wahrnehmung, Internalisie‐ rung und Externalisierung bewusst zu machen und die Ergebnisse für die produktive Narrativierungsleistung zu nutzen. Dieses Modell stützt einerseits die fremdsprachendidaktische Forderung nach einer integrativen Entwicklung kommunikativer Kompetenzen (Lütge 2010b: 293, Nieweler 2006: 107f., Stork 2010: 66), andererseits stellt es ein Verfahren zur Förderung diskursiver bzw. textueller Kompetenzen, die Hallet als „den Kern des fremdsprachlichen Lernens“ (2010b: 173) bezeichnet, zur Verfügung. Das Potenzial des von Piepho entwickelten ‚narrative-Dimensionen‘-An‐ satzes für den Fremdsprachenunterricht besteht in der Modellierung von pro‐ gressiv aufeinander aufbauenden narrativen Dimensionen und deren Anbin‐ dung an sprachlich-kommunikative Stufenprofile. Das Potenzial des von Hallet und Nünning / Nünning verantworteten literaturdidaktischen Ansatzes besteht in der mehrdimensionalen Konzeptualisierung der narrativen Kompetenz für den Fremdsprachenunterricht. Für meine Studie bietet diese literaturdidaktische Modellierung narrativer Kompetenz die Möglichkeit, das mündliche Erzählen als Performance in einem fremdsprachlichen Kompetenzmodell zu verorten (abschließend in Kap. 13). Es zeigt sich, dass die Entwicklung der mündlich-nar‐ rativen Diskursfähigkeit vor allem in der sechsten, ersten und fünften von Nün‐ ning / Nünning entworfenen Kompetenzdimension relevant ist, aber auch die zweite und dritte Dimension betreffen kann. Sie umfasst demzufolge ein breites Spektrum narrativer Fähigkeiten. 6.4 Mündliches Erzählen im Fremdsprachenunterricht (3): mündliches Erzählen als Aufgabe der Akteure Die narrative Kommunikation wird nunmehr aus der Handlungsperspektive der Akteure des fremdsprachlichen Klassenzimmers gesehen. Dazu werden die Auf‐ gaben der Akteure und die Möglichkeiten der Nutzung des fremdsprachlichen Klassenzimmers zur Realisierung der narrativen Kommunikation dargelegt. 6.4 Mündliches Erzählen im FU (3): mündliches Erzählen als Aufgabe der Akteure 191 <?page no="192"?> 10 Die Weiterbildungsstudierenden übernehmen weitere Aufgaben, die sich aus dem Wei‐ terbildungskontext ergeben. Sie werden im Einleitungskapitel des empirischen Teils der Studie (Kap. 8.1.2) erläutert. 6.4.1 Konzeptionelle und performative Aufgaben sowie Reflexionsaufgaben der Lehrkräfte Als reflektierende Praktikerinnen und Praktiker sind Lehrkräfte, die das münd‐ liche Erzählen im fremdsprachlichen Klassenzimmer erproben, vor drei Arten von Aufgaben gestellt: vor konzeptionelle und performative Aufgaben und vor Reflexionsaufgaben 10 . Zu den konzeptionellen Aufgaben gehören: • fachdidaktische Überlegungen im Hinblick auf die zu fördernden fremd‐ sprachlichen Kompetenzen, • die Textauswahl und die Textbearbeitung, • die Inszenierung der Erzählperformance und • die Konstruktion eines Stundendesign mit dem Ziel, die narrativen Po‐ tenziale der Erzählung und die performativen ihrer Präsentation für die fremdsprachliche Kommunikation mit und unter den Lernenden zu nutzen. Zu den performativen Aufgaben gehören in der Planungsphase das Memorieren und Üben des mündlichen Vortrags, in der Durchführungsphase deren Reali‐ sierung. Zu den Reflexionsaufgaben gehören: • Eigenbeobachtungen der ‚performativen Arbeit‘ bei der Realisierung der Erzählperformance und Überlegungen zur Weiterentwicklung der Insze‐ nierungs- und Performancestrategien, • Eigenbeobachtungen der narrativen Interaktion und der Narrativierungs‐ leistungen der Lernenden während der Erzählstunden, • auf der Basis der Eigenbeobachtungen Überlegungen zur Eignung der ausgewählten Erzählungen, Aufgaben und Lehr- / Lernarrangements im Hinblick auf die gesetzten Ziele, • Überlegungen zu den Potenzialen mündlichen Erzählens für den Fremd‐ sprachenunterricht der Lerngruppe und den Möglichkeiten, die ‚narrative Arbeit‘ fortzusetzen. Das fachdidaktische und unterrichtspraktische Potenzial dieser Aufgaben be‐ ruht auf den ‚Zugzwängen‘ des Gebrauchs der narrativen Diskursform als Er‐ zählperformance. Die Lehrkräfte als Erzählende einer Performance sind ‚ge‐ zwungen‘, die werkseitigen Elemente des Narrativen für die Performance und 6 Mündliches Erzählen im FU: die fremdsprachendidaktische Perspektive 192 <?page no="193"?> die Performance für die fremdsprachliche Kommunikation zu nutzen. Sie sind auch ‚gezwungen‘, narrative Jobs zu übernehmen. Gleichzeitig sehen sie sich vor die Aufgabe gestellt, die unterrichtliche Realisierung adressatengerecht und effektiv für das Fremdsprachenlernen zu planen und zu bewerkstelligen. Sie sind auch ‚gezwungen‘, pädagogische Jobs zu übernehmen und sie mit den narrativen und performativen Aufgaben zusammenzubringen. Die konzeptionellen und performativen Aufgaben werden in die Entwicklung von Kriterien zur Analyse der Unterrichtsdesigns (Kap. 6.5, Kap. 9.2.1 und 9.3.1) einbezogen. 6.4.2 Gemeinsame Aufgaben der Akteure: die Nutzung des fremdsprachlichen Klassenzimmers zur Realisierung des mündlichen Erzählens Erzählen als Performance bietet Chancen für eine vielfältige kommunikative Nutzung des fremdsprachlichen Klassenzimmers. Es nutzt die Faktoren Raum, Zeit und die ko-präsenten Akteure des Klassenzimmers zur Realisierung unter‐ schiedlicher Sphären, Diskurse, Interaktions- und Kooperationsformen. Diese Nutzungsmöglichkeiten werden anhand einer schematischen Darstellung nar‐ rativ-performativer Kommunikation (Abb. 7) in der institutionellen Sphäre des Klassenzimmers gezeigt. Zur Repräsentation des Konstrukts werden das „Mo‐ dell mündlich-fiktionalen Erzählens als Performance“ (Kap. 4.2.2, Abb. 4) und das Modell „Narrative Jobs in einer narrativen Diskurseinheit im Fremdspra‐ chenunterricht“ (Kap. 3.2.2, Abb.2) zusammengeführt und auf die Klassenzim‐ mersituation angewandt. Das so entstandene Modell veranschaulicht das Zu‐ sammenwirken von bereits erläuterten Komponenten der narrativen und performativen Dimension (Kap. 3, 4) und die Möglichkeiten einer fremdspra‐ chendidaktischen Verwendung wie folgt: 6.4 Mündliches Erzählen im FU (3): mündliches Erzählen als Aufgabe der Akteure 193 <?page no="194"?> Abb. 7: Kommunikationsmodell mündlich-fiktionalen Erzählens als Performance im fremdsprachlichen Klassenzimmer 6 Mündliches Erzählen im FU: die fremdsprachendidaktische Perspektive 194 <?page no="195"?> Das Zentrum der Grafik bildet das Schema der narrativen Kommunikation. Es repräsentiert die von den Akteuren des Unterrichts gemeinsam erlebte Erzähl‐ performance und die gemeinsam hervorgebrachte (Re-)Konstruktion der Er‐ zählung. Es zeigt die narrative Kommunikation als Teil der unterrichtlichen Sphäre und weist ihr gleichzeitig einen eigenen, einen zu bildenden performa‐ tiven Raum zu. Damit dieser entstehen kann, müssen die Akteure des Unter‐ richts in diesen Raum hineingehen, die dort vorgesehenen Jobs übernehmen und die performative Verwandlung (Kap. 4.4.1) auslösen. Die Rahmung des Schemas der narrativen Kommunikation durch das Schema einer narrativen Diskurseinheit bringt den Faktor Zeit ins Spiel (Kap. 4.4.1). Während einer Erzählperformance bilden die drei unterschiedlichen zeitlichen Ebenen, die real ablaufende, die erzählte Zeit der Figuren und die Erzählzeit (Kap. 4.4.1), eine eigene, performativ gestaltete Zeit innerhalb des Unterrichts‐ geschehens, in die die Erzählenden ihr Publikum hinein und aus der sie es auch wieder hinausführen (Kap. 3.2.1). Die Klassenzimmersituation hat den Vorteil, dass die Rollen von Erzählenden und Zuhörenden getauscht werden können. Auch die Lernenden können in den Phasen der Rekonstruktion der Erzählung selbst zu Erzählenden werden, per‐ formative Räume eröffnen und narrative Diskurse gestalten. Der Rollenwechsel eröffnet Möglichkeiten, die narrative Interaktion aus unterschiedlichen Per‐ spektiven zu erfahren und dabei unterschiedliche Formen der Kooperation zu erproben. Die konkrete Nutzung der Potenziale dieser Kommunikation in den Erzählstunden ist Gegenstand der empirischen Untersuchung (Kap. 11.2.7). 6.5 Analysekriterien der Unterrichtsdesigns und Teil 2 des FDM-R Aus den erörterten fachdidaktischen Perspektiven werden nunmehr die Krite‐ rien zur Analyse der Unterrichtsdesigns der Erzählstunden und der fünften Di‐ mension des Analysemodells produktiver Narrativierungsleistungen (FDM-R) entwickelt. Analysekriterien der Unterrichtsdesigns Kriterien der Analyse der Unterrichtsdesigns sind: 1. Interessenschwerpunkte bzw. Aktionsforschungsfragen der Lehrenden, 2. Umsetzung der Interessenschwerpunkte in Unterrichtsziele, 3. Textauswahl und Textadaption für das Erzählen vor Publikum, 4. Formen der Sequenzierung der Erzählstunde, 6.5 Analysekriterien der Unterrichtsdesigns und Teil 2 des FDM-R 195 <?page no="196"?> 11 Die Bezeichnung ‚narrative Aufgaben‘ stellt einen vorläufigen Begriff dar, den ich in der Auswertung der Ergebnisse der empirischen Analyse erläutern und mit Beispielen belegen werde (11.2.4). Narrative Aufgaben im fachdidaktischen Kontext bedeuten Auf‐ gabenformate zur Vor- oder Nachbereitung und / oder zur Vertiefung der Erzählper‐ formance bzw. zur Durchführung der Rekonstruktion der Erzählung. Sie sind zu un‐ terscheiden vom Begriff der ‚narrativen Jobs‘, d. h. der narrativen Arbeit während der narrativen Diskurseinheit. 12 Möglich wäre auch eine im Lexikon der Fremdsprachendidaktik (Surkamp 2010) vor‐ geschlagene Klassifizierung von Funktionen, die den mündlichen Kompetenzen bei ihrem Einsatz zukommen sollen. Für das Hörverstehen wird dort unterschieden zwi‐ schen „Funktionen der Informationsaufnahme, der Pflege sozialer Beziehungen, dem Kennenlernen von Meinungen, der Wahrnehmung von Sprachmodellen und dem Ge‐ nießen der Sprache“ (Lütge 2010a: 105). Für das Sprechen wird neben der Unterschei‐ dung von Formen mündlicher Äußerungen wie dem Nachsprechen und Rezitieren (Lütge 2010b: 293) auch getrennt zwischen textgebundenem und textunabhängigem Sprechen (a. a. O.) und zwischen mitteilungsbezogenem und sprachformbezogenem Sprechen (Kurtz 2010: 85). Einige dieser Kategorien wie z. B. das textunabhängige Spre‐ chen werden für die Auswertung der Analyseergebnisse herangezogen (Kap. 9.3.3.5). 5. Art der narrativen Aufgaben 11 , 6. vorgesehenes Lehr / Lernarrangement. Kriterien zur Analyse der narrativen Aufgaben Als Kriterien zur Beschreibung narrativer Aufgaben verwende ich einige im GeR für den Bildungsbereich genannte Komponenten kommunikativer Aufgaben (Europarat 2001: 59-62). Dazu gehören: • die Ziele und Funktionen der Aufgaben, • der Input, • die kommunikativen Aktivitäten, Kommunikationsformen und Präsen‐ tationen, • der Schwierigkeitsgrad. (a. a. O.: 60f.) Zur Unterscheidung narrativer Aufgabenarten verwende die im GeR (Europarat 2001: 153-155) und von der Literaturdidaktik (Hallet2010b: 175-176) angeführten Kriterien 12 . Mithilfe dieser Kriterien lassen sich die Aufgabenarten einteilen in: • didaktische Textaufgaben, denen ein übender oder evaluierender Cha‐ rakter, • präkommunikative Aufgaben, denen eine auf die authentische Kommu‐ nikation vorbereitende Funktion zugeschrieben wird, • und in kommunikative Aufgaben, bei denen der Basistext „einem be‐ stimmten kommunikativ-diskursiven Kontext zugehört“ (Hallet 2010b: 176). 6 Mündliches Erzählen im FU: die fremdsprachendidaktische Perspektive 196 <?page no="197"?> a. - b. - - - Weitere Kriterien der Aufgabenanalyse ergeben sich aus dem narrativen Cha‐ rakter der Aufgaben. Dazu gehören die Medialität der geforderten Narrativie‐ rung und die Diskursarten, die zur Bewältigung der Aufgabe eingesetzt werden sollen. Kriterien zur Analyse der Lehr- / Lernformen Die Kriterien zur Analyse der Lehr- / Lernformen beziehen sich auf die Kon‐ zeption der Rekonstruktion der Erzählung. Dazu gehören: • die Formen der Kooperation, • die Formen der Gespräche (z. B. narrative Gespräche, narrative Diskur‐ seinheiten), • die anvisierten Formen der Präsentation der Narrativierungsergebnisse der Lernenden (z. B. als Vortrag, als Lesung). Ergänzungen des Fünf-Dimensionen-Modells (Teil 2) Das Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse produktiver Narrativierungsleis‐ tungen (FDM-R, Kap. 5.5) ergänze ich durch die im Kapitel „Mündliches Erzählen als Medium und als Mittel der Kommunikation“ (Kap. 6.2) gewonnenen Formen, Merkmale und Strategien kommunikativer Aktivitäten und verbinde sie mit be‐ reits erarbeiteten performativen Gestaltungsstrategien (Kap. 4.3.4). Aus dieser Verbindung entsteht die fünfte Dimension des Modells (Tab. 9): 5. kommunikative Aktivitäten, kommunikationsstrategische und performa‐ tive Gestaltung kommunikative Aktivitäten: Welche Formen mündlicher Äußerungen werden verwendet (z. B. Nachsprechen, Rezitieren, Reproduzieren von Satzmustern, zusammenhängendes Sprechen)? Welche Formen des Architerms Erzählen werden verwendet (z. B. Berichten, Be‐ schreiben, Schildern, Erzählen)? Kommunikations- und Problemlösungsstrategien: Welche verbalen und non-verbalen Kommunikations- und Problemlösestrategien werden eingesetzt? Kontinuum bei spontanem Sprechen: Die SuS bitten mimisch-gestisch / durch Sprechpausen / verbal um Formulierungs‐ hilfe. Die SuS versuchen ihre Beiträge ohne Hilfe zu gestalten: 6.5 Analysekriterien der Unterrichtsdesigns und Teil 2 des FDM-R 197 <?page no="198"?> - - - - c. - - - - - - - - - Sie versuchen (lautliche) Annäherungen an das Gemeinte, wobei sie auf Gehörtem aufbauen. Sie probieren narrative Formulierungen durch ‚intelligentes Raten‘ aus, wobei sie auf vorhandenem lexikalischem Wissen aufbauen. Kontinuum bei vorbereitetem Vortrag: Die SuS lesen den Vortrag vom Textblatt ab. Sie schauen ab und zu auf ihr Textblatt bzw. ihre Notizen. Sie sprechen frei. Bei ‚Aussetzern‘ bitten sie verbal / non-verbal um Hilfe / setzen sie sprachersetzende Zeichen wie ‚etwas demonstrieren‘ / ‚auf etwas zeigen‘ ein. performative Strategien: Welche gestischen und paralinguistischen Zeichen werden zur performativen Ge‐ staltung eingesetzt (s. die Zeichenübersicht in Anhang 2 und Kap. 4.3.4.)? Kontinuum bei spontanem Sprechen: Die SuS setzen sprachersetzende Zeichen ein (z. B. etwas demonstrieren, auf etwas zeigen). Sie setzen Gegenstände, Zeichnungen zur Illustration ihrer verbalen Beiträge ein. Sie gebrauchen illustrierende, interaktive Gestik zur Veranschaulichung ihrer Bei‐ träge. Sie setzen prosodische Zeichen zur Gestaltung von Figurenrede ein. Sie gebrauchen mimische Zeichen zur Verdeutlichung von Gefühlen und Stim‐ mungen der Figuren. Kontinuum bei vorbereitetem Vortrag: Die SuS sprechen ihre Redeanteile stockend / monoton Sie artikulieren deutlich - z. B. durch Akzentuierung, Tonhöhe, Pausen. Sie illustrieren / veranschaulichen ihre Rede durch gestische und mimische Zei‐ chen. Tab. 9: Das Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse produktiver Narrativierungsleis‐ tungen in Rekonstruktionsgesprächen (FDM-R, Teil 2) 6 Mündliches Erzählen im FU: die fremdsprachendidaktische Perspektive 198 <?page no="199"?> 6.6 Zusammenfassung: das fremdsprachendidaktische Potenzial mündlichen Erzählens Die Ergebnisse der Recherche des fremdsprachendidaktischen Potenzials (Kap. 6.1-6.5) lassen sich wie die anderen Potenziale (Kap. 3.7, 4.6, 5.6) zwei Aspekten (A) und (B) zuordnen. A: Der fremdsprachendidaktische Gebrauch des Narrativen 1) Die Realisierung von Funktionen des Narrativen in zwei Gebrauchsformen des mündlichen Erzählens (Kap. 6.1, 6.2) Beide Gebrauchsformen mündlichen Erzählens im Fremdsprachenunterricht nutzen die funktionalen Potenziale des Narrativen. Ist das Erzählen Mittel und Medium der Kommunikation, werden die kommunikativen und sozialen Funk‐ tionen des Narrativen genutzt, denn das mündliche Erzählen stellt sprachliches Material für das mitteilungs- und inhaltsbezogene Sprechen zur Verfügung. Ist das mündliche Erzählen Gegenstand des Unterrichts, werden die repräsentie‐ renden und (re-)konstruierenden Funktionen des Narrativen realisiert, denn die Erzählung als Gegenstand der Kommunikation hält für die Rezipierenden Kon‐ struktionen von Fiktivem in kohärenter Form bereit und regt sie zur Konstruk‐ tion eigener fiktionaler Erzählungen an. Hier stellt das mündliche Erzählen Ma‐ terial für das textgebundene Sprechen zur Verfügung. 2) Brückenschläge in die werkseitigen Potenziale des Narrativen und Performativen und in andere Anwendungsdimensionen (Kap. 3, 4, 5, 6) Der fachdidaktische Brückenschlag in die werkseitige Dimension des Narra‐ tiven liefert dem Fremdsprachenunterricht reichen sprachlichen Input und An‐ haltspunkte, narrative Kompetenzziele zu formulieren und den langfristigen Kompetenzaufbau zu planen - z. B. im Hinblick auf den Erwerb narrativen Wis‐ sens und Könnens. Der Brückenschlag in die performative Dimension stellt ihm Gestaltungsmittel für die ästhetische Sprachverwendung und die Inszenierung von Erzählperformances zur Verfügung. Der Brückenschlag in andere werkex‐ terne Anwendungsfelder bietet Anregungen, kulturelle erzähldidaktische und ästhetische Gebrauchsformen des Narrativen für den Fremdsprachenunterricht nutzbar zu machen. 6.6 Zusammenfassung: das fremdsprachendidaktische Potenzial mündlichen Erzählens 199 <?page no="200"?> B: Formen des fremdsprachendidaktischen Gebrauchs des Narrativen 3) Mündliches Erzählen als Mittel zur Realisierung mündlicher Kompetenzen und fähigkeitsbezogener Strategien (Kap. 6.2) Als Medium fremdsprachlicher Kommunikation stellt das mündliche Erzählen dem Fremdsprachenunterricht neben anderen Diskursformen ein zentrales Mittel zur Realisierung der mündlichen Kompetenzen des Hörverstehens und Sprechens sowie der entsprechenden fähigkeitsbezogenen Strategien zur Ver‐ fügung. In dieser Funktion kann das mündliche Erzählen in den Standards bil‐ dungspolitischer Vorgaben als Indikator für unterschiedliche Niveaustufen mündlich-kommunikativer Aktivitäten genutzt und zur Auflistung von Pro‐ duktions- und Rezeptionsstrategien wie die des Inferierens, des Hypothesen Bildens und Testens herangezogen werden. 4) Mündliches Erzählen als Unterrichtsprinzip (Kap. 6.3.1) Für den Fremdsprachenunterricht der Grundschule liefert ein nach den Prinzi‐ pien des Storytelling-Ansatzes durchgeführtes mündliches Erzählen den für die erste Phase des Fremdsprachenerwerbs wichtigen „extensive meaningful com‐ prehensible input“ (Kap. 6.3.1) und den Rahmen für die sprachliche Interaktion. Auf dieser Basis kann das Storytelling als handlungsorientiertes Unterrichts‐ prinzip den narrativen Kompetenzerwerb aufbauen und eine Fülle von Anre‐ gungen zur narrativen Unterrichtsgestaltung wie z. B. abwechslungsreiche, mehrkanalige und kommunikative narrative Aktivitäten bereit halten. Auch für die folgenden Jahrgangsstufen kann fachdidaktisches Potenzial aus dem Ge‐ brauch des Narrativen als Unterrichtsprinzip gezogen werden. Es lässt sich nutzen zur Gestaltung handlungsorientierter Lehr- / Lernarrangements, zur Konstruktion ‚narrativer Aufgaben‘ und zur Durchführung ‚narrativer Ge‐ spräche‘. 5) Mündliches Erzählen als Teil eines narrativen Gesamtkonzepts (Kap. 6.3.2) Für den Fremdsprachenunterricht der Grundschule und der Sekundarstufe stellt das mündliche Erzählen Potenziale für eine integrative Entwicklung komplexer narrativer Fähigkeiten zur Verfügung. Der ‚narrative Dimensionen‘-Ansatz stellt dafür ein curriculares Konzept bereit, bei dem die Fähigkeit des Erzählens in progressiv aufeinander aufbauenden narrativen Etappen entwickelt wird. Das mündliche Erzählen stellt dabei den curricularen Ausgangspunkt dar und wird nach und nach mit anderen narrativen Fähigkeiten verbunden. Die Literaturdi‐ daktik entwirft dagegen ein erzähltheoretisch basiertes, in sechs Dimensionen 6 Mündliches Erzählen im FU: die fremdsprachendidaktische Perspektive 200 <?page no="201"?> gegliedertes Modell narrativer Kompetenzen. Das mündliche Erzählen ist vor‐ nehmlich an der Entwicklung von Kompetenzen der performativen, der passiv-rezeptionsästhetischen und der aktiv-produktionsästhetischen Dimen‐ sion beteiligt, kann aber auch Potenzial für die drei weiteren - die kognitive, gattungsbezogene und analytische - Dimension liefern. Die auf ein narratives Gesamtkonzept ausgerichteten Modelle zur Entwicklung narrativer Kompe‐ tenzen verknüpfen die beiden Gebrauchsformen des Erzählens - das Erzählen als Medium und als Gegenstand des Unterrichts - und erreichen auf diese Art und Weise, dass der Komplexität des Narrativen im Fremdsprachenunterricht Rechnung getragen und dessen Potenzial ausgeschöpft werden kann. 6) Die fachdidaktische Nutzung der werkseitigen und werkexternen Potenziale durch die Akteure des fremdsprachlichen Klassenzimmers (Kap. 6.4) Die Potenziale mündlichen Erzählens als Performance können von Lehrenden und Lernenden durch Übernahme von narrativen, performativen und pädago‐ gischen Jobs, durch die Anwendung der werkseitigen und werkexternen Po‐ tenziale zu fremdsprachendidaktischen Zwecken und durch die gemeinsame Nutzung der Möglichkeiten des fremdsprachlichen Klassenzimmers ausge‐ schöpft werden. Dabei wird das fremdsprachliche Klassenzimmer für unter‐ schiedliche Formen der Kommunikation genutzt - z. B. für den narrativen Dis‐ kurs ebenso wie für den Klassenzimmerdiskurs, für inszenierte Performances wie für die spontane, von den Lehrkräften unterstützte (Re-)Konstruktion der Erzählung, für die Bearbeitung narrativer Aufgaben, für unterschiedliche Inter‐ aktionsformen und für einen Rollentausch zwischen Erzählenden und Pub‐ likum. 6.6 Zusammenfassung: das fremdsprachendidaktische Potenzial mündlichen Erzählens 201 <?page no="202"?> 7 Zwischenfazit: Strukturierung der recherchierten Potenziale mündlichen Erzählens als Performance und der Analyseinstrumente In diesem Kapitel werden die Forschungsergebnisse des konzeptionellen Teils der Studie in einem Zwischenfazit zusammengefasst. In einem ersten Schritt wird der Weg zur Erforschung der Potenziale mündlichen Erzählens als Perfor‐ mance resümiert und ein Überblick über die recherchierten Potenziale gegeben. In einem zweiten Schritt werden die recherchierten Potenziale in ein vierdi‐ mensionales Potenziale-Modell (PM) überführt. Mithilfe dieses Modells wird die Erzählperformance als fachdidaktische Kategorie entwickelt. In einem dritten Schritt werden die in theoretischer Forschungsarbeit ermittelten Dimensionen und Analyseinstrumente zusammengeführt. Die Strukturierung der Analyse‐ modelle (FDM-P und FDM-R) und deren Funktion für den empirischen Teil der Studie werden erläutert. Der Forschungsweg und das Referenzsystem Die Erkundung der Potenziale mündlichen Erzählens wurde in vier Dimensi‐ onen des Forschungsgegenstandes durchgeführt: in der Dimension des Narra‐ tiven (Kap. 3), des Performativen (Kap. 4), der gesellschaftlich-kulturellen, er‐ zähldidaktischen und ästhetischen Praxis (Kap. 5) sowie der fachdidaktischen Perspektive (Kap. 6). Zur Durchführung der Recherche in den vier Dimensionen wurde mithilfe interdisziplinärer Forschungsarbeit ein Referenzsystem erstellt. Es besteht im Wesentlichen aus: • den Konstruktionsprinzipien des intermedialen Erzählmodells (Wolff 2002a, 2002b), • dem Konzept des Performativen als Aufführung (Fischer-Lichte 2004, 2005a-e, 2007, 2009 s. Kap. 4.1) und den Mitteln performativer Bedeu‐ tungserzeugung (Fischer-Lichte 2007 s. Kap. 4.3), • dem Drei-Dimensionen-Modell zur Analyse produktiver Narrativie‐ rungsleistungen (Quasthoff 2012, Stude 2013 s. Kap. 5.3.1) und den in einem Kontinuum gefassten Narrativierungsleistungen (Becker / Wieler 2013b s. Kap. 5.3.2), <?page no="203"?> 1 Die Potenziale-Listen inkl. der Kommentare sind am Ende eines jeden Kapitels doku‐ mentiert (s. Kap. 3.5, 4.6, 5.5 und 6.6). • den Kompetenzbeschreibungen des Gemeinsamen Europäischen Refe‐ renzrahmens für Sprachen (Europarat 2001 s. Kap. 6. 2) und dem ‚narrative Dimensionen‘-Ansatz (Piepho 2007 et al. s. Kap. 6.3). Die recherchierten Potenziale jeder Dimension wurden in Potenziale-Listen 1 erfasst und kommentiert. Jede Liste subsummiert die Potenziale unter zwei As‐ pekten (A und B). Aspekt A erfasst die Potenziale, die sich aus den Konstituenten und Merkmalen der Dimension ergeben, Aspekt B die konkreten Vermittlungs‐ formen wie z. B. das Märchen als Prototyp des Narrativen. Die recherchierten Potenziale Zu den recherchierten Potenzialen gehören u. a.: 1. in der Dimension des Narrativen unter dem Aspekt A die Graduierbarkeit, der Prototyp, das Transmediale des Narrativen, unter dem Aspekt B das interaktive Potenzial narrativer Diskurse, die Erzählwürdigkeit von Er‐ zählungen, die fiktionalen Varianten der narrativen Diskursform, reprä‐ sentiert in Genres wie dem Märchen, die Medialität der direkten Münd‐ lichkeit, die konzeptionelle Mündlichkeit, 2. in der Dimension des Performativen unter dem Aspekt A das Ereignis‐ hafte und Experimentelle der Aufführung, die Nähe zum Theater und das Prinzip der Verwandlung, die Bedeutungserzeugung durch verbale und non-verbale Zeichen in der Aufführung, unter dem Aspekt B die Potenzi‐ ale konkreter Inszenierungsformen von Performances, 3. in der Dimension der gesellschaftlich-kulturellen, erzähldidaktischen und ästhetischen Praxis unter dem Aspekt A die Realisierung von Funktionen des Narrativen, unter dem Aspekt B das soziale, kommunikative und kul‐ turpsychologische Potenzial kultureller Teilhabe, das konstruierende, so‐ ziale und interaktive Potenzial narrativer Leistungen, das konstruierende, kommunikative und unterhaltende Potenzial von Kreativität und Poesie, 4. in der fachdidaktischen Dimension unter dem Aspekt A die Realisierung von Funktionen des Narrativen in zwei Gebrauchsformen der Zielsprache - als Medium und als Gegenstand des Unterrichts -, unter dem Aspekt B das mündliche Erzählen als Mittel zur Realisierung mündlicher Kompe‐ tenzen und fähigkeitsbezogener Strategien und das mündliche Erzählen als Unterrichtsprinzip und als Teil eines narrativen Gesamtkonzepts. 7 Zwischenfazit: Strukturierung der Potenziale und Analyseinstrumente 203 <?page no="204"?> Das Potenziale-Modell Auf der Basis des Referenzsystems werden die recherchierten Potenziale nun‐ mehr in ein mehrdimensionales Potenziale-Modell (PM) überführt. Das Modell übernimmt zwei Funktionen. Es dient zum einen der Klassifizierung der Po‐ tenziale und verdeutlicht in dieser Funktion Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Zusammenhänge zwischen den Potenzialen. Es dient zum andern als Refe‐ renzsystem für die empirische Untersuchung, in der die Möglichkeiten der Nut‐ zung dieser Potenziale im Fremdsprachenunterricht erforscht werden. Das Mo‐ dell ist wie folgt strukturiert: • Die vier Dimensionen des mündlichen Erzählens als Performance bilden die vier Komponenten des Modells. Die ersten beiden Dimensionen ent‐ halten die werkseitigen Potenziale, die beiden anderen die werkexternen Anwendungs-Potenziale. • Die Potenziale der beiden werkseitigen Dimensionen stellen die potenzi‐ algenerierenden Kernelemente des Modells dar. Sie sind durch das Merkmal der direkten Mündlichkeit miteinander verbunden und liefern sich gegenseitig Potenzial zur Realisierung von Erzählperformances. Die narrative Dimension stellt u. a. strukturelles, (inter-) mediales und pro‐ totypisches Erzählpotenzial, die performative Dimension ästhetisches und pädagogisches Gestaltungspotenzial zur Realisierung des Narrativen bereit. Beide Komponenten sind in zwei Dimensionen-Ebenen gegliedert, die den Aspekten A und B der Potenziale-Listen entsprechen. • Die beiden werkexternen Dimensionen sind durch ihre Anwendungs‐ funktion miteinander verbunden. Beide Felder können sich gegenseitig Anwendungspotenziale zur Verfügung stellen. So können sich erzähl- und fremdsprachendidaktische Praxis Anregungen zum ressourcendi‐ daktischen und zum poetisch-kreativen Gebrauch des mündlichen Er‐ zählens liefern. Die beiden werkseitigen Dimensionen stellen den werkexternen Dimensionen Potenzial zur Gestaltung narrativ-performativer Kommunikation bereit, die werkexternen Dimensionen stellen Potenzial zur Realisierung der Funktionen des Narrativen und Performativen zur Verfügung. Die Gestaltungsprinzipien des Modells veranschaulicht die folgende Grafik: 7 Zwischenfazit: Strukturierung der Potenziale und Analyseinstrumente 204 <?page no="205"?> Abb. 8: Struktur des Potenziale-Modells (PM) Die Grafik macht auf ein weiteres Ergebnis der theoretischen Arbeit auf‐ merksam. Sie zeigt, dass sich aus dem Zusammenwirken der vier Dimensionen eine narrative und gleichzeitig performative Vermittlungsform ergibt - die Er‐ zählperformance. Auf der Basis des Modells kann die Erzählperformance als fachdidaktische Kategorie gefasst werden. Wie das Modell verdeutlicht, handelt es sich um eine Vermittlungsform, die das Narrative mit dem Performativen verbindet und deshalb bei ihrer Realisierung sowohl narrative als auch perfor‐ mative Potenziale ausschöpfen kann. Sie kann - auch das zeigt das Modell - Potenziale anderer Anwendungsfelder zu ihrer Realisierung nutzen. Die Instrumente zur Analyse von Performances und von Narrativierungsleistungen Die Instrumente zur Analyse von Performances und von Narrativierungsleis‐ tungen wurden im konzeptionellen Teil der Studie fortlaufend - zunächst als Teil 1, dann als Teil 2 von Analysemodellen - erarbeitet, in Listen festgehalten und fünf unterschiedlichen Dimensionen zugeteilt, die ebenfalls fortlaufend erarbeitet wurden (Kap. 3.6, 4.5, 5.5, 6.5). Die so entstandenen Fünf-Dimensi‐ 7 Zwischenfazit: Strukturierung der Potenziale und Analyseinstrumente 205 <?page no="206"?> onen-Modelle (FDM-P, FDM-R) übernehmen wie das Potenziale-Modell (PM) zwei Funktionen: Sie dienen zum einen der Klassifizierung der in Theoriearbeit gewonnenen Analysekriterien, zum andern als Leitfaden zur Analyse konkreter Realisierungen der narrativen Aktivitäten der Erzählstunden. Struktur des Modells zur Analyse von Erzählperformances im Fremdsprachenunterricht Die folgende Grafik (Abb. 9) veranschaulicht die Struktur des Fünf-Dimensi‐ onen-Modells zur Analyse von Erzählperformances im Fremdsprachenunter‐ richt: Abb. 9: Struktur des Fünf-Dimensionen-Modells zur Analyse von Erzählperformances im Fremdsprachenunterricht (FDM-P) Das Modell ist wie folgt strukturiert: • Die erste und die dritte Dimension repräsentieren die in der Erzählper‐ formance zum Einsatz kommenden verbalen Erzählungen. Die erste steht für diejenige Erzählung, die die Erzählenden als (Text-)Vorlage für die Erzählperformance entwerfen und die sie im Verlauf der Performance zu einem Erzähldiskurs gestalten. Für den tatsächlich realisierten Erzähldis‐ kurs steht die dritte Dimension. Die zweite Dimension repräsentiert die 7 Zwischenfazit: Strukturierung der Potenziale und Analyseinstrumente 206 <?page no="207"?> 2 Zum besseren Überblick über alle Kriterien und Leitfragen von Teil 1 (Kap. 3.6) und Teil 2 (Kap. 4.4) des „Fünf-Dimensionen-Modells zur Analyse von Erzählperformances (FDM-P)“ werden sie zu einer Gesamtübersicht zusammengeführt und im Anhang do‐ kumentiert (Anhang 3). narrativen und genrespezifischen Markierungen der Textoberfläche, die in den beiden Erzählfassungen unterschiedlich ausfallen können. • Die vierte Dimension erfasst die Interaktionen zwischen den Erzählenden und ihrem Publikum, die fünfte die pädagogische und ästhetische Gestal‐ tung der Erzählperformance. Den fünf Dimensionen sind jeweils zwei bis vier Kriterien zur Analyse der nar‐ rativen Produktionen und Produktionsprozesse sowie Leitfragen zur Analyse zugeordnet. Die fünfte Dimension hat ein eigenes Bezugssystem zur Verfügung: eine Zeichenübersicht über die „Art und Funktionen erzählperformativer Zei‐ chen“ (Anhang 2). Diese Zeichenübersicht entspricht den im konzeptionellen Teil der Studie entwickelten Zeichen zur Herstellung von Bedeutung in der Aufführung (Kap. 4.3) 2 . Struktur des Modells zur Analyse produktiver Narrativierungsleistungen in Rekonstruktionsgesprächen Die unten dargestellte Grafik (Abb. 10) veranschaulicht die Struktur des Fünf-Di‐ mensionen-Modells zur Analyse produktiver Narrativierungsleistungen in Re‐ konstruktionsgesprächen. Die Strukturierung des Modells ist mit der des Erzählperformance-Modells identisch, denn beide Modelle bilden die Entwicklung narrativer Diskurse ab. Unterschiede bestehen in den Realisierungsformen. Während das Modell der Erzählperformance die Entwicklung eines Erzähldiskurses von der Planung zur Realisierung (Dimension 1 und 3) und die Interaktion zwischen Erzählenden und Publikum einer Aufführung erfasst (Dimension 4), repräsentiert das Modell der Narrativierungsleistungen die spontane Rekonstruktion der gehörten Ge‐ schichte in einem Gespräch (Dimension 1) und die Entwicklung hin zu einer Schlusspräsentation (3) sowie die narrative Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden einerseits und zwischen den Lernenden andererseits (Dimension 4). Den fünf Dimensionen sind wie dem Erzählperformance-Modell jeweils zwei bis vier Analysekriterien und entsprechende Leitfragen zugeordnet. 7 Zwischenfazit: Strukturierung der Potenziale und Analyseinstrumente 207 <?page no="208"?> 3 Zum besseren Überblick über alle Kriterien und Leitfragen von Teil 1 (Kap. 5.5) und Teil 2 (Kap. 6.5) des „Fünf-Dimensionen-Modells zur Analyse produktiver Narrativierungs‐ leistungen in Rekonstruktionsgesprächen“ (FDM-R) werden sie zu einer Gesamtüber‐ sicht zusammengeführt und im Anhang dokumentiert (Anhang 4). Abb. 10: Struktur des Fünf-Dimensionen-Modells zur Analyse produktiver Narrativie‐ rungsleistungen in Rekonstruktionsgesprächen (FDM-R) Die Besonderheit dieses Modells besteht darin, dass einige Kriterien mithilfe von Indikatoren ausdifferenziert werden. Die Indikatoren sind in einem Kontinuum erfasst, das progressive Entwicklungen anzeigt - z. B. die Steigerung des Nar‐ rativierungsgrades von der einfachen Aufzählung von Ereignissen hin zur Her‐ stellung von Zusammenhängen und zur Hervorhebung des unerwarteten Ereig‐ nisses. 3 Die empirische Analyse im zweiten Teil der Studie wird zeigen, auf welche Weise und mit welchen Ergebnissen die Modelle zur Analyse des Materials an‐ gewandt werden können und wie die empirische Analyse die Struktur der Mo‐ delle modifiziert und ihre Inhalte bereichert. 7 Zwischenfazit: Strukturierung der Potenziale und Analyseinstrumente 208 <?page no="209"?> Teil B: Die Entwicklung narrativer Diskurse in den Erzählstunden: die empirische Untersuchung <?page no="211"?> 8 Durchführung der empirischen Studie In diesem Kapitel werden die kontextuellen Bedingungen, Arbeitsabläufe und Arbeitsschritte bei der Durchführung des empirischen Teils der Studie darge‐ stellt. Das einleitende Kapitel erläutert einige wichtige Faktoren des Weiterbil‐ dungs- und Aktionsforschungskontextes (Kap. 8.1). Das folgende Kapitel (Kap. 8.2) gibt Informationen zur tatsächlich durchgeführten Datenerhebung. Den Hauptteil des Kapitels bilden die Erläuterungen zur Datenaufbereitung und zu den Analyseschritten der Videografien (Kap. 8.3.1) und der Interviews mit den Akteuren der Erzählstunden (Kap. 8.3.2). 8.1 Der Weiterbildungs- und Aktionsforschungskontext Einige Faktoren des Weiterbildungs- und Aktionsforschungskontextes (Kap. 2.2.3) haben sich bei der Durchführung der Studie als besonders relevant für die Datenauswertung erwiesen. Sie werden zum besseren Verständnis der fol‐ genden Analysen und Interpretationen (Kap. 9 und 10) erläutert. 8.1.1 Das Erzählcurriculum im Weiterbildungsstudiengang Ziel des Erzählcurriculums (Kap. 2.1.1) im Weiterbildungsstudiengang war es, mit einem ‚roten Erzählfaden‘ einen Schwerpunkt durch das Grundstudium zu ziehen (s. die Mitgestaltung des universitären Curriculums durch die Fachdi‐ daktik bei Steinbrügge 2008: 18). Dabei sollte die Diskursform Erzählen aus ver‐ schiedenen Perspektiven erkundet werden, und die Studierenden sollten auf dieser Grundlage Erzählprojekte mit ihren Lerngruppen entwickeln. Zur Um‐ setzung des Erzählcurriculums wurden mit Dozentinnen und Dozenten von vier Studienbereichen informelle Absprachen zu Erzählschwerpunkten getroffen und die von mir verantworteten Seminare vertieften diese Schwerpunkte. Die folgende Tabelle, die einen Teil des Studienangebotes in den ersten vier Seme‐ stern abbildet, gibt einen Einblick in die Konzeption des Erzählcurriculums. <?page no="212"?> 1 Zu den Studienbereichen gehören Literatur- und Sprachwissenschaft, Landeskunde, Fachdidaktik und Spracherwerb, wobei der letztgenannte Bereich nicht aufgeführt wird, weil die Aufnahme eines solchen Schwerpunktes mit dem sprachpraktischen Curriculum zum damaligen Zeitpunkt schwer vereinbar war. Stattdessen wurde eine Kooperation zwischen dem Bereich Landeskunde und Sprachenzentrum für die Work‐ shops mit der Erzählerin Marie-Célie Agnant verabredet. Die von mir verantworteten Seminare im grundständigen Studienbereich sind die beiden Seminare zum Erzählen in mündlicher und schriftlicher Kommunikation (1 und 2). 2 In den drei Weiterbildungsstudiengängen (Kap. 2.1.1) wird zwischen zwei unterschied‐ lichen Lehrveranstaltungen unterschieden: dem „grundständigen“, verpflichtenden Angebot und dem die Lehrkräfte unterstützenden, begleitenden Angebot, für das ich im Wesentlichen zuständig war. Die Angaben ①, ②, ③, ④ entsprechen den Semestern des Grundstudiums. - - - - - - - - - - Studienbe‐ reich 1 grundständiges 2 Lehr‐ angebot begleitendes Lehrangebot Literatur‐ wissen‐ schaft ① Arbeit mit Texten der Kinder- und Jugendlite‐ ratur (KJL) Workshop mit einer Autorin der KJL ② Einführung in die Lite‐ raturwissenschaft mit einem Schwerpunkt Er‐ zähltheorie Vertiefung erzähltheoretischer As‐ pekte Analyse fiktionaler narrativer Texte (Novellen) Umschreiben / Weiterschreiben fikti‐ onaler narrativer Texte (Novellen) ③ Erzählen in mündlicher und schriftlicher Kommu‐ nikation im Fremdspra‐ chenunterricht (1) weitere Vertiefung erzähltheoreti‐ scher Aspekte Einführung in die Märchenforschung kreatives Schreiben nach Impulsen von Rodari Sprachwis‐ senschaft ① Einführung in die Sprachwissenschaft mit einem Schwerpunkt Mündlichkeit Einführung in die Mündlichkeitsfor‐ schung Transformation schriftlicher Texte in eine Vorlage zum mündlichen Er‐ zählen Landes‐ kunde ① Die Frankophonie Workshop mit der Erzählerin Marie-Célie Agnant 8 Durchführung der empirischen Studie 212 <?page no="213"?> - - - - - - Fachdi‐ daktik ① Frühes Fremdsprachen‐ lernen Arbeit mit Albums im frühen Fremd‐ sprachenunterricht ④ Erzählen in mündlicher und schriftlicher Kommu‐ nikation im Fremdspra‐ chenunterricht (2) ④ Forschung der Kinder- und Jugendliteratur Rolle mündlichen Erzählens im kom‐ petenzorientierten Fremdsprachen‐ unterricht Methode des Storytelling freies mündliches Erzählen einer All‐ tagsgeschichte im Seminar (Videoauf‐ nahme mit anschließender Reflexion) Beobachtung und Reflexion mündli‐ chen Erzählens als Performance an‐ hand von Videoaufnahmen mit der Er‐ zählerin Marie-Célie Agnant Workshop zum mündlichen Erzählen Erzählprojekte der Weiterbildungsstudierenden Tab. 10: Übersicht über das Erzählcurriculum des Grundstudiums Aus der Übersicht wird ersichtlich, dass jedes Semester ein bis zwei Erzähl‐ schwerpunkte im grundständigen Lehrangebot aufweist. Diese wurden in be‐ gleitenden Seminaren durch Auseinandersetzung mit fachwissenschaftlicher Literatur vertieft und durch kreatives Schreiben von Erzähltexten praktisch an‐ gewandt. Der Einsatz der narrativen Diskursform im Fremdsprachenunterricht wurde in den fachdidaktischen Seminaren anhand fachdidaktischer Literatur (Kap. 11.3.3) thematisiert und anhand videobasierter Beobachtung von Erzähl‐ performances der Erzählerin Marie-Célie Agnant diskutiert. Die Hinführung zu den Erzählprojekten erfolgte kognitiv durch Reflexion der Rolle des Erzählens im Unterricht und performativ durch eigenes Erzählen, das im geschützten Raum des Seminars, aber bereits von der Kamera verfolgt und anschließend anhand der Videoaufnahmen reflektiert wurde. Zu diesem Zweck wurden einige Seminarsitzungen durch Erzählworkshops ergänzt. 8.1 Der Weiterbildungs- und Aktionsforschungskontext 213 <?page no="214"?> 3 Auszüge aus den Projektdossiers (PDLK) werden zur Analyse der Unterrichtsdesigns der Erzählstunden herangezogen und zitiert (Kap. 10.3.2.1). 8.1.2 Verabredungen zwischen den an den Erzählprojekten Beteiligten Ziel der Verabredungen mit den Weiterbildungsstudierenden war es, den bereits erwähnten Gefahren einer Vermischung der Arbeitsgebiete und möglicher Rol‐ lenkonflikte (Kap. 2.1.1) entgegenzuwirken und Verabredungen zu treffen, die für beide Seiten gewinnbringend sind. Folgende Zielvereinbarungen wurden getroffen: Studienrelevanz Die Erzählprojekte wurden im Rahmen von zwei dem grundständigen Lehran‐ gebot zugerechneten Seminaren durchgeführt (s. das Erzählen in mündlicher und schriftlicher Kommunikation im Fremdsprachenunterricht 1 und 2) und bildeten den Leistungsnachweis der Seminare. Sie wurden von mir als Weiter‐ bildnerin und als Betreuerin der Projekte gehalten. Projektaufgaben der Lehrkräfte und der Forscherin Die Projektaufgabe der Lehrkräfte umfasste drei Teile. Der erste Teil bestand in der Konzeption der Erzählstunden für die Lerngruppen der Lehrkräfte, der zweite Teil in der Durchführung der Erzählstunden. Eine Erzählung war aus‐ zuwählen und als Performance vor dem Lernenden-Publikum vorzutragen. Zur Wahl standen eine fiktionale Erzählung oder eine Alltagsgeschichte. Weitere Verabredungen zu narrativen Aktivitäten mit den Lernenden gab es nicht. Der dritte Teil der Aufgabe bestand in der Reflexion der Erzählstunden. Dazu wurden den Lehrkräften die Videoaufnahmen der Stunden und die Transkriptionen der Interviews mit ihren Schülerinnen und Schülern zur Verfügung gestellt. Ihre Reflexionen sollten sie im Weiterbildungsseminar anhand von Beispielen aus dem vorhandenen Material darlegen und mit den Teilnehmerinnen und Teil‐ nehmern diskutieren. Die Vor- und Nachbereitungen der Erzählstunden wurden in den ‚Projekt‐ dossiers der Lehrkräfte‘ (PDLK) dokumentiert 3 . Dazu gehören eine Verlaufspla‐ nung und eine Projektreflexion anhand von Leitfragen. Außerdem wurde ver‐ abredet, die Projekte im Team (als Duo) zu planen und durchzuführen. Je ein Teammitglied sollte möglichst die für die Lerngruppe verantwortliche Lehrkraft sein. Meine Projektaufgabe bestand zum einen darin, für Beratungen während der Projektplanung und als Beobachterin während der Erzählstunden zur Verfü‐ 8 Durchführung der empirischen Studie 214 <?page no="215"?> 4 Die Involviertheit von aktionsforschenden Lehrkräften in ihre eigene Praxis birgt die Gefahr mangelnder Distanz gegenüber ihrem Forschungsobjekt, ein Einwand, der in der Forschungsliteratur gegenüber wissenschaftlichen Ansprüchen der Praxis- und der Aktionsforschung erhoben und kontrovers diskutiert wird (Altrichter / Posch 2007: 341, Bortz / Döring 2006: 342). Diese Gefahr spielt im Kontext meiner Studie eine unterge‐ ordnete Rolle, da die Weiterbildungsstudierenden nicht als Forschende mit wissen‐ schaftlichem Anspruch agieren (s. Kap. 2.2.2). gung zu stehen. Zum anderen oblag es mir, für die Planung und Durchführung der Video- und Audioaufnahmen sowie der Transkription der Interviews zu sorgen. 8.1.3 Herausforderungen der Projekt- und Forschungsarbeit Die Vor- und Nachteile des Zusammenhangs zwischen der Projektarbeit der Lehrkräfte und meiner wissenschaftlichen Forschung wurden im Seminar er‐ örtert. Zu den Herausforderungen der gemeinsamen Arbeit gehörten der Aus‐ gleich zwischen den trotz gemeinsamer Ziele vorhandenen unterschiedlichen Interessen und die Übernahme der unterschiedlichen Aufgaben und Rollen im Rahmen der oben erläuterten Verabredungen. Was die Interessen der Lehrkräfte betrifft, so waren sie in der glücklichen Lage, mehrere Interessen miteinander zu verbinden - ihr Interesse als For‐ schende und als Praktikerinnen und Praktiker sowie ihr Weiterbildungs- und ihr Studienleistungsinteresse. Wie engagiert und wie zuverlässig sie die getrof‐ fenen Verabredungen einhielten, das hing letztlich von ihrer Motivation für das Studium und für das Projekt ab. Die Zuverlässigkeit ihrer Arbeit war für meine Forschung allerdings von zentraler Bedeutung. Der unterschiedliche Stellen‐ wert der Unterrichtsprojekte für beide Parteien verweist auf Abhängigkeitsver‐ hältnisse, die zwischen den Projektpartnerinnen und -partnern bestand. Darüber hinaus verlangte die Situation von beiden Seiten die Übernahme einer Doppelrolle. Die Aktionsforschungssituation der Lehrkräfte brachte es mit sich, dass sie ihrem eigenen Handlungsfeld, der Schule, in zwei unterschiedli‐ chen Rollen gegenüberstanden: als Lehrende und als recherchierende Prakti‐ kerinnen und Praktiker 4 . Der Forschungskontext verlangte von ihnen, ihrer ei‐ genen Praxis distanziert gegenüberzutreten, eine Situation, die zum Rollenkonflikt führen konnte, aber auch ungewohnte, interessante Erfahrungen bot. Anders war es mit der Forscherinnenperspektive bestellt. Aus meiner zweiten Funktion als Weiterbildnerin folgte im Hinblick auf das Projekt eine Beraterinnenrolle, die Konfliktpotenzial gegenüber der Forscherinnenrolle mit sich bringen konnte. Hier war nicht ein zu viel an Distanz, sondern ein möglicher 8.1 Der Weiterbildungs- und Aktionsforschungskontext 215 <?page no="216"?> 5 Der Vollständigkeit halber werden alle Akteure aufgeführt, auch wenn, wie schon er‐ wähnt (Kap. 2.3.2) und im Folgenden begründet, nur zwei Erzählstunden schwerpunkt‐ mäßig ausgewertet werden. 6 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Weiterbildungsstudiengangs verfügten über das Lehramt mit einem oder mit zwei wissenschaftlichen Fächern, in einem Fall auch über das Amt des Studienrats. Mangel an Distanz gegenüber der Projektarbeit der Studierenden das Problem. Diesem Konflikt wurde durch folgende Distanzierungsmaßnahmen entgegen‐ gewirkt: In der Planungsphase der Erzählstunden beriet ich die Weiterbil‐ dungsstudierenden lediglich bei der Erarbeitung von ‚Miniforschungsfragen‘. Die Beratung der Stundenplanung wurde von den Mitstudierenden im kollegi‐ alen Feedback ausgeführt. Während der direkten Stundenbeobachtung fertigte ich keine Notizen zur Beratung der Weiterbildungsstudierenden an. Auch fanden keine Beratungsgespräche unmittelbar vor und nach den Interviews statt. Eine intensive Beratung von meiner Seite und das Feedback von Seiten der Weiterbildungsteilnehmerinnen und -teilnehmer erfolgten während und nach den Reflexionsgesprächen im Seminar. Beobachtbare und von den Projektteilnehmerinnen und -teilnehmern disku‐ tierte Konsequenzen der Aktionsforschungssituation werden in der Reflexion der Ergebnisse der Studie (Kap.11.2.6) und des Forschungsprozesses (Kap. 12.2) dargestellt. 8.2 Die Datenerhebung Die Datenerhebung erfolgte im Kontext der Projektarbeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Weiterbildungsstudiengangs im Schuljahr 2007 / 2008 5 . Die Auswahl der Forschungspartnerinnen und -partner war mit ihrer Teilnahme an der Weiterbildung getroffen. 8.2.1 Die Akteure der Erzählstunden und die von ihnen gewählten Erzählungen Im Hinblick auf ihre Qualifikationen, ihre Abschlüsse und die Erteilung von Unterricht in Schulstufen und Schulformen handelte es sich um eine heterogen zusammengesetzte Lehrkräftegruppe 6 . Die meisten hatten in ihrem Erststu‐ dium die Qualifikation für ein sprachliches Fach - meist Englisch oder Deutsch als Erstsprache - erworben. Einige unterrichteten zum Projektzeitpunkt bereits das Fach Französisch, weil an ihrer Schule hoher Bedarf bestand. Sechs Lehr‐ 8 Durchführung der empirischen Studie 216 <?page no="217"?> 7 Eine Lehrkraft der Grundschule musste auf ihre Teampartnerin verzichten und das Projekt alleine zu Ende führen. 8 In den Gesamtschulen wurden Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Lern‐ gruppen im Wahlpflichtfach Französisch zu einer Jahrgangsgruppe zusammengeführt. In der Grundschule wurde dasselbe Prinzip zur Bildung eines Kurses mit Französisch als erster Fremdsprache angewandt, denn erfahrungsgemäß wählen weitaus weniger Schülerinnen und Schüler das Fach Französisch als das Fach Englisch. Im Einzelnen handelte es sich um zwei Französischkurse der vierten Klassen von zwei verschiedenen Grundschulen, um einen Französischkurs der fünften Klassen einer Grundschule, um einen Wahlpflichtkurs der 9. Klassen mit zweiter und um einen mit erster Fremdsprache Französisch von zwei verschiedenen Gesamtschulen. 9 Da der frühe Fremdsprachenunterricht in Berlin erst mit dem Schuljahr 2003 / 04 als erste Fremdsprache ab Klasse 3 flächendeckend eingeführt wurde, erhielt die Lern‐ gruppe der teilnehmenden Schule (9. Klasse mit erster Fremdsprache Französisch) erst mit Beginn des fünften Schuljahrs Französischunterricht. kräfte unterrichteten an einer Grundschule mit erster Fremdsprache Franzö‐ sisch, drei Lehrkräfte an einer Gesamtschule - die eine mit erster, die andere mit zweiter Fremdsprache Französisch, die dritte ohne das Fach Französisch. Eine Lehrkraft unterrichtete an einem Gymnasium in der Sekundarstufe I und II. Am Erzählprojekt beteiligt waren somit fünf Lehrkräfteteams aus drei ver‐ schiedenen Schulformen 7 . Insgesamt nahmen fünf verschiedenen Lerngruppen mit 50 Schülerinnen und Schülern teil. Die einzelnen Lerngruppen wiesen eine relativ geringe Teil‐ nehmerinnen- und Teilnehmerzahl auf, was auf den besonderen Status des Fa‐ ches in den betroffenen Schulformen zurückzuführen ist 8 . Mit Ausnahme der neunten Klasse mit erster Fremdsprache, die über ca. viereinhalb Jahre Franzö‐ sischunterricht verfügten, handelte es sich um Anfängergruppen mit im Schnitt etwa zweieinhalb Jahren Französischunterricht 9 . Drei Lehrkräfteteams wählten fiktionale Texte, deren Originalfassung sie für die Performance adaptierten - ein afrikanisches Märchen (EZ / 1, EZ / 2) und eine Zaubergeschichte (EZ / 3). Zwei Lehrkräfteteams verfassten Tierge‐ schichten, die eine selbst verfasst (EZ / 4), die andere adaptiert aus einem Album (EZ / 5). Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die beteiligten Projekt‐ gruppen und ihre Themenwahl: 8.2 Die Datenerhebung 217 <?page no="218"?> 10 Inspirationsquelle für Grisou cherche un ami ist: Carle (1995): Die kleine Maus sucht einen Freund. 11 Zur Kommentierung dieser relativ weit zurückliegenden Datenerhebung s. die Refle‐ xion des Forschungsprozesses und der Reichweite der Studie (Kap. 12.5). Lehrkräfteteams der Erzählstunden Lerngruppen der Erzählstunden An‐ zahl der SuS ausgewählte Erzählungen Team EZ / 1: LK 1 ist Gast, LK 2 unterrichtende LK. EZ / 1: 9. Klasse, 2. FS Fran‐ zösisch einer Berliner Ge‐ samtschule (3. Lernjahr) n 1 =11 Le conte des échanges (Gougaud 1999b) Team EZ / 2: LK 1 ist unterrichtende LK, LK 2 ist Gast. EZ / 2: 9. Klasse, 1. FS Fran‐ zösisch einer Berliner Ge‐ samtschule (5. Lernjahr) n 2 =10 Le conte des échanges (Gougaud 1999b) Team EZ / 3: LK 1 ist unterrichtende LK, LK 2 ist Gast. EZ / 3: 4. Klasse, 1. FS Französisch einer Berliner Grundschule (3. Lernjahr) n 3 =12 La sorcière Sorci‐ flette (Roger 2000) Team EZ / 4: LK 1 und LK 2 sind Gäste, LK 1 aus EZ / 3 ist unter‐ richtende LK. EZ / 4: 5. Klasse, 1. FS Fran‐ zösisch derselben Grund‐ schule wie EZ / 3 (4. Lern‐ jahr) n 4 =6 Le petit lapin et l’ours blanc EZ / 5: LK ist unterrichtende LK. EZ / 5: 4. Klasse,1. FS Fran‐ zösisch einer Berliner Grundschule (3. Lernjahr) n 5 =11 Grisou cherche un ami 10 Tab. 11: Übersicht über die Projektgruppen und ihre Themenwahl 8.2.2 Datenerhebung und Reduktion der Daten für die Zwecke der Studie Die Datenerhebung erfolgte in einem Zeitraum von zwei Semestern - vom Sommersemester 2007 bis zum Ende des Wintersemesters 2007 / 2008 11 . Von allen Erzählstunden der Projektgruppen (EZ / 1, EZ / 2, EZ / 3, EZ / 4, EZ / 5) wurden Videoaufnahmen erstellt. Unmittelbar nach den Erzählstunden wurden die Schülerinnen und Schüler von den verantwortlichen Lehrkräften unter Berücksichtigung schulorganisatorischer Gegebenheiten auf je drei Viererbzw. Fünfer-Gruppen (A, B, C) verteilt und von mir in der vorgegebenen Reihenfolge jeweils ca. 20 Min. interviewt. Im Anschluss an die Lerngruppen‐ interviews fanden die Interviews mit den Lehrkräften statt. Sie dauerten jeweils 30 Min. 8 Durchführung der empirischen Studie 218 <?page no="219"?> 12 Das sprachliche Niveau ist laut Erklärungen der unterrichtenden Lehrkraft nicht sehr hoch (ILKT-EZ / 1: 15, PDLK-EZ / 1: 2). Die Lehrkraft merkt an, dass die Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler sich besonders auf die Morphosyntax beziehen. Dies gilt besonders für zwei Schülerinnen und einen Schüler mit Migrationshintergrund. Wie bereits erwähnt (Kap. 2.4), habe ich mich nach Erhebung aller Daten und einer ersten Durchsicht des Materials zu einer erheblichen Materialkürzung für die systematische Analyse entschlossen. Für diesen Zweck wählte ich die Erzählstunden der beiden neunten Klassen aus. Da beide Teams dieselbe Erzäh‐ lung verwendet, aber unterschiedliche Stundendesigns erstellt hatten, bot sich ein Vergleich der beiden Fassungen an. Außerdem lieferten die in der Sekun‐ darstufe I realisierten Doppelstunden (90 Min.) mehr Anschauungsmaterial als die relativ kurzen Einheiten der Grundschule (in zwei Fällen 30 Min., in einem Fall 45 Min.). Darüber hinaus fiel die Wahl auf die Sekundarstufe, da zum münd‐ lichen Erzählen in der Grundschule mehr fachdidaktische Untersuchungen als zur Sekundarstufe vorliegen (s. Kap 2.1.2, Anm. 1) und die relativ kurzen Er‐ zählstunden der Grundschule (EZ / 3, EZ / 4, EZ / 5) sich problemloser zu Kurz‐ berichten zusammenfassen lassen als die der Sekundarstufe. Die Materialre‐ duktion hatte zur Folge, dass nur für die beiden Erzählstunden der Sekundarstufe I (EZ / 1, EZ / 2) Videografien erstellt wurden. Folgende kontextuelle Bedingungen der ausgewählten Erzählstunden sind für die fremdsprachliche Lernsituation der Gruppen relevant: Die Lern‐ gruppe der ersten Erzählstunde (EZ / 1) umfasste regulär 14 Schülerinnen und Schüler (acht Mädchen und sechs Jungen), von denen am Tag der Videoauf‐ nahme sechs Mädchen und fünf Jungen anwesend waren 12 . Die Lerngruppe der zweiten Erzählstunde (EZ / 2) umfasste regulär 10 Schülerinnen und Schüler (acht Mädchen und zwei Jungen), von denen sieben Mädchen und zwei Jungen anwesend waren. Eine französische Austauschülerin kam hinzu, so dass die Lerngruppe 10 Schülerinnen und Schüler umfasste. Ein Mädchen der regulären Lerngruppe hat eine französische Mutter und spricht deshalb Französisch als Zweitsprache. Eine weitere Besonderheit bildete die Zusammensetzung des Lehrkräfte-Teams. Der Teamkollege der unterrichtenden Lehrkraft, der die Er‐ zählstunde mitgestaltet, ist bilingual. 8.3 Datenaufbereitung und Analyseschritte Da sich Videoaufnahmen und Interviews im Hinblick auf ihre Transkription und Analyseschritte erheblich voneinander unterscheiden, werden sie für beide Da‐ 8.3 Datenaufbereitung und Analyseschritte 219 <?page no="220"?> 13 Digitalisierung: winDV 1.2.3 (abrufbar unter: http: / / windv.mourek.cz/ [12.02.2017]) Rendering/ Postprocessing Video: avidemux (abrufbar unter: https: / / sourceforge.net/ projects/ avidemux/ [12.02.2017]) / OpenShot (abrufbar unter: http: / / www.open‐ shot.org/ [12.02.2017]) Postprocessing Audio: audacity (abrufbar unter: http: / / www.audacityteam.org/ [12.02.2017]) Konvertierung: handbrake (abrufbar unter: https: / / handbrake.fr/ [12.02.2017]) tensätze getrennt erläutert. Die Aufbereitung der Unterrichtsdokumente wird im Kontext der Videografie erläutert. 8.3.1 Die Videografien der beiden Erzählstunden 8.3.1.1 Videoaufnahme, Digitalisierung und Transkription Die Erzählstunden wurden von einer studentischen Hilfskraft mit einer mi‐ niDVR-Kamera aufgenommen. Für die Aufnahmen wurde verabredet, dass die Kamera mit dem ‚performativen Aufmerksamkeitsfokus‘ wandert und dass so‐ wohl mit Großaufnahmen der jeweils agierenden Personen als auch mit Kame‐ raschwenks auf das Publikum gearbeitet wird. Besonderer Wert sollte auf die Sichtbarkeit der Gestaltungsmittel der Erzählperformances und der narrativen Interaktion der Schülerinnen und Schüler gelegt werden. Die Filmbänder wurden anschließend mit freier Software digitalisiert und nachbearbeitet 13 . Wie in der Darstellung der Gesamtkonzeption (Kap. 2.1, Kap. 2.6) erläutert, wurde zeitnah nach den Videoaufnahmen eine erste Videografie erstellt, die mir die Notwendigkeit eines intensiven Studiums des Performativen verdeutlichte. Es folgte eine Überarbeitung, in die die Ergebnisse meiner Recherchen ein‐ flossen. Nach Fertigstellung dieser Transkription sollte eine Überarbeitung mit dem HIAT-System (Voloshchuk / Grießhaber 2010: 223) erfolgen. Ich habe mich jedoch entschlossen, die bisherige, nicht softwaregestützte Version beizube‐ halten. Die Transformation wäre sehr zeitaufwändig gewesen, so dass ich es vorzog, stattdessen die vorhandenen Transkriptionskriterien und Kodierungen der Zeichen zu verfeinern und zu systematisieren, was bei dem relativ geringen Materialumfang auch gelingen konnte. Es liegen nunmehr zwei funktionale Transkriptionen für die Beantwortung der Forschungsfrage zu den Erzähl‐ stunden vor (Kap. 2.1.3): Wie werden die Potenziale des mündlichen Erzählens als Performance in den Erzählstunden sichtbar? Mit welchen Mitteln werden sie realisiert? 8 Durchführung der empirischen Studie 220 <?page no="221"?> 14 Als Beispiel der Transkription ist im Anhang (6) das Transkript der Sequenz BII und des Beginns der Sequenz BIII der ersten Erzählstunde (EZ / 1) dokumentiert. 15 Zur Erläuterung der Zeichen-Siglen s. Kap. 4.3.3.4 und Anhang 2. Zu Funktionalität und zu den Gütekriterien der Transkription (Schramm / Aguado 2010: 194) gehören die Übersichtlichkeit der Darstellung, die Lesbarkeit, die Beschreibungsadäquatheit (Voloshchuk / Grießhaber 2010: 223) sowie die Transparenz der Kodierung und der Arbeitsschritte. Übersichtlichkeit und Lesbarkeit durch mehrdimensionale Darstellung Der Übersichtlichkeit und Lesbarkeit dient die Zeilenschreibweise des Trans‐ kripts 14 . Es wurde in vier große Spalten aufgeteilt, in denen die verbalen und non-verbalen Aktionen der Erzählstunden notiert sind. Dieses Notationsver‐ fahren eignet sich für die Transkription der Performances besser als die Partitur, weil mit der Zeilenschreibweise die relativ langen Sprechanteile der Erzäh‐ lenden im Zusammenhang gelesen werden können und die Darstellungsform sowohl eine simultane und als auch eine sequenzielle Lektüre (Schramm / Agu‐ ardo 2010: 196) erlaubt. Die simultane Lektüre folgt in der Waagrechten den Notationen der vier pa‐ rallel angeordneten Spalten. In der ersten Spalte sind die von den Erzählerinnen und Erzählern hervorgebrachten linguistischen (L) und die transitorischen Zei‐ chen (P 2 ) notiert. Die zweite Spalte ist für die stimmliche Qualität (P 1 ) und die mimischen Zeichen (M), die dritte für die gestischen Zeichen (G 1 -G 5 ), die vierte für auffällige, die Performance der Erzählenden ergänzende Aktionen vorge‐ sehen 15 . Die Positionierung der verbalen Zeichen in der linken, größten Spalte legt den Darstellungsschwerpunkt auf den Erzähldiskurs. Sie gibt der simul‐ tanen Lektüre den Impuls, die non-verbalen auf die verbalen Zeichen zu be‐ ziehen. Zwei kleine am äußeren linken Rand positionierte Spalten vermerken die großen und kleinen Sequenzen und die Sprecherinnen und Sprecher. Die sequenzielle Lektüre wird durch die Rhythmisierung der Transkription unterstützt. Diese folgt dem chronologischen Verlauf der Erzählstunde und ver‐ wendet als Sequenzierungsprinzipien pädagogische und narrative Einheiten. Zu den pädagogischen Einheiten gehören die großen Sequenzen der Erzählstunde (s. die Unterrichtssequenzen A-I in Kap. 9.2.1). Zu den narrativen Einheiten zählen die gesprächsorganisatorischen Jobs wie z. B. das Thematisieren und Dramatisieren (Kap. 3.2.2) und die Etappen des schéma quinaire wie z. B. l’état initial und la complication (Kap. 3.1.1). Als kleinste Einheiten fungieren inner‐ halb der Fiktion die Aktionen und Redeanteile der Figuren, außerhalb der Fiktion die Redeanteile der Sprecherinnen und Sprecher. 8.3 Datenaufbereitung und Analyseschritte 221 <?page no="222"?> 16 Diese Lösung bietet sich an, weil es bei der Analyse der Performances nicht um eine phonologische Beschreibung bzw. Messung, sondern um die Funktion und die Leistung der einzelnen Zeichen und um ihre gemeinsame Leistung in Bezug auf die Performance geht. 17 Eine Übersicht über die transkribierten Zeichen und ihre Siglen bieten die „Transkrip‐ tionsregeln der Videografie“ (Anhang 1) und die die Tabelle „Art und Funktionen ver‐ baler und non-verbaler Zeichen in theatralischer und erzählperformativer Verwen‐ dung“ (Anhang 2). Beschreibungsadäquatheit durch Zeichenauswahl Die Beschreibungsadäquatheit wird durch die Auswahl der zu transkribierenden Zeichen erreicht. Entscheidend für die Auswahl ist der Beitrag, den sie für die performative und interaktive Gestaltung der narrativen Diskurse leisten. Aus diesem Grund werden alle verbalen Zeichen notiert, aber die Darstellung der non-verbalen Zeichen hängt von ihrer Gewichtung durch die Erzählenden und von einer deutlich wahrnehmbaren Funktionsübernahme im Erzähldiskurs ab. So werden die sprachbegleitenden paralinguistischen Zeichen wie Akzente, Dehnung, Pausen und Intonation nur bei deutlich pragmatischer Gewichtung 16 transkribiert, gestische und mimische Zeichen ebenfalls bei deutlich pragmati‐ scher oder ästhetischer Gewichtung und in einer wahrnehmbaren Funktion, z. B. der parataktischen Funktion, die Rede der Figuren zu veranschaulichen (s. die Erläuterungen in Kap. 4.3). Zur Verschriftlichung wurde eine literarische Schreibweise gewählt, die dem sprachlichen Duktus des Erzähldiskurses entgegenkommt. Die paralinguisti‐ schen Zeichen werden im Rekurs auf die Vorschläge von Langer (2010: 523) durch besondere Markierungen der linguistischen Zeichen dargestellt. Dazu zählen z. B. der Fettdruck für einen accent d’insistance in expressiver Funktion (ma mère, ma mère) oder Unterstreichungen für die deutliche Zerdehnung einer Wortgruppe (une faim de loup). Weitere prosodische Merkmale werden durch besondere Siglen wie z. B ↗ für steigende, ↘ für fallende Intonation markiert 17 . Zur Adäquatheit der Beschreibung gehört auch der Umfang der Transkrip‐ tion. Transkribiert werden lediglich die Performances und die narrativen Inter‐ aktionen. Für die Gruppenarbeitsphasen wird eine Zusammenfassung erstellt. Daraus ergibt sich für jede Erzählstunde eine Transkription von ca. 50 Minuten Unterrrichtszeit. Aufbereitung der Unterrichtsdokumente Zur Unterscheidung der Datensätze der verschiedenen Schulen wurden die Ab‐ kürzungen der Erzählstunden (EZ / 1 etc.) übernommen. Die Zeichnungen der Schülerinnen und Schüler der ersten Erzählstunde wurden mit einem Code ver‐ 8 Durchführung der empirischen Studie 222 <?page no="223"?> sehen und eingescannt, so dass sie in digitaler Form als Grafik zur Weiterver‐ arbeitung zur Verfügung stehen - z. B. als Gegenstand und als Veranschauli‐ chung der Analyse der narrativen Aktivitäten (Kap. 9.2.3.2) der Erzählstunden. 8.3.1.2 Analyseschritte Die Performances der Erzählstunden wurden wie vorgesehen (Kap. 2.3.2) mit gesprächsanalytischen (Kap. 3.2.2) und theatersemiotischen (Kap. 4.5.2) Ver‐ fahren analysiert. In der Gesprächsanalyse wurden zunächst die verbalen und non-verbalen Mittel zur Etablierung der narrativen Diskurseinheit wie z. B. einleitende For‐ meln oder gestische Zeichen der Kontaktaufnahme notiert. Anschließend wurden die parapragmatische Mittel zur Sequenzierung wie z. B. die Mittel zur Aufrechterhaltung des Kontakts zum Publikum aufgelistet. Aus dieser Liste wurden die Gestaltungsmerkmale der narrativen Diskurseinheiten ermittelt. Die semiotische Analyse wurde in den vorgesehenen vier Arbeitsschritten (Kap. 4.5.2) durchgeführt. Im ersten Arbeitsschritt wurden die dominant selektierten prosodischen, mi‐ mischen und gestischen Zeichen und deren Funktionen jeweils für die großen Sequenzen des Thematisierens, Elaborierens und Abschließens und im zweiten Arbeitsschritt die in kurzen, überschaubaren Handlungseinheiten simultan und sequenziell gebrauchten Zeichenkombinationen identifiziert und notiert. Im dritten Arbeitsschritt wurden die Zeichenkombinationen und deren Funk‐ tion in Isotopien ermittelt - wie z. B. die Dramatisierung der scène de départ durch Beschleunigung des Tempos. Im vierten Arbeitsschritt wurden die Er‐ gebnisse der ersten drei Arbeitsschritte aufeinander bezogen und daraus die Inszenierungsstrategien ermittelt. Die Analyse der narrativen Aktivitäten erfolgte in drei Arbeitsschritten. Im ersten Arbeitsschritt wurden die narrativen Produkte der Lernenden auf der Basis der Kriterien 1 und 2 des Fünf-Dimensionen-Modells (FDM-R) analysiert. Im zweiten Schritt wurden die Interaktionsgrundmuster mithilfe der drei Struk‐ turierungselemente Elizitation, Antwort, Reaktion (Edmondson / House 2000: 250-252) herausgearbeitet. Im dritten Arbeitsschritt wurden die mündlich-pro‐ duktiven Narrativierungsleistungen der Lernenden auf der Basis der Kriterien 3, 4 und 5 des Fünf-Dimensionen-Modells (FDM-R) analysiert. Im letzten Ar‐ beitsschritt konnte aus den charakteristischen Merkmalen der narrativen Pro‐ dukte, der narrativen Interaktion und der Narrativierungsleistungen die Ent‐ wicklung der narrativen Diskurse herausgearbeitet werden. 8.3 Datenaufbereitung und Analyseschritte 223 <?page no="224"?> Die Ergebnisse der Analysen werden in Kapitel 9 im Zusammenhang darge‐ stellt, die Analysevorarbeiten werden erläutert und anhand ausgewählter Bei‐ spiele im Anhang dokumentiert (Anhang 7, 8, 9, 10). 8.3.2 Die Interviews der Akteure der beiden Erzählstunden Um die Inhaltsanalyse der Interviews nachvollziehbar darzustellen, werde ich die Konstruktion der Leitfäden, die Leitfrage und die Arbeitsschritte der In‐ haltsanalyse erläutern. 8.3.2.1 Die Konstruktion der Interviewleitfäden Das Erkenntnisinteresse der Interviews bestand darin, die spontanen Eindrücke der Akteure festzuhalten, Rückmeldung über ihre Erfahrungen mit dem münd‐ lichen Erzählen und mit der Konzeption der Erzählstunde zu erhalten und die unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten einzufangen. Folgende überge‐ ordnete Frage leitete die Erstellung der Interviewleitfäden: Welche Eindrücke nehmen die Erzählenden / die Zuhörenden aus dem Er‐ zählen von Geschichten in ihrem Französischunterricht mit? Die Leitfrage wurde durch sechs Detaillierungsfragen (Bortz / Döring 2006: 314) wie folgt (Tab. 12) ausdifferenziert: Interviews mit den Lehrenden Interviews mit den Lernenden 1. Hypothesen zur Bewertung der Ge‐ schichte durch die SuS 1. Beurteilung der Geschichte aus der Perspektive der SuS 2. Überlegungen zur didaktischen Ge‐ staltung der Erzählstunde 2. Gesamteindruck von der Erzähl‐ stunde 3. Erfahrungen mit der Realisierung der Erzählperformance 3. Eindrücke vom Erzählen der Lehr‐ kräfte 4. Eindrücke vom Kontakt zum Pub‐ likum 4. Eindrücke vom Kontakt zu den Erzäh‐ lenden 5. Einschätzung des Hör- / Sehverste‐ hens der SuS 5. Erfahrungen mit dem eigenen Hör- / Sehverstehen 6. Einschätzung des Erzählens der SuS 6. Erfahrungen mit dem eigenen Er‐ zählen Tab. 12: Detaillierungsfragen des Interviewleitfadens 8 Durchführung der empirischen Studie 224 <?page no="225"?> 18 Zur Verdeutlichung der thematischen Zusammenhänge sind die Interviewfragen zu denselben Aspekten parallel notiert. Die vorgesehene Reihenfolge der Fragen wird durch Nummerierung angezeigt. Mithilfe der Detaillierungsfragen sollten Eindrücke der Erzählstunden ermittelt und Reflexionen zum Einsatz der Diskursform angestoßen werden. Die Fragen sind folgenden thematischen Aspekten zugeordnet: dem Erzähltext der Erzähl‐ stunde, ihrer didaktischer Gestaltung, der Erzählperformance sowie der narra‐ tiven Rezeption und Produktion. Die Themen gelten für beide Gruppen, so dass unterschiedliche Perspektiven zu denselben Aspekten erfasst werden können. Die sechs Detaillierungsfragen wurden für beide Gruppen in jeweils acht si‐ tuations- und adressatengerecht formulierte Interviewfragen überführt. Es ent‐ standen zwei Interviewleitfäden, die einen dreiteiligen Aufbau in Einstieg, Mit‐ telteil und Finale (Bortz / Döring 2006: 321) aufweisen. Sie werden im Folgenden tabellarisch (Tab. 13) aufgelistetet 18 : Interviewfragen an die Lehrenden Interviewfragen an die Lern‐ enden 1. Welche spontanen Eindrücke haben Sie aus dieser Stunde mitgenommen? --- 2. Haben Sie den Eindruck, dass den Schülerinnen und Schülern die Ge‐ schichte gefallen hat? 1. Wie hat euch die Geschichte ge‐ fallen? Was genau hat euch an der Ge‐ schichte gefallen? 3. Haben Sie den Eindruck, dass die Schülerinnen und Schüler die Ge‐ schichte verstanden haben? 2. Wie habt ihr das mit dem Verstehen der Geschichte gemacht? Was habt ihr mit den nicht verstan‐ denen Vokabeln gemacht? 4. Wie haben Sie sich als Erzählende ge‐ fühlt? Zusatzfragen: Welche Momente waren für Sie be‐ sonders schön? Welche schwierig? Wie empfanden Sie den Kontakt zum Publikum? 3. Was hat euch beim Hören der Ge‐ schichte gefallen? Zusatzfragen: Welche Momente fandet ihr beson‐ ders interessant? 5. Wie schätzen Sie die Verstehensleis‐ tungen der Schülerinnen und Schüler ein? 6. Wenn euch heute Nachmittag je‐ mand fragt, was das für eine Ge‐ schichte war, was würdet ihr ant‐ worten? 6. Wie schätzen Sie die Sprachproduk‐ tion der Schülerinnen und Schüler ein? 7. Wie hat euch das eigene Erzählen ge‐ fallen? 8.3 Datenaufbereitung und Analyseschritte 225 <?page no="226"?> 7. Würden Sie die Erzählstunde noch einmal so halten? Zusatzfragen: Was hat Sie überrascht? Was würden Sie ändern? 4. Wie hat euch die Erzählstunde ins‐ gesamt gefallen? -- 5. Stellt euch vor, ihr hättet die Ge‐ schichte über eine CD gehört. Was wären da für euch die Unter‐ schiede zum Erzählen heute? 8. Werden Sie mit der Geschichte wei‐ terarbeiten? Wie? 8. Würdet ihr gerne mit der Geschichte weiterarbeiten? Wie? Tab. 13: Interviewfragen des Interviewleitfadens Um möglichst ungefilterte und ausführliche Antworten zu erhalten, wurden vor allem deskriptive Fragen (Bortz / Döring 2006: 340) formuliert, zu denen die Wie-, Welche-, oder Was-Fragen gehören. In einigen Fällen wurde die weniger geschickte Form des rhetorischen Fragens gewählt (z. B. Fragen 2 und 3). Dies wurde im Interviewgespräch durch das Stellen von Zusatzfragen ausgeglichen. Die Frage nach den Erfahrungen der Lernenden mit dem Erzählen in direkter mündlicher Kommunikation (Frage 5) wurde als zirkuläre Frage formuliert. Sie fordert die Schülerinnen und Schüler auf, sich eine andere Kommunikations‐ situation vorzustellen, um anhand der Unterschiede zur erlebten die im Prinzip erfragte zu charakterisieren. Nach demselben Muster funktioniert Frage 6 nach dem Verstehen der Geschichte. Statt das Verstehen direkt zu erfragen, fordert sie dazu auf, sich in eine Lage zu versetzen, in der der Plot der Geschichte zu erläutern ist. 8.3.2.2 Übergeordnete Fragestellung und Richtung der Inhaltsanalyse Aus der Durchsicht des Materials und den Forschungsfragen (Kap. 2.1.3) der Studie ergaben sich folgende Leitfragen der Inhaltsanalyse: Welche Erfahrungen konnten die Lehrenden und Lernenden in den Erzähl‐ stunden machen und wie beurteilen sie sie? Welche Erkenntnisse konnten sie gewinnen? Welche Potenziale mündlichen Erzählens im Fremdsprachenunterricht konnten sie aufgrund ihrer Erfahrungen und Erkenntnisse entdecken? 8 Durchführung der empirischen Studie 226 <?page no="227"?> Mithilfe dieser Leitfragen wurden die Äußerungen der Akteure als Reflexionen der Erzählstunden gelesen und neben der pragmatischen und kognitiven auch die emotionale Ebene der Argumente berücksichtigt. 8.3.2.3 Aufnahme und Transkription Die Interviews wurden mithilfe eines Diktiergerätes aufgenommen. Die Audio‐ mitschnitte standen anschließend als mp3-Dateien zur Verfügung und wurden von einer studentischen Hilfskraft wortgetreu transkribiert. Da die prosodische Gestaltung für die Analyse der Interviews eine unterge‐ ordnete Rolle spielt, wurden im Unterschied zu den Transkriptionsregeln der Videografie (Kap. 8.3.1.1 und Anhang 1) nur drei prosodische Merkmale (Zer‐ dehnung, Betonung, Lautstärke) in die Transkription übernommen und auch nur bei besonders auffälligem Einsatz markiert. Da im Unterschied zu den Er‐ zählstunden die Interviewgespräche in deutscher Sprache durchgeführt wurden, wurde die prosodische Markierung im Transkript der deutschen Pro‐ sodie angepasst und die Transkription auf der Basis der Vorschläge von Langer (2010: 523) nach folgenden Transkriptionsregeln (Tab. 14) erstellt: II Interviewerin 1AJuw befragte Schülerin der ersten Erzählstunde (EZ / 1), Gruppe A 1BHem befragter Schüler der ersten Erzählstunde (EZ / 1), Gruppe B 2ALiw befragte Schülerin der zweiten Erzählstunde (EZ / 2), Gruppe A 2BLum befragter Schüler der zweiten Erzählstunde (EZ / 2), Gruppe B SchA alle Schülerinnen und Schüler zusammen SS einige Schülerinnen und Schüler zusammen Sch nicht identifizierbare Schülerin / nicht identifizierbarer Schüler (? ) Unsicherheit in Bezug auf das vorausgehende transkribierte Wort ((? )) Unsicherheit in Bezug auf das vorausgehende fehlende Wort / die fehlende Passage (bien? ) vermutete Äußerung bei Unsicherheit (.) kurze Sprechpause (…) längere Sprechpause (10) 10 Sekunden Pause LAUT laut gesprochen 8.3 Datenaufbereitung und Analyseschritte 227 <?page no="228"?> toll betont gesprochen nickt auffälliger non-verbaler Akt gekom- Wortabbruch Hat er… Abbruch der Äußerung Ne? Mh? nach Bestätigung heischender Ausdruck MHM! Ausdruck der Zustimmung Hm! Ausdruck des Zögerns / Abwartens Tab. 14: Transkriptionsregeln der Interviews Die Möglichkeit eines Rückbezugs der befragten Personen auf die Spreche‐ rinnen und Sprecher der Erzählstunden (s. die Videotranskriptionen VT-EZ / 1, VT-EZ / 2) ist nicht vorgesehen. 8.3.2.4 Arbeitsschritte zur Bildung des Kategoriensystems Für die Auswertungsschritte habe ich mich an Mayrings (2010: 68) Ablaufmodell der zusammenfassenden Inhaltsanalyse orientiert. Nach der Festlegung des Ma‐ terials, der Fragestellung und der Richtung der Analyse wurden als Kodierein‐ heit jede vollständige Äußerung einer Lehrkraft / eines Lernenden zu der über‐ geordneten Fragestellung und als Analyseeinheit die Interviews mit den Akteuren der beiden Erzählstunden festgesetzt: je ein Interview mit den Lehr‐ kräfteteams der beiden Erzählstunden (ILKT-EZ / 1 und ILKT-EZ / 2) sowie drei Interviews mit den Lernenden der ersten (ISchT-EZ / 1, A, B, C) und zwei mit den Lernenden der zweiten (ISchT-EZ / 2, A, B) Erzählstunde. Das Kategoriensystem wurde mithilfe der Technik zusammenfassender In‐ haltsanalyse (Mayring 2010: 69-83) - kombiniert mit inhaltlicher Strukturierung (Mayring 2010: 94) - in fünf Arbeitsschritten wie folgt entwickelt: Im ersten Arbeitsschritt ergaben sich durch inhaltliche Zusammenfassung aus der Reduktion und Generalisierung der Analyseeinheiten der ersten Er‐ zählstunde 15 induktiv ermittelte Kategorien für jede Analyseeinheit. Im zweiten Arbeitsschritt wurden durch inhaltliche Strukturierung den 15 Kategorien jeder Einheit vier Hauptkategorien zugeordnet, die deduktiv im Re‐ kurs auf die Analysedimensionen der Erzählstunden (Kap. 9) gesetzt wurden und nunmehr die erste Ebene des Kategoriensystems bilden. Das sind die Er‐ 8 Durchführung der empirischen Studie 228 <?page no="229"?> 19 In Abweichung von dem Begriff der Analysedimension „Design der Erzählstunden“ (Kap. 9.2.1 und 9.3.1) wurde „Erzählstunde“ gewählt, da sich die Unterkategorien nicht nur auf das Design der Stunde beziehen. zählung, die Erzählstunde 19 , die Erzählperformances und die Rekonstruktionen der Erzählung. Die vier Hauptkategorien wurden in je zwei bis drei Unterkategorien ausdif‐ ferenziert, die meist induktiv durch Generalisierung und Bündelung der 15 er‐ mittelten Kategorien entwickelt wurden wie z. B. Interesse der Schülerinnen und Schüler, Performance-Gefühl, Publikums-Gefühl, Ideen zur Weiterarbeit. Einige orientieren sich wie die Hauptkategorien an den Analysedimensionen der Er‐ zählstunde wie z. B. Merkmale der Erzählung, Interaktion, Gestaltung der Per‐ formance. Ergebnis des Arbeitsschrittes waren zwei parallel konstruierte Kate‐ goriensysteme für die erste Erzählstunde, das eine System für die Perspektive der Lehrenden, das andere für die der Lernenden. Die erste Kategorienebene der beiden Systeme ist identisch, die zweite differiert in einigen Punkten. Im dritten Arbeitsschritt wurden die Reduktion und Generalisierung der Analyseeinheiten der zweiten Erzählstunde nach dem oben dargestellten Ver‐ fahren durchgeführt. Es ergaben sich weitere 16 induktiv ermittelte fallspezifi‐ sche Kategorien. Im vierten Arbeitsschritt versuchte ich, die 16 für die zweite Erzählstunde ermittelten Kategorien unter die Kategoriensysteme der ersten Erzählstunde zu subsummieren. Der Versuch führte zur Umformulierung einiger Kategorien der zweiten Ebene. Das Unterfangen erwies sich besonders für die Unterkategorie „Produktion“ der Hauptkategorie „Rekonstruktionen“ als schwierig, was auf die unterschiedlichen Narrativierungsaufgaben in den beiden Erzählstunden zu‐ rückzuführen ist. Zur Lösung des Problems wurde der zweiten Kategorienebene eine dritte zugeteilt, die Unterschiede zwischen den beiden Erzählstunden (EZ / 1 und EZ / 2) berücksichtigt. Aus diesem Arbeitsschritt ergab sich ein fallübergreifendes Kategorien‐ system, das in zwei Varianten vorliegt: in einer Variante für die Perspektive der Lehrenden, in einer für die der Lernenden. Deren erste Ebene ist weiterhin identisch, die zweite differiert in einigen Punkten. Die Codierung des gesamten Materials wurde wie die Transkription der Vi‐ deoaufnahme (Kap. 8.3.1.1) nicht mithilfe eines computergestützten Verfahrens vorgenommen. Bei der relativ geringen Materialmenge war dies auch nicht nötig (s. Deutsch 2016: 116). Von zentraler Bedeutung war jedoch das regelge‐ leitete, transparent gemachte Vorgehen und das Einhalten von Leitprinzipien bei der Erstellung des Kategoriensystems und des Codierens, die vor allem darin bestanden, „am Material zu arbeiten, d. h. in ständiger Auseinandersetzung mit 8.3 Datenaufbereitung und Analyseschritte 229 <?page no="230"?> dem erhobenen Material vorzugehen und dies auch in der Darstellung der Er‐ gebnisse deutlich werden zu lassen.“ (Schmidt 2010: 484) 8.3.2.4 Die Struktur des Kategoriensystems Die beiden folgenden Grafiken (Abb. 11, Abb. 12) veranschaulichen die Struk‐ turierung des Kategoriensystems. 8 Durchführung der empirischen Studie 230 <?page no="231"?> Abb. 11: Kategoriensystem der Lehrkräfteinterviews 8.3 Datenaufbereitung und Analyseschritte 231 <?page no="232"?> Abb. 12: Kategoriensystem der Lernendeninterviews 8 Durchführung der empirischen Studie 232 <?page no="233"?> Die für beide Kategoriensysteme identische grafische Darstellung bildet die Gemeinsamkeit der ersten Kategorienebene ab. Die Zweiteilung der Grafik ver‐ deutlicht die unterschiedlichen Dimensionen der Hauptkategorien und die ihnen zugrunde liegende prozesshafte Entwicklung. Die auf der linken Seite repräsentierte Dimension betrifft die Planung (von der Erzählung zum Stun‐ dendesign), die auf der rechten Seite dargestellte die Durchführung der beiden Hauptphasen der Erzählstunde (von der Performance zur Rekonstruktion). Die spiegelgleiche Anordnung der Kategorien auf der rechten Grafikseite verweist auf die strukturellen Entsprechungen der Dimensionen der Erzählper‐ formances und der Rekonstruktionen. Mit der jeweils am äußeren Rand plat‐ zierten Kategorie Interaktion werden die Äußerungen der Akteure zu den In‐ teraktionsformen und -rollen der beiden Hauptphasen der Erzählstunde erfasst. Die jeweils in der Mitte platzierte Kategorie erfasst die Aussagen zu der von den Lernenden ausgeführten narrativen Aktivität. In der einen Phase ist es die Re‐ zeption der Performance, in der anderen die narrative Produktion der Lern‐ enden. Die einander gegenüberliegenden Kategorien der Gestaltung stehen für die von den Lehrenden zu verantwortenden Gestaltungsprinzipien der Perfor‐ mance und der Rekonstruktionen. Eine Sonderstellung nehmen die Kategorien der Motivation zum Performen, zum Erzählen und zur Teilhabe an der Performance ein. Mit ihrer Hilfe werden die im Laufe des Interviews in unterschiedlichen Kontexten auftauchenden Äu‐ ßerungen zum Spaß, zur Freude am Zuhören und am eigenen Erzählen zusam‐ mengeführt und als volitionale und emotionale Teilhabe an der Gestaltung der Erzählperformances und der Rekonstruktionen abschließend interpretiert (s. Kap.10.1.6 und 10. 2.6). Die Ergebnisse der Arbeitsschritte werden, verbunden mit den Ankerbei‐ spielen der dritten Kategorienebene, für beide Erzählstunden getrennt in Kapitel 10.1 und 10.2 im Zusammenhang dargestellt. 8.3 Datenaufbereitung und Analyseschritte 233 <?page no="234"?> 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen Kapitel 9 geht der Frage nach der Realisierung der Potenziale mündlichen Er‐ zählens als Performance und der Entwicklung narrativer Diskurse im Fremd‐ sprachenunterricht mithilfe videobasierter Unterrichtsbeobachtung nach. Dabei werden die Planung und Durchführung von zwei Erzählstunden, die denselben Märchentext als Basistext verwenden, jedoch unterschiedliche Unterrichtsde‐ signs und Performanceinszenierungen vorlegen, untersucht. Das einleitende Kapitel (Kap. 9.1) umfasst die Analyse des Originaltextes und der beiden für die Verwendung in den Erzählstunden adaptierten Erzähltexte. Das nächste Kapitel (Kap. 9.2) enthält die Analyse der ersten Erzählstunde. Es untersucht in einem ersten Schritt das von den Lehrkräften entworfene und realisierte Unterrichts‐ design (Kap. 9.2.1), in einem zweiten die von den Lehrkräften realisierte und gemeinsam mit den Lernenden erlebte Erzählperformance (Kap. 9.2.2). Kapitel 9.2.3 analysiert die in der Anschlusskommunikation realisierten Rekonstrukti‐ onen der Erzählung. Das nächste Kapitel (Kap. 9.3) umfasst die Analyse der zweiten Erzählstunde. Sie erfolgt in Form eines Vergleichs mit der ersten Er‐ zählstunde und in denselben Arbeitsschritten (Kap. 9.2). Das abschließende Ka‐ pitel (Kap. 9.4) interpretiert die Ergebnisse der Videoanalysen und zieht ein Zwischenfazit. Dabei werden die in den Erzählstunden sichtbar gewordenen Potenziale mündlichen Erzählens als Performance zusammengefasst, die An‐ wendung der mehrdimensionalen Modelle (PM, FDM-P, FDM-R) wird disku‐ tiert. 9.1 Die geplanten Erzähldiskurse beider Erzählstunden Die Gesamtanalyse der Erzählstunden (Kap. 9) geht folgenden Forschungs‐ fragen (Kap. 2.1.3) nach: Wie werden die Potenziale des mündlichen Erzählens als Performance in den Erzählstunden sichtbar? Mit welchen Mitteln werden sie realisiert? <?page no="235"?> 1 Die im Folgenden in Kap. 9.1 mit „Kriterium“ bezeichneten Verweise beziehen sich auf dieses Modell. Es ist als „Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse von Erzählperfor‐ mances (FDM-P)“ in Anhang 3 dokumentiert. Zur Gesamtanalyse der Erzählstunden werden vier Quellen herangezogen: die in Textform vorliegenden, für das Erzählen ausgewählte Märchenerzählung (OT), die von den Lehrkräften erstellten Textadaptionen (AT-EZ / 1, AT-EZ / 2), die in den Projektdossiers der Lehrkräfte (PDLK) vorliegenden Unterrichtspla‐ nungen und die in der Videografie (VT-EZ / 1, VT-EZ / 2) festgehaltene Durch‐ führung der Erzählstunden. Die ausgewählte Märchenerzählung und die Adaptionen der Erzählung stellen die geplanten Erzähldiskurse der beiden Erzählstunden dar. Ihre Ent‐ wicklung wird nach den bereits erläuterten Analyseverfahren (Kap. 5.5, Kap. 8.3.1.2) anhand der Kriterien des Fünf-Dimensionen-Modells (FDM-P) 1 und an‐ hand folgender Leitfragen analysiert: • Welche prototypischen und welche genretypischen Elemente hält der Originaltext (OT) für seine performative Verwendung im Fremdspra‐ chenunterricht bereit? • Welche Merkmale und Modellierungen konzeptioneller Mündlichkeit liegen vor? • Worin könnte die Erzählwürdigkeit des Märchens für die Lernenden be‐ stehen? • Welche Zielsetzungen und welche Modellierungsstrategien liegen den Adaptionstexten (AT-EZ / 1 und AT-EZ / 2) zugrunde? Der erste Gegenstand der Textanalyse (Kap. 9.1.1), der Originaltext, ist das in der illustrierten Märchensammlung Contes d’Afrique von Henri Gougaud (1999a) erschienene afrikanische Märchen Le conte des échanges (1999b). 9.1.1 Analyse des Märchentextes Le conte des échanges : Brüdermärchen und Kettengeschichte In diesem Märchen geht es um Tauschgeschäfte, die durch folgende Situation ausgelöst werden: Zwei Brüder erhalten von ihrer Mutter ein Geschenk, jeder von ihnen einen oiseau rouge. Die Brüder nutzen ihr Geschenk unterschiedlich. Der ältere betrachtet das Geschenk als Nahrungsmittel und verzehrt es: « Mon ventre gargouille. Je vais le plumer, le rôtir. Mère, allume le feu. » (Gougaud 1999b: 95) Der Jüngere bewahrt das Geschenk auf, um mit seiner Hilfe einen anderen, für ihn wertvolleren Gegenstand einzuhandeln: « Moi, dit le cadet, je garde le mien. Je vais l’échanger contre la fille d’un chef. » (a. a. O.) 9.1 Die geplanten Erzähldiskurse beider Erzählstunden 235 <?page no="236"?> Inhaltliche Narreme Die Personenkonstellation, ein Topos des europäischen wie auch des afrikani‐ schen Märchens (Chevrier 2005: 127-132), stellt den ersten prototypischen Bau‐ stein der inhaltlichen Narreme dar. Charakteristisch für diesen Baustein ist die Opposition zwischen dem jüngeren, gewitzten und dem älteren, weniger schlauen Bruder. Diese Opposition wird im Laufe der Handlung entwickelt, denn es ist der auf den ersten Blick naive, jüngere Bruder, der sich durch das Bestehen seiner Abenteuer und das Erreichen seines Zieles als der schlauere von beiden erweisen und recht behalten wird gegenüber dem älteren, der ihn zunächst ob seines hochgesteckten Zieles verlacht. Am Ende, als der jüngere Bruder mit der fille d’un chef ins Dorf zurückkommt, muss sich der ältere geschlagen geben. Er verschwindet vor Scham und Überraschung in den Erdboden ‒ auch dies ein Märchentopos: « L’autre en fut si surpris qu’il disparut sous terre. » (Gougaud 1999b: 102) Die weiteren inhaltlichen Bausteine wie Zeit und Orte der Handlung gehören ebenfalls einem märchentypischen Erzählkonzept an. Die erzählte Zeit ist die der unbestimmten Vergangenheit des Märchens. Wie lange der Weg des frère cadet dauert, wird nicht genau gesagt. « Il arriva bientôt […]. » (a. a. O.: 96) « Il parvint bientôt […]. » (a. a. O.: 100) Sollte der Weg nur einen Tag gedauert haben - oder zwei Tage oder vielleicht ein ganzes Jahr? Die Handlungsorte sind ebenfalls im Unbestimmten verankert: ein Feld, ein Fluss, ein Baum, ein Dorf, irgendwo. Und trotz des vom Erzählkonzept inten‐ dierten Irgendwo tragen die Orte und Objekte Spuren eines außereuropäischen Alltags: le fagot sur la tête, le bambou, les feuilles de palme, l’arbre à palabres u. a. m. Es handelt sich um eine afrikanische Märchenwelt. Das Erzählkonzept des afrikanischen Märchens gleicht dem europäischer Märchen, weist jedoch die Spezifik einer für europäische Hörerinnen und Hörer fremden Welt auf. Das Fremde bezieht sich nicht nur auf Orte und Gegenstände, sondern auch auf die Figurengestaltung. Diese ist zwar eindimensional, flächig (Lüthi 2005: 9-12, 13-24) wie im europäischen Märchen organisiert (Kap. 3.4). Die Eindimensio‐ nalität der Figuren ist jedoch extrem angelegt, denn es werden ihnen keine Merkmale zugeordnet, die sie von den anderen Figuren abgrenzen würden, auch wird ihr Handeln nicht erläutert. Ein Grund für die Freigiebigkeit des chef du village wird z. B. nicht genannt, sie erschließt sich textextern aus seiner Rolle im 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 236 <?page no="237"?> 2 In den traditionellen afrikanischen Gesellschaften bildete die sog. chefferie die wich‐ tigste gesellschaftliche, politische und religiöse Einheit (Balandrier 1963: 289): Ein chef traditionnel war gleichzeitig Administrator, Priester, Richter, Schlichter, Beschützer und Kriegsherr: «La chefferie traditionnelle ne vise pas seulement l’administration des hommes et des biens, mais la sauvegarde intégrale des individus, de la collectivité et des richesses qui participent de leur être.»(Balandrier 1963: 390) Während die Hierar‐ chien der chefferies (vom chef du village als Vertreter der untersten bis zum chef couronné als Vertreter der höchsten Ebene) variierten, so ist ihnen die Regelung der erblichen Nachfolge gemeinsam, wenn auch an unterschiedliche Voraussetzungen gebunden, z. B. an einen lignage matri-linéaire oder patri-linéaire (Balandrier 1963: X). In einigen Ge‐ sellschaften ist es Brauch, dass der durch Erbfolge Bestimmte nur chef werden kann „dans la mesure où, dilatant sa zone d’influence, il s’est imposé en tant que puissante personnalité.“ (Balandrier 1963: 202) 3 Einblick in die Rezeption der Lernenden geben ihre Fortsetzungsgeschichten (Kap. 9.3.3) und ihre Äußerungen in den Interviews (Kap. 10.1 und 10.2). gesellschaftlichen Kontext 2 und / oder textintern aus dem einmal gewählten Handlungsmuster des Gebens und Nehmens sowie dem genretypischen Hoch‐ zeits-Märchenende. Da es sich bei dem Geschenk immerhin um die Tochter des Gebers handelt, wird das Publikum den folgenden Dialog zwischen ihm und dem Protagonisten je nach Modus und Kontext der Rezeption sicher sehr unter‐ schiedlich aufnehmen - mit Erstaunen, Amüsement oder kritischer Distanz 3 : Que veux-tu, garçon ? demanda le chef. Ta fille en mariage. Prends-la, aimez-vous et soyez heureux. (Gougaud 1999b: 101) Ein besonderes Profil, das ihn aus der Gruppe der Figuren herausragen lässt, erhält lediglich die Figur des frère cadet. Als jugendlicher Protagonist ist er mit einer poetischen Gabe ausgestattet, die er im Laufe des Geschehens zu gebrau‐ chen lernt. Auf diese Weise wird seine Figur eng mit dem zentralen narrativen Baustein - der Märchenhandlung - verbunden. In deren Zentrum stehen die Tauscherlebnisse des von Tauschpartner zu Tauschpartner ziehenden Protago‐ nisten. Jedes Tauschgeschäft bedeutet für ihn zunächst den Verlust seines Be‐ sitzes, den er beklagt, und endet mit dem Erwerb eines neuen Tauschgegen‐ standes, mit dem er seinen Weg fortsetzt. Seine Klage verbindet der Protagonist mit einem Lied, dessen Vortragsweise sich mit seiner Reaktion auf die Tauschgeschäfte verändert. Wo er zu Anfang beim Verlust seines Besitzes weint, jammert oder schreit, beginnt er in der vierten und fünften Etappe zu singen, um sich in der entscheidenden siebten Etappe, dem Höhepunkt des Märchens, auf zweifache Weise abweichend zu verhalten - eine Handlung, die den sog. Planbruch (Kriterium 1.c) markiert: Er trennt sich nicht sofort von seinem Besitz, sondern lässt sich vor den chef du 9.1 Die geplanten Erzähldiskurse beider Erzählstunden 237 <?page no="238"?> 4 Lüthi gewinnt aus dem Gegensatz der beiden Welten, die er mit den Oppositionen wunderbar vs. alltäglich bzw. jenseitig vs. diesseitig erfasst, die Kategorie der „Eindi‐ mensionalität“ (Lüthi 2005: 12) - Eindimensionalität deshalb, weil der Gegensatz in dem o. g. Nebeneinander in einer Dimension aufgehoben ist. Eindimensionalität, Flächen‐ haftigkeit, abstrakter Stil, Isolation und Allverbundenheit sind die wichtigsten von Lüthi entwickelten Kategorien zur Beschreibung der Erzählweise des Märchens (Lüthi 2005: 8-75). village führen, dem er seinen Besitz als Geschenk überreicht. Nachdem auch diese Gabe konsumiert ist, begibt sich der Protagonist unter den mythischen Baum des Erzählens, den arbre à palabres, beginnt die Hirtenflöte zu spielen, die Trommel zu schlagen und auf diesen Rhythmus sein Lied zu singen. Er verschafft sich damit Gehör beim chef du village und gelangt so ans Ziel seiner Wünsche. Letztlich ist der Erfolg dieses entscheidenden Tauschgeschäfts nicht nur der Mechanik des Handlungsmusters zu verdanken, sondern auch der Leistung (Kriterium 1.b) des Protagonisten. Oder der Poesie, des Wortes, der Musik? Märchentypisch ist auch der dem conte des échanges zugrunde liegende Fik‐ tionalitätspakt (Kap. 3.3). Die Rezipierenden werden in eine Welt entführt, in der das Prinzip des Zauberhaften regiert. Und dem Zauberhaften wird nicht widersprochen, es wird als eine gültige Regel hingenommen (Lüthi 2005: 8-12). Wenn Fluss und Baum zum Tauschpartner werden, wenn sie mit dem Protago‐ nisten sprechen, so erstaunt es diesen nicht. Im Gegenteil, er dialogisiert und interagiert mit ihnen. Neben dem Wunderbaren trifft er auf Alltägliches, Ver‐ trautes. Den oiseaux rouges wird der Hals umgedreht, sie werden verspeist, Bambusstauden werden mit Messern geschnitten u. ä. m. Erzählkonzept und Fiktionalitätspakt des Märchens beruhen gerade darauf, dass beide Welten, die des Zauberhaften und die des Alltäglichen, nebeneinander existieren und dass sie zusammen gehören 4 . Das Spezifische des Erzählkonzepts des Märchens Le conte des échanges besteht darin, dass sich in das Zauberhafte Bizarres und Skurriles mischen. Dies betrifft vor allem die Szenen, in denen der Held am nächsten Ort der Tauschgeschäfte ankommt und sieht, wie sehr der Gegenstand, den er gerade besitzt, gebraucht wird: Là étaient des gens accroupis à quatre pattes, comme des chiens. Ils étaient occupés à trancher des bambous à coups de dents. Ils grognaient, mordaient et rognaient. Leur bouche saignait. Ils s’acharnaient en vain. - Prenez mon couteau, leur dit le garçon. Vous couperez mieux. (Gougaud 1999b: 96) Aus gattungstypologischer Perspektive ergibt die Analyse der inhaltlichen Nar‐ reme des conte des échanges eine Zuordnung zur Kategorie der Zaubermärchen 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 238 <?page no="239"?> 5 Petzold nennt als weitere Kategorien einer Zuordnung „vom Inhaltlichen her“ (a. a. O.: 248): das „Schwankmärchen, Tiermärchen, Lügenmärchen, ätiologische (erklärende) und Legendenmärchen“ (Petzold 2000: 248f.). 6 Möglich wäre auch die Anwendung des von Denise Paulme (1976, zitiert nach Jean 1990: 110-121) in ihrer Untersuchung afrikanischer Märchen entwickelte Drei-Phasen-Modell, das sich in die Etappen manque ‒ amélioration ‒manque comblé gliedert. Le conte des échanges entspricht in Paulmes Typisierungsmodell dem type as‐ cendant ( Jean 1990: 113). Als manque fungieren im vorliegenden Märchen der manque d’épouse, als amélioration die verschiedenen Stationen der vom Helden zu erfüllenden Aufgaben bzw. épreuves, als manque comblé die durch Tauschgeschäfte erworbene fille d’un chef. Es ist, im Gegensatz zum type descendant ( Jean 1990: 114), für den Helden des Märchens die positive Variante einer linearen Struktur: Im type ascendant wird der Mangel am Ende behoben, im type descendant steht am Ende erneut der Mangel. (Petzold 2000: 248) 5 , der Zweibrüdermärchen (Lüthi 2005: 107; 110) oder der Initiationsmärchen (Chevrier 2005: 64f.). Die Analyse der inhaltlichen Narreme zeigt, dass das Märchen die wichtigsten prototypischen Merkmale für seinen Einsatz im Fremdsprachenunterricht be‐ reithält: Erstens dominiert die Märchenhandlung, das „prototypische Rückgrat des Narrativen“ (Wolf 2002a: 46). Diese wird durch den Bruderkonflikt ausgelöst und konfliktgeladen weitergetrieben. Zweitens ist die Handlung auf einen Handlungsstrang und auf wenige Figuren konzentriert, wobei der Protagonist aus der Figurengruppe herausragt. Drittens weist der Text mit seinem mär‐ chentypischen Erzählkonzept ein zentrales Fiktionsmerkmal auf - die Verfü‐ gungsmächtigkeit des allwissenden Erzählers über die von ihm erzählte Zau‐ berwelt (Kap. 3.3). Die folgende Analyse der syntaktischen und der qualitativen Narreme zeigt, dass das Märchen auch das Prototypenmerkmal der „Klarheit und Eindeutigkeit der Sinn- und Kohärenzbezüge“ (Wolf 2002a: 52) aufweist. Syntaktische Narreme Was die syntaktischen Narreme (Kriterium 1.c) betrifft, so sind die Episoden prototypisch nach dem Muster der chronologisch-linearen Folge verknüpft. Eng verbunden mit dem chronologischen Prinzip sind im conte des échanges die Prinzipien der Kausalität, der Teleologie sowie die Prinzipien der Wiederholung und der Verzögerung. Legt man dem Märchentext das Fünf-Phasen-Modell des schéma quinaire (Kap. 3.1.1) zugrunde, so ergibt sich folgende Makrostruktur (nach Larivaille in Reuter 1991: 46) 6 : 1. Etat initial: Situation zweier unverheirateter Brüder 2. Complication: Schenkung und Auszug des Jüngeren mit dem Ziel: 9.1 Die geplanten Erzähldiskurse beider Erzählstunden 239 <?page no="240"?> 7 Chevrier erklärt die Bedeutung der Heirat im afrikanischen Märchen, verbunden mit der Thematisierung des Reifungsprozesses, durch die Rolle der famille omniprésente (Chevrier 2005: 101) in den traditionellen afrikanischen Gesellschaften: « Dans ces con‐ ditions, le conte a donc très souvent pour fonction de faciliter le passage de l’individu de l’enfance à l’âge adulte, en vue de l’intégrer plus étroitement au réseau familial et social. C’est également la raison pour laquelle plusieurs textes […] évoquent le délicat problème du mariage […] » (a. a. O. : 101). Die hier immer noch präsenten Initiationsriten fänden sich in den Märchentexten als Strukturprinzip wieder: « Toute initiation se dé‐ roule généralement selon un processus en trois temps qui, par le biais d’épreuves ap‐ propriées, fait passer le candidat (ou la candidate) d’un stade d’indifférenciation sociale, culturelle et sexuelle à un nouvel état qui lui permet de s’assumer en tant qu’adulte intégré à un groupe social bien déterminé. » (a. a. O.: 64) Die drei Phasen (les trois temps) sind: erstens die Trennung, d.h. le départ du village, zweitens der Rückzug ins bois sacré, eine Phase, in der verschiedene Aufgaben zu erfüllen sind, und drittens die Er‐ kennung sous forme d’une procession triomphale. Die von Chevrier genannte Anfangs- und Schlussphase lassen sich auf den conte des échanges übertragen. Die Ereignisse der mittleren Phase finden zwar nicht alle an sakralem Ort statt, aber es handelt sich auch hier um zu erfüllende Aufgaben, die von der indiffération sociale zum Platz in der Ge‐ sellschaft und zur pocession triomphale führen. Tausch des oiseau rouge gegen la fille d’un chef 3. Dynamique: Abenteuer und Bewährung des Jüngeren: die Tauschgeschäfte 4. Résolution: Gabe und Rückkehr: erreichtes Ziel: La fille du chef 5. Etat final : Triumph des Jüngeren und Verschwinden des Älteren Das schéma quinaire legt mit der Reduktion der Erzählung auf fünf große Etappen deren Basisstruktur und Handlungsentwicklung frei. Ein Vergleich der ersten mit der letzten Etappe zeigt, dass sich die Ausgangssituation verändert hat. Eine Transformation hat während der drei mittleren Phasen stattgefunden: Der Protagonist hat sich aufgrund der bestandenen Prüfungen bzw. mithilfe der Tauschgeschäfte eine gefestigte soziale Position verschafft. Er ist durch Heirat 7 in die Welt der Erwachsenen getreten. Die Transformation besteht im Prozess des Erwachsenwerdens, im Gewinn der Braut durch Schenkung. Interessant für die Analyse der o. g. Verknüpfungsprinzipien ist die Phase der dynamique. Hier wirkt das Prinzip der Teleologie dadurch, dass die Stationen der Handlung auf einen Punkt, die Schenkung, zulaufen. Alles geschieht, damit der Protagonist sein Ziel erreicht. Allerdings gelingt ihm das nicht auf direktem Weg. Die Entwicklung der Handlung wird immer wieder verzögert, geht einem Höhepunkt entgegen, der dann die Lösung bringt. Teleologie und Verzögerung der erwarteten Lösung wirken zusammen, um einerseits Sinnhaftigkeit, ande‐ rerseits Spannung zu erzeugen. Wird zusätzlich das Prinzip der Kausalität und 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 240 <?page no="241"?> der Wiederholung in den Blick genommen, so zeigt sich, dass sich aus dem Zu‐ sammenspiel der genannten Prinzipien die Mikrostruktur der dynamique ergibt. Die Handlung kann nur voranschreiten, wenn und weil der Protagonist auf seinem Weg zum Ziel Personen trifft, die genau den Gegenstand brauchen, den er gerade besitzt, und sich deshalb auf ein Tauschgeschäft einlassen oder es anbieten. Die Handlungsmuster wiederholen sich an jeder Station durch ein Geben - Nehmen aus der einen, ein Nehmen - Geben aus der andern Perspek‐ tive. Die Handlungsstationen reihen sich wie eine Perlenkette aneinander bzw. sind wie die einzelnen Glieder einer Kette ineinandergefügt, weshalb dieser Märchentyp auch als Kettenmärchen (Schweikle 1990: 293) bezeichnet wird. Die Kette dieses Märchens besteht aus sieben Gliedern, die folgenden Sequenzen (Kriterium 1.c) entsprechen: Tausch‐ partner Ort Aktion Tauschge‐ genstände Zweck / Bestim‐ mung 1. Des enfants qui jouent devant une forge reçoi‐ vent l’oiseau rouge pour jouer avec. donnent un couteau. 2. Les gens des bambous au bord d’un étang reçoi‐ vent le couteau pour couper le bois. donnent un panier. 3. Les gens du champ des fèves un grand champ au bord de la route reçoi‐ vent le panier pour y mettre les fèves. donnent un pot d’huile. 4. L’arbre maladif devant le grand arbre reçoit l’huile pour guérir. donne un fagot. 5. Les marchands à l’ombre d’un rocher reçoi‐ vent le fagot pour faire du feu. donnent un sac de sel. 6. Le fleuve au bord du fleuve reçoit le sac de sel pour avoir du goût. donne des poissons. 7. Le chef du vil‐ lage un beau vil‐ lage reçoit les poissons pour servir ses in‐ vités. ne donne d’abord rien. 9.1 Die geplanten Erzähldiskurse beider Erzählstunden 241 <?page no="242"?> sous l’arbre à palabres donne finalement sa fille en mariage pour remplir le désir du garçon. Tab. 15: Sequenzen der dynamique des Märchens Le conte des échanges Die Gesamtstrukturierung in große und kleine aufeinander aufbauende Se‐ quenzen ergibt die „formal-erzähllogische Einheitsstiftung“ (Wolf 2002a: 50) des conte des échanges. Sie stellt das Pendant zur thematischen Einheitsstiftung (Kri‐ terium 1.c und Wolf a. a. O.) dar, die zum einen vom durchlaufenden Thema der Tauschgeschäfte, zum andern vom Thema des Erwachsenwerdens durch Be‐ stehen von Prüfungen gebildet wird. Diese zweite einheitsstiftende Ebene ist allerdings nur implizit angelegt und für europäische Rezipierende nicht so leicht erschließbar wie die erste Ebene. Aus der Analyse der syntaktischen Narreme ergeben sich die prototypischen Merkmale der o. g. „Klarheit und Eindeutigkeit der Sinn- und Kohärenzbezüge“: die linear-chronologische und kausale Verknüpfung der einzelnen Episoden, die zielgerichtete Handlungsführung und eine strenge, transparente Sequenzierung der Makro- und Mikrostruktur. Das Prinzip der Kettengeschichte bildet hier das Rückgrat prototypischer Kohärenzbildung. Qualitative Narreme Sinndimensionen (Kriterium 1.a) wie das in vielen Geschichten thematisierte Prinzip des Werdens (Wolf 2002a: 44) stellt der conte des échanges mit der Ent‐ wicklung des Protagonisten bereit. Die von ihm zu bewältigenden Prüfungen tragen neben der Kettenstruktur der Geschichte zu deren Erzählwürdigkeit (Kriterium 1.f und Kap. 3.2.3) bei. Im conte des échanges wird eine nach zaube‐ rischen und nach strengen strukturellen Regeln funktionierende fiktionale Welt konstruiert, womit Darstellungsqualität (Kriterium 1.a) erreicht wird. Die nach diesen Regeln ablaufenden Ereignisse, die Reaktionen, Gefühle, Stimmungen des Protagonisten bieten den Rezipierenden Möglichkeiten des Miterlebens spannender und heiterer Momente, damit Erlebnisqualität (Kriterium 1.a). Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit Beide Großformen konzeptioneller Mündlichkeit (Kap. 3.5.3, Abb. 3), fingierte Mündlichkeit (A) und gattungstypologische Verfahren (B), kommen zum Tragen. Was den Erzählmodus im Wechsel zwischen telling und showing betrifft, so wird er sowohl über die Erzählzeit als auch über Erzähler- und Figurenrede reguliert. Gerafft aus der Distanz erzählt werden der état initial und Passagen 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 242 <?page no="243"?> der résolution. In der Phase der dynamique ist die Erzählzeit durch einen prä‐ zisen, sich wiederholenden, vorhersehbaren Rhythmus ohne Vor- und Rück‐ schau strukturiert. Die Aufenthaltszeit des Protagonisten an einer Tauschstation ist immer gleich lang ‒ mit Ausnahme der letzten Station, die auf diese Weise mehr Gewicht erhält. Die Zeit zwischen den Stationen wird nicht erzählt, son‐ dern eine Station wird direkt an die nächste angeschlossen. Diese Erzähltechnik bewirkt eine Raffung der Zeit, die zu einer hohen Erzählgeschwindigkeit führt. Diese wird gebremst durch zeitliche Dehnung. Diese Funktion übernimmt die Ausgestaltung der Tauschgeschäfte zu Szenen. Auf dem Wechsel von Raffung und Dehnung der Erzählzeit, der in gleichbleibendem Rhythmus erfolgt und zielorientiert auf den Höhepunkt der Geschichte hinausläuft, beruht die beson‐ dere Dynamik des discours und seines von der histoire mitgetragenen Span‐ nungsbogens. Teleologisches Prinzip und Zeitregulierung treffen sich, um die Darstellungs- und Erlebnisqualität zu erhöhen, eine Erzähltechnik, die sich be‐ sonders für die mündliche Rezeption eignet. Die zweite Modellierungsmöglichkeit des Erzählmodus, der Wechsel von Er‐ zähler- und Figurenrede, wird ebenfalls eingesetzt. Erzählerrede wird in Phasen geraffter Zeit oder zur Beschreibung der Situation am Ort der Tauschgeschäfte, Figurenrede in den Austauschszenen eingesetzt, wobei die dramatische Variante (Kap.3.5.3) gewählt wird. Was die Erzählhaltung betrifft, so halten sich „entspanntes und gespanntes Erzählen“ (Weinrich 2001: 47-53), Distanz- und Nähe-Prinzip die Waage. Im Incipit wird eine entspannte Atmosphäre erzeugt. Die Zuhörenden werden mit der Tempusgruppe I (imparfait und passé simple) weit in die Vergangenheit des Dorfes und der beiden Brüder geführt. Der gegenteilige Effekt tritt ein, wenn das Geschehen mit der Tempusgruppe II (présent und passé composé) herange‐ zoomt wird und in den Szenen der Tauschgeschäfte eine ‚gespannte‘ Atmo‐ sphäre eintritt. Das Ende des Märchens führt zunächst in die Entspannung zu‐ rück, der letzte Satz aber ist besprechend in der Formelsprache des Märchens (Kriterium 1.d) gehalten: Der Erzähler ist präsent, er ergreift in eigener Sache das Wort und führt die Rezipierenden wieder aus der Welt der Fiktion he‐ raus: «J’ai pris ce conte par l’oreille, je l’ai chauffé dans mes dedans, sur mon souffle je l’ai rendu.» (Gougaud 1999b: 102) Die Schlussworte des Erzählers stellen Fiktionssignale (Kap. 3.3) der Textoberfläche dar, die auf das ‚Als-Ob-Spiel‘ des Erzählers verweisen und neben dessen Verfügungsmächtig‐ keit über die erzählte Welt den fiktionalen Pakt einfordern bzw. hier beenden. Was die Versprachlichungsstrategien betrifft, so weist die Erzählerrede in den beschreibenden Passagen deutliche Merkmale einer elaborierten Dis‐ tanz-Sprache, nicht der Reflektiertheit, sondern der Anschaulichkeit, auf. Die 9.1 Die geplanten Erzähldiskurse beider Erzählstunden 243 <?page no="244"?> Beschwerde des Protagonisten in den ersten Etappen steigert der Erzähler mit knappen, präzisen Verbalphrasen von einem leisen «[ll] gémit » (a. a. O.: 97) zu einem lauten « [ll] cria » (a .a. O.) In der nächsten Etappe lässt er sie zu einem Klagelied angewachsen: « [Il] se mit à chanter, à voix forte et triste. » (a. a. O.) In den beiden nächsten Szenen werden die Gefühle des Protagonisten indirekt, durch eine kurze Naturbeschreibung der Situation wiedergegeben: - Quand il ne resta plus que cendre et charbon, le garçon cogna du talon. Sa voix s’éleva, poursuivant au ciel la fumée enfouie. (a. a. O. : 98) - Quand le sac fut vide, il se pencha […] ouvrant ses bras à son reflet dans l’eau. (a. a. O.: 100) Die Darstellung der letzten Bewährungssituation, der öffentliche Vortrag unter dem arbres à palabres, knüpft mit der einleitend evozierten Verlustsituation und deren Einleitung mit dem Diskursmarker Quand an die vorangegangene Szene an und parallelisiert sie formelhaft-wiederholend im Redundanz-Stil der poésie orale: Quand tout fut mangé, le garçon s’en fut sous l’arbre à palabres. Il joua du pipeau, battit du tambour de danse et chanta ces paroles: « Rendez-moi […] etc. » (a. a. O. : 101) Die konzeptionelle Schriftlichkeit dieser Passagen bildet einen Kontrapunkt zu den vorangehenden, in konzeptioneller Mündlichkeit gestalteten Austausch‐ szenen. Deren Figurenrede weist auf der Ebene der Lexik Merkmale redundanter und affektgeladener Nähe-Sprache auf. Weitere Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit sind in der thematischen Verknüpfung zu sehen. Hier dominieren die Progression mit durchlaufendem Thema und der Gebrauch von Proformen (Heinemann / Heinemann 2002: 71, Brinker / Ausborn-Brinker 2010: 30f.). Die beiden genannten Techniken, ver‐ bunden mit dem für das Nähe-Prinzip typischen Einsatz von Linksversetzungen (Kap. 3.5.3), sind charakteristisch für die Erzählerrede, die den Protagonisten zu den Handlungsorten führt: -Le garçon s’en fut avec son couteau. Il arriva bientôt au bord d’un étang. Là [Her‐ vorhebung durch Verf.] étaient des gens accroupis à quatre pattes. (Gougaud 1999b : 96) -Le garçon s’en alla, son panier au bras. Au bord de la route, il vit un grand champ, et dans ce grand champ [Hervorhebung durch Verf.] des hommes courbés sur la terre. (a. a. O.: 97) 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 244 <?page no="245"?> 8 Der Originaltext umfasst 1.154 Wörter, der Adaptionstext der ersten Erzählstunde 704 Wörter. Diese anaphorische Technik erlaubt eine anschauliche, schrittweise Hinführung zum Ort des Geschehens und ist deshalb besonders geeignet für eine Rezeption in medialer Mündlichkeit. Die Analyse konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit zusammenfas‐ send lässt sich festhalten, dass im conte des échanges verschiedene, im konzep‐ tionellen Teil der Studie herausgearbeitete Modellierungsstrategien (Kap. 3.5.3) vorhanden sind, auf denen die Textadaptionen aufbauen können. Adressierung und Erzählwürdigkeit Eine Zuweisung zum Subsystem der Kinder- und Jugendliteratur durch eine spezifisch kinderliterarische Ausgabe der afrikanischen Märchen ist nicht ge‐ geben. Die Analyse des Originaltextes legt ebenfalls keine ausschließlich kin‐ derliterarische Adressierung, sondern eine im Text eingeschriebene Doppelad‐ ressierung (Kap. 3.4) nahe, die auf dem Erzählkonzept und der Erzählwürdigkeit des Märchens beruht. Die Erwachsenenadressierung basiert vor allem auf der Sinndimension des Märchens und seiner konzeptionellen Schriftlichkeit. Das Wahrnehmen und Entschlüsseln der Handlungssymbolik wie das Verschlingen des Vogels, der lange Weg zum Ziel als Bild für das Erwachsenwerden, das Lesen des Märchens als Initiationsmärchen setzt das kulturelle Wissen eines Erwach‐ senen voraus. Worin das besondere Angebot an Jugendliche besteht, wird die empirische Analyse zeigen. 9.1.2 Vergleichende Analyse der Textadaptionen und Adaptionsstrategien beider Erzählstunden Zwei an den Zielsetzungen der Erzählstunden und dem sprachlichen Profil der Lernenden orientierte Hauptstrategien leiten die Adaptionen (AT-EZ / 1 und AT-EZ / 2) des Märchentextes. Die erste besteht in der Kürzung des Original‐ textes, die zweite in der Modellierung der Textoberfläche. Adaptionsstrategien der ersten Erzählstunde (AT-EZ / 1) Die erste Erzählstunde (EZ / 1) kürzt die Wortanzahl des Textes von Gougaud (1999b) 8 um 39%. Die Kürzungen betreffen zum einen die Anzahl der Tauschse‐ quenzen, zum andern die Gestaltung der Textoberfläche. 9.1 Die geplanten Erzähldiskurse beider Erzählstunden 245 <?page no="246"?> Inhaltliche Narreme und Erzählkonzept Die gattungstypischen Merkmale des Erzählkonzepts und des Fiktionalität‐ spakts wie z. B. das Prinzip des Zauberhaften und die Verfügungsmächtigkeit des allwissenden Erzählers sowie die prototypischen Merkmale der histoire bleiben unverändert erhalten. Auch die Spuren des außereuropäischen Alltags (Kap. 9.1.1) finden sich im Adaptionstext wieder. Allerdings wird der arbre à palabres durch die den Lern‐ enden bekannte Bezeichnung le baobab ersetzt. Einige Passagen, die das Bizarre und Skurrile des Märchentextes ausmachen, werden gestrichen, andere werden beibehalten. Mit leichten Veränderungen bewahrt werden die mit anschaulichen Vergleichen arbeitenden Situationsbeschreibungen. Syntaktische Narreme Der Adaptionstext übernimmt die strenge, transparente Sequenzierung der Makrostruktur und die narrationstypischen Verknüpfungsformen (Kap. 9.1.1) und zeichnet sich deshalb wie seine Vorlage durch „Klarheit und Eindeutigkeit der Sinn- und Kohärenzbezüge“ (Wolf 2002a: 52, Kap. 9.1.1 der Studie) und einen deutlichen Spannungsbogen aus. Die Austauschkette wird um einige Glieder gekürzt. Die Kette mit den verbleibenden fünf Gliedern verfügt damit über ge‐ nügend Redundanz, ist aber mit ihrer geringeren Anzahl für die Rezipierenden übersichtlicher und leichter memorierbar. Qualitative Narreme Die im Originaltext realisierten Elemente der Sinn-, Darstellungs- und Erleb‐ nisqualität finden sich auch im Adaptionstext wieder. Allerdings erfahren sie einige Veränderungen durch eine spezifische Modellierung der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die zwar an die Modellierungsstrategien des Originals anknüpft, sie jedoch ‒ vor allem im Hinblick auf die Gestaltung der Textoberfläche ‒ unter pädagogischen und performativen Zielsetzungen modi‐ fiziert. Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit Der Original- und der Adaptionstext beginnen wie folgt: Originaltext (Gougaud 1999b: 95-96.) Adaptionstext (PDLK-EZ / 1: 4-6) Une femme avait deux garçons. Un jour elle alla ramasser du bois. Une femme a deux garçons. Un jour*, elle revient de la forêt. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 246 <?page no="247"?> Elle s’en revint avec un fagot sur la tête. En haut de ce fagot étaient deux oiseaux rouges. Ils s’étaient posés là, leurs pattes s’étaient prises dans l’enchevêtrement des branches. Sur la tête*, elle a un fagot. En haut de ce fagot* il y a deux oiseaux rouges. La mère à ses enfants donna l’un, donna l’autre. La mère donne à chaque enfant un oi‐ seau. L’aîné dit: -Mon ventre gargouille! Je vais le plumer, le rôtir. Mère, allume le feu ! -J’ai une faim de loup*. Je vais le plumer, le rôtir. Mère, allume le feu ! -Moi, dit le cadet, je garde le mien. -Moi, je garde mon oiseau, dit le cadet. Je vais l’échanger. Je vais l’échanger*. -Frère, contre quoi? -Frère, tu l’échanges contre* quoi ? - La fille d’un chef. -Contre* la fille d’un chef. -La fille d’un chef contre un oiseau rouge ? Frère, tu perds la raison! -La fille d’un chef contre un oiseau rouge ? Frère, tu es fou*! * Hervorhebungen durch Verf. Die Erzählung beginnt in beiden Texten medias in res. Im Originaltext ist die Erzählhaltung entspannt durch die Wahl der Tempora (imparfait / passé simple), die die Rezipierenden in die Vergangenheit des Märchens entführt (Charaudeau 1992: 467). Die Lexik ist elaboriert. Lediglich die Proformen in den ersten vier Zeilen sind vom Prinzip konzeptioneller Mündlichkeit geprägt. Mit dem Wechsel von Erzählerin direkte Figurenrede wird das Distanzzugunsten des Nähe-Prinzips aufgegeben. Damit wird der Moment, an dem der Bruder‐ konflikt zum ersten Mal ausbricht, markiert, und die Auseinandersetzung der beiden Brüder kann szenisch gestaltet werden ‒ in beiden Texten in der drama‐ tischen Variante (Kap. 9.1.1). Die Sprache der Figuren ist affektgeladenen und expressiv. Der Adaptionstext liefert eine Variation der oben beschriebenen Modellie‐ rung. Eine entspannte Erzählhaltung über die Tempuswahl kann nicht zustande kommen, da als temps de la narration das Präsens gewählt und damit von Anfang an das Geschehen an die Gegenwart der Rezipierenden herangezoomt wird. Der Verzicht auf dieses Entspannungsmoment wird ausgeglichen durch eine lang‐ same Hinführung zur Szene - durch Kürzung und Modellierung der Syntax mithilfe linksversetzter Proformen (s. die hervorgehobenen Textstellen), kom‐ biniert mit durchlaufender Themenentwicklung (une femme, elle, elle). Diese Hinführung lässt den Rezipierenden Zeit, sich die agierende Figur, ihre Haltung 9.1 Die geplanten Erzähldiskurse beider Erzählstunden 247 <?page no="248"?> mit dem fagot sur la tête vorzustellen, dann den Blick nach oben sur la tête und le fagot zu richten, um dann dessen Bewohner, les deux oiseaux rouges, die gleich herausgeholt werden, zu sehen. Die Performance kann die Anschaulichkeit des so modellierten Textes mit performativen Mitteln für die Zuhörenden und Zu‐ schauenden sichtbar machen. Was die Figurenrede betrifft, so orientiert sich der Adaptionstext fast wörtlich an der fingierten Mündlichkeit des Origialtextes und nimmt nur einige Umge‐ staltungen vor. Er wählt alltagssprachliche Formulierungen und wiederholt zentrale verbale Elemente der Tauschaktionen - z. B. échanger und die Präposi‐ tion contre, die in der Gestaltung des Liedes eine wichtige Rolle übernehmen. Damit wird das Redundanzprinzip ‒ im Gegenzug zur Kürzung ‒ angewandt. Die Technik linksversetzter Proformen wird auch in den folgenden Se‐ quenzen eingesetzt, Diskursmarker wie z. B. peu après, mais, ainsi, avec ces mots werden hinzugefügt. Die genannten Adverbien und die Technik der Linksver‐ setzung erlauben den Erzählenden, ihre Zuhörerinnen und Zuhörer Schritt für Schritt mitzunehmen. Unterschiede zwischen den Adaptionsstrategien der beiden Erzählstunden Tempora Der erste Unterschied besteht in den Tempora des Incipit. Der zweite Adapti‐ onstext (AT-EZ / 2) formuliert den Beginn der Erzählung, die Rückkehr der Mutter und die Schenkung, im imparfait und passé composé. Gemeinsam mit dem imparfait entführt das passé composé den Rezipierenden in die Vergangen‐ heit des Märchens. Aber im Gegensatz zum passé simple führt es nicht allzu weit zurück (Charaudeau 1992: 467f), erzeugt nicht Distanz, sondern Kontakt mit der Gegenwart der Erzählung. Es bereitet den Übergang zum temps de la narration, dem Präsens, vor, das mit der Brüderszene einsetzt. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 248 <?page no="249"?> 9 Der im Projektdossier dokumentierte Adaptionstext von EZ / 2 (PDLK-EZ / 2: 1-4) um‐ fasst insgesamt 1.020 Wörter. Das sind 88% des Originals, was einer Kürzung um 12% entspricht. Dieser Adaptionstext kommt in der Performance jedoch nicht vollständig zum Tragen. Erzählt wird lediglich bis zur vierten Station inkl. des 4. Reims (a. a. O.: 3). An dieser Stelle wird die Erzählung abgebrochen, was mit den Planungsentscheidungen des Lehrkräfteteams zusammenhängt. Aus diesem Grund lege ich der Analyse des Adaptionstextes lediglich die erste Hälfte der Textfassung zugrunde. Der tatsächlich verwendete Adaptionstext (AT-EZ / 2) umfasst damit 513 Wörter, d.h. 45% des Origi‐ naltextes (1.154 Wörter), was einer Kürzung um 56% entspricht. Textkürzung Der zweite Adaptionstext kürzt das Original um die Hälfte 9 . Im Gegensatz zur ersten Adaption werden nicht einige Sequenzen ausgelassen, sondern die Er‐ zählung wird abgebrochen. Sie endet mit der vierten Tauschsequenz in der Mitte der Phase der dynamique. Damit bleibt wie im ersten Adaptionstext das Prinzip der Kettengeschichte erhalten, aber die Höhepunktszene entfällt. Diese Art der Kürzung ist Ausgangspunkt für die narrative Aufgabe der zweiten Erzählstunde (Kap. 9.3.1.3) und bildet einen wesentlichen Unterschied zur ersten Erzähl‐ stunde. Klagelied-Refrain Der dritte Unterschied besteht in der Gestaltung des Klageliedes. Im Originaltext ist das Klagelied des Protagonisten nach dem Muster eines stetig anschwellenden Refrains konzipiert. Hier zählt der Protagonist die Ge‐ genstände auf, die er gewonnen und wieder verloren hat, und nennt die jewei‐ ligen Geber. Auf diese Weise wird der Refrainkette bei jeder Handlungsetappe ein neues Refrainglied hinzugefügt (Prinzip der Akkumulation) und die bereits vorhandenen Kettenglieder werden in Erinnerung gerufen (Prinzip der Wie‐ derholung). Der Refrain hält die Kettenstruktur der Geschichte zusammen. Aber: Die Aufzählung läuft rückwärts, vom augenblicklichen Geschehen zum Ausgangspunkt zurück. Die Figurenrede läuft somit den umgekehrten Weg wie die Handlung. Die Handlung schreitet voran, die Rede läuft zurück. Der Kette vorwärts entspricht eine Kette rückwärts. Vom mnemotechnischen Standpunkt aus gesehen erleichtert die ‚Kette vorwärts‘ das Verstehen, die ‚Kette rückwärts‘ stützt das Behalten. Die Kettenstruktur der Geschichte und des Refrain stellen mit dem Rekurs auf die „Urform mündlichen Erzählens“ (Wolf 2002a: 36) ein Verfahren der Großform B konzeptioneller Mündlichkeit (Kap. 3.5.3) dar. Insbesondere der Refrain greift ein zweites Verfahren dieser Großform, die Integration poe‐ 9.1 Die geplanten Erzähldiskurse beider Erzählstunden 249 <?page no="250"?> 10 Das afrikanische Märchen wurde wie auch das europäische „Volksmärchen“ (Schweikle 1990: 292) zunächst mündlich überliefert und erst in der Neuzeit gesammelt, verschrift‐ licht und literalisiert. Ein Nachzeichnen der verschiedenen Phasen der Literalisierung und (Re-)Oralisierung des afrikanischen Märchens kann im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden. Für den Kontext der Studie von Interesse ist die Existenz einer schrift‐ lichen Version der ‚Urform des Erzählens‘, die für ihre fremdsprachendidaktische Ver‐ wendung aufbereitet wird. tisch-lyrischer, redundanter und formalisierter poésie-orale-Sprache, auf. Dies zeigt das folgende Beispiel des Refrains : Rendez-moi le panier d’osier que m’ont donné qui? Les gens des bambous contre un long couteau que m’ont donné qui? Les gens de la forge contre un oiseau rouge que m’a donné qui ? Ma mère, ma mère. (Gougaud 1999b: 97) Der formularisch-redundante Stil manifestiert sich in der Konstruktion von Refrain-Einheiten, die nach einem festgelegten Schema erweitert und wieder‐ holt werden. Ein Element, die Frage Que m’a donné qui ? hält die Aufzählung der Reimelemente einen Augenblick auf und gibt in der mündlichen Kommu‐ nikation dem Erzähler die Chance, Atem zu holen und sich an die Zuhörer zu wenden. Das letzte Element Ma mère, ma mère bildet durch seine Position am Ende des Liedes den Zielpunkt der Klage und erhält damit ein besonderes Ge‐ wicht. Beide Textadaptionen übernehmen das Prinzip der Rhythmisierung, der Ak‐ kumulation und der Wiederholung, gehen aber mit einzelnen Reim-Elementen unterschiedlich um. Die zweite Adaption (AT-EZ / 2) übernimmt die Originalfassung fast wörtlich - damit auch das Refrainelement: Que m’a donné qui ? Die erste Adaption ver‐ einfacht die Liedstruktur. Sie streicht das o. g. Refrainelement und ersetzt es durch ein unkompliziertes Verbindungsstück zwischen den Refrainelementen: que j’ai changé contre. Das Lied wird insgesamt kürzer, der Rhythmus fließender: Rends-moi le sac de sel que j’ai changé contre le couteau que j’ai changé contre le panier que j’ai changé contre l’oiseau rouge que m’a donné ma mère, ma mère. (PDLK-EZ / 1: 2) 9.1.3 Ergebnis der Analyse: die Entwicklung der Erzähldiskurse für ihren Einsatz in medialer Mündlichkeit im Fremdsprachenunterricht Als Ergebnis der Analyse der geplanten Erzähldiskurse lässt sich festhalten, dass die Lehrkräfteteams ein in schriftlicher Verfasstheit vorliegendes Märchen 10 in 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 250 <?page no="251"?> textuelle Vorlagen für die in mündlicher Kommunikation zu realisierenden nar‐ rativen Diskurse transformieren. Die Textadaptionen weisen folgende Merk‐ male auf: • Sie bauen auf den inhaltlichen, strukturellen und charakteristischen sprachlichen Merkmalen des Originaltextes auf. • Sie erfolgen auf der Grundlage von zwei zentralen Adaptionsstrategien - der Kürzung und der Modellierung der Textoberfläche. Die erste Strategie führt zu einer erheblichen Reduktion des Textumfangs, die zweite zu einer Verstärkung des Prinzips konzeptioneller Mündlichkeit bei Aufrechter‐ haltung distanzsprachlicher und vor allem poetischer Elemente der Er‐ zähler- und Figurenrede. • Die beiden Adaptionsstrategien ergänzen einander. Was durch Kürzung entfällt, wird durch Modellierung der Textoberfläche ausgeglichen bzw. lässt der Performance Raum zum Ausgleich. Umgekehrt hilft das Kür‐ zungsprinzip bei der Modellierung der Textoberfläche. Den Adaptionsstrategien liegen folgende konzeptionelle Vorentscheidungen zugrunde: • Sie erfolgen im Dienste ihrer medialen Realisierung. Da sie als Sprech‐ vorlage für das mündliche Erzählen vor Publikum dienen sollen, haben die Lehrkräfte Adaptionstexte konstruiert, die der Linearität und Flüch‐ tigkeit mündlichen Sprechens (Kap. 3.5.1) Rechnung tragen. Sie enthalten genügend Anker des Memorierens, sind von einem eingängigen, fließ‐ enden Rhythmus getragen und ihre szenische Gestaltung gibt Anre‐ gungen zur Dramatisierung der Performance. • Die Adaptionen erfolgen auch im Dienste ihrer unterrichtlichen Reali‐ sierung. Die Lehrkräfte berücksichtigen die Kompetenzniveaus der Lern‐ gruppe. So bleibt z. B. der Text für die Lerngruppe mit erster Fremdsprache Französisch (EZ / 2) näher am Wortlaut des Originaltextes als der Text für die Lerngruppe mit zweiter Fremdsprache. Beide Adaptionen respek‐ tieren jedoch in gleicher Weise die Struktur und Poesie des Textes und setzen, was das Textverstehen betrifft, auf diejenigen Elemente des Textes, die seine Rezipierbarkeit in medialer Mündlichkeit erleichtern und unterstützen. • Didaktische, mediale und poetische Gestaltungsprinzipien sind gleicher‐ maßen an der Adaption beteiligt. Die Doppeladressierung bleibt dadurch erhalten. 9.1 Die geplanten Erzähldiskurse beider Erzählstunden 251 <?page no="252"?> 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) Die Erzählstunden werden nach den bereits erläuterten Analyseverfahren (Kap. 5.5, Kap. 8.3.1.2) und anhand folgender Leitfragen analysiert: • Welche konzeptionellen Entscheidungen liegen den Erzählstunden zu‐ grunde (Kap. 9.2.1)? • Welche Merkmale weisen die realisierten Erzählperformances auf ? Mit welchen Mitteln werden sie realisiert (Kap. 9.2.2)? • Welche Veränderungen erfahren die geplanten Erzähldiskurse bei ihrer Realisierung in medialer Mündlichkeit (Kap. 9.2.2.2)? • Welche Merkmale weisen die realisierten narrativen Gesprächsse‐ quenzen in den Phasen der Rekonstruktion des Märchens auf ? Mit wel‐ chen Mitteln werden sie realisiert (Kap. 9.2.3)? Als Textgrundlage dienen die erhobenen Daten und Datentranskriptionen (Kap. 8.2, 8.3): Unterrichtsdossiers (Kap. 9.2.1), Unterrichtsdokumente (Kap. 9.2.3.2) und Videotranskriptionen (Kap. 9.2.2, Kap. 9.2.3). 9.2.1 Analyse des Unterrichtsdesigns: eine Erzählstunde mit intermedialem Schwerpunkt Die Analyse des Unterrichtsdesigns fokussiert auf die folgenden, für die Ent‐ wicklung der narrativen Diskurse relevanten Aspekte (Kap. 6.5): • die Rechercheschwerpunkte der Lehrkräfte und Zielsetzungen der Er‐ zählstunde, • die narrativen Aufgaben, • die Strukturprinzipien der Gesamtkonzeption. Rechercheschwerpunkte der Lehrkräfte und Zielsetzungen der ersten Erzählstunde Den narrativen Rechercheschwerpunkt des Lehrkräfteteams bildet ein inter‐ medialer Aspekt des Erzählens. Das Team nimmt sich vor, Prozesse der Trans‐ formation vom verbalen ins bildliche und vom bildlichen ins verbale Erzählen zu erkunden. Aus diesem Grund stellen die Lehrkräfte als narrative Aufgabe ihrer Erzählstunde das Zeichnen von Bildern zu der in der Erzählperformance gehörten Geschichte und ‒ umgekehrt ‒ die Rekonstruktion der Geschichte an‐ hand der gezeichneten Bilder. Ihr Rechercheinteresse verbinden sie mit fol‐ genden Miniforschungsfragen: 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 252 <?page no="253"?> 11 Als weiteres Lernziel wird „interkulturelles Lernen“ (a. a. O.) genannt, das in der Aus‐ einandersetzung mit der afrikanischen Märchentradition im Rahmen der Unterrichts‐ sequenz „Das frankophone Afrika“ erfolgen soll. a. Ist die zeichnerische Umsetzung einzelner Szenen der gehörten Ge‐ schichte hilfreich für das Textverständnis? b. Erleichtert die bildhafte Darstellung einzelner Szenen der Geschichte die spätere mündliche Textproduktion? c. Auf welche Teile der Geschichte beziehen sich die entstandenen Bilder und gibt es einen Zusammenhang zwischen der Motivwahl und der Art des Erzählvortrags? d. Welche Bilder hat das Märchen in den Köpfen der Schüler provoziert bzw. wie unterscheiden sich gleiche Motive in der Darstellung voneinander? (PDLK-EZ / 1: 5) Die narrativen Rechercheschwerpunkte führen zur Konzeption einer Erzähl‐ stunde, die auf das Fördern des Hörverstehens und der „Erzählkompetenz“ (PDLK-EZ / 1: 1) der Lernenden ausgerichtet ist. Wichtig ist dem Lehrkräfteteam die prozesshafte Entwicklung der rezeptiven und produktiven Fähigkeiten. So soll • nach der ersten Performance ein Grobverständnis der Geschichte (a. a. O.), • während der zweiten Performance eine „aktive Teilnahme der Schüler […], z. B. Mitsprechen des Refrains der Geschichte“ (a. a. O.) und • nach der Wiederholung der Performance ein „detailliertes Verstehen der Geschichte und ein Erfassen der Kettenstruktur derselben“ (a. a. O.) sowie ein gemeinsames Erzählen des Märchens erreicht werden und • das Zeichnen von Erzählbildern soll den Lernenden die Chance geben „einen ganz persönlichen, emotionalen Einstieg in die Geschichte zu finden“ (PDLK-EZ / 1: 4). Die Liste der angestrebten Unterrichtsziele 11 zeigt, dass in dieser Erzählstunde die Diskursform Erzählen sowohl als Medium als auch als Gegenstand des Un‐ terrichts gebraucht wird. Als Mittel dient es hier vor allem der Entwicklung des Hörverstehens, als Medium wird es zur Kommunikation in der Zielsprache ge‐ nutzt. Zum Gegenstand des Unterrichts wird es dadurch, dass narrative textuelle Merkmale wie die Kettenstruktur der Geschichte und die Tätigkeit des Erzählens als Kompetenz in den Blick genommen werden. Mit dem Zeichnen von Bildern sollen darüber hinaus auch personale und emotionale Dimensionen des Lernens erfasst werden. 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 253 <?page no="254"?> 12 Die angewandten Adaptionsstrategien werden mit Argumenten begründet, die kon‐ form gehen mit der Argumentation der Textanalyse des vorigen Kapitels (Kap. 9.1.2) - auch wenn die Lehrkräfte nicht die erzähltheoretisch präzisen Begriffe wie die der konzeptionellen Mündlichkeit oder der poésie orale-Verfahren verwenden. 13 Da die narrativen Aufgaben in den Projektdossiers nicht erläutert werden, wird die Videotranskription (VT-EZ / 1) als Belegdokument herangezogen. Als Adaptionsstrategien werden das Prinzip der „Vereinfachung“ (PDLK-EZ / 1: 2) und die textuellen Veränderungen des Reims genannt, die „durch Redun‐ danz das Verständnis“ und „das Speichern des Refrains erleichtern.“ (a. a. O.) Der Balanceakte zwischen pädagogischen und poetischen Gestaltungsprinzipien wird bedacht: „Trotz der Kürzungen sind wir bemüht, möglichst viele ‚locutions‘ im Text zu erhalten, um die Authentizität des Textes zu wahren.“ (a. a. O.) 12 Die narrativen Aufgaben Es werden drei unterschiedliche narrative Aufgaben gestellt 13 . Die erste Aufgabe (VT-EZ / 1: 14) ist zwischen der ersten Performance und ihrer Wiederholung platziert. Die Schülerinnen und Schüler sind aufgefordert, ihre Eindrücke in assoziativer Form wiederzugeben: verbal, durch Formulierung eines Wortes, eines kurzen Satzes. Es handelt sich (Europarat 2001: 153 f.; Hallet 2010b: 175 f.) um eine monomediale, didaktische Aufgabe (Kap. 6.5) mit einer‐ seits übendem, andererseits funktional-narrativem Charakter, denn sie regt zum Aufrufen des narrativen Schemas an. Ihre verbale Realisierung erfordert jedoch keine spezifisch narrative Diskursart im Kontinuum des Architerms Erzählen. Bei der zweiten Aufgabe handelt es sich um die bereits erwähnte (Kap. 9.1.2) Zeichenaufgabe (VT-EZ / 1: 31f.). Diese fordert die Schülerinnen und Schüler dazu auf, eine Zeichnung anzufertigen, die eine Stimmung, eine Person, eine Situation der Geschichte darstellt. Vorgegeben sind das Zeichenmaterial von roter, brauner, schwarzer Kreide und ein style africain, très simple, pas trop de détails (VT-EZ / 1: 32). Es handelt sich um eine polymediale Aufgabe mit funk‐ tional-narrativem Charakter, denn das Zeichnen der Bilder stellt eine produk‐ tive, non-verbale Narrativierungsleistung dar. Für die dritte Aufgabe (VT-EZ / 1: 34, 41) sind zwei aufeinander aufbauende Schritte vorgesehen. Der erste Schritt verlangt die Präsentation der Zeich‐ nungen. Der zweite Schritt fordert die Schülerinnen und Schüler auf, ihre Zeich‐ nungen zu einer der Chronologie der Geschichte entsprechenden Bildersequenz zusammenzustellen und, ausgehend von dieser Bildergalerie, die Geschichte in ihrem Gesamtverlauf zu erzählen, d.h. einen narrativen Diskurs zu gestalten. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 254 <?page no="255"?> 14 Die Kennzeichnung der Sequenzen A-I wird auch in der Videotranskription (VT-EZ / 1) verwendet, so dass die Unterrichtssequenzen auf die Videosequenzen bezogen werden können. Die Strukturprinzipien der Gesamtkonzeption Leitendes Prinzip der Unterrichtskonzepts ist das Primat direkter mündlicher Kommunikation: „Unsere Maxime ist das Mündliche. Bis auf die schriftliche Formulierung eines möglichen Titels für das Märchen bewegen wir uns nur im Mündlichen.“ (PDLK-EZ / 1: 3) Die Sequenzierung der Erzählstunde setzt das Konzept in einen zeitlichen Verlauf um, der den Akteuren die Übernahme nar‐ rativer Jobs und die Entwicklung narrativer Diskurse ermöglichen soll. Als Prinzipien der Sequenzierung fungieren die Wechsel zwischen den narrativen Aktivitäten und den damit verbundenen Kommunikations- und Präsentations‐ formen. Es ergibt sich ein Stundenrhythmus, den die folgende Übersicht (Tab. 16) veranschaulicht 14 : Se‐ quenzen narrative Aktivitäten: Kommunikations- und Präsentationsformen A Unterrichtsdiskurs: Hinführung zum Thema Afrika im Unterrichtsgespräch B erste Erzählperformance des conte des échanges: Gestaltung der Performance durch die Lehrkräfte als Erzählerinnen vor den Lernenden als Publikum C erste Rekonstruktion der Erzählung im narrativen Gespräch: spontane Äußerungen der Lernenden nach der Erstrezeption D zweite Erzählperformance des conte des échanges: Gestaltung der Performance durch die Lehrkräfte als Erzählerinnen vor den Lernenden als Publikum E Bearbeitung der narrativen Aufgabe in Einzelarbeit: Zeichnen von Erzählbildern zum conte des échanges durch die Lernenden F zweite Rekonstruktion der Erzählung im narrativen Gespräch: Präsentation der Erzählbilder durch die Lernenden im narrativen Gespräch G Unterrichtsdiskurs: Arrangement einer Sitzordnung als Vorbereitung der dritten Rekonstruktion HI dritte Rekonstruktion der Erzählung im narrativen Gespräch: Die Lernenden als Erzählerinnen und Erzähler des conte des échanges, die Erzählbilder als Impulse nutzend 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 255 <?page no="256"?> HII metanarratives Gespräch: Ergänzungen und Vertiefungen der Rekonstruktion der Geschichte im meta‐ narrativen Gespräch zwischen Lehrenden und Lernenden I Unterrichtsdiskurs: Formulierung eines Titels für die Erzählung im Unterrichtsgespräch Tab. 16: Die Sequenzierung der ersten Erzählstunde Zusammenfassung Das Lehrkräfteteam konzipiert eine auf die Entwicklung narrativer Diskurse ausgerichtete und von einem intermedialen Schwerpunkt getragene Erzähl‐ stunde. Das Design der Stunde weist folgende Merkmale auf: • Den narrativen Rechercheschwerpunkt bildet die Transformation vom verbalen ins bildliche und vom bildlichen ins verbale Erzählen. Den pä‐ dagogischen Schwerpunkt bilden die beiden polymedialen Aufgaben, die den narrativen Schwerpunkt in narrative Aktivitäten umsetzen. • Die Erzählstunde ist in acht aufeinander aufbauende Sequenzen geglie‐ dert, von denen die ersten drei den Erzählperformances, die letzten drei den Rekonstruktionen gewidmet sind und deren Mitte die Bearbeitung der Zeichenaufgabe bildet. • Den Lehrenden obliegt es, das vorgesehene Märchen als Erzählperfor‐ mance vorzutragen, den Lernenden, die Erzählung mithilfe ihrer Bilder in einem narrativen Gespräch verbal zu rekonstruieren. Das zentrale Gestaltungsprinzip der Erzählstunde ist das Primat der direkten mündlichen Kommunikation. 9.2.2 Analyse der Erzählperformances als Aufführung: Le conte des échanges als Höhepunktgeschichte Im folgenden Kapitel werden in einem ersten Schritt die mündlichen Erzäh‐ lungen der Lehrkräfte als narrative Diskurseinheiten, in einem zweiten als Er‐ zählperformances im Rahmen einer Aufführung analysiert. Die Analyse erfolgt anhand ausgewählter Beispiele und fokussiert auf folgende Aspekte: • die Rahmung der Aufführung durch die Faktoren Raum und Zeit, • die Entwicklung narrativer Diskurseinheiten, • die textuellen Varianten der Märchenerzählung beim performativen Ge‐ brauch 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 256 <?page no="257"?> 15 Die hier und im Folgenden in Kap 9.2.2 verwendeten Angaben „Kriterium“ beziehen sich auf das Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse von Erzählperformances (FDM-P)“, (Kap. 3.6, 4.5 und Anhang 3). • die Charakteristika der Erzählperformance und • die Strategien der Inszenierung. Da sich die erste Performance (Sequenz B, s. Tab. 16) von ihrer Wiederholung (Sequenz D) nur geringfügig unterscheidet, werde ich die Performancemerk‐ male anhand der ersten Performance erarbeiten und Varianten der zweiten Re‐ alisierung je nach Relevanz der Veränderungen erläutern. 9.2.2.1 Die Rahmung der Aufführung durch die Faktoren Raum und Zeit Für die Aufführungen der Erzählperformances wird in der Mitte des Klassen‐ zimmers ein performativer Raum (Kap. 4.4.1) durch einen Stuhlkreis geschaffen (Kriterium 4.c des FDM-P) 15 . Die Akteure des Unterrichts gestalten im Laufe der Erzählstunde je nach Aufgabenstellung und Aktivität den Raum neu - als kreis‐ förmig arrangierten Aufführungs- oder als Unterrichtsraum mit Gruppenti‐ schen. Die Kreisform ermöglicht die räumliche Gleichordnung der Akteure und den für die Performances günstigen direkten Blick-, Hör- und Sprechkontakt. Das Lehrkräfteteam sitzt nebeneinander, der Kamera zugewandt. Die Kreismitte bleibt die ganze Zeit über frei. Die Erzählzeit (Kap. 4.4.1) beider Erzählperformances ist mit 11.5 Min. für die erste Performance (Sequenz B) und mit ca. 13 Min. gegenüber ihrer Wiederho‐ lung (Sequenz D) relativ ausgewogen. Ein differenzierteres Bild des zeitlichen Verlaufs ergibt sich, wenn andere Faktoren als die Dauer der Erzählzeit hinzu‐ gezogen werden. Dazu gehören die Zeiteinteilung innerhalb der Diskursein‐ heiten und die performativ gestaltete Zeit. 9.2.2.2 Die Entwicklung der Erzähldiskurse: vom geplanten Erzähltext zur narrativen Diskurseinheit Die Erzähldiskurse der Erzählstunden werden ‒ wie Alltagserzählungen aus einem turn-by-turn-talk ‒ aus dem Gesprächszusammenhang des Unterrichts heraus entwickelt. Es entsteht eine narrative Diskurseinheit (Sequenz B, s. Tab. 16), in die der Erzähldiskurs eingebettet ist. Es erstaunt nicht, dass diese Einheit 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 257 <?page no="258"?> 16 Gegenüber dem Adaptionstext (AT-EZ / 1) mit 704 Wörtern erfährt die narrative Dis‐ kurseinheit (B) mit 1066 Wörtern eine Steigerung der Wortanzahl um 51%, der erste geplante Erzähldiskurs erfährt gegenüber AT/ EZ / 1 eine Steigerung um 11%, der zweite geplante Erzähldiskurs eine Steigerung um 28%. Der Anteil der Sequenz „Darstellung von Form- und Inhaltsrelevanz“ hat in der ersten Performance mit 304 Wörtern ge‐ genüber der zweiten mit 31 Wörtern einen weit größeren Umfang. Dies ist auf die unterschiedliche Funktion der Einleitung bei der ersten Performance und ihrer Wie‐ derholung zurückzuführen, in der die Erzählerinnen statt einer Begründung der Form- und Inhaltsrelevanz eine kurze Eröffnung der Performance geben (s. o.). 17 Die Videotranskription wird je nach ihrer Funktion in der Analyse vollständig oder in Ausschnitten wiedergegeben. sehr viel umfangreicher ist als der geplante Erzähldiskurs, denn die Lehrkräfte übernehmen nunmehr narrative Jobs (Kap. 3.2.2) 16 : Sie etablieren sich als primäre Sprecherinnen, begründen ihr Vorgehen ge‐ genüber den Lernenden, kündigen die Erzählung an, realisieren sie und führen aus der Diskurseinheit wieder hinaus (Kriterien 3.a, 3.b). Sie tun dies in der ersten narrativen Diskurseinheit wie folgt: Die erste Sprecherin (LK1) begründet die Inhaltsrelevanz der Erzählung mit einer Verortung des Themas Märchen im übergreifenden Unterrichtsthema L’Afrique und benennt einige landeskundlich interessante und für das Ver‐ ständnis Märchens wichtige Aspekte. In der Phase des Thematisierens, führt sie zur Personenkonstellation des Märchens hin und fordert Aufmerksamkeit ein 17 : Et ( ) dans notre conte, il s’agit ( ) d’une petite famille. La famille, c’est la mère et c’est les fils↘. L’un est plus grand↗, c’est le fère aîné↗, et l’autre est plus petit↗, c’est le cadet↘. Donc maintenant, écoutez bien. On commence. (VT-EZ / 1: 4) In den beiden nächsten Phasen, der Phase des Elaborierens / Dramatisierens und des Abschließens realisieren beide Lehrkräfte als Erzählerinnen den geplanten Erzähldiskurs als Erzählperformance. In der Phase des Überleitens führt die zweite Sprecherin (LK2) vorsichtig aus der Narration hinaus und kündigt die erste Etappe der Rekonstruktion der Märchenerzählung an. Mit dieser Jobüber‐ nahme regeln die Lehrkräfte die Redevergabe. Das Wort gehört den Erzähler‐ innen ‒ was nicht ausschließt, dass das Publikum mehrmals zum Mitsprechen und Mitgestalten aufgefordert wird. In der zweiten narrativen Diskurseinheit (Sequenz D) werden die Gesprächs‐ organisation und der Erzähldiskurs der neuen Situation angepasst. Statt der Thematisierungsphase wählen die Erzählerinnen einen neuen, den Performan‐ cecharakter unterstreichenden Beginn: 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 258 <?page no="259"?> 18 Der Erzähldiskurs erfährt bei seiner Wiederholung eine Steigerung der Wortanzahl von 16%. 19 Insgesamt liegen 45 textuelle Veränderungen vor. linguistische & paralingu‐ istische gestische Zeichen LK2 On recommence ↺ ? LK1 und LK2 wenden sich lächelnd einander zu. LK1 On recommence↘. LK2 Ouais ↺ ? LK1 Ouais↘. LK2 D’accord. (VT-EZ / 1: 19) Die Phase des Überleitens ist in dieser Sequenz (D) länger als die der ersten Diskurseinheit (B), da nunmehr zu einer komplexeren narrativen Aufgabe hin‐ geführt wird. Die größte Verlängerung erfährt die Phase des Elaborierens / Dra‐ matisierens, die den Erzähldiskurs enthält, ein Phänomen, das sich aus der per‐ formativen Anpassung des Erzähldiskurses an die Wiederholung (Kap. 9.2.2.3) erklärt 18 . Das Lehrkräfteteam dieser Erzählstunde hat sich vorgenommen, die narra‐ tiven Jobs und die Realisierung der Performance gemeinsam zu leisten. Jede Sprecherin ist verantwortlich für je eine verabredete Sequenz. Die erste Spre‐ cherin führt die ersten beiden narrativen Diskurseinheiten durch, die zweite die beiden letzten. In der dritten, die Performance enthaltenden Einheit, erzählen sie im Wechsel. 9.2.2.3 Die realisierten Erzähldiskurse: vom geplanten Erzähldiskurs zum performativen Gebrauch Aus der Transformation des geplanten, schriftlichen Erzähldiskurses (Kriterium 3.b) in den ersten mündlich realisierten Erzähldiskurs ergeben sich einige tex‐ tuelle Veränderung, die sich zu vier Gruppen zusammenfassen lassen: Wort‐ auslassungen und Abweichungen vom Wortlaut, Hinzufügungen von Lexik und syntaktische Umstellungen 19 . Der Erzähldiskurs der ersten Performance Am wenigsten ins Gesicht fallen Auslassungen und textuelle Abweichungen, bei denen es sich meist um Versprecher oder nicht memorierte lexikalische De‐ tails handelt. Die größte Gruppe bilden Hinzufügungen, die Vereinfachungen 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 259 <?page no="260"?> oder Wiederholungen darstellen und damit der Verdeutlichung und Gliederung der Rede (Kap. 4.3.3.3) dienen. Einige textuelle Veränderungen führen zu syntaktischen Umstellungen, die zum einen nach dem Vorbild mündlicher Nähe-Sprache die wichtigsten Infor‐ mationen einer Äußerung hervorheben, zum andern der Parallelisierung von Sprechen und begleitender Gestik dienen. Die Sprache folgt hier nicht nur der Kommunikationsabsicht, sondern auch der Bewegung, wie dieses Beispiel zeigt: Adaptionstext: Les hommes ramassent des fèves et les mettent dans leurs poches. Mais ils y a des trous dans leurs poches. Ainsi ils perdent toutes les fèves. (AT-EZ / 1: 5) Performancetext: linguistische & paralin‐ guistische gestische Zeichen LK1 deutet zwischen Daumen und Zeigefinger der linken L1: Ils ramassent des fèves Hand einen kleinen Abstand an für ~fèves. Dann mimt sie das In-die-Tasche-Stecken der fèves an ihrer Hosentasche. et les mettent dans leurs poches. Auf das erste ~poches hält sie einen Moment in der Be‐ wegung inne. Mais dans leurs poches↗, il y a des trous↗. Mit dem zweiten ~poches gleitet sie mit beiden Händen an ihrem Bein hinab für ~des trous. Donc, ils perdent tous, eh, toutes les fèves. Auf ~ils perdent toutes les fèves wiederholt sie die Gleit‐ bewegung und verschränkt dann die Hände. (VT-EZ / 1: 8) Die Erzählerin setzt hier eine anaphorische Technik ein, die bereits in der Kon‐ struktion des Adaptionstextes verwendet wurde (Kap. 9.1.1) und die sie hier spontan zur Anpassung des geplanten Erzähldiskurses an die Performance nutzt. Die Wiederholung des Rhemas im ersten Satz (dans leurs poches) als Thema des zweiten bewirkt eine Hervorhebung der Information und erlaubt gleichzeitig einen Moment des Innehaltens, dann der Fortsetzung der Bewe‐ gung. Die syntaktische Umstellung an dieser Stelle bewirkt eine Zusammen‐ führung von Diskurs, Prosodie und Gestik. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 260 <?page no="261"?> Die dargestellten Veränderungen des geplanten Erzähldiskurses zeigen, dass die Erzählerinnen relativ flexibel mit ihrer Erzählvorlage umgehen. Einerseits halten sie sich recht eng an den Wortlaut des Adaptionstextes, andererseits passen sie ihren Diskurs an einigen Stellen der Kommunikations- und Perfor‐ mancesituation an. Der Erzähldiskurs der zweiten Performance Bei seiner Wiederholung erfährt der Erzähldiskurs eine leichte Veränderung. Zwar ist sein Wortlaut fast identisch mit dem ersten. Aber es gibt zwei Gruppen von Hinzufügungen, die zwei verschiedene Funktionen erfüllen. Die erste, kleinere Gruppe von Hinzufügungen wird von kurzen Erläute‐ rungen der Ausgangssituation und der Personenkonstellation gebildet: Alors, une femme a deux garçons. Deux garçons. (VT-EZ / 1: 19) Dadurch soll das Ver‐ stehen von Beginn an noch intensiver gestützt werden, ein Impuls, den auch die performative Gestaltung übernimmt (Kap. 9.2.2.4). Die Hinzufügungen der zweiten, größeren Gruppe erfüllen phatische Funk‐ tionen. Die Erzählerinnen suchen mit rhetorischen Fragen wie z. B. d’accord? oder à quat’pattes. Comme des chiens, hein? (VT-EZ / 1: 23) stilles Einverständnis zu erheischen. Oder sie wenden sich direkt mit einem Et le panier, qu’est-ce qu’il fait? (VT-EZ / 1: 26) an die Zuhörenden, um ihnen Gelegenheit zum Mitsprechen zu geben. Die Analyse der realisierten Erzähldiskurse zusammenfassend lässt sich fest‐ halten, dass sich die Erzählerinnen beim performativen Gebrauch des geplanten Erzähldiskurses (Kriterium 3.b) weitgehend an dessen Wortlaut halten, ihn je‐ doch durch geringfügige textuelle Veränderungen flexibel handhaben, um ihre kommunikativen und interaktiven Absichten zu verfolgen. Der performative Gebrauch steht demzufolge ebenso im Dienste der medialen Mündlichkeit wie die Adaptionsstrategien bei der Konstruktion des Diskurses (Kap. 9.1.2) und be‐ wahrt ebenso wie diese die poésie orale-Elemente des Originaltextes. 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 261 <?page no="262"?> 20 Die Darstellung der Analyse der ersten beiden Performancesequenzen stützt sich auf die Datenaufbereitung und die ersten beiden Analyseschritte dieser beiden Sequenzen. Die Datenaufbereitung und die beiden Analyseschritte werden exemplarisch zur Do‐ kumentation meines Vorgehens (für Kap. 9.2.2.4 und folgend für Kap. 9.2.2.5) im Anhang dargestellt. Dazu gehören der Auszug aus der die beiden Sequenzen umfassenden Vi‐ deotranskription (Anhang 6) sowie die Dokumentation der ersten beiden Analyse‐ schritte (Kap. 4.5.2, Kap. 8.3.1.2) - Zeichenselektion (Anhang 7) und Anwendung der Zeichen und Zeichenkombinationen (Anhang 8). Auf eine vollständige Dokumentation der einzelnen Analyseschritte für alle Seqenzen wird wegen des erheblichen Umfangs verzichtet. Die in der Darstellung der Arbeitsschritte verwendeten Abkürzungen und Siglen entsprechen denen der „Transkriptionsregeln der Videografien“ (Anhang 1) und der „Zeichenübersicht: Art und Funktionen erzählperformativer Zeichen“ (Anhang 2). 21 Die Zitate der Videotranskription beziehen sich auf den Auszug (Anhang 6). Da der Transkriptionstext dieser Phase im Anhang vollständig dokumentiert ist, werden die Zeilen mit der Abkürzung Z angegeben. 9.2.2.4 Die Etablierung der Performance und die performative Gestaltung der ersten Performancesequenzen: l’état initial und la complica‐ tion 20 Mit Beginn der Phase des Elaborierens / Dramatisierens erfolgt ein zweiter Start ins Erzählen. Ging es beim ersten Start um inhaltliche Begründungen und eine Einführung ins Thema, so muss sich nun die neue Diskursform entfalten. Dies geschieht mit einem interaktiv und performativ inszenierten Sprecherwechsel. Die Sprecherin der beiden Einführungssequenzen (LK1), wendet sich zu ihrer Teamsprecherin, nickt ihr zu, schaut wieder Richtung Publikum, lehnt sich zu‐ rück und nimmt eine neutrale Haltung und Mimik an. Dies ist das Zeichen für die Teamsprecherin (LK2), in ihre neue Rolle zu schlüpfen. Sie tut dies mit einer aufrechten, dem Publikum zugewandten Körperhaltung, aus der heraus sie sich, die Zuhörenden im Blick, mal zur rechten, mal zur linken Publikumsseite wendet. Sie wirbt mit körperlicher Zuwendung um Aufmerksamkeit und etab‐ liert die Erzählperformance mit dem ersten, den état initial in einfachen Worten umreißenden, kurzen, performativ gestalteten Satz: Une femme (.) a (.) schneller : deux garçons. (Anhang 6: Auszug aus der Videografie, Z. 83-84) 21 . Auf diese Weise verbindet sie die Aufmerksamkeitslenkung mit einer Einladung in die Welt der Fiktion und der Performance. Ihr nächster Job besteht darin, die Aufmerksamkeit des Publikums zu erhalten und ihm die Chance zu geben, den in der complication sich anbahnenden Kon‐ flikt zu erfassen. Die Erzählerin löst diese Aufgabe mit einer Gestaltung der Ausgangssituation zu einer zweiphasigen scène de départ. In der ersten Phase legt sie den Fokus auf die Botschaft: zwei Söhne, zwei gleichwertige Geschenke. Diese Botschaft wird durch Wiederholung der lingu‐ istischen Zeichen deux oiseaux, deux oiseaux rouges und durch transitorisch ein‐ 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 262 <?page no="263"?> gesetzte prosodische Mittel (Kriterium 5.a) wie die kräftig betonten, durch Pausen vor- oder nachbereiteten accents d‘ insistance in kontrastiver Funktion hervorgehoben: En haut de ce fagot↗ (.) il y a deux oiseaux, deux oiseaux (.) rouges. (a. a. O.: Z. 88-89) Die weiteren Informationen werden durch accents toniques in fonction démar‐ cative (z. B. donne, enfant, oiseau) hervorgehoben. Hinzu kommen sprachbeglei‐ tende, interpunktierende Gesten: linguistische & paralinguistische gestische Zeichen LK2 La mère donne (.) LK2 streckt den rechten Arm aus, nach rechts auf: ~ enfant, à chaque enfant (.) un oi‐ seau. dann nach links auf: ~ oiseau. (a. a. O. : Z. 90-92) Es ergibt sich eine Privilegierung prosodischer Zeichen (Kriterium 5.a), insbe‐ sondere der Akzentuierung, sowie eine simultane Verbindung prosodischer und gestischer Zeichen. Die Zeichen und Zeichenkombinationen werden sprachbe‐ gleitend verwendet, sie dienen der Gliederung der Rede und der Hervorhebung wesentlicher Informationen. Mimische oder stimmliche Zeichen werden nicht eingesetzt ‒ im Unterschied zur zweiten Phase der scène de départ. Hier nimmt die Erzählerin (LK2) zu den bisher ausgewählten prosodischen Zeichen drei weitere hinzu: Dehnung (5), Tempo (2), Lautstärke (2), Intonation (5), und zwar überwiegend in fonction expressive und communicative. Dies ist verständlich vor dem Hintergrund der Aufgabe, die nun folgende Figurenrede zu gestalten. Die Erzählerin beginnt zu dramatisieren. Dazu geht sie in die Fi‐ guren hinein, übernimmt deren Rolle, was der folgende Szenenausschnitt zeigt: linguistische & paralinguisti‐ sche stimmliche & mimische gestische Zei‐ chen 97 « MOI↗, schneller , lauter : je garde mon oiseau, LK2: Stimmfärbung höher, LK2 wiegt den Kopf. 98 dit le cadet, je vais l‘é-chan-ger » heller. 99 « Frère, leiser : tu l’échanges contre LK2: Stimme tiefer, gleich- LK2 : leichtes Ni‐ cken 100 quoi ? » zeitig weit geöffnete Augen, 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 263 <?page no="264"?> 101 Erstaunen ausdrü‐ ckend 102 « Contre (.) la fille d’un chef. » Stimmfärbung wie 97-98 103 « La fille d’un chef (.) contre wird langsamer : Stimmfärbung wie 94-95 104 un oiseau rouge ↺ ? » LK2 runzelt leicht die 105 Stirn, lächelt leicht amüsiert, Ungläubig‐ keit ausdrückend. (a. a. O.: Z. 97-107) Das Hineinschlüpfen in die Figuren gelingt der Erzählerin mithilfe von zwei Techniken. Die erste besteht in dem durchgängig eingesetzten prosodischen Mittel (Kriterium 5.c) der Stimmfärbung. Die Erzählerin wählt für die Wieder‐ gabe der Rede des frère cadet eine helle, für die des frère aîné eine tiefere Stimme und behält diese Stimmfärbung ‒ mit Ausnahme des letzten Wortwechsels ‒ die ganze Szene über bei. Der Einsatz dieses Mittels hilft dem Publikum, die Brüder-Figuren zu identifizieren und die Sprecherwechsel zu erfassen. Der Ge‐ gensatz Hell-Dunkel deutet die Opposition zwischen den Brüdern an. Die zweite Technik besteht in der Kombination des durchgängig eingesetzten Mittels der Stimmfärbung mit transitorisch verwendeten mimischen und gesti‐ schen Zeichen (Kriterium 5.c). Diese Mittel werden eingesetzt, um die augen‐ blickliche Stimmung und die Beziehung zwischen den Figuren zu verdeutlichen. So spricht die Erzählerin in der Rolle des frère aîné nicht nur mit tiefer Stimme, sie modelliert sie und verbindet sie mit situationsabhängiger Mimik. Ihre Zweifel am Gelingen des Tauschgeschäfts unterstreicht sie prosodisch mit Kom‐ binationen von Akzent, Pause, Tempo und Intonation: « La fille d’un chef (.) contre wird langsamer : un oiseau rouge ↺ ? » (a. a. O.) Sie interpretiert die Stimmung der Figur, indem sie ihre Äußerung mit einer amüsiert-erstaunten Miene verbindet. In der Rolle des frère cadet setzt die Erzählerin zusätzlich zur Stimmmodula‐ tion gestische Mittel ein, um den Widerspruch gegenüber den Zweifeln des Bruders zu unterstreichen. Der Ausruf Moi↗ wird mit einem Wiegen des Kopfes, seine Provokation Contre (.) la fille d’un chef. (a. a. O.) mit einem Kopf‐ nicken begleitet. Mit dieser Kombination von prosodischen, gestischen und mi‐ mischen Zeichen verbindet sie auch die Bedeutungsebenen, denn die privile‐ gierten prosodischen und mimischen Zeichen bedienen hauptsächlich die 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 264 <?page no="265"?> 22 Die Analysevorbereitungen (Darstellung und Auswertung der Selektion und Kombi‐ nation der Zeichen) ist auch für Kap. 9.2.2.5 im Anhang dokumentiert (Anhang 9 und 10). Zitiert wird nunmehr wieder der vollständige Transkriptionstext (VT-EZ / 1), da der Anhang keinen Transkriptionsausschnitt für die in Kap. 9.2.2.5 analysierten Sequenzen enthält. Subjekt- und Beziehungsebene, die gestischen Zeichen die Objektebene der Fik‐ tion. Aus der Analyse der performativen Gestaltung des état initial und der com‐ plication lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die ersten beiden Se‐ quenzen der Performance darauf ausgerichtet sind, die Zuschauer in die Welt der Fiktion hineinzuführen, Neugier auf die Geschichte zu wecken und das Er‐ fassen des Grundkonflikts der Erzählung zu sichern. Dies wird in der ersten Phase durch den Einsatz prosodischer Mittel in dominierend gliedernder Funk‐ tion und den Gebrauch illustrierender Gestik unterstützt. In der zweiten Phase verstärkt die Erzählerin die Dramatisierungsstrategie, indem sie in die Rolle der Figuren schlüpft. Wenn sie ‚für‘ die Figur spricht, verwendet sie vorwiegend expressive prosodische, mimische und weiterhin interpunktierende oder inter‐ aktive Zeichen. Sie mimt damit eine Figur, die ihre Rede gestisch untermalt. Damit wird die Figur individualisiert und als Handelnde der fiktionalen Welt präsentiert. Gegenüber den verbalen übernehmen die non-verbalen Zeichen er‐ gänzende, illustrierende, verdeutlichende Funktionen (Kriterium 5.b). 9.2.2.5 Die performative Gestaltung der dynamique Die Gestaltung der Phase der dynamique stellt die Performerinnen vor die Auf‐ gabe, die einzelnen Stationen der Handlung und ihren zeitlichen Verlauf nach‐ vollziehbar und strukturiert darzustellen, auf den Höhepunkt zuzusteuern, die Figuren zu konturieren, begonnene Erzähl- und Performanceelemente fortzu‐ führen und den Kontakt zum Publikum aufrecht zu erhalten. Sie setzen dafür weiterhin auf die Dramatisierung der Handlung, greifen jedoch zu neuen Mit‐ teln. Diese 22 sind: • der sequenzielle Gebrauch performativer Gestaltungsmittel (Kriterium 5.c), • die simultane Kombination der sequenziell verwendeten Mittel mit Mimik und Gestik (Kriterium 5.a), • Interaktionen zwischen den Erzählerinnen und performativ gestaltete Bitten um Mitgestaltung (Kriterien 3.b, 3.c). Die sich wiederholenden Handlungsmuster der Tauschstationen (Kap. 9.1.1) ge‐ stalten die Erzählerinnen durch den Einsatz einer seriellen, interaktiven Gestik 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 265 <?page no="266"?> 23 s. die tabellarische Übersicht der Analysevorarbeiten (Anhang 9). Die serielle Gestik (G 4 Fig) besteht in einem Ausstrecken des Arms mit geöffneter Hand (Fordern), einem Ausstrecken beider Arme mit geöffneten Händen (Geben) und dem Heranziehen eines Arms zum Körper (Nehmen) (VT-EZ / 1: 5-6). 24 Eine äquivalente Beziehung zwischen den Zeichen ist nicht durchgängig feststellbar, denn die Serie wird nicht immer vollständig und auch nicht von beiden Erzählerinnen in identischer Weise ausgeführt. Die vom garçon ausgehende Geste des Nehmens wird jedoch mit Ausnahme von Sequenz BIII / DIII.c.4 durchgängig äquivalent angewandt. zwischen dem Protagonisten und seinen jeweiligen Tauschpartnern 23 . Die Er‐ zählerin übernimmt dabei die Rolle des jeweiligen Tauschpartners mit gleich‐ bleibenden, vom konkreten Tauschgegenstand unabhängigen Gesten des For‐ derns, Gebens und Nehmens 24 . Im Gegensatz dazu wird der Gebrauch der Gegenstände mithilfe illustrierender Gestik dargestellt, die auch den Gegen‐ stand selbst in die Visualisierung einbezieht. Sowohl die seriell-interaktive als auch die illustrierende Gestik werden bei der Wiederholung der Performance in annähernd gleicher Weise vorgeführt. Sequenziell wird auch das Zeichen der hohen, hellen Stimmfärbung des Pro‐ tagonisten gebraucht. Der Gebrauch dieser Stimmfärbung immer dann, wenn die Figurenrede des garçon zu gestalten ist, signalisiert auch hier das Hinein‐ schlüpfen der Erzählerinnen in die Figur des Protagonisten. Gleichzeitig wird die Stimme, der Diskursvorlage entsprechend (Kap. 9.1.1), an den Stellen mo‐ delliert, an denen der Stimmung des Protagonisten Ausdruck verliehen werden soll. Hier wird dem länger andauernden Zeichen der hohen, hellen Stimmfär‐ bung eine transitorisch gebrauchte, weinerliche Stimme beigemischt, die von Station zu Station lauter, klagender gefärbt und mit mimischen Zeichen der Enttäuschung und gestischen Zeichen der Verzweiflung kombiniert wird. Dies gilt für den Beginn des Klageliedes. Je länger das Lied mit jedem Tauschgeschäft wird, desto rhythmischer wird es zum Ende hin. Zur Kombination von proso‐ dischen, mimischen und gestischen Zeichen kommt der Rhythmus hinzu: Der Einsatz der transitorischen Zeichen folgt dem Prinzip der Steigerung. Der sequenzielle Gebrauch der Gesten-Serie dient der Verdeutlichung des Diskurses und bedient die Beziehungs- und Objektebene. Der sequenzielle Ge‐ brauch des länger andauernden Stimmfärbungszeichens verleiht der Figur des Protagonisten Profil, denn mit der hellen, hohen Stimme schwingt ein Stück Unbekümmertheit und Naivität mit. Die Kombination mit transitorischen Zei‐ chen rückt Stimmungen und Gefühle - damit die Subjekt-Ebene - in den Vor‐ dergrund und lässt mit der Rhythmisierung auch schon die poetische Ebene anklingen. Die Dominanz der Subjektebene trägt zur weiteren Profilbildung des Protagonisten bei, das Prinzip der Steigerung verweist auf seine Entwicklung. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 266 <?page no="267"?> Zwei Formen der Interaktion sind für die Inszenierung der Performance von Bedeutung. Die erste betrifft die Interaktion zwischen den Team-Erzählerinnen. Sie be‐ steht in den bereits erwähnten Sprecherinnenwechseln (Kap. 9.2.2.4), den sie in der Phase der dynamique fortsetzen. Er erfolgt stets dann, wenn eine Tausch‐ sequenz beendet ist und eine neue folgt. Der Wechsel wird mit einer Körper‐ wendung zur Partnerin und einer Zurücknahme der eigenen Erzählhaltung de‐ monstriert. Damit wird für das eigene Erzählen ein Schlusspunkt gesetzt und das Rederecht an die Partnerin weitergegeben. Diese Form der Interaktion un‐ terstreicht einerseits die Sequenzierung der Erzählung und führt andererseits Möglichkeiten narrativer Kooperation vor. Eine zweite Form der Interaktion - die Interaktion mit dem Publikum - wird von den Erzählerinnen lediglich angestrebt. Beide bemühen sich, die Zuhöre‐ rinnen und Zuhörer zum Mitsprechen zu motivieren. Neben den bereits er‐ wähnten (Kap. 9.2.2.3) verbalen Aufforderungen wie Et le panier, qu’est-ce qu’il fait? (VT-EZ / 1: 26) setzen sie indirekte, ‚performativ gestaltete Bitten‘ ein. Diese flechten sie mithilfe von Pausen, Temporegulierung und Intonation in den Dis‐ kurs ein und unterstreichen ihre abwartende Haltung durch Gesten oder Kör‐ perwendung in Richtung Publikum, wie das folgende Beispiel zeigt: linguistische & paralinguistische gestische Zeichen LK2: « Rendez-moi mon couteau↗(.) que j’ai changé contre mon oiseau rouge Auf ~que m’a donné breitet LK2 die Arme nach rechts und links aus, wartet ab (3 Sek), langsamer : que m’a donné ↺ ? (3 Sek) so dass das Publikum mitsprechen könnte. leiser : ma mère, (.) ma mère. » (VT-EZ / 1: 24) Die indirekte Bitte ist eingebunden in die performative Gestaltung des Reims. Das Innehalten der Sprecherin erzeugt einen Moment der Stille und gönnt dem Publikum einen Moment des Überlegens. Das gemeinsame Sprechen oder Voll‐ enden einer Verszeile würde sich in den Rhythmus des Liedes einfügen bzw. den Schlusspunkt des Reims setzen. Da das Publikum die Einladung zum Mitmachen nicht annimmt, ergeben sich keine verbalen Interaktionen. Die fehlende direkte Resonanz fangen die Erzählerinnen mit einem Lächeln auf, vollenden Verszeile und Rhythmus alleine und fahren in der Erzählperformance fort. Sie lassen damit die Reaktion des Publikums zu und halten bereits geknüpfte non-verbale Kontakte aufrecht. Diese zeigen sich in der freundlichen Zugewandtheit der Erzählerinnen, in der entspannten Körperhaltung der Zuhörerinnen und Zu‐ 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 267 <?page no="268"?> 25 Die Kamera ist meist auf die Erzählerin gerichtet; an einigen Stellen (VT-EZ / 1: 6, 26, 30) werden die Reaktionen des Publikums eingefangen. Entweder sind entspanntes Zu‐ rücklehnen der Zuhörer und Zuhörerinnen oder die o. g. Blickrichtungen zu be‐ obachten. Weitere Informationen gibt die Videotranskription (VT-EZ / 1), die in der Spalte „auffällige Aktionen“ weitere sichtbare Reaktionen des Publikums festhält. hörer und ihren Blicken in Richtung der Erzählerinnen, besonders dann, wenn diese die Handlungen der Figuren illustrieren (VT-EZ / 1: 6, 26, 30) 25 . Aus der Analyse der dynamique lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die Performance die Dramatisierung der vorausgehenden Phasen fortsetzt. Die serielle Gestik und deren sequenzielle Anwendung nehmen die Kettenstruktur der Geschichte als performatives Gestaltungsprinzip auf und sorgen damit für eine nachvollziehbare Sequenzierung der Performance. Der Sprecherinnen‐ wechsel unterstreicht diese Sequenzierung und taktet die Performance. Die si‐ multanen Zeichenkombinationen aus Stimmfärbung, Mimik und Gestik tragen zur Dramatisierung der Situation bei, die Modellierungen der Stimmungen und Gefühle des Protagonisten stellen ihn ins Zentrum des Geschehens. Das Prinzip der Steigerung führt zum Höhepunkt der dynamique-Phase hin. 9.2.2.6 Die performative Gestaltung des Höhepunktes, der résolution, des état final und des Übergangs in den Unterrichtsdiskurs Aufgabe der Performerinnen ist es nunmehr, den in der dynamique-Phase auf‐ gebauten Spannungsbogen dem Höhepunkt zuzuführen, diesen zu gestalten und die Lösung des Konflikts zu vermitteln. Der Erzähldiskurs leistet diese Aufgabe durch Dehnung und Raffung der Erzählzeit (Kriterium 5.c) und den Einsatz der im Folgenden dargestellten performativen Mittel (Kriterien 5.a, 5.b, 5.d). Die Höhepunktszene Das erste Mittel betrifft die Figurenrede. Die Erzählerin (LK1) privilegiert mit Betonungen wie soixante étrangers, rien à manger, grand dîner, grand sac de poissons (VT-EZ / 1: 28f.) die accents d’insistance in expressiver und kommuni‐ kativer Funktion. Der Einsatz dieser prosodischen Mittel bringt die Aufregung der Figuren zum Ausdruck und verleiht damit der Figurenrede Emotionalität (Kriterium 5.a). Das zweite Mittel betrifft die Gebe-Geste: Der grand sac de poissons wird vor den Augen des chef mit einer weit ausholenden Bewegung und mit den deutli‐ chen Worten Voici un grand sac de poissons pour vos invités auf den ‒ imaginären ‒ Tisch geworfen. Durch diese Vergrößerung erhält die Gebe-Geste eine Son‐ derstellung in der Handlungskette, und die Gebe-Situation wird zur Szene aus‐ gebaut (Kriterium 5.a, 5.b). 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 268 <?page no="269"?> Das dritte Mittel betrifft die Dramaturgie der Höhepunktszene. Die Erzählerin (LK1) mimt das Schlagen des tambour de danse sous le grand baobab mit Trom‐ melbewegungen auf ihren Knien und verwendet damit einmalig pantomimische Gestik zur Darstellung einer Handlung. Den Trommelrhythmus behält sie beim Sprechen des Klageliedes als Beat bei. Die Rhythmisierung der Verszeilen des Liedes erzeugt sie durch regelmäßig und dicht aufeinander folgende accents d’insistance, verbunden mit Hebung der Tonhöhe und Steigerung der Lautstärke wie folgt: linguistische & paralinguisti‐ sche stimmliche & paralin‐ guistische gestische Zeichen LK1 : « Rendez-moi les poissons , […] hohe, leicht klagende LK1 trommelt mit que j’ai changés↗ contre un sac de sel Stimme den Handinnenflächen que j’ai changé↗ contre un panier Ab ~contre un couteau auf ihre Oberschenkel. que j’ai changé↗ contre un couteau lauter : steigert LK1 langsam die Lautstärke. Den Trommel‐ rhythmus que j’ai changé↗ contre l’oiseau rouge ~rouge bildet hält sie beim Sprechen als Beat. (VT-EZ / : 12) langsamer : de ma mère, de ma mère. » (.) den Gipfel von Tonhöhe und Lautstärke. Die performativen Mittel steigert die Erzählerin bis zum Höhepunkt des Liedes, den sie auf l’oiseau rouge setzt. Dann fährt sie Intonation und Lautstärke zurück und beendet die Klage mit dem emotional akzentuierten Ruf de ma mère, de ma mère. Mit dieser liedhaft-rhythmischen Gestaltung ist die Erzählerin in die Rolle des garçon geschlüpft, ist sie zur Sängerin seines Liedes geworden. Die Perfor‐ mance bedient hier die poetische Ebene. Die ausführliche Gestaltung der Hö‐ hepunktszene bewirkt gleichzeitig eine zeitliche Dehnung bzw. verstärkt per‐ formativ die gedehnte Erzählzeit der Textvorlage. Gleichzeitig zögert sie die résolution hinaus. Die résolution und der état final Das vierte Mittel betrifft die Gestaltung der beiden Schlusssequenzen. Hier wird die Erzählzeit im Wechsel beschleunigt und verlangsamt. Beschleunigung er‐ fährt die auf das Klagelied folgende résolution. Sie wird von der Erzählerin im tac au tac des Dialogs zwischen garçon und chef gestaltet. Die Erzählzeit wird 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 269 <?page no="270"?> 26 Dass es sich um eine geplante Inszenierung im Sinne einer Konzeption, die erprobt und in der Aufführung umgesetzt wird, handelt, ist offensichtlich, denn die Erzählerinnen realisieren den Erzähldiskurs und die performative Ausführung beim zweiten Erzählen mit nur einigen wenigen, spontan sich ergebenden Veränderungen. Ohne Vorüberle‐ gungen und gemeinsames Proben ist diese Ausführung kaum möglich. damit extrem verkürzt. Eine letzte Verlangsamung erfährt die Erzählzeit durch Gestaltung des état final als Schlussszene. Die szenisache Gestaltung wird er‐ reicht durch den Einsatz von Lautstärke und Intonation sowie einer Gestik und Mimik, die die emotional aufgeladene Figurenrede des triumphierenden frère cadet zum Ausdruck bringt. Von dieser Lautstärke wird die Schluss-Erzählerrede abgesetzt. Sie wird wird zum Ende hin immer leiser (VT-EZ / 1: 13, 31) und mündet in das Verschwinden des frère aîné sous terre, das beide Erzählerinnen mit einer gemeinsam ausgeführten Bewegung, die Handflächen Richtung Boden, andeuten. Die Überleitung Die Überleitung vom narrativen in den unterrichtlichen Diskurs wird durch Erfüllung des letzten narrativen Jobs, der Beendigung der Diskurseinheit reali‐ siert. Diesen Punkt setzt die letzte Erzählerin (LK2) mit einem kurzen Voilà. Ça, c’est l’histoire (VT-EZ / 1: 13), das sie leise, zurückgenommen spricht. Beide Er‐ zählerinnen treten aus der aufrechten, angespannten Performancehaltung und damit auch aus der fiktionalen Welt heraus. Die Analyse der letzten Performancesequenzen zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Performance das Prinzip der Dramatisierung fortsetzt, um die Spannung zum Höhepunkt zu steigern und anschließend wieder aufzulösen. Als dramaturgisches Mittel wird vor allem die Modellierung der Erzählperfor‐ mancezeit eingesetzt. Damit folgt die Erzählperformance dem Erzähldiskurs durch performative Verstärkung, Zuspitzung und Begleitung der linguistischen Zeichen. 9.2.2.7 Ergebnisse der Analyse: Die Inszenierung der Erzählperformances - die Kettengeschichte als Höhepunktgeschichte Die Performance und ihre Inszenierung 26 weisen folgende charakteristische Merkmale auf: 1. Die mündliche Erzählung wird als narrative Diskurseinheit (Kriterien 3.a, 3.b) realisiert. 2. Zur performativen Gestaltung der Erzählung werden phasenbezogene Gestaltungsprinzipien verwendet. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 270 <?page no="271"?> Die ersten beiden Phasen führen das Publikum in die Welt der Fiktion hinein und sind darauf ausgerichtet, das Verständnis des Grundkonflikts zu sichern. Dazu werden vornehmlich prosodische Mittel in gliedernder Funktion sowie illustrierende Gestik verwendet. Damit dominiert die Objektebene. Gegen Ende der beiden Phasen erfolgt eine Dramatisierung durch performative Gestaltung der Figurenrede. Diese wird so modelliert, dass die Subjekt- und die Bezie‐ hungsebene ins Spiel kommen (Kriterien 5.a, 5.b). Die Performance beider Phasen zielt hier auf die Vermittlung inhaltlicher Narreme. In der dynamique-Phase wird die Handlung weiterhin dramatisiert. Dazu wird die in der vorigen Phase gewählte Stimmfärbung des Protagonisten se‐ quenziell eingesetzt und mit einer die Stimmung und Gefühle der Figur ver‐ deutlichenden Gestik und Mimik simultan verbunden. Der sequenzielle Ge‐ brauch der Stimmfärbung macht die Figur wiedererkennbar, der simultane Gebrauch dramatisiert und verleiht der Figur Profil. Die Strukturierung des Ge‐ schehens wird durch Einsatz einer seriellen, die Tauschaktionen illustrierender Gestik erreicht. Diese macht die Kettenstruktur der Geschichte deutlich. Die Performance zielt hier auf die Darstellung syntaktischer Narreme. Die Darstellung des Höhepunktes erfolgt durch szenische Gestaltung, die die Erzählzeit dehnt und die résolution hinauszögert sowie durch poetisch-liedhafte, pantomimische Gestaltung, so dass hier die poetische Ebene dominiert. 3. Zur performativen Gestaltung des Erzähldiskurses werden phasenüber‐ greifende, strukturbildende Gestaltungsprinzipien verwendet. Als durchgängiges Gestaltungsprinzip werden die sequenzübergreifende Szenen- und Figurengestaltung und die Rhythmisierung der Performance durch den Sprecherinnenwechsel an den Schnittstellen des Diskurses eingesetzt. Der geplante Erzähldiskurs wird relativ textgetreu realisiert (Kriterium 3.b), aber flexibel an die Kommunikationssituation angepasst und damit punktuell verändert. Eine Erzählerin (LK1) spricht frei, die andere (LK2) blickt von Zeit zu Zeit kurz auf die Textvorlage. 4. Die Gesamtinszenierung (Kriterium 5.e) lässt sich mithilfe des Konti‐ nuums „Möglichkeiten der Inszenierung von Erzählperformances“ (Kap. 4.5.1) in der mittleren Position (C) verorten, wofür folgende, in den Per‐ formances eingesetzte Inszenierungsstrategien sprechen: • Als dominierendes Leitsystem ist der verbale Erzähldiskurs gesetzt, dessen Rezeption im Zentrum des performativen Bemühens steht. • Mit der Wahl des Leitsystems ist eine Option für ein traditionelles Performancekonzept gegeben. Die Analyse der Performances zeigt experimentelle Ansätze, die der Inszenierung ein besonderes Profil 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 271 <?page no="272"?> verleihen. Dazu gehört in erster Linie das Experimentieren mit betont körperlich und emotional gestalteter Gestik und Mimik. • Die Performances orientieren sich an der in der Weiterbildung dis‐ kutierten Erzählweise Marie-Célie Agnants (Kap. 5.4.2). Die Lehr‐ kräfte lassen sich inspirieren von deren Strategie der Musikalität, der Rhythmisierung und der Dramatisierung und finden auf dieser Grundlage zu eigenen Inszenierungsstrategien. Zu diesen ‚eigenen Inszenierungsstrategien‘ gehören vor allem die Gestaltung der Erzählerrolle und die Abstimmung der Performancestrategien auf die di‐ daktischen und textuellen Vorentscheidungen, was sich in der Anwendung der beiden folgenden Strategien zeigt: • Den extradiegetischen, fiktiven Erzähler der Märchenerzählung gestalten beide Erzählerinnen als eine außerhalb der Fiktion stehende, reale Er‐ zählerinnen. Aus dieser Rolle heraus begleiten und veranschaulichen sie die Aktionen der Figuren mit illustrierender Gestik. Die interne Perspek‐ tive gestalten sie durch Hineinschlüpfen in die Figuren. In der Feinge‐ staltung dieser Erzählerrolle differieren die Erzählerinnen. Während die für die Brüderszene verantwortliche Erzählerin (LK2) die Erzählerrede mimisch-gestisch veranschaulicht und zur Gestaltung der Figurenrede eher vorsichtig-zurückhaltend durch prosodisches Modellieren in die Fi‐ guren hineinschlüpft, konzentriert sich die für die Gestaltung der Höhe‐ punktszene zuständige Erzählerin (LK1) auf die Figur des Protagonisten. Sie hebt bei der Gestaltung der Figurenrede auf den Ausdruck seiner Ge‐ fühle ab und spricht auch punktuell die Erzählerrede aus der Perspektive der Figur. Ihre Figurengestaltung ist im Wesentlichen für die Realisierung des Steigerungsprinzips verantwortlich. Während die eine Erzählerin (LK2) eine figurenunabhängige Erzählerrolle übernimmt, gestaltet die andere (LK1) eine involvierte Erzählerfigur. • Die Abstimmung der Performancestrategien auf die didaktischen und die textuellen Vorentscheidungen erfolgt dadurch, dass die Erzählerinnen ihre performativen Gestaltungsmittel schwerpunktmäßig an denjenigen Passagen ansetzen, die sie mit ihren Textadaptionen verstärkt hatten. Dazu gehören u. a. die konzeptionelle Mündlichkeit, das Prinzip der Wie‐ derholung und der Liedhaftigkeit der poésie orale (Kap. 9.2.1). Dazu gehört auch die Übertragung des teleologischen Prinzips des Erzähldiskurses in eine nach dem Prinzip der Steigerung angelegte Performance. Auf diese Weise gestalten die Erzählerinnen die Kettengeschichte zu einer Höhe‐ punktgeschichte. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 272 <?page no="273"?> 27 Die Verweise auf „Kriterien“ beziehen sich im Folgenden in Kap. 9.2.3 auf das Fünf-Di‐ mensionen-Modell zur Analyse von Narrativierungsleistungen (FDM-R). 28 Abkürzungen und Siglen der Videotranskription wie z. B. Sp, Sm1, Sw1 finden sich in den „Transkriptionsregeln der Videografien“ in Anhang 1. Die Analyse der Performance zeigt, auf welche Weise die Erzählerinnen non-verbale Zeichen (Kap. 4.3) als „Zeichen von Zeichen“ (Fischer-Lichte 2005c: 300) erzählperformativ gebrauchen und damit ihre Performance inszenieren: durch eine für diese Aufführung spezifische Selektion, Kombination und Ver‐ wendung prosodischer, mimischer und gestischer Zeichen. 9.2.3 Die Analyse der Rekonstruktion der Erzählung Ziel der folgenden Analyse ist es, die strukturellen, medialen, kommunikativen und performativen Mittel durch die beteiligten Akteure, die Form und den Grad ihrer Narrativierungen sowie die narrative Interaktion anhand ausgewählter Beispiele herauszuarbeiten. Die Analyse erfolgt mithilfe der Kriterien des Fünf-Dimensionen-Modells produktiver Narrativierungsleistungen (FDM-R, Kap. 5.5, 6.5 sowie Anhang 4) 27 . Ergänzend zu den narrativen Kommunikationsstrategien der Lernenden werden die wichtigsten Interaktionsmuster zwischen Lehrenden und Lernenden in die Analyse einbezogen. 9.2.3.1 Die erste Rekonstruktion der Erzählung: assoziative Aufzählung narrativer Elemente Spontane Äußerungen nach der ersten Erzählperformance zu formulieren und damit die erste Narrativierungsaufgabe (Kap. 9.2.1.3) zu bewältigen, fällt den Schülerinnen und Schülern zunächst schwer (VT-EZ / 1: 14-17) 28 . Sie halten sich auf Nachfragen von Seiten der Lehrkräfte mit Beiträgen zurück. Als sich ein Schüler der Aufgabe stellt und dabei um Hilfe bittet, deutet sich an, worin das Problem begründet liegt. Der Schüler fragt nach dem für den Beginn einer In‐ haltsangabe zentralen Begriff wie folgt: Sp linguistische & paralinguisti‐ sche gestische Zeichen Sm3 Ich weiß da ein Wort nich. Die Hand vor dem Mund, nachdenklich. LK2 Wie? Sm3 Handeln auf Französisch. ( ) Han‐ deln. Sm3 kratzt sich hinter dem Ohr. 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 273 <?page no="274"?> LK2 Agir. Sm3 kratzt sich nochmal hinter dem Ohr. Sm3 L’histoire agir ( ) (unv.) de deux garçons. Sm3 rutscht auf dem Stuhl hin und her, sieht zu Boden, während er spricht. (VT-EZ / 1: 15f.) LK2 Hm. Weder die Lehrkraft noch der Schüler sind mit diesem Beitrag zufrieden. Nachdem die Lehrkraft (LK2) die Aufgabenstellung wiederholt und dahinge‐ hend präzisiert, dass lediglich ein Wort oder ein Satz aus der Geschichte, nicht aber eine Nacherzählung zu formulieren sei, liefern die Schülerinnen und Schüler zunächst ein Wort, dann, in Reaktion auf die anderen Beiträge, weitere Stichwörter aus der Geschichte. Genannt werden in loser, assoziativer Folge die Protagonisten der Geschichte, alle von den Erzählerinnen benannten Orte der Handlung, die Tauschgegen‐ stände und das Ziel der Tauschgeschäfte, le mariage. Ausgewählt werden dem‐ zufolge diejenigen Elemente der Handlung, die das „prototypische Rückgrat“ (Wolf 2002a: 46) der Erzählung bilden. Allerdings werden keine syntaktischen Narreme gebraucht, so dass die genannten Elemente unverbunden nebenei‐ nander stehen ‒ genauso, wie es die Aufgabe verlangt. Interessant im Hinblick auf die bereits in dieser Phase eingesetzten Kommu‐ nikationsstrategien (Kriterien 5.a-c) sind die Versuche einiger Schülerinnen und Schüler, ein Handlungselement in die Assoziationskette einzubringen, das sie (noch) nicht in der Fremdsprache verbalisieren können. Eine Schülerin möchte ein Objekt benennen, dessen signifiant sie nicht korrekt bilden kann, aber dessen sprachbegleitende Illustration durch die Erzählerin sie erinnert. Sie möchte la poche oder la main dans les poches beitragen. Sie löst das Problem, indem sie die in der Performance wahrgenommene Geste des In-die-Tasche-Steckens der fèves (VT-EZ / 1: 17) ausführt und gleichzeitig versucht, das linguistische Zeichen annähernd hervorzubringen. Sie versucht es mit la poch, la por (unv.) (VT-EZ / 1: 17), bis ihr die Lehrkraft mit la poche weiterhilft und dabei lächelnd die Geste nochmals wiederholt. Ein weiterer Schüler möchte le tambour beitragen und erinnert den Wortlaut nicht genau. Er versucht es mit La tomme? Trommel? (a. a. O.), bis die Lehrkraft mit Le tambour? Le tambour. Le tambour de danse (a. a. O.) weiterhilft. In beiden Fällen wenden die Lernenden Problemlösestrate‐ gien an, um den signifiant des Gemeinten hervorzubringen. Sie stützen sich auf die erinnerte performative Wahrnehmung und versuchen, darauf aufbauend eine Problemlösung durch Ausprobieren. Die Strategie hat Erfolg, weil die be‐ 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 274 <?page no="275"?> 29 Ich setze in Anlehnung an Edmondson / House (2000: 250, 2007: 242-246) als Grund‐ muster die drei Strukturelemente Elizitation, Antwort, Reaktion und kürze diese mit (E), (A) (R) ab. Die jeweils linke Spalte bezeichnet die Strukturelemente des Grundmus‐ ters, die folgende die Sprecherinnen und Sprecher, die dritte die Form der Äußerung. Die Abkürzung LK repräsentiert die Lehrkraft, Sp die beitragsleistende Schülerin / den beitragsleistenden Schüler, Sch eine ‚einhelfende‘ Schülerin / einen ‚einhelfenden‘ Schüler. teiligten Lehrkräfte sich auf das Ausprobieren einlassen, indem sie es mit freundlicher Zuwendung und Einhilfe unterstützen. Interaktionsgrundmuster I und II der ersten Rekonstruktionsphase Für diese Phase sind die beiden im Folgenden aufgelisteten Grundmuster I und II charakteristisch, wobei Grundmuster I zwei Varianten a und b aufweist 29 . Grundmuster I Variante a Variante b A Sm1 Beitrag Beitrag Beitragsversuch, dann Bitte um Hilfe R LK Bestätigung Korrektur Lösungsvorschlag A Wiederholung Wiederholung Grundmuster II A Sm1 Beitrag A Sm2 Beitrag A Sw1 Beitrag In Grundmuster I sind die narrativen Jobs klar zwischen Lehrenden und Lern‐ enden aufgeteilt. Die Lernenden formulieren einen kurzen Beitrag (A), die Lehr‐ enden geben Feedback (R) oder initiieren eine Präzisierung oder Erweiterung des Beitrags. In Grundmuster II reihen die Lernenden ihre Beiträge ohne verbale Kommunikation mit den Lehrenden aneinander an. Bei beiden Grundmustern handelt es sich um Sprechhandlungssequenzen, die (noch) keinen narrativen Diskurs ergeben. 9.2.3.1 Die zweite Rekonstruktion der Erzählung: die Narrativierungen der Zeichnungen der Schülerinnen und Schüler Die Zeichnungen wurden von den Schülerinnen und Schülern in individueller Einzelarbeit angefertigt. Sie erstellten jeweils ein Bild oder auch zwei Bilder, so 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 275 <?page no="276"?> 30 Aus der complication werden la mère avec le fagot / avec les deux oiseaux und les deux frères et le cadeau mangé ou à changer fünfmal als Szenenausschnitt gewählt und ge‐ zeichnet. Aus der dynamique werden mit le fleuve, le sac de sel, le sac de poissons drei Tauschsequenzen je einmal ausgewählt. Die letzte, die résolution vorbereitende Sequenz wird mit le garçon avec le sac de poissons / le sac de poissons posé sur la table / le baobab / le tambour sous baobab neunmal, und die résolution mit dem dialogue sous le baobab einmal ausgewählt. dass insgesamt 18 Zeichnungen entstanden. Absprachen über die Verteilung der Themen, Figuren oder Situationen gab es nicht. Die Zeichnerinnen und Zeichner hatten jedoch Gelegenheit, ihre Nachbarn zu beobachten und sich auszutau‐ schen. Was die Auswahl der Sujets und damit die Auswahl der Bausteine der Erzäh‐ lung in den Zeichnungen betrifft (Kriterium 1.b), so behalten die Schülerinnen und Schüler die in der assoziativen Aufzählung der ersten Rekonstruktion ge‐ troffene Auswahl (Kap. 9.2.3.1) insgesamt bei, denn alle dort genannten Orte, Protagonisten und Tauschgegenstände tauchen entweder als Bestandteil oder als Hauptsujet der Zeichnungen auf. Auch bleiben die meisten Schülerinnen und Schüler individuell bei ihrer ersten Wahl (zwei Drittel der Lerngruppe), indem sie den zuvor assoziierten Gegenstand nunmehr zeichnen oder einen Szenen‐ ausschnitt gestalten, in der der Gegenstand eine Rolle spielt. Zwar haben damit alle prototypischen Handlungselemente Eingang in die Zeichnungen gefunden, aber nicht alle Handlungssequenzen werden gleichberechtigt berücksichtigt 30 . Die Zeichnerinnen und Zeichner interessieren sich vor allem für die den Kon‐ flikt auslösenden und für die spannungs- und emotionsgeladenen Momente der Geschichte und der Performance. Was die ästhetische Konzeption der Zeichnungen betrifft, so sind sie, der gestellten Aufgabe folgend, überwiegend mimetisch gestaltet. Dadurch, dass in den Zeichnungen dieselben Figuren der Geschichte wiederholt und wiederer‐ kennbar als Protagonisten auftauchen, wird ‒ ohne Absprache ‒ eine themati‐ sche Einheitsstiftung erreicht. Der thematischen Einheitsstiftung entspricht auf der Ebene der Gestaltung der von den Lehrkräften eingeforderte style africain, très simple (Kap. 9.2.1). Was die Darstellung inhaltlicher Narreme betrifft, so haben sich die Schüle‐ rinnen und Schüler an die prototypischen Bausteine gehalten, die sich im bild‐ lichen Medium figürlich gut repräsentieren lassen. Im Hinblick auf die Darstel‐ lung von Gefühlen, Gedanken und die Rede von Figuren sind die Möglichkeiten des bildlichen gegenüber dem verbalen Medium Erzählen eingeschränkt. Das‐ selbe gilt für das Herstellen von temporalen, kausalen und teleologischen Be‐ zügen, d.h. für den Gebrauch syntaktischer Narreme (Wolf 2002a: 54). Das bild‐ 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 276 <?page no="277"?> 31 Zur Beschreibung und Bildung von Typen folge ich der von Wolf vorgenommenen Einteilung (Wolf 2002a: 53-75) in Einzelbilder und Bildserien, ferner der Unterscheidung von Monophasen- und Polyphasen-Einzelbilder. Die Nummerierung der Typen über‐ nehme ich nicht, sondern passe sie der Reihenfolge meiner Darstellung an. liche Erzählen bedient sich deshalb intermedialer ‚Lesehilfen‘ (s. Wolf 2002a: 67ff), um den Rezipierenden das ‚narrative Lesen‘ des Bildes zu erleichtern. Die Schülerinnen und Schüler stellen sich dieser Problematik und finden unter‐ schiedliche ästhetische Lösungen. Diese lassen sich drei unterschiedlichen Typen narrativer Bilder zuordnen, deren Charakteristika in der Gegenüberstel‐ lung der Bilder 1-7 im Folgenden herausgearbeitet werden 31 . Typ I: Das Monophasen-Einzelbild: Abb. 13: Narrative Zeichnungen der Schülerinnen und Schüler: Bild 1, 2, 3 und 4 Dieser Bildertyp stellt im Allgemeinen den Ausschnitt einer Szene, eine Situa‐ tion oder eine Handlung dar (Wolf 2002a: 55). Er enthält demzufolge Basisnar‐ reme der Geschichte. Dies gilt auch für die hier dokumentierten narrativen Zeichnungen, die Bilder 1, 2, 3 und 4. Gezeigt werden le baobab, le fleuve mit la case sowie la mère avec le fagot. Die beiden Landschaftsbilder illustrieren Orte der Handlung, liefern aber keine weiteren narrativen Stimuli. Anders geht Bild 3 vor. Hier wird die Mutter dargestellt, die den fagot nach Hause bringt und ihn 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 277 <?page no="278"?> möglicherweise gleich ablegen wird. Die Betrachterinnen und Betrachter können sich fragen, warum die Figur den fagot trägt, was sie mit dem Inhalt anstellen wird. Elemente einer Handlung werden ihnen geliefert. Im Unter‐ schied zu Bild 3 enthält Bild 4 keine handelnde Figur, dafür aber einen Gegen‐ stand, mit dem gehandelt wird. Um die Funktion des Gegenstandes zu verdeut‐ lichen, greift der Zeichner zu einer ‚Lesehilfe‘. Der Gegenstand wird durch ein deiktisches Zeichen am rechten unteren Bildrand als sac de sel kenntlich ge‐ macht. Betrachterinnen und Betrachter können sich fragen, wozu der sac de sel wohl dienen wird. Gemeinsam ist den Zeichnungen 1-4, dass sie keine Darstellung von Hand‐ lungen liefern, aber auf die Handlung der Geschichte verweisen. Sie sind nicht Geschichten darstellend, sondern ‚geschichtenindizierend‘ (Wolf 2002a: 96) kon‐ zipiert. Sie lassen sich als Illustrationen der Geschichte lesen. Typ II: Das Polyphasen-Einzelbild Abb. 14: Narrative Zeichnung der Schülerinnen und Schüler: Bild 5 Das Polyphasen-Einzelbild liefert im Gegensatz zum Monophasen-Einzelbild zeitlich konsekutive Phasen (Wolf 2002a: 55) einer Geschichte in einem einzigen Bild. Bild 5 folgt diesem Prinzip, indem es (fast) die ganze Geschichte in zwei Szenen zusammenfasst. Im linken Bildteil wird das Vorhaben des frère aîné, der 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 278 <?page no="279"?> sein Geschenk zum Verzehr bereit gelegt hat, dargestellt. Im rechten Bildteil sieht man den cadet, dessen Vorhaben, das Geschenk einzutauschen, schon als Realisierungs-Kette dargestellt wird: contre un couteau, contre un panier, contre un sac de sel, contre un sac de poissons. Die Gegenstände werden abgebildet, auf die Tauschaktionen wird durch Pfeile verwiesen, was eine Lesehilfe durch deik‐ tische Zeichen darstellt. Der Narrativierungsgrad von Typ II ist höher als der von Typ I, weil aufeinander folgende Handlungen, damit chronologische Zu‐ sammenhänge repräsentiert werden. Die Zeichnung deutet darüber hinaus einen weiteren, weniger leicht ‚lesbaren‘ Sinnzusammenhang an, indem sie die beiden Brüder und ihre unterschiedlichen Reaktionen auf das Geschenk der Mutter einander gegenüberstellt. Liest man die mit Pfeilen verbundene Reihe der Tauschgegenstände als Re‐ präsentation der Wünsche oder Gedanken des frère cadet, so könnte man das Einzelbild als Vignette einer bande dessinée auffassen, die in der dem Medium eigenen Form Gedanken der Figuren darstellt. Es fehlen lediglich die Umrisse einer bulle. Diese finden sich im folgenden Typ III narrativer Bilder. Typ III: Einzelbilder einer Bilderserie Abb. 15: Narrative Zeichnungen der Schülerinnen und Schüler: Bild 6, Bild 7 Die Schülerinnen und Schüler hatten nicht die Aufgabe und auch nicht die Zeit, eine Bilderserie zu erstellen, aber zwei Schülerinnen gestalten ihr Einzelbild in Form einer bande dessinée-Vignette, und beide Zeichnungen können als Teil 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 279 <?page no="280"?> 32 Die beiden Zeichnungen als Einzelbilder einer Bilderserie aufzufassen, obwohl die dazu gehörige Bilderserie nicht existiert und beide Zeichnerinnen ihr Projekt nicht aufei‐ nander abgestimmt haben, lässt sich aus den Rekonstruktionsgesprächen rechtfertigen. Die Schülerinnen setzen die beiden Zeichnungen in der oben gezeigten Reihenfolge ein und benutzen sie auch tatsächlich als Vignetten einer Bilderserie. Dies wird in der Analyse der dritten Rekonstruktion der Erzählung (Kap. 9.3.2.3) gezeigt. einer solchen Bilderserie gelesen werden 32 . Bild 6 zeigt den frère cadet beim Trommeln unter dem baobab. Aus seinem Mund fliegen Noten, die anzeigen, dass er singt. Bild 7 kann als eine auf Bild 6 folgende Szene gelesen werden, auch wenn diese Abfolge ohne Verabredung der beiden Zeichnerinnen entstanden ist. In Bild 7 ist der chef du village hinzugekommen. Die Tatsache, dass beide einen Dialog führen, wird durch eine bulle mit Frage- und eine mit Ausrufezeichen gezeigt. Allerdings enthält die bulle in Bild 7 keine verbalen Zeichen, weshalb in diesen Vignetten auch keine in der bande dessinée übliche intermediale Wort-Bild-Kombination vorliegt. Das Hinzutreten des chef du village liefert einen zeitlichen, aber auch kausalen Sinnzusammenhang, denn dieser kommt als Fragender, weil er die musikalische Klage des frère cadet vernommen hat. Die Schülerinnen haben eine in Bilderserien übliche Darstellungsform ge‐ wählt. Ihre Einzelbilder enthalten Szenen, in denen die Protagonisten der Ge‐ schichte in actu gezeigt werden. Diese Szenen stellen prägnante Augenblicke der Handlung dar, hier den Höhepunkt der Geschichte. Sie liefern eine zeitliche Sinndimension, denn sie eröffnen dem Betrachter die Möglichkeit, ein Vorher und ein Nachher der Situation mitzudenken. Sie liefern eine teleologische Sinn‐ dimension, denn sie verweisen auf das, worauf die Geschichte hinausläuft: das Gewinnen einer fille d’un chef. Der Narrativierungsgrad von Typ III ist gegen‐ über Typ II höher. Dies ist der formalen Gestaltung zum Einzelbild einer (vor‐ gestellten) Bilderserie zu verdanken. Die Bilderserie teilt den Handlungsablauf in mehrere, auf einen Höhepunkt zusteuernde Etappen ein, während das poly‐ phone Einzelbild zwei, ggf. auch drei Handlungen in einem Bild darstellt und damit eine Zusammenfassung der Geschichte liefert. Typ III entwickelt den roten Faden der Geschichte, Typ II konzentriert sich auf den Plot. 9.2.3.3 Die dritte Rekonstruktion der Geschichte: intermediale Einzelnarrativierungen Im Folgenden liegt der Fokus der Analyse auf der intermedialen Präsentation der Arbeitsergebnisse und auf der Interaktion der Akteure der Rekonstrukti‐ onsgespräche. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 280 <?page no="281"?> 33 Die Zeichnerinnen und Zeichner haben je zwei Bilder angefertigt, die sie beide vor‐ stellen. Sie sind in Kap. 9.2.3.2 nicht abgedruckt. Die sprachliche Äußerung wird jedoch vollständig zitiert, weil ansonsten die prosodische Markierung nicht verständlich ist. 34 Mit Grevisse / Goosse (1989) bezeichne ich Voici / Voilà und c’est / ce sont als présentatifs. Es handelt sich um eine sprachliche Wendung « que l’on définit souvent de façon sé‐ mantique, en disant qu’il sert à désigner quelqu’un ou quelque chose. » (Grevisse / Goosse 1989: 327) Die sog. présentatifs dienen dazu, auf die Identität / Existenz von Personen, auf Merkmale von Gegenständen und Personen, deren Lage etc. zu verweisen bzw. diese zu präsentieren. (Charaudeau 1992: 310) Intermediale Narrativierung durch Bildpräsentationen Der Eingangsimpuls zur zweiten Rekonstruktion gibt dem Gespräch einen Ori‐ entierungsrahmen: Die Schülerinnen und Schüler sind aufgefordert, ihre Zeich‐ nungen zu präsentieren und dabei einen kurzen Kommentar zum Bildinhalt zu geben (VT-EZ / 1: 32f.). Die Lernenden kommen dieser Aufgabe nach, indem sie ihre Bilder für alle sichtbar senkrecht zu Kreismitte vor sich halten, meist zur Mitte hin sprechen, sich gegenseitig das Wort erteilen, ihre Kommentare wie gefordert genau auf das Bild beziehen und ihre Aussagen durch Zeigen auf das Dargestellte visua‐ lisieren. Die Bilder 1-4 werden wie folgt präsentiert 33 : Bild 1/ 2: C’est le ( ) baobab↗, et ça↗, c’est le fleuve. (VT-EZ / 1: 38) Bild 3: C’est la mère avec leur ( ) fagot↗, ehm, ehm, et c’est le ehm garçon avec le sac et de ( ) avec des poissons. (a. a. O.: 35) Bild 4: Voilà le sac de sel ↗, ( ) et voilà le sac de poissons↘ ! (a. a. O.: 37) Die Monophasen-Einzelbilder werden überwiegend mit kurzen, parataktischen Sätzen vorgestellt, die durch den Konnektor et verbunden sind. Mithilfe der présentatifs 34 c’est und voilà werden Personen und Gegenstände benannt, oder es wird auf deren besondere Merkmale verwiesen. Syntax und Lexik weisen damit Charakteristika eines beschreibenden Vertextungsmusters (Brinker/ Ausborn-Brinker 2010: 56 ff., Heinemann / Heinemann 2002: 187f.) auf. Au‐ ßerdem setzen die Schülerinnen und Schüler sehr deutlich den accent tonique in seiner fonction démarcative und die damit verbundene steigende Tonhöhe ein. Sie benutzen damit die von den Performerinnen ständig eingesetzte Strategie der Hervorhebung der wichtigsten Botschaft und der Gliederung des Diskurses. Die Kommentatorin eines Einzelbildes hält sich ebenfalls an die Strategie der Hervorhebung, geht aber über die beschreibende Haltung hinaus. Sie präsentiert die Dialogszene zwischen dem garçon und dem chef in Bild 7 wie folgt: 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 281 <?page no="282"?> linguistische & paralinguistische gestische Zeichen Sw6 Alors, c’est ehm le garçon↗ et c’est le chef. Sw6 hält das erste Bild Ehm, le garçon tamboure et le chef racontre zur Kreismitte gewendet senkrecht vor sich, le garçon ehm: « Qu’est-ce que … zeigt auf ~le garçon, also hier ist so en‘ schnell : Fragezei‐ chen↗ ( ) auf ~le chef, auf das Fragezeichen, während sie spricht. LK1 Des questions ↺ ? Sw6 … qui, qu’est-ce qu’on, nee, qu’est-ce que tu prends contre tes poissons ↺ ? » Et il ehm … ( ) antwortet? LK2 Leise : répond ! Sw6 répondre: « Ehm, je voudrais ehm ta fille. » Sie zeigt auf: ~garçon. LK1 C’est su-per-bien ! Hein ↺ ? (VT-EZ / 1: 35) Sie gestaltet die Szene zu einer Dialogsituation, indem sie Frage- und Ausru‐ fungszeichen als direkte Figurenrede verbalisiert. Der Narrativierungsgrad ge‐ genüber der Präsentation der Bilder 1-4 ist höher, weil sie das dargestellte Er‐ eignis als zielgerichtete Handlung der Figuren (Kriterium 1.b) darbietet und durch den Gebrauch von Nähe-Sprache in der wörtlichen Rede (Kriterium 2.a) eine narrative Markierung im Sinne der fingierten Mündlichkeit (Kap. 3.5.3) vornimmt. Zur Formulierung dieses narrativen Beitrags wendet die Schülerin verschiedene Problemlösungsstrategien (Kriterium 5.b) an, die so zusammen‐ wirken, dass sie ihren sprachlich-kommunikativen Plan zu einem Ende führen kann und mit der Ausgestaltung zu einer Dialogszene auch Nebenstrukturen (Ahrenholz 2006b: 95, 106) in ihre Narrativierung einbringt (Kriterium 1b). • Sie probiert, gestützt auf den Performance-Diskurs, Formulierungen aus (tambourer statt tambouriner), wendet die Technik des Ratens an (ra‐ contrer qn durch eine Mischung aus raconter und rencontrer), um damit das ihr nicht zur Verfügung stehende Verb demander zu ersetzen, • Sie fragt auf Deutsch nach und zur Formulierung der direkten Frage stützt sie sich auf die wiederholt gehörte Wendung des Reims contre les pois‐ sons. Die Formulierung der Frage Qu’est-ce que tu prends contre tes pois‐ 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 282 <?page no="283"?> sons? stellt eine selbstständige sprachliche Leistung der Schülerin dar. Die entsprechende Frage des Erzähldiskurses lautet: Que veux-tu? (VT-EZ / 1: 12). • Sie verbindet die bildlichen und verbalen Zeichen mit unterstützender, demonstrierender Gestik, indem sie auf die jeweiligen Referenten ihrer Rede zeigt. Eine Sonderstellung in der verbalen Rekonstruktion der Geschichte nimmt das Polyphasen-Einzelbild (Abb. 14, Bild 5) ein. Der Zeichner des Bildes beginnt seine Präsentation in demselben beschreibenden Modus wie die o. g. Zeichnerin: linguistische & paralinguistische gestische Zeichen Sm1 Also, (3Sek) ich soll auf Französisch spre‐ chen. Sm1 hält das Bild senkrecht vor sich. LK1 Tief: Ah oui ! Oui ! Sm1 Also: C’est le grand garçon↗… Er zeigt auf: ~ le grand garçon. LK2 Ouais! Sm1 …tu, ehm, Er dreht kurz das Bild zu il mange le ehm l’oseau, l’oiseau, sich hin, schaut darauf. et le petit garçon change le oiseau. Er zeigt auf: ~l’oiseau. Sm1 lächelt. Ss lachen. LK2 Contre ? Contre quoi ↺ ? Sm1 sieht immer wieder Sm1 Contre le (3 Sek.) couteau↗, kurz auf sein Bild. contre le (3 Sek.) bap ↺ ? LK1, LK2, Ss lachen. LK2 C’est quoi ↺ ? Der Korb ↺ ? Vous savez ↺ ? Sm1 dreht sein Bild vor sich hin und her. Sch Panier ! Sw6 lacht kurz auf. Sm1 Contre le sel, contre le sac de poissons↘. Er schlägt auf (unv.) gegen das Bild. Contre (unv.). LK2 Qu’est-ce qui manque ? Hein ↺ ? Sm1 Contre, contre le fille d’un chef. LK 1 und LK2 lächeln. (VT-EZ / 1: 38) 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 283 <?page no="284"?> Der Schüler fokussiert bei seiner zunächst beschreibenden Präsentation auf die Opposition der beiden Brüder, die die er durch accents toniques in einer fonction expressive (grand¸ petit) prosodisch hervorhebt. Er fährt narrativ fort, indem er ihre unterschiedlichen Handlungen benennt. Auf die Nachfrage der Lehrkraft Contre? Contre quoi? verbalisiert der Schüler auch die mit Pfeilen verbundene Handlungskette. Dabei hilft ihm die Nachfrage der Lehrkraft als Verbalisie‐ rungsimpuls weiter: Die Präposition contre steuert seine Rekonstruktion der Handlungskette. Wenn er den Wortlaut eines Tauschgegenstandes nicht erin‐ nert, greift der Schüler zu derselben Strategie wie die Sprecherin von Bild 7. Er probiert die Formulierung durch Annäherung an das Gemeinte (bap ↺ ? ) aus, stellt aber seine Äußerung durch Anheben der Stimmhöhe als Frage in den Raum, worauf die Lehrkraft die Frage an das Publikum weitergibt und ein Ko-Akteur mit panier weiterhilft. Die in der mündlich-verbalen Präsentation eingesetzte Form der Narrativie‐ rung entspricht der bildlichen Narrativierung seiner Zeichnung, denn der Schüler liefert den Plot der Geschichte. Dieser Narrativierungsleistung verdankt das Bild eine Sonderstellung in den Rekonstruktionsgesprächen. Es wird in un‐ terschiedlichen Phasen von unterschiedlichen Sprecherinnen und Sprechern als Memorierungshilfe oder als Demonstrationsobjekt genutzt. Als Zwischenergebnis der Narrativierungsanalyse lässt sich festhalten, dass die Schülerinnen und Schüler in dieser Rekonstruktionsphase unterschiedliche Formen des Architerms Erzählen (Ehlich 2007: 372 und Kap. 3.2.1) benutzen. Erzählen 1 wird in verschiedenen Beiträgen durch Beschreiben einer Figur oder Wiedergeben einer Handlung realisiert. Erzählen 2 zeigt sich in Ansätzen in den Präsentationen von Bild 5 und 7 (Abb. 14, 15). Durch das Zusammenspiel von Bild und verbalem Kommentar gelangen die Schülerinnen und Schüler zu pro‐ duktiven Narrativierungen von Ereignissen und Szenen der gehörten Ge‐ schichte. Ob und inwiefern diese sich zu einer narrativen Diskurseinheit zu‐ sammenfügen, lässt sich durch Hinzuziehung der narrativen Interaktionsebene (Kriterien 4.a, 4.b) beantworten. Die narrative Interaktion Die globale narrative Interaktion dieser Rekonstruktionsphase wird durch die narrativen Sprechhandlungssequenzen der Schülerinnen und Schüler rhythmi‐ siert. Im Unterschied zur ersten Rekonstruktionsphase ist nunmehr die Rede‐ vergabe formal geregelt, denn die Sprecherinnen und Sprecher sind aufgefor‐ dert, am Ende ihrer Beiträge die nächsten Sprecherinnen und Sprecher zu wählen. Auf diese Weise kommunizieren die Schülerinnen und Schüler direkt miteinander, aber ein narratives Aufeinander-Beziehen oder eine Verkettung der 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 284 <?page no="285"?> einzelnen Beiträge ergibt sich aus diesem Interaktionsmuster nicht. Im Ge‐ genzug finden interessante narrative Interaktionen innerhalb der Beiträge statt. Diese lassen sich zwei Interaktionsmustern zuordnen, die sich im Hinblick auf Beitragslänge und die zum Einsatz kommenden narrativen Strategien (Kri‐ terien 4.a, 4.b) unterscheiden. Die meisten Beiträge sind mit ein bis zwei Sprecherwechseln relativ kurz und folgen den Interaktionsgrundmustern I und II der ersten Rekonstruktion. Die Sprecherinnen und Sprecher dieser Kurzbeiträge kommen ihrem Narrativie‐ rungsauftrag durch Formulierung von Assertionen zu ihren Zeichnungen nach ‒ ganz wie es die Aufgabe verlangt. Auf Nachfragen der Lehrkräfte geben sie eine kurze Ergänzung oder Berichtigung. Ihre Beiträge stellen lokale Einzeläu‐ ßerungen dar, die sich in die Gesamtstruktur der Geschichte einfügen (Kriterium 4.b des FDM-R). Die Beiträge zu Bild 5 und Bild 7 (Abb. 14, 15) weisen ein neues Interaktions‐ muster (III) auf. Dies liegt zum einen am Narrativierungsgrad der Bilder, zum andern an folgenden zum Einsatz kommenden narrativen Kontextualisie‐ rungsstrategien (Kriterium 4.b): • Die Präsentierenden übernehmen die Rolle von primären Sprecherinnen und Sprechern, die ihre Beiträge im Dialog mit dem Bild und anderen Interaktions-Akteuren entwickeln. Deren Interaktionsbeiträge haben die‐ nende Funktion. • Die Beiträge setzen mit einem einführenden, beschreibenden Satz den Beginn einer längeren Sequenz, führen einen Mittelteil aus, der die Haupthandlung der Sequenz enthält, und setzen einen Schlusspunkt. • Die Beiträge stellen übersatzmäßige, die globale Struktur der Geschichte aufnehmende narrative Einheiten dar (Kap. 5.3.4 und Kriterium 4.b). Beide Sprechhandlungssequenzen unterscheiden sich im Hinblick auf die Selbst‐ ständigkeit, mit der die narrative Sequenz entwickelt wird. Die Interaktion zu Bild 5 (VT-EZ / 1: 38) baut sich durch die Intervention der Lehrkraft auf. Sie initiiert die Weiterführung des Beitrags durch unaufgefordertes Nachfragen und greift auch mit der Frage nach einer Wortbedeutung (C’est quoi ↺ ? Der Korb ↺ ? Vous savez ↺ ? ) oder einem noch fehlenden Textelement (Qu’est-ce qui manque ? Hein ↺ ? ) stark in die Strukturierung des Beitrags ein. Die Sprecherin zu Bild 7 (VT-EZ / 1: 35) plant ihren Beitrag als Ganzes. Sie kann ihn zwar auch nicht ohne Einhilfe ausführen, aber die Nachfrageinitiative geht von ihr aus. 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 285 <?page no="286"?> Die Jobübernahme durch die Lehrkräfte Die Lehrkräfte nehmen ihre ‚Einhilfe‘-Rolle wahr, wenn eine Bitte um Hilfe geäußert bzw. auch nur angedeutet wird. Sie helfen durch geflüsterte (VT-EZ / 1: 49) oder lauter gesprochene (a. a. O.: 36; 41) Stichworte oder Zweiwortsätze weiter. In einigen wenigen Fällen liefern sie unaufgefordert Berichtigungen (a. a. O.: 40, 41). Sie kommentieren die Zeichnungen und verbalen Beiträge durch positives Feedback wie très bien oder sehr nachdrücklich durch besondere Wür‐ digung der ästhetischen Gestaltung wie z. B.: On a vraiment l’impression d’être en Afrique avec ces dessins. (a. a. O.: 39) In einigen Fällen initiieren sie unaufge‐ fordert die Weiterführung oder Präzisierung der Beiträge. Dies geschieht immer dann, wenn das Bild mehr explizite, weil sichtbare Informationen enthält als die Sprecherinnen und Sprecher verbalisieren. Die Lehrkräfte bitten um Füllen der Leerstellen zwischen Bild und Wort. Der Einsatz dieser Strategie löst ‒ wie die Interaktion der Sprechhandlungssequenz zu Bild 5 zeigt ‒ die Eröffnung, Fort‐ setzung oder Intensivierung einer allerdings von Seiten der Lehrkraft gesteu‐ erten narrativen Interaktion aus. Wendet man die von Flader / Hurrelmann (1984: 230-232) entwickelten Kriterien narrativer Unterstützung an, so zeigt sich, dass die Lehrkräfte schemastützende und schemainitiierende Strategien der Ex‐ pansion, Verstärkung und Verständnissicherung der narrativen Beiträge ein‐ setzen. Wendet man die von Schramm (2006: 171) entwickelten Kriterien zur Analyse narrativer Scaffolding-Verfahren an, so ist festzustellen, dass die Lehr‐ kräfte verantwortlich sind sowohl für Selbstals auch für Fremddurchführungen narrativer Beiträge und dass überwiegend sprachliche Reparaturen statt Kor‐ rekturen vorgenommen werden. Sie stellen vor allem genuine Fragen (Schramm 2006: 176), die den Sprecherinnen und Sprechern helfen, ihren narrativen Plan weiterzuverfolgen. Die Analyse der zweiten Rekonstruktion zusammenfassend lässt sich fest‐ halten, dass die Interaktionsmuster und die ihnen zugrundeliegenden bildlichen, verbalen und kommunikationsstrategischen Narrativierungen sich zu einem narrativen Gespräch zusammenfügen, in dem Einzelnarrativierungen und nar‐ rative Sprechhandlungssequenzen in loser, nicht narrativ organisierter Folge aneinander gereiht werden ‒ im Unterschied zur Verkettung von Einzelnarra‐ tivierungen und narrativen Sprechhandlungssequenzen in der folgenden, dritten Phase der Rekonstruktion. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 286 <?page no="287"?> 9.2.3.4 Die dritte Rekonstruktion: Verkettung narrativer Sprechhandlungssequenzen Die dritte Rekonstruktion schließt mit einer neuen Aufgabe an die zweite an. Es geht nicht mehr darum, die Zeichnungen zu präsentieren, sondern die Ge‐ schichte anhand der Zeichnungen zu erzählen. Der neuen Aufgabe entspricht ein neues Raumarrangement. Jede Schülerin und jeder Schüler bildet mit ihrer / mit seiner Zeichnung eine narrative Minisequenz und platziert sich, der Chro‐ nologie der Geschichte folgend, zu den Nachbarinnen und Nachbarn im Kreis. Die Platzierung entspricht der sequenziellen Ordnung der Geschichte. Die neue Aufgabe stellt eine narrative und sprachliche Herausforderung dar, denn die Schülerinnen und Schüler sind angehalten, bereits erarbeitete inhalt‐ liche Narreme zu erinnern, weitere hinzuzufügen und sie durch Gebrauch syn‐ taktischer Narreme miteinander zu verbinden und damit semantische Kohärenz herzustellen. Das neue Raumarrangement unterstützt sie bei der Herstellung temporaler Zusammenhänge, nicht aber bei deren Verbalisierung. Gegenüber den vorhergehenden Rekonstruktionen weist die dritte Rekon‐ struktion eine zweiphasige Gliederung auf. In einer ersten Phase (VT- EZ / 1: 42-49) wird die Geschichte anhand der Zeichnungen als narrative Diskursein‐ heit rekonstruiert, in einer zweiten (VT-EZ / 1: 49-52) wird die Diskurseinheit in ein metanarratives Gespräch überführt, in dem sich die Interaktionspartne‐ rinnen und -partner vertiefend über Sinn und Bedeutung der Geschichte aus‐ tauschen. Interaktionsstrategien der Lehrkräfte in der narrativen Diskurseinheit: Die Lehrkräfte nehmen ihre narrativen Aufgaben dadurch wahr, dass sie das Entstehen eines narrativen Diskurses in der Zielsprache durch Scaffolding-Ver‐ fahren (Kap. 2.5) initiieren, stützen, steuern und überwachen. Sie setzen folgende Strategien ein: • Sie markieren durch Eröffnungs- und Überleitungsbeiträge für alle deut‐ lich Anfang (VT-EZ / 1: 43) und Ende (a. a. O.: 50) der gemeinsam zu ge‐ staltenden narrativen Diskurseinheit. • Sie leisten eigene narrative Beiträge wie z. B. den Beginn der Erzählung in narrativer Haltung: LK1: Moi, je commence. […] Il y a une mère↗ qui a deux fils. (a. a. O.: 43) Sie bieten den Schülerinnen und Schülern damit narrative Muster zur Formulierung ihrer Beiträge an. • Sie beginnen einen eigenen narrativen Beitrag und lassen ihn zu Ende führen. Die Weiterführung ihres Beitrags fordern sie prosodisch durch Stimmführung nach oben, verbunden mit einer Pause in abwartender 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 287 <?page no="288"?> Haltung ein und nehmen damit prosodische Gestaltungsprinzipien der Performances wieder auf. LK2 Maintenant, il a↗, maintenant, le garcon, il a … ( ) Sm2 Leise: Il a, il a un panier. (a. a. O.: 46) • Andere Verbalisierungen wie die Formulierung des Refrain (a. a. O.: 48) unterstützen sie durch rhythmische Bewegungen, womit sie ebenfalls non-verbale Gestaltungsmittel der Performance wieder aufnehmen. • Sie lassen punktuell Äußerungen in deutscher Sprache zu und helfen sprachmittelnd weiter oder fordern zur Übertragung ins Französische auf (a. a. O.: 45, 47). • Sie erfragen Aktionen, um vom beschreibenden in den narrativen Modus umzuschalten wie z. B. in diesem Beitrag: Sm5 C’est le fleuve. LK2 Et qu’est-ce qu’il fait là ? Le garçon est au bord d’un fleuve↗ et qu’est-ce qu’il fait ? Il ↺ ( )… il verse↗ … ( ) Sm5 Il verse ( ) le sel. LK2 Exactement. Dans le fleuve↘. MHM! (a. a. O.: 46) Mithilfe dieser Strategie bringen sie den Prozess der Narrativierung steuernd voran, denn sie fordern zum Gebrauch prototypischer Narreme (Kriterium 1.b) heraus, eine schemaunterstützende Strategie, die Flader / Hurrelmann als „Ex‐ pansion der Erzählung“ (1984: 231) bezeichnen. Auch wenn der Schüler lediglich ein Satzelement hinzufügt, so ist nunmehr der Ort des Geschehens mit einer Handlung ausgestattet und die Lehrkraft kann eine Ergänzung hinzufügen. • Eine weitere Interaktionsstrategie besteht darin, Brücken zwischen den einzelnen Beiträgen zu schlagen - wie hier von der Präsentation des Flussbildes (Bild 2) zum Bild, das den garçon avec le sac de poissons (Bild 8) zeigt: 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 288 <?page no="289"?> Abb. 16: Narrative Zeichnungen der Schülerinnen und Schüler: Bild 2, Bild 8 LK1 Pourquoi ↺ . Pourquoi est-ce qu’il le fait ↺ ? […] Sw3 Langsam : Damit er seine Fische bekommt. LK1 Eh oui↗, peut-être ! Sm2 Äh, weil der Fluss das gesagt hat. LK2 Exact. Oui. Et comment ? Il goûte, il goûte l’eau. Ne? Das Wasser. Il goûte l’eau ↗… LK1 …et après ↺ ? LK2 Et qu’est-ce qu’il dit ↺ ? Sm2 Also es war schlecht↗, es hat nicht geschmeckt↗. LK2 Exact. Es war fade. […] Fade ist ohne Geschmack, ne? Alors, il met un peu de sel↘. Et après↗, c’est mieu↘. Ça a du goût. (VT-EZ / 1: 47) Die Lehrkräfte schlagen Brücken dadurch, dass sie zur Formulierung kausaler, logischer und chronologischer Sinnzusammenhänge aufrufen - durch Nach‐ fragen wie: Pourquoi ? Pourquoi est-ce qu’il le fait ? Et comment ? Et qu’est-ce qu’il dit ? Et après ? (VT-EZ / 1: 46). Gleichzeitig werden die Interaktionspartnerinnen und -partner herausgefordert, die Beiträge des primären Sprechers im Nachhi‐ nein zu vertiefen. Diese ‚Verbindungsstrategie‘ hat, in Kombination mit den o. g. Unterstüt‐ zungsstrategien, zur Folge, dass die Schülerinnen und Schüler beginnen, Sinn 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 289 <?page no="290"?> und Bedeutung der Geschichte interaktiv auszuhandeln. Allerdings werden in dieser Phase die kohärenzerzeugenden Beiträge zunächst in deutscher Sprache geliefert und die Lehrkräfte helfen sprachmittelnd weiter, aber die Ereignisse werden nunmehr in einen kausalen und chronologischen Zusammenhang ge‐ bracht, so dass die globale Struktur der Geschichte deutlich wird und die fol‐ genden Sprechhandlungen darauf aufbauen können. Interaktionelle und verbale Narrativierungsstrategien der Schülerinnen und Schüler in der narrativen Diskurseinheit Die Schülerinnen und Schüler nehmen ihre narrativen Aufgaben dadurch wahr, dass sie die Unterstützungs- und Herausforderungsstrategien der Lehrkräfte zur Formulierung narrativer Beiträge nutzen und vom beschreibenden in den nar‐ rativen Modus wechseln. Dazu entwickeln sie folgende Narrativierungsstrate‐ gien (Kriterien 4.a, 4.b): • Sie stützen sich zum Formulieren ihrer eigenen Beiträge auf ihre eigenen Zeichnungen, zur Beantwortung kohärenzstiftender Nachfragen der Lehrkräfte ggf. auch auf Zeichnungen ihrer Interaktionspartnerinne und -partner. Diese Funktion kommt vor allem dem Polyphasen-Einzelbild (Kap. 9.2.2.2, Abb. 14, Bild 5) zu, denn die Sprecherinnen und Sprecher können zur Illustration ihrer Äußerungen auf die dort dargestellten Handlungselemente zeigen. • Sie nutzen ihre Platzierungen im Kreis und damit die Reihenfolge ihrer Bilder, um die Chronologie der Geschichte zu rekonstruieren. Sie wenden sich einander zu und werfen einen Blick auf die Zeichnung ihrer Vor‐ gänger und Nachfolger, um ihren Beitrag einzubringen und ihn an den vorhergehenden anzuschließen und den nächsten vorzubereiten. • Sie verändern ihre verbalen Präsentationsbeiträge der vorigen Rekonst‐ ruktionsrunde, um sie der neuen Erzählsituation anzupassen. So präsen‐ tierte ein Schüler in der vorangegangenen Rekonstruktion seine Zeich‐ nung wie folgt: La mère donne à son garçon le l’oiseau de rouge […]. Le fère aîné, eh, ehm, manger↗ le, le l’oiseau de rouge. (VT-EZ / 1: 36). Die For‐ mulierung l‘ oiseau rouge bereitet ihm immer noch Schwierigkeiten, aber er interpretiert nun die Übergabe des Vogels als Geschenk und stellt die Aktionen der beiden Brüder einander gegenüber: 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 290 <?page no="291"?> Abb. 17: Narrative Zeichnungen der Schülerinnen und Schüler: Bild 9 Mithilfe dieser Strategie werden Ereignisse, die auf den Zeichnungen nicht dar‐ gestellt, aber für den weiteren Verlauf der Handlung relevant sind, benannt und miteinander verbunden. • Die Sprecherinnen und Sprecher verändern ihre Beiträge der vorigen Re‐ konstruktionsrunde, um sie an die vorhergehenden Beiträge anzufügen und führen damit selbstständig Brückenschläge durch. So formuliert eine Schülerin ihren Beitrag c’est le garçon avec le sac et de ( ) avec des poissons (VT-EZ / 1: 35) so um, dass er an ihren Vorgänger anschließen kann: Ehm, le garçon va au village↗ schnell: avec le sac de poissons↘. (VT-EZ / 1: 48). Gegen Ende der Rekonstruktionphase, in der es um den Höhepunkt der Ge‐ schichte geht, gestalten die Schülerinnen und Schülern eine Verkettung narra‐ tiver Sprechhandlungen (Kap. 3.21). Es entsteht das in der folgenden Übersicht (Tab. 16) dargestellte Interaktionsmuster IV: 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 291 <?page no="292"?> Tab. 17: Verkettung narrativer Sprechhandlungen Mit Ausnahme einer Sprechhandlungssequenz (s. die Auslassung VT-EZ / 1: 49), die die das Interaktionsmuster IV kurz unterbricht, sprechen die Schülerinnen und Schüler in der Chronologie ihrer Zeichnungen, wobei jeder Beitrag an den vorangehenden anschließt. Den Sprecherwechsel arrangieren sie eigenständig (Kriterium 4.a). Damit nehmen sie das Interaktionsmuster II der ersten Rekon‐ struktion (Kap. 9.2.3.1) wieder auf, aber nicht in einer losen, assoziativen, son‐ dern einer aufeinander aufbauenden Folge. Die Pfeile der rechten Spalte, in der die non-verbalen Zeichen notiert sind, zeigen, wie die Sprecherinnen und Sprecher das Wort durch Körperwendung und Blickrichtungen weitergeben. Sie signalisieren mit ihren Blicken auf die Zeichnungen anderer, dass sie deren Narrativierungen wahrnehmen und an sie anknüpfen (Kriterium 4.a). Sie nutzen ihre die Chronologie der Geschichte ab‐ 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 292 <?page no="293"?> bildende Platzierung, indem sie ihre Zeichnungen wie die Elemente einer Bil‐ dergeschichte gebrauchen. Die linguistische Verknüpfung der Beiträge gelingt ihnen mithilfe einfacher Formen thematischer Progression (Heinemann / Heinemann 2002: 70-72) - dem durchlaufenden Thema (Le garçon, il, le chef, il) und der linearen thematischen Progression: Il pose le sac de poissons sur la tabe, / le sac de poissons est pour le chef. Darüber hinaus nehmen einige Schülerinnen und Schüler eine narrative Markierung der Diskursoberfläche (Kriterium 2.a) durch den Gebrauch von Konnektoren wie et und après vor, die einfache kohäsive Mittel, im Kontext des Märchens aber auch genretypische narrative Diskursmarker darstellen. Auf diese Weise gehen sie über die lineare Aneinanderreihung der Ereignisse hinaus und gelangen zu einer linearen, chronologischen Verknüpfung (Kriterium 1.d). Die Lehrkräfte verzichten auf eine Korrektur der immer noch vorhandenen Fehler im Bereich der Lexik und Syntax, so dass die Sprecherinnen und Sprecher ihren narrativen Plan ohne Unterbrechung umsetzen können. Eine weitere Verkettungsvariante stellt die im o. g. Interaktionsmuster aus‐ gelassene narrative Sprechhandlungssequenz dar. Sie entsteht auf die Nachfrage einer Lehrkraft: Et qu’est-ce qu’il chante? Peut-être vous pouvez aider. (VT-EZ / 1: 49) An diese Elizitation schließt sich eine Verkettungssequenz an, bei der un‐ terschiedliche Sprecherinnen und Sprecher den Text des Gesangs sous le baobab in einem interaktiven Ineinander-Sprechen wortgetreu zusammensetzen. Auch hier schauen die Sprecherinnen und Sprecher im Wechsel auf ihre eigenen Zeichnungen und die ihrer Partnerinnen und Partner. Sie steuern ihre Interak‐ tion weitgehend selbstständig, entwickeln ihren eigenen Sprechrhythmus und würdigen ihre Beiträge mit einander zugewandtem Lächeln und mit zufrie‐ denem Kopfnicken (a. a. O.: 49-50). Aus der Analyse der von den Schülerinnen und Schülern angewandten Nar‐ rativierungsstrategien ergeben sich drei einander ergänzende und gegen Ende der Rekonstruktionsphase immer selbstständiger eingesetzte Strategien: die der Anpassung der narrativen Beiträge an die veränderte Kommunikationssituation und an die Beiträge der Kommunikationspartnerinnen und -partner sowie das Zusammentragen der Beiträge zu einem gemeinsamen narrativen Konstrukt. Dies führt zu folgenden verbalen und interaktionellen Narrativierungsleis‐ tungen: • Die Schülerinnen und Schüler stellen anhand ihrer Bilderfolge die se‐ quenzielle Ordnung der gehörten Geschichte wieder her (Kriterium 1.c) und machen chronologische Zusammenhänge deutlich. • Sie formulieren vermehrt übersatzmäßige, die globale Strukturierung or‐ ganisierende Beiträge, die wie „narrative Strophen“ (Ohlhus 2013: 44, Kap. 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 293 <?page no="294"?> 5.3.4 der Studie) funktionieren. Sie rekonstruieren mehrmals das Klage‐ lied des Protagonisten. Damit nutzen sie den Reim strukturell als Baustein des Erzählens und bringen darüber hinaus das Prinzip der poésie orale zum Tragen. • Die Verkettungsleistungen am Ende der Rekonstruktionsphase geben der letzten Sequenz der Erzählung ein besonderes Gewicht und markieren das Ereignis sous le baobab als Wendepunkt der Geschichte (Kriterium 1.d). Von der narrativen Diskurseinheit zum metanarrativen Gespräch Die Phase des Elaborierens ist mit dem letzten Beitrag zur letzten Zeichnung abgeschlossen, so dass die moderierende Lehrkraft nunmehr aus der narrativen Diskurseinheit hinausführen kann: Très bien, oui, très bien. C’est ça. Voilà. Maintenant, on a reconstitué toute la, toute l’histoire, hein ? C’est bien. (VT-EZ / 1: 50). Aber zur Rekonstruktion der gesamten Geschichte fehlt das Ende der résolu‐ tion, die Heimkehr des triumphierenden Bruders, und der état final, das Ende des besiegten Bruders, seine disparition sous terre. Für diese Sequenz hatten sich die Schülerinnen und Schüler beim Herstellen ihrer Zeichnungen nicht interes‐ siert. Der von den Schülerinnen und Schülern gesetzte Schlusspunkt stimmt nicht mit dem der Geschichte überein. Das nun folgende Gespräch dient der Ergänzung fehlender inhaltlicher Bau‐ steine der Geschichte, der Bewusstmachung struktureller Elemente und der Sensibilisierung für weitere Sinndimensionen der Geschichte (Kriterium 1.a). Die Lehrkräfte initiieren ein Unterrichtsgespräch, das sich einerseits auf einer Metaebene gegenüber der Narration bewegt, andererseits Teile der Narration weiterhin mit narrativen Mitteln rekonstruiert. Der Wortlaut des Reims wird durch eine nochmalige Rekonstruktion er‐ innert. Darauf aufbauend werden das Konstruktionsprinzip der Geschichte mit der vorwärts laufenden Handlungskette und das Konstruktionsprinzip des Kla‐ geliedes mit der rückwärts laufenden ‚Reimkette‘ bewusst gemacht (VT-EZ / 1: 50-51). Zur Klärung der Gefühle des Protagonisten und damit auch von Neben‐ strukturen der Geschickten verweist die unterrichtende Lehrkraft auf das häufig verwendete Verb gémir. Zur Verstehenssicherung greift sie auf die Gestaltung der Performance zurück, indem sie mit lauter, übertrieben weinerlicher Stimme und flehentlich erhobenen Händen den Beginn des Klageliedes anstimmt. Die Schülerinnen und Schüler signalisieren Verstehen und lachen (a. a. O.). 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 294 <?page no="295"?> Zur Klärung der Konfliktlösung wird die Ausgangssituation erinnert und mit der Schlussszene konfrontiert. Eine Lehrkraft (LK2) fasst die résolution mit der Rückkehr ins Dorf und dem Zusammentreffen mit dem frère aîné zusammen und fragt dann nach dem letzten, die Situation beschließenden Satz. Da zunächst keine Antwort kommt, hilft die Lehrkraft in ihrer Rolle als Erzählerin weiter. Sie wiederholt ihre Performance mit einer annähernd gleichen prosodischen und gestischen Gestaltung, lässt den letzten Satz vollenden und setzt einen Schlusspunkt mit dem Hinweis auf die Verwandtschaft dieser Märchenlösung mit dem europäischen Rumpelstilzchen: linguistische & paralinguisti‐ sche gestische Zeichen LK2 Le frère↗ ( ) est↗ ( ) surpris↗ et ↺ ? LK2 beugt sich nach vorne, sieht Ss an. Sch (unv.) LK1 Hein ? LK2 Oui ! Sie zeigt in Richtung Sw3 und Sw4. Sw4 Il disparaît. LK2 und LK1 zeigen Richtung SW6. LK2 Où ↺ ? LK2 formt den Mund zu einem: ~sous und deutet wie in BIV, Z. 355-356 mit dem Sw6 Sous la terre. rechten Zeigefinger zu Boden für: ~dis‐ paraît sous terre. LK2 Oui. Exact. Bravo ! Voilà. […] Wie Rumpelstilzchen, ne! C’est un peu comme Rumpelstilzchen. Vous savez, tous les contes sont un peu, ehm, pareils. Hm ↺ ? (VT-EZ / 1: 54) Die Interaktion in diesem Gespräch unterscheidet sich von den vorigen Inter‐ aktionen durch eine sehr starke Gesprächslenkung von Seiten der Lehrkräfte und eine auf vier Schülerinnen und Schüler konzentrierte Beteiligung. Da die Schwierigkeit dieser Rekonstruktionsphase offensichtlich im Gebrauch der Ziel‐ sprache als Kommunikationsmittel besteht, weichen Lehrende und Lernende auf der Metaebene vom Prinzip der Einsprachigkeit ab und halten sich dort nicht allzu lange auf, sondern gleiten von der Metaebene in die narrative Ebene, indem sie den Erzähldiskurs zitieren oder die Performance wiederholen. 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 295 <?page no="296"?> 35 Labov / Waletzky (1973: 122-125) definieren die Coda als „ein zusätzliches Element“ (1973: 122) des Auflösungsteils einer Erzählung. Sie kann unterschiedliche Formen an‐ nehmen und unterschiedliche Funktionen erfüllen. Die dritte der von ihnen genannten Funktionen entspricht dem Coda-Begriff von Ehlich. Es handelt sich um Reflexionen des Erzählers, der - nach dem Abschließen der Erzählung - aus der Distanz der Ge‐ genwart heraus die Wirkung des Erzählten auf ihn selbst erläutert (a. a. O.: 123). 36 Dazu zählen vor allem diejenigen Elemente, die das Textverstehen stützen wie die Stimmführung in der fonction modale, expressive und communicative, die Akzentuierung in der fonction démarcative (Kap. 4.2.2), die sprachbegleitende und sprachersetzenden Gestik sowie die Rhythmisierung. Diese Form des Gesprächs, bei dem die Narration sowohl auf der Metaebene behandelt als auch auf der werkinternen Ebene rekonstruiert wird, werde ich im Folgenden als metanarratives Gespräch bezeichnen. Das metanarrative Ge‐ spräch ergänzt und vertieft die produktiven Narrativierungen der vorangegan‐ genen Rekonstruktionsphasen. Es funktioniert wie die Coda 35 einer Erzählung und liefert ein Instrument, um „das neue Wissen, das Unerwartete, das in das Wissenssystem des Hörers integriert wird, sozusagen sicher zu stellen.“ (Ehlich 2007: 387). 9.2.4 Ergebnis der Analyse: die Rekonstruktion der Erzählung als Prozess ‒ der progressive, individuelle und kooperative Aufbau eines narrativen Diskurses Der Analyse der Rekonstruktion führt zu folgenden Ergebnissen: 1. Die Rekonstruktionen bauen auf der zweimal gestalteten und rezipierten Erzählperformance auf. Die bildlichen und verbalen Narrativierungen der Lernenden rekurrieren vor allem auf die prototypischen inhaltlichen und syntaktischen Narreme des Er‐ zähldiskurses, die dramatisch gestaltete Brüder- und die Höhepunktszene, ei‐ nige Elemente prosodischer 36 , gestischer und mimischer Gestaltung und auf den Refrain. 2. Die Rekonstruktion der Erzählung erfolgt im Medium des Bildlichen und der Mündlichkeit Die erste Rekonstruktion erfolgt in einer mündlichen, assoziativen Aufzählung narrativer Elemente, die zweite durch narrative Zeichnungen und mündliche Präsentationen, die dritte und vierte in mündlich-narrativen Vermittlungs‐ formen - dem narrativen Gespräch, der narrativen Diskurseinheit und einem abschließenden metanarrativen Gespräch. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 296 <?page no="297"?> 3. Die Narrativierungen der Schülerinnen und Schüler erfolgen individuell, kooperativ, experimentierend. Individualisierung zeigt sich in der Vielfalt der Inhalte und Formen der narra‐ tiven Zeichnungen und der variationsreichen Ausgestaltung der verbalen Bei‐ träge. Das kooperative Arbeiten der Schülerinnen und Schüler zeigt sich in der Ausgestaltung ihrer narrativen Jobs bei der interaktiven Rekonstruktion der Geschichte, die sie gemeinschaftlich organisieren durch gegenseitige Hilfestel‐ lung und Verknüpfung ihrer Beiträge. Kooperativ wirken auch die Lehrkräfte, die ihren narrativen Job durch Steuerung, Überwachung und Unterstützung der Rekonstruktionsprozesse wahrnehmen. Der experimentierende Charakter zeigt sich in der Erprobung mündlicher Kommunikationsstrategien und performa‐ tiver Strategien durch die Lernenden und in der Bereitschaft, ihre Zeichnungen zu präsentieren und ihre Beiträge den immer neuen Kommunikationssituati‐ onen anzupassen. 4. Der Rekonstruktionsprozess verläuft progressiv und erfordert sprach‐ liche Flexibilität. Die mündlich-produktiven Narrativierungen werden teils im zusammenhän‐ genden monologischen Sprechen (Europarat 2001: 64), teils in mündlicher In‐ teraktion (a. a. O.: 79) durchgeführt (Kriterium 5.a). Zu Beginn der Rekonstruk‐ tion wird das Architerm Beschreiben, in der Folge die Diskursform Erzählen verwendet (Kriterium 5.a). Was die erste Dimension - die Rekonstruktion der Erzählung mit verbalen und anderen narrativen Mitteln - betrifft, so zeigt die Analyse, dass in jeder neuen Rekonstruktionsetappe ein weiteres Narrativierungselement hinzu‐ kommt, so dass der Narrativierungsgrad der Beiträge insgesamt gesteigert wird: von der Rekonstruktion der Geschichte in Teilen zur Darstellung von Ereig‐ nissen als zielgerichtete Handlungen von Figuren (Kriterium 1.b) und von der einfachen Aufzählung zur chronologischen Verknüpfung der Ereignisse (Krite‐ rium 1.d). Das Prinzip der Steigerung zeigt sich auch in der Dimension der narrativen Interaktion, denn die Lernenden bringen ihre Beiträge zunehmend kohärenz‐ stiftend und global organisierend ein (Kriterien 4.a, 4.b). Was die fünfte Dimension, die Kommunikationsstrategien, betrifft, so zeigt die Analyse, dass die jeweiligen Strategien (Kriterien 5.b, 5.c) funktional, dem angestrebten und dem realisierten Narrativierungsgrad entsprechend eingesetzt werden. Eine geringe Steigerung ist in der zweiten Dimension, der narrativen Mar‐ kierung (Kriterien 2.a, 2b) zu verzeichnen. 9.2 Die erste Erzählstunde: das Märchen in einer 9. Klasse (2. FS Französisch) 297 <?page no="298"?> Sprachliche Flexibilität zeigt sich in der Interaktion der Schülerinnen und Schüler mit dem Erzähldiskurs. Von unmittelbarem Nutzen für ihre verbalen Beiträge ist ihnen ein Teil der Lexik, sehr viel weniger jedoch die Syntax des Erzähldiskurses. Diese Besonderheit rührt daher, dass die Lernenden keine wortgetreue Rekonstruktion anstreben, sondern ihren Diskurs der jeweiligen Sprechsituation anpassen, ihn damit kürzen und umformulieren. Dabei erhöht sich der Schwierigkeitsgrad in jeder Etappe. In der ersten Rekonstruktion genügt die Aufzählung von Stichwörtern. In der zweiten Rekonstruktion stützen sich die Schülerinnen und Schüler zur Formulierung der Nominalphrasen wie la mère, le garçon etc. auf die Lexik des Erzähldiskurses und auf einige Verbal‐ phrasen oder sie formulieren, von der Syntax des Erzähldiskurses unabhängig, mithilfe von présentatifs einfache Parataxen. Einige Schülerinnen und Schüler leisten schon in dieser Etappe längere narrative Beiträge, bei deren Formulie‐ rung sie auf Lexik und Syntax des Diskurses zurückgreifen oder eigene sprach‐ liche Formulierungen ausprobieren. In der dritten Etappe zeigen die Lernenden sprachliche Flexibilität dadurch, dass sie nicht jede Gebe- und Nehme-Sequenz ausführlich wiedergeben, sondern gerafft erzählen und dabei Figurenrede in Erzählerrede umformulieren. Dadurch sind sie gezwungen, ein- und zweiwer‐ tige Verben zu benutzen und die Syntax neu auszurichten. Die progressive Entwicklung dieses individuell und kooperativ organisierten narrativen Diskurses führt von der assoziative Aufzählung narrativer Elemente über die lose Folge narrativer Sprechhandlungssequenzen zu deren Verkettung in einer kurzen narrativen Diskurseinheit, die in eine die Narration bespre‐ chende metanarrative Coda mündet. 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde Das folgende Kapitel analysiert analog zum vorigen Kapitel (Kap. 9.2) die Ent‐ wicklung der narrativen Diskurse der zweiten Erzählstunde. Dabei werden die‐ selben Analyseschritte und Analysekriterien (s. FDM-P, FDM-R) zur Anwen‐ dung gebracht und dieselben Leitfragen verfolgt, allerdings fokussiert auf einen Vergleich mit der ersten Erzählstunde. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 298 <?page no="299"?> 9.3.1 Vergleichende Analyse des Unterrichtsdesigns: eine Erzählstunde mit einem verbalen Gestaltungschwerpunkt Als Materialgrundlage dienen auch hier die von den Lehrkräften erstellten Pro‐ jektdossiers (PDLK-EZ / 2) und die Videoaufnahmen der Erzählstunde (VT-EZ / 2). Rechercheschwerpunkte der Lehrkräfte und Zielsetzungen der Erzählstunde Das Team möchte herausfinden, ob ein Grobverstehen der mündlich vorgetra‐ genen Erzählung erfolgt, welche Rolle die Makro- und Mikrostruktur des Er‐ zähldiskurses bei der Rezeption der Lernenden spielen, auf welche strukturellen und inhaltlichen Elemente des Diskurses die Lernenden bei ihren Eigenproduk‐ tionen rekurrieren, wie die Lernenden ihr eigenes performatives Erzählen ge‐ stalten und wie das Publikum darauf reagiert (PDLK-EZ / 2: 5). Das Rechercheinteresse führt zur Konzeption einer Erzählstunde, die schwer‐ punktmäßig auf die Entwicklung mündlich-kommunikativer Fähigkeiten aus‐ gerichtet ist. So steht im Zentrum der Kompetenzzielliste das Fördern des Hör‐ verstehens und Sprechens, wobei der Bereich Sprechen in zwei unterschiedliche Ziele, das „Nacherzählen von [einzelnen] Szenen der [gehörten] Geschichte“ (PDLK-EZ / 2: 4) und das „frei[e] Erzählen einer Geschichte anhand von einem Handlungsgerüst“ (a. a. O.: 5) aufgefächert wird. Als kognitives Kompetenzziel formuliert das Lehrkräfteteam das „Erfassen der Kettenstruktur der Geschichte“ (a. a. O.: 4), als emotionales Ziel das Wecken von „Gespür für Schönheit der Sprache, Klang der Worte“ (a. a. O.). Im Unterschied zur ersten Erzählstunde be‐ rücksichtigt das Team auch die Fähigkeit des Schreibens, eine Entscheidung, die mit den geplanten narrativen Aktivitäten zusammenhängt. Die narrativen Aufgaben Die erste Aufgabe (VT-EZ / 2: 8-10) ist wie in der ersten Erzählstunde zwischen den beiden Erzählperformances platziert. Die Lernenden sind aufgefordert, ihr Textverständnis in assoziativer Form wiederzugeben. Im Unterschied zur ersten Erzählstunde werden die Assoziationen der Schülerinnen und Schüler medial gestützt und die Aufgabe ist in zwei aufeinander aufbauende Teile gegliedert. In einer ersten Runde sind ausgelegte Realien und Bilder, die sowohl Gegen‐ stände als auch Figuren der Geschichte repräsentieren, mit Stichworten zu be‐ nennen. In einer zweiten Runde sind sie mit einer entsprechenden Handlung oder Szene zu verbinden, die Aktion ist mit einem Satz zu verbalisieren. Wie in der ersten Erzählstunde handelt es sich bei der ersten Aufgabe um eine didak‐ tische Aufgabe (Europarat 2001: 153, Hallet 2010b: 175 f.) mit einerseits 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 299 <?page no="300"?> übendem, andererseits funktional-narrativem Charakter. Der narrative Cha‐ rakter ergibt sich aus der Forderung nach Identifikation und Bezeichnung wich‐ tiger inhaltlicher Narreme. Die zweite Aufgabe (VT-EZ / 2: 21-25) fordert eine tiefer gehende Narrati‐ vierung. Die Einzelelemente sollen nunmehr in die Reihenfolge der Geschichte gebracht werden, wobei auch hier vorgegebenes Bildmaterial zur Verfügung steht. Auf dieser Grundlage ist in einem ersten Schritt die Sequenzierung der Geschichte visualisierend zu erarbeiten, in einem zweiten soll anhand dieser Sequenzierung die Handlung erzählt werden. Bei der ersten Teilaufgabe handelt es sich um eine präkommunikative, bei der zweiten um eine kommunikative Aufgabe. Die dritte Aufgabe (VT-EZ / 2: 28) bildet das Kernstück der narrativen Auf‐ gaben. Sie fordert die Schülerinnen und Schüler dazu auf, das Ende der Ge‐ schichte zu erzählen. Dazu sollen sie in einem ersten Schritt in Gruppenarbeit ein Handlungsgerüst schriftlich erstellen, in einem zweiten die erfundene Ge‐ schichte als Gruppe vor dem Plenum frei erzählen. Diese Aufgabe unterscheidet sich von der narrativen Aufgabe der ersten Erzählstunde im Hinblick auf den Medienwechsel. Verlangte die erste Erzählstunde einen Wechsel vom münd‐ lich-verbalen ins bildliche Medium und wieder zurück ins mündlich-verbale, so geht es hier um einen Wechsel vom mündlich-verbalen ins schriftliche Medium ‒ und wieder zurück. Gemeinsam ist beiden Aufgaben ihr kommunikativer, nar‐ rativer Charakter. Die Rolle der Bilder und Gegenstände in den ersten beiden Aufgaben und die der schriftlichen Notizen in der dritten Aufgabe zeigen, wie sich die Unter‐ schiede der Rechercheschwerpunkte in der Konstruktion der Aufgaben und den vorgesehenen Aktivitäten niederschlagen. In der ersten Erzählstunde stellen die Bilder Narrativierungsprodukte der Lernenden dar, in der zweiten Erzählstunde vorgegebene Repräsentationen der Narration. In der ersten Erzählstunde liefern die bildlichen Narrativierungen den Ausgangspunkt für die Entwicklung nar‐ rativer Diskurse, in der zweiten sind es die schriftlichen Notizen. Die Interme‐ dialität des Narrativen wird unterschiedlich genutzt. Unterschiedlich genutzt wird auch der Erzähldiskurs. In der ersten Stunde wird er in der Erzählperfor‐ mance vollständig erzählt, in der zweiten wird die Performance nach der vierten Tauschsequenz beendet (Kap. 9.1.2), so dass die Lernenden die Fortsetzung selbst finden können. Diese Entscheidung wirkt sich auf die Gestaltung der Perfor‐ mance und der Rekonstruktionen aus, was die Analyse der narrativen Diskurse (Kap. 9.3.2 und 9.3.3) zeigen wird. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 300 <?page no="301"?> Die Strukturprinzipien der Gesamtkonzeption Die Prinzipien der zweiten Erzählstunde sind wie die der ersten auf die Reali‐ sierung des Mündlichkeitsprinzips gerichtet. Dazu dienen ‒ mit Ausnahme der Anfertigung schriftlicher Notizen ‒ die vorherrschend mündlichen Kommuni‐ kations- und Präsentationsformen. Die Umsetzung des Gesamtkonzepts in einen Stundenverlauf erfolgt in einer der ersten Erzählstunde ähnlichen Sequenzierung (Kap. 9.2.1.3). Diese ergibt einen Stundenrhythmus, den die folgende Übersicht (Tab. 18) veranschaulicht: Se‐ quenzen narrative Aktivitäten: Kommunikations- und Präsentationsformen A Unterrichtsdiskurs: Hinführung zum Thema: Une femme africaine B erste Erzählperformance des conte des échanges: Gestaltung der Performance durch die Gast-Lehrkraft als Erzähler vor den Lernenden als Publikum C erste Rekonstruktion der Erzählung: spontane Äußerungen der Lernenden nach der Erstrezeption anhand von vorgegebenen Visualisierungen, moderiert von der Lehrkraft der Lern‐ gruppe D zweite Erzählperformance des conte des échanges: Gestaltung der Performance durch die Gast-Lehrkraft als Erzähler vor den Lernenden als Publikum E zweite Rekonstruktion der Erzählung im narrativen Gespräch: Aushandeln inhaltlicher und syntaktischer Narreme anhand von Visuali‐ sierungen im narrativen Gespräch mit der Lehrkraft der Lerngruppe F Bearbeitung der Narrativierungsaufgabe: Erfinden eines Endes der Geschichte in Gruppen GI dritte Rekonstruktion der Erzählung: Vorträge der Geschichten durch die Lernenden GII metanarratives Gespräch: Reflexion der Geschichten im metanarrativen Gespräch mit der Lehrkraft der Lerngruppe H: Unterrichtsdiskurs: Verabredungen für die nächste Sitzung Tab. 18: Die Sequenzierung der zweiten Erzählstunde 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 301 <?page no="302"?> 37 Der Hinweis auf die Analysekriterien und deren Nummerierung bezieht sich auch in dieser Analyse auf die Kriterienliste des Fünf-Dimensionen-Modells (FDM-P: Kap. 4. 5, 6.5 und Anhang 3). Zusammenfassung Die Unterschiede zwischen den beiden Unterrichtsdesigns bestehen in den Re‐ chercheschwerpunkten der beiden Lehrkräfte-Teams, dem Umgang mit dem Erzähltext und daraus folgend der narrativen Aufgabe und der Präsentation der Ergebnisse. Während sich das erste Team einen intermedialen Schwerpunkt setzt, inte‐ ressiert sich das zweite Team für die strukturellen Elemente der Erzählung. Die zentrale narrative Aufgabe der ersten Erzählstunde ist auf die bildliche und die verbale Narrativierung der Erzählung in ihrem Gesamtverlauf ausgerichtet, die der zweiten auf die verbale Rekonstruktion der Geschichte ‚vom Ende her‘, das unter Berücksichtigung der strukturellen Elemente der erzählten Geschichte konzipiert werden soll. Die Gemeinsamkeiten bestehen erstens in den anvisierten Kompetenzzielen, zweitens in der Ausrichtung auf eine durchgängige Kommunikation in direkter Mündlichkeit und drittens in einer auf denselben Prinzipien beruhenden Se‐ quenzierung der Erzählstunden. 9.3.2 Vergleichende Analyse der Erzählperformances als Aufführung: Le conte des échanges als Fortsetzungsgeschichte Die vergleichende Analyse geht auf folgende Aspekte (Kap. 9.2.2) der Erzähl‐ performances der zweiten Erzählstunde ein: die Rahmung der Aufführung und die Entwicklung der narrativen Diskurseinheiten und Diskurse, die Charakte‐ ristika der Performances und die Strategien der Inszenierung. 9.3.2.1 Die Rahmung der Aufführung und die Entwicklung der narrativen Diskurse und Diskurseinheiten Der Raum Die Aufteilung des Klassenzimmers in einen kreisförmig arrangierten Auffüh‐ rungsraum wird auch hier vorgenommen (Kriterium 4.c) 37 . In der Kreismitte ist eine Decke ausgebreitet, auf der nach und nach Gegenstände, Bilder und Wort‐ karten abgelegt und für diverse narrative Aktivitäten genutzt werden. Das Lehr‐ 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 302 <?page no="303"?> 38 Die Abkürzungen A-H beziehen sich auch hier auf die Sequenzen der Unterrichtsstunde (Kap. 9.3.1 und der Videotranskription (VT-EZ / 2). Weitere Abkürzungen und Siglen sind in den „Transkriptionsregeln der Videografien“ (Anhang 1) erläutert. 39 Gegenüber dem Adaptionstext (AT-EZ / 2) mit 513 Wörtern erfährt die narrative Dis‐ kurseinheit (BI-BV) mit 990 Wörtern eine Steigerung der Wortanzahl um 98%, der erste geplante Erzähldiskurs (BIII und BIV) erfährt gegenüber AT-EZ / 2 eine Steigerung um 38%, der zweite geplante Erzähldiskurs (DIII und DIV) eine Steigerung um 48%. Der Anteil der Sequenz „Darstellung von Form- und Inhaltsrelevanz“ in BI hat auch in der zweiten Erzählstunde mit 254 Wörtern gegenüber 67 in DI einen größeren Umfang. Bei der Wiederholung der Performance wird der Inhalt der Einleitungssequenz verändert und sehr viel kürzer gefasst. kräfteteam sitzt nebeneinander im Kreis mit den Schülerinnen und Schülern, der Kamera zugewandt. Die Zeit Die Erzählzeiten der ersten Performance (Sequenz B) 38 und ihrer Wiederholung (Sequenz D) sind wie in der ersten Erzählstunde mit 10,5 gegenüber ca. 12 Mi‐ nuten relativ ausgeglichen. Ein genaueres Bild der Gestaltung der performativen Zeit ergibt sich (Kap. 9.2.2.2) aus der Analyse der im Unterricht realisierten nar‐ rativen Diskurseinheit. Die Entwicklung der narrativen Diskurseinheit Auch in der zweiten Erzählstunde sind die beiden Erzählperformances einge‐ bettet in narrative Diskurseinheiten, denen das von Quasthoff (2001) entwi‐ ckelte Verlaufsschema zugrunde gelegt werden kann (Kap. 3.2.2, 9.2.2.2). Die Aufteilung der narrativen Jobs erfolgt hier nach anderen Prinzipien (Kriterium 4.b). Die in der Lerngruppe unterrichtende Lehrkraft übernimmt die didaktische, die Gast-Lehrkraft die performative Rolle. Das Team hat entschieden, dass der bilinguale Sprecher den Job des Erzählers in der Dramatisierungsphase, die un‐ terrichtende Lehrkraft den Job einer narrativen animatrice in den übrigen Phasen der narrativen Diskurseinheit und vor allem in den Rekonstruktionsge‐ sprächen übernimmt. Wie in der ersten Erzählstunde lassen der einführende und der überleitende Teil der narrativen Diskurseinheiten den geplanten Diskursumfang an‐ schwellen 39 . In weit größerem Maße als in der ersten Erzählstunde erfahren die Erzähldiskurse hier eine Verlängerung gegenüber der schriftlichen Textvorlage: Der Umfang der verbalen Zeichen verdoppelt sich. Erklärungen dafür liefert die qualitative Analyse des realisierten Erzähldiskurses. 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 303 <?page no="304"?> Der realisierte Erzähldiskurs Der Erzähler dieser Performances geht, obwohl auch er sich weitgehend an den geplanten Erzähldiskurs hält, durch Modellierungen der Diskursoberfläche sehr viel flexibler mit dessen Wortlaut um, als dies das Lehrkräfteteam der ersten Erzählstunde tut. Was den Refrain betrifft, so hält er sich streng an seine Vorlage. Andere Pas‐ sagen modelliert er in Abhängigkeit von der Kommunikationssituation oder der performativen Gestaltung. Die Diskursveränderungen lassen sich zu folgenden vier Gruppen zusammenfassen: Hinzufügungen von Diskurspassagen, Verän‐ derungen der Lexik, der Syntax und der Tempora. Bei den Hinzufügungen handelt es sich um Einleitungen der Figurenrede (z. B. Le plus grand dit / Le plus petit dit) und um Fragen, die der Erzähler an sein Publikum richtet (z. B. Qu’est-ce qu’il fait, le petit garçon? : VT-EZ / 2: 4). Einige lexikalische Veränderungen stellen wie in der ersten Erzählstunde Vereinfachungen dar. Andere sind mit einer Verstärkung nähesprachlicher Ele‐ mente verbunden, die der Erzähler spontan, seinen Gesten folgend, in den Dis‐ kurs einfügt. Die syntaktischen Umstellungen des Diskurses, verbunden mit lexikalischen Veränderungen, folgen denselben Prinzipien wie die der ersten Erzählstunde, werden jedoch zahlreicher und umfassender eingesetzt. Den schriftlich formu‐ lierten Einleitungssatz des Adaptionstextes gestaltet der reale Erzähler zum Beispiel syntaktisch so um, dass er die Funktion einer schrittweisen, das Pub‐ likum mitnehmenden Thematisierung übernehmen kann. Statt Je vais vous raconter l’histoire d’un garçon qui habitait avec sa mère et son grand frère dans un village africain (AT-EZ / 2: 1), formuliert er: Je vais vous raconter aujourd’hui une histoire. Cette histoire joue en Afrique. L’his‐ toire tourne autour d’un garçon, un garçon qui a une mère et un grand frère. (VT-EZ / 2: 3) Die Veränderungen der Tempora betreffen das im geplanten Erzähldiskurs (Kap. 9.1.2) vorgesehene imparfait und passé composé, auf das der reale Erzähler ver‐ zichtet. Mit seiner Thematisierung hat er das fiktionale Geschehen bereits an die Gegenwart des Publikums herangeholt: Cette histoire joue en Afrique (s. o.). Dann fährt er so präsentisch fort, wie er begonnen hat. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 304 <?page no="305"?> 40 Als Beispiel dient die Wiederholung der Performance (DIII. b.1 und b.2), weil der Er‐ zähler die in der ersten Performance erprobte Technik hier ‚vergrößert‘ einsetzt und die Kamera in dieser Sequenz seine Aktionen fortlaufend ohne Kameraschwenk zeigt. 41 Die mimischen und gestischen Zeichen werden hier aus Gründen der Übersichtlichkeit in einer Spalte (Kap. 8.3.1.1) zusammengefasst. 9.3.2.2 Die performative Gestaltung der complication, der dynamique und des Refrains Die Etablierung der Performance innerhalb der narrativen Diskurseinheit ver‐ läuft auch in dieser Erzählstunde mit einem ‚zweiten Start‘ ins Erzählen (Krite‐ rium 4.a). Nachdem die in der Lerngruppe unterrichtende Lehrkraft mit einer kurzen, gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern durchgeführten Be‐ schreibung der Märchenillustration Une femme africaine eine Begründung für die Inhaltsrelevanz der nun folgenden Erzählung geliefert hat, gibt sie das Re‐ derecht an ihren Teamkollegen weiter. Dieser übernimmt seinen narrativen Job und beginnt zu thematisieren. Er ist als Erzähler erst dann ‚bei sich‘, wenn er mit der Phase der complication in die Fiktion eintaucht und seine Erzählhaltung und seinen Erzählrhythmus findet. Die Gestaltung der complication Der Erzähler nimmt eine aufrechte, dem Publikum zugewandte Haltung ein, wendet sich mal nach vorne, mal zur linken, mal zur rechten Publikumsseite. Die Erzählerrede gestaltet er betont langsam, gliedert seine Rede durch Akzen‐ tuierungen, Pausen und Intonation (Kriterium 5.a): Un jour↗, (.) la mère de ce garçon (.) va dans la forêt.↘ (.) Pour ramasser du bois.↘(.) Lorsqu’elle revient, elle a un gros paquet de bois sur la tête. (.) Et sur ce paquet↗, (.) il y a deux oiseaux rouges (.) qui se sont pris dans les branches. (VT-EZ / 2: 4) Für die nun folgende Brüderszene wählt auch dieser Erzähler die dramatisie‐ rende Form des Erzählens (Kap. 9.2.2.4). Aber er privilegiert andere Mittel des Dramatisierens, was anhand des folgenden Szenenausschnitts deutlich wird 40 : linguistische & paralinguisti‐ sche mimische & gestische Zeichen 41 Le plus grand frère dit : « Ah, j’ai faim ! Der Erzähler wendet sich zur linken Seite, Je vais le faire griller et le manger. » reibt sich den Bauch, lächelt. Le garçon, le plus petit↗, dit : Dann wendet er sich zur rechten Seite. 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 305 <?page no="306"?> « Moi↗, (.) je vais l’échanger ! » Auf ~ Moi, wirft er den Kopf zurück und lächelt. (.) Son grand frère le regarde. Er wendet er sich zu Sm1, dem Schüler zu seiner Linken, lehnt sich wieder zurück, beugt « Tu vas l‘échanger ↺ ? » (.) sich wieder zu ihm, die Hände in die Hüften ge‐ stemmt, und spricht den ersten Teil der Figurenrede: ~Tu vas l’échanger? des grand frère zu ihm. « Contre quoi ↺ ? » Dann wendet er sich wieder nach vorne und spricht den zweiten Teil der Figurenrede: ~Contre quoi? « Ah, je vais l’échanger contre Auf ~Ah, zieht der Erzähler lächelnd die Schul‐ tern hoch. la fille d’un chef↗. » Auf ~l’échanger und ~chef nickt er mit dem Kopf. « La fille d’un chef ↺ ? Der Erzähler beugt sich wieder zu Sm1 und Mais qu’estce que tu racontes ? » spricht die Rede des grand frère zu ihm. (VT-EZ / 2: 14) Im Unterschied zur ersten Erzählerin weist dieser Erzähler den beiden Brüdern keine unterschiedliche Stimmfärbung zu und hebt auch nicht auf die Opposition zwischen den Brüderfiguren ab, sondern fokussiert auf die Kommunikationssi‐ tuation. Dazu modelliert er zum einen seine Stimmführung durch Tonhöhen‐ verlauf, setzt verstärkt accents d‘insistance und vor allem die Pause als prosodi‐ sches Gestaltungselement ein und verbindet sie mit interpunktierender Gestik. Zum andern setzt er ein Dramatisierungsmittel ein, das darauf abzielt, die beiden Figuren, ihre Gesprächshaltung und den Gesprächsverlauf sichtbar zu machen. Er spielt die Gesprächssituation an, indem er sich in der Rolle des grand frère an seinen Nachbarn wendet, sich zu ihm hinunterbeugt und diesen als petit frère anspricht. Um in der Rolle des petit frère zu antworten, wendet er sich nach vorne, zum Publikum, um sich beim nächsten Wortwechsel als grand frère wieder seinem Nachbarn zuzuwenden. Dabei bringt er das Erstaunen des grand frère, dessen Haltung und dessen kommunikative Absicht gegenüber dem petit frère durch Stimmmodulation, vor allem aber durch die Dominanzgesten in Richtung des Jüngeren zum Ausdruck. Er bedient sich damit, wie in die Kate‐ gorisierung gestischer Zeichen dargestellt (Kap. 4.3.3.4), gleichzeitig indizie‐ render Zeichen zum Ausdruck von Stimmungen und Gefühlen und interaktiver 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 306 <?page no="307"?> Gesten, die auf das Verhältnis zwischen den Figuren hinweisen. Durch diese Zeichenkombination bedient er gleichzeitig die Subjektwie die Beziehungs‐ ebene der Figuren. Durch die Einbeziehung eines Zuschauers in die szenische Gestaltung verstärkt er den Dramatisierungseffekt. Beide Facetten der Darstel‐ lung bewirken einen Theatralisierungseffekt. Sie veranschaulichen das Ge‐ schehen und rücken es näher an die Gegenwart der Zuschauerinnen und Zu‐ schauer heran. Die Gestaltung der dynamique Gemeinsam sind den Erzählperformances beider Erzählstunden auch in dieser Sequenz die Dramatisierung des Geschehens, der serielle und sequenzielle Ge‐ brauch (Kriterium 5.c) prosodischer und gestischer Zeichen sowie die Auffor‐ derung zum Mitgestalten (Kriterium 4.c) an das Publikum. Die sich wiederholenden Handlungsmuster des Forderns, Gebens und Neh‐ mens (Kap. 9.2.2.5) gestaltet auch der Erzähler dieser Performance als serielle interaktive Gestik, die er sequenziell bei jeder Tauschetappe wiederholt. Das‐ selbe gilt für den Abschluss jeder Sequenz, deren parallele Syntax (Le garçon prend son oiseau / le couteau / le panier / le pot d’huile et s’en va) er in immer gleicher Weise akzentuiert und gestisch durch eine die Laufbewegung der Figur mimende Geste begleitet. Die sequenzielle Rhythmisierung dieses Schlusssatzes übernimmt die Rolle des Sprecherinnenwechsels der ersten Erzählstunde. Sie grenzt die Handlungssequenzen voneinander ab und rhythmisiert die Perfor‐ mance. Zur Dramatisierung des Geschehens greift der Erzähler zu einer Mischform zwischen parasyntaktischem und parasemantischem Gebrauch gestischer Zei‐ chen (Kap. 4.3.3.4), indem er die illustrierende Gestik so detailliert verwendet, dass sie einer Pantomime gleichkommt. So führt er den Bambusstrauch durch Auseinanderziehen der Arme vor, mimt das bizarre Schneiden des Bambus durch die vanniers mit den Zähnen, fügt ein lautmalerisches Crrrr Crrr hinzu und mimt den adäquaten Gebrauch eines couteau zum Bambusschneiden durch entspre‐ chende Handbewegungen. Die pantomimische Darstellung der Gebrauchs‐ szenen verwendet er in jeder Sequenz, so dass jede Handlungsstation eine glei‐ chermaßen intensive performative Gestaltung erhält. Zur Verdeutlichung seines Spiels kann der Erzähler während der zweiten Performance auf die in der Zwischenzeit präsentierten und von Publikum in Besitz genommenen Realgegenstände (Kap. 9.3.3.1) und Bilder zeigen (un cou‐ teau, un panier, un pot d’huile etc.) und die Zuhörenden als eine Art Repräsen‐ tanten der Handlungsstation in seine Performance einbeziehen. 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 307 <?page no="308"?> Die gleichbleibend intensive Gestaltung der Sequenzen bildet einen wesent‐ lichen Unterschied zur Gestaltung der dynamique-Phasen der ersten Erzähl‐ stunde. Während dort durch Dehnung und Raffung der performativen Zeit auf den Höhepunkt hingearbeitet und die scène sous le baobab besonders intensiv und ausführlich gestaltet wird, hat hier jede Szene das gleiche Gewicht. Auch auf eine Steigerung der Emotionen des Protagonisten beim Singen des Klage‐ liedes wird verzichtet. Der Erzähler leitet die Reaktion auf den Verlust der Tauschgegenstände mit dem (fast) immer gleichen Kommentar Il s’assoit oder il est triste et se met à pleurer ein und illustriert sie mit einer immer gleichen Geste: Er führt seine Hand vor dem Auge die Wangen hinab, um das Kullern von Tränen anzudeuten. Die Geste begleitet oder beendet er mit einem Lächeln (VT-EZ / 2: 5, 6, 15, 16). Es ist ein Lächeln, das der Erzähler als Erzähler, nicht als Figur an sein Publikum richtet. Die Kombination des gestischen mit dem mimischen Zeichen und die Relation zur verbalen Botschaft zeigt eine gegen‐ über den bisher analysierten sprachbegleitenden Zeichenkombinationen eine Besonderheit. Die Mimik ergänzt nicht das verbale Zeichen, sie konterkariert die Botschaft, baut eine Brücke zum Publikum, aber geht in Distanz zur Figur, ein Verfahren, das mit der für diese Performance spezifischen Kontaktaufnahme mit dem Publikum zusammenhängt und auch für die Gestaltung des Reims von Bedeutung ist. Die Gestaltung des Reims Der Erzähler dieser Performance hält wie die Erzählerinnen der ersten Erzähl‐ stunde beim Sprechen des Reimes inne und fordert das Publikum zum Mitma‐ chen auf, wie der folgende Textauszug zeigt: Sp linguistische & paralinguistische Zeichen LK2 Et le garçon (.) est triste et se met à pleurer. Qu’est-ce qu’il dit ↺ ? (.) « Rends-moi mon huile ( ) que m’ont donné qui ↺ ? » (6 Sek) LK2 Oui ? Sw6 L’arbre. LK2 Qui lui a donné l’huile ↺ ? Sw6 L’arbre ? Non ! (unv.) LK2 Leise : Non. Ce n’est pas l’arbre qui lui a donné. (.) Oui ↺ ? Sw5 Les paysans ! 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 308 <?page no="309"?> LK2 Les paysans lui ont donné de l’huile (.) …et contre un panier que lui ont donné qui ↺ ? » (6 Sek) Sw1 Les vanniers. LK2 …les vanniers contre un long couteau↗ que lui ont donné qui ↺ ? (.) Sw4 Les forgerons ↺ ? LK2 Les for-ge-rons contre un oiseau rouge↗(.) que lui ont donné... (VT-EZ / 2: 19) Die Konstruktion und Rhythmisierung des Reims lenkt die Aufmerksamkeit auf das rekurrent gebrauchte Fragepronomen Qui und damit auf die Frage nach den Tauschpartnern jeder Station. Der Erzähler dieser Performance wartet meist so lange ab, bis er eine Antwort erhält. Manchmal durchkreuzt die Antwort seine Sprechabsicht. Dann fragt er nach, verneint, berichtigt und fügt die korrekten Antworten in seinen Diskurs ein. Im Unterschied zur ersten Erzählstunde, in der das Publikum nicht aktiv mitgestaltet, gerät der Reimrhythmus hier, wo das Publikum, wenn auch zunächst nur zögerlich, dann jedoch doch am Ende der zweiten Performance immer engagierter mitwirkt, ins Stocken und die Figu‐ renrede transformiert sich in Erzählerrede. Die Klage lautet nicht mehr que m’ont donné qui, sondern que lui ont donné… Diese Diskursvariante, die dem fiktiven Erzähler das Wort erteilt, nutzt der reale Erzähler, um das Publikum zu einem gemeinsamen Sprechen der letzten Verszeile einzuladen: Sp linguistische & paralinguisti‐ sche gestische Zeichen Der Erzähler lächelt, breitet die Arme aus, beugt sich LK2 Tous ensemble↗ ! auf ~Tous ensemble nach vorne und begleitet die LK2, Ss …ma mère, ma mère. gemeinsam gesprochene Verszeile mit einer Dirigierbe‐ wegung. Dann geht er wieder in eine aufrechte Position und verschränkt die Hände auf den Knien. LK2 Merci. Auf ~merci folgt eine kurze Verbeugung mit dem Kopf. (VT-EZ / 2: 19f.) Mit seiner Dirigierbewegung repariert er den Rhythmus seiner Reimperfor‐ mance und bringt die poésie orale des Reims zum Tragen. Mit der gemeinsamen Aktion setzt er einen Schlusspunkt, gelangt aus der dynamique-Phase in die 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 309 <?page no="310"?> Phase des Abschließens und kann den Job der Überleitung in den Klassenzim‐ merdiskurs an seine Teampartnerin weitergeben. 9.3.2.3 Ergebnisse der vergleichenden Analyse: die Inszenierung der Erzählperformances - die Kettengeschichte als Fortsetzungsgeschichte Als Ergebnis der vergleichenden Analyse lässt sich festhalten, dass auch diese Inszenierung die Darstellungsqualität des adaptierten Märchendiskurses nutzt, um dessen inhaltliche und syntaktische Narreme zu dramatisieren. Hervorste‐ chendes Merkmal der Inszenierung ist die Gestaltung der Märchenerzählung als Fortsetzungsgeschichte gegenüber der Inszenierung als Höhepunktgeschichte in der ersten Erzählstunde. Folgende weitere Merkmale der Inszenierung haben sich im Vergleich als relevant erwiesen: 1. Die mündliche Erzählung wird auch hier als narrative Diskurseinheit re‐ alisiert (Kriterien 4.a, 4.b), wobei dieses Team sich die narrativen Jobs so teilt, dass die Gast-Lehrkraft die Rolle des performativen Erzählers, die unterrichtende Lehrkraft die Führung der narrativen Rekonstruktions‐ gespräche übernimmt. 2. Zur performativen Gestaltung werden ebenfalls phasenbezogene Gestal‐ tungsprinzipien verwendet, aber sie unterscheiden sich in einzelnen Punkten von denen der ersten Erzählstunde: Die Einführung in die Welt der Fiktion gestaltet auch dieser Erzähler mit si‐ multanen Kombinationen prosodischer und gestischer Mittel (Kriterium 5.a), um seine Rede zu verdeutlichen und das Verständnis der Grundsituation zu si‐ chern. In der Brüderszene experimentiert er mit gestischen Mitteln, indem er seinen Nachbarn als (stummen) Partner in sein Spiel einbezieht und damit seine Darstellung theatralisiert. In der dynamique-Phase führt er den Einsatz drama‐ tisierender Mittel fort, zum einen wie die Erzählerinnen der ersten Erzählstunde durch den sequenziellen Gebrauch (Kriterium 5.c) der Gebe-Nehme-Gesten, zum andern durch eine detailliert ausgeführte illustrierende Gestik, die der Form einer Pantomime gleichkommt. Da diese Art detaillierter Illustration in jeder Sequenz zur Anwendung kommt, führt sie zu einer gleichmäßigen, ausgewo‐ genen Darstellung, die nicht wie die der ersten Stunde eine Sequenz privilegiert. 3. Zur performativen Gestaltung des Erzähldiskurses werden ebenfalls pha‐ senübergreifende, strukturbildende Gestaltungsprinzipien eingesetzt. Das sind in dieser Performance die dramatisierende Gestaltung der Hand‐ lungsetappen, die interaktive Gestaltung des Reims und die Rhythmisie‐ 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 310 <?page no="311"?> rung der Performance durch einen immer gleich formulierten, prosodisch und gestisch gestalteten Sequenzschlusssatz. Es handelt sich auch hier um eine vorbereitete, geprobte Performance, die in dieser Erzählstunde von einem der beiden Teampartner realisiert wird. Dieser spricht frei, ohne jegliche Textvorlage. 4. Die Gesamtinszenierung (Kriterium 5.e) lässt sich mithilfe des Konti‐ nuums „Möglichkeiten der Inszenierung von Erzählperformances“ (Kap. 4.5.1) wie auch die der ersten Erzählstunde in der mittleren Position (C) verorten. Dafür sprechen folgende Aspekte: • Es liegt wie in der ersten Erzählstunde eine Festlegung des verbalen Erzähldiskurses als Leitsystem und eine damit verbundene Option für das traditionelle Performancekonzept vor, wobei experimentelle An‐ sätze zu verzeichnen sind wie die zum Einsatz gebrachte Körperlich‐ keit, die theatralisch gestalteten Szenen sowie die Interaktionen mit dem Publikum. • Was die Performanceform betrifft, so sind auch hier die Erzählper‐ formances Marie-Célie Agnants eine wichtige Inspirationsquelle. • Was die Gestaltung der Erzählerrolle betrifft, so sind hier deutliche Unterschiede zwischen den beiden Erzählstunden zu verzeichnen. Den extradiegetischen, fiktiven Erzähler der Märchenerzählung transponiert auch dieser Erzähler in einen außerhalb der Fiktion ste‐ henden realen Erzähler. Aus dieser Rolle heraus illustriert er sprach‐ begleitend die Aktionen der Figuren. Er kennt seine Figuren gut, er ahnt ihre Aktionen voraus, er erläutert und kommentiert sie. Im Ge‐ gensatz zu einer der beiden Erzählerinnen (LK1), die die Emotionen des Protagonisten ‚von innen‘ zum Ausdruck bringt, gestaltet er einen allwissenden Erzähler, der seine Figuren durch ihre Aktionen zeigt. In der ersten Erzählstunde zetert und weint die Erzählerin in der Rolle des Protagonisten, in der zweiten zeigt der Erzähler in seiner Erzäh‐ lerrolle, wie die Tränen kullern, und lächelt dazu. • Die Abstimmung der Performancestrategien auf die didaktischen und die textuellen Vorentscheidungen erfolgt auch in dieser Erzählstunde zum einen dadurch, dass die performativen Gestaltungsmittel des Er‐ zählers die prototypischen Elemente des Erzähldiskurses, seine kon‐ zeptionelle Mündlichkeit und die Redundanz der poésie orale zum Tragen bringen. Zum andern wird auch das teleologische Prinzip des Erzähldiskurses in einen performativen Spannungsbogen überführt, der jedoch nicht dem Prinzip der Steigerung folgt, sondern auf das 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 311 <?page no="312"?> Prinzip der Akkumulation und der Verkettung der Tauschhandlungen fokussiert und die résolution der Geschichte der Fantasie des Publi‐ kums überlässt. Die Analyse der Performance (s. die Zusammenfassung der Performance EZ / 1 in Kap. 9.2.2.7) zeigt, dass auch dieser Erzähler non-verbale Zeichen als „Zeichen von Zeichen“ (Fischer-Lichte 2005c: 300) gebraucht und damit seine Perfor‐ mance inszeniert. 9.3.3 Vergleichende Analyse der Rekonstruktion der Erzählung Die vergleichende Analyse geht wie die der ersten Erzählstunde (Kap. 9.2.3) anhand ausgewählter Beispiele auf folgende Aspekte der Rekonstruktion der Erzählung ein: auf die strukturellen, medialen, kommunikativen und performa‐ tiven Mittel ihrer Gestaltung, die Form und den Grad der Narrativierungen und die narrative Interaktion. 9.3.3.1 Die erste Rekonstruktion: gegenstands- und bildgesteuerte Aufzählung narrativer Elemente Für eine erste Rekonstruktion der Erzählung ist auch in dieser Erzählstunde eine assoziative Aufzählung narrativer Elemente vorgesehen - mit dem Unterschied, dass die Assoziationen nicht aus dem Gedächtnis erfolgen, sondern zu vorge‐ gebenen Realgegenständen und Bildern formuliert werden. Für dieses und das zweite Rekonstruktionsgespräch kommt die in der Kreismitte ausgebreitete Decke (Kap. 9.3.1) ins Spiel. Die Teampartnerin (LK1) des Erzählers (LK2) packt aus einem panier in ungeordneter Reihenfolge 11 Gegenstände und Bilder aus, die Gegenstände oder zentrale Figuren der Fiktion repräsentieren, und legt sie nach und nach in der Kreismitte aus. Zum einen enthebt sie die Rezipierenden damit einer individuellen Selektion der narrativen Elemente und begrenzt die Anzahl der zu benennenden Elemente. Zum andern fokussiert sie die Auswahl der inhaltlichen Elemente auf deren Leistung zur Rekonstruktion der Ketten‐ geschichte, denn aus jeder Tauschsequenz wählt sie die Tauschgegenstände und einige dazu passende Gebrauchsgegenstände sowie die Hauptfiguren aus. Diese Strategie erlaubt es ihr, die Elemente mit jedem Übungsschritt zu erweitern, umzuordnen, neu zu ordnen und damit die Struktur der Geschichte zu rekon‐ struieren und sichtbar zu machen. Diese visuelle Rekonstruktion gestaltet sie interaktiv mit den Schülerinnen und Schülern, die einen Gegenstand auswählen, ihn an sich nehmen, ihre Assoziationen formulieren, den Gegenstand eine Weile behalten und wieder zurücklegen. Auf diese Weise übernehmen die in der Kreis‐ mitte immer neu zusammengestellten Gegenstände und Bilder die Funktion von 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 312 <?page no="313"?> Requisiten einer Performance-Aufführung. Da die Anzahl der Requisiten der Anzahl der Schülerinnen und Schüler entspricht, kann je ein Requisit je einem Besitzer zugeordnet bzw. von ihm ausgewählt werden. In der ersten Übungsphase fordert die Lehrkraft die Schülerinnen und Schüler durch demandes d’identification (Charaudeau 1992: 592) zur Bezeichnung je eines Elements auf. Es ergeben sich kurze Sprechhandlungssequenzen, bei denen die Lehrkraft einen realen Gegenstand und eine demande d’identification in den Raum stellt, evtl. Erläuterungen hinzufügt, eine kurze Antwort in Form von Stichwörtern erhält, mit denen sie Einverständnis signalisiert oder zu denen sie ‒ meist non-verbal ‒ eine Präzisierung verlangt, was das folgende Beispiel zeigt: Sp linguistische & paralin‐ guistische gestische Zeichen LK1 Vous connaissez ça ↺ ? ( 3 Sek) LK1 nimmt einen Bambuszweig aus dem panier, zeigt ihn. Ça pousse dans mon jardin. ( ) Oui ↺ ? Sie dreht den Zweig lächelnd hin und her. Sw4 Des bambous. LK1 Voilà. Des bambous. Sie legt den Zweig auf die Decke. Sie holt die Kopie der Qui est-ce ↺ ? (in BI bereits gezeigten) Märchenillustration aus dem panier, hält sie lächelnd hoch. Sm3 C’est une Africaine. LK1 Oui, oui, bien sûr↗ (.) … LK1 wiegt den Kopf, zeigt mit dem Bild in Rich‐ tung Sw6. Sw6 …la mère des deux enfants. LK1 MHM! Sie legt das Bild auf die Decke. (VT-EZ / 2: 8) In der zweiten Übungsphase fordert die Lehrkraft die Schülerinnen und Schüler auf, je einen Gegenstand auszuwählen, ihn sich anzueignen und mit einem Satz aus der Geschichte zu kommentieren. Bei der Formulierung des Kommentars setzen einige Schülerinnen und Schüler performative Strategien und Problem‐ lösungsstrategien (Kriterien 5.b, 5.c) ein. Ein Schüler (Sm2) lässt sich von der illustrierenden Gestik der Performance inspirieren und verwendet diese sprach‐ ersetzend wie folgt: 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 313 <?page no="314"?> Sp linguistische & paralin‐ guistische gestische Zeichen Sm2 Des personnes couper … ehm les, … Sm2 führt Schneidebewegungen mit der rechten Hand aus. LK1 Les bambous ! Auf ~les bambous winkt LK1 mit dem Bambus‐ zweig in Richtung Sm2. Sm2 …les bambous avec un couteau. LK1 Voilà. Bien. Prends-le ! Sm2 nimmt den Gegenstand, le couteau, an sich. (a. a. O.: 12) Die meisten Schülerinnen und Schüler formulieren wie der oben zitierte Schüler ihre Kommentare in Form von narrativen Einzeläußerungen: Sie geben isolierte Aktionen oder Ereignisse wieder und fügen sie in den Gesamtverlauf der Hand‐ lung ein. Einige Schülerinnen bilden bereits kurze Sprechhandlungssequenzen, die aber noch keinen narrativen Diskurs ergeben. Eine Variante der zweiten Narrativierungsform liefert eine Schülerin (Sw6), die zu dem von ihr ausgewählten Gegenstand, dem pot d’huile, einen Gemüts‐ zustand bzw. eine Situation assoziiert: Ehm, il est malheureux, nee, il est malade. (VT-EZ / 2: 10) Sie stellt damit implizit einen logischen Zusammenhang zwi‐ schen einer Situation und einer Figur her. Aber die von ihr vermuteten Zusam‐ menhänge entsprechen nicht der Logik der Geschichte, was sich durch Nach‐ frage der Lehrkraft herausstellt und zu folgender Interaktion führt: Sp linguistische & paralinguisti‐ sche gestische & mimische Zeichen LK1 Qui est malade. Sw6 Ehm, ehm, le garçon ↺ ? LK1 Hm ! Sw6 Le petit garçon, et il ehm, une autre Sw1 schaut zu Sw6. Sie kräuselt die Stirn, personne fait l’oui sur son dos. Widerspruch signalisierend. LK1 Leise: Ouais, hm, il met de l’huile. Sw1spricht leise l‘arbre in Richtung Sw6. Ok, on continue. (a. a. O.: 10) Die Lehrkraft repariert den sprachlichen, nicht aber den logischen Fehler, was eine Mitschülerin (Sw1) zu einem non-verbalen Widerspruch und einer leise 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 314 <?page no="315"?> vorgebrachten Reparatur veranlasst. Die Lehrkraft empfiehlt den Lernenden am Ende dieser Phase, das Verfahren des Hypothesentestens und -prüfens eigen‐ ständig anzuwenden. Sie fordert dazu auf, bei der Wiederholung der Perfor‐ mance darauf zu achten, ob ihre Assoziationen dem Verlauf und den logischen Zusammenhängen der Geschichte entsprechen bzw. welche Reparaturen vor‐ zunehmen sind. Dabei zeigt sich, dass die in ihrem Besitz befindlichen Requisiten den Lernenden dabei von Nutzen sind. Der Erzähler (LK2) bezieht die Requisiten in seine Rede ein und spricht dabei die Besitzer an, was er z. B. im Hinblick auf die maladie-Hypothese wie folgt tut: Sp linguistische & paralin‐ guistische gestische & mimische Zeichen LK2 Il prend le pot d’huile (.) LK2 mimt das Greifen nach dem pot d’huile mit et il s’en va. der linken Hand. Il arrive devant un arbre. LK2 lächelt in Richtung Sw6, die den pot d’huile Et l’arbre est malade. besitzt und [in der Runde zuvor] Il est malade. geäußert hatte. Man hört Sw6 kurz auflachen. (a. a. O.: 18) Was die Interaktionsformen betrifft, so folgen sie in verschiedenen Varianten dem Grundmuster I, das auch der ersten Erzählstunde (Kap. 9.2.3.1) zugrunde liegt. Die narrativen Jobs sind klar zwischen Lehrkraft und Lernenden aufgeteilt. Die Lernenden formulieren kurze Beiträge, die Lehrkraft gibt Feedback oder initiiert eine Präzisierung oder Erweiterung des Beitrags. 9.3.3.2 Die zweite Rekonstruktion der Erzählung: von der gegenstands- und bildgestützten Sequenzierung zur Rekonstruktion der Globalstruktur Im Unterschied zur ersten Erzählstunde schließt sich die kreative narrative Auf‐ gabe nicht unmittelbar an die zweite Performance an. Es wird die zweite, auf die Erarbeitung der Gesamtstruktur der Geschichte ausgerichtete Aufgabe vor‐ geschaltet (Kap. 9.3.1). Die Aufgabe wird in drei Schritten erarbeitet. In einem ersten Schritt werden die handelnden Figuren der Geschichte und ihre Tauschgegenstände anhand von Schrift- und Bildkarten und den wieder zurückgebrachten Gegenständen benannt und in der Kreismitte ausgestellt. In einem zweiten Schritt werden die Requisiten der Chronologie der Geschichte 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 315 <?page no="316"?> folgend einander zugeordnet. Die dazugehörigen Tauschaktionen werden be‐ nannt. Die Lernenden formulieren in diesen beiden Phasen ihre Beiträge auf Abruf, die Lehrkraft steuert das Gespäch durch Entscheidungsfragen und setzt folgende Unterstützungsstrategien ein: • behutsame Korrekturen durch Umformulierung, • Wiederaufnahmen und Fortführungen von Beiträgen der Lernenden, • Eigenformulierungen an den Schnittstellen der Beiträge als Impuls für den nächsten Beitrag, • Einsatz des Bildmaterials als Verbalisierungsimpuls und als Steuerungs‐ instrument der Sequenzierung. Im dritten Arbeitsschritt sind die Schülerinnen und Schüler aufgefordert, die Geschichte anhand der bereits erstellten Sequenzierung zu erzählen. Es entsteht eine Gesprächsrunde, die wesentliche Merkmale einer narrativen Diskursein‐ heit aufweist. Die Schülerinnen und Schüler schließen an die Beiträge ihrer Vorgänger (Kriterium 4.a) an und führen sie weiter. Dies zeigt sich wie in der ersten Erzählstunde (Kap. 9.2.3.3) durch einfache thematische Verknüpfungen entweder mit durchlaufendem Thema oder mit linearer Progression (Heine‐ mann / Heinemann 2002: 70-72). Sm2 beginnt: La mère donne deux oiseaux à, à leur garçon. Et un garçon donne le l’oiseau aux forge… forgerons. (VT-EZ / 1: 25) Sw6 fährt fort: Ehm, le garçon donne ehm l’oiseau aux les forgerons et les forgerons donnent un cou…, couteau, ehm au, au garçon. (a. a. O.) Einige Beiträge stellen übersatzmäßige, die globale Strukturierung organisierende Äußerungen (Kri‐ terium 4.b) dar und sind mit kohärenzstiftenden Diskursmarkern ausgestattet, wie dieses Beispiel zeigt: Sw7: « Il donne le panier aux paysans qui le remplissent de fèves. Mais le panier se casse et ils lui donnent en échange un pot d’huile. » (VT-EZ / 2: 26) Die elaborierte Lexik und Syntax dieser Äußerung fällt aus den parataktischen Konstruktionen der bisher zitierten Beiträge heraus. Es handelt sich um den Beitrag einer der beiden Schülerinnen mit Französisch als Zweitsprache. Der Beitrag wird fortgesetzt, und zwar von der Schülerin (Sw6), die sich schon einmal an die letzte Handlungsstation herangewagt, die Handlungslogik aber nicht korrekt erfasst hatte (Kap. 9.3.3.1). Sie formuliert nunmehr vorsichtig: Ehm, il donne de l’huile au, à l‘arbre ↺ ? 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 316 <?page no="317"?> 42 Von Schritt eins bis Schritt drei beteiligen sich jeweils die Hälfte der Schülerinnen und Schüler, aber in jeder Phase sind es unterschiedliche Akteure, die das Wort ergreifen, so dass sich insgesamt lediglich zwei Schülerinnen und ein Schüler nicht äußern. 43 Grundlage der Analyse bilden die in der Videografie (VT-EZ / 2: 29-32) vorgetragenen Fortsetzungsgeschichten (Fg-1, Fg-2, Fg-3). Kurze Zitate aus den Notizen (TFg-1, TFg-2, TFg-3) der Schülerinnen und Schüler werden herangezogen, um Veränderungen beim performativen Vortragen zu zeigen. In diesem dritten Arbeitsschritt hat sich eine narrative Interaktion ergeben, an der im Unterschied zur ersten Rekonstruktion zwar nicht alle, aber die meisten Schülerinnen und Schüler mitwirken 42 . 9.3.3.3 Die dritte Rekonstruktion: die produktiv-verbalen Narrativierungen der Fortsetzungsgeschichten Die dritte, umfassende narrative Aufgabe fordert in einem ersten Schritt die Konzeption einer Fortsetzung der Geschichte, in einem zweiten den mündlichen Vortrag dieser Geschichte vor der Lerngruppe. Die Bearbeitungszeit ist mit 20 Minuten in beiden Erzählstunden gleich. Die Schülerinnen und Schüler teilen sich in drei Gruppen. Je eine der mit Französisch als Zweitsprache fortgeschrit‐ tenen Sprecherinnen schließt sich der ersten und der zweiten Gruppe an. Es entstehen drei etwa gleich lange Fortsetzungsgeschichten (Fg-1, Fg-2, Fg-3), die ich im Folgenden anhand der Kriterien des Fünf-Dimensionen-Modells (FDM-R) analysiere und miteinander vergleiche 43 . Die Plots der Fortsetzungsgeschichten Die erste Geschichte (Fg-1): Hier erhält der petit garçon vom arbre guéri Blätter, macht sich damit auf den Weg, hört unterwegs von einer fille d’un chef qui est malade, bereitet mit den Blättern des Baums einen Tee, der die Cheftochter heilt, so dass der chef du village seine Tochter gibt. Das Paar kehrt ins Dorf des grand frère zurück, der das Glück des Bruders nicht fassen kann. Die zweite Geschichte (Fg-2): Hier erhält der garçon vom arbre guéri ein bout de bois, macht sich auf den Weg, trifft dans une forêt einen marchand, mit dem er den bout de bois gegen ein bout de pain eintauscht, kommt zu einer rivière, hört dort ein Mädchen schreien, gibt einem Fisch den bout de pain, der ihm dafür hilft, das Mädchen aus dem Fluss zu retten, macht für sie ein Feuer, erfährt, dass sie la fille d’un chef ist und kehrt mit ihr gemeinsam in ihr Dorf zurück. Die dritte Geschichte (Fg-3): Hier begibt sich der garçon zu einem fileur, mit dem er ein ‚Hilfsgeschäft‘ dahingehend vereinbart, dass er für seine Arbeit ein Stück tissu erhält, mit dem er einen tisseur aufsucht, der ihm daraus einen joli boubou fertigt, den er dem chef du village als Geschenk für dessen Tochter gibt, 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 317 <?page no="318"?> 44 Die donation wird in der Geschichte nicht explizit benannt. 45 Die erste Geschichte bildet hier eine Ausnahme insofern, als der Protagonist vom arbre guéri keinen Tauschgegenstand erhält. Deshalb muss er den nächsten Tausch ohne Ge‐ genstand einleiten und kann seinem Tauschpartner, dem fileur, auch nichts anderes als seine Arbeitskraft anbieten. worauf dieser erfreut ist, dass seine Tochter nun nicht mehr alleine ist 44 . Zum guten Ende zieht die Familie des garçon in das Dorf des chef du village. Gemeinsame Merkmale der narrativen Vertextung Die drei Fortsetzungsgeschichten stützen sich zur Gestaltung der Handlung auf die prototypischen inhaltlichen Narreme der Geschichte (Kriterium 1.b). Die Figuren bleiben mit dem petit garçon als Protagonisten, dem chef, der fille d’un chef du village und den Tauschpartnern, meist Handwerkern, im Paradigma der Geschichte. Dasselbe gilt für die Tauschgegenstände, das Thema der Reise und die Orte, die mit une forêt, une rivière, un village im Nirgendwo des Märchens (Kap. 3.4) verbleiben. Die Fortsetzungsgeschichten schließen an die strukturellen Elemente der Ge‐ schichte an (Kriterium 1.c), indem sie an die letzte erzählte Tauschstation (le pot d’huile pour l’arbre malade) je eine oder zwei Tauschsequenzen 45 anfügen. Damit werden die Ereignisse wie die der Kettengeschichte nach dem Tausch‐ prinzip chronologisch miteinander verknüpft, logisch aufeinander bezogen (Kri‐ terium 1.d) und laufen auf eine Lösung, das Ende der Kette, zu. Das teleologische Prinzip der Kette ist auch hier mit einem Planbruch (Kriterium 1.d) verbunden, denn entweder ändert der Protagonist gezielt seine Tauschtaktik (Fg-1 und Fg-2) oder es bietet sich eine unterwartete Chance, das Ziel zu erreichen (Fg-2). Dieses ist, wie die Plots zeigen, in allen drei Texten le mariage de la fille d’un chef. Ein weiteres Merkmal liegt in der Übernahme des pacte de fiction (Kap. 3.3), denn die Erzähler dieser Geschichten haben dieselbe Verfügungsmächtigkeit über die erzählte Welt wie der Erzähler vom conte des échanges, und sie fordern ebenso zum ‚Als-Ob-Spiel‘ der Fiktion heraus wie jener. Dies liegt vor allem an der Übernahme des märchentypischen Erzählkonzepts (Kap. 9.2.1), was sich an der Verknüpfung der Ereignisse zeigt. Diese erfolgt nach dem Prinzip der Kau‐ salität und der Logik, aber es ist die Logik des Märchens. Auf wunderbare Weise lassen sich die Blätter des Baumes zu einem heilenden Tee verarbeiten, auf eben diese Weise hilft ein Fisch bei einer Rettung vor dem Ertrinken und ein wun‐ derschöner Stoff wird zu einem wunderschönen Gewand. Gemeinsam ist damit allen Vertextungen, dass sie einem narrativen Plan folgen. Er besteht in der Weiterarbeit mit den prototypischen Bausteinen des Erzähldiskurses und in der Weiterführung seiner genretypischen Merkmale. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 318 <?page no="319"?> Unterschiede der narrativen Vertextung Unterschiedlich ist die Ausgestaltung der narrativen Pläne. Dies betrifft den Gebrauch der inhaltlichen Narreme (Kriterium 1.b) und die Gestaltung der se‐ mantischen Kohärenz (Kriterium 1.d), die zur Sinnkonstruktion und zur Erzähl‐ würdigkeit (Kriterium 1.e) der Geschichten beitragen. Relevant für die Gestaltung semantischer Kohärenz ist die Art und Weise, in der die complication mit der résolution verbunden und damit der Reise des Pro‐ tagonisten Sinn verliehen wird. In allen drei Geschichten werden Aufbruch und Reise des Protagonisten am Ende von Erfolg gekrönt, und der Jüngere behält gegenüber dem Älteren Recht. Die Differenzen bestehen in der Art und Weise, wie er zum Erfolg kommt und welche Rolle der Protagonist dabei spielt. In der ersten Geschichte erfährt der Protagonist per Zufall, dass im Dorf des chef du village Mangel bzw. Unglück herrscht, und er nimmt die Chance, seine Person und seine Fähigkeiten ins Spiel zu bringen, wahr. Sein heilendes Ge‐ schenk führt zur donation und sie bringt ihm auch die Zuneigung der fille du chef ein: Die Prinzessin als Lohn für deren Heilung ‒ eine klassische Märchen‐ lösung mit einem Protagonisten, der wagt und gewinnt, weil er das Glück auf seiner Seite hat. In der zweiten Geschichte trifft der Protagonist ebenfalls per Zufall genau zum richtigen Zeitpunkt am Ufer der rivière ein, aber der Erzähler hat seinen Protagonisten nicht mit dem Wissen um die Wichtigkeit der um Hilfe rufenden Person ausgestattet. Er lässt ihn, unterstützt von einem guten Helfer, einen acte gratuit vollbringen. Erst nach erfolgter Rettung erfährt er von seinem Glück, woraufhin sich beide ins Dorf des chef du village begeben. Der Erzähler gibt implizit zu verstehen, dass mit der Rückkehr der Tochter und der Ankunft ihres Retters auch eine Hochzeit verbunden sein wird. La fille d’un chef als Lohn für deren Rettung ‒ eine märchenhafte Lösung mit melodramatischen Zügen und einem Protagonisten als Held der Geschichte. In der dritten Geschichte geht der Protagonist zielgerichtet auf sein Vorhaben los. Er begibt sich zu einem fileur und einem tisseur, die ihm mit der Fertigung eines joli boubou für die Cheftochter weiterhelfen. Die Autorinnen und der Autor dieser Geschichte greifen ebenfalls auf den für das europäische Märchen typi‐ schen Erzählbaustein, den guten Helfer, zurück und fügen einen weiteren hinzu: die Schenkung bzw. Ausstattung des Helden mit einem ‚magischen‘ Gegenstand. Der Protagonist erhält die fille d’un chef als Dank für das außerordentliche Ge‐ schenk ‒ auch dies eine klassische Märchenlösung mit einem Protagonisten, der mit Schlauheit vorgeht. 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 319 <?page no="320"?> 46 Diese Passage wird aus den Notizen der Gruppe zitiert, weil anhand dieses Beispiels im nächsten Kapitel (9.3.3.4) textuelle Veränderungen beim Vortragen der Geschichte ge‐ zeigt werden. Sinn und Bedeutung der Geschichten werden mit diesen Gestaltungsprinzi‐ pien in die Zauberwelt des Märchens und in die Handlungsmotive des Prota‐ gonisten verlegt. Gemeinsam ist der Figurengestaltung, dass die Varianten des Jüngeren, des Glücklichen, Mutigen, Pfiffigen, stets den Widerpart zum Älteren, zum Uninspirierten, zu Hause Gebliebenen bilden. Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit In der ersten und dritten Geschichte geben die extradiegetischen Erzähler aus externer Perspektive die Aktionen der Figuren wieder. Die Erzählerrede domi‐ niert. Die dritte Geschichte weist eine Besonderheit auf. Sie nutzt, wie in der Erzählperformance gehört, mit kurzen Frage-Antwortsätzen die Figurenrede als Gestaltungsmittel und bringt damit Emotionen ins Spiel, was das folgende Bei‐ spiel illustriert: Le garçon demande: « Est-ce que tu peux faire un très jolie ehm boubou de ce tissou ↺ ? » Il réponde: « Oui, je peux. » (Fg-3: VT-EZ / 2: 31) Im Gegensatz dazu greifen die Autorinnen und der Autor der zweiten Geschichte zum Mittel der Dramatisierung. Ihre Erzählung enthält Elemente szenischer Höhepunktgestaltung. Die Erzählzeit wird gedehnt, die Situation anschaulich gestaltet dadurch, dass der Erzähler sich einen Moment an der rivière aufhält, einen Blick und ein Ohr auf die Situation der Ertrinkenden richtet und Figu‐ renrede eingesetzt wird: Le garçon marche avec son pain, jusqu’il arrivé devant une rivière. Mais tout a coup, il y a [une] personne qui crie. Le garçon voit une fille dans la rivière qui ne peut pas nagé! Il voit un grand poisson et il lui dit: je te donne mon pain ci tu me nagé jusqu’a la fille. (TFg-2) 46 Alle Autorinnen und Autoren verzichten auf die Formulierung eines Klageliedes des Protagonisten, damit auf die Redundanz, Formelhaftigkeit und den lied‐ haften Rhythmus der Erzählung. Statt der gattungstypischen Mündlichkeits‐ merkmale tragen ihre Erzählungen Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit. Dies gilt für die die thematische Einheitsstiftung, die narrative Sequenzierung und eine relativ präzise, auch abwechslungsreiche Lexik. Der Narrativierungsgrad ist gegenüber den Produktionen der ersten Erzähl‐ stunde höher (Kriterium 1.d). So wird in allen Erzählungen mehr als das „pro‐ totypische Rückgrat“ (Wolf 2002a: 46) des Narrativen realisiert. Außer den 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 320 <?page no="321"?> Hauptstrukturen werden mit Hinweisen auf die Situation und die Reaktion der Figuren auch Nebenstrukturen der Geschichte (Ahrenholz 2006b: 95, 106) ver‐ balisiert. Dies gilt in der ersten Geschichte vor allem für die résolution: Ehm, la fille et le garçon sont amoureuses. (Fg-1: VT: EZ / 2: 31), in der zweiten für die gefühlsbetonte Figurenrede wie zum Beispiel: Oh, j’ai si faim ! Vous pouvez me donner un bout de pain ↺ . (Fg-2: VT-EZ / 2 : 30). In der dritten Geschichte gilt dies für den Kommentar zur donation: Le chef est content parce que sa fille n’est plus, n’est plus seule. (Fg-3: VT-EZ / 2: 32). Den Narrativierungsgrad erhöht da‐ rüber hinaus der Gebrauch narrativer Diskursmarker (Kriterium 2.a) wie z. B. après, à la fin, ensuite, plus tard, parce que. Die Ergebnisse der Analyse zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Eigenproduktionen der Lernenden auf den prototypischen Bausteinen der er‐ zählten Geschichte aufbauen, deren Kettenstruktur aufnehmen und sie mit der erzähllogischen Lösung, dem mariage de la fille d’un chef, zu Ende führen. Über die inhaltlichen, strukturellen und genretypischen Gemeinsamkeiten hinaus weist jede Geschichte spezifische Merkmale auf, insbesondere im Hinblick auf die Herstellung semantischer Kohärenz und die Dramatisierung des Gesche‐ hens. 9.3.3.4 Die vierte Rekonstruktion der Erzählung: der mündlich-performative Vortrag der verbalen Narrativierungen Die Präsentation der Fortsetzungsgeschichten erfolgt im Rahmen einer narra‐ tiven Diskurseinheit. Die Lehrkraft (LK2) eröffnet sie mit einer Begründung der Inhaltsrelevanz: Alors, je suis curieuse de savoir ce que le garçon↗ ehm, oui, ce qui lui arrive, quelle est la suite … (VT-EZ / 2: 29). Die Phase des Elaborierens / Dramatisierens wird durch den Vortrag der Geschichten gebildet. Den Job der primären Sprecherinnen und Sprecher übernehmen die Mitglieder der jewei‐ ligen Gruppe. Das Abschließen der Diskurseinheit übernimmt wiederum die Lehrkraft, indem sie am Ende des dritten Gruppenvortrags eine kurze Ergän‐ zungsfrage stellt und mit einem anerkennenden Lob den Schlusspunkt setzt. Der Wechsel der Sprecherinnen und Sprecher wurde innerhalb der Gruppen vorab geklärt. Während des Vortrags übernimmt jedes Gruppenmitglied die verabredete kurze Handlungssequenz und gibt dann das Wort weiter. Dies ge‐ schieht meist durch Körperwendung zum Nachbarn und / oder durch Blickkon‐ takt (Kriterium 4.b). Im Prinzip entfällt ein Anknüpfen an die Beiträge der Vor‐ gängerinnen und Vorgänger, denn die verbalen Verknüpfungen wurden bereits in der Konstruktion der Textvorlagen geleistet. Aber dem ist nicht ganz so. Die schriftlichen Vorlagen erfahren bei ihrer mündlichen Realisierung geringfügige Veränderungen. Zwei exemplarische Vergleiche anhand von Ausschnitten aus 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 321 <?page no="322"?> den Notizen der Schülerinnen und Schüler und der Videografie zeigen, dass diese geringfügigen Veränderungen dem Bemühen um freies Sprechen geschuldet sind. Der handschriftlich formulierte Text der folgenden Passage lautete: L’arbre donne ses feuilles au petit garçon. Le petit garçon s’en va. Il rencontre sur le chemin des femmes. Elles parlent de la fille d’un chef de village qui est malade. Le petit garçon va dans ce village. Il veut aidé la fille du chef de village et lui prépare un thé avec les feuilles. (TFg-1) Der performative Vortrag wird wie folgt gestaltet: Sp linguistische & parlalinguisti‐ sche gestische Zeichen Sw3 Ehm, l’arbre donne ses feuilles↗ Auf ~l’arbre donne sieht Sw3 auf das Blatt von Sw2, das diese auf ihrem Schoß hält. au petit garçon↗( ) et schneller : Dann schaut sie nach vorne, ihr Textblatt il s’en va. (2 Sek) hält sie zusammengerollt auf ihrem Schoß. Ehm, au (? ) rencontre sur le chemin↗, Sie lacht auf, sieht kurz auf ihr Textblatt, il, ehm, il …. auf ~il… sieht sie nochmals kurz auf das Blatt. .. schnell : il y a des femmes. Sie spricht frei weiter, sieht nach vorne, Elles parlent de la fille d’un chef de dann kurz nach links zu LK1, dann wieder nach village↗ schneller: qui est malade. vorne, zum Kreis hin. Sie lehnt sich zurück Le petit garçon va dans ce village. und wendet sich zu Sm2. Sm2 Il veut aider cette fille↗, lui prépare ehm, il lui prépare un thé avec les feuilles. Sm2 sieht nach vorne, auf ~prépare sieht er auf sein Textblatt und spricht dann frei weiter. (VT-EZ / 2: 29) In dem Augenblick, da die Sprecherin Sw3 den kurz auf dem Textblatt erblickten Satz Il rencontre sur le chemin des femmes (TFg-1) mit au rencontre sur le chemin, il…(VT-EZ / 2) beginnt, bemerkt sie, dass sie ihn syntaktisch nicht fortführen kann. Sie greift mit il y a des femmes auf eine ihr bekannte Formulierung zurück, eine Problemlösungsstrategie (Kriterium 5.b des FDM-R), die ihr hilft, ihren narrativen Plan zu Ende zu führen. Der nächste Sprecher ersetzt die im Text 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 322 <?page no="323"?> vorgesehene Formulierung Il veut aider la fille du chef du village durch eine Proform (Il veut aider cette fille) und verknüpft seinen Beitrag mit dem der Vor‐ gängerin enger als vorgesehen. Das Vortragsbeispiel zeigt neben den textuellen Veränderungen auch, dass die Sprecherin Sw3 und der Sprecher Sm2 wie in der gehörten Performance den accent tonique in demarkativer Funktion zur Gliede‐ rung der Rede einsetzen. Erheblicher als im obigen Beispiel verändert eine der beiden fortgeschrittenen Sprecherinnen ihre Textvorlage. Darin war folgender Wortlaut vorgesehen: Le garçon marche avec son pain, jusqu’il arrivé devant une rivière. Mais tout a coup, il y a [une] personne qui crie. Le garçon voit une fille dans la rivière qui ne peut pas nagé ! Il voit un grand poisson et il lui dit: je te donne mon pain ci tu me nagé jusqu’a la fille. (TFg-2) Ihren Vortrag gestaltet sie wie folgt: Il marche schneller: avec son petit bout de pain↗ ehm ( ) dans la forêt jusqu’il voit une rivière. Là, tout d’un coup, il entend un grand cri. Il voit une petite fille qui ne peut pas nager. Ehm, il cherche un poisson. Après, il voit un grand poisson et il lui dit : « POISSON, POISSON ! Tu peux me … (.) tu p…, nein. (.) Si je te donne mon pain, tu vas chercher avec moi la petite fille ↺ ? (Fg-1: VT-EZ / 2: 31) Zunächst verbindet sie die beiden Sätze, mit denen sie den garçon ankommen lässt, mit einem linksversetzten là, das sie expressiv akzentuiert. Aus il arrive devant une rivière macht sie ein il voit une rivière, aus der personne qui crie ein il entend un grand cri. Der Erzähler nimmt damit die rivière-Szene durchweg aus der Perspektive des Protagonisten wahr. Die Figurenrede markiert sie mit der formelhaften Anrede POISSON, POISSON, die sie kommunikativ akzentuiert spricht. Zur Formulierung der Bitte an den Fisch Si je te donne mon pain sieht sie nicht auf ihre Textvorlage, sondern probiert die Formulierung so lange aus, bis es ihr gelingt, einen Bedingungssatz zu realisieren. Mit diesen ‒ wenn auch geringfügigen ‒ Diskursmodellierungen reichert sie die genretypische Markie‐ rung der Textoberfläche an (Kriterien 2.a, 2.b) und verstärkt die bereits in der Textvorlage angelegte Dramatisierung des Diskurses. Was die performative Gestaltung der Gruppenpräsentationen (Kriterium 5.c) betrifft, so tragen die Sprecherinnen und Sprecher dieser Diskurseinheit die zuvor verabredeten Passagen der gemeinsam formulierten Fortsetzungsge‐ schichten relativ frei vor: Sie schauen punktuell auf ihre Textvorlagen oder die ihrer Gruppenmitglieder, sprechen vorwiegend zur Kreismitte hin und variieren teilweise den Wortlaut des Erzähltextes. Als performative Gestaltungsmittel (Kriterium 5.c) setzen sie durchweg Akzentuierung meist in parasyntaktischer 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 323 <?page no="324"?> Funktion und Intonation in fonction démarcative und modale zur Gliederung der Rede und zur Markierung von Fragen und Ausrufen ein. Die dramatisierende Sprecherin gebraucht darüber hinaus expressive Akzentuierung in paraseman‐ tischer Funktion. Auffällige, die Rede illustrierende Gestik oder die Verfasstheit der Figuren indizierende Mimik werden nicht eingesetzt. Aus der Analyse der vierten Rekonstruktion der Erzählung lässt sich eine Definition der von den Schülerinnen und Schülern zur Aufführung gebrachten narrativen Vermittlungsform ableiten: Es handelt sich jeweils um einen in di‐ rekter Mündlichkeit realisierten, prosodisch und interaktiv gestalteten Gruppenvortrag, basierend auf einer schriftlich vorbereiteten, narrativen Eigen‐ produktion. Die von den Schülerinnen und Schülern eingesetzten Vortrags‐ strategien bestehen in einer vorsichtigen Modellierung der textuellen Vorlage und einem textgestützten, relativ freien, gestaltenden, auch dramatisierenden Sprechen. Von der narrativen Diskurseinheit zum metanarrativen Gespräch Der Analyse der vierten Rekonstruktion hinzuzufügen ist wie in der ersten Er‐ zählstunde die Überführung der narrativen Diskurseinheit in ein metanarratives Gespräch (Kap. 9.2.2.4). Die Coda dieser Rekonstruktion liefert den an der Re‐ konstruktion Beteiligten nicht nur ein Instrument zur Vergewisserung und In‐ tegration neu erworbenen Wissens, sondern dient ihnen auch dazu, sich über dieses Wissen gemeinsam zu verständigen und es zu teilen. Im Fokus stehen Konzeption und Logik der selbst verfassten Fortsetzungen und deren Referenz auf den Erzähldiskurs. Thematisiert werden erstens die von den Gruppen vorgetragenen résolutions, zweitens das Anknüpfen der Fortset‐ zungen an die Tauschsequenzen der Geschichte und drittens die Darstellung der Stimmung des Protagonisten. Das erste Thema wird konsensuell behandelt. Die drei unterschiedlichen Lö‐ sungen und Gestaltungen der Rückkehr des Protagonisten werden erläutert und miteinander verglichen. Das zweite und dritte Thema wird kontrovers diskutiert. Eine Gesprächsteil‐ nehmerin bezweifelt, dass in den Fortsetzungsgeschichten tatsächlich Tausch‐ geschäfte stattfinden: Dans notre histoire, y a pui tellement d’échange, le petit garçon ne pleure plus, dans leur histoire non plus. (VT-EZ / 2: 33). Ein Mitglied der angesprochenen Gruppe äußert im Rekurs auf ihre Erzählung Widerspruch. Sie bekommt, was den Tausch betrifft, recht, aber das Argument ist nicht voll‐ ständig widerlegt. Die erste Sprecherin wiederholt, zur nächsten Gruppe ge‐ wandt, ihren Einwand: Et dans leur histoire, il y a encore, il y a des échanges, mais le garçon, il ne pleure plus. (a. a. O.) Es geht ihr offensichtlich nicht nur um die 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 324 <?page no="325"?> Tauschaktion. Sie reklamiert die emotionale Reaktion des Protagonisten auf den Verlust des weggegebenen Gegenstandes. Damit hebt sie auf die Verbindung von Handlungen der Figuren mit Gefühlen (Kriterium 1.b) und die Gewichtung der Ereignisse durch affektive Markierung ab (Kriterium 1.d). Es zeigt sich, dass in diesem metanarrativen Gespräch sowohl die Weiter‐ führung inhaltlicher Bausteine (Kriterium 1.b) als auch die kausalen und logi‐ schen Zusammenhänge der Fortsetzungsgeschichten (Kriterium 1.d) verhandelt und in Beziehung zum Erzähldiskurs gesetzt werden. Aus diesem Grund wenden die Lernenden zur Formulierung ihrer Beiträge argumentative Verfahren an (Heinemann / Heinemann 2002: 188). Sie stellen Sachverhalte dar, begründen sie und setzen sie miteinander in Beziehung. Was die narrative Interaktion betrifft, so sind die Jobs zwischen Lehrenden und Lernenden klar verteilt, die Jobverteilung innerhalb der Gruppen wechselt. Es ist die Lehrkraft (LK1) in ihrer Rolle als Gesprächsmoderatorin, die die Leit‐ impulse setzt und den Verlauf der Interaktion lenkt. Und zum Schluss sind es beide Lehrkräfte, die auf eine grande petite différence zwischen den Fortset‐ zungen und dem Original, auf das Fehlen des Refrains in den Fortsetzungsge‐ schichten hinweisen. Die Interaktion zwischen Lernenden und den Lehrkräften und zwischen den Lernenden verläuft unterschiedlich. In einer ersten Phase nehmen auf Elizitation der Lehrkraft mehrere Gruppenmitglieder mit kurzen Beiträgen am Gespräch teil (Interaktionsgrundmuster I: Kap. 9.3.3.1). In einer zweiten Phase entwickeln sich zwei längere Sprechhandlungssequenzen, in denen sich je ein Gruppen‐ mitglied als primäre Sprecherin etabliert. Während die erste Sprechhandlungs‐ sequenz (VT-EZ / 2: 33) von den beiden Schülerinnen mit Französisch als Zweit‐ sprache alleine bestritten wird, unterstützen in der zweiten Sprechhandlungssequenz zum einen die Lehrkraft, zum andern die Gruppenmitglieder ihre primäre Sprecherin durch Einhilfen (Kriterium 4.a), wenn diese sich in der Syntax und Lexik ihres Beitrags verliert: Sp linguistische & paralinguistische Zeichen Sw6 Il échange le ehm …Le garçon travaille↗ et pour c’, ce travail↗, le ehm … Sw8 Le tissu ! Sw6 Ouais, le tissu. LK1 Il reçoit le tissu↗ et après↗, Sw6 Ähh, avec ce tissu, ehm le, schnell, leise: Was heißt Schneider? Sw4 Flüstert: un tisseur 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 325 <?page no="326"?> Sw6 Un, ehm, tisseur fait un boubou. Pour, pour la fille. LK1 Pour la fille du chef du village. Sw6 Flüstert: Oui. (VT-EZ / 2: 34) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass wie auch in der ersten Erzählstunde eine Bewusstmachung von Gestaltungsprinzipien der Originalerzählung ange‐ bahnt wird. Dabei werden unterschiedliche Lösungen der Narration themati‐ siert, als gleichermaßen möglich dargestellt, aber auch auf ihre Handlungslogik überprüft. Zur Teilnahme am metanarrativen Gespräch stützen sich die Spre‐ cherinnen und Sprecher auf die in den vorangegangenen Rekonstruktionen ge‐ leisteten Narrativierungen, wobei sie sich unterschiedlich nah an deren Wort‐ laut orientieren, eine Möglichkeit, die zur Realisierung eines überwiegend in der Zielsprache durchgeführten Gesprächs genutzt wird. 9.3.3.5 Ergebnis der vergleichenden Analyse: die Rekonstruktion der Erzählung als Prozess ‒ der progressive, individuelle und kooperative Aufbau narrativer Diskurse Auch in dieser Erzählstunde findet eine von den Lehrenden unterstützte und von den Lernenden realisierte, prozesshafte Rekonstruktion der Erzählung statt. Im Unterschied zur ersten Erzählstunde wird nicht die gesamte bereits gehörte Geschichte rekonstruiert, sondern dem in der Performance erzählten Hauptteil der Geschichte werden mehrere mögliche Lösungen hinzugefügt. Die Rekon‐ struktionsphasen weisen folgende Merkmale auf: 1. Die Fortsetzungsgeschichten bauen wie die Rekonstruktionen der ersten Erzählstunde auf dem zweimal erzählten und rezipierten Erzähldiskurs auf. Dies betrifft insbesondere die inhaltlichen und syntaktischen Narreme des Er‐ zähldiskurses und den Gebrauch der Narreme, das Märchenerzählkonzept, und einige Elemente konzeptioneller Mündlichkeit. 2. Die Rekonstruktionen der Erzählung erfolgen durch bildliche Unterstüt‐ zung im Medium der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit. Die erste Rekonstruktion wird in einer mündlichen, gegenstands- und bildge‐ steuerten Aufzählung narrativer Elemente durchgeführt, die zweite in einem ebenfalls bildgesteuerten narrativen Gespräch, in dem die Sequenzierung der einzelnen Episoden erstellt wird. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 326 <?page no="327"?> Die dritte Rekonstruktionsphase erfolgt im Medium des Schriftlichen durch Formulierung von Notizen und / oder eines fortlaufenden Textes, die vierte durch mündliche Vorträge der Fortsetzungsgeschichten im Rahmen einer nar‐ rativen Diskurseinheit. Bei der hier zum Einsatz gebrachten Vermittlungsform handelt es sich um einen in direkter Mündlichkeit realisierten, prosodisch und interaktiv gestalteten Gruppenvortrag. Das Medium des Mündlichen prägt diese Phase, auch wenn eine punktuelle Kombination von schriftlichen und mündli‐ chen Narrativierungen stattfindet. Vereinzelt ist beim freien mündlichen Vor‐ trag sogar eine (Re-)Oralisierung (Tristram 1996c) der Texte zu beobachten. Die Diskurseinheit mündet wie die der ersten Erzählstunde in ein abschließendes metanarratives Gespräch. Im Unterschied zur ersten Erzählstunde, in der die Geschichte im Medium der Mündlichkeit schrittweise zusammengesetzt wird, stellen die drei Schüle‐ rinnen- und Schülergruppen der zweiten Erzählstunde ihre fertigen Texte in freien mündlichen Gruppenvorträgen vor. 3. Die Narrativierungen der Lernenden erfolgen auch in der zweiten Er‐ zählstunde individuell sowie kooperativ und experimentierend, jedoch in anderen kommunikativen und interaktiven Zusammenhängen und in an‐ deren Narrativierungsformen. Die Individualisierung manifestiert sich in der Vielfalt der Inhalte und Gestal‐ tungen der Fortsetzungsgeschichten. Das kooperative Arbeiten zeigt sich in der Teamarbeit der Schülerinnen und Schüler bei der Texterstellung und der per‐ formativen Gruppenpräsentation, ihre Experimentierfreude in ihren Bemü‐ hungen um freies, textunabhängiges Sprechen. Die Kooperation der Lehrkräfte besteht auch in dieser Erzählstunde in einem narrativen Scaffolding durch den Einsatz von Unterstützungs-, Steuerungs- und Überwachungsstrategien. 4. Der Rekonstruktionsprozess weist unterschiedliche Narrativierungsleis‐ tungen auf und verläuft progressiv. Die Narrativierungen werden teils in mündlicher Interaktion, teils im zusam‐ menhängenden monologischen Sprechen durchgeführt (Kriterium 5.a), wobei der Anteil des monologischen Sprechens in dieser Erzählstunde höher ist als in der ersten. In jeder Rekonstruktionsetappe zeigen sich Unterschiede im Hinblick auf Länge, Form und Grad der Narrativierungen. Die Unterschiede sind hier größer als in der ersten Erzählstunde, was auf die Mitwirkung der beiden fortgeschrit‐ tenen Sprecherinnen zurückzuführen ist. Insgesamt erfahren die Narrativie‐ 9.3 Das Märchen in einer 9. Klasse (1. FS Französisch): die zweite Erzählstunde 327 <?page no="328"?> 47 Ergänzend hinzugezogen werden folgende Ergebnisübersichten des konzeptionellen Teils der Studie: die Modellierung konzeptioneller Mündlichkeit (Kap. 3.5.3), die Mög‐ lichkeiten der Inszenierung von Erzählperformances (Kap. 4.5.1), die Kriterien der Ana‐ lyse von Unterrichtsdesigns (Kap. 6.5), die Zeichenübersicht(Anhang 1). rungen wie in der ersten Erzählstunde in jeder Dimension (FDM-R) eine Stei‐ gerung. Besonders groß ist die Steigerung in der ersten Dimension, der narrativen Vertextung (Kriterium 1.a-e), was sicher auf die schriftliche Vorbe‐ reitung der mündlichen Präsentation zurückzuführen ist. Die progressive Entwicklung der narrativen Diskurse dieser Erzählstunde führt von der bild- und gegenstandsgestützten Aufzählung narrativer Elemente über die Rekonstruktion der Globalstruktur in einer narrativen Diskurseinheit zur Konstruktion von Fortsetzungsgeschichten, die in prosodisch und interaktiv ausgestalteten Gruppenvorträgen präsentiert werden. 9.4 Interpretation der Analyseergebnisse als Zwischenfazit In diesem ersten Zwischenfazit des empirischen Teils der Studie werden die Ergebnisse der Videoanalyse interpretiert und mit den Ergebnissen des kon‐ zeptionellen Teils der Studie (Kap. 7) zusammengeführt. Vor diesem Hinter‐ grund erfüllt das Zwischenfazit zwei einander ergänzende Funktionen - eine ergebnisvertiefende und eine ergebnisüberprüfende. Die Ergebnisvertiefung wird durch Anwendung der im konzeptionellen Teil der Studie entwickelten Modelle und - umgekehrt - durch die Anreicherung der Modelle anhand der Praxisbeispiele erreicht 47 . 1. Eine erste Interpretation (Kap. 9.4.1) erfolgt durch Strukturierung und Bündelung der narrativen Aktivitäten der Akteure zu spezifisch perfor‐ mativen Gebrauchsformen des Erzählens im Fremdsprachenunterricht. 2. Eine zweite Interpretation (Kap. 9.4.2) vergleicht die im konzeptionellen Teil der Studie erarbeiteten theoretischen Potenziale mit den beim münd‐ lichen Erzählen sichtbar gewordenen Potenzialen. 3. Eine dritte Interpretation (Kap. 9.4.3) vergleicht die in den Fünf-Dimen‐ sionen-Modellen (FDM-P, FDM-R) aufgelisteten Analysekriterien mit den in den Erzählstunden tatsächlich angewandten Mitteln der Realisierung mündlichen Erzählens. Die Ergebnisse dieser drei Interpretationsschritte sollen zur Bereicherung so‐ wohl der narrativen als auch der fachdidaktischen Theoriebildung beitragen. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 328 <?page no="329"?> 9.4.1 Die Anwendung des Erzählmodells und des Potenziale-Modells auf den Fremdsprachenunterricht Die Analysen der Erzählstunden bündeln den Gebrauch des Narrativen und Performativen zu vier Gebrauchsformen. Das sind: • die Konzeption der Erzählstunden (Kap. 9.2.1, 9.3.1), • die Gestaltung der Erzähldiskurse (Kap. 9.1.2, 9.1.3), • die Gestaltung der Erzählperformances (Kap. 9.2.2, 9.3.2) und • die Gestaltung der Rekonstruktionen der Erzählungen (Kap. 9.2.3, 9.3.3). Diese vier Gebrauchsformen stellen Konkretisierungen des intermedialen Er‐ zählmodells dar. Die Erzähldiskurse konkretisieren die Konstituenten des Nar‐ rativen - die qualitativen, inhaltlichen und syntaktischen Narreme. Die Gestal‐ tung der Erzählstunden und der Rekonstruktionen stellen fremdsprachendidaktische Realisierungen der Funktionen des Narrativen dar. Die Erzählperformances liefern Beispiele für narrativ-performative Vermitt‐ lungsformen. Gleichzeitig liefern die vier Gebrauchsformen die fachdidakti‐ schen Kategorien, mit deren Hilfe das Potenziale-Modell auf die Ergebnisse der empirischen Analyse angewandt werden kann - was im folgenden Kapitel gezeigt wird. 9.4.2 Die realisierten Potenziale mündlichen Erzählens als Performance Durch Konfrontation der im konzeptionellen Teil recherchierten Potenziale mit den vier o. g. fachdidaktischen Kategorien kann dargestellt werden, welche Po‐ tenziale auf welche Weise in den Erzählstunden realisiert wurden. Die werkseitigen Potenziale - realisiert im Gebrauch der Erzähldiskurse Die in den Konstituenten des Narrativen und seinen Vermittlungsformen ent‐ haltenen, der ersten Komponente des Potenziale-Modells zugeordneten Poten‐ ziale (Kap. 3.7), • der Prototyp des Narrativen (Potenzial 3 und 8), • das Prinzip der Erzählwürdigkeit (Potenzial 6), • die fiktionale Variante der narrativen Diskursform (Potenzial 7), • die konzeptionelle Mündlichkeit (Potenzial 10), finden sich als strukturelle Merkmale in den Erzählungen und Erzähldiskursen wieder. Sie werden gemeinsam mit den ebenfalls im Narrativen enthaltenen Potenzialen, 9.4 Interpretation der Analyseergebnisse als Zwischenfazit 329 <?page no="330"?> • der Transmedialität (Potenzial 1) und • der transgenerischen Verfasstheit des Narrativen (Potenzial 4), bei ihrem Gebrauch im Unterricht sichtbar. Die Lehrkräfte nutzen das werkseitige Potenzial des Narrativen, indem sie zur Konstruktion der Erzähldiskurse Adaptionsstrategien anwenden, die die charakteristischen, prototypischen Merkmale des Originals erhalten und dessen konzeptionelle Mündlichkeit verstärken, indem sie die schriftliche Fassung in eine Textvorlage zum mündlichen Erzählen transformieren und ihre Perfor‐ mance auf den prototypischen Merkmalen und der konzeptionellen Mündlich‐ keit aufbauen. Die Lernenden nutzen dasselbe Potenzial bei der Rekonstruktion der Erzäh‐ lungen, indem sie zur Konstruktion ihrer narrativen Produkte an die prototy‐ pischen Merkmale anknüpfen und mit ihnen weiterarbeiten. Dass sie das nar‐ rative Potenzial mithilfe narrationsorientierter Rezeptionsstrategien auch zur Rezeption des Erzähldiskurses nutzen, wird die Analyse der Interviews zeigen. Das performative Potenzial - realisiert im Gebrauch der Erzählperformances und den mündlichen Präsentationen Die in den Merkmalen des Performativen und seinen Vermittlungsformen ent‐ haltenen, der zweiten Komponente zugeordneten Potenziale (Kap. 4.6), • das Ereignishafte und Experimentelle der Aufführung (Potenzial 1 und 2), • die Nähe zum Theater und das Prinzip der Verwandlung (Potenzial 3 und 5), • die Bedeutungserzeugung in der Aufführung (Potenzial 4) und • die Inszenierung und die Inszenierungskonzepte und -formen (Potenzial 6, 7 und 8), werden bei der Durchführung der Erzählperformances und bei den mündlichen Präsentationen der Lernenden realisiert. Die Lehrkräfte nutzen das performative Potenzial mündlichen Erzählens, indem sie ihren Vortrag als Erzählperformance gestalten und als Aufführung inszenieren. Als Mittel zur Realisierung dieses Potenzials setzen sie die deutliche Trennung von Unterrichtsdiskurs und Performance ein und übernehmen ihre Erzählerrolle durch performativ-ästhetische Gestaltung des Diskurses. Indem die Lehrkräfte beim Performen auf diejenigen Bausteine der Erzählung fokus‐ sieren, die für das Verstehen des Plots und für die folgenden narrativen Aktivi‐ täten der Anschlusskommunikation von zentraler Bedeutung (Kap. 9.2.2.7) sind, machen sie die werkinternen Merkmale der Erzählung für das Publikum sichtbar und hörbar. Indem sie zahlreiche sprachbegleitende, non-verbale Mittel ein‐ 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 330 <?page no="331"?> setzen, verdeutlichen, gliedern und illustrieren sie den Diskurs. Indem sie Pan‐ tomime, rhythmisch-liedhafte und emotionale Gestaltung einsetzen, experi‐ mentieren sie mit theatralischen Mitteln, und ihre Performance hält die Balance zwischen pädagogischer und ästhetischer Gestaltung. Die Lernenden profitieren als Rezipierende der Performances von der An‐ wendung performativen Potenzials durch die Lehrenden. In der mündlichen Präsentation ihrer eigenen Erzählungen wird performatives Potenzial sichtbar in ihrem Bemühen um freies, gestaltendes Sprechen, teilweise unterstützt von illustrierender, auch sprachersetzende Gestik und prosodischer Gestaltung von Figurenrede. Die im werkexternen Potenzial enthaltenen, der dritten Komponente zugeord‐ neten Potenziale (Kap. 5.6), • die Brückenschläge zwischen den Dimensionen (Potenzial 2), • die sinnbildenden, sozialen und kulturpsychologischen Potenziale (Po‐ tenzial 3), • die konstruierenden, sozialen, interaktiven und didaktischen Potenziale aus der Perspektive des Erzählerwerbs und der Erzähldidaktik (Potenzial 4), • der Gebrauch von Kreativität und Poesie (Potenzial 5), werden in den Rekonstruktionsphasen der Erzählstunden sichtbar, und zwar in den zum Einsatz gebrachten narrativen Aufgaben, den mündlich-narrativen Gesprächsformen und der interaktiven, progressiven Entwicklung der narra‐ tiven Diskurse. Zwei Brückenschläge in die potenzialgenerierenden Kernelemente liegen vor. Ein erster gilt der Transmedialität und Graduierbarkeit des Narrativen. Zur Ausschöpfung dieser Potenziale setzen die Lehrkräfte intermediale Aufgaben‐ formate ein. Ein weiterer Brückenschlag ins Narrative gilt der Medialität münd‐ lichen Erzählens. Zur Ausschöpfung dieses Potenzials werden drei Formen mündlich-narrativer Kommunikation und die mündlich-narrativen Eigenpro‐ duktionen der Lernenden eingesetzt. Das sind: • narrative Gespräche, die zunächst zur Verständnissicherung, dann zur Erarbeitung narrativer Produktionen eingesetzt werden, • narrative Diskurseinheiten, in denen die narrativen Eigenproduktionen der Lernenden entweder in spontaner, narrativer Interaktion entstehen oder in performativ gestalteten Gruppenvorträgen präsentiert werden, 9.4 Interpretation der Analyseergebnisse als Zwischenfazit 331 <?page no="332"?> • metanarrative Gespräche, die die Coda der Rekonstruktionen bilden und der vertiefenden Auseinandersetzung mit dem Erzähldiskurs der Perfor‐ mance und der narrativen Eigenproduktionen dienen. Die erzähldidaktischen, ressourcenorientierten und die sozialen und kommu‐ nikativen Anwendungspotenziale werden in der narrativen Interaktion der Ge‐ spräche sichtbar. Als Mittel zu ihrer Realisierung übernehmen die Lernenden ihre narrationsspezifischen Aufgaben. Die Lehrenden steuern die narrative In‐ teraktion durch ein narratives Scaffolding und fördern damit die globalen nar‐ rativen Gesprächszüge der Lernenden. Das Potenzial der Graduierbarkeit des Narrativen wird auch zur Entwicklung von Narrativierungsleistungen eingesetzt. Die Lernenden haben die Möglich‐ keit, ihre Beiträge auf unterschiedlichem Niveau semantischer Verknüpfung und narrativer Markierung einzubringen, d. h. das Kontinuum von Narrativie‐ rungsleistungen auszuschöpfen. Sie haben aber auch die Möglichkeit, ihre Nar‐ rativierungsleistungen von Phase zu Phase zu steigern. Die Möglichkeit kultureller Teilhabe und der Gebrauch von Kreativität werden in der Bearbeitung der Aufgaben und ebenfalls in den narrativen Inter‐ aktionen sichtbar. Indem sich die Lernenden kreativ gestaltend mit narrativ strukturierten Themen, Inhalten, gesellschaftlichen Konflikten und ästheti‐ schen Darstellungsformen frankophoner Kultur individuell und interaktiv aus‐ einander setzen, nehmen sie am ‚narrativen Schatz einer Kultur‘ teil. Das fachdidaktische Potenzial - sichtbar in den Unterrichtsdesigns Die im fachdidaktischen Potenzial (Kap. 6.6) enthaltenen Potenziale, • die Realisierung von Funktionen des Narrativen in zwei Formen des Ge‐ brauchs der Zielsprache (Potenzial 1), • die Förderung mündlich-kommunikativer Fähigkeiten und fähigkeitsbe‐ zogener Strategien (Potenzial 3), • das mündliche Erzählen als Unterrichtsprinzip (Potenzial 4), • die Brückenschläge zwischen den Dimensionen (Potenzial 2), werden in der Konstruktion der Unterrichtsdesigns sichtbar, und zwar im um‐ fassenden, abwechslungsreichen Gebrauch des Narrativen im Medium der Mündlichkeit. Das Potenzial beider Gebrauchsformen der Zielsprache wird durch die gleich‐ zeitige Verwendung des Narrativen als Mittel und als Gegenstand des Unter‐ richts ausgeschöpft. Das Potenzial des Narrativen als Unterrichtsprinzip wird durch Brückenschläge in die werkseitigen und werkexternen Potenziale des Narrativen sichtbar. Durch Brückenschläge in die werkseitigen Potenziale ge‐ 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 332 <?page no="333"?> winnt der Fremdsprachenunterricht Material für einen reichen, inhaltsbezo‐ genen sprachlichen Input, durch Brückenschläge in die kommunikativen und interaktiven Potenziale des Narrativen gewinnt er Anregungen für die Verar‐ beitung des Inputs - z. B. in narrativen Gesprächen und narrativen Diskursein‐ heiten. Der fremdsprachendidaktische Gebrauch mündlichen Erzählens in den ana‐ lysierten Erzählstunden ist mit einer Omnipräsenz des Narrativen verbunden, denn entweder ist das Narrative als mündlich-verbale Vermittlungsform präsent oder als narrative Aktivität, die ihrerseits zu einer mündlich-narrativen Präsen‐ tation führt. Gebrauch und Zusammenwirken der Potenziale mündlichen Erzählens in den Erzählstunden Die Konfrontation der Analyseergebnisse mit dem mehrdimensionalen Erzähl‐ modell liefert folgende Ergebnisse: 1. Die von den Akteuren der Erzählstunden realisierten und von der Analyse zu vier Gebrauchsformen gebündelten narrativen Konzepte, Diskurse und Aktivitäten stellen Konkretionen eines funktionalen Gebrauchs der Potenziale mündlichen Erzählens im Fremdsprachenunterricht dar. 2. Die in den Komponenten enthaltenen Potenziale wirken bei ihrem Ge‐ brauch wie folgt zusammen: • Während die Potenziale des Narrativen in jeder Gebrauchsform der Erzählstunde stecken, kommen die Potenziale des Performativen nur in den jeweiligen Zielproduktionen der Akteure zum Tragen. Die Po‐ tenziale beider Kern-Komponenten wirken zusammen, wenn sie als performative Vermittlungsformen des Narrativen genutzt werden - in Gestalt von Erzählperformances oder anderen, von den Lernenden realisierten narrativ-performativen Präsentationen. • Der Gebrauch funktionaler Potenziale ist stets mit einem Brücken‐ schlag in die Kern-Potenziale verbunden. Das Zusammenwirken dieser Potenziale ist abhängig von den jeweiligen Nutzern und ihren kommunikativen Absichten. Es zeigt sich, dass Lehrende und Lern‐ ende werkseitige und werkexterne Potenziale einerseits zu unter‐ schiedlichen Zwecken und mithilfe unterschiedlicher Aktionen, an‐ dererseits aber auch gemeinsam zur narrativen Interaktion nutzen. Als Beispiel zur Veranschaulichung dieser Zusammenhänge kann das narrative Gespräch der ersten Erzählstunde dienen (Kap. 9.2.3.2). Die narrativen Bilder der Lernenden halten werkseitiges und intermediales Potenzial zur Darstellung 9.4 Interpretation der Analyseergebnisse als Zwischenfazit 333 <?page no="334"?> von Figuren, Handlungen, Szenen der Geschichte bereit. Die Lernenden bauen auf diesen Potenzialen des Narrativen auf, um ihre rezeptiven Narrativierungen vorzustellen und ihre produktiven zu formulieren, d. h. sie nutzen sie zur Ent‐ wicklung sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten und gebrauchen damit fremdsprachendidaktisches Anwendungspotenzial. Die Lehrenden bauen eben‐ falls auf diesem Potenzial auf, nutzen es jedoch erzähldidaktisch durch ihr nar‐ ratives Scaffolding. Gemeinsam gebrauchen beide Seiten das werkinterne Po‐ tenzial der Bilder und das interaktive Potenzial des Narrativen und nutzen es als Mittel und Gegenstand der Kommunikation im Unterricht. 3. Das mündliche Erzählen als Performance stellt in der Kombination von narrativem Diskurs und performativer Vermittlungsform eine spezifische fremdsprachendidaktische Nutzung narrativen Potenzials dar. Einige Merkmale dieser Gebrauchsform konnten bereits dargelegt werden. Wei‐ tere Charakteristika werden sich aus der Analyse der Interviews (Kap. 10) ergeben. Ausgehend von den Ergebnissen der konzeptionellen Arbeit (Teil A der Studie), der Videoanalyse und der noch darzustellenden Er‐ gebnisse der Interviewanalyse werden im abschließenden Teil der Studie (Teil C) die ermittelten Merkmale dieser Gebrauchsform als Bedingungs‐ faktoren für das Ausschöpfen der Potenziale mündlichen Erzählens als Performance dargestellt und zu einem narrativ-performativen Erzähl‐ konzept für die unterrichtspraktische Anwendung zusammengeführt. 9.4.3 Der Gebrauch der Fünf-Dimensionen-Modelle - funktionale und flexible Instrumente der mehrdimensionalen Analyse narrativer Aktivitäten Bei ihrer Anwendung auf das empirische Material erwiesen sich die Modelle als effektive und funktionale Instrumente für die mehrdimensionale Analyse der Erzähldiskurse, Erzählperformances und die Rekonstruktionen der Erzählung. Dies hat folgende Gründe: • Die Gliederung der Modelle in fünf Dimensionen einer narrativen Akti‐ vität, z. B. einer Erzählperformance, erlaubt einerseits das genaue In-den-Blick-Nehmen einer einzelnen Dimension (z. B. der Konstruktion des Erzähldiskurses), andererseits die Gesamtsicht auf die unterschiedli‐ chen Dimensionen der Aktivität. • Die Gliederung der Dimensionen in Analysekriterien und deren Auffä‐ cherung in Indikatoren stellt präzise Analysekriterien bereit, mit denen sowohl Produkte als auch Prozesse im Detail analysiert werden können. 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 334 <?page no="335"?> • Die für einige Kriterien als Kontinuum ausgewiesenen Indikatoren er‐ möglichen die Bestimmung von Narrativierungsgraden zu einem be‐ stimmten Zeitpunkt und die Darstellung von Veränderungen im zeitli‐ chen Verlauf. Das Ansteigen des Narrativierungsgrades kann bezogen auf ein Kriterium, z. B. die Herstellung semantischer Kohärenz (Kriterium 1.d des FDM-R), gezeigt werden. • Werden Kriterien unterschiedlicher Dimensionen miteinander in Bezie‐ hung gesetzt, so können Gesamtzusammenhänge herausgearbeitet werden. Das gleichzeitige Ansteigen des Narrativierungsgrades in unter‐ schiedlichen Dimensionen - z. B. der semantischen Kohärenz in Dimen‐ sion 1 und der Kontextualisierung narrativer Beiträge in Dimension 4 - können als Zeichen für die Entwicklung narrativer Diskurse von Seiten der Lernenden gewertet werden. • Die identische Struktur beider Modelle zur Analyse der Performances und der Rekonstruktionen schafft Möglichkeiten, beide Narrativierungs- und Gestaltungsformen miteinander in Beziehung zu setzen und damit ge‐ genseitige Einflussnahme, Mitwirkung, Impulssetzungen (Kap. 9.2.2.4, 9.3.3.4) festzuhalten. Die Entwicklung von Narrativierungsleistungen und narrativen Diskursen - ein Beispiel der Funktionalität der Modelle Gestützt auf die detaillierte Analyse der Narrativierungsleistungen der Lern‐ enden im Quer- und im Längsschnitt der fünf Dimensionen kann die Entwick‐ lung der narrativen Diskurse in den beiden Erzählstunden nachgezeichnet werden. Der Querschnitt zeigt, dass die Narrativierungen der Lernenden in jeder Re‐ konstruktionsphase unterschiedliche Narrativierungsgrade aufweisen - im Um‐ gang mit den Bausteinen des Erzählens (Kriterium 1.b des FDM-R), im Hinblick auf die Sequenzierung der Erzählung (Kriterium 1.c des FDM-R), die chronolo‐ gischen und kausalen Verknüpfungen (Kriterium 1.d des FDM-R), die lokalen und globalen narrativen Beiträge (Kriterium 4.b des FDM-R) sowie die narrative Markierung der Textoberfläche (Kriterien 2.a, 2.b des FDM-R). Die Narrativie‐ rungsleistungen innerhalb der Lerngruppen sind heterogen. Heterogen sind auch die lexikalischen und syntaktischen Ausdrucksmöglichkeiten sowohl in‐ nerhalb der Anfängerals auch der Fortgeschrittenengruppe. Die sprachlichen Leistungen der Fortgeschrittenengruppe der zweiten Erzählstunde und folglich auch der Narrativierungsgrad ihrer Produkte sind jedoch insgesamt höher als die der Anfängerinnen und Anfänger der ersten Erzählstunde. 9.4 Interpretation der Analyseergebnisse als Zwischenfazit 335 <?page no="336"?> 48 Die Fünf-Dimensionen-Modelle wurden in Etappen (jeweils Teil 1 und Teil 2) entwi‐ ckelt: Teil 1 des FDM-P: (die ersten vier Dimensionen) in Kap. 3.7, Teil 2 des FDM-P (Teile der vierten und die fünfte Dimension) in Kap. 4.5.2, Teil 1 des FDM-R: (die ersten drei Dimensionen) in Kap. 3.7 und 5.5, die fünfte Dimension in Kap. 6.5. Die in Kap. 9.4.3 erläuterten Ergänzungen und Präzisierungen der Modelle wurden in die im konzeptionellen Teil der Studie dargestellten Modelle eingefügt und im Anhang als vollständige Übersicht (Anhang 3, Anhang 4) dokumentiert. Zur besseren Übersicht werden Einfügungen mit rotem Farbdruck deutlich gemacht. Der Längsschnitt von den ersten Rekonstruktionsphasen bis zur Schlussprä‐ sentation zeigt, dass insgesamt ein Ansteigen des Narrativierungsgrades zu ver‐ zeichnet ist: von der einfachen Aufzählung zur kohärent erzählten Wort-Bilder-Geschichte in der einen, von Einwortäußerungen zu zusammen‐ hängenden, überwiegend frei gesprochenen und performativ gestalteten Vor‐ trägen der Fortsetzungsgeschichten in der anderen Erzählstunde. Aus der Quer- und Längsschnittanalyse der Narrativierungen lässt sich schließen, dass die narrativen Diskurse beider Erzählstunden das Ergebnis eines allmählich sich entwickelnden, kooperativ organisierten Prozesses im Medium der Mündlichkeit sind. Präzisierungen und Ergänzungen der Modelle - ein Zeichen der Flexibilität der Modelle Die Modelle haben sich als flexible, um weitere Kriterien und Indikatoren er‐ gänzbare Analyseinstrumente erwiesen 48 . Die Veränderungen haben sich aus dem Analyseprozess ergeben bzw. stellen Ergebnisse des Analyseprozesses dar. Sie sind ein Zeichen dafür, dass die Analyse sowohl theorieals auch datenge‐ leitet durchgeführt wurde. Geringe Veränderungen erfahren die ersten Dimensionen beider Modelle (die Konstruktion des Erzähldiskurses und die Markierung der Diskursoberfläche) und die fünfte Dimension des Erzählperformance-Modells (die performative Gestaltung). Die Analysekriterien und Indikatoren dieser Dimensionen sind differenziert genug, um sowohl die Konstruktion der Erzähldiskurse und die Performancegestaltung der Lehrenden als auch die Narrativierungen der Lern‐ enden im Detail zu erfassen. Dies ist sicher darauf zurückzuführen, dass ich zur Zusammenstellung von Kriterien zur Analyse narrativer Texte und Diskurse auf ein breites, von der Literaturwissenschaft und Textlinguistik entwickeltes Kri‐ terienspektrum zurückgreifen konnte. Dasselbe gilt für die Mittel performativer Gestaltung. Diese konnte ich der komplexen theatersemiotischen Analysesys‐ tematik Fischer-Lichtes (Kap. 4.3) entnehmen, sie vom Theaterkontext auf das 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 336 <?page no="337"?> Genre der Erzählperformance übertragen und als Analysekriterien in die per‐ formative Dimension übernehmen. Bei der Performanceanalyse konnte ich, um Details der Zeichenselektion und -verwendung zu klären, auf die in der „Über‐ sicht über Art und Funktionen erzählperformativer Zeichen“ (Anhang 2) auf‐ gelisteten Formen und Funktionen der performativen Mittel zurückgreifen. Veränderungen des Erzählperformancemodells (FDM-P) Das Performance-Modell erfährt gleichwohl einige wenige Veränderungen. Dazu zählt erstens die Platzierung des Erzählwürdigkeits-Kriteriums. Die Ana‐ lyse der Originaltexte ergab, dass die textinterne Erzählwürdigkeit sich aus den unterschiedlichen Angeboten der Konstituenten der Erzählungen schöpft. Aus diesem Grund wird sie nicht als ein Indikator qualitativer Narreme zu Beginn, sondern als ein gesondertes Kriterium, das weitere Aspekte der Textkonstruk‐ tion erfasst, am Ende der textinternen Dimension (als Kriterium 1.f) aufgeführt. Sie wird gleichzeitig auch als ein Kriterium der Textrekonstruktion durch die Lernenden gesetzt. Weitere Veränderungen resultieren aus folgenden Erkennt‐ nissen der Analyse: • Da die Erzählperformances in beiden Erzählstunden zweimal präsentiert werden, ergeben sich Veränderungen, die in beiden Fällen die Textober‐ fläche betreffen. Sie werden als ein Kriterium (3.b) in die Analyse einbe‐ zogen, weil sie Zeichen eines flexiblen, der Erzählsituation sich anpas‐ senden Umgangs mit dem Erzähldiskurs darstellen. • Die Analyse der narrativen Diskurseinheiten ergab, dass nicht ihre Se‐ quenzierung für den Verlauf der Einheit relevant ist, sondern die Art und Weise, wie die Sequenzen der Diskurseinheiten in unterschiedlichen Phasen der Erzählperformances und auch der Rekonstruktionen gestaltet werden. Das betreffende Kriterium (4.a) ist nun nicht mehr die Sequen‐ zierung der Diskurseinheit. Diese ist mit den fünf Sequenzen des ge‐ sprächsorganisatorischen Modells von Quasthoff (Kap. 3.2.2) gesetzt. In‐ teressant ist vielmehr die Frage nach dem ‚Wie‘ der Etablierung der Diskurseinheit und der Gestaltung ihrer Sequenzen in Abhängigkeit von der Gesprächssituation. Mithilfe des so formulierten Kriteriums kann ge‐ zeigt werden, in welchen Momenten eine Diskurseinheit entsteht, wann sie wie abgeschlossen wird, welche Jobverteilung vorliegt und wie die Jobs ausgeführt werden. • Das intensive, mehrmalige Beobachten der Performanceerzählerinnen und -erzähler anhand der Videoaufnahmen machte mich auf die unter‐ schiedliche Rollengestaltung aufmerksam, die ganz offensichtlich Teil der Inszenierung (Kriterium 5.e) der Performance ist. Sie wirkt sich auf das 9.4 Interpretation der Analyseergebnisse als Zwischenfazit 337 <?page no="338"?> Gesamtkonzept der Inszenierung aus - auf die Erzeugung von Spannung, auf die Körperlichkeit der Darstellung, auf die Beziehung zwischen Er‐ zählenden und Publikum und letztlich auf den (in Kap. 10 noch zu ana‐ lysierenden) performativen Pakt. Aus diesem Grund wird die Ausgestal‐ tung der Erzählerrolle als Element des Inszenierungskriteriums in die performative Dimension aufgenommen. Veränderungen des Rekonstruktionsmodells (FDM-R) Eine überraschende Entdeckung bei der Analyse der Rekonstruktionen bestand in der Feststellung, dass tatsächlich unterschiedliche Diskursarten des Archi‐ terms Erzählen 1 wie Beschreiben oder Berichten (Kap. 3.2.1) verwendet wurden, und zwar als Vorstufen zum Gebrauch von Erzählen 2 , das dem narrativen Dis‐ kurs vorbehalten ist. Die Verwendung dieser Varianten der narrativen Dis‐ kursart bzw. ihre Ablösung durch Erzählen 2 kann als Signal für die Entwicklung eines narrativen Diskurses angesehen werden. Sie wird deshalb in das Kriterium der Diskursmarkierung (Kriterium 2.a) und der Entwicklung des narrativ-per‐ formativen Genres (Kriterium 3.b) aufgenommen. Eine weitere überraschende Entdeckung bestand in der Rolle der Lehrkräfte in der narrativen Interaktion der Rekonstruktionsgespräche. Während der nar‐ rativen Gespräche griffen sie gefragt und ungefragt unterstützend in die Bei‐ träge der Lernenden ein, bei den Präsentationen übernahmen sie lediglich kurze einleitende und abschließende Beiträge und stützten auf diese Weise die Eigen‐ ständigkeit der Lernenden. Zur Verdeutlichung dieser interaktionellen Unter‐ schiede und zur Präzisierung der unterstützenden Eingriffe konnte ich auf Im‐ pulse der Studie von Flader / Hurrelmann 1984 und Schramm (2006) zurückgreifen und sie mit denen der Erzähldidaktik (Kap. 5.3.1) verbinden. Ei‐ nige schemastützende Strategien der Lehrkräfte habe ich als Indikatoren in das Kontinuum des Lehrkräfte-Scaffolding (Kriterium 4.a des FDM-R) aufgenommen wie z. B. Bestätigung und Verstärkung von Beiträgen und das Initiieren einer Expansion. Weitere, erhebliche Veränderungen betreffen die Interaktion zwischen den Lernenden (Kriterium 4.a des FDM-R) sowie die von ihnen zum Einsatz ge‐ brachten Kommunikationsstrategien und performativen Gestaltungsmittel (Kri‐ terien 5.b, 5.c des FDM-R). Dies ist auf die Unterschiedlichkeit der narrativen Aufgaben, der Rekonstruktionsgespräche und deren Zielprodukte zurückzu‐ führen. Diese Faktoren waren im Rekonstruktionsmodell zwar vorgesehen, sie sind jedoch so erheblich, dass eine Aufteilung in zwei Varianten desselben Mo‐ dells sinnvoll ist. Deshalb habe ich den Impuls der empirischen Studie von Diehr-Frisch 2008 (Kap. 2.5) zur Gestaltung von Beobachtungbögen mündlicher 9 Analyse von zwei unterschiedlichen Erzählstunden zu demselben Mädchen 338 <?page no="339"?> 49 Die Modelle sind als „Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse produktiver Narrativie‐ rungsleistungen in Rekonstruktionsgesprächen - Zielprodukt: performativ gestaltete Wort-Bilder-Serie (FDM-R-WBS)“ in Anhang 11 und als „Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse produktiver Narrativierungsleistungen in Rekonstruktionsgesprächen - Ziel‐ produkt: performativ gestalteter Vortrag von Fortsetzungsgeschichten (FDM-R-V)“ in Anhang 12 dokumentiert. Die in Kapitel 9.4 vorgenommenen Erweiterungen sind farb‐ lich markiert. Sprechleistungen aufgenommen. Ich werde wie dort praktiziert (Diehr / Frisch 2008: 64ff.) die Fünf-Dimensionen-Struktur und die wichtigsten Analysekrite‐ rien beibehalten und damit die Modelle einheitlich gestalten. Die Kriterien zur Analyse der Interaktion und der Präsentation der narrativen Produktionen der Lernenden werde ich jedoch der jeweiligen Präsentationsform und dem perfor‐ mativen Genre anpassen. Auf diese Weise entstehen zwei genrespezifische Va‐ rianten zur Analyse produktiver Narrativierungsleistungen: eines für die Wort-Bilder-Serie (FDM-R-WBS), eines für den performativ gestalteten Vortrag (FDM-R-V) 49 . Sie unterscheiden sich in folgenden Aspekten: • In der dritten Dimension beider Modelle (FDM-R-WBS, FDM-R-V) geht es weiterhin um die Präsentation des jeweiligen Endprodukts, allerdings unter dem Aspekt seiner allmählichen Konstruktion im Medium der Mündlichkeit. Die Frage nach den Veränderungen des Diskurses wird nunmehr genrespezifisch formuliert (Kriterium 3.b). • In beiden Modellen wird in der vierten Dimension unterschieden zwi‐ schen den Interaktionen unter den Lernenden und dem Scaffolding der Lehrenden. • In der fünften Dimension beider Modelle wird das Kontinuum der Pro‐ blemlösestrategien (Kriterium 5.b) und das Kontinuum der performativen Strategien (Kriterium 5.c) dem zu realisierenden Genre angepasst. Die Grundstruktur der Fünf-Dimensionen-Modelle hat sich unter erzähltheo‐ retischen, performativen und diskursanalytischen Aspekten als konsistentes, flexibel handhabbares Erzählmodell erwiesen. Für die Anwendung des Modells auf weitere narrativ-performative Genres wie z. B. eine szenische Lesung, ein Rollenspiel oder andere Spielaktionen müssten vor allem die Kriterien der vierten und fünften Dimension angepasst werden. 9.4 Interpretation der Analyseergebnisse als Zwischenfazit 339 <?page no="340"?> 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden Kapitel 10 geht der Frage nach den Potenzialen mündlichen Erzählens als Per‐ formance aus der Sicht der beteiligten Lehrkräfte und Lerngruppen nach. Es untersucht, welche Erfahrungen und Erkenntnisse Lehrende und Lernende als Akteure der Erzählstunden gewinnen konnten und leitet aus den Reflexionen der Akteure die von ihnen entdeckten Potenziale mündlichen Erzählens ab. Das empirische Material zur Analyse der Akteure-Perspektive stellen die im An‐ schluss an die Erzählstunden durchgeführten Leitfadeninterviews bereit. Die beiden ersten Kapitel (Kap. 10.1 und 10.2) untersuchen die Reflexionen der Lehrenden und Lernenden zunächst zur ersten, dann zur zweiten Erzähl‐ stunde und vergleichen die Ergebnisse mit denen der Videoanalyse. Dieser Ver‐ gleich stellt eine erste Interpretation der Ergebnisse dar. Das dritte Kapitel (10.3) fügt zwei weitere Interpretationen hinzu. Dabei werden die Ergebnisse der In‐ terviewanalyse im Hinblick auf die Weiterbildung (10.3.1) und im Hinblick auf die von den Akteuren der Erzählstunden entdeckten Potenziale mündlichen Er‐ zählens als Performance (10.3.2) ausgewertet. 10.1 Die Reflexionen der Lehrenden und Lernenden zur ersten Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Erzählstunde Die Analyse der Interviews orientiert sich an den Kategorien der beiden Kate‐ goriensysteme der Lehrenden- und der Lernenden-Interviews (Kap. 8.3.2.5), die durch zusammenfassende Inhaltsanalyse in vier Arbeitsschritten (Kap. 8.3.2.4) gewonnen wurden. Die Kriterien der Fünf-Dimensionen-Modelle (FDM-P, FDM-R) werden in die Analyse einbezogen. Zur Analyse der Ankerbeispiele werden textsemantische Verfahren eingesetzt. 10.1.1 Erste Eindrücke Auf die Frage nach ihren ersten Eindrücken (Interviewfrage 1, Tab. 13, Kap. 8.3.2.1) nennen beide Lehrkräfte ihre Zufriedenheit mit dem Diskursverstehen der Lernenden, mit deren Interesse am Zuhören und am Erzählen in Bild und <?page no="341"?> Wort. Für diese Einschätzung der Leistungen der Schülerinnen und Schüler lie‐ fern sie im Laufe des Interviews Argumente und Beobachtungsbeispiele und nehmen im Gegenzug ihre eigenen Aktionen kritisch in den Blick. Analog gehen die Lernenden vor. Ihre Argumentation beruht auf genauen Beobachtungen ihrer eigenen Aktionen und der ihrer Partnerinnen und Partner. Ihren eigenen Leistungen stehen sie einerseits kritisch gegenüber, andererseits betonen sie, ebenso wie die Lehrkräfte, ihre Zufriedenheit. Eine wichtige Rolle in der Argumentation beider Gruppen spielen einige ex‐ pressive, dem jeweiligen Gruppenjargon zugehörige Attribute. So verwenden die Lehrenden häufig das Attribut „stimmig“, die Lernenden die Attribute „witzig“ oder „ausgeflippt“, um Sachverhalte und Vorgänge zu illustrieren. Welche Bedeutungen, welche Bewertungen sind diesen Attributen inhärent? Welche Zusammenhänge machen sie sichtbar? Da sie auffallend häufig und in wechselnden Zusammenhängen gebraucht werden, wird die sprachliche Ana‐ lyse der Interviewtexte ihnen besondere Aufmerksamkeit widmen. 10.1.2 Die erste Hauptkategorie: Reflexionen der Erzählung Die Erzählung wird unter unterschiedlichen Aspekten kommentiert. Die Lehr‐ kräfte erläutern deren Eignung für das Erzählen vor ihrer Lerngruppe und stellen vor diesem Hintergrund Vermutungen über das Interesse der Lernenden an. Die Lernenden erläutern ihr Interesse als Rezipientinnen und Rezipienten und nennen darüber hinaus charakteristische Merkmale der Erzählung. Die Eignung der Erzählung aus der Perspektive der Lehrenden Eine Lehrkraft sieht ihre Zweifel an der Eignung des Märchens (Kap. 3.4) für eine Lerngruppe der Sekundarstufe I zerstreut. Sie habe feststellen können, dass die ausgewählte Erzählung das Märchengenre mit einer interessanten Struktur und Thematik verbindet: LK1: Kann man in dem Alter Märchen erzählen? Funktioniert das überhaupt? Hören die da zu, finden sie das jetzt nicht völlig affig? Und dann dacht' ich, diese Kettenge‐ schichte war ja das, was uns interessiert hat, weil es um den Tausch ging. Das ist ja 'ne Ebene, mit denen auch Schüler in diesem Alter was anfangen können. (ILKT-EZ / 1: 2) Die Thematik wiederum sei nach einem für die Lerngruppe interessanten Spiel‐ prinzip arrangiert und von einer interessanten Figur gezeigt. Damit führt die Lehrkraft als Argument für die Eignung der Geschichte deren Darstellungsqua‐ lität (Kriterium 1.a des FDM-P) an. Ihre Teamkollegin fügt hinzu, dass die Eig‐ 10.1 Die erste Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Stunde 341 <?page no="342"?> nung der Erzählung auf der Herkunft des Märchens aus Afrika beruht. Die Fremdheit dieser Welt schaffe eine Distanz, die Annäherung ermöglicht. LK1: Ich glaube, es ist ihnen leichter gefallen, ein afrikanisches Märchen zu hören, als sei es ein deutsches gewesen. […] Ich denke, das schafft so 'ne Form von Distanz, die es dir ermöglicht, dich dann darauf einzulassen. (a. a. O.) Die Problematik des Erzähltextes sehen beide Lehrkräfte in der Reimstruktur. Das Prinzip des Von-Hinten-Aufrollens der Handlung (Kap. 9.1.1) sei schwer zu verstehen, zu memorieren und zu performieren. Eine Lehrkraft ist der Ansicht, die Umkehrung der Chronologie konterkariere den Gewinn, der durch das Prinzip der Wiederholung erzielt werde. Ihre Partnerin wendet ein, dass gerade durch diese komplizierte Struktur eine Brücke zu den Rezipierenden geschlagen werde. Sie verbindet ihr Argument mit dem bereits erwähnten Attribut der Stimmigkeit: LK1: Das finde ich eigentlich nämlich, wenn ich jetzt an das Alter der Schüler denke, auch stimmig, dass es da ein bisschen kompliziert ist. (ILKT-EZ / 1: 4) Mit dem Attribut „stimmig“ stellt die Lehrkraft einen Zusammenhang zwischen Textstruktur und Interesse der Hörerinnen und Hörer her. Sie geht von einer textinternen Adressierung ‚auf Augenhöhe‘ (Kap. 3.4) aus, die zur Eignung der Geschichte beiträgt. Das Interesse der Rezipierenden aus der Perspektive der Lehrenden Beide Lehrkräfte stimmen überein, das Hauptinteresse der Schülerinnen und Schüler bestehe darin, den Diskurs zu verstehen: LK2: Ich glaube, dass ihnen die Geschichte gefallen hat, wobei ich eher denke, ehm, dass es ihnen besonders deshalb gefallen hat, weil sie zum Schluss verstanden haben. […] Ich glaube, je eher sie dann klar war auch, desto, desto mehr haben sie auch daran Gefallen gefunden. (ILKT-EZ / 1: 2) Die in der Lerngruppe unterrichtende Lehrkraft geht davon aus, dass die Ge‐ schichte auch deshalb gefallen hat, weil sie unterschiedliche Angebote für un‐ terschiedliche Interessen bereithalte. Den Analytikern, die sie durch die Jungen-Gruppe vertreten sieht, liefere sie Material zum Forschen: „Ehm, die forschen 'n bissel mehr nach und da kann man auch 'n bissel tiefer gehen.“ (ILKT-EZ / 1: 3) Die Mädchen hätten mehr Interesse daran, an der Textoberfläche zu bleiben und Emotionen zu artikulieren. Sie bestätigt damit eine Beobachtung ihrer Partnerin, der auffiel, dass die Jungen größere Schwierigkeiten beim Spre‐ chen hatten als die Mädchen, denen das Formulieren mehr Spaß machte. 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 342 <?page no="343"?> Merkmale und Bewertungen der Erzählung aus der Perspektive der Lernenden Auf die Frage nach den Charakteristika der Geschichte führen die Lernenden vor allem prototypische Merkmale inhaltlicher Narreme (Kriterium 1.b des FDM-P) wie die Opposition der Brüder, die Geschenkvergabe, die Tauschge‐ schäfte des Protagonisten und die Heirat als Happy End an. Sie benennen Ver‐ knüpfungsprinzipien wie das Gebe-Nehme-Prinzip, das Nützlichkeitsprinzip und die Zielgerichtetheit der Handlung. Sie sprechen damit Elemente prototy‐ pischer syntaktischer Narreme (Kriterium 1.c des FDM-P) an. Das Märchenhafte der Geschichte in Verbindung mit einer merkwürdigen, skurrilen Handlung und erstaunlichen Figuren erscheint einigen Schülerinnen und Schülern, wie von den Lehrkräften vermutet, erwähnenswert: 1CPhm: Ein bisschen komisch, dass er denn das alles eingetauscht hat und am Schluss die, dieses Mädchen gegen 'nen Sack Fische eingetauscht hat, aber ja, ist halt so ein afrikanisches Märchen. 1CRom: Ja, war auch komisch, dass der Fluss einfach gesprochen hat. 1CChw: Ist so bei Märchen. (ISchT-EZ / 1C: 2) Als wichtigstes Argument für ihr Interesse an der Geschichte führen sie, wie die Lehrkräfte vermuteten, übereinstimmend als zentrale Begründung an, dass sie sie verstehen konnten. Eine Schülerin verknüpft das Verstehensargument mit der Darstellungsqualität, hier der Technik szenischer Gestaltung der Geschichte: 1AJuw: Ehm, das Ende hat mir gefallen, weil, ehm, also wie die sich, ich hab' s auch auf dem Bild so gezeichnet, weil die Szene mir gefallen hat, einerseits, ehm, dass am Ende der chef, äh, den Jungen fragt, äh: „Was willst du gegen die Fische? “ Und er dann antwortet: „Ich will deine Tochter! “ Das fand ich also, das war auch eine Szene, die ich verstanden habe, darum hat sie mir wahrscheinlich am meisten gefallen. (ISchT-EZ / 1A: 2f.) Es liegt jedoch nicht nur an der szenischen Gestaltung der Episode, sondern auch an dem, was verhandelt wird. Den Tausch ‚Fische gegen Tochter‘ be‐ zeichnet die Schülerin im Folgenden als „witzig“. Befragt, was sie unter dem Attribut „witzig“ versteht, erläutert sie, dass sie damit komisch im Sinne von „lustig“, aber auch im Sinne von bemerkenswert, merkwürdig meint. Als Be‐ gründung gibt sie an, dass der Tausch ‚Fische gegen Tochter‘ nicht nur „lustig“ sei, sondern 1AJuw: […] auch traurig, weil, weil diese Vögel, die die Mutter von diesem Jungen ihm geschenkt hat, ja jetzt aufgegessen wurden. Zwar sind die auch dafür da, aber, 10.1 Die erste Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Stunde 343 <?page no="344"?> 1 Dazu gehören auch die von einer Schülerin (1AMew) verwendeten Attribute „niedlich“ („Ich fand das eigentlich voll niedlich von ihm […]“: ISchT-EZ / 1A: 3) oder „süß“ („Also ich mag Märchen, ich find‘ die ganz süß“: a. a. O.). keine Ahnung, das war jetzt etwas, was die Mutter ihm gegeben hat. Ja. (ISchT-EZ / 1A: 3.) Das Argument des Witzes der Geschichte wird von zwei Gesprächspartnerinnen weitergeführt und auf die situation finale, das Verschwinden des Bruders und die Nähe zum Märchen von Rumpelstilzchen übertragen: 1AHaw: Das kennen wir ja von Rumpelstilzchen, und Rumpelstilzchen fand ich auch witzig, deswegen fand ich das Ende ja auch witzig. (a. a. O.) 1AMew: Ich fand’s eigentlich auch witzig, also das Ende. Und dass, ich glaub der Fluss hat auch irgendwie geredet, das fand ich auch irgendwie … [Der Rest des Satzes geht in gemeinsamem Lachen unter.] (a. a. O.) Im Wortfeld des Witzes bewegt sich eine weitere Schülerin, die der Geschenk‐ vergabe etwas „Ausgeflipptes“ zuschreibt: 1CChw: „Na, ehm, na dis mit den roten Vögeln. Das war mal was Ausgeflipptes.“ (ISchT-EZ / 1C: 1) Die von den Schülerinnen verwendete Begrifflichkeit gehört vermutlich zum seinerzeit an‐ gesagten Jargon 1 , ist aber auch dem Versuch zuzuschreiben, ihre Wertschätzung für die zum Ausdruck gebrachten Emotionen ‒ das Hin und Her zwischen Fröh‐ lichkeit und Trauer ‒ und für die Erlebnisqualität der Geschichte in Worte zu fassen. Auch die Assoziationen mit europäischen Märchen haben Schülerinnen und Schülern gefallen, und nicht nur die mit Rumpelstilzchen: 1CBem: Mich hat das Ganze an Hans im Glück erinnert. (ISchT-EZ / 1C: 1) 1CRom: Ja, ich auch, ich dachte auch so an Hans im Glück. Bloß in Afrika. (a. a. O.) In das als merkwürdig, als fremd Empfundene der afrikanischen Märchenwelt mischt sich also Vertrautheit mit dem Genre. Neben diesen positiven Einschätzungen gibt es auch zwei Schülerinnen‐ stimmen, die Vorbehalte äußern. Der Spannungsaufbau am Höhepunkt der Ge‐ schichte treffe die Zuhörenden zu unerwartet, zu schnell, gemessen an den an‐ sonsten eher ruhig verlaufenden Handlungsstationen. Neben den genannten ausdrucksstarken Attributen wird die Geschichte be‐ legt mit Beurteilungsindikatoren wie „ganz o. k“ (3-mal), „ganz gut“ (4-mal), „gut“ (2-mal), „interessant“ (2-mal), was als Indiz für eine im Großen und Ganzen positive Einschätzung der Geschichte gewertet werden kann. 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 344 <?page no="345"?> Zusammenfassung Aus den positiven Argumenten der Akteure lässt sich schließen, dass sie der Geschichte Erzählwürdigkeit (Kap. 3.2.3 und Kriterium 1.f des FDM-P) zu‐ schreiben. Diese beruht aus Sicht beider Gruppen auf der Gestaltung der in‐ haltlichen und syntaktischen Narreme, die ihrerseits die Grundlage für die Dar‐ stellungs- und Erlebnisqualität der Geschichte bilden, wobei die Lernenden im Unterschied zu den Lehrenden größeren Wert auf die Darstellungs- und Erleb‐ nisqualität legen. Besonders hervorgehoben wird die Kombination von Ketten‐ struktur, Märchengenre und Merkwürdigkeit der dargestellten Welt. Was die Lehrkräfte hier als stimmig bezeichnen, stellt für die Lernenden den Witz der Geschichte dar. Aus der Vielfalt ihrer Argumente lässt sich schließen, dass die Erzählwür‐ digkeit der Geschichte in der Vielfalt des Angebots ‒ inhaltlichen, sprachlichen, strukturellen Angeboten ‒ begründet liegt. Voraussetzung für den Genuss der Erzählwürdigkeit ist allerdings die Erfahrung der Lernenden, dass sie die Ge‐ schichte verstehen konnten. Die Verständlichkeit der Erzählung ist für sie das erste und wichtigste Kriterium ihrer Erzählwürdigkeit. 10.1.3 Die zweite Hauptkategorie: Reflexionen der Erzählstunde Als Vorbereitung auf die Erzählstunde nennen die Lehrkräfte eine in Lese- und Hörtexte integrierte Wortschatzarbeit und die Einbettung der Geschichte in eine Unterrichtssequenz zum Thema Afrika. In diesem Kontext fand auch eine Ein‐ führung in die Maltechnik und das Material (Röteln, Kohle) statt. Was die Wort‐ schatzarbeit betrifft, so kann man davon ausgehen, dass die zentralen sprachli‐ chen Elemente zur Bezeichnung der Figuren, Orte und Tauschgegenstände erarbeitet wurden. Die Konzeption der Erzählstunde Die Grundprinzipien des Unterrichtsdesigns (Kap. 9.2.1) würden beide Lehr‐ kräfte auch bei einer erneuten Planung und Durchführung der Erzählstunde beibehalten. Bedenken an der Auswahl der Geschichte und an der Festlegung auf ein nicht spontanes, vorbereitetes Erzählen äußert eine der beiden Partner‐ innen. Für die Ziele dieser Stunde sei das ausgewählte Märchen geeignet, aber ihre Performanceerfahrungen (Kap. 10.1.4) führten sie dazu, in Zukunft lieber eigene Geschichten zu erzählen. Positiv beurteilen die Lehrkräfte die durch‐ gängig realisierte Einsprachigkeit und Mündlichkeit, wobei die unterrichtende 10.1 Die erste Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Stunde 345 <?page no="346"?> Lehrkraft anmerkt, dass dies eine Besonderheit der Erzählstunde darstellt, denn: „Ich mache sonst nicht reinen Französischunterricht.“ (ILKT-EZ / 1: 18) Für die Lernenden ist der sprachliche Input der Lehrkräfte zwar ungewöhn‐ lich, aber gleichzeitig auch willkommen: 1AJuw: Ich fand's auch gut, weil, ehm, also so 'ne ganze Stunde nur Französisch spre‐ chen sind wir nicht gewohnt, weil meistens im Unterricht sprechen wir auch ab und zu Deutsch […]. Und das war sehr gut, dass wir so nur Französisch gespro…, also nicht wir, sondern die Lehrer nur Französisch gesprochen haben. (ISchT-EZ / 1A: 7) Dasselbe gilt aus Sicht einer Gruppe der Lernenden für die Partizipation der unterrichtenden Lehrkraft, das inhaltliche Angebot und die sprachliche He‐ rausforderung: 1CChw: War eigentlich ganz gut, war mal was anderes. War mal, keine Ahnung, guter Einfall. Also auch dass Frau LK2 das halt mitgemacht hat. […] 1CKem: Es war mal was anderes, nicht immer nur Theorie, Satzbau und so was. 1CRom: War toll, aber war ein bisschen schwer verständlich, das Französisch. (ISchT-EZ / 1C: 4) Für eine weitere Gruppe besteht das „mal was anderes“ im spielerischen me‐ thodischen Ansatz: 1BSyw: Mir hat es auch ganz schön viel Spaß gemacht, und vor allem, das war mal was anderes, und man hat auch viel gelernt so, aber halt nicht so …, halt auch so ein bisschen spielerisch gelernt. (ISchT-EZ / 1B: 5) Die narrative Aufgabe Die Lehrkräfte gehen davon aus, dass das bildliche Narrativieren eine Ausei‐ nandersetzung mit der Struktur der Geschichte und der Chronologie der Epi‐ soden erforderlich machte. Und diese Auseinandersetzung habe zum Diskurs‐ verstehen beigetragen. Von Seiten der Lernenden wird übereinstimmend geäußert, das Zeichnen und das Präsentieren der Zeichnungen hätten großen Spaß bereitet ‒ nicht zuletzt deshalb, weil man sie zur Dokumentation des eigenen Diskursverstehens ein‐ setzen konnte: 1BHem: Ich glaube, man konnte auch mit den Bildern ein bisschen zeigen, dass man etwas verstanden hat. (ISchT-EZ / 1B: 6) Ein Schüler (1CPhm) führt aus, dass die Verwendung der Bilder in den Rekon‐ struktionsgesprächen zum Verstehen der Geschichte beigetragen habe: „Also, 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 346 <?page no="347"?> ich hab das dann auch erst am Schluss mit den Bildern verstanden.“ (ISchT-EZ / 1C: 6) Beide Schüler verweisen damit auf die prozesshafte Entwicklung ihres Verstehens, die sie u. a. auf die mehrfache Verwendung der Bilder zurückführen. Das anvisierte Stundenziel, den Lernenden mithilfe der Malaufgabe einen persönlichen Zugang zur Geschichte und günstige Voraussetzungen für das ge‐ meinsame Erzählen zu schaffen (Kap. 9.2.1), sehen beide Lehrkräfte erreicht: LK1: Ehm, das Zeichnen war gut, um noch mal einen anderen Stichpunkt, also einen persönlichen Zugang zur Geschichte zu finden, und weil's 'ne Hilfe ist, dass man etwas in der Hand hat. (ILKT-EZ / 1: 1) Die Äußerungen der Lernenden bestätigen diese Annahme. Der persönliche Zugang zur Geschichte bestand für sie in der Chance, ihre eigene Rezeption der Geschichte zum Ausdruck bringen zu können: 1AHaw: […] aber ein anderer sieht das eben anders in dem Gesamten, und dann konnte er es auch anders ausdrücken. So wie ich und 1AJuw. Wir haben ja das Gleiche ge‐ zeichnet, aber eben auch anders, weil wir es uns anders vorgestellt haben. (ISchT-EZ / 1A: 9) Dabei spielte für die Lernenden die Offenheit des Arbeitsauftrags die Rolle eines Türöffners: 1AJuw: Ehm, ja dass wir das so malen konnten, wie wir uns das vorgestellt haben, als wir die Geschichte gehört haben. Und dass nicht irgendwie gesagt wurde, was wir malen sollen. (ISchT-EZ / 1A: 9) Zusammenfassung Aus den Argumenten der Lehrenden und Lernenden lässt sich schließen, dass ihre positive Beurteilung der Erzählstunde auf deren handlungsorientierter Konzeption beruht: der zweimal durchgeführten Erzählperformance, der Zei‐ chenaufgabe und der verbalen Rekonstruktion der Geschichte anhand der Zeichnungen. Als weitere, positiv beurteilte Gestaltungsprinzipien werden von beiden Seiten die durchgängige Einsprachigkeit und Mündlichkeit, von Seiten der Lernenden zusätzlich der spielerische, kreative Ansatz der Erzählstunde ge‐ nannt. Im Zentrum der Reflexionen steht die Rolle der narrativen Aufgabe. Beide Seiten stimmen darin überein, dass sie eine motivierende Form der individu‐ ellen, non-verbalen Verarbeitung der Geschichte und eine Verstehens- und For‐ mulierungshilfe für die zu leistende verbale Rekonstruktion der Geschichte dar‐ stellt. 10.1 Die erste Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Stunde 347 <?page no="348"?> 10.1.4 Die dritte Hauptkategorie: Reflexionen der Erzählperformance Die Äußerungen der Akteure zur Durchführung der Erzählperformance weisen größere Unterschiede auf als die zu den ersten beiden, auf die Planung bezo‐ genen Kategorien. Dies liegt daran, dass beide Gruppen nunmehr einerseits als Beobachter der anderen Gruppe antworten, andererseits über ihre eigenen men‐ talen Prozesse, z. B. ihre Lernstrategien, und ihre Gefühle als Performerinnen und als Publikum Auskunft geben. Die Gestaltung der Erzählperformance Was die Inszenierungsstrategien betrifft, so steht für beide Gruppen das Teamerzählen im Vordergrund. Die Rollenverteilung Erzähler-Figurenrede hatten die Lehrkräfte mit der Begründung verworfen, ein ständiger, vom Er‐ zähldiskurs geforderter Wechsel würde Unruhe in die Performance bringen, und sich stattdessen für eine sequenzielle Verteilung (Kap. 9. 2.2.2) entschieden. Mit dieser Lösung sind sie zufrieden, weil auf diese Weise jede Erzählerin ihren ei‐ genen Erzählduktus realisieren und das Publikum sich auf den Erzählerinnen‐ wechsel einstellen konnte. Die Lernenden heben das Teamerzählen der Lehrkräfte positiv hervor. Zum einen sei dies für die Performerinnen selbst von Vorteil, denn, „wenn immer nur einer spricht, irgendwann kann man ja vielleicht nicht mehr die ganze Zeit lesen und erzählen“ (1AHaw: ISchT-EZ / 1A: 7), zum andern sei der Sprecherinnen‐ wechsel aufmerksamkeitsfördernd: 1AMew: Ich fand's eigentlich auch gut, dass zwei gesprochen haben. Vielleicht nich' aus dem gleichen Grund, aber weil die Schüler dann auch irgendwie unaufmerksam werden, wenn immer der Gleiche erzählt oder vorliest. (ISchT-EZ / 1A: 7) Performancestrategien und Performancegefühle aus der Sicht der Lehrenden Die Lehrkräfte sprechen zwei Performancestrategien an. Die erste betrifft die Modulation der Stimme. Eine Performerin ist der Ansicht, die Stimmgebung zur Charakteristik der Figuren und die Stimmführung zur Markierung von Figu‐ renrede sei überflüssig gewesen, weil die Zuhörer ihrem Eindruck nach diese Unterstützung gar nicht brauchten. Das sehen, wie in der Folge gezeigt wird, die Lernenden anders. Der zweite Aspekt betrifft die Gestaltung des Reims. Dieser sei, wie die unterrichtende Lehrkraft ausführt, „doch schwieriger als man so denkt.“ (LK2: ILKT-EZ / 1: 11). Ihre Performancepartnerin sieht darin ebenfalls 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 348 <?page no="349"?> eine Herausforderung. Dass sie dafür keine befriedigende Lösung gefunden hat, stellt einen neuralgischen Punkt ihres Performancegefühls dar. Was ihre Performancegefühle betrifft, so weichen Eindrücke und Erfah‐ rungen der beiden Performerinnen stark voneinander ab. Die für die Höhe‐ punktszene zuständige Performerin hatte ein überwiegend gutes Performance‐ gefühl. Aber der Refrain! An dieser Stelle findet wieder der Begriff des Stimmigen Anwendung, diesmal ex negativo. Das Nicht-Stimmige des Reims sei für sie ein Hindernis gewesen, ihren Sprechrhythmus zu finden. Sie sei zwar zufrieden mit der Gestaltung der Szene, aber schwierig war: LK1: Na, dass er nachher seinen Spruch wieder sagen soll, und ich wusste, ich habe keine Lust, diesen Spruch zu sagen. (ILKT-EZ / 1: 11) Ihre Teampartnerin nimmt ihre Kritik des nicht spontanen, freien Sprechens (Kap. 10.1.3) wieder auf. Sie habe sich zeitweise wie „in so 'nem Korsett“ (LK2: ILK-EZ / 1: 10) gefühlt. Passagen, die sie gut memorieren und deshalb frei spre‐ chen konnte, hätten ihr jedoch die Möglichkeit verschafft, in Blickkontakt mit ihrem Publikum zu treten und dessen konzentriertes Zuhören wahrzunehmen. Das Wahrnehmen der Publikumskonzentration und das Aufrechterhalten ihrer eigenen Konzentration sind für beide Performerinnen eine wichtige Vo‐ raussetzungen für ein gutes Performancegefühl. Das zweite ist schwierig, wenn man im Team erzählt: LK1: Ehm, weil du zwischendurch immer wieder so ein bisschen draußen bist. Und du musst immer wieder reinkommen. (ILKT-EZ / 1: 13) Die Metapher vom ‚Draußen-Sein‘, vom ‚Rein-Kommen‘ und vom ‚Drin- Bleiben‘ in der Geschichte und in der Performance wird von beiden Akteuren immer wieder verwendet, um die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Auf‐ merksamkeit gegenüber der Geschichte und den Erzählpartnerinnen und -part‐ nern anzuzeigen. Performancestrategien und Publikumsgefühl aus der Sicht der Lernenden Die Lernenden sehen die Performancestrategien ‒ wie zuvor die Erzählung ‒ vor allem unter dem Aspekt des Verstehens. Als performative, ihr Verstehen stützende Strategien (Kriterium 5.a des FDM-P) nennen sie: • sprachbegleitende, illustrierende gestische Zeichen, die Darstellungs‐ funktionen übernehmen, • Gesten zur Darstellung einer Handlung mit einem Objekt, • mimische Zeichen, 10.1 Die erste Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Stunde 349 <?page no="350"?> • paralinguistische Zeichen zur Gliederung des Diskurses und stimmliche Qualität zur Identifikation einer Figur. Die Verwendung illustrierender Gesten bezeichnen sie als ‚Reden mit Händen und Füßen‘ oder als ‚Handbewegungen / Zeichen machen‘. Eine Schülerin (1AJuw) merkt an: „Die haben auch was gebracht.“(ISchT-EZ / 1A: 4) Was die mimischen Zeichen betrifft, so wird das Modellieren der Gesichtszüge zur Dar‐ stellung der wechselnden Gefühle des Protagonisten genannt: 1AHaw: Und ja, und immer dann, wenn er mal traurig wurde oder so, hatte der immer seine Gesichtszüge ein bisschen geändert. Das hab ich auch verstanden. (ISchT-EZ / 1A: 4) Als die Rede gliedernde Zeichen werden Tonhöhe, Akzentuierung und deutliche Artikulation angesprochen. Besonders hervorgehoben werden Stimmführung und Stimmqualität. Die Erfahrungen der Lernenden entsprechen insofern nicht dem Eindruck der Lehrkraft, sie hätte auf eine prosodische Markierung des Sprecherwechsels und der Stimme der Protagonisten-Figur verzichten können. Im Gegenteil, das zuhörende Publikum achtet auf die prosodische Gestaltung und nutzt sie für ihr Diskursverstehen. Eine Schülerin kann mithilfe der Stimm‐ modulation die Figurenrede identifizieren: 1AMew: Beim Zuhören fand ich's auch gut, dass die, ehm, also es betont haben. Also, man hat es gehört, dass einer gesprochen hat. Das fand ich gut. (ISchT-EZ / 1A: 9) Zwei andere Schülerinnen erkennen an der steigenden und fallenden Intonation einen Sprecherwechsel und können mithilfe der Intonation Figuren identifi‐ zieren: 1AMew: Weil die auch betont haben, und wenn einer was gesagt oder wenn ein Mann was gesagt hat, die auch tiefer gesprochen haben und so. (ISchT-EZ / 1A: 6f.) Einem Schüler (1BHem) fällt die Stimmmodulation zum Ausdruck von Emoti‐ onen auf. Er habe bemerkt, „dass bei traurig, dass [es] bei traurigen Momenten immer runter geht, in glücklichen eher nach oben.“ (ISchT-EZ / 1B: 6) Das genaue Hinhören, aber auch das genaue Hinschauen lässt die Lernenden Performancestrategien, hier die Gestik zur Darstellung einer Handlung, er‐ kennen und die anschauliche, poetisch gestaltete Szene genießen: 1BZaw: Ehm, als Frau LK1, ehm, also so getan hat, als hätte sie da 'ne Trommel, und hat dann auch auf die Beine so getrommelt halt und hat auch ein bisschen den Text so gesungen. Das fand ich interessant, also das hat mir Spaß gemacht zuzuhören. (ISchT-EZ / 1B: 6) 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 350 <?page no="351"?> Das Singen des Klageliedes, verbunden mit der pantomimischen Gestaltung, war für das Publikum ein besonderes, ein ästhetisches Hör-Seh-Erlebnis. Das Inte‐ resse am Zuschauen und Zuhören, verbunden mit der Erfahrung, auf diese Weise ihr Diskursverstehen zu unterstützen, hat einen hohen Anteil an ihrem guten Publikumsgefühl. Die Unsicherheit und Unzufriedenheit der Performerinnen mit einigen Passagen werden von den Lernenden nicht bemerkt bzw. nicht the‐ matisiert, aber die unterschiedlichen Erzählweisen sind ihnen aufgefallen. Nicht nur die Eindringlichkeit der Trommelszene, auch das freie Sprechen der für diese Szene zuständigen Performerin wird erwähnt und von der Erzählweise der an‐ deren Performerin abgegrenzt. 1AJuw: Frau LK2 hat's nich' so witzig gemacht. […] Ihre Kollegin [lacht] hat ja nicht aufs Blatt geguckt, und das war so, ehm, ich kann's nicht begründen, aber irgendwie war's gut. Hat mir gefallen. (ISchT-EZ / 1A: 7) „Witzig“ steht auch hier (Kap. 10.1.1) für das Besondere, Bemerkenswerte, für das, was gefällt. Die Vorteile des Mediums Auch hier steht die Frage des Verstehens im Vordergrund. Die Schülerinnen und Schüler äußern Zweifel, dass sie Le conte des échanges, vermittelt über das Me‐ dium einer CD (Interviewfrage 5, Tab. 13, Kap. 8.3.2.1) hätten verstehen können. Als Begründung führen sie den audio-visuellen Aspekt, die Möglichkeit spon‐ tanen, flexiblen Reagierens und die direkte Kommunikation der Origo-Situation an. Das Audio-Visuelle sei abwechslungsreicher als die Konzentration nur auf das Hören. Die Performerinnen könnten ihre Sprechgeschwindigkeit regulieren und in der direkten Kommunikation könnten Passagen wiederholt und Fragen des Publikums direkt beantwortet werden. Dies gebe ihnen das Gefühl, in das Geschehen einbezogen zu sein. Die Rezeption der Erzählperformance Im Zentrum der Rezeptionsdiskussion steht die Frage nach dem Hör-Sehver‐ stehen der Lernenden und dem Einsatz von Rezeptionsstrategien. Was die Lehr‐ kräfte in diesem Kontext nur vermuten können, bestätigen und ergänzen die Lernenden. Das Hör-Sehverstehen der Lernenden Die Lehrkräfte gehen davon aus, dass bei den meisten Schülerinnen und Schü‐ lern ein Grobverstehen der Geschichte vorliegt, d.h. dass alle den Plot, nicht aber alle Details verstanden haben. Sie berufen sich dabei auf die Zeichnungen der 10.1 Die erste Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Stunde 351 <?page no="352"?> Schülerinnen und Schüler und die dort zutage tretenden Verstehensleistungen. Die Aussagen der Lernenden bestätigen diese Annahme. In den drei inter‐ viewten Gruppen wird der Plot der Geschichte korrekt wiedergegeben (Inter‐ viewfrage 6, Abb. 13, Kap. 8.3.2.1), die Figuren werden charakterisiert und das Nützlichkeitsprinzip wird genannt. Die Strategien des Hör-Sehverstehens der Lernenden Die Lehrkräfte vermuten, dass die Lernenden Techniken des Inferierens an‐ wenden, die sich in besonderer Weise zum Verstehen narrativer Diskurse eignen. Dazu gehört das Nutzen des einmal verstandenen Tauschprinzips, um den Ablauf weiterer Tauschepisoden zu antizipieren. Sie vermuten auch, dass die Lernenden ihr Vorwissen nutzen und Visualisierungstechniken einsetzen. Sie hätten sich von der szenischen Gestaltung des Diskurses und der Perfor‐ mance dazu inspirieren lassen, sich Szenen vorzustellen und damit für sich Be‐ deutung zu konstruieren. Das Verstehen eines Elementes, hier der Lexik ba‐ obab, in Verbindung mit dem Schauen der Trommelszene könne dies bewirken: LK2: So mit dem baobab, da habe ich das Gefühl gehabt, da haben viele so ein Bild vor Augen, ja. Wo, wo man so richtig so merkte, ach, das ist so ein Wiedererkennungs‐ zeichen, ne? Das ist ja der baobab, von dem haben wir mal gesprochen, und der sitzt da unter dem baobab und trommelt wunderbar. So ist das da. Mitten in Afrika. (ILKT-EZ / 1: 12) Zwei weitere Strategien entdecken die Lehrkräfte im Aufrechterhalten von Auf‐ merksamkeit und im Entwickeln von Selbstvertrauen. Allerdings formulieren die Lehrkräfte hier keine Beobachtungen, sondern eher ein Resumee ihres Re‐ flexionsprozesses nach den Erfahrungen mit der Erzählstunde: LK1: Ich finde es wichtiger, dass sie sozusagen sich nicht davon abhalten lassen, weiter zuzuhören […]. (ILKT-EZ / 1: 7) LK2: Ehm, man hatte dann auch mehr Mut und sagt, o. k., 'ne lange Geschichte, ich verstehe viele Vokabeln nicht, trotzdem habe ich 'ne Chance, die Geschichte zu ver‐ stehen. (ILKT-EZ / 1: 6) Das Resumee gipfelt in der Formulierung eines aus dieser Erfahrung abgelei‐ teten Leitziels des Fremdsprachenunterrichts: LK2: Das ist ja eigentlich auch so 'n Ziel vom Fremdsprachenlernen, wie ich mir das vorstelle. Dass also die Schüler immer mehr dazu kommen, dass sie in der Lage sind, so einen Text, größeren Text, war ja lang, war ja 'ne lange Geschichte, ehm, dass sie irgend 'nen roten Faden finden, dass sie sagen: Aha, so, da gibt's so ein paar Details, die sind mir nicht klar, trotzdem hab ich ungefähr, insgesamt das verstanden. Ja, das 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 352 <?page no="353"?> 2 Als ‚allgemeine‘ Rezeptionsstrategien bezeichne ich ‒ im Unterschied zu den ‚narrati‐ onsorientierten‘ Strategien ‒ die in Kapitel 6.2.2 aufgeführten Strategien, z. B. die vom GeR (Europarat 2001: 78) als Deskriptoren für unterschiedliche Niveaus der Sprach‐ verwendung (Niveau A2 bis C1) ausgewiesenen Rezeptionsstrategien (2001: 78). ist mir viel, viel wichtiger als dass sie irgendwelche Details wissen, aber das Große und Ganze nicht. (ILKT-EZ / 1: 6) Die Lernenden erläutern die Organisation ihres Verstehensprozesses anhand von Beispielen, die sich als Illustration von allgemeinen 2 und ‚narrationsorien‐ tierten‘ Rezeptionsstrategien (Kap. 6.2.1, 6.2.2) lesen lassen. Eine Schülerin erklärt, wie sie die wahrscheinliche Bedeutung unbekannter Wörter durch das Schließen von Verstehenslücken konstruiert: 1AHaw: Ja, also wenn man Wörter nicht versteht, dann kann man ja auch, wenn man ein anderes Wort versteht in diesem Satz, kann man jetzt irgendwie so verbinden miteinander. Dadurch kann man die dann auch verstehen, was sie vielleicht be‐ deuten. Ja, und so hab ich eben das verstanden. (ISchT-EZ / 1A: 5) Andere erklären ihr ‚intelligentes Raten‘ (Kap. 6.2.2) durch „[habe] dann aus‐ probiert, was das heißen könnte“ (1CRom: ISchT-EZ / 1C: 3) oder „[habe] ein‐ zelne Wörter genommen und dann geschaut, ehm, was halt 'nen Sinn ergibt, damit der Satz gut passt.“ (1CBem a. a. O.) Eine Schülerin beschreibt, wie es ihr bei der Konzentration auf buttom up-Strategien (Kap. 6.2.2) ergangen ist: 1AJuw: Bei mir war es so, wenn ich zum Beispiel zugehört habe und ein Wort nicht verstanden habe, habe ich über dieses Wort nachgedacht, und dann habe ich das, ehm, die Wörter, was danach kam, nicht wirklich verstanden. (ISchT-EZ / 1A: 6) Über gegenteilige Erfahrungen berichten ein Schüler und eine Schülerin. Indem sie auf textuelle Hinweise achten und Handlungsintentionen antizipieren, wenden sie eine Kombination von buttom-up und top-down-Strategien an: 1BHem: Ich habe versucht, den Sachen halt, zwischen diesen beiden Sachen, wo, die ich kannte, mir die vorzustellen, und dann zu überlegen, wie könnte es weiter gehen. ((? ? )) Ja, was ist zwischen den beiden passiert. (ISchT-EZ / 1B: 3) 1BZaw: Ja, bei mir war das genauso. Ehm, ich hab mir immer vor…. Also ich habe mir immer gedacht, ja was könnte denn jetzt dran kommen, also was würde man dann für ein Wort da einsetzen, und dann habe ich mir das alles zusammen gebildet. (ISchT-EZ / 1B: 3) Die gleichzeitige Anwendung von buttom-up und top-down-Strategien durch Antizipieren der nächsten zu erwartenden Episode stellt ein Beispiel ‚narrati‐ 10.1 Die erste Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Stunde 353 <?page no="354"?> onsorientierter‘ Rezeptionsstrategien dar. Diesen Begriff werde ich im Fol‐ genden verwenden für Rezeptionsstrategien, die genau da ansetzen, wo sich die narrativen strukturellen Prinzipien an der Textoberfläche manifestieren ‒ bei dieser Erzählung am Nützlichkeitsprinzip, an der Chronologie und der Ketten‐ struktur. Eine weitere, für die Rezeption von Erzählperformances spezifische Strategie werde ich in Analogie zur Narrationsorientierung als ‚performanceorientierte‘ Rezeptionsstrategie bezeichnen. Beim Einsatz dieser Strategie lassen sich die Rezipierenden von der performativen Darstellung anregen, um ihr Verstehen zu organisieren. Das Verfahren erläutert die o. g. Schülerin wie folgt: 1BZaw: Als Frau LK1 ehm, gesungen hat, diesen Trommelschritt da, da wusste man auch, wo die Geschichte so, also da kam man auch wieder in die Geschichte rein, weil man es auch etwas mehr wieder verstanden hat. (ISchT-EZ / 1B: 2) Das Beispiel zeigt, dass auch performanceorientierte Strategien auf der gleich‐ zeitigen Anwendung von buttom-up- und top-down-Strategien beruhen: Aus‐ gehend von der theatralischen Gestaltung der zentralen Episode der Geschichte kann die Beobachterin den narrativen Faden wieder aufnehmen. Das Diskurs‐ verstehen hängt mit der Aufmerksamkeit für die Performance zusammen. Diese garantiert das ‚Wieder-Rein-Kommen‘, wenn der Faden mal gerissen ist. Die Interaktion aus der Sicht der Lehrenden Zu ihrer eigenen Interaktion rechnen die Performerinnen den Rollenwechsel zwischen Beobachterinnenposition und eigener Performanceaktivität. Der sei ihnen durch fließende Übergänge gut gelungen, allerdings bei der zweiten Per‐ formance besser als bei der ersten, weil dann ein entspanntes Achten auf die Partnerin an die Stelle des gespannten Wartens auf den eigenen Einsatz trat. Den Kontakt zum Publikum empfanden sie als ein ‚Vor und Zurück‘. Der Kontakt sei dann besonders dicht gewesen, wenn das Publikum „näher dran“ (LK1: ILKT-EZ / 1: 12) war. Dies sei dann der Fall gewesen, wenn die Performe‐ rinnen „Aha-Erlebnisse“ (a. a. O.) und emotionale Reaktionen der Zuhörenden spüren konnten: LK1: Ehm, also ganz, ganz deutlich dacht' ich so, hätten sie verstanden, das mit dem, dass der eine der ist, der den einen Vogel isst, und dass, dass… ihnen so richtig so …: Wow, der isst den auf, den Vogel. Ja, da hatte ich so das Gefühl, dass das so einige mitgekriegt [haben], und zwar so, ja von Erstaunen bis Erschrocken oder so. (ILKT-EZ / 1: 12) 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 354 <?page no="355"?> Aus den Äußerungen der Performerinnen lässt sich ein enger Zusammenhang zwischen Performancegefühl und empfundenem Publikumskontakt schließen. In den als besonders dicht empfundenen Momenten scheint das Performance‐ angebot als Rezeptionsemotion zurückzukommen, eine Rückkoppelung, die von Fischer-Lichte als Feedback-Schleife (Kap. 4.4.2) bezeichnet wird. Widerspricht dem nicht die Tatsache, dass das Publikum das geplante Mit‐ sprechen des Reims verweigert? Die Lehrkräfte sehen in dieser Verweigerung keine Ablehnung des Mitmachens, sondern eher eine Reaktion, die den Bedürf‐ nissen des Publikums angemessen ist. Hier taucht mit dem Begriff des Organi‐ schen wieder die Idee der Stimmigkeit auf. Organisch sei es, vor allem im Hin‐ blick auf das Alter der Schülerinnen und Schüler, dass sie ihren eigenen Bedürfnissen folgten. Es sei organisch gewesen, ihnen keine Verstehensbzw. Memorierungsstrategie aufzuzwingen, die sie nicht wollten: LK1: […] Dass sie mehr verstehen wollten, das wollten sie sowieso. Das entsprach ihren eigenen Bedürfnissen, da musste man sie jetzt nicht drauf stoßen. (ILKT-EZ / 1: 14) Das flexible Reagieren auf die Publikumsreaktion (Kap. 9.2.2.5) gehört für die Lehrkräfte zur Stimmigkeit der Inszenierung. Sie stellt als Reaktion auf die wahrgenommene Publikumsstimmung ein weiteres Beispiel der Feed‐ back-Schleife dar. Der Publikumskontakt aus Sicht der Lernenden Wie schon unter dem Aspekt „Vorteile des Mediums“ erörtert, fühlten sich die Lernenden in die Performance einbezogen. Eine Schülerin führt als Argument an: 1CChw: Ja, ehm, na dass Frau LK2 oder auch Frau LK1 halt insofern uns mit einbezogen haben, dass sie uns gefragt haben, dass wir mitmachen durften. (ISchT-EZ / 1C: 6) Das Fragen der Performerinnen bzw. ihre Bitten um Mitgestaltung haben hier bereits den Eindruck des Einbezogen-Seins ausgelöst. Weitere, explizite Äuße‐ rungen der Lernenden zum Kontakt zwischen Publikum und Erzählerinnen aus der Perspektive der Lernenden liegen nicht vor. Die Feedback-Schleifen zwischen den Performerinnen und ihrem Publikum beruhen auf dem Zusammenwirken mehrerer, die Performancekommunikation bestimmender Faktoren, die in der folgenden Zusammenfassung festgehalten werden. 10.1 Die erste Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Stunde 355 <?page no="356"?> Zusammenfassung Die Durchführung der Erzählperformance erfahren beide Akteure-Gruppen als pädagogisch und ästhetisch gestaltete Aufführung, die von den Beteiligten ein ‚Reinkommen‘, ein ‚Drin‘- und ein ‚Dran-Bleiben‘ verlangt. Für die Performe‐ rinnen ist das Reinkommen ins Erzählen wegen des ständigen Sprecherinnen‐ wechsels teilweise schwierig. Das Gefühl des ‚Drin-Seins‘ in der Performance stellt sich ein, wenn mehrere Faktoren zusammenkommen: ihre eigene Kon‐ zentration und die ihres Publikums, ihre Sicherheit im Memorieren des Dis‐ kurses und ihr Eindruck von der Angemessenheit und Wirksamkeit der einge‐ setzten Performancestrategien. Als wirksam und angemessen werden sie empfunden, wenn vom Publikum Signale des Verstehens und der Wertschätzung ausgehen. Für die Lernenden hängt das ‚Reinkommen‘ in die Performance davon ab, dass sie einen Weg zum Aufbau ihres Verstehens finden. Sie konnten ‚dran‐ bleiben‘, weil die von den Lehrkräften eingesetzten Performancestrategien ihr Beobachtungsinteresse weckten und weil sie in der Lage waren und die Perfor‐ mance ihnen Anregungen bot, Beobachtungs- und Rezeptionsstrategien mitei‐ nander zu verbinden. Die als positiv empfundenen Feedback-Schleifen bestehen in einem gegen‐ seitigen Geben und Nehmen von Aufmerksamkeit und Interesse und in dem Einsatz von aufeinander aufbauenden Darstellungs-, Beobachtungs- und Ver‐ stehensstrategien. Diese nutzen die Vorteile des mündlichen Mediums: die Origo-Situation und den audio-visuellen Charakter direkter Mündlichkeit. 10.1.5 Die vierte Hauptkategorie: Reflexionen der Rekonstruktionen Die Gestaltung der Rekonstruktionen Die Lernenden heben unisono den abwechslungsreichen Charakter des Lern‐ arrangements hervor. Für eine Schülerin ist das mehrmalige Erzählen Grund dafür, dass sie Anfangsschwierigkeiten abbauen konnte: 1BSyw: Ja, dadurch fand ich eigentlich, war alles, wurde alles viel leichter, und des‐ wegen fand ich am Ende gar nichts mehr wirklich schwer. (ISchT-EZ / 1B: 7) Eine andere Schülerin sieht im Wechsel der Aktionsformen des Lernarrange‐ ments das Besondere, eben ‚Ausgeflippte‘, das sie bereits in der Performance der Lehrkräfte entdeckt hatte: 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 356 <?page no="357"?> 1CChw: Nein, also, ehm, es war halt ausgeflippt, also, ich fand es gut, dass wir da nicht die ganze Zeit sitzen mussten, im Kreis, und ich fand's cool mit der Kreide […]. (ISchT-EZ / 1C: 7) Die Lehrenden empfanden den Wechsel der Sozialformen zu Beginn der Re‐ konstruktionsphasen als besonders hilfreich. Sie hatten den Eindruck, eine stille, individuelle Verarbeitung der Rezeption zu diesem Zeitpunkt entspreche den Bedürfnissen der Lernenden und sei deshalb „stimmig“: LK1: Weil einerseits sozusagen diese Ruhe, das selber für sich noch mal so durchzu‐ gehen, stimmig ist, weil wir auch das Gefühl hatten, sie bleiben bei der Geschichte und sie gehen nicht von der Geschichte weg. (ILKT-EZ / 1: 16) Das Stimmige des Lernangebots sehen sie als Garant dafür, dass die Lernenden ‚dabeibleiben‘ und ‚nicht weggehen‘, so wie sie während der Performance ‚dranblieben‘. Prozesssteuernde Aktionen von ihrer Seite wie die Verlängerung der Be‐ arbeitungszeit und die individuelle Beratung der Lernenden sollten das ‚Dabei-Bleiben‘ verstärken. Sie hätten der Vertiefung des Textverständnisses gedient und erste Überlegungen zur Versprachlichung der Bilder initiiert. Zu ihrem steuernden Eingreifen während der verbalen Erzählphase äußern sich die Lehrkräfte kritisch. Sie hätten sich mehr eingemischt als vorgesehen, was einer Lehrkraft im Nachhinein als ein ungewolltes Miterzählen erscheint, das sich spontan aus der narrativen Interaktion ergeben habe: LK1: Manche Tipps hätten wir auch weglassen können, also manchmal, die haben das ganz gut untereinander gemacht. Man sagt manchmal ein Wort so schnell und denkt, hm, warum denn nicht. (ILKT-EZ / 1: 18) Die narrative Produktion: das Erzählen mit Bildern Die Lehrenden heben die unterschiedlichen Themen und Gestaltungsmittel der Bilder positiv hervor: LK1: […] und alles passte aber zur Geschichte. Also es war nichts, was nicht passte. Das war auch ganz schön, jede Zeichnung war auch irgendwie stimmig. (ILKT-EZ / 1: 3) „Stimmig“ steht hier für den Zusammenhang von Narration und Bild, d.h. für das Diskursverstehen, und für die Entsprechung von Bildgegenstand und Dar‐ stellung, d.h. für die ästhetische Gestaltung. Das Argument der Vielfalt ist auch für die Lernenden wichtig: „Ich bin froh, dass wir das gemacht haben, weil, also wir haben ja am Ende dann alle verschiedene Bilder gehabt.“ (ISchT-EZ / 1B: 6) 10.1 Die erste Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Stunde 357 <?page no="358"?> 3 In diesem Zusammenhang bestätigen zwei Jungen den zuvor geäußerten Eindruck der Lehrkräfte (Kap. 10.1.2), dass ihnen das Sprechen vor der Gruppe schwer fällt. Dies gilt aber auch für einige Mädchen, die Schwierigkeiten mit dem freien Sprechen ‒ besonders im Französischen ‒ äußern. Die narrative Produktion: das Erzählen mit Bild und Wort Aus der Sicht der unterrichtenden Lehrkraft entsprechen die Leistungen der Lernenden „von der Menge und von der Qualität“ (LK2: ILKT-EZ / 1: 15) her ihren Erwartungen. Einig sind sich beide Lehrkräfte darin, dass sich die Sprach‐ produktion aller Lernenden im Laufe der Rekonstruktionsphase ständig ver‐ bessert hat. Die Gastlehrkraft konnte beobachten, dass sich einige besonders anstrengten, ihre Angst vor dem freien Sprechen zu überwinden: LK1: Ich fand's dann toll, dass ein paar sich getraut haben, auch ganz aufgeregt, ein Junge, der sozusagen sehr aufgeregt war, […] aber versucht hat, wirklich was auf Französisch zu sagen. Also sich getraut hat, in diese Spannung zu gehen. (ILKT-EZ / 1: 15) Das Bild vom ‚Hineingehen in diese Spannung‘, eine Variante der Formel vom ‚Dran-Bleiben an der Geschichte‘, zeigt, dass aus der Sicht der Lehrenden die Aktivität Erzählen nicht nur Ausdauer, sondern auch Mut, Anstrengung, emo‐ tionale Beteiligung erforderlich macht und dass aufgrund ihrer Beobachtungen die Schülerinnen und Schüler sich darauf eingelassen haben ‒ wenn auch in unterschiedlicher Intensität 3 . Die Lernenden interessieren sich vor allem für die narrative Kommunikation anhand der Bilder. Einige Schülerinnen erläutern den Einsatz von Kommuni‐ kationsstrategien, mit denen sie die narrativen Bilder zur mündlichen Narrati‐ vierung nutzen. Dazu gehört vor allem der Einsatz sprachersetzender Zeichen (Kriterium 5.c des FDM-R) wie das Zeigen auf Bilddetails: 1BSyw: Ehm (…), na zum Beispiel, wenn wir jetzt, ehm, eine Vokabel nicht wussten, haben wir so auf des Bild so 'n bisschen gezeigt und dann wusste man schon, was wir meinten. (ISchT-EZ / 1B: 7) Ein Schüler bemerkt, dass er mithilfe des Bildes seinen Sprechanteil regulieren konnte ‒ in seinem Fall auf ein Minimum. Eine Schülerin ergänzt das Argument, indem sie die Offenheit der Aufgabenstellung (Kap. 10.1.3) auch für das Erzählen anhand der Bilder betont: 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 358 <?page no="359"?> 1AHaw: Und wir durften auch eben, wir mussten nicht so viel sagen, weil, ja manchmal fällt einem vielleicht nicht so viel ein, was man darüber sagen könnte. Ja, das find‘ ich auch gut. (ISchT-EZ / A: 11) Die Bildpräsentation konnte auch zum vertiefenden Verstehen der Geschichte genutzt werden, erläutert eine andere Schülerin. Sie deutet diesen Vorgang im Sinne einer ‚allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Sprechen‘: 1AJuw: […] weil bei Bildern ist es ja, da versteht man ja den Text besser, weil da isʼ en Bild, und dann erzählt man darüber was, und dann versteht man es besser. (ISchT-EZ / 1A: 10) Auch als Gedächtnisstütze habe man die Bilder nutzen können: „Selbst wenn man irgendwas vergessen hatte, konnte man noch mal überlegen, was das be‐ deutet, und dann (.) umsetzen.“ (1BHem: ISchT-EZ / 1B: 7) Auch für die Kom‐ munikation miteinander seien die Bilder hilfreich gewesen, weil 1AJuw: Weil, ehm, wenn da jemand sitzt und da ein Bild vor sich hält und darüber erzählt, versteht man es besser, als wenn einer da vor sich ein Blatt hat und da abliest, einen Text zum Beispiel. (ISchT-EZ / 1A: 11) Nicht nur das Einzelbild diene der Veranschaulichung, führt ein Schüler das Argument weiter, sondern vor allem die Gesamtschau der Bilder. Aus diesem Grund setzen die Lernenden auch immer wieder die letzte Rekonstruktions‐ phase, in der sie ihre Bilder zu einer Bilderserie zusammenstellten und erzählten, als den Höhepunkt ihres Verstehens und ihres Erzählens an. Das Zusammen‐ fügen der Einzelbilder zu einer erzählbaren Bilderserie und das gemeinsame mündliche Erzählen der Bilderschau sehen sie als ihre eigene performativ-ge‐ stalterische Leistung an. In der abwechslungsreichen Gestaltung der Bilderserie und im Zusammenwirken von Bild und Wort besteht für sie die Erzählwürdig‐ keit der Geschichte. Die Interaktion mit den Lehrenden Die Lernenden fühlten sich in engem Kontakt mit den Lehrenden, weil diese immer wieder nachgefragt und sie zum eigenen Nachfragen ermuntert hätten. Das Bitten um Hilfe habe kein Problem dargestellt. Interaktion zwischen den Lernenden Unterstützung hätten sich die Lernenden auch selbst gegeben, stellen die Lehr‐ kräfte wiederholt fest. Sie hätten sich gegenseitig korrigiert, über ihre Bilder gesprochen, die Reihenfolge der Bilderserie selbstständig ausgehandelt und sich beim gemeinsamen Erzählen unterstützt (Kriterium 4.a des FDM-R). Die Ler‐ 10.1 Die erste Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Stunde 359 <?page no="360"?> nenden erläutern ihre narrative Interaktion unter einem weiteren Aspekt. Nicht nur die Bilder hätten ihr Verstehen unterstützt, sondern auch die (Lern‐ enden-)Sprache ihrer Interaktionspartnerinnen und -partner. Deren Sprech‐ tempo und deren sprachliches Niveau kämen ihren Rezeptionsfähigkeiten ent‐ gegen: 1AHaw: Und es sind ja auch Schüler, die das erzählen, und da ist es viel, viel einfacher, das zu verstehen als Lehrer, weil Lehrer ja besser wissen, also die Vokabeln und so besser wissen, und die Schüler, wir sind ja gleich, und wir lernen zusammen, und das ist dann einfacher, das zu verstehen. (ISchT-EZ / 1A: 11) Zusammenfassung Die Rekonstruktion der Geschichte erfahren beide Akteure als einen Prozess, der von den Lernenden ein ‚Bleiben‘ bei der Geschichte und von den Lehrenden die Unterstützung dieser Anstrengung verlangt. Dass am Ende des Prozesses eine performative, durch die Lernenden realisierte Gestaltung steht, schreiben die Akteure dem Lehr- / Lernarrangement, der narrativen Interaktion und der Gestaltung des Rekonstruktionsprozesses durch Bild und Wort zu. Das Zusammenspiel dieser drei Faktoren habe so viel Unterstützung gegeben, dass die Lernenden Ängste vor dem freien Sprechen überwinden, die Anschau‐ lichkeit ihrer Bilder zum eigenen Sprechen und zur Kommunikation mit ihren Partnerinnen und Partnern nutzen und unter Anwendung kommunikativer Strategien gemeinsam zu einer performativen, erzählwürdigen Rekonstruktion der Geschichte kommen konnten. Aus diesem Grund kommt es zu Feed‐ back-Schleifen zwischen den Lernenden, die sich im Wechsel als Erzählende und als Publikum gegenüberstehen. 10.1.6 Forschungsfragen und Ideen zur Weiterarbeit Im Gegensatz zum Interview mit dem Lehrkräfteteam der zweiten Erzählstunde (Kap. 10.2.6) wurde dem Lehrkräfteteam der ersten Erzählstunde keine Zusatz‐ frage zu den Forschungsfragen ihres Erzählprojekts gestellt, so dass sie hier nicht explizit erörtert werden. Gleichwohl lassen die Äußerungen der Lehrkräfte Rückschlüsse auf deren Beantwortung zu. Mit ihren Reflexionen zum Erzählen mit Bildern (Kap. 10.1.5) gehen die Lehrkräfte auf ihre Forschungsfragen zum Zusammenhang zwischen der erzählten Geschichte und den von den Lernenden gestalteten Bildern ein. Sie stellen fest, dass die Bilder sich auf wichtige Etappen und Personen der Erzählung beziehen und dass unterschiedliche Motive und Gestaltungsmittel gewählt wurden. Mit ihren Reflexionen zur narrativen Auf‐ 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 360 <?page no="361"?> gabe (Kap. 10.1.3) greifen sie die Frage nach der Unterstützungsfunktion der Bilder beim Diskursverstehen auf. Die entscheidenden Informationen zu diesem Aspekt geben jedoch die Schülerinnen und Schüler (Kap. 10.1.4): Sie stellen fest, dass die Bilder ihnen eine große Hilfe sowohl für das Verstehen als auch für das Sprechen waren. Was die Ideen zur Weiterarbeit betrifft, so nehmen sich die Lehrkräfte vor, die Erzählstunde mit einem Bewusstmachen der Struktur des Märchens vom conte des échanges abzuschließen und mit dem Verfassen einer eigenen Ge‐ schichte durch die Lernenden fortzusetzen. Dabei sollen das Tauschprinzip bei‐ behalten, aber das Ziel und die Mittel des Tausches ‒ dem Interesse der Lern‐ enden entsprechend ‒ verändert werden. Auf diese Weise könnten Tauschprinzip, Ziel und eingesetzte Mittel wieder „stimmig“ gemacht, neu er‐ worbenes Sprachmaterial und narratives Wissen genutzt und weiterentwickelt werden. Die Lernenden haben Interesse an einer Weiterarbeit mit dem conte des échanges und mit anderen Geschichten. Sie begründen ihr Interesse mit den Lernerfahrungen der Erzählstunde. Es habe Spaß gemacht, mit der Geschichte zu arbeiten, und der Lerneffekt sei groß. Erstens werde dadurch die mündliche Sprachkompetenz gefördert: 1AJuw: Wenn wir Geschichten hören, finde, denke ich, dass unsere Sprache sich auch wesentlich verbessert, weil, mündlich ist halt schwieriger als schriftlich, und wenn wir … und das würde irgendwie auch mehr bringen. (ISchT-EZ / 1A: 13) Zweitens sei das eigene mündliche Erzählen eine gute Übung zum freien Spre‐ chen vor Publikum. Drittens sei damit eine integrierte Wortschatzarbeit mög‐ lich: 1BZaw: Ja, also ich fand, (.) also, ehm, wenn man, wenn man also, wenn man grad erzählt, dann merkt, dann fällt einem selber auf, was einem für Vokabeln fehlen, und dann will man die auch automatisch lernen. 1BHem: Man kann auch leichter lernen, wie man die Vokabeln besser einsetzen kann. Im Unterricht weiß man nicht genau, wo man die dann einsetzen kann, da lernt man die Vokabel und weiß nicht, wo man die nutzen kann. (ISchT-EZ / 1: 8) Die konkreten Vorschläge zur Weiterarbeit sind vielfältig. Eine Schülerin sieht im conte des échanges eine serielle Struktur angelegt: 1AJuw: „Weil das ist so was wie 'ne Serie, als würden sie an 'ner spannenden Stelle aufhören, und dann fängt's wieder an.“ (ISchT-EZ / 1A: 13) Eine solche Serie könne man erstellen durch Hinzufügen eines zweiten Teils, in dem die Cheftochter die Protagonis‐ tinnen-Rolle übernimmt. Auch könne man dazu ebenfalls Bilder malen und 10.1 Die erste Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Stunde 361 <?page no="362"?> damit die angefangene Bilderserie fortsetzen ‒ ein Vorschlag, der große Unter‐ stützung findet. Auch das Nachspielen der Geschichte fände Anklang. Andere Schülerinnen und Schüler würden gerne mit neuen Geschichten arbeiten, mit anderen Märchen, mit lustigen, romantischen, abenteuerlichen, auch gruseligen Geschichten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Lehrende und Lernenden eine Weiterarbeit mit dem conte des échanges für sinnvoll erachten und dafür narra‐ tive Transformationsaufgaben vorsehen: ein Umschreiben, ein Weiterschreiben, eine Illustration, ein Nachspielen der Geschichte. Die Funktion der Weiterarbeit ist allerdings unterschiedlich. Während die Lehrenden eher auf eine Vertiefung der Spracharbeit Wert legen, möchten die Lernenden vor allem das mündliche, inhaltsbezogene Arbeiten fortsetzen. Es ist nicht nur das mündliche Erzählen, es ist auch das Lehr- / Lernarrangement, das ihr Interesse geweckt hat. 10.1.7 Erste Interpretation der Interviewanalyse: Vergleich der Perspektive der Akteure mit den Analyseergebnissen der ersten Erzählstunde Die erste Interpretation der Interviewergebnisse erfolgt durch Datentriangula‐ tion. Dabei werden die Analyseergebnisse der mündlichen Interviews mit denen der Analyse des Erzähldiskurses (Kap. 9.1) und der videobasierten Beobachtung der ersten Erzählstunde (Kap. 9.2) verglichen. Der Vergleich legt zum einen zahlreiche Übereinstimmungen zwischen der Innenperspektive der Akteure und der Außenperspektive der Videoanalyse offen. Er bestätigt und ergänzt damit die Ergebnisse der Videoanalyse. Zum andern liefert er Informationen zu Vor‐ gängen der Erzählstunde, die der Außenperspektive der Videoanalyse allein nicht entnommen werden können. Er erweitert damit die Analyse der Erzähl‐ stunde um nicht beobachtbare, aber wesentliche Aspekte. Die Übereinstim‐ mungen mit der Videoanalyse betreffen vor allem die Reflexionen der Akteure zu Kategorien der zweiten, die Erweiterungen die Reflexionen zu Kategorien der dritten Ebene des Kategoriensystems. Bestätigungen und Ergänzungen der Text- und der Videoanalyse Die von Lehrenden und Lernenden als Argumente für die Eignung der Erzäh‐ lung angeführten Merkmale der Geschichte (Kap. 10.1.2) stimmen mit den in der Textanalyse (Kap. 9.1.1) erarbeiteten Charakteristika der Erzählung überein. In beiden Fällen werden sie als wesentliche Elemente werkinterner Erzähl‐ würdigkeit ausgewiesen. Die Reflexionen der Akteure bestätigen, dass auch die Elemente des Neuen, Besonderen, Irritierenden (Ehlers 1998: 199), z. B. die 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 362 <?page no="363"?> Fremdheit der afrikanischen Märchenwelt, zur werkinternen Erzählwürdigkeit beitragen. Sie zeigen darüber hinaus, dass und auf welche Weise die werkinterne Erzählwürdigkeit durch werkexterne Kontexte mitbestimmt wird (Kap. 3.2.3) - hier durch die Erfahrung, verstehen zu können und Verstehenshilfe zu be‐ kommen. Was die Konzeption der Erzählstunde betrifft, so werden von den Akteuren der Erzählstunde mit dem dreiphasigen Verlauf, der intermedialen narrativen Aufgabe, dem Prinzip der Mündlichkeit und der Einsprachigkeit die wichtigsten von der Analyse herausgearbeiteten Charakteristika des Stundendesigns ge‐ nannt. Wichtige Ergänzungen liefern die Lernenden durch ihre Erklärungen zur Unterstützungsfunktion der Bilder und durch ihre Hinweise auf die offene Auf‐ gabenstellung, die aus ihrer Sicht eine persönliche Auseinandersetzung mit der Geschichte ermöglichte. Was die Gestaltung der Erzählperformance betrifft, so können die aus di‐ rekter Beobachtung gewonnenen und retrospektiv geäußerten Reflexionen nicht den Umfang und die Präzision der videobasierten Analyse erreichen. Aber die Stellungnahmen der Lernenden zeigen, dass sie sowohl die Art als auch die Funktion der Zeichen wahrgenommen haben. Sie identifizieren zahlreiche pro‐ sodische, gestische und mimische Zeichen und erläutern sowohl deren verste‐ hensunterstützende, die Rede gliedernde und illustrierende als auch deren äs‐ thetisch-gestaltende Funktion. Was die Rekonstruktionen der Geschichte betrifft, so betonen auch die In‐ terviewten deren individuellen, kooperativen und experimentellen Charakter. Dasselbe gilt für den progressiven Verlauf der Rekonstruktionsphasen. Leh‐ rende und Lernende heben dabei auf die inhaltliche und sprachliche Steigerung der Narrativierungsleistungen ab, machen diese aber nicht wie die Analyse an der Entwicklung der Diskursform Erzählen fest. Erweiterungen der Videoanalyse durch die Interviews Was das Hör-Sehverstehen der Schülerinnen und Schüler betrifft, so werden die Ergebnisse der Analyse und die Vermutungen der Lehrenden durch die Aus‐ führungen der Lernenden zum Plot der Geschichte erweitert. Sie sind besonders wichtig, weil das Lehr- / Lernarrangement, wie die Lehrkräfte bestätigen, keine explizite Überprüfung des Textverständnisses vorsieht. Die Ausführungen der Lernenden zeigen, dass erstens bei allen Schülerinnen und Schülern ein Grob‐ verständnis, bei einigen ein Detailverständnis der gesamten Geschichte vorliegt, dass zweitens das Grobverstehen des Ganzen mit einem Detailverstehen ein‐ zelner Szenen einhergeht und dass sich drittens das Verstehen aller Rezipier‐ enden schrittweise aufbaut. Während die externe Beobachtung die Anwendung 10.1 Die erste Erzählstunde: eine stimmige ‒ eine witzige Stunde 363 <?page no="364"?> 4 Weitere Erkenntnisse zum Einsatz mündlichen Erzählens als Performance und zur Technik des vorbereiteten, fiktionalen Erzählens liefern die Äußerungen der Lehrenden der zweiten Erzählstunde. Die Argumente aus den beiden Erzählstunden werden im Zwischenfazit (Kap. 10.3) zusammengeführt und interpretiert. von Strategien des Hör-Sehverstehens nur vermuten kann, geben die Erläute‐ rungen aus der Perspektive der Lernenden Auskunft darüber, dass und wie sie allgemeine Rezeptionsstrategien einsetzen. Sie stellen darüber hinaus Er‐ kenntnisse über spezifische Strategien zur Rezeption von Erzählperformances bereit. Einige von den Lernenden erläuterte Strategien stehen in deutlichem Zusammenhang mit den narrativen Strukturen des Diskurses und liefern damit Beispiele für ‚narrationsorientierte‘ Rezeptionsstrategien. Andere verweisen auf einen Zusammenhang mit der performativen Gestaltung und liefern damit Bei‐ spiele für ‚performanceorientierte‘ Strategien. In beiden Fällen wird deutlich, dass die Lernenden auf vorhandenes narratives Wissen ‒ vermutlich auch auf performatives Erfahrungswissen ‒ zurückgreifen, um es zur Organisation ihres Verstehens in der aktuellen Kommunikationssituation zu nutzen. Die Äußerungen der Lehrenden zu ihren Performancegefühlen liefern erste Erkenntnisse über Herausforderungen, Schwierigkeiten und Erfolge, denen sich die Performerinnen beim mündlichen Erzählen im Unterricht zu stellen haben 4 . So können sich kritische Momente und negative Performance‐ gefühle aus der Festlegung auf das vorbereitete, mündlich-fiktionale Erzählen ergeben, denn es kann als Einschränkung erzählerischer Gestaltung empfunden werden. Dann fühlt man sich wie „in so 'nem Korsett“ (Kap. 10.1.4). Den Ge‐ gensatz zum ‚Korsett‘-Gefühl bildet das Gefühl der Öffnung zum Publikum hin. Es stellt sich ein, wenn sich zwischen Performerinnen und einem aufmerksamen Publikum positive Feedback-Schleifen entwickeln. Dasselbe gilt für die Publi‐ kumsgefühle der Lernenden. Auch sie nehmen positive Feedback-Schleifen wahr, wenn sie von Seiten der Performerinnen Aufmerksamkeit bekommen, d.h. wenn sie sich in den Prozess des Erzählens eingebunden, als Zuhörerinnen und Zuhörer angesprochen fühlen. Die Reflexionen zu den Performance- und Publikumsgefühlen erweitern die Analyse der Erzählstunde um einen wichtigen Aspekt. Sie zeigen, dass in der wechselseitig geschenkten Aufmerksamkeit ein wesentliches Merkmal jenes ‚performativen Paktes‘ steckt, der im konzeptionellen Teil der Studie (Kap. 4.4.3) als eine mögliche Weiterführung des ‚fiktionalen Paktes‘ vermutet wurde und der nunmehr auf der Basis der empirischen Analyse konzeptualisiert werden kann. Der performative Pakt kommt offensichtlich durch eine stille Übereinkunft zustande. Sie besteht darin, den Kommunikationspartnerinnen und -partnern das Interesse entgegenzubringen, das sie zur Übernahme ihrer 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 364 <?page no="365"?> narrativen Jobs (Kap. 3.2.2) benötigen. Für die Erzählenden bedeutet dies, dass sie die Performance publikumsorientiert gestalten, für die Rezipierenden, dass sie ihre Verstehens-Ressourcen aktivieren und damit adäquate Rezeptionsstra‐ tegien entwickeln. Die Formeln vom ‚Drin-Sein, Dran- und Dabei-Bleiben‘ il‐ lustrieren, wie der performative Pakt funktioniert: Wenn Erzählende und Pub‐ likum in der Fiktion ‚drin‘ sind, können sie mithilfe geeigneter Strategien an der Performance ‚dranbleiben‘. Den Reflexionen der Schülerinnen und Schüler ist zu entnehmen, dass die Konzentration auf das Zuhören, d. h. die für das fremd‐ sprachliche Verstehen notwendige Aufmerksamkeit (s. auch Donnerstag 2010: 9), und der ‚performative Pakt‘ zusammenwirken. Was beiden Seiten dabei hilft, ‚dran‘ und ‚drin‘ zu bleiben, ist die Motivation der Lehrenden zum Performen und die Motivation der Lernenden zur Teilhabe an der Performance. Aus den Reflexionen der Akteure lässt sich nun‐ mehr für die „Motivationskategorien“ schließen, dass zur Performancemoti‐ vation der Erzählenden vor allem die Bereitschaft gehört, sich emotional und kreativ gestaltend auf die Aufführungssituation einzulassen, dabei eine eigene Erzählerrolle zu finden und auf einen performativen Pakt mit dem Publikum hinzuarbeiten. Die Teilhabemotivation der Lernenden besteht in der Bereit‐ schaft, sich ebenfalls emotional und als aktives Publikum auf die Aufführungs‐ situation einzulassen, dafür eigene Ressourcen zur Steuerung des Diskursver‐ stehens zu aktivieren und das Angebot des performativen Paktes aktiv anzunehmen. Dass dazu auch die Freude am Erzählen, am Performen und am Zuhören gehört, machen die positiven Performance- und Publikumsgefühle deutlich. 10.2 Analyse der Reflexionen der Lehrenden und Lernenden zur zweiten Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde Die Analyse der Interviewtexte zur zweiten Erzählstunde orientiert sich an denselben Kategoriensystemen (Kap. 8.3.2.4, 8.3.2.5) wie die zur ersten Erzähl‐ stunde und interpretiert ebenfalls die Aussagen der Lehrenden und Lernenden mithilfe textsemantischer Verfahren. Sie zeigt die Gemeinsamkeiten der Refle‐ xionen von Lehrenden und Lernenden beider Erzählstunden und greift bereits erarbeitete Ergebnisse der ersten Erzählstunde auf, um vor diesem Hintergrund die Spezifika der zweiten Erzählstunde darzustellen. 10.2 Die zweite Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde 365 <?page no="366"?> 10.2.1 Erste Eindrücke Auf die Frage nach ihren ersten Eindrücken (Interviewfrage 1, Tab. 13, Kap. 8.3.2.1) äußern beide Lehrkräfte auch dieser Erzählstunde ihre Zufriedenheit mit der Durchführung und den Ergebnissen der Stunde. Die Schülerinnen und Schüler seien „aus sich herausgegangen, teilweise, nicht alle.“(ILKT-EZ / 2: 1) Einige Phasen der Erzählstunde seien besonders gut gelungen. Auf diesem ersten Versuch der Teamarbeit und des freien Erzählens von Lehrenden und Lernenden könne man aufbauen. Für ihre Einschätzung der Erzählstunde liefern Lehrende und Lernende auch dieser Erzählstunde Argumente und Beobachtungsbeispiele und nehmen ihre eigenen Aktionen und die ihrer Partnerinnen und Partner kritisch in den Blick. Ihre Aussagen unterstreichen sie ebenfalls mit expressiven, ihren Bewertungen Ausdruck verleihenden Attributen. Die Lehrenden greifen häufig zu figurativen, Kreisförmigkeit evozierenden Ausdrücken wie „rund“ bzw. „rundum“ oder ge‐ brauchen das Gegensatzpaar „entspannt-angespannt“ ‒ wie hier bei der Formu‐ lierung erster Eindrücke: LK2: Ja, ich fand das sehr entspannt, sehr entspannter Unterricht. […] Also, mir hat das eigentlich rundum gut gefallen. Auch wenn da [Einfügung durch Verf.] Ecken und Kanten waren. (ILKT-EZ / 2: 1) „Entspannt“ wird hier verknüpft mit der Formel vom Rundum-Gefallen, zum einen, um die angenehm empfundene Atmosphäre der Erzählstunde, zum an‐ deren, um die Zufriedenheit mit dem Gesamtergebnis zu bezeichnen. Worin die „Ecken und Kanten“ des Kreises bestehen, wird sich anhand der Erläuterungen zum Performancegefühl klären. Auch die Konnotationen der von den Lernenden häufig verwendeten Attribute „lustig“ und „fröhlich“ werden in diesem Zusam‐ menhang eine Rolle spielen und deshalb zur Interpretation der Interviewaus‐ sagen herangezogen. 10.2.2 Die erste Hauptkategorie: Reflexionen der Erzählung Die Lehrenden diskutieren die Eignung der Erzählung vor dem Hintergrund ihrer Erzählbarkeit. Auch sie sind wie das erste Lehrkräfteteam mit ihrer Text‐ vorlage nicht ganz zufrieden, haben aber eine erzählerisch-gestaltende Lösung gefunden. Als störend sahen sie zunächst die Syntax des Reims an, den sie in seiner Originalfassung übernommen hatten: LK1: Das Qui steht ja normalerweise am Anfang einer Frage, und hier steht es am Ende. Das hat mich immer ein bisschen irritiert. Dann heißt es: Que m’a donné qui? 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 366 <?page no="367"?> Que m’ont donné qui? Und man muss ja im Kopf schon haben, welches Wort dann danach kommt. Ob es ma mère ist oder ein Nomen im Plural. (ILKT-EZ / 2: 9f.) Nach eingehender Beratung wurde die Idee, den Reim zu verändern, verworfen, die Originalfassung belassen und zur performativen Gestaltung genutzt. Die zu diesem Zeitpunkt gerade als Gasterzählerin anwesende Marie-Célie Agnant (Kap. 5.4.2) hatte geraten: „Einfach, wenn das Qui kommt, immer anhalten, Schüler angucken, und dann die Schüler sprechen lassen.“ (LK1: a. a. O.) Diese Lösung habe sich, darin sind sich beide Lehrkräfte einig, als Impuls zum Mit‐ sprechen bewährt. Das Interesse der Rezipierenden aus der Perspektive der Lehrenden Das Interesse der Lernenden an der Geschichte sehen die Lehrenden als gegeben an, vermuten allerdings, dass es sich erst in dem Augenblick entwickelte, als die Schülerinnen und Schüler eine Fortsetzung der Geschichte verfassten und sich deshalb mit dem Inhalt und dem Genre der Geschichte auseinandersetzten. Sie hätten sich besonders für die Frage interessiert, ob die Geschichte ein „realisti‐ scher, ein realer Text oder ein Märchen“ (LK1: ILKT-EZ / 2: 4) sei. Ganz einig seien sie sich nicht geworden. Uneins sind sich beide Lehrkräfte darüber, ob den Lernenden die Geschichte gefallen hat. Der Performanceerzähler ist sich da nicht ganz sicher: LK2: Ich weiß nicht, ob es ihnen gefallen hat, aber sie waren zumindest konzentriert, wollten genau hören, was ich sage, so viel mitnehmen, wie sie nur konnten. […] Ob es ihnen gefallen hat? Ich denke mal, das sieht man dann vielleicht an dem Ergebnis. (ILKT-EZ / 2: 4) Ungewiss scheint ihm auch, wie das Lachen der Zuhörenden zu interpretieren ist: LK2: Also, vielleicht hat es ihnen ja gefallen, aber ich fand es ein bisschen komisch. Sie haben gelacht an einigen Stellen… […] Bei dieser Kettengeschichte, weil sich das immer wiederholte. […] Da hab ich gemerkt, da lächelten sie schon. Aber ich glaube eher, dass sie es komisch fanden. (ILKT-EZ / 2: 5f.) Die Teampartnerin vermutet, dass es sich hier um ein Lächeln des Wiederer‐ kennens, des Verstehens handelt. Dass sie mit diesem Eindruck nicht falsch liegt, wird der Beitrag einer Schülerin zum Redundanzprinzip der Erzählung zeigen. 10.2 Die zweite Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde 367 <?page no="368"?> Merkmale und Bewertungen der Erzählung aus der Perspektive der Lernenden Die Äußerungen der Lernenden zu den Merkmalen der Geschichte machen deutlich, dass sie sich, um ihre eigene Fortsetzung der Geschichte zu formu‐ lieren, in der Tat intensiv mit Inhalten und Strukturen der Erzählung sowie genrespezifische Fragen auseinandergesetzt haben. Die Frage des Genres haben sie, wie die Lehrenden vermuten, kontrovers diskutiert und eine Kompromiss‐ formel gefunden. Einerseits handle es sich um eine Art Märchen, meinten sie, andererseits vielleicht eher um eine Art Fabel, eben eine Mischform, die Mär‐ chenhaftes mit „so ’n bisschen Realität so von den Menschen“ (1BRew: ISchT-EZ / 2B: 15) verbindet. Das Wesentliche der Geschichte sind für die Lernenden auch dieser Erzähl‐ stunde die prototypischen inhaltlichen und syntaktischen Narreme. Ein Schüler entdeckt ein wichtiges Prinzip narrativer Episodenstrukturierung. Er verweist auf unerwartet auftauchende Ereignisse (kleine ‚Planbrüche‘, die der Protago‐ nist nicht selbst verantwortet, sondern die ihm ‚passieren‘) und deren retardie‐ rende Funktion im Voranschreiten der Handlung. Seiner Ansicht nach sollen diese den Protagonisten mal vom Ziel ablenken, mal weiterbringen. 2BLum: Dass der Junge sich 'n Ziel gesetzt hat. (.) Und, eh, naja, man hat nicht wirklich gemerkt, dass er groß versucht hat, jetzt genau darauf (.) zuzugehen. Aber dass, naja, immer irgendwas anderes passiert ist, was ihn irgendwie so 'n bisschen weitergebracht hat, aber auch so 'n bisschen abgebracht hat davon. (ISchT-EZ / 2B: 3) Wesentlich ist auch für diese Lerngruppe das Diskursverstehen. Auch sie ver‐ knüpft das Verstehens-Argument mit der der Darstellungsqualität der Ge‐ schichte. Le conte des échanges sei wegen seines spannenden Inhalts eine Ge‐ schichte, bei der man gut zuhören konnte. Der sprachliche Aspekt habe ebenfalls eine Rolle gespielt: 2BKaw: Also ich fand´s von der Sprache her gut, man konnt's gut verstehen, find ich, und ich fand's insgesamt auch eigentlich 'ne ganz tolle Geschichte. (ISchT-EZ / 2B: 2) Eine Schülerin liefert als Beispiel das Redundanzprinzip der Erzählung und be‐ stätigt damit die o. g. Vermutung der Lehrkraft, die Schüler hätten beim Hören des Reims ein Lächeln des Wiedererkennens gezeigt: 2BRew: Ja, es hat sich ja eigentlich auch viel über, eh, wiederholt im Text […], und deshalb war's, find ich, nicht ganz so schwer, das alles zu verstehen, weil… naja, halt immer wiederkehrend kam, und wenn was Neues kam, wurd's ja auch immer in der 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 368 <?page no="369"?> nächsten, bei der nächsten Handlung nochmal wiedergegeben, und deshalb […] fand ich's gut zu verstehen. (ISchT-EZ / 2B: 3f.) Ein Schüler bringt die repräsentierende, sinnstiftende Funktion von Geschichten ins Spiel, wenn er durch die Beschäftigung mit Geschichten etwas erfahren möchte über andere Kulturen und „wie andere Menschen leben“ (2Blum: ISchT-EZ / 2B: 14). Denn: „Sonst machen wir ja so ʼn Thema eigentlich nur in Erdkunde oder so.“ (2BLum a. a. O.) Eine Schülerin eröffnet eine Debatte über die Authentizität von Erzählungen gegenüber Lehrwerksgeschichten. Von Geschichten ginge ein „Reiz“ aus, der sie dazu bringe, zuzuhören. Eventuell in Reaktion auf die nicht vollständig präsen‐ tierte Textfassung und die Aufgabe, die Lösung selbst zu finden, hebt sie als ein besonderes Merkmal von Erzählungen die verzögerte Informationsvergabe durch den fiktionalen Erzähler hervor. Reizvoll sei es, 2AHew: […] nicht zu wissen wie's ausgeht, als dass wir jetzt irgendwie zwei, drei Abschnitte im Buch lesen über'n Mädchen, das ein Praktikum irgendwo im Radio macht, oder … Also, des find ich jetzt nicht so interessant, wenn da dauernd steht, hier und da. So was find ich schon viel lustiger. Das macht auch viel mehr Spaß irgendwie, dann freut man sich. Also ich hab mich jetzt heut total gefreut irgendwie herzu‐ kommen. (ISchT-EZ / 2A: 13) Die Argumentation der Schülerin zeigt, dass sie Geschichten nicht wegen ihrer Komik lustiger als Lehrwerktexte findet. Sie trifft sich hier mit der Beurteilung der Lernenden der ersten Erzählstunde, die Geschichten und das Arbeiten mit Geschichten „witzig“ finden. Beide Attribute bezeichnen zum einen interessante Inhalte, die in einem sinnstiftenden Erzählzusammenhang stehen, zum andern die motivierende Beschäftigung mit Erzählungen. „Lustige“ und „witzige“ Ge‐ schichten stellen Erlebnisqualität bereit. Die Rezeption dieser Geschichten bringt Freude. Genau so sieht es auch der Schüler, der das Argument seiner Vorgängerin ergänzt: „Is och so real, einfach so ʼne Geschichte.“ (2AJam: ISchT-EZ / 2A: 13) Den Schlusspunkt dieser Debatte bildet das Argument einer Schülerin, die Lehrwerktexte unter dem Aspekt ihrer Adressierung betrachtet. Für sie sind es keine Texte, die eine Kommunikation auf Augenhöhe bieten. Es hafte ihnen etwas Anbiederndes an: 2ABäw: Ehm, also ich find immer, also ich fand also sozusagen die Geschichten in den Französischbüchern noch nie so der Brüller. Also die versuchen ja jetzt auch in Fran‐ zösisch sozusagen unser Alter auch so. (ISchT-EZ / 2A: 14) Neben den von den Lernenden dargelegten Argumenten und den o. g. emotio‐ nalen Attributen belegen die Beurteilungsindikatoren „gut“ (2-mal), „schön“ 10.2 Die zweite Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde 369 <?page no="370"?> (1-mal), „süß“ (3-mal), total gut (1-mal), toll (1-mal) ihre sehr positive Einschät‐ zung der Geschichte. Zusammenfassung Aus den positiven Äußerungen der Akteure dieser Erzählstunde lässt sich schließen, dass auch sie der Geschichte Erzählwürdigkeit zuschreiben. Für sie beruht sie schwerpunktmäßig auf der Darstellungsqualität, zu der sie wie die erste Gruppe auch den prototypischen Handlungsverlauf und das Gebe- Nehme-Prinzip, darüber hinaus die Episodenstrukturierung, die sprachliche Gestaltung, die Authentizität fiktionaler Erzählungen gegenüber didaktischen Lehrwerksgeschichten und eine Adressierung auf Augenhöhe zählen. Die Er‐ lebnisqualität besteht für sie vor allem im Lebensweltbezug der Geschichte, die davon berichtet „wie andere Menschen leben“. Auch diese Gruppe schreibt der Geschichte märchenhafte Züge zu, hält sie jedoch eher für eine „Genre-Mi‐ schung“ aus Märchen und Fabel. Wichtigstes positives Kriterium ist auch hier die Verständlichkeit der Erzählung. 10.2.3 Die zweite Hauptkategorie: Reflexionen der Erzählstunde Als Vorbereitung auf die Erzählstunde werden von der unterrichtenden Lehr‐ kraft eine in Bildbeschreibungen und Berichte zum Thema la vie traditionnelle en Afrique integrierte Wortschatzarbeit genannt. Dabei hätten traditionelle Be‐ rufe wie z. B. forgeron, vannier, die es heute auch in Europa kaum mehr gebe, eine wichtige Rolle gespielt. Auch die persönlichen Berichte einer Schülerin und ihre eigenen Erzählungen hätten die Schülerinnen und Schüler neugierig auf das Thema Afrika gemacht: LK1: Das war ganz interessant und hat einen Hintergrund gebracht, und das hat, glaube ich, auch die Schüler motiviert. Das hat ihnen Spaß gemacht. Sie waren auch ganz begeistert, meine Fotos zu sehen, als sie hörten, dass ich sie selber aufgenommen habe. (ILKT-EZ / 2: 3) Die Konzeption der Erzählstunde Für die Lehrenden auch dieser Erzählstunde haben sich das Prinzip der Münd‐ lichkeit, der Einsprachigkeit und der dreiphasige Stundenaufbau bewährt. Im Unterschied zur ersten Erzählstunde schreiben sowohl Lehrende als auch Ler‐ nende der letzten Rekonstruktionsphase, dem metanarrativen Gespräch, eine wichtige, eigenständige Funktion innerhalb des Rekonstruktionsprozesses zu. Diese Phase biete die Chance auf einen Austausch über die unterschiedlichen 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 370 <?page no="371"?> Lösungswege und Interpretationen der Geschichte und damit auch auf eine Würdigung der kreativen Arbeit der Schülerinnen und Schüler. Die Lernenden heben wie die Lerngruppe der ersten Erzählstunde das Lehr‐ reiche der Erzählstunde hervor. „Konnte man viel lernen, war (.) sehr interessant, überhaupt so was zu machen.“ (2BRew: ISchT-EZ / 2B: 3) Auch sie heben den dreiphasigen Stundenaufbau positiv hervor, insbesondere das zweimalige Er‐ zählen der Lehrkraft. Was die beiden o. g. Unterrichtsprinzipien betrifft, so gilt ihr Interesse vor allem dem Prinzip der Mündlichkeit. Das mündliche Erzählen, insbesondere das freie Vortragen der Geschichten, sei eine gute Übung: 2ABäw: Ich glaub, 'is aber auch ganz gut, so vor der Gruppe 'n bisschen mal erzählen, weil … 2AAnw: … klar, muss man ja auch üben! 2ABäw: …dann erweitert man seinen Sprachgebrauch auch. Und für den MSA zum Beispiel muss man ja auch vor andern Leuten reden, manche könn' das halt nich' so gut. Doch, find ich gut. (ISchT-EZ / 2A: 11) Eine andere Schülerin hebt den Anwendungsbezug des mündlichen Erzählens hervor. Es eigne sich als Vorbereitung auf die Kommunikation im Land der Ziel‐ sprache: 2BKaw: Ich find, Schreiben is' wichtig, aber, ehm, so lernen find ich besser, weil in Französisch, da, ich glaube nicht, dass man in Frankreich so viel schreibt, ich glaub des is' eher zum Kommunizieren, (.) und da sollte man eher die Aussprache fördern als ständig schriftlich. (ISchT-EZ / 2B: 12) Das Besondere der Erzählstunde besteht für einige Schülerinnen und Schüler auch in der Abwechslung vom Schulalltag, insbesondere von der Arbeit mit dem Lehrwerk. „Ständig diese Bücher, Bücher, Bücher ‒ das is' Schule.“ (2BElw: ISch-EZ / 2B: 11) Abwechslungsreich ist für sie eine kontextgebundene Wort‐ schatz- und Gruppenarbeit: Also ich lerne gar nicht gern Vokabeln, aber wenn´s in Gruppen is' und wenn es, wenn ich die dann wirklich verstehe durch Texte, dann brauch ich die nicht weiter zu lernen, dann hab ich sie im Kopf. (2BElw: ISchT-EZ / 2B: 11f.) Für eine andere Schülerin ist es das inhaltsbezogene Lernen anhand von Ge‐ schichten: 3BSuw: Durch die Zusammenhänge kann man das besser lernen, als wenn man, ehm, vorm Buch hockt, und dann ständig Vokabeln abschreibt. (ISchT-EZ / 2B: 12) 10.2 Die zweite Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde 371 <?page no="372"?> Die narrative Aufgabe Für die Lehrenden hat sich die Aufgliederung der narrativen Aufgabe in drei unterschiedliche Phasen bewährt, denn die ersten Phasen dienten der Verge‐ wisserung des Diskursverstehens und sensibilisierten für die zweite Rezeption der Performance. Sie stärkten ihre Eigeninitiative so, dass sie das Kernstück der Aufgabe, das Verfassen und Vortragen der Fortsetzungsgeschichten, gut bewäl‐ tigen konnten. Die Äußerungen der Lernenden bestätigen diese Einschätzung. Die zur Kreativaufgabe hinführenden Phasen waren entscheidend für die Si‐ cherheit, mit der sie diese bearbeiten konnten. Die wichtigsten Vorzüge der narrativen Aufgabe sind auch für diese Lerngruppe der persönliche Zugang zur Geschichte, der offene Arbeitsauftrag und vor allem die kreative Herausforde‐ rung: 2AAnw: Also ich find, des macht Spaß, wenn man so weiß, des hat man selber gemacht. Also, du hast die Geschichte bekommen … 2AJam: … und kannst 'n Stück selber machen und den Leuten erzählen, was du zum Beispiel jetzt … so deine Phantasie … also was du denkst, wie des ausgeht… (ISchT-EZ / 2A: 10) Zusammenfassung Auch die positive Einschätzung dieser Erzählstunde beruht auf der handlungs‐ orientierten Konzeption mit ihrem dreiphasigen Aufbau. Positiv hervorgehoben werden wie in der ersten Erzählstunde das Prinzip der Mündlichkeit und der Einsprachigkeit, das anwendungs- und inhaltsbezogene Lernen sowie die kon‐ textgebundene Wortschatzarbeit. Die narrative Aufgabe wird ebenfalls unter dem Aspekt des persönlichen Zugangs zur Geschichte, des offenen Arbeitsauf‐ trags und der kreativen Herausforderung positiv beurteilt. 10.2.4 Die dritte Hauptkategorie: Reflexionen der Erzählperformance Die Erfahrungen und Reflexionen des Lehrkräfteteams dieser Erzählstunde zur Gestaltung der Erzählperformance unterscheiden sich in einigen wesentlichen Punkten von denen der Teamerzählerinnen der ersten Stunde. Sie bilden deshalb den Schwerpunkt der folgenden Analyse. 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 372 <?page no="373"?> 5 Die Erzählerin Marie-Célie Agnant (Kap. 5.4.2) war zum Zeitpunkt der Unterrichtspla‐ nung als Gastdozentin einer Seminarsitzung im Rahmen der Weiterbildung tätig. Die Gestaltung der Performance Für die Inszenierung der Erzählperformance lassen sich beide Lehrkräfte von der Erzählweise Marie-Célie Agnants inspirieren und von ihr beraten 5 . Dies gilt für die dynamisch-theatralische Gestaltung der Erzählerrolle und für die Inter‐ aktion der Erzählerin mit dem Publikum. Versucht wurde eine Adaption dieser Erzählweise, die sowohl die performativen Ressourcen der erzählenden Lehr‐ kraft als auch den gegebenen Unterrichtskontext berücksichtigt. Performancestrategien und Performancegefühle aus der Sicht der Lehrenden Der Erzähler erläutert die aus den Beratungsgesprächen gewonnenen perfor‐ mativen Strategien wie folgt: Zur theatralischen Darstellung der Austausch‐ szenen habe er viel Gestik und Mimik eingesetzt. Das sei ihm gut gelungen. Bei einigen Szenen habe er den Impuls gehabt, auch proxemische Zeichen anzu‐ wenden, sich im Raum zu bewegen. Aber da hätten sich ihm der Stuhlkreis und die in der Mitte ausgebreitete Decke (Kap. 9.3.2.1) in den Weg gestellt: LK2: Diese Böhnchen [les fèves, Einfügung durch Verf.]! Und dann willst du natürlich da reinbeißen. Aber bei den anderen, da hätte ich am liebsten den panier genommen und wär' damit spazieren gegangen, also ein bisschen action gemacht. Aber ich wusste nicht, na ja. (ILKT-EZ / 2: 9) Er zieht daraus die Konsequenz, dass der Stuhlkreis als performativer Raum nicht unbedingt geeignet ist. Man fühle sich eingeengt und auch zu sehr aus der Nähe beobachtet. Nötig sei eine gute Platzierung des Erzählers, damit er ‒ je nach seinen Performancebedürfnissen ‒ den Diskurs spielerisch gestalten kann. Dazu gehöre mehr Bewegungsfreiheit. Diese sei auch wichtig für die zweite, für ihn zentrale performative Strategie, die Interaktion mit dem Publikum. Zur Il‐ lustration dieses Zusammenhangs erläutert er aus seiner Perspektive die Dia‐ logsituation, die er mit seinem Nachbarn zu einer kurzen theatralischen Szene anspielte (Kap. 9.3.2.2). Sie sei aus dem Bedürfnis entstanden, das Publikum als Dialogpartner anzusprechen: LK2: Wenn ich gestanden hätte, hätte ich wahrscheinlich immer einen Wechsel ge‐ macht. Also, von einer Person zur anderen. Was ich auch bei dem Jungen dann ge‐ macht habe. Gut, ich musste ja mit irgendeinem sprechen. Normalerweise hätte ich mich immer selber umgedreht, aber wenn man sitzt, ist das schwer. Und da hab ich 10.2 Die zweite Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde 373 <?page no="374"?> gedacht: Ach ja, da sitzt ja jemand, den schau ich mal direkt an. Also, das hat mir schon Spaß gemacht, damit ein bisschen zu spielen. (ILKT-EZ / 2: 8) Dass aus dieser Situation auch Spielfreude des Erzählers erwuchs, teilte sich, wie die Schülerinnen und Schüler bestätigen werden, dem Publikum mit. Der Spaß am theatralischen Spiel und die Erfahrung, das Publikum mitnehmen zu können, führten zu einem guten Performancegefühl. Er habe sich „ziemlich entspannt, ruhig“ (ILKT-EZ / 2: 7) gefühlt. Aber nicht ständig. Der Anfang sei schwer gewesen. Er habe seinen Plan genau vor Augen gehabt, sei dann aber von ihm abgewichen und ins Stocken geraten. Er zieht daraus den Schluss, dass ein flexibles Handhaben des Diskurses für den Einstieg zu schwierig ist. Der Erzähler müsse erst seiner Sache sicher sein. Dann könne er frei und flexibel erzählen. In diesem Kontext taucht wie in der Reflexion der ersten Erzählstunde die Vorstellung vom ‚Drin‘-Sein in der Erzählung auf: LK2: Ich wollte ja frei erzählen. Da ist es mir ein bisschen schwer gefallen. Als ich dann aber einmal in der Geschichte war - ich hab gemerkt, dass diese Kette relativ gut präsent war im Kopf - … und deswegen hab ich mich auch ziemlich wohl gefühlt. (ILKT-EZ / 2: 7) Für den Erzähler gab es aber auch „Ecken und Kanten“ (Kap. 10.2.1). Das Ein‐ beziehen des Publikums in die Diskursgestaltung hat nicht so funktioniert wie beabsichtigt und wie bei Marie-Célie Agnant gesehen. Die Schülerinnen und Schüler haben sich auf die vom Erzähler eingelegte Pause und die Frage Que m’a donné qui? gemeldet, statt spontan gemeinsam hinein- oder mitzusprechen. Da‐ raus erwuchs dem Erzähler ein Dilemma. Er fühlte sich hin- und hergerissen zwischen zwei Aufgaben: auf das Publikum achten, um es zu aktivieren, und gleichzeitig auf sich selbst zu achten, um den Erzählfaden weiterzuspinnen: LK2: Das Problem ist auch, wenn man darauf wartet, dass sich jemand meldet, dass man dann nicht auf die anderen eingeht, dass man die anderen nicht mehr fordert. […] Also, sie wussten ja, sie hätten immer was sagen können, aber dadurch haben sie sich ein bisschen zurücklegen können, weil sie wussten, es meldet sich jemand, es kommt jemand anders dran. Aber andersrum war ich in der Geschichte und wusste nicht, wie man das jetzt machen kann, wie man sie fordern kann. (ILKT-EZ / 2: 12) Aus diesem Grund war für den Erzähler der schönste Moment der Performance der Abschluss beim zweiten Erzählen, als das Publikum mit ihm zusammen den letzten Vers des Reims gesprochen hat. 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 374 <?page no="375"?> Performancestrategien und Publikumsgefühl aus der Sicht der Lernenden Die Lernenden auch dieser Erzählstunde haben ganz genau hingeschaut, denn die vom Erzähler benannten Inszenierungs- und Performancestrategien haben sie wahrgenommen, und sie können sie detailliert beschreiben und ihre Funktion erläutern. Eine Schülerin bringt die theatralische Gestaltung mit der Unterstützung des Diskursverstehens zusammen: 2BLum: Und dass des schauspielerisch nachgemacht wurde, eh, Weinen und so was alles, dass man des besser verstanden hat, das fand ich gut. (ISchT-EZ / 2B: 2) Eine Schülergruppe erläutert den Zusammenhang zwischen Kontaktaufnahme und Aufmerksamkeitslenkung, der auch in der ersten Erzählstunde erwähnt wurde: 2BElw: Dass er das dann halt auch angezeigt hat, tja, dann uns auch angesprochen hat, uns angesehen hat. […] 2BKaw: Ehm, ich weiß nich', ich fühl mich dann mehr angesprochen. 2BSuw: Man wird aufmerksamer … 2BLum: Ja. 2BSuw: ... find ich, wenn man so angesprochen wird, direkt, der Kontakt! (ISchT-EZ / 2: 4) Folgende performative Strategien wurden aus der Sicht der Lernenden zur Realisierung der „schauspielerischen“ und verstehensfördernden Inszenierung eindrucksvoll eingesetzt: • die Anschaulichkeit und Körperlichkeit der sprachbegleitenden, illus‐ trierenden Gestik und Mimik und die simultane Kombination von Gestik und Mimik, • die deutliche Artikulation, das dem Niveau der Lerngruppe angemessene Sprechtempo und die Betonung der „schweren Wörter auch für die, die es nicht so richtig verstehen.“ (2AHew: ISchT-EZ / 2A: 7) Die Vorteile des Mediums Die Möglichkeit, die performativen Strategien zur Veranschaulichung und Ver‐ deutlichung des Diskurses einzusetzen, führen auch die Lernenden dieser Er‐ zählstunde als Argument für die Vorteile des mündlichen Mediums an. Auch sie heben die Vorzüge der Origo-Situation hervor und fügen weitere, die Positivliste der ersten Gruppe ergänzende Aspekte hinzu. Der erste Aspekt betrifft die Einmaligkeit der direkten Diskurspräsentation im Gegensatz zu seiner technischen Reproduzierbarkeit über auditive Medien. 10.2 Die zweite Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde 375 <?page no="376"?> Bei einer Wiederholung sei die erste Fassung der Erzählperformance nicht iden‐ tisch mit der zweiten, und dies sei für die Rezeptionsmotivation relevant: 2AJam: Und is' nichʼ, is ja nich' gleich, is' ja nich' irgendwie von 'ner CD, sondern nochmal 'n bisschen anders. Und im Unterricht, da is' des so, da hört man genau den gleichen Text, genau die gleichen Wörter nochmal. […] Und des is' dann nich' so interessant […]. (ISchT-EZ / 2A: 6) Eine Schülerin verstärkt das Argument: „[D]es schläfert ein, und man wird müde und hat dann keine Lust mehr drauf.“ (2AAnw: ISchT-EZ / 2A: 8) Der zweite Aspekt verbindet die Debatte über die Vorteile des Mediums mit der Erläuterung des Publikumsgefühls. Im Gegensatz zu der aus ihrer Sicht ermüdenden Monotonie einer CD-Rezeption habe der real präsente Erzähler positive Emotionen vermittelt, erläutert eine Schülerin: 2AAnw: Und wenn er dann von sich aus erzählt, dann is' das ganz anders, das is' irgendwie viel fröhlicher, da freut man sich drauf, dass er mit seinen Worten auch erzählt […]. Und dann irgendwie (.) machte des einem auch irgendwie viel mehr Spaß, dass man da zuhört, also mir zum Beispiel. Weil ich hör' zum Beispiel lieber Leuten zu, die einem selber erzählen […]. (ISchT-EZ / 2A: 6) Die Schülerin fügt mit dem Adjektiv ‚fröhlich‘ dem häufig gebrauchten ‚lustig‘ (Kap. 10.1.3) eine emotive Variante hinzu. Hier wird die Stimmung, die von der Geschichte und von der Performance ausgeht, als Grund für die Freude an der Rezeption angeführt. Ist sie fröhlich, dann „freut man sich drauf “. Die Fröhlich‐ keit der Performance steckt an. Diese Wechselwirkung stellt ein erstes Beispiel für eine von den Akteuren der zweiten Erzählstunde entdeckte Feedback- Schleife (Kap. 10.1.4) dar. Die Rezeption der Erzählperformance Die Lehrenden auch dieser Erzählstunde sehen das Hör-Sehverstehen der Ler‐ nenden unterschiedlich ausgeprägt, wobei sie davon ausgehen, dass die meisten bei der ersten Erzählperformance nur selektiv, nach den ersten Rekonstrukti‐ onen und der zweiten Performance jedoch alle den Plot der Geschichten ver‐ stehen konnten. Die unterrichtende Lehrkraft registrierte ein angespanntes Zu‐ hören von Seiten der Zuhörenden und führt dies auf zwei Faktoren der Vorbereitung zurück. Zum einen sei die Lerngruppe mit dem Hörverstehen eines so umfangreichen fiktionalen Diskurses noch nicht vertraut, und sie habe den Lernenden die Stundeninhalte auch nicht mitgeteilt. Für die Lernenden sei es „ein Sprung ins kalte Wasser“ (LK1: ILKT-EZ / 2: 11) gewesen. Zum andern habe sie die Relevanz der Erzählstunde gegenüber den Lernenden betont und sie dazu 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 376 <?page no="377"?> animiert, sich rege und sprachlich aktiv zu beteiligen, was sich die Lernenden zu Herzen genommen hätten: LK1: Sie wollten ja auch in der Stunde was bringen. Ich hab ihnen vorher immer gesagt: „Habt keine Angst, sprecht nur. Es ist gut, wenn ihr möglichst viel sagt.“ Und ich glaube, dass sie das auch ernst genommen haben. Sie wollten sprechen und dazu war ja erstmal - sie wussten überhaupt nicht, dass es um eine Geschichte geht - die Herausforderung, dass sie etwas verstehen. (ILKT-EZ / 2: 11) Die Herausforderung sei für die Lernenden auch deshalb so groß, weil das Hör‐ verstehen „in modernen Lehrwerken […] ja immer sehr schön aufgebaut“ (ILKT-EZ / 2: 11) wird, während die Erzählstunde mit der großen Herausforde‐ rung, der Performance, beginnt. „[Sie] kommt aus dem Nichts.“ (ILKT-EZ / 2: 11). Die Äußerungen der Lernenden zur Konzeption der Erzählstunde und zu ihrem Performancegefühl zeigen, dass sie gerade die Herausforderung des lehr‐ werkunabhängigen Arbeitens zu schätzen wussten. Der reiche sprachliche Input war für sie schon eine Überraschung: 2BLum: Mmh, naja, als er's zum ersten Mal erzählt hat. […] Da is' man 'n bisschen manchmal durcheinander gekommen, weil da so viel auf einen zukam. Lachend: So viel Französisch. (ISchT-EZ / 2B: 8) Diese Schwierigkeiten konnten überwunden werden, erläutert der Schüler weiter, indem man sich bei der Wiederholung der Performance auf den Ge‐ samtzusammenhang konzentriert und so die Einzelinformationen zu einem Ganzen zusammenfügt: 2BLum: Aber ja, beim zweiten Mal konnte man es dann zusammensetzen, was man vorher verstanden hatte und jetzt dazu noch mehr verstanden hatte, und da hat man die Geschichte auch schon richtig im Kopf gehabt. (ISchT-EZ / 2B: 8) Die Strategien des Hör-Sehverstehens der Lernenden Die Organisation ihres Verstehens erläutern die Lernenden anhand von Strate‐ giebeispielen, die sich wie die von der ersten Lerngruppe geäußerten den all‐ gemeinen und ‚performanceorientierten‘ Rezeptionsstrategien (Kap. 10.1.4) zu‐ ordnen lassen. Die meisten Schülerinnen und Schüler nutzen zur Verständnissicherung das Ableiten von Wortbedeutungen und das Sinner‐ schließen aus dem Zusammenhang ‒ wie dieser Schüler: 10.2 Die zweite Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde 377 <?page no="378"?> 2AJam: Ja also, ich finde, man muss auch gar nicht immer alle Vokabeln kennen, man kann auch viel, eh, ableiten, und ja, ich hab eigentlich immer so Stück für Stück … Des ging ganz gut. (ISchT-EZ / 2A: 4) Eine Schülerin ergänzt das Argument, indem sie darauf hinweist, dass „man sich das irgendwann auch denken [kann], was gemeint oder was gesagt wird“ (2AHew: ISchT-EZ / 2A: 4), aber dass sich die Einzelinformationen erst zu einem Ganzen zusammenfügten, als die Performance ein zweites Mal dargeboten wurde: 2AHew: Ehm, aber ich hab immer so einzelne Sachen verstanden, und ich fand's ganz gut, dass wir oder dass er es dann nochmal erzählt hat die Geschichte. […] Weil, dann kann man sozusagen ergänzen, was … Weil, ich konnte mich nicht sozusagen auf alles konzentrieren. Ehm, und dann hab ich mir des nach und nach eben zusammengesetzt. (ISchT-EZ / 2A: 4f.) Die „Stück-für-Stück“ bzw. die „Nach-und-Nach“-Zusammensetzensstrategie stellt eine Variante der bereits erwähnten (Kap. 10.1.4) Kombination von buttom-up und top-down-Strategien (Lütge 2010a: 104) dar. Vor allem beim zweiten Hören können datengeleitete Einzelinformationen in den globalen Sinnzusammenhang eingeordnet werden. Auch diese Lerngruppe entdeckt spe‐ zifische Rezeptionsstrategien. Während die erste Gruppe vorwiegend ‚narrati‐ onsorientierte‘ Strategien anführt (Kap. 10.1.4), erläutert diese, wie ‚performan‐ ceorientierte‘ Strategien funktionieren. Für eine Schülerin besteht sie in der Wahrnehmung und Entschlüsselung von simultan dargebotenen Zeichen ‒ von einem verbalen, einem auditiven und einem visuellen Zeichen. Als Beispiel führt sie das Auseinanderbrechen des überfüllten Korbes an. Die Lexik ist transparent, weil lautmalerisch, die Mimik interpretiert den Vorgang: 2BKaw: […] Verben, also Wörter auch, die recht einfach sind, die auch aus der deut‐ schen Sprache schon logisch zu verstehen sind, zum Beispiel craquer. Ich hab das zwar gehört, aber, eh, craquer, des is' auch zerbrechen, und er hat auch Mimik dazu gemacht. (ISchT-EZ / 2B: 6) Ein Schüler kombiniert eine narrationsmit einer performanceorientierten Stra‐ tegie, indem er die Bedeutung der Lexik (vide / leer) aus dem Zusammenhang von narrativer Situation und illustrierender Gestik schließt: 2BLum: Mmh, also, am Ende war's ja so, dass dieses Ölglas leer war. Ich glaub, diese Vokabel, dass es leer war, war so was, was ich aus dem Zusammenhang so verstanden habe. Dann hat er den Baum eingeschmiert, und dann (.) is' ja klar, dass es dann leer wird! (ISchT-EZ / 2B: 5) 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 378 <?page no="379"?> Die Interaktion aus der Sicht der Lehrenden Der Interaktion innerhalb des Lehrkräfteteams kommt gegenüber der ersten Erzählstunde eine geringere Bedeutung zu, da der Gasterzähler die Erzählerrolle alleine bestreitet und seine Partnerin ihn nur punktuell beim Sprechen des Reims unterstützt. Die Teamarbeit besteht vor allem in der Konzeption der Erzähl‐ stunde und den Absprachen zur performativen Gestaltung. Der Kontakt zum Publikum war auch für dieses Team nicht immer gleich, aber es war überwiegend gut. Den positiv empfundenen Kontakt führen die Lehrkräfte auf das konzentrierte Zuhören der Schülerinnen und Schüler zurück. Zu Anfang seien sie eingeschüchtert, auch angespannt gewesen, bei der zweiten Performance entspannter. Eine Lehrkraft erklärt sich die entspannte Atmo‐ sphäre mit einer stärkeren Präsenz der Lernenden in der Performance. Durch die narrativen Aktivitäten zwischen den beiden Performances (Kap. 9.3.3.1) hätten sie an Selbstvertrauen gewonnen und sich ins Performancegeschehen eingebracht: LK1: Beim zweiten Zuhören, denke ich, dadurch dass sie zwischendurch die Gegen‐ stände hatten und dass sie auch mal was sagen konnten, dass sie nicht mehr in der passiven Zuhörerrolle waren, sondern auch zwischendurch aktiv waren, und dann auch durch die Gegenstände auf bestimmte Punkte sensibilisiert waren, waren sie beim zweiten Zuhören meiner Meinung nach entspannter. […] Und haben sich na‐ türlich dann auch mehr gemeldet. (ILKT-EZ / 2: 11) Der Erzähler dieser Erzählstunde erläutert auf die Frage nach den Unterschieden zwischen einem Schülerpublikum und einem Lehrkräftepublikum, mit dem er in den Workshops der Weiterbildung Erfahrungen sammeln konnte, seine An‐ strengung als Performer in der Unterrichtssituation wie folgt: LK2: Das Lehrerpublikum war aufgeschlossen, war sogar ermunternder als das Schü‐ lerpublikum, weil es [das Schülerpublikum, Einfügung durch Verf.] mich kritischer beäugt hat. Sie können sich auch hineinversetzen, wissen, dass es nicht so einfach ist, da vorne zu stehen und eine Geschichte frei zu erzählen. Da bekommt man mehr Zuspruch. Und die Schüler, die gucken halt: Na, wir werden mal sehen, was er da so erzählt. Da ist man schon etwas mehr gefordert, da muss man genauer erzählen, man weiß, wenn man Fehler macht oder so. (ILKT-EZ / 2: 13) Der Kontakt zum Lernenden-Publikum will erkämpft sein. Ein entspanntes Per‐ formancegefühl konnte der Erzähler entwickeln, weil er das „Gefordert-Sein“ aktiv angenommen hat ‒ mit dem oben beschriebenen dynamisch-theatrali‐ 10.2 Die zweite Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde 379 <?page no="380"?> schen Performancespiel und auch mit seiner sprachlichen Sicherheit als nativer Sprecher. Der Publikumskontakt aus der Sicht der Lernenden Die Lernenden sehen sich in Kontakt mit dem Erzähler dadurch, dass dieser Augenkontakt mit ihnen hält und sie anspricht. Aber nicht nur die Kontaktan‐ gebote sind ihnen wichtig. Ihre Antwort durch Mitwirken gehört ebenso dazu: 2BLum: Ehm, ich fand das gut, dass er uns mit einbezogen hat, dass wir auch was dazu gesagt haben und dann auch (.) schon mal überlegen mussten, was in der Ge‐ schichte vorkam. (ISchT-EZ / 2B: 7) Die Äußerung einer Schülerin bringt die Performancegestaltung mit den Reak‐ tionen des Publikums zusammen. Beide hätten Emotionalität in die Kommuni‐ kationssituation gebracht: Denn: 2BKaw: War halt, ehm, also sehr viel Emotion war da drin, auch viele Pausen, wo man versucht hat, mitzusprechen. (ISchT-EZ / 2B: 6) Beide Lernenden-Äußerungen zeigen, wie die Wahrnehmungen von Performer- und von Publikumsseite einander ergänzen. Für den Performer entsteht ein gutes, entspanntes Performancegefühl, wenn er Spielfreude entwickeln und das Publikum aktivieren kann. Das Publikum empfindet Freude am Zuschauen, weil es die Gestaltung genießen und das Angebot zum Mitwirken nutzen kann. Auf diesem Wechselspiel von Emotionen, von Angebot und aktiver Antwort be‐ ruhen die von beiden Seiten positiv aufgenommenen Feedback-Schleifen der Performance. Der Erzähler sieht eine pädagogische Feedback-Schleife, wenn er die Einschätzungen der Ergebnisse durch die Akteure der Erzählstunde zusam‐ menfasst und dabei die Formel des „Rundum-Gefallens“ (Kap. 10.2.1) wieder aufnimmt: LK2: Die Schüler sind, denke ich mal, einigermaßen zufrieden gewesen, auch mit den Ergebnissen. Sie haben auch gemerkt, dass wir zufrieden waren. Dementsprechend war es, glaube ich, auch für die Schüler eine sehr runde Stunde. (ILKT-EZ / 2: 16) Zusammenfassung Auch die Akteure der zweiten Erzählstunde erfahren die Durchführung der Performance als pädagogisch und ästhetisch gestaltete Aufführung. Die dyna‐ misch-theatralische Gestaltung der Performance und die Freude des Publikums am Zuschauen und Mitwirken führten zu einer entspannten, fröhlichen Perfor‐ manceatmosphäre. Auch diese Lernenden schreiben ihre Aufmerksamkeit und 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 380 <?page no="381"?> ihr konzentriertes Beobachten visueller, prosodischer und theatralischer Ge‐ staltung der mündlichen Kommunikationssituation zu und entdecken sie als Impulsgeber zur Entwicklung performanceorientierter Rezeptionsstrategien. Die Feedback-Schleifen dieser Erzählstunde beruhen ebenfalls auf einem Geben und Nehmen von Aufmerksamkeit, darüber hinaus auch auf einem Geben und Nehmen theatralischer (Mit-)Gestaltung. 10.2.5 Die vierte Hauptkategorie: Reflexionen der Rekonstruktionen Die Gestaltung der Rekonstruktionen Die Lernenden auch dieser Erzählstunde heben den abwechslungsreichen Cha‐ rakter des Lernarrangements hervor und beurteilen die drei aufeinander auf‐ bauenden Phasen des Erfindens, des Vortragens und der Reflexion ihrer Fort‐ setzungsgeschichten positiv. Als sehr hilfreich wurden die präkommunikativen, das Verstehen stützenden Übungsphasen empfunden. Der Höhepunkt der Re‐ konstruktion war für sie jedoch das eigene narrative Gestalten. Die Äußerungen der Lehrenden bestätigen die Einschätzung der Schüle‐ rinnen und Schüler. Der Wechsel von Rekonstruktionsaktivitäten und Perfor‐ mancerezeption habe zu einem progressiven Aufbau des Verstehens geführt und den Kulminationspunkt, das kreative Gestalten, vorbereitet. Auf zwei Aspekte der Prozesssteuerung geht die für die Moderation ver‐ antwortliche Lehrkraft ausführlich ein. In ihrem Fall geht es nicht um ein zu starkes Eingreifen. Im Gegenteil, sie begründet, warum sie eine Intervention in zwei Fällen zwar überlegt, aber nicht realisiert hat. Der erste Fall betrifft den Umgang mit dem Fehler. Sie habe bemerkt, dass eine Schülerin den Protago‐ nisten fälschlicherweise „krank werden ließ.“ (LK1: ILKT-EZ / 2: 1) LK1: Da hab ich überlegt, ob ich dazu was sage, und dann hab ich gedacht: Nee, wir hören das ja noch ein zweites Mal und das ist ja dann gerade der Anlass zu sehen, dass sie das dann revidieren kann. (ILKT-EZ / 2: 1) Die Lehrkraft entschließt sich, auch beim nächsten Anlass die Schülerin nicht auf ihren Irrtum hinzuweisen. Sie setzt auf die Möglichkeit der Eigenkorrektur ‒ und behält recht (Kap. 9.3.3.1). Der zweite Fall betrifft die Entscheidung, die Reflexionsphase auf Französisch durchzuführen. Die Dominanz der muttersprachlichen Schülerinnen wurde hingenommen zugunsten des reichen sprachlichen Inputs und des Zugzwangs für die andern Schülerinnen und Schüler, die sprachliche Herausforderung an‐ zunehmen, denn: 10.2 Die zweite Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde 381 <?page no="382"?> LK1: Da haben sich aber auch nur wenige beteiligt. Das ganze Gespräch wurde auf Französisch geführt, und das können sie so locker gar nicht. Manche konnten da gar nichts sagen. Da das aber so schön Französisch kam, hat man das dann in der Sprache belassen. (ILKT-EZ / 2: 6) Ihr Teamkollege ergänzt: Eine größere Beteiligung wäre wahrscheinlich schon auf Deutsch gewesen, aber ich denke mal, es ist für die schwächeren Schüler auch ganz gut, wenn sie mal so mit Französisch konfrontiert werden. Und dass sie vielleicht auch mal kleine Sätze auf Französisch sagen und nicht auf Deutsch.(ILKT-EZ / 2: 7) Die narrative Produktion: Erfinden und Vortragen der Fortsetzungen Die Lehrenden beurteilen die Fortsetzungsgeschichten durchweg positiv. Die Schülerinnen und Schüler hätten sich intensiv mit der Aufgabe auseinanderge‐ setzt. Es sei „heiß diskutiert“ (LK1: ILKT-EZ / 2: 15) worden. Zwar sei nicht in allen Geschichten die Märchen-, dafür aber die Makrostruktur der Geschichte weitergeführt worden. Bemerkenswert sei außerdem, dass „sie sich so Gedanken gemacht haben, so phantasievoll“ waren (ILKT-EZ / 2: 16). Der Gasterzähler merkt an, dass ihn die Qualität der Geschichten überrascht hat ‒ besonders im Vergleich zu den doch sehr kurzen sprachlichen Äußerungen während der Per‐ formance und den ersten Rekonstruktionen. Seine Teamkollegin gibt ihm recht und fügt hinzu, dass die Muttersprachlerinnen ihren Teil dazu beigetragen hätten: LK1: Die waren da sehr, sehr hilfreich. Die brachten auch ein bisschen Lebendigkeit rein. Und im Prinzip profitierten ja auch die anderen davon. (ILKT-EZ / 2: 15) Sie geht allerdings davon aus, dass alle Gruppen ihre Geschichten auch ohne diese Unterstützung verfasst hätten. Aber vielleicht wären die Texte dann „nicht ganz so rund“ (a. a. O.) geworden. Das mündliche Vortragen der Geschichten schätzen beide Lehrkräfte als eine weitere, narrative Leistung ein. Eine Herausforderung sei für die Schüle‐ rinnen und Schüler das zusammenhängende, freie Sprechen gewesen, auch wenn es sich um einen vorbereiteten Text gehandelt habe und sie sich auch nicht ganz von der Vorlage gelöst hätten: LK2: Also, ehm, es ist, glaube ich, nicht einfach, jetzt so auf einmal, so ad hoc, ich muss jetzt fünf oder sechs Sätze erzählen. Deswegen fand ich es auch nicht so schlimm, dass der eine oder andere einen Spickzettel hatte. (ILKT-EZ / 2: 14) 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 382 <?page no="383"?> Noch beeindruckender fanden die Lehrkräfte die Selbstständigkeit, mit der die Lernenden die performative Aufgabe lösten und ihren Vortrag inszenierten. LK1: Und was mich gefreut hat war, dass sie, ehm, dass wir Dreiergruppen hatten, dass sie aber nicht einen Erzähler gewählt haben, sondern sich die Rollen verteilt haben und sich beim Erzählen abgelöst haben. Das hab' ich ihnen gar nicht so gesagt. Das haben sie von sich aus gemacht. (ILKT-EZ / 2: 14) Eine wichtige Erfahrung für die Lernenden war das kooperative Erarbeiten der Geschichten. Ein Schüler beschreibt die Zusammenarbeit als eine narrative Puzzlearbeit, die sehr viel Spaß gemacht habe: 2BLum: Ja, dass man Ideen zusammentragen kann, wie's bei uns zum Beispiel war. Da haben wir alle, jeder 'ne einzelne Idee gehabt, ich nehme auch stark an, war bei den anderen so … Ss: Ja! 2BLum: …hat man da draus was zusammengebastelt. (ISchT-EZ / 2B: 9) Die Metapher des „Zusammenbastelns“ schließt an das Bild vom „Zusammen‐ setzen, was man vorher verstanden hat“ (2BLum: ISchT-EZ / 2B: 8, Kap. 10.2.4) an. Beide figurativen sprachlichen Wendungen umschreiben narrative Aktivi‐ täten als ein Zusammenfügen einzelner Teile oder, wie es die Erzähltheorie for‐ muliert, als ein Zusammenfügen von Bausteinen des Erzählens. Die Kooperation innerhalb der Gruppen machte auch Mut zum freien Spre‐ chen. Sie trägt zum entspannten Vortragen bei, bemerkt ein Schüler: „Ich fand das Vortragen entspannt, so 'n bisschen, weil wir da alle gesessen haben, so jeder so 'ne kleine Reihenfolge hatte.“ (2BLum: ISchT-EZ / 2B: 10). Eine weitere Äu‐ ßerung beleuchtet aus Lernendensicht das Argument der Lehrkraft, dass die punktuelle Konsultation eines ‚Spickzettels‘ mit dem freien Sprechen durchaus vereinbar ist. Das vorbereitete Sprechen mit Textvorlage stelle eine Chance zum zusammenhängenden Sprechen dar, was spontan noch nicht immer zufrieden‐ stellend gelinge: 2AJam: Und da eben mal wirklich auch zwei, drei Sätze so zu sprechen, die dann auch funktionieren, also ich find einfach, des macht wirklich Spaß, wenn man ... Also wenn ich jetzt ganz frei rede, dann verspricht man sich zu oft, […] Aber wenn man jetzt zum Beispiel des erst in 'ner Gruppe be-, überarbeitet, sich den Text denn in Stichwörtern und des dann frei redet, dann macht's sehr viel Spaß. (ISchT-EZ / 2A: 9f.) Auch die Lernenden dieser Gruppe weisen darauf hin, dass ihnen ‒ im Unter‐ schied zu mancher Referatsituation ‒ das Verstehen der Vorträge leicht gefallen sei, denn die andern „die sind ja vom Sprachlichen genauso weit wie wir.“ 10.2 Die zweite Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde 383 <?page no="384"?> (2AJam: ISchT-EZ / 2A: 11) Und der gemeinsame inhaltliche und lexikalische Bezugsrahmen der Geschichte erleichtere das Verstehen. Auch die Reflexion der Geschichten wird für die Lernenden zu einer po‐ sitiven Erfahrung. Auf diesem Wege konnten sie ihre unterschiedlichen narra‐ tiven Lösungen zur Kenntnis nehmen und gerade diese Vielfalt interessant finden. Ein Schüler schickt diesem Argument mit dem gerne gebrauchten Aus‐ druck „lustig“ eine nachdenkliche, positive Beurteilung hinterher: 2AJam: …und das macht sowieso, find ich, total Spaß und …weiß nich', auch inner Gruppe vergleichen! O.k., die ham' so 'ne Gedanken gehabt, und wir ham' halt so welche! Doch, schon ... lustig! (ISchT-EZ / 2A: 10) Die Interaktion in den Gruppen war für die Lernenden eine wichtige Erfahrung weil „man nich', ehm, eben auf sich allein […] gestellt is'“ (ILKT-EZ / 2B: 9), weil man Unterstützung und Anregungen bekommt. Die Lehrkräfte heben ebenfalls die intensive Kooperation in den Gruppen und die Leistungen der Schülerinnen und Schüler als Publikum der Gruppenvorträge hervor. Zusammenfassung Die Rekonstruktionsphasen werden als ein Prozess intensiver und kooperativer Auseinandersetzung mit der Geschichte erfahren. Den Kulminationspunkt dieses Prozesses bildet der Vortrag der Fortsetzungsgeschichten. Dass sie in der Lage waren, ihre Vorträge selbstständig, relativ frei und publikumsorientiert zu realisieren, schreiben die Akteure auch dieser Erzählstunde der Unterstützung durch das Lehr- / Lernarrangement, ferner ihrer Interaktion in den Gruppen und vor allem ihrer Freude am Erfinden und Gestalten zu. Auch in dieser Erzähl‐ stunde übernehmen die Lernenden bei der Präsentation ihrer Ergebnisse im Wechsel die Rolle von Vortragenden und Zuhörenden und sorgen dabei für das Entstehen positiver Feedback-Schleifen. 10.2.6 Forschungsfragen und Ideen zur Weiterarbeit Am Ende des Interviews nehmen die Lehrkräfte Stellung zu ihren Forschungs‐ fragen. Sie stellen fest, dass die Frage nach dem Erfassen und Verarbeiten der Struktur der Geschichte in den Fortsetzungsgeschichten positiv entschieden werden kann, weil die Kettenstruktur in allen Geschichten weitergeführt worden sei. Über die Beantwortung der Frage nach der Funktion dieser Struktur als Verstehenshilfe ist sich das Team nicht ganz einig. Man könne das jetzt „noch gar nicht so richtig sagen“ (LK2: ILKT-EZ / 2: 19) meint der eine, die andere hält mit dem Argument dagegen, dass man aus der Weiterführung der Ketten‐ 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 384 <?page no="385"?> struktur in den Fortsetzungsgeschichten auf deren Funktion als Verstehenshilfe schließen könne. Einig sind sie sich darüber, dass die auf den Vortrag der Ge‐ schichten bezogenen Forschungsfragen mit einem Ja zu beantworten sind. Das freie Erzählen sei ‒ mit den bereits genannten Einschränkungen ‒ den Ler‐ nenden gelungen. LK1: Und ob sie am Schluss, ehm, Spaß haben am Zuhören… Ich denke, das hatten wir heute auch schon: Sie haben gut zugehört bei den gegenseitigen Versionen, haben das auch erfasst, mit Freude kommentiert. (ILKT-EZ / 2: 19) Für die Weiterarbeit mit der Geschichte sieht das Team zwei Alternativen. Die eine bestünde in einer Überarbeitung der Geschichten durch Integration eines Reims wie im Original, ein sich anschließender Vortrag der überarbeiteten Ge‐ schichten und zum Schluss eine Präsentation der Originallösung. Ziel dieser Überarbeitungsalternative ist eine dem Original angepasste Rhythmisierung der Geschichten. Die andere Alternative bestünde darin, ausgehend von Gegen‐ ständen oder Bildern aus Afrika, weitere Geschichten zu erfinden und vorzu‐ tragen. Diese Alternative zielt auf eine von textuellen Vorgaben unabhängige narrative Gestaltung. Beide Alternativen setzen als Schlusspunkt den mit einem Training des freien Sprechens verbundenen Vortrag der narrativen Produkti‐ onen. Die Ideen der Lernenden zur Weiterarbeit teilen sich wie die der Lehrenden in zwei Richtungen. Die einen wünschen eine vertiefende Auseinandersetzung mit der bereits erarbeiteten Geschichte durch Ausbau von Nebenstrukturen, die andern möchten neue Geschichten erfinden. Für die erste Alternative wird vor‐ geschlagen, „zum Beispiel 'ne Personenbeschreibung dazu [zu] machen“ (2AJam: ISchT-EZ / 2A: 12) oder durch Verleihen einer inneren Stimme zu zeigen „wie zum Beispiel der kleine Junge fühlt, so 'ne Sinneseingabe.“ (2AAnw: ISchT-EZ / 2A: 12). „Lustig“ wäre die andere Alternative: kurze, eigene Ge‐ schichten verfassen, gerne mit einer ähnlichen Struktur wie die gerade erarbei‐ tete, gerne auch ein Märchen, auch Abenteuer- oder Reisegeschichten wären anzustrebende Genres. Häufig wird betont, dass es sinnvoll ist, die Arbeit mit Geschichten in einen größeren thematischen Zusammenhang wie z. B. Traditi‐ onen in Afrika zu stellen. Ab und zu mal eine Geschichte erzählt zu bekommen, das sei eine gute Erfahrung, aber: „Nicht zum Alltag werden lassen.“ (2BLum: ISchT-EZ / 2B: 13) Die Schülerinnen und Schüler heben damit auf das Ereignis‐ hafte der Erzählperformance ab. Den Unterschied zwischen Routine und Auf‐ führungserlebnis wollen sie erhalten wissen. 10.2 Die zweite Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde 385 <?page no="386"?> 10.2.7 Erste Interpretation der Interviewanalyse: Vergleich der Perspektiven der Akteure mit den Analyseergebnissen der zweiten Erzählstunde Auch die Auswertung der Interviewanalyse der zweiten Erzählstunde durch Datentriangulation zeigt Übereinstimmungen, Ergänzungen sowie Erweite‐ rungen zwischen den Akteureperspektiven und den Analyseergebnissen der videobasierten Beobachtung der Stunde. Bestätigungen und Ergänzungen der Videoanalyse Was die Konzeption der Erzählstunde betrifft, so werden von den Akteuren in Übereinstimmung mit der Videoanalyse der dreiphasige Stundenaufbau, die handlungsorientierte Konzeption, das Prinzip der Mündlichkeit und Einspra‐ chigkeit genannt. Das abschließende metanarrative Gespräch wird hier beson‐ ders positiv hervorgehoben. Ergänzend zur Videoanalyse wird auf die Vorteile kontextgebundener Wortschatzarbeit bei der narrativen Rezeption und Produk‐ tion verwiesen. Was die Gestaltung der Erzählperformance betrifft, so zeigen die Stellung‐ nahmen der Lernenden auch dieser Erzählstunde, dass sie Art, Funktionen und Verwendung der performativen Zeichen wahrgenommen und für ihre Rezeption genutzt haben. Ergänzend zur Videoanalyse unterstreichen die Lernenden die theatralische Gestaltung der Performance und heben die Einladung zum Mit‐ gestalten positiv hervor. Die Lernenden dieser Erzählstunde stellen ebenfalls den individuellen und kooperativen Charakter der Rekonstruktionen heraus. Sie ergänzen die Vi‐ deoanalyse durch eine emotionale Schwerpunktsetzung: Höhepunkt der Re‐ konstruktionen war für sie das Erzählen und Hören der selbst erfundenen Ge‐ schichten. Erweiterungen der Videoanalyse Die Erweiterungen betreffen diejenigen Kategorien, die sich bereits in der Aus‐ wertung der ersten Erzählstunde (Kap. 10.1.7) als besonders relevant erwiesen. Der Erzählung wird auch bei der verkürzten Präsentation dieser Stunde (Kap. 9.1.2) Erzählwürdigkeit zugeschrieben. Als Argumente werden ebenfalls prototypische, die Darstellungs- und Erlebnisqualität ausmachende Merkmale der Geschichte angeführt. Aber es gibt auch Besonderheiten, die auf die nicht rezipierte Höhepunktszene und die fehlende „Rumpelstilzchen“-Lösung zurück‐ zuführen sind. Die Schülerinnen und Schüler heben hier weniger auf das Skur‐ rile, Fremde der dargestellten Welt ab und stellen nur einige wenige Märchen‐ vergleiche an. Dafür interessieren sie sich für die Spannungserzeugung und die 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 386 <?page no="387"?> Episodenverknüpfung durch ‚kleine Planbrüche‘, die sie dann auch in ihren Fortsetzungsgeschichten zur Herstellung semantischer Kohärenz verwenden. Sie heben weniger auf die szenische Gestaltung der Episoden ab, entdecken aber die Fiktionalität der Geschichte, wenn sie das Erzählkonzept dieser Geschichte gegenüber Lehrwerktexten abgrenzen. Und sie interessieren sich für die sprach‐ liche Gestaltung. Möglicherweise hängt dies mit der in dieser Stunde gestellten verbalen narrativen Aufgabe zusammen. Das Erfinden einer Fortsetzung der gehörten Geschichte erfordert ästhetische Entscheidungen im Hinblick auf das zu wählende Genre, die Makrostruktur und die Gestaltung der Textoberfläche und trägt damit zur Wahrnehmung dieser textuellen Elemente bei. Das Erwägen und Aushandeln der Fortsetzungsgeschichte innerhalb der Gruppe sensibilisiert evtl. in größerem Maße für die Wahrnehmung der Fiktionalität und anderer textueller Aspekte des Ausgangstextes, als dies bei der intermedialen narrativen Aufgabe der Fall ist. Die narrative Aufgabe dieser Erzählstunde wird von der Lerngruppe ge‐ schätzt wegen des persönlichen Zugangs zur Geschichte und der Möglichkeit, Kreativität und Phantasie einzubringen und selbstständig zu agieren. Weitere gemeinsame Erfahrungen und Einschätzungen bestehen in der mehrfach geäu‐ ßerten Freude an der narrativen Produktion, im Interesse an den Produktionen der anderen Akteure, im Erstaunen über deren Unterschiedlichkeit und in der Freude an der narrativen Interaktion und Kooperation. Während die Lernenden der ersten Erzählstunde mehr Stolz auf die Gestaltung ihrer Bilder als Einzel‐ werke und als Teil der gemeinsam zusammengesetzten Wort-Bilder-Serie legen, liegt der Stolz auf die produktive Narrativierung bei der zweiten Lerngruppe in der sprachlichen und performativen Gestaltung der Präsentation. Das Erfinden und freie Vortragen eines zusammenhängenden Textes hatte zu Folge, dass der Sprechanteil jedes Lernenden mit zwei, drei Sätzen zwar relativ kurz, für das gefühlte Kompetenzniveau der Schülerinnen und Schüler aber im Hinblick auf Länge, Inhalt und Kohärenz der sprachlichen Äußerung relativ anspruchsvoll war. Die von den Akteuren der zweiten Erzählstunde gelieferten Erläuterungen ihrer Rezeptionsstrategien erweitern das Spektrum bereits entdeckter dis‐ kursspezifischer Strategien. Sie ergänzen die auf die Entwicklung des roten Fa‐ dens der Narration ausgerichteten ‚narrationsorientierten‘ Strategien durch ‚performanceorientierte‘ Strategien, die auf die Wahrnehmung simultan einge‐ setzter visueller und verbaler Zeichen setzen. Möglicherweise ist der Einsatz dieser Strategie auf die performative Gestaltung des Erzählers dieser Erzähl‐ stunde zurückzuführen. 10.2 Die zweite Erzählstunde: eine entspannte - eine fröhliche Erzählstunde 387 <?page no="388"?> Die Erläuterungen der Performancegefühle der Lehrkräfte beider Erzähl‐ stunden geben Einblicke in die Herausforderungen, denen diese sich beim freien Erzählen vor einem Lernendenpublikum zu stellen haben. Ihre Erfahrungen stimmen, was die Notwendigkeit einer gut zu performenden Textvorlage, einer wohl überlegten Inszenierungsstrategie und eines spürbaren Kontakts zum Publikum betrifft, überein. Dass zum Gelingen der Performance auch das Finden einer auf das eigene Temperament, die eigenen Fähigkeiten, die ästhetischen Vorbilder und Vorlieben abgestimmte Erzählerrolle gehört, zeigen ebenfalls die Erklärungen beider Teams, am deutlichsten jedoch die des Allein-Erzählers der zweiten Erzählstunde. Er berichtet von seinen Versuchen, in eine dyna‐ misch-theatralische Erzählerrolle zu schlüpfen und den angestrebten engen Kontakt zum Publikum immer wieder herzustellen. Die sich daraus ergebende positive Feedback-Schleife zwischen Erzähler und Publikum funktioniert nach dem Prinzip der Ansteckung: Der Performer beeinflusst über den „Weg der Em‐ pathie“ (s. Sollich 2005: 373) sein Publikum, indem er Fröhlichkeit verbreitet und Mut zur Mitgestaltung entfacht. Das Ansteckungsprinzip ist evtl. auch Grund dafür, dass sich die Motivation zur Teilhabe an der Performance im Unterschied zur ersten Erzählstunde in Mitmachaktionen des Publikums manifestierte. Möglich ist es auch, dass die Motivation des Erzählers, sichtbar an seiner Freude am Performen, sich auf die Motivation der Lernenden zum eigenen freien Erzählen übertragen hat. 10.3 Zwischenfazit: die erste und die zweite Interpretation der Analyseergebnisse Im folgenden Zwischenfazit werden zunächst die Ergebnisse der ersten Inter‐ pretation erzählstundenübergreifend zusammengefasst. Anschließend wird eine zweite Interpretation durchgeführt, die sich zum Ziel setzt, die Interview‐ ergebnisse im Hinblick auf zentrale Fragestellungen der Studie auszuwerten. Die Ergebnisse beider Interpretationen werden am Ende des Kapitels zusam‐ mengeführt. 10.3.1 Zusammenfassung der ersten Interpretation: Vergleich der Akteure-Perspektive mit den Analyseergebnissen der Erzählstunden Die erste Interpretation der Interviewergebnisse wurde für jede Erzählstunde (Kap. 10.2.7, 10.3.7) zwar getrennt, aber unter denselben Kriterien durchgeführt. 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 388 <?page no="389"?> Erzählstundenübergreifend lassen sich die Ergebnisse wie folgt zusammen‐ fassen: • Die Interviewergebnisse bestätigen überwiegend die Ergebnisse der Vi‐ deoanalyse. Darüber hinaus liefern sie Erweiterungen und Ergänzungen aus der Innenperspektive der Akteure. Aus der Kombination von Außen- und Innenperspektive lassen sich einige Aspekte der Performanceanalyse genauer fassen. Dies betrifft vor allem den Aspekt der Erzählwürdigkeit des ausgewählten Märchens, die Performancegefühle und die Motivation der Akteure sowie die Rezeptionsstrategien der Zuhörenden. • Es hat sich gezeigt, dass das Prinzip der Erzählwürdigkeit zwar auf werk‐ seitigen, textuellen Merkmalen beruht, ihre Wahrnehmung jedoch von werkexternen Rezeptionsbedingungen abhängt, z. B. dem sprachlichen Niveau der Rezipierenden, der Performanceinszenierung. Und es hat sich gezeigt, dass es Aufgabe der Akteure ist, die Erzählwürdigkeit einer Ge‐ schichte zum Tragen zu bringen. • Dasselbe interaktive Phänomen konnte für den performativen Pakt nach‐ gewiesen werden. Während die videobasierte Analyse der Rekonstrukti‐ onsphasen zeigen konnte, dass sich die Akteure gegenseitig Aufmerk‐ samkeit schenken, weil sie ihre Beiträge aufeinander beziehen, konnte sie dies für die Performance nur vermuten. Die Interviewäußerungen hin‐ gegen zeigen, dass die Akteure ihre performative Interaktion als ein ge‐ genseitiges Geben und Nehmen von Aufmerksamkeit und Zuwendung empfanden. Daraus kann geschlossen werden, dass ein performativer Pakt im Fremdsprachenunterricht entstehen kann und dass er auf der stillen Übereinkunft der Akteure beruht, dafür zu sorgen, dass die Per‐ formance als Aufführung erlebt wird. • Die Äußerungen der Schülerinnen und Schüler zu den von ihnen einge‐ setzten Rezeptionsstrategien erweitern das Spektrum allgemeiner Re‐ zeptionsstrategien (Kap. 6.2.2) um spezifische, bei der Rezeption von Erzählperformances anwendbare narrationsorientierte und performanceorientierte Strategien. Beide Strategien wenden eine Kombination von buttom-up und top-down-Strategien an und nutzen dabei strukturelle Elemente der Narration bzw. der Performance. Narrationsorientierte Stra‐ tegien nutzen z. B. syntaktische Narreme wie teleologische und chrono‐ logische Verknüpfungen, um den nächsten narrativen ‚Zug‘ vorauszu‐ denken. Performanceorientierte Strategien nutzen z. B. die simultanen Zeichenkombinationen, indem sie aus den diskursbegleitenden non-ver‐ balen Zeichen auf die Bedeutung der linguistischen Zeichen schließen. 10.3 Zwischenfazit: die erste und die zweite Interpretation der Analyseergebnisse 389 <?page no="390"?> 6 Dem Schwerpunkt der Forschungsfragen und der Stundenziele entsprechend wird hier nicht nach einem sozialgeschichtlich fundierten Konzept gefragt. Eines solchen Kon‐ zepts hätte es zu einer sozialgeschichtlichen Reflexion der Märchenlösung und in diesem Kontext auch einer Diskussion der Rolle des chef du village bedurft. Inwieweit diese Debatte vor oder nach der Erzählstunde geführt wurde, kann auf der Basis der vorhandenen Daten nicht geklärt werden. Es entspricht aber sicher dem Bedürfnis der Schülerinnen und Schüler, über die Auseinandersetzung mit Geschichten mehr über Kultur und Tradition afrikanischer Gesellschaften zu erfahren. • Aus den Datenvergleichen, die sich auf die einzelnen Erzählstunden be‐ ziehen, können Rückschlüsse auf die Spezifika der jeweiligen Stunde ge‐ zogen werden. Den erzählstundenübergreifenden Gemeinsamkeiten lassen sich Verallgemeinerungen entnehmen, die in der folgenden zweiten Interpretation (Kap. 10.3.2) und in der Darstellung der Ergebnisse der Studie (Kap. 11, 13) erläutert werden. 10.3.2 Die zweite Interpretation: wirksame Faktoren der Weiterbildung - die von den Akteuren entdeckten Potenziale mündlichen Erzählens Die zweite Interpretation wertet die Ergebnisse der Interviewanalyse beider Er‐ zählstunden im Hinblick auf zwei Fragestellungen aus: • erstens im Hinblick auf den Zusammenhang mit der Projektarbeit der Weiterbildung, wobei hier punktuell Daten aus den Projektdossiers (PDLK-EZ / 1, EZ / 2) hinzugezogen werden, • zweitens im Hinblick auf die Potenziale mündlichen Erzählens, die die Akteure der Erzählstunden aus ihrer Perspektive für ihr Handeln entde‐ cken konnten. 10.3.2.1 Wirksame Faktoren der Weiterbildung Die Reflexionen der Lehrenden machen deutlich, dass sie über ein erzähltheo‐ retisch und erzähldidaktisch fundiertes Erzählkonzept 6 verfügen und dass ihnen dieses Konzept hilft, ihren Forschungsfragen nachzugehen. Dies aus fol‐ genden Gründen: • Ihre Äußerungen zum Märchentext basieren auf ausgwiesenen erzähl‐ theoretischen Kriterien und in Teilen auf entsprechenden Fachbegriffen, die sie im Laufe ihrer Weiterbildung zur Analyse fiktionaler narrativer Texte (z. B. von Volksmärchen und von Autorenmärchen Marie-Célie Ag‐ nants) und zum eigenen kreativen Schreiben (z. B. beim Verfassen einer 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 390 <?page no="391"?> 7 Dazu gehört vor allem das Finden eines roten Fadens und damit das Verfolgen der Globalstruktur ‒ sowohl bei der unmittelbaren Rezeption als auch bei den folgenden narrativen Aktivitäten. Mit diesem Konzept kann die narrative Rezeption als ein prin‐ zipiell nicht abgeschlossener, im Unterricht durch entsprechende Aufgaben beeinfluss‐ barer Prozess aufgefasst und unterstützt werden. Geschichte nach Schreibimpulsen Gianni Rodaris) nutzen konnten (Kap. 5.4, 8.1). Zu den erzähltheoretischen Kriterien gehören die szenische Ge‐ staltung und das Erzeugen von Nähe durch Figurenrede, die Merkmale der poésie orale und die Strukturierungselemente des narrativen Dis‐ kurses sowie genrespezifische Merkmale des Märchens u. a. m. Hinzu kommen das Wissen und die Erfahrung im Umgang mit der Intermedia‐ lität des Narrativen. Die Forschungsfragen der Lehrkräfte bauen auf diesen Charakteristika des narrativen Diskurses auf und ihre Spontanre‐ flexionen im Interview zeigen, dass sie versuchen, diesen Potenzialen mit ihrem Projekt nachzugehen. • Die Kriterien ihres Erzählkonzepts wenden sie flexibel und sicher auf die Einschätzung der Output-Texte der Lernenden an, z. B. die Kriterien nar‐ rativer Strukturierung. Wichtig sind ihnen nicht die ohne Zweifel vor‐ handenen Schwierigkeiten der Lernenden mit der Morphosyntax des Französischen, sondern die übersatzmäßigen, auf die Entwicklung einer narrativen Globalstruktur zielenden Bemühungen zur Rekonstruktion bzw. Weiterführung der Geschichte. Die Zielsetzung der Weiterbildung, eine Passung zwischen beiden Beurteilungskriterien herzustellen, erlaubt es ihnen, die Zusammenhänge zwischen dem Input und den Output-Texten der Erzählstunde herauszufinden, damit eine ihrer For‐ schungsfragen zu beantworten und die Narrativierungsleistungen der Lernenden zu würdigen. • Den Äußerungen der Lehrenden zu den Rezeptionsleistungen der Lern‐ enden liegt ein erzähldidaktisch fundiertes ‚narrationsorientiertes‘ Ver‐ stehenskonzept 7 zugrunde, das ebenfalls in den Weiterbildungsseminaren diskutiert wurde. Dieses Verstehenskonzept nutzen die Lehrenden zur Reflexion des Rezeptionsprozesses der Lernenden und der Rolle narra‐ tiver Aufgaben und Lernarrangements. Eine Lehrkraft entwickelt bei der Bearbeitung ihres Projektdossiers (Kap. 8.1.2) das im Interview erläuterte Verstehenskonzept in diesem Sinne weiter. Wichtig für das Fördern von Erzählkompetenz sei es, Einsichten in den Verstehensprozess zu vermit‐ teln, zu zeigen „wie eine Geschichte verstanden wird, nämlich spiral‐ förmig, auf verschiedenen Stufen und mit verschiedenen Mitteln, die je‐ weils beim Verstehen unterstützen.“ (PDLK-EZ / 1: 5) 10.3 Zwischenfazit: die erste und die zweite Interpretation der Analyseergebnisse 391 <?page no="392"?> Die Reflexionen der Lehrenden zur Performancegestaltung zeigen, dass sie für ihr Erzählprojekt ein auf ihre Lerngruppe und die Unterrichtssituation abge‐ stimmtes Inszenierungskonzept erarbeitet haben und sich dabei von den im Seminar diskutierten Inszenierungsformen inspirieren ließen. Auch wird deut‐ lich, dass sie zur Entwicklung performativer Strategien und zum Finden ihrer Erzählerrolle das Erzähltraining der Workshops nutzen konnten. Es zeigt sich auch, dass die Erzählenden ‒ vergleichbar den Akteuren einer Theaterauffüh‐ rung ‒ in ihre Performance-Aufführung so involviert sind, dass sie emotional und kognitiv nicht ‚loslassen‘ können. Das, womit sie nicht ganz zufrieden sind, hat sie im Griff. Sie möchten es gerne verändern. Die schriftlichen Reflexionen der Projektdossiers bestätigen diese Interpretation. Eine Erzählerin des ersten Teams möchte mehr Vorbereitungszeit einplanen „um noch freier erzählen zu können.“ (PDLK-EZ / 1: 7) Der Allein-Erzähler des zweiten Teams möchte das von ihm mehrfach angesprochene entspannte und rhythmische, das Publikum mitnehmende Erzählen weiter ausprobieren. Als Lösung nimmt er sich vor, mit anderen, der mündlichen Tradition noch stärker verpflichteten Erzählungen zu arbeiten, „weil diese melodiöser klingen.“ (PDLK-EZ / 2: 10) Es ist auch das Team der zweiten Erzählstunde, das sich Gedanken über ein performatives Training mit den Lernenden macht, in dem das freie Sprechen verstärkt geübt werden soll. Gelegenheit zu weiteren, vertiefenden Reflexionen der Erzählstunden lieferte die Fortsetzung der Projektarbeit im Rahmen der Weiterbildung, bei der die Lehrkräfte sowohl die Videoaufnahmen als auch die Transkription der Inter‐ views zur Verfügung gestellt bekamen. Einige der in den Projektdossiers der Lehrkräfte schriftlich festgehaltenen Reflexionen zeigen, dass sich die Lehr‐ kräfte in Bezug auf ihre spontan geäußerten Einschätzungen zumeist bestätigt sehen, in einigen Punkten jedoch sehr überrascht sind. Dies betrifft die Kon‐ zentration und Aufmerksamkeit des Publikums, die ihnen nach Anschauen der Videoaufnahmen höher erscheint als zuvor wahrgenommen, es betrifft die po‐ sitiven Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler zur Unterrichtsgestaltung und zur durchgängigen Kommunikation in der Zielsprache. Die Lehrenden waren erstaunt, dass die Lernenden „so viel Einblick in den Vorgang des eigenen Textverständnisses hatten und dies gut verbalisieren konnten. Es ist auch über‐ raschend, dass sie die Tatsache, dass nur Französisch gesprochen wurde, als angenehm empfanden.“ (PDLK-EZ / 1: 9) Die Weiterbildungssituation ermög‐ lichte den Lehrkräften einen forschenden Blick auf ihre Erzählstunden, der ihnen Anregungen für die künftige Unterrichtspraxis gibt. Sie nehmen sich vor, weitere Erzählstunden zu halten, mehr kontextuelle Wortschatzarbeit zu be‐ treiben und vorwiegend einsprachigen Unterricht zu halten: „Man sollte wei‐ 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 392 <?page no="393"?> terhin den Mut haben, diese Form des Unterrichts zu machen. Die Schülerreso‐ nanzen waren durchweg sehr gut ‒ es bringt Abwechslung ins Unterrichtsgeschehen. Die Schüler hören aufmerksam und gespannt zu, das fördert das Hörverstehen.“ (PDLK-EZ / 2: 9) Weitere Gelegenheit zur Reflexion boten den Lehrkräften ihre Präsentationen im Seminar und der damit verbun‐ dene Austausch mit ihren ‚Mitforscherinnen und -forschern‘: „Die Seminarteil‐ nehmer hatten einen guten Eindruck der Stunde gewonnen und konnten uns Anregungen bezüglich der Forschungsfragen und der Lernziele geben. Au‐ ßerdem konnten wir so unseren Unterricht mit externen Beobachtern reflek‐ tieren und somit neue Erkenntnisse […] gewinnen.“ (PDLK-EZ / 2: 9) Die Reflexionen der Lernenden zeigen, dass die Ausnahmesituation der Re‐ cherchearbeit der Lehrkräfte und die Interviewsituation sie dazu animiert, sich Gedanken über ihr eigenes Sprachenlernen und die best-practices des Sprach‐ unterrichts zu machen. Sie entdecken auf diesem Wege im mündlichen Erzählen als Performance Potenziale, die sie für ihr eigenes sprachpraktisches Lernen nutzen können. Die Reflexionen der Lehrenden zeigen, dass das kreative Schreiben, das freie, mündliche Erzählen in den Workshops und das performative Erzählen vor der eigenen Lerngruppe Gelegenheiten bieten, ihre sprachlich-pro‐ duktiven Fähigkeiten und ihre Diskurskompetenzen zu erproben und zu erwei‐ tern. Dies betrifft das Memorieren eines umfangreichen, fiktionalen Textes, das spontane Reagieren in der narrativen Interaktion mit den Lernenden sowie die sprachliche Gestaltung des Erzähldiskurses. 10.3.2.2 Von den Akteuren entdeckte Potenziale mündlichen Erzählens Es bietet sich aus zwei Gründen an, die Analyseergebnisse der Interviews nach den von den Interviewten entdeckten Potenzialen mündlichen Erzählens zu durchsuchen und unter diesem Aspekt zu interpretieren. Zum einen verbinden Lehrende und Lernende ihre Stundenreflexionen immer wieder mit allgemeinen Reflexionen über die Vorteile des mündlichen Erzählens, stellen dessen Nutzen für ihren interaktionellen ‚Job‘ in der fremdsprachlichen Unterrichtssituation heraus und bauen darauf ihre Wünsche für die weitere Unterrichtsarbeit auf. Aus diesen ‚Vorteile-Argumenten‘ kann eine Entdeckung von Potenzialen mündlichen Erzählens extrapoliert werden. Zum andern stellt diese Interpreta‐ tion eine weitere Triangulation der Ergebnisse der Potenzialrecherche dar, diesmal nicht nur auf der Grundlage einer Daten- (Kap. 9.4.2), sondern auch einer Perspektiventriangulation. Im Unterschied zur ersten Triangulation (Kap. 9.4.2), bei der die im konzeptionellen Teil der Studie entwickelten Potenziale mit den in den Erzählstunden sichtbar gewordenen verglichen wurden, werden 10.3 Zwischenfazit: die erste und die zweite Interpretation der Analyseergebnisse 393 <?page no="394"?> nunmehr die von den Akteuren der Erzählstunden entdeckten Potenziale dar‐ gelegt und mit den bisher recherchierten Potenzialen konfrontiert. Die videobasierte Analyse listet die recherchierten Potenziale nach den Kom‐ ponenten des mehrdimensionalen Erzählkonzepts auf (Kap. 9.4.1, 9.4.2) und legt ihr Sichtbarwerden anhand der vier Gebrauchsformen dar. Die Darlegung der von den Akteuren entdeckten Potenziale kehrt das Darstellungsprinzip um. Da die Akteure ihre ‚Vorteile-Argumente‘ aus ihren Lehr- / Lernerfahrungen und aus ihren Reflexion der Erzählung und der Stundenkonzeption schöpfen, wird diese Gebrauchsperspektive zum Ausgangspunkt der Darstellung gewählt. Auf diese Weise kann die ‚Nutzersicht‘ herausgearbeitet und Übereinstimmungen und Ergänzungen können dargelegt werden. Erfahrungen aus der Reflexion und dem Gebrauch der Erzählung Beim Nachdenken über die Merkmale der Erzählung und bei ihrem Gebrauch entdecken Lehrende und Lernende sprachliches und ästhetisches Potenzial für einen reichen, erzählwürdigen, verständlichen Input. Das Potenzial der Er‐ zählung besteht für sie im sprachlich-ästhetischen Vorbild, das ihnen als Basis für die eigenen narrativen Tätigkeiten dient, und in seiner Verständlichkeit. Damit rekurrieren sie auf das werkseitige Potenzial des Narrativen, die fiktio‐ nale Variante der narrativen Diskursform (Kap. 3.7, Potenzial 7) und den Pro‐ totypen (Kap. 3.7, Potenzial 3 und 8). Sie entdecken außerdem kulturelles ‚Bildungspotenzial‘, das ihnen Aus‐ kunft über das Leben der Menschen in anderen, fremden Kulturen gibt. Sie re‐ kurrieren damit auf sinnbildende, soziale und kulturpsychologische Potenziale (Kap. 5.6, Potenzial 3). Erfahrungen aus den Erzählperformances Durch ihre Erfahrungen bei der Durchführung der Erzählperformances entde‐ cken die Lehrenden ‚theatralisches Gestaltungspotenzial‘ zur Dramatisie‐ rung der Erzählung. Die Lernenden entdecken dieses Potenzial bei der Rezeption der Erzählperformances und genießen die Teilhabe am „Schauspielerischen“ der Darstellung. Sie nutzen es für ihr ästhetisches Erlebnis als Publikum. Sie rekur‐ rieren damit auf die performativen Potenziale der Bedeutungserzeugung in der Aufführung (Kap. 4.6, Potenzial 4 und 5). Gleichzeitig entdecken sie in den performativen Gestaltungsmitteln ‚perfor‐ matives Unterstützungspotenzial‘. Sie rekurrieren damit wiederum auf die Potenziale der Bedeutungserzeugung in der Aufführung, nutzen es aber zum Zweck der Verständnissicherung. 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 394 <?page no="395"?> Durch ihre Erfahrungen mit der Origo-Situation entdecken Lehrende und Lernende das ‚Kontaktpotenzial‘ der direkten narrativen Kommunikationssi‐ tuation. Als Erzählende nutzen sie die Situation zur Kontaktaufnahme mit dem Publikum, aber auch zur spontanen Reaktion auf dessen Bedürfnisse. Als Zu‐ hörende genießen sie das Gefühl, persönlich angesprochen zu sein und Verbin‐ dung mit den Erzählenden zu halten. Sie rekurrieren damit auf das Potenzial medialer Mündlichkeit (Kap. 3.7, Potenzial 9). Erfahrungen aus der Rekonstruktion der Geschichte Bei der Bearbeitung der narrativen Aufgaben entdecken die Lernenden ‚krea‐ tives Konstruktionspotenzial‘. Sie rekurrieren damit einerseits auf das pro‐ totypische Potenzial der Geschichte (Kap. 3.7, Potenzial 3), andererseits auf das funktionale Potenzial der Kreativität und Poesie (Kap. 5.6, Potenzial 5) beim Gebrauch des Narrativen. Beim Beobachten und bei der Reflexion der verbalen Narrativierungsleis‐ tungen der Lernenden entdecken die Lehrenden in den narrativen Aufgaben ‚Differenzierungspotenzial‘. Sie bemerken, dass die Lernenden zur Lösung der Aufgaben unterschiedliche Bearbeitungsmodi wählen und dass sie mit ihren narrativen Beiträgen unterschiedliche Narrativierungsgrade erreichen. Beide Unterschiede gereichen der Entwicklung narrativer Diskurse zum Vorteil, denn die einen Unterschiede führen zu einer bereichernden Ergebnisvielfalt und die andern werden durch Kooperation der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus‐ geglichen. Die Lehrenden bemerken, dass ihnen mit den narrativen Aufgaben ein Instrument zur Leistungsdifferenzierung zur Verfügung steht. Die Lern‐ enden profitieren aus ihrer Perspektive vom Differenzierungspotenzial, indem sie ihre Beiträge nach den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln ausrichten und den verbalen Schwierigkeitsgrad selbst regulieren. Lehrende und Lernende rekurrieren damit auf das Potenzial der Graduierbarkeit des Narrativen (Kap. 3.7, Potenzial 2). In der narrativen Interaktion entdecken die Lernenden ‚kommunikatives Streitpotenzial‘ im Sinne einer narrativen Streitkultur, die sie anwenden beim Aushandeln der Sequenzierung der Geschichte oder beim Austausch von Ideen für die Fortsetzung der Geschichte. Sie rekurrieren hier auf das werkinterne Potenzial der Geschichte (Kap. 3.7, Potenzial 3), vor allem aber auf das Potenzial der Offenheit des narrativen Diskurses und das kommunikative Potenzial der Auseinandersetzung mit Inhalten und Strukturen der Geschichte (Kap. 5.6, Po‐ tenzial 3). Sie entdecken ferner ‚interaktives Kooperations- und Unterstützungs‐ potenzial‘, wenn sie bemerken, dass sie gemeinsam eine Geschichte ‚zusam‐ 10.3 Zwischenfazit: die erste und die zweite Interpretation der Analyseergebnisse 395 <?page no="396"?> menbasteln‘ können und sich beim mündlichen Vortrag gegenseitig Hilfestel‐ lung leisten. Zu diesem Unterstützungspotenzial gehört auch das von den Lehrkräften genutzte ‚Scaffolding-Potenzial‘ mündlich-narrativer Interak‐ tion. Lehrende und Lernende rekurrieren damit auf das erzähldidaktische Ge‐ brauchspotenzial des Narrativen (Kap. 5.6, Potenzial 4). Die Lernenden entdecken beim performativen Vortrag ihrer Geschichten ‚kommunikatives Trainingspotenzial‘ für das freie, gestaltende Sprechen, das der Entwicklung ihrer fremdsprachlichen Kompetenzen förderlich, aber auch auf andere Lern- und sogar Prüfungssituationen anwendbar ist. Sie rekur‐ rieren damit auf das Potenzial mündlichen Erzählens als Mittel zur Realisierung mündlicher Kompetenzen und fähigkeitsbezogener Strategien (Kap. 6.6, Poten‐ zial 3). Erfahrungen mit der Stundenkonzeption Die positiven Erfahrungen der Lernenden mit dem Lehr- / Lernarrangement der Erzählstunden führen dazu, dass sie dem mündlichen Erzählen ‚Motivations‐ potenzial‘ zum Gebrauch der Zielsprache zuschreiben. Sie betonen, dass sie Freude am Zuhören und ebenso beim vorbereiteten und beim spontanen freien Sprechen hatten - was sie selbst überraschte. Als ausschlaggebende Faktoren führen sie die narrativen Aufgaben, die narrative Interaktion, die abwechs‐ lungsreichen Aktivitäten und das Erlebnis der Performance an. 10.3.3 Zusammenführung der Interpretationsergebnisse Es konnte gezeigt werden, dass die ‚Vorteile-Argumente‘ der Lehrenden und Lernenden als von den Akteuren entdeckte Potenziale angesehen werden können, denn sie lassen sich den Komponenten des mehrdimensionalen Erzähl‐ modells (Kap. 7) und den darin enthaltenen Potenzialen als Beispiele ange‐ wandter Praxis zuordnen. Die Konfrontation der entdeckten Potenziale mit den bisher recherchierten Potenzialen (Kap. 9.4) liefert folgende Ergebnisse: • Lehrende und Lernende greifen diejenigen Potenziale auf, die ihnen für ihr unterrichtliches Handeln wichtig sind. • Das sind erstens werkinterne Potenziale der ausgewählten Geschichte. Für die Lernenden stellen diese Potenziale eine motivierende, sinnstif‐ tende Alternative zur Lehrwerksarbeit dar. Für die Lehrenden liefert der Umgang mit den werkinternen Potenzialen der Geschichte wichtige Ant‐ worten auf ihre Projektrecherche. • Das sind zweitens Potenziale der pragmatischen und fachdidaktischen Komponente. Die Lernenden heben vor allem auf das Unterstützungs-, 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 396 <?page no="397"?> Kooperations-, Streit- und Interaktionspotenzial mündlichen Erzählens ab. Für sie steckt das wichtigste Potenzial in der mündlichen, direkten narrativen Kommunikation. • Der Graduierbarkeit von Narrativierungsleistungen kommt eine Schlüs‐ selrolle zu. Das Ausschöpfen dieses Potenzials bildet die Voraussetzung dafür, dass sich alle Kommunikationspartnerinnen und -partner in die narrative Interaktion einbringen und ein gemeinsames narratives Pro‐ dukt hervorbringen können. Es zeigt sich, dass sich Differenzierungs- und Kooperationspotenzial einander ergänzen und zusammen wirken. • Die von den Lernenden entdeckten Motivationspotenziale stellen eine Ergänzung der Potenziale-Liste dar. Sie komplettieren die beim mündli‐ chen Erzählen erfassten Lerndimensionen. Neben der kognitiven Dimen‐ sion (Kap. 6.6, Potenzial 3) und der sozialen und personalen Dimension (Kap. 5.6, Potenzial 3) erfassen sie auch die motivationale und volitionale Dimension. Die von den Akteuren entdeckten Potenziale lassen sich mit den bereits recher‐ chierten Potenzialen durch einen Rekurs auf die im konzeptionellen Teil der Studie dargelegten Funktionen des Narrativen (Kap. 3.1.1 und Kap. 7) zusam‐ menführen. Beide Analysen des empirischen Materials zeigen, dass alle Funk‐ tionen des Narrativen in einem für den Fremdsprachenunterricht spezifischen, performativen Gebrauch realisiert und sichtbar gemacht wurden, und zwar • die Sinn und Bedeutung stiftende, philosophische Funktion in der Pro‐ duktion und Rezeption der Geschichte, • die repräsentierende und rekonstruierende Funktion in den eigenen, kre‐ ativen, narrativen Tätigkeiten der Lernenden, • die kommunikative und soziale Funktion des Narrativen in den narrativen Interaktions- und Gesprächsformen der Erzählstunden, • die unterhaltende Funktion in der Gestaltung und Rezeption der Erzähl‐ performances als Aufführung und den performativen Präsentationen der Lernenden. Das Potenzial des mündlichen Erzählens für den Fremdsprachenunterricht be‐ steht demnach in der Möglichkeit, alle Dimensionen des Narrativen - die werk‐ seitigen und die werkexternen Dimensionen - und alle Funktionen des Narra‐ tiven zur Realisierung der Ziele, zur Förderung der Kompetenzen und zur Gestaltung der Lehr- / Lernformen des Fremdsprachenunterrichts nutzen zu können. Die Bedingungen, unter denen eine optimale Nutzung erreicht, und die Konzepte, mit deren Hilfe sie unterrichtspraktisch realisiert werden können, 10.3 Zwischenfazit: die erste und die zweite Interpretation der Analyseergebnisse 397 <?page no="398"?> werde ich im abschließenden Teil C der Studie - ausgehend von den in Teil A und B erarbeiteten Ergebnissen - darstellen. 10 Analyse der Reflexionen der Akteure der Erzählstunden 398 <?page no="399"?> Teil C: Ergebnisse der Studie: die performative Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht <?page no="401"?> 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse Kapitel 11 führt die Ergebnisse des konzeptionellen und des empirischen Teils der Studie (Teil A und Teil B) zusammen, indem es theoriebasierte, praxiser‐ probte und -relevante Impulse zu einer performativen Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht formuliert. Das erste Kapitel (11.1) er‐ läutert, welche Impulse der ausgewählten empirischen Studien zum mündlichen Erzählen (Kap. 2.5) für welche Analyse- und Interpretationsschritte fruchtbar gemacht werden konnten. Das zweite Kapitel (11.2) legt die Bedingungsfaktoren für das Ausschöpfen der Potenziale mündlichen Erzählens als Performance dar. Das dritte Kapitel (11.3) entwickelt vor dem Hintergrund der aktuellen fachdi‐ daktischen Diskussion Konzepte zur narrativ-performativen Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts und der Weiterbildung von Fremdsprachenlehr‐ kräften. 11.1 Diskussion der Ergebnisse vor dem Hintergrund der ausgewählten empirischen Studien zum mündlichen Erzählen Die zur Konzeption des mehrdimensionalen Erzählkonzepts und der Ana‐ lyse-Modelle konsultierten empirischen Studien (Kap. 2.5) konnten zur Bestä‐ tigung des mehrdimensionalen Ansatzes, punktuell zur erzähltheoretischen Er‐ gänzung des Konzepts, vornehmlich jedoch zur Erweiterung und Präzisierung von Analysekriterien mündlicher Erzählungen genutzt werden. Die Kompati‐ bilität dieser Kriterien mit dem von mir entwickelten Analyseinstrumentarium ist deshalb möglich, weil sich die erzähltheoretischen Ansätze der Studien mit Ausnahme des intermedialen und theatersemiotischen Ansatzes im Wesentli‐ chen aus denselben Quellen - den schematheoretischen und den gesprächsthe‐ oretischen, interaktiven Ansätzen - speisen. Wichtige Impulse konnte ich je‐ doch nicht nur für die konzeptionelle Arbeit gewinnen. Vornehmlich die von der Erzählerwerbsforschung z. B. von Flader / Hurrelmann (1984), Ahrenholz (2006b) und Becker (2013a und 2013b) vorgelegten Untersuchungen zum inter‐ aktiven Erzählen machten mich bei der Analyse des empirischen Materials auf die Anwendung narrativer Strategien von Seiten der Lehrenden und Lernenden <?page no="402"?> aufmerksam, so dass ich mein Analysemodell fortlaufend durch eigene Entde‐ ckungen und im Rekurs auf die empirischen Studien ergänzen konnte. Ein weiterer wichtiger Impuls ging von den erzähldidaktischen Implikationen und den Ergebnissen der empirischen Studien aus. Dies betrifft z. B. die Kritik an Gesprächsformen, deren Strategien nicht zum angestrebten Ziel führen wie die Kritik am Gesprächskreis zu Wochenbeginn, in dem das freie Erzählen an‐ hand von Erlebniserzählungen geübt werden soll (Flader / Hurrelmann 1984: 223f.). Weshalb sollen Kinder vor ihren Klassenkameradinnen und -kameraden über Persönliches frei erzählen? Weshalb sollen sie gleichzeitig kohärentes Er‐ zählen im Sinne einer ‚guten Erzählung‘ üben? Die Kritik an den zum Einsatz kommenden Gesprächsformen und Erzählgenres bzw. dem nicht beachteten Zusammenhang zwischen Gesprächsformen und Erzählgenres habe ich u. a. als Impuls für die Untersuchung der Gesprächsformen der Erzählstunden und ihrer Eignung zur Realisierung der kommunikativen Ziele (s. die Zusammenfassung der Gesprächsformen in Kap. 9.4.1) genutzt und werde sie im Kontext meiner Überlegungen zur Weiterführung des performativ-narrativen Konzepts im Aus‐ blick (Kap.13) weiterverwenden. Erzähldidaktische Impulse gehen auch von der Untersuchung von Erzählgenres (Becker 2013a: 61-63, 189-202) aus, die sich Be‐ cker zufolge zur Entwicklung von Erzählfähigkeit von Grundschulkindern eignen (Kap. 5.3.4). Die wichtigsten erzähldidaktischen Anregungen stellen die von den meisten Studien eingeforderten ‚narrationsorientierten‘ ressourcendidaktischen Strate‐ gien (Kap. 5.3.4) bereit, mit deren Hilfe bereits vorhandenes narratives Text‐ sorten- und Textstrukturwissen der Lernenden aktiviert und für rezeptive und produktive narrative Aktivitäten genutzt werden kann. Im Einzelnen konnte ich den ausgewählten Studien folgende Impulse entnehmen: Die von Flader / Hurrelmann (1984) entwickelten Merkmale narrativer Unterstützung konnte ich in einem ersten Schritt zur Analyse der Interakti‐ onsstrategien der Lehrenden vor allem der ersten Erzählstunde (Kap. 9.2.3.3) nutzen. In einem zweiten Schritt konnte ich bei der Auswertung der Ergebnisse (Kap. 9.4) einige Verfahren wie z. B. die schemastützende Expansion, Bestäti‐ gung und Verstärkung narrativer Beiträge (Kap. 9.4.3) als Beispiele eines Lehr‐ kräfte-Scaffoldings in das Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse produktiver Narrativierungsleistungen (FDM-R) übernehmen. Die von Schramm (2006) entwickelten Merkmale narrativer Scaffol‐ ding-Verfahren und deren Bündelung zu zwei Gruppen - zu Interventionen, die in die Ausrichtung der Narration eingreifen, und solchen, die Erweiterungsvor‐ schläge darstellen - konnte ich bei der Analyse der Erzählstunden ebenfalls zur Charakterisierung der eingesetzten Interaktionsstrategien verwenden. Ver‐ 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 402 <?page no="403"?> wenden konnte ich auch die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdiniti‐ ierung und zwischen Selbst- und Fremddurchführung der narrativen Impulse und der für das fremdsprachliche Lernen besonders wichtigen linguistischen Reparaturen. Bei der Auswertung der Analyseergebnisse konnte ich die von Schramm dargelegten Merkmale narrativen Scaffoldings zur Präzisierung und Erweiterung des Fünf-Dimensionen-Modells zur Analyse von Narrativierungs‐ leistungen (FDM-R) nutzen. Allerdings habe ich statt der von ihr vorgenom‐ menen Einteilung in zwei Gruppen in Anlehnung an die Aufgliederung anderer Analysekriterien meiner Modelle ein Scaffolding-Kontinuum entwickelt und dieses in das Kriterium „Übernahme narrativer Jobs“ (Kriterium 4.a) integriert. Den von Becker (2013a) entwickelten dreidimensionalen Erzählbegriff (Kap. 2.5), verbunden mit dem von Quasthoff (2012) vorgelegten dreidimensionalen Modell von Erzählfähigkeit (Kap. 5.3.2), konnte ich unter Hinzufügung von zwei performativen Dimensionen (Dimension 3 und 5) für die Konstruktion der Fünf-Dimensionen-Modelle (FDM-P, FDM-R) nutzen. Die beiden ‚neuen‘, per‐ formativen Dimensionen ergänzen die drei erzähltheoretisch und gesprächsor‐ ganisatorisch begründeten Dimensionen um Aspekte, die in der modularen Konzeption bisher noch nicht mitgedacht wurden: um die pädagogische und ästhetische Verwendung non-verbaler Zeichen. Die von Becker (2013a) erarbeiteten narrationsspezifischen Kriterien zur Analyse mündlicher Erzählungen von Kindern konnte ich zur Präzisierung ei‐ niger Kriterien der Fünf-Dimensionen-Modelle (FDM-P, FDM-R) nutzen. So werden z. B. die Kriterien der Affektmarkierung und des Planbruchs (Kap. 3.1.1) mit der Formulierung „Die Ereignisse werden gewichtet durch affektive Mark‐ ierungen / durch Hervorhebung eines unerwarteten Ereignisses / durch einen Planbruch / durch einen Höhepunkt“ (Kriterium 1.d des FDM-R) als Indikatoren für die Realisierung syntaktischer Narreme verwendet. Die von Ahrenholz (2006b) als Instrument zur Analyse der Sprechleis‐ tungen von Grundschülern mit Migrationshintergrund entwickelte Unterschei‐ dung von Haupt- und Nebenstrukturen konnte ich zu Analyse fremdsprachli‐ cher Narrativierungsleistungen anwenden. Der Gebrauch von Nebenstrukturen erwies sich auch hier als Zeichen eines höheren Narrativierungsgrades. Er wurde deshalb als Indikator zur Erweiterung inhaltlicher Narreme und zur Her‐ stellung semantischer Kohärenz in das entsprechende Kontinuum (Kriterien 1.b, 1.d des FDM-R) integriert. Als Impuls aus den von Diehr / Frisch (2008) in der TAPS-Studie entwi‐ ckelten Beurteilungsbögen habe ich bei der Überarbeitung der Fünf-Dimensi‐ onen-Modelle (Kap. 9.4.3) die Ausrichtung der Kriterien auf die zum Einsatz kommenden narrativ-performativen Genres übernommen. Deshalb wurden für 11.1 Diskussion der Ergebnisse vor dem Hintergrund der empirischen Studien 403 <?page no="404"?> 1 So schlagen Diehr / Frisch zur Ausdifferenzierung des Kriteriums „Themenentwick‐ lung“ u. a. folgende Deskriptoren vor: „Kann die Geschichte vollständig und chronolo‐ gisch richtig erzählen. Kann z. T. Spannung erzeugen durch Verknüpfung der Sätze oder Modulierung der Stimme.“ (Diehr / Frisch 2008: 144) Bei der Formulierung dieser Des‐ kriptoren wird die Herstellung narrativer Kohärenz mit der performativen Gestaltung vermischt. die Konstruktion der Wort-Bilder-Serie und des performativen Geschichten‐ vortrags die performativen Dimensionen (Dimension 4 und 5) genrespezifisch gestaltet. Die von Diehr / Frisch entwickelten diskursspezifischen Deskriptoren habe ich allerdings nicht übernommen, weil hier teilweise Vermischungen 1 nar‐ rativer und performativer Deskriptoren vorliegen. Was die performativen Des‐ kriptoren des Genres „Rollenspiel“ betrifft, so gehen die Kriterien und Indika‐ toren meines Modells weit über die Feststellung, dass Gestik und Mimik eingesetzt werden, hinaus. Insofern können die Ergebnisse meiner Studie auch Impulse zur Weiterentwicklung der erzähltheoretischen und -didaktischen An‐ sätze der konsultierten Studien geben. Zusammenfassung und Ausblick Die Ergebnisse der sprach- und erzählerwerbstheoretisch ausgerichteten empi‐ rischen Studien konnte ich als Impulsgeber für die Konstruktion des mehrdi‐ mensionalen Analysemodells und zur Ergänzung der Analysekriterien nutzen und sie damit auf den fremdsprachlichen Lernkontext übertragen. Über die er‐ zähltheoretische Impulssetzung hinaus dienten mir die allen Studien zugrun‐ deliegenden fachübergreifenden Zielsetzungen und Forschungsmotivationen als Bestätigung der Relevanz meiner Recherche nach den Potenzialen mündli‐ chen Erzählens für den Fremdsprachunterricht. Dazu gehören: • die Zielsetzung, Sprechfähigkeit durch den Erwerb von Erzählfähigkeit zu fördern (Ahrenholz 2006b, Becker 2013a), • die Entwicklung von Erzählfähigkeit bereits bzw. besonders im Anfangs‐ unterricht in den Blick zu nehmen (Diehr / Frisch 2008), • zur Förderung dieser Kompetenz das spezifisch Narrative dieser Kom‐ munikation zu erforschen und auf dieser Grundlage spezifisch narrative Kriterien der Beobachtung, Analyse und Beurteilung von Narrativie‐ rungsleistungen zu ermitteln (Ahrenholz 2006b, Becker 2013a, 2013b), • nach geeigneten narrativen Genres zur mündlich-narrativen Produktion und nach geeigneten Lehr- / Lernarrangements zur Entwicklung dieser Fähigkeit zu suchen (Diehr / Frisch 2008, Becker 2013a, 2013b). 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 404 <?page no="405"?> 2 Die drei genannten Beispiele sind durch Kurzberichte der Erzählstunden im Anhang (13) dokumentiert. Die Ergebnisse der o. g. Studien zum Erwerb von Sprech- und Erzählfähigkeit sowohl in der Erst-, Zweitals auch in der Fremdsprache werde ich nunmehr (Kap. 11.2 und 11.3) mit den Ergebnissen meiner Studie so zusammenführen, dass sich daraus ein praxisorientierter Beitrag zur Entwicklung narrativer Kom‐ petenzen im Fremdsprachenunterricht ergibt. Zur Zusammenführung der Er‐ gebnisse werde ich aktuelle Beiträge zu einer performativen Fremdsprachendi‐ daktik (Surkamp / Hallet 2015, Schewe 2011, 2015) diskutieren und in Beziehung zu dem von mir entwickelten und im Folgenden dargestellten performativen Erzählkonzept (Kap. 11.3.1) setzen. 11.2 Bedingungsfaktoren und Impulse für das Ausschöpfen des Potenzials mündlichen Erzählens als Performance Aus den charakteristischen Merkmalen narrativer Gebrauchsformen, die sich in der empirischen Analyse als besonders einflussreich auf den Prozess und die Ergebnisse narrativer Aktivitäten herausstellten, werden im Folgenden ‚po‐ tenzialausschöpfende‘ Faktoren ermittelt und als Bedingungsfaktoren für eine erfolgversprechende Unterrichtsgestaltung dargestellt. Dazu werden Beispiele aus weiteren Erzählstunden 2 (EZ / 3, EZ / 4 und EZ / 5) der Projektteilnehme‐ rinnen und -teilnehmer herangezogen. Die aus der Analyse gewonnen Bedin‐ gungsfaktoren werden ergänzt durch weiterführende Impulse zur Ausschöp‐ fung narrativen und performativen Potenzials. 11.2.1 Genrespezifische, mündlichkeitsorientierte, erzählwürdige Konstruktion von Erzähldiskursen für die Erzählperformances im Fremdsprachenunterricht Als potenzialausschöpfende Faktoren der Konstruktion von Erzähldiskursen im Fremdsprachenunterricht erwiesen sich die am Prototypen, an den Prinzipien konzeptioneller Mündlichkeit und der Erzählwürdigkeit von Geschichten ori‐ entierte Textauswahl und die Berücksichtigung dieser Faktoren bei der Trans‐ formation der Originaltexte in Erzähldiskurse. Erfahrungen aus den Erzähl‐ stunden der Sekundarstufe I zeigen, dass sich als prototypisches Genre die Textsorte Märchen, vor allem das Märchen mit Kettenstruktur, eignet. Erfah‐ rungen aus den Projekten der Grundschule (s. die Kurzberichte im Anhang 13) 11.2 Bedingungsfaktoren und Impulse für das Ausschöpfen von Erzählpotenzial 405 <?page no="406"?> 3 Wolf (2002a: 35) verweist in diesem Kontext auf Fludernik (1996: 13, 17-19), die das mündliche, nicht fiktionale Erzählen als den Prototypen des Narrativen setzt. Siehe dazu auch Kap. 3.1.2 der Studie. verweisen auf die Eignung von Tier- und Zaubermärchen ‒ ebenfalls mit Ket‐ tenstruktur ‒ und auf Adaptionen von Album-Geschichten. Darüber hinaus zeigen Erfahrungen aus den Erzählworkshops mit den Weiterbildungslehr‐ kräften und aus einem Erzählprojekt der Weiterbildung (s. den Einsatz einer Alltagserlebnisgeschichte als Ausgangspunkt einer fiktionalenGeschichte, er‐ zählt aus der Perspektive eines petit lapin in EZ / 4), dass sich als Alternative zum literarischen Genre des Märchens auch Alltagsgeschichten zum performa‐ tiven Erzählen eignen, denn sie können - wie Wolf 3 im Kontext seiner Erläute‐ rungen prototypischen Erzählen ausführt - auch als Vertreter des Prototypen angesehen werden. Beim Erzählen von Alltagsgeschichten kann zur Diskurs‐ konstruktion auf die Adaptionsstrategien zur Gestaltung eines prototypischen fiktionalen Diskurses (Kap. 9.4.2) zurückgegriffen werden. Allerdings sind gen‐ respezifische Faktoren wie z. B. die Akzentuierung einer persönlichen Erfah‐ rung, das Hinarbeiten auf eine Pointe zu beachten. Die Fortsetzung der Arbeit mit Geschichten in der Sekundarstufe I kann schrittweise auf den Prototypen verzichten und Geschichten mit komplexeren Handlungsstrukturen oder mit anderen Strukturierungsmustern wie einem assoziativen, nicht chronologi‐ schen Erzählen, einem Erzählen mit Vor- und Rückblenden etc. zum Einsatz bringen. Wichtig ist, dass die Lernenden - durch Beispiele unterschiedlicher Erzählweisen angeregt oder von eigenen Ideen geleitet - Strukturierungsmuster auswählen und als narrative Gestaltungsprinzipien anwenden (s. auch Andresen 2013: 29). Weitere Anregungen gehen von der sprachlichen Gestaltung der Er‐ zählungen aus. Die Reflexionen der Lernenden haben gezeigt, dass die poetische Sprache (s. auch Steinbrügge 2016) der ausgewählten fiktionalen Erzählung die Schülerinnen und Schüler zum Zuhören und zum eigenen sprachlichen Ge‐ stalten motivieren. Berücksichtigt man die in den Interviews geäußerten Wün‐ sche der Lernenden, so sind Abenteuer-, Reise-, Gruselgeschichten und Ge‐ schichten aus dem Leben der Menschen fremder Kulturen gefragt - und vor allem Geschichten, die sich als Serie erzählen lassen. Was die Erzählwürdigkeit des Diskurses betrifft, so sind sowohl der werk‐ seitige als auch der werkexterne Aspekt (Kap. 10.3.1) dieses Bedingungsfaktors wichtig. Von der werkseitigen Erzählwürdigkeit geht der Reiz der von den Lern‐ enden eingeforderten Kommunikation auf Augenhöhe aus. Dieses kommuni‐ kative Angebot erreicht seine Adressaten dann, wenn folgende werkexternen Voraussetzungen gegeben sind: 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 406 <?page no="407"?> • Der Erzähldiskurs muss für die Rezipierenden strukturell und sprachlich so verständlich sein, dass sie motiviert werden, ihr narratives Wissen und Können zu aktivieren. • Die Verständlichkeit des Erzähldiskurses sollte durch die publikumsori‐ entierte Gestaltung der Erzählperformance gestützt werden. Dann ist es möglich, den Schwierigkeitsgrad der Erzählung relativ hoch anzusetzen. • Wird die Rezeption der Erzählperformance prozesshaft angelegt, z. B. durch Wiederholung der Performance und vielfältige narrative Aktivi‐ täten, haben die Rezipierenden die Chance auf einen langsamen, indivi‐ duellen Aufbau ihres Verstehens. Die Berücksichtigung auch dieses Fak‐ tors macht die Rezeption eines sprachlich relativ schwierigen Diskurses möglich. Das dritte wesentliche Merkmal der Diskurskonstruktion, seine Konstruktion im Dienste der Mündlichkeit (s. die Großform A und B konzeptioneller Münd‐ lichkeit in Kap. 3.5.3), tritt als weiterer, das Diskursverstehen unterstützender Faktor hinzu. 11.2.2 Ereignis- und publikumsorientierte Gestaltung von Erzählperformances Als wichtigster Gelingensfaktor der Erzählperformances erwies sich ihre pub‐ likums- und ereignisorientierte Gestaltung. Sie besteht • in einer geplanten Inszenierung, die unter Berücksichtigung des Kompe‐ tenzniveaus der Lerngruppe und der Klassenzimmersituation die münd‐ liche Präsentation des Erzähldiskurses als Ereignis erlebbar macht, • in der Umsetzung der Inszenierungsideen mithilfe erzählperformativer Gestaltungsmittel, • im Gewinnen und Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit des Publikums. Als geeignetes Mittel, die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen (Kap. 9.2.2.2.), hat sich die Einbettung der Erzählperformance in eine narrative Dis‐ kurseinheit (Quasthoff 2001) erwiesen (Kap. 3.2.2, 9.2.2.3). Mithilfe dieser Ge‐ sprächsorganisation kann ein kommunikativer Rahmen gesetzt werden, der die Trennung der Erzählperformance vom Unterrichtsdiskurs deutlich macht und ihn damit in den Rang eines besonderen Diskurses erhebt. Als publikums- und erlebnisorientierte Inszenierungsstrategien haben sich das flexible Reagieren auf die Kommunikationssituation, das freie Sprechen, die Dramatisierung des Diskurses mithilfe performativer Mittel der Bedeutungserzeugung (s. die Zu‐ 11.2 Bedingungsfaktoren und Impulse für das Ausschöpfen von Erzählpotenzial 407 <?page no="408"?> sammenfassung der Inszenierung der Erzählperformance in Kap. 9.2.2.7) sowie die Kontaktaufnahme mit dem Publikum erwiesen. Was das Bedienen der vier Bedeutungsebenen (Kap. 4.3.3) betrifft, so konnte gezeigt werden, dass die Privilegierung der Handlungsebene das Globalver‐ stehen in hohem Maße stützt. Damit steht den Erzählenden ein doppelt wirk‐ samer Unterstützungsfaktor zur Verfügung, denn die Hervorhebung der Hand‐ lung durch performative Mittel bringt das textuelle, prototypische Prinzip der Handlungszentrierung verstärkt zur Wirkung. Die Privilegierung der Hand‐ lungsebene bietet sich für Inszenierungen im fremdsprachlichen Klassenzimmer vor allem im Anfangsunterricht an, denn sie erleichtert fremdsprachliche Be‐ deutungserschließung: Sprache lebt nur, wenn ein Sprachbenutzer, auch ein Lernender, aus den wahrgenom‐ menen Sprachzeichen Bedeutung konstituiert, Bedeutung erschließt. […] Sprache braucht deswegen immer Kontext und Ko-text, um angemessen verstanden werden zu können. Und deswegen müssen wir auch, so wir auf mehr als auf offensichtliche Dinge hinweisen wollen, die Sache sprachlich ‚einkreisen‘, die Inhalte im Vor- und Zurückgehen Konturen gewinnen lassen. Bedeutung erwächst immer nur aus der Verknüpfung von sprachlichen und nichtsprachlichen Tätigkeiten. (Bleyhl 2002b: 10) Die Handlungsebene der Erzählung und die performative Gestaltung beim mündlichen Erzählen bieten den Lernenden Ko- und Kontext zur Bedeutungs‐ erschließung. Die Abfolge von Aktionen der Figuren ist für die Lernenden dieser Kompetenzstufe besser zu verstehen als z. B. Beschreibungen oder Erläute‐ rungen, vor allem dann, wenn die sie ‚tragenden‘ sprachlichen Äußerungen wie Il marche / donne / coupe u. a. m. mithilfe performativer Mittel anschaulich und nachvollziehbar präsentiert werden. Das Bedienen der Subjekt- und Beziehungsebene durch gestisch-mimische Begleitung der Dialoge, Stimmführung, Stimmfärbung, Modellieren der Laut‐ stärke bringt Emotionalität ins Spiel. Die vierte Ebene, die der ästhetischen Ge‐ staltung, kann u. a. durch den Einsatz prosodischer Mittel, aber auch von sprach‐ ersetzender Pantomime, von Rhythmus und Gesang zur Geltung gebracht werden. Andere Schwerpunktsetzungen sind möglich, vor allem wenn nicht mehr prototypische Genres, sondern andere ästhetische Formen wie z. B. musikali‐ sches oder theatralisches Erzählen gewählt werden. Welche performativen Ge‐ nres auch immer eingesetzt werden, das performative Potenzial der Inszenie‐ rungsstrategien und Gestaltungsmittel entfaltet sich für alle Beteiligten spürbar, wenn sie mit körperlichem Einsatz, mithilfe von Übertreibung, Ironie, Humor 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 408 <?page no="409"?> und Darstellungsfreude ästhetisch-spielerisch gebraucht werden. Das ‚erzähl‐ performative Spiel‘ realisiert sich dann als Ereignis, wenn auch das Publikum mitspielt, indem es sich durch Aufmerksamkeit, Konzentration, Mitgehen, Mit‐ sprechen „anstecken“ (Sollich 2005: 371f.) lässt und sich zwischen Erzählenden und Publikum positive Feedback-Schleifen entwickeln. 11.2.3 Handlungs- und mündlichkeitsorientierte Konzeption der Erzählstunden Das kommunikative und interaktionelle Potenzial mündlichen Erzählens kann ausgeschöpft werden durch handlungs- und mündlichkeitsorientierte Lehr- / Lernarrangements, die • die narrative Interaktion in den Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens stellen, • vielfältige narrative Aktivitäten anbieten, • im Paradigma des Narrativen und des Mündlichen bleiben, • die Zielsprache konsequent zur narrativen Kommunikation gebrauchen, • Phasen des Austauschs über die narrativen Aktivitäten und Produktionen in metanarrativen Gesprächen vorsehen. Die Lehr- / Lernarrangements können mit unterschiedlichen Stundenfiguren realisiert werden. Die Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer wählten über‐ wiegend den dreiphasigen Stundenaufbau (Kap. 9.2.1, 9.3.1) mit der zweimaligen Präsentation der Performance und der gemeinsamen Rekonstruktion der Er‐ zählung (EZ / 1, EZ / 2, EZ / 3, EZ / 5), die in eine von den Lernenden realisierte mündliche Präsentation mündet (EZ / 1, EZ / 2). Im Unterschied dazu setzte ein Team die Erzählperformance in den Mittelpunkt der Erzählstunde (EZ / 4) und nutzte die kommunikativen und interaktionellen Potenziale der Erzählperfor‐ mance für eine intensive, abwechslungsreiche Interaktion zwischen Erzäh‐ lenden und Publikum. Eine Rekonstruktion der Erzählung durch die Lernenden sieht diese Stundenfigur nicht vor. Alternativ zu diesen beiden Varianten ist auch eine Stundenfigur denkbar, bei der die Erzählperformance den Abschluss der Erzählstunde bzw. einer Serie von Erzählstunden bildet - z. B. dann, wenn es sich bei der Erzählperformance um das Zielprodukt einer Lernaufgabe handelt (s. die Erweiterungsvorschläge in Kap. 11.2.4). Eine Weiterführung der handlungsorientierten Konzeption kann darin be‐ stehen, in den metanarrativen Gesprächen (Kap. 9.2.3.4, 9.3.3.4) die aus den nar‐ rativen Aktivitäten gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse, z. B. über nar‐ rative Strukturierung, Kohärenzerzeugung, Markierung der Textoberfläche 11.2 Bedingungsfaktoren und Impulse für das Ausschöpfen von Erzählpotenzial 409 <?page no="410"?> 4 Als Aufgabenkomponenten werden wie vorgesehen (Kap. 6.5) die im GeR für den Bil‐ dungsbereich genannten Punkte (Europarat 2001: 60) verwendet und den Erforder‐ nissen der Analyse angepasst. Eine Ausnahme bildet die von mir hinzugefügte Kate‐ gorie „Funktionen“. oder über narrationsorientierte Rezeptionsstrategien, bewusst zu machen, um sie bei Fortführung der Arbeit mit Geschichten zu erproben und gezielt anzu‐ wenden. 11.2.4 Charakteristische Merkmale und Funktionen mündlichkeitsorientierter und kreativer narrativer Aufgaben Die in den Erzählstunden eingesetzten Aufgaben stellen eine narrations- und mündlichkeitsorientierte Variante kommunikativer Aufgaben (Kap. 6.5) dar. Ihr besonderes Profil ist verantwortlich dafür, dass strukturelle, intermediale und interaktive Potenziale mündlichen Erzählens für die narrativen Aktivitäten der Rekonstruktionsphasen genutzt werden können. Ihre charakteristischen Merk‐ male und Funktionen lassen sich anhand der Komponenten kommunikativer Aufgaben 4 wie folgt zusammenfassen: Aufgabentyp Es handelt sich um Aufgabentypen, die - aufbauend auf dem sprachlichen Input des Erzähldiskurses und der Gestaltung der Erzählperformance - eigene narra‐ tive Produktionen der Lernenden initiieren. Zur Einteilung narrativer Aufga‐ bentypen nehme ich eine Anregung aus der interaktiven Erzähldidaktik (Becker 2013a) auf. Becker stellt ausgehend vom rekonstruktiven Charakter der Gattung Erzählung zwei mündliche Erzählformen - die primäre und die reproduktive Erzählform - einander gegenüber (Becker 2013a: 60). Zu den primären Erzähl‐ formen rechnet sie fiktionale Erzählungen (z. B. Phantasiegeschichten) und All‐ tagsgeschichten (z. B. Erlebniserzählungen). Diese Erzählungen werden im nar‐ rativen Gespräch einer Lerngruppe elizitiert und interaktiv entwickelt. Reproduzierende Erzählungen werden der Lerngruppe z. B. durch Vorlesen vor‐ gegeben und anschließend im narrativen Gespräch von den Lernenden nach‐ erzählt. Die narrativen Aufgaben der von mir untersuchten Erzählstunden ver‐ langen jedoch keine Reproduktion, sondern eine Rekonstruktion der gehörten Geschichte. Aus diesem Grund verwende ich zur Einteilung mündlich-narra‐ tiver Aufgabentypen die Begriffe ‚primäre‘, ‚reproduzierende‘ und ‚rekonstruie‐ rende‘ narrative Aufgaben. Die Aufgaben der Erzählstunden werden dabei den rekonstruierenden Aufgaben zugerechnet. Diese streben keine möglichst text‐ 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 410 <?page no="411"?> nahe Reproduktion der gehörten Erzählung an, sondern sind mit einer kreativen Gestaltungsaufgabe verbunden, die über verschiedene narrative Aktivitäten in eine mündliche Präsentation der Ergebnisse führt (Kap. 9.4.2). Deren Inhalt und Form unterscheiden sich von der gemeinsam erlebten Erzählperformance. Ziele und Funktionen Die narrativen Aufgaben erfüllen folgende, das Potenzial mündlichen Erzählens ausschöpfende Funktionen: • Sie ermöglichen den Lernenden einen persönlichen, emotionalen Zugang zu der rezipierten Erzählung. Sie regen dazu an, die Bausteine des Erzäh‐ lens zur Eigenproduktion zu nutzen. • Sie dienen der Vertiefung des Diskursverstehens, ‚zwingen‘ zur Ausei‐ nandersetzung mit Inhalten und Strukturen der Erzählung und zur nar‐ rativen Aktivität. • Die bei der Bearbeitung der Aufgabe entstandenen Eigenproduktionen dienen als Material für die abschließende Präsentation. • Die narrativen Eigenproduktionen dienen der gemeinsamen Verständi‐ gung über die Rezeption der Erzählung und bieten damit - ganz im Sinne Bruners (Kap. 5.2.2) und der Lernenden der Erzählstunden (Kap. 10.4.2) - kommunikatives ‚Streitpotenzial‘. • Sie zielen auf eine integrierte narrative Kompetenzentwicklung (Kap. 9.4.2). Input Als Input dient die Erzählperformance, die - je nach anvisiertem Zielprodukt - den Erzähldiskurs vollständig oder verzögert präsentiert. Visuelle Materialien wie Bildkarten, Fotos, Gegenstände werden während der Erzählperformance (in EZ / 4) oder in den Phasen der Rekonstruktion (in EZ / 2, EZ / 3, EZ / 5) hinzu‐ gezogen. Kommunikative Aktivitäten, Kommunikationsformen und narrativ-performative Genres Als kommunikative Aktivitäten kommen je nach Aufgabenformat das zusam‐ menhängende, monologische oder das interaktive Sprechen zum Tragen. Als geeignete mündliche Kommunikationsformen haben sich das narrative Ge‐ spräch und die narrative Diskurseinheit, als zu erarbeitende narrativ-performa‐ tive Genres die Gestaltung einer Wort-Bilder-Sequenz, der performativ-gestal‐ tende Vortrag und das Rollenspiel erwiesen. Die Liste geeigneter narrativ-performativer Genres lässt sich im Rekurs auf zahlreiche praktische 11.2 Bedingungsfaktoren und Impulse für das Ausschöpfen von Erzählpotenzial 411 <?page no="412"?> 5 Dazu gehören z. B. das Schattentheater-Erzählen (Leithäuser 2008: 22-27), die Gestal‐ tung eines Rap (Néry-Kaiser / Dräger-Spence 2010: 27) oder einer voix off zu Rollen‐ spielen (Néry-Kaiser / Dräger-Spence 2010: 38), das Erzählen mit dem Kamishibai, einem Bildertheater, das mithilfe eines „stabilen, dreidimensionalen Rahmen[s], der oben oder an den Seiten offen ist, um Bilder einzuschieben“ (Marxen 2013: 38-40), re‐ alisiert werden kann.. 6 Die tabellarische Darstellung inspiriert sich an der Systematisierung der Aufgabenty‐ pologie von Freitag-Hild (2010: 121f.). Unterrichtsvorschläge 5 unter Berücksichtigung des noch darzustellenden per‐ formativen Erzählkonzepts (Kap. 11.3) erweitern. Mit Sicherheit gehört dazu der Einsatz von Theaterformen wie z. B. das Stellen von Tableaus - mit und ohne verbale Kommentierung (Bergfelder-Boos / Berger / Stolle 2004: 79-80). Mit etwas mehr Vorbereitungszeit ist es Lernenden auch möglich, eigene Erzähl‐ performances zu gestalten. Aufgabenformate Die in den Erzählperformances dargebotenen Erzähldiskurse können mithilfe von Transfer-, Weiterführungs- und Interaktionsaufgaben im Medium der Mündlichkeit ‚verarbeitet‘ werden. Die folgende Tabelle (Tab. 19) listet diese Aufgabenformate 6 auf und ordnet ihnen als Beispiele die narrativen Aktivitäten und narrativ-performativen Genres der Erzählstunden zu. Aufgabenformat Aufgabenbeispiele intermediale Transformationsaufgabe: vom Verbalen ins Bildliche und zurück (Bearbeitung in 4 bzw. 2 Schritten) EZ / 1, Sekundarstufe I: nach vollständiger Diskurspräsentation: Zeichnung zu einer Szene, Figur, einem Ort etc. in Ein‐ zelarbeit, individuelle Präsentation der Zeichnungen vor der Ge‐ samtgruppe, gemeinsame Sequenzierung der Geschichte anhand der Zeichnungen narrativ-performatives Genre: gemeinsames Erzählen der Geschichte anhand der Zeichnungen in narrativer Interaktion der Gesamt‐ gruppe EZ / 5, Grundschule: nach der ersten, verkürzten Diskurspräsentation: Zeichnen der Lösung (die gesuchte Figur der Geschichte) in Einzelarbeit narrativ-performatives Genre: Präsentation der Zeichnungen vor der Gesamtgruppe, danach: zweite, vollständige Diskurspräsentation 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 412 <?page no="413"?> 7 Zur Bedeutung und Konstruktion von Lernaufgaben siehe u. a. Ellis 2003, Müller-Hart‐ mann / Schocker-v. Ditfurth 2005b, 2005c, 2006. Weiterführungsaufgabe, ggf. mit intermedialem Wechsel zwischen Münd‐ lichkeit und Schriftlichkeit (Bearbeitung in 3 Schritten) EZ / 2, Sekundarstufe I: nach verkürzter Diskurspräsentation: Erfinden eines Endes der Geschichte in Gruppenarbeit narrativ-performatives Genre: freies, performativ gestaltetes Vortragen der Fortset‐ zungsgeschichten vor der Gesamtgruppe, danach: Vergleich der Fortsetzungsgeschichten im me‐ tanarrativen Gespräch Transformations- und In‐ teraktionsaufgabe: Transformation der Erzähl‐ performance in Spielakti‐ onen (spontane Bearbeitung) EZ / 3, Grundschule: nach vollständiger Diskurspräsentation: Rollenverteilung und Teilkostümierung der Akteure narrativ-performatives Genre: Gestaltung eines Rollenspiels, dabei Übernahme der Pro‐ tagonistenrolle durch eine Schülerin / einen Schüler, der Nebenrollen durch das Publikum; Übernahme der Er‐ zählerrolle durch die Lehrkraft, die ggf. auch die Rolle des Einflüsterns übernimmt, mehrere Wiederholungen des Rollenspiels in wech‐ selnder Besetzung Tab. 19: Die Aufgabenformate der Erzählstunden Die Aufgabenformate lassen sich unabhängig vom Kompetenzstand und Alter der Lerngruppe einsetzen. Der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben und die An‐ passung der Aufgabe an die Bedürfnisse und Interessen der Lerngruppe lassen sich regulieren über • die konkrete Ausführung des Formats, z. B. die Gliederung der Aufgabe in einzelne Arbeitsschritte oder die Unterstützung der Präsentation durch die Lehrkräfte, • den Anteil der verbalen Narrativierungsleistungen, den erforderlichen Grad an Narrativierung und an Komplexität, Flexibilität und Selbststän‐ digkeit der sprachlichen Äußerungen. Weiterführung Bei Fortsetzung des mündlichen Erzählens als Performance bieten sich umfang‐ reiche Lernaufgaben 7 an, bei denen die Lernenden das Material ihrer Ge‐ schichten recherchieren, zu Geschichten formen und als Performances präsen‐ tieren - auch dies mit der Möglichkeit, Geschichten-Serien oder Wort-Bilder-Serien u. a. m. zu gestalten. 11.2 Bedingungsfaktoren und Impulse für das Ausschöpfen von Erzählpotenzial 413 <?page no="414"?> 11.2.5 Individuelle und kooperative, abwechslungsreiche und progressive Gestaltung der Rekonstruktion der Erzählung Die narrativen Aufgaben der Erzählstunden sind in ein Lehr- / Lernarrangement eingebettet, das individuelle und kooperative Erarbeitungsmodi vorsieht und auf eine progressive Entwicklung des Rekonstruktionsprozesses ausgerichtet ist. Zwei Wege zur Anwendung individueller und kooperativer Erarbeitungs‐ modi haben sich als vorteilhaft erwiesen. Der erste trennt beide Modi vonei‐ nander, bevor er sie für die narrative Interaktion der gesamten Lerngruppe zu‐ sammenführt. Diesen Weg geht die erste Erzählstunde (EZ / 1), die das Prinzip des Think-Pair-Share (Bonnet / Küppers 2011: 39) nutzt. Hier beginnt die Re‐ konstruktionsphase mit einem Moment der Ruhe, der individuellen Interaktion mit der Geschichte und öffnet sich - der Bereitschaft und dem Bedürfnis der Beteiligten folgend - für die Arbeit in Kleingruppen. Erst dann tauschen sich die Partnerinnen und Partner über ihre individuellen Eigenproduktionen aus und bereiten ihre mündliche Präsentation vor. Der zweite Weg (EZ / 2) führt von der Interaktion in der Kleingruppe zur Gruppenpräsentation der Ergebnisse im Plenum. Beide Wege bieten ‚geschützte‘ Erarbeitungsräume (s. den Begriff „Schonraum“ bei Bonnet / Küppers 2011: 39) vor der Veröffentlichung in der Großgruppe und machen den Lernenden auf diesem Wege Mut, die sprachliche Äußerung zu wagen. Gemeinsam ist beiden Wegen, dass für die narrative Interaktion Kommuni‐ kationsformen angeboten werden, die die Akteure zur Anwendung kommuni‐ kativer und performativer Strategien (Kriterien 4 und 5 des FDM-R) anregen. Entscheidend für das Gelingen der narrativen Interaktion ist allerdings nicht nur die Kooperation zwischen den Lernenden, sondern auch die von den Lehr‐ kräften praktizierte Unterstützung des Diskurses, ihr narratives Scaffolding (Kap. 10.1.5, 10.2.5, 11.1). 11.2.6 Herausforderungen und Chancen für Lehrende und Lernende Die Planung und Durchführung der Erzählstunden stellten für die Lehrkräfte und ihre Lerngruppen die Chance für eine wissenschaftlich begleitete Recherche und für die Erprobung von Unterrichtszielen, -konzepten und -strategien dar. Dass sie aus diesen Projekten Erfahrungen und Erkenntnisse für ihr unterricht‐ liches Handeln gewinnen konnten (Kap. 10.3.2.1), liegt vor allem daran, dass sie sich auf die kognitiven, emotionalen und körperlichen Herausforderungen der für sie neuen, ungewöhnlichen Kommunikationsformen einließen. 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 414 <?page no="415"?> Für die Lehrenden besteht die größte Herausforderung in der Vorbereitung und Gestaltung der Performances. Auch wenn ihnen die Weiterbildungssitua‐ tion Übungs- und Feedback-Situationen (Kap. 10.3.2.1) bot, die Aufführung ihrer Performance mussten sie gleichwohl in Eigenregie vor ihrer eigenen Lern‐ gruppe oder der ihrer Tandempartnerinnen und -partner durchführen. Und dieses Publikum ist, wie eine Lehrkraft bestätigt (Kap. 10.2.4, ILKT-EZ / 2: 13), sehr kritisch. Für die Lehrkräfte ging es deshalb nicht nur um das Erproben mündlichen Erzählens, sondern auch um das Bestehen vor diesem Publikum, das von ihnen sprachliche, gestaltende und didaktische Performanz verlangt. Aus diesem Grund standen sie vor einer doppelten Herausforderung, vor der auch Lehrkräfte stehen, die das Erzählen als Performance ohne professionelle oder kollegiale Begleitung wagen. Die angenehme Kehrseite der Herausforde‐ rung ist die Chance, auf diesem Wege Einblicke in das Funktionieren dieser Kommunikationsform zu gewinnen und die eigene Erzählkompetenz zu erwei‐ tern. Für die Lernenden besteht die größte Herausforderung darin, sich dem um‐ fangreichen, sprachlich anspruchsvollen Input zu stellen und das freie Sprechen zu wagen. Die Lernenden der Erzählstunden haben die Herausforderung ange‐ nommen und dabei narrations- und performanceorientierte Rezeptions- und Kommunikationsstrategien zur Unterstützung des freien Sprechens (Kap. 10.1.4, 10. 2.4) entdeckt. 11.2.7 Der performative Pakt: die Nutzung des performativen Raums und der pädagogischen Situation zur Entwicklung narrativer Interaktion Durch Übernahme narrativer ‚Jobs‘ und durch ‚Verwandlung‘ von Unterrichts‐ rollen in ästhetische Rollen schaffen Lehrende und Lernende den performativen Raum für ihre narrative, ästhetische Kommunikation im Medium der Münd‐ lichkeit. Sie gehen einen gleichermaßen fiktionalen und performativen Pakt des gemeinsamen ästhetischen Erlebnisses, der gegenseitigen Aufmerksamkeit und Zuwendung ein. Sie nutzen die Klassenzimmersituation zur Realisierung einer Aufführung ‚vor Ort'. Den Raum, die Zeit und die Akteure der Aufführung stellen sie selbst. Sie nutzen die pädagogische Situation, um die Rezeption der Erzählperfor‐ mance zu vertiefen - durch Wiederholung der Performance und durch Rekon‐ struktion des Erzähldiskurses inkl. einer abschließenden performativen Präsen‐ tation. Diese sieht einen Rollentausch dadurch vor, dass die Lehrenden zu Zuhörenden und ggf. zu Unterstützenden werden und die Lernenden mal als 11.2 Bedingungsfaktoren und Impulse für das Ausschöpfen von Erzählpotenzial 415 <?page no="416"?> Erzählende, mal als Zuhörende agieren. Die Präsentation am Ende der Erzähl‐ stunde stellt eine performative Antwort der Lernenden auf die Erzählperfor‐ mance dar. Die Rekonstruktion liefert weder eine Kopie des Erzähldiskurses noch der Erzählperformance. Sie transformiert den Erzähldiskurs und realisiert sich, ein‐ gebettet in einen narrativen Diskurs, in verwandten narrativ-performativen Genres (Kap. 11.2.5). Die gemeinsam rezipierte Erzählung übernimmt dabei die Rolle eines „Zeigfeldes“ (Bühler 1965: 79-82). Orte, Figuren, Episoden der Ge‐ schichte sind den Akteuren der Erzählstunden bekannt. Sie können sich narrativ gestaltend auf sie beziehen, ohne zu einer anderen Diskursform, z. B. der Argu‐ mentation, der Erläuterung, der Beschreibung, greifen zu müssen. Die rezipierte Erzählung liefert den Rahmen für die narrativ-performative Kommunikation. In der Möglichkeit, ein nur für die Kommunikationsgruppe zugeschnittenes ge‐ meinsames Zeigfeld für die Kommunikation zu nutzen, liegt ein erheblicher Anteil des funktionalen Potenzials, das die Unterrichtssituation bietet. Die Per‐ formances weder der Lehrenden noch die der Lernenden sind für eine öffentliche Aufführung bestimmt. Sie genügen sich selbst. Es ist jedoch möglich, auf der Grundlage einiger weniger Veränderungen und Probephasen eine schulinterne oder klassenübergreifende Aufführung zu gestalten. 11.3 Mehrdimensionale, performative Konzepte zur Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts und der Weiterbildung Aus den Teilergebnissen der Studie werden drei für die Unterrichts- und Wei‐ terbildungspraxis relevante mehrdimensional strukturierte und performativ ausgerichtete fremdsprachendidaktische Konzepte entwickelt. 11.3.1 Das performative Erzählkonzept zur Entwicklung narrativer Diskurse Das performative Erzählkonzept wird aus dem mehrdimensionalen Erzählmo‐ dell (Kap. 3.1), dem Aufführungsbegriff (Kap. 4.1), dem funktionalen Gebrauch des Narrativen (Kap. 5) und aus den Bedingungsfaktoren der Erzählstunden (Kap. 11.2) entwickelt. Analog zum Erzählmodell setzt es auf ein vielperspekti‐ 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 416 <?page no="417"?> 8 Auch Surkamp und Hallet verweisen bei der Erläuterung ihres dramenpädagogischen Ansatzes auf die Notwendigkeit einer Neubesinnung der Fremdsprachendidaktik im Hinblick auf ein Sprachkonzept, das „Sprache nicht bloß als Text, sondern als Ereignis und performativen Akt ansieht.“ (Surkamp / Hallet 2015: 6) 9 s. das „Zwei-Ebenen-Modell“ der Konzeptualisierung des Narrativen in Kap. 3.1. 10 s. die mündlichkeitsorientierte Gestaltung des Erzähldiskurses als Bedingungsfaktor der Potenzialnutzung in Kap. 11.2.1. visches Sprach- und Kommunikationskonzept (Kap. 2.2.2) 8 , das dem Fremdspra‐ chenunterricht „ein komplexeres Konzept von Sprache und Lernenden zu‐ grunde [legt]“ (Hu 2001: 22), bei dem „Sprache bzw. Sprachen […] als untrennbarer Teil der kognitiven, emotionalen und leiblichen Verfasstheit der Lernenden angesehen [werden].“ (a. a. O.) Das Konzept lässt Raum für Ergän‐ zungen und Verbindungen zu anderen handlungsorientierten Ansätzen und versteht sich als Beitrag zur Diskussion um den performativen Fremdsprachen‐ unterricht (Hallet 2010c, Küppers / Schmidt / Walter 2011b, Bonnet / Küppers 2011, Schewe 2011, Surkamp / Hallet 2015). Es lässt sich von folgenden Prinzi‐ pien der Unterrichtsgestaltung leiten: Das mündliche Erzählen als mehrdimensionales Leitmedium Bei der Anwendung des performativen Erzählkonzepts ist die Diskursform Er‐ zählen Dreh- und Angelpunkt des Unterrichtsgeschehens. Sie bildet die Grund‐ lage des sprachlichen Handelns in direkter Mündlichkeit - sowohl bei der Pro‐ duktion und Rezeption der Erzählperformances als auch in den Phasen der Rekonstruktion der Erzählung. Sie wird mehrdimensional 9 gebraucht: einerseits als Produkt in Gestalt des Erzähldiskurses, andererseits als Prozess in der münd‐ lich-verbalen Gestaltung von Erzählperformances und anderen mündlichen Präsentationsformen. Eine in direkter Mündlichkeit rezipierte Erzählung als Produkt zu gebrau‐ chen, erscheint zunächst als ein Widerspruch in sich, ist doch gerade die Flüch‐ tigkeit (Kap. 3.5.1) ein wesentliches Merkmal medialer Mündlichkeit. Wie soll der flüchtige Erzähldiskurs als Gegenstand festgehalten werden? Diese Mög‐ lichkeit eröffnen Lehr- / Lernarrangements, die Produkt und Prozess durch das Mündlichkeitsprinzip so miteinander verbinden, dass sie sich gegenseitig stützen. So hilft die mündlichkeitsorientierte, prototypische Konstruktion des Erzähldiskurses 10 den Erzählenden und den Rezipierenden dabei, einen „men‐ talen Erzähltext“ (Tristram 1996b: 24) in ihrer Vorstellung hervorzubringen, denn die Konstruktionsprinzipien des Erzähldiskurses sind auf Anschaulichkeit und Memorierbarkeit ausgerichtet. Die von der Erzählung ausgehenden ‚Un‐ terstützungsangebote‘ regen die Akteure des Erzählprozesses dazu an, ihr nar‐ 11.3 Mehrdimensionale, performative Konzepte 417 <?page no="418"?> ratives Wissen und ihre narrative Erfahrung zu aktivieren. Ihren „mentalen Er‐ zähltext“ (a. a. O.)können die Lernenden in den Rekonstruktionsphasen kognitiv und erzählproduktiv korrigieren, ausbauen, erweitern. Der Gebrauch des münd‐ lichen Erzählens als mehrdimensionales Leitmedium nutzt die Merkmale des Narrativen zur performativen Unterrichtsgestaltung. Der Gewinn ist zweifach: • Die Zielsprache wird zu einer mitteilungsbezogenen Kommunikation (Bleyhl 2002b: 11) in der Fremdsprache genutzt. • Die ständige Präsenz des mündlichen Leitmediums erlaubt das Lernen am Modell (Becker 2013b: 207). Die narrativen Muster werden in medialer Mündlichkeit präsentiert, als Bausteine des Erzählens gebraucht und in narrative und in sprachliche Routinen überführt ‒ so wie es die von der Forschergruppe um Becker / Wieler (2013a) vertretene Ressourcendi‐ daktik (Kap. 5.3.4) und die von Piepho (2002) formulierten methodischen Regeln des Storytelling (Kap. 6. 3.1) vorschlagen. Das Prinzip des Kontinuums, der Graduierung und der Differenzierung Das performative Erzählkonzept setzt auf eine modulare Konzeptualisierung von Erzählfähigkeit (Kap. 5.3.1) und auf das Prinzip des Kontinuums. Aus diesem Grund sind die Modelle zur Analyse von Narrativierungsleistungen (FDM-P, FDM-R) in unterschiedliche Dimensionen gegliedert und einige Analysekrite‐ rien sind nach dem Prinzip des Kontinuums ausdifferenziert (Kap. 9.4.3, 11.1). So lassen sich Narrativierungsleistungen z. B. im Bereich der Herstellung se‐ mantischer Kohärenz (Kriterium 1.d des FDM-R) auf einem Kontinuum dar‐ stellen, dessen Eckpunkte auf der einen Seite das idealtypische, strukturierte Erzählen, auf der andern das strukturlose, lokal bezogene Erzählen bilden (s. Abb. 18). Mit dem Prinzip des Kontinuums ist auch das Prinzip der Graduierung ge‐ geben, d. h. es besteht die Möglichkeit, den Raum zwischen den Eckpunkten mit unterschiedlichen Ausprägungen des Kriteriums zu füllen. Diese Möglichkeit wird in den Fünf-Dimensionen-Modellen genutzt, um Indikatoren für die Nar‐ rativierungsleistungen der Lernenden anzugeben - aufsteigend von einem ge‐ ringen zu einem hohen Narrativierungsgrad. Die Auffassung vom Erzählen als Kontinuum liegt auch dem intermedialen Erzählkonzept (Wolf 2002a: 96, Kap. 3.1.2 der Studie) zugrunde, das auf einem Skalar zwischen prototypischem Erzählen auf der einen und der Instrumental‐ musik auf der anderen Seite eine Palette weiterer, geschichtendarstellender, -andeutender und -indizierender Medien anführt. Auf dem von mir entworfenen Kontinuum von Performancegestaltungen (Abb. 6, Kap. 4.5.1, Abb. 26, Kap. 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 418 <?page no="419"?> 11.3.1) werden die Eckpunkte von den beiden Inszenierungsextremen - dem traditionellen, realistischen und dem experimentellen Performen - gebildet. Das Prinzip des Kontinuums liegt demzufolge der Erzählfähigkeit, der Inter‐ medialität des Erzählens und den Performanceinszenierungen zugrunde, was die folgende Übersicht veranschaulicht: Abb. 18: Das Prinzip des Kontinuums im performativen Erzählkonzept Das intermediale Kontinuum (2) gibt Impulse für die Gestaltung von narrativen Aufgaben. Das Performancekontinuum (3) dient der Situierung der Inszenie‐ rungsformen zwischen Tradition und Experiment. Das Kontinuum der Erzähl‐ fähigkeit (1) stellt dem Fremdsprachenunterricht ein Instrument der Individu‐ alisierung und Differenzierung für die Entwicklung narrativer Diskurse und narrativer Fähigkeiten zur Verfügung (Kap. 10.3.2, 10.3.3). Auf diese Weise kann auf das von Piepho angemahnte langsame Sprachwachstum (Kap. 6.3.1) hinge‐ arbeitet und den Lernenden die Chance zum individuellen Aufbau ihres narra‐ tiven Könnens gegeben werden. 11.3 Mehrdimensionale, performative Konzepte 419 <?page no="420"?> 11 Die sieben Kriterien kooperativen Lernens listen Bonnet / Küppers in ihrem Beitrag zum Thema „Inszenierungen im Fremdsprachenunterricht“ auf. Ziel ihres Beitrags ist es u. a., das Potenzial kooperativen Lernens und der Dramenpädagogik zusammenzu‐ führen und mit diesem Ansatz Wege „zur Ermöglichung des Erwerbs einer perfor‐ mativen Kompetenz“ (Bonnet / Küppers 2011: 36) aufzuzeigen. 12 s. die Diskussion der auch von Schewe (2011: 20-31) im Rekurs auf Fischer-Lichte ge‐ nannten Kriterien Ereignis, Inszenierung, ästhetische Erfahrung. Das Prinzip der narrativen Kooperation Das performative Erzählkonzept ist auf ein kooperativ, prozessual und pro‐ gressiv angelegtes Lehr- / Lernarrangement ausgerichtet. Es nutzt die für das mündliche Erzählen konstitutive narrative Interaktion „im Sinne einer externen Erwerbsressource“ (Stude 2013: 53). Die von Bonnet und Küppers aufgeführten Merkmale kooperativen Lernens 11 liegen auch der narrativen Kooperation zu‐ grunde. Das sind: face-to-face-interaction, Verfolgen gemeinsamer Ziele, positive Abhängigkeit, indivi‐ duelle Verantwortlichkeit, gegenseitige Unterstützung, angemessener Einsatz sozialer Kompetenzen, Reflexion der Gruppenprozesse. (Bonnet / Küppers 2011: 37) Lehrende und Lernende als Realisateure / Träger des Performativen Die narrativen Produkte des Unterrichts stellen Eigenproduktionen der Leh‐ renden und der Lernenden dar. Sie entstehen durch ihr gemeinschaftliches per‐ formatives Handeln. Lehrende und Lernende werden zu Akteuren des perfor‐ mativen Unterrichts, indem sie narrative ‚Jobs‘ in unterschiedlichen narrativen Gesprächskonstellationen übernehmen ‒ mal als Erzählende, mal als Publikum, mal als Einflüsternde. Mündliches Erzählen als Aufführung Die Eigenproduktionen von Lehrenden und Lernenden haben als gemeinsamen Nenner die konstitutiven Merkmale einer Aufführung 12 (Kap. 4.1.1): Sie stellen ein Ereignis dar, das auf der Kommunikation in direkter Mündlichkeit, der Kör‐ perlichkeit der Ausführung, der Bedeutungserzeugung durch verbale und non-verbale Zeichen und dem Prinzip der performativen Verwandlung von Zeit, Raum und Personen beruht (Kap. 11.2.7). Mit dem Fokus auf der Inszenierung mündlichen Erzählens als Aufführung ist das performative Erzählkonzept da‐ rauf ausgerichtet, die Entwicklung narrativer Diskurse durch ästhetische, per‐ formative Sprachverwendung (Europarat 2001: 61f.) zu fördern. 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 420 <?page no="421"?> 13 Dazu gehören in den 90er Jahren vor allem das Standardwerk Schewes zur Inszenierung der Fremdsprache (Schewe 1993), ferner die theaterpädagogischen Ansätze der Fran‐ zösischdidaktik (Feldhendler 1991, Bergfelder-Boos / Melde 1992, Wernsing 1995, Späth-Goes / Jauch 1998, Bergfelder-Boos et al. 2004), in den Nullerjahren Ansätze der Deutschdidaktik (Scheller 2004) und - impulsgebend für die Diskussion um die perfor‐ mative Fremdsprachendidaktik - Ansätze der Englischdidaktik (Hallet 2008, Kurtz 2008, Küppers / Schmidt / Walter 2011a, 2011b, Wedel 2011). Einen Überblick über die Ge‐ schichte der Dramenpädagogik gibt Schewe in der aktuellen Publikation zur Dramen‐ didaktik und Dramenpädagogik im Fremdsprachenunterricht (Schewe 2015). 14 s. die auf den theatersemiotischen Ansatz von Fischer-Lichte bezogene Definition des Performativen in Kap. 4.1 und 4.2. Das performative Erzählkonzept als Beitrag zur performativen Fremdsprachendidaktik Der Begriff des Performativen hat in der fachdidaktischen Diskussion Hoch‐ konjunktur. Ausgehend von den dramenpädagogischen Ansätzen 13 der 90er Jahre und ihrer Übertragung auf den Fremdsprachenunterricht in den Nuller‐ jahren wird die Entwicklung einer performativen Kompetenz (Hallet 2010c) und einer performativen Fremdsprachendidaktik (Schewe 2011, 2015, Surkamp / Hallet 2015) diskutiert. Beide performativen Ansätze beziehen sich wie das per‐ formative Erzählkonzept meiner Studie (Kap. 4.1, 4.2) auf die Konzeptualisie‐ rung des Performativen durch Erika Fischer-Lichte. Diese nennt als konstitutive Merkmale des Performativen 14 (1) das wirksame Ausführen von Sprechakten, (2) das materiale Verkörpern von Be‐ deutungen und (3) das inszenierende Ausführen von theatralen, rituellen und anderen Handlungen.“ (Fischer-Lichte 2005b: 234) Im Rekurs auf Fischer-Lichte (2005b: 234) unterscheiden sie auch zwischen einer engen und einer weiten bzw. einer schwachen und einer radikalen Auffassung (Kap. 4.1.1) des Performativen. Die performative Didaktik interessiert sich für die radikale Variante, die auf dem dritten o. g. Merkmal, der Realisierung des Performativen als inszenierter Aufführung, beruht. Das Performative wird damit als „Eigenschaft kultureller Handlungen“ (Fischer-Lichte 2005b: 234) auf‐ gefasst und „bezeichnet in diesem Sinne den Aufführungscharakter von Hand‐ lungen, die in Anwesenheit anderer, also öffentlich vollzogen werden.“ (a. a. O.: 238) Die Dramenpädagogik wird in diesem Kontext als Mittel zur Inszenierung des Performativen herangezogen. So plädiert Schewe für eine performative Lehr- und Lernkultur, die „Faktoren wie Körperlichkeit, Lautlichkeit, Atmo‐ sphäre, Zirkulation von Energie, Erzeugung von Bedeutung stark akzentuiert.“ 11.3 Mehrdimensionale, performative Konzepte 421 <?page no="422"?> (Schewe 2011: 28) Er schlägt zwei Formen der dramenpädagogischen Inszenie‐ rung im Praxisfeld des Fremdsprachenunterrichts vor: die Kleinform, zu der er „performative Aktivitäten, die im Rahmen einer Unterrichtsstunde bzw. -einheit realisierbar sind, […]“ (Schewe 2015: 28) rechnet, und die Großform, zu der The‐ ateraufführungen in der Fremdsprache gehören (a. a. O.). Dieser Einteilung in Klein- und Großformen entspricht die in der Dramenpädagogik immer wieder vorgeschlagene zweifache Nutzung des Theaters. Sie besteht im Einsatz von Theaterformen zur Erkundung von Situationen und Figuren unterschiedlicher Textgenres einerseits (Bergfelder-Boos / Melde 1992: 4, Bergfelder-Boos et al. 2004: 6, Surkamp / Hallet 2015: 5, 7), in der Erarbeitung einer Theateraufführung im Rahmen von Projektarbeit andererseits. Das Setzen von Impulsen für eine performative Fremdsprachendidaktik geht indessen ein Stück weiter. Sie initi‐ iert die pädagogische Nutzung des Formenpotenzials verschiedener Künste (Schewe 2015: 31) und der mit ihnen verbundenen Wissenschaften und Didak‐ tiken. Es geht um die Entwicklung einer dem Ästhetischen verbundenen Lehr- und Lernkultur: Einer performativen Fremdsprachendidaktik geht es um eine Lehr- und Lernkultur, in der Formen des ästhetischen Ausdrucks ein zentraler Stellenwert eingeräumt wird. Das bedeutet u. a., dass die Form der Sprache - und die Freude, gar Lust am Spiel mit ihr - besondere Aufmerksamkeit erhält; Form impliziert dabei, wie der Körper spricht, wie Laut, Wort, Satz und Bewegung zusammenspielen. (Schewe 2015: 31) Auch im performativen Konzept von Surkamp / Hallet geht es um die Formen ästhetischen Ausdrucks, die als Lernformen aufgefasst werden. Der Fremdspra‐ chenunterricht soll für ästhetische Inszenierungen so genutzt werden, dass „Darstellungs- und Aufführungsformen eine besondere Lernform sind und zu‐ gleich die personalen, kommunikativen und sozialen Kompetenzen der Lern‐ enden fördern.“ (Surkamp / Hallet 2015: 7) Das performative Konzept von Hallet (2010c) versteht sich umfassender. Ziel ist die Entwicklung einer performativen Kompetenz. Diese […] nimmt das generelle kulturelle Phänomen der Performativität und Theatralität der Lebenswelt, des Alltagshandelns und sozialer Interaktionssituationen auf und zielt auf die Entwicklung von Fähigkeiten des Individuums, die Inszeniertheit allen sozialen Handelns zu verstehen, selbstbestimmt mitzugestalten und kritisch zu reflektieren. (Hallet 2010c: 237) Das performative Erzählkonzept meiner Studie ist enger und diskursspezifisch gefasst. Es stellt über die narrative Vermittlungsform der Erzählperformance eine Verbindung zwischen der narrativen Diskursform und der Performativität 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 422 <?page no="423"?> des Theaters her. Die Nähe der Erzählperformance zum Theater wird genutzt, um theatralische Gestaltungsmittel auf die mündlich-narrative Vermittlungs‐ form zu übertragen, ihre spezifisch erzählperformative Verwendung zu er‐ kunden und deren Anwendungspotenzial (Kap. 9.4.2) für den Fremdsprachen‐ unterricht zu nutzen. Ziel ist die Entwicklung narrativer Diskurse mithilfe des Performativen ‒ nicht die Entwicklung einer performativen Kompetenz. Gleich‐ wohl kann das Erzählkonzept einen Beitrag zur Entwicklung performativer Kompetenzen leisten, denn das Performative ist im performativen Erzählkon‐ zept integraler Bestandteil mündlicher Narrativierungsleistungen, was im Fol‐ genden (Kap. 11.3.2) anhand des mehrdimensionalen Analysekonzepts gezeigt wird. Als ein Konzept zur performativen Entwicklung narrativer Diskurse kann die Funktion des Erzählkonzepts vornehmlich darin bestehen, ganz im Sinne Schewes einen narrativen Beitrag „für eine weiter zu entwickelnde ‚performa‐ tive Fremdsprachendidaktik‘“ (Schewe 2011: 22) zu leisten. 11.3.2 Das mehrdimensionale Analysekonzept Das Analysekonzept ergänzt das performative Erzählkonzept durch ein mehr‐ dimensionales Instrumentarium zur Beschreibung und Analyse mündlich-nar‐ rativer Aktivitäten. Gestaltungsprinzipien des Analysekonzepts Das Instrumentarium besteht aus zwei Analysemodellen (FDM-P: Anhang 3, FDM-R: Anhang 4), die mündlich-narrative Aktivitäten in fünf Dimensionen erfassen (s. die zusammenfassende Darstellung der Modelle sowie Abb. 9 und Abb. 10 in Kap. 7). Das sind: • drei werkseitige, verbale Dimensionen (die Vertextung der Erzählung, die mündliche Realisierung der Erzählung und die Markierung der Textober‐ fläche), • eine interaktive Dimension und eine Dimension performativer Gestal‐ tung. Das eine Modell (FDM-P) dient der Analyse von Erzählperformances, das andere der Analyse von Narrativierungen in Rekonstruktionsprozessen (FDM-R). 11.3 Mehrdimensionale, performative Konzepte 423 <?page no="424"?> 15 Die eine Variante repräsentiert das Genre der Wort-Bilder-Serie (FDM-R-WBS: Anhang 11), die andere den performativ gestalteten Vortrag (FDM-R-V: Anhang 12). c. - - - - - - - Das zweite Modell liegt in zwei Varianten vor, wobei jede Variante einem anderen narrativ-performativen Genre entspricht 15 . Die Möglichkeit, aus dem Grundmodell weitere Varianten entwickeln zu können, ist systematisch ange‐ legt. Während die Einteilung in fünf Dimensionen das Grundmuster einer nar‐ rativ-performativen Kommunikation aufnimmt und invariabel ist, können Kri‐ terien und Indikatoren der einzelnen Dimensionen variiert werden. So lässt sich z. B. die fünfte, performative Dimension abwandeln, je nachdem, ob eine Wort-Bilder-Serie oder ein performativer Vortrag gestaltet wird. Dies zeigt der folgende Auszug (Tab. 20) aus der Modell-Variante „performativ gestalteter Vor‐ trag von Fortsetzungsgeschichten“ (Kriterium 5.c des FDM-R-V): 5. kommunikative Aktivitäten, kommunikationsstrategische und performa‐ tive Gestaltung performative Strategien: Welche paralinguistischen und non-verbalen Zeichen werden zur performativen Ge‐ staltung des Vortrags eingesetzt (s. die Zeichenübersicht in Anhang 2)? Kontinuum: Die Schülerinnen und Schüler sprechen ihre Redeanteile monoton. Sie artikulieren deutlich. Sie setzen prosodische Zeichen funktional ein - z. B. Akzentuierung / Pausen zur Gliederung der Rede / Tonhöhenverlauf zur Markierung von Figurenrede. Sie veranschaulichen ihre Rede durch gestische Zeichen - z. B. durch Illustratoren. Sie setzen Stimmfärbung / Lautstärke / Tempo zur Gestaltung von Figuren ein. Sie gebrauchen mimische Zeichen zur Verdeutlichung von Gefühlen und Stim‐ mungen. Sie setzen Geräusche / Gegenstände / Sprechrhythmen etc. zur Ausgestaltung ihrer Vorträge ein. Tab. 20: Das Kontinuum performativer Strategien zu einem narrativ-performativen Vor‐ trag (Kriterium 5.c des FDM-R-V) Weitere Varianten, z. B. zur Gestaltung eines Rollenspiels, können ausgehend vom Grundmodell (FDM-R) entwickelt werden. 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 424 <?page no="425"?> Anwendungsmöglichkeiten des Konzepts Das Konzept kann - wie in der Studie zum mündlichen Erzählen als Performance praktiziert - zur wissenschaftlichen Analyse narrativ-performativer Präsenta‐ tionen genutzt werden. Es lässt sich aber auch in der Aus-, Weiter- und Fortbil‐ dungssowie der Unterrichtspraxis von Lehrenden und Lernenden als Instru‐ ment der direkten Beobachtung und der Diagnose einsetzen. Zur Veranschaulichung dieser Anwendungspraxis können folgende Beispiele aus meiner Weiterbildungspraxis dienen: • Für die Erprobung bzw. Vorbereitung von Erzählstunden können die Lehrkräfte das Modell als Checkliste nutzen, um die Textauswahl zu treffen bzw. die Adaption einer Erzählung vorzunehmen (s. Kriterien 1.a-f des FDM-P). • Als ‚recherchierende Praktiker‘ können sich Lehrende in kollegialer Hos‐ pitation gegenseitig beim Performen beobachten und sich dabei auf be‐ stimmt Punkte konzentrieren, z. B. auf die Etablierung der narrativen Diskurseinheit (Kriterium 4.a des FDM-P), auf die Auswahl von Zeichen in einer bestimmten Szene (Kriterium 5.a des FDM-P), auf die sequenzielle Verwendung eines Zeichens oder einer Zeichenkombination (Kriterium 5.c des FDM-P). Für eine präzise Beobachtung, die auch die Kombination performativer Mittel und deren Funktion einschließt, ist es zu empfehlen, auch die Zeichenübersicht (Anhang 2) zu konsultieren. • Lehrkräfte können das Modell in ihrer Unterrichtspraxis nutzen, um Nar‐ rativierungsleistungen einzelner Schülerinnen und Schüler zu diagnosti‐ zieren oder die Entwicklung des narrativen Diskurses unter ein bis zwei Aspekten zu beobachten. Sie können das Modell auch nutzen, um ihren Schülerinnen und Schülern Aufträge zur arbeitsteiligen Beobachtung von Gruppenpräsentationen zu geben. Dabei können einzelne Beobachtende je ein Kriterium einer Dimension übernehmen, um alle Beobachtungen anschließend zu einer Gesamtschau zusammenzufügen. • Im Rahmen von Fort- und Weiterbildung können die Konzepte z. B. zur mehrdimensionalen Beobachtung narrativ-performativer Lern- und Kon‐ struktionsprozesse einer Lerngruppe oder zur Beobachtung der Erzähl‐ weise eines Storytellers genutzt werden. Hier empfiehlt sich (Kap. 8.1.1) die Arbeit mit Videomaterial, um z. B. unterschiedliche Beobachtungen der Erzählweise anhand von Szenenausschnitten bzw. durch wiederholtes Anschauen einzelner Sequenzen zu verifizieren und zur Diskussion zu stellen. 11.3 Mehrdimensionale, performative Konzepte 425 <?page no="426"?> 16 Der Studiengang wurde in den Jahren 2002-2006 eingeführt. Bis 2014 war er Bestandteil des regulären Studienbetriebs der Pädagogischen Hochschule Freiburg und wurde nun‐ mehr nach Überarbeitung und Akkreditierung für das Studienfach Englisch zum WS 2016 / 17 wieder eingeführt (s. Pädagogische Hochschule Freiburg: Masterstudiengang E- LINGO - Frühes Fremdsprachenlernen im Elementar- und Primarbereich, online unter: https: / / www.ph-freiburg.de/ studium-lehre/ studienangebot/ masterstudiengaenge.html [30.11.2017]. Weitere Information s. Landesstiftung Baden-Württemberg (2008). 17 Informationen zur Implementierung der Methode geben der Beitrag von Grünewald et al. (2014) und die Homepage der Universität Bremen zum design-based-research, online unter: http: / / www.uni-bremen.de/ cu-fabit/ design-based-research.html [30.11.2017]. 11.3.3 Das mehrdimensionale Weiterbildungskonzept Das mehrdimensionale Weiterbildungskonzept kann einen Beitrag zur fachdi‐ daktischen Diskussion um die Lehrkräftebildung leisten. In dieser Diskussion gewinnen seit den Nullerjahren (Schocker-v. Ditfurth 2001b, 2011) und verstärkt in den 10er Jahren Fragen der Professionalisierung von Lehrkräften (Seidel 2014, Tillmann 2014, Volgger 2014) und in diesem Kontext auch Prinzipien der Lehr‐ kräfteaus- und -weiterbildung (Duxa 2010, Bennit 2014, Grünewald et al. 2014) an Bedeutung. Im Zuge dieser Entwicklung wurden verschiedene Möglichkeiten der Einbeziehung der Unterrichtspraxis in die universitäre Aus- und Weiterbil‐ dung erforscht und zur Implementierung entsprechender Studiengänge genutzt. Dazu gehören vor allem folgende, in den letzten Jahren entwickelte Studien‐ gänge: • der (unter Mitarbeit von Marita Schocker-von Ditfurth und Michael Le‐ gutke) an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und Heidelberg sowie der Justus-Liebig-Universität Gießen entwickelte E-LINGO-Masterstu‐ diengang 16 und • das in der Didaktik der romanischen Sprachen an der Universität Bremen angesiedelte, von Andreas Grünewald et al. (2014: 237-253) entwickelte Studienprogramm, das auf der Methode des Design-Based-Research 17 beruht. Beiden Programmen gemeinsam ist die Ausrichtung auf das forschende Lernen der Studierenden in Theorie und Praxis. Dazu dient die theoriebasierte Erfor‐ schung von Unterricht anhand von Unterrichtsprojekten, die wie die Projekte der Weiterbildungsstudierenden meiner Studie Anteile von Aktionsforschung enthalten. Das Konzept meiner Studie ist durch die im Folgendenden darge‐ legten Gestaltungsprinzipien mehrperspektivisch ausgerichtet. 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 426 <?page no="427"?> Die Verknüpfung von Theorie und Praxis Dem Weiterbildungskonzept liegen verschiedene Formen der Verknüpfung von Theorie und Praxis zugrunde. Die erste Form (a) besteht in der Verknüpfung von fachlichem Wissen in den Bezugswissenschaften mit dem der Fachdidaktik anhand eines Studienschwerpunktes - dem Narrativen (s. die Darstellung des Erzählcurriculums in Kap. 8.1.1). Die zweite Form (b) besteht in der Verknüpfung von fachlichem Wissenserwerb und eigenem kreativ-sprachlichen Handeln, hier dem schriftlichen und mündlichen Erzählen. Die dritte Form (c) besteht in der Verknüpfung theoretischer Wissensbestände mit unterrichtlichem Handeln, d. h. im Erproben des mündlichen Erzählens als Performance im Fremdspra‐ chenunterricht. Der Gewinn für die Weiterbildungsstudierenden besteht in einem ‚roten Faden‘, der sich durch das Studium zieht. Er erlaubt den Studierenden, einen Lerngegenstand aus verschiedenen Wissenschaftsperspektiven und Handlungs‐ dimensionen zu erfahren. So können sie mithilfe des ‚roten Erzählfadens‘ ihr sprach- und literaturwissenschaftliches Wissen über die Diskursform Erzählen zur fachdidaktischen Diskussion über die Rolle des Erzählens im frühen Fremd‐ sprachenunterricht nutzen (a). Ihr erzähltheoretisches Wissen über Erzählsitu‐ ation und Perspektivierung können sie bei ihrem kreativen Schreiben an‐ wenden, indem sie z. B. einen fiktionalen Text durch Wechsel des Erzählers und der Erzählperspektive umgestalten oder in eine andere Textsorte überführen (b). Ihr sprachwissenschaftliches Wissen über konzeptionelle Schriftlichkeit und Mündlichkeit können sie anwenden, um Erzähltexte in Erzählvorlagen für die Erzählperformance zu transformieren (c). Ihr literaturwissenschaftliches Wissen über das System der Kinder- und Jugendliteratur, speziell auch über die Einfach- und Doppeladressierung kinderliterarischer Texte, können sie bei der Textauswahl und -adaption für die Erzählprojekte anwenden (c). Die Diskursform Erzählen als ‚roter Faden‘ des Curriculums kann im mehr‐ perspektivischen Weiterbildungskonzept stellvertretend für andere Lerngegen‐ stände, z. B. eine andere Diskursform, digitale Kommunikationsformen u. a. m. stehen. Die Lern- und Forschungsgemeinschaft Die Weiterbildungsstudierenden bilden eine Lern- und Forschungsgemein‐ schaft, die es ihnen erlaubt, ihre Lern- und Forschungserfahrungen auszutau‐ schen und Teams zu bilden. Eine besondere Rolle kommt hier den studienbe‐ gleitenden Seminaren zu, die der Vertiefung erworbenen Wissens, dem kollegialem Austausch und der kollegialen Beratung dienen. Das Üben des 11.3 Mehrdimensionale, performative Konzepte 427 <?page no="428"?> mündlichen Erzählens in Workshops, den ‚geschützten Räumen‘ der Lernge‐ meinschaft, gibt das nötige Selbstvertrauen, dies auch in der Schulöffentlichkeit zu wagen. Die Einbeziehung von Aktionsforschungsprojekten Der Transfer fachlichen Wissens und Könnens in die Unterrichtspraxis erfolgt anhand von Aktionsforschungsprojekten. Bei den im Rahmen meiner Studie durchgeführten Projekten handelt es sich um ‚Mini-Aktionsforschungsprojekte‘ (Kap. 2.2.3, 8.1). Die Studierenden untersuchen einen fachlichen Schwerpunkt ihres Studiums, indem sie erworbenes fachliches Wissen bei der Formulierung von Forschungsfragen anwenden und ihnen in ihrer Unterrichtspraxis nach‐ gehen. Der Gewinn für die Weiterbildungsstudierenden besteht darin, dass sie neu erworbenes Wissen und Können in ihrem Unterricht datenbasiert an‐ wenden und aus dieser Anwendung neue Perspektiven auf ihren Unterricht gewinnen (Kap. 10.3.2.1). Ein weiterer Gewinn besteht in der Erweiterung ei‐ gener Diskurskompetenzen, denn die Gestaltung einer Erzählperformance (Kap. 11.2.2) verlangt den Einsatz eines im Unterrichtsalltag eher ungewöhnlichen, poetischen Diskurses (s. die Ausführungen zur pädagogischen Diskursfähigkeit in Hallet 2006: 128). Außerdem bietet die Durchführung eines ‚Miniforschungs‐ projekts‘den Lehrkräften Möglichkeiten, sich mit einer zur Weiterentwicklung ihres Unterrichts geeigneten Forschungsmethode vertraut zu machen und sie ggf. in anderen, schulinternen Teams in ihrer künftigen Unterrichtspraxis an‐ zuwenden. Der mehrdimensionale Charakter des Weiterbildungskonzepts lässt sich auch anhand einiger, die professionelle Entwicklung der Lehrkräfte betreffender Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Projektarbeit zeigen. Sie lassen sich den drei Dimensionen professioneller Entwicklung zuordnen, die Benitt (2014: 60-65) aus ihrer Untersuchung zum forschenden Lernen in der Lehrkräftebil‐ dung gewinnen konnte: der interpersonalen, der kognitiven und der af‐ fektiv-emotionalen Entwicklung. Die interpersonale Entwicklung lässt sich an der Bereitschaft der Lehr‐ kräfte festmachen, im Rahmen der Projektarbeit mit ihren Kolleginnen und Kollegen zu kooperieren, sich mit ihnen über ihr unterrichtliches Handeln und das ihrer Lerngruppen auszutauschen. Sie waren bereit, ihre Klassenzimmertür für externe Beobachtung zu öffnen, und konnten erfahren, dass kollegiale Ko‐ operation und kollegiale Beobachtung und Beratung ein Mehr an Erfahrung und Erkenntnis bringen (s. auch die Bedeutung des professionellen Feedbacks für die Entwicklung professionellen Handelns der Lehrkräfte bei Buhren 2011: 12-20). 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 428 <?page no="429"?> Die kognitive Entwicklung lässt sich an der Bereitschaft der Lehrkräfte festmachen, aufgrund eigener Beobachtungen, des kollegialen Feedbacks und der Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler ihren Unterricht zu verän‐ dern (Kap. 10.3.2.1). Die Ergebnisse meiner Studie bestätigen die Beobachtungen Benitts, die darauf hinweist, dass wichtige Erkenntnisse von den Lehrkräften besonders dann aufgenommen wurden, „wenn sie mit positiven Erfahrungen, also heuristischen Signalen, im jeweiligen Lehr- / Lernkontext einherging. Da‐ durch wurde deutlich, dass nicht nur konzeptuelles Wissen (Theorie), sondern auch perzeptuelles Wissen (Praxis) relevant für die kognitive professionelle Entwicklung ist […].“ (Benitt 2014: 62) Die affektiv-emotionale Entwicklung zeigt sich in dem Engagement, mit dem die Lehrkräfte sich dem Experiment des freien Erzählens gestellt haben, und ihrem Vorhaben, aufgrund ihrer positiven Erfahrungen weitere Experi‐ mente zu wagen. Eine wichtige Rolle spielen dabei ihre erzählpraktischen Er‐ fahrungen. Die Reflexionen ihrer ‚Performancegefühle‘ (Kap. 10.1.3, 10.2.3) zeigen, dass sie Bedenken, Unsicherheiten, Ängste überwinden und Freude am Experimentieren mit der performativen Gestaltung entwickeln konnten. Die Erfahrung, den poetischen Gebrauch der Sprache zu wagen und im Kontakt mit dem Publikum zu genießen, trug zur Entwicklung von Selbstvertrauen bei. Hier können die Ergebnisse meiner Studie die Beobachtungen Benitts ergänzen. Sie stellt fest, dass Erfolgserlebnisse - besonders im Bereich des sprachlichen Kön‐ nens - und die Außenwahrnehmung dieser Entwicklung das Selbstwertgefühl der Lehrkräfte steigern (Benitt 2014: 63-64). Die Reflexionen der Lehrenden in den Interviews zeigen, dass sie in den sog. Feedback-Schleifen der Performance (Kap. 10.1.4, 10.2.4) die Wertschätzung und Zuwendung der Zuhörenden und in den Phasen der Rekonstruktion deren ‚Erzählmotivation‘ wahrnehmen und als Erfolg werten konnten (Kap. 10.1.7, 10.2.7). Erweiterungsmöglichkeiten Das mehrdimensionale Weiterbildungskonzept kann erweitert werden durch • systematische Verankerung der Aktionsforschung im Studiengang inkl. dem Erwerb von Forschungsmethoden, die sich für unterrichtliche Akti‐ onsforschung eignen, z. B. der schriftlichen Befragung, Unterrichtsbeo‐ bachtung und kollegialen Hospitation (Buhren 2011: 21-65), • systematische Datenerhebung und -auswertung durch die Studierenden, • weitere fachlich übergreifende Schwerpunkte wie z. B. den Einsatz digi‐ taler Medien oder der Aufgabenorientierung. 11.3 Mehrdimensionale, performative Konzepte 429 <?page no="430"?> Entsprechende Erweiterungen des Konzepts wurden im dritten Weiterbildungs‐ studiengang „Romanische Sprachen“ (2009-2012) im Arbeitsbereich der Di‐ daktik der Romanischen Sprachen und Literaturen erprobt und im Rahmen eines Studientages zur Aktionsforschung vorgestellt (Bergfelder-Boos / Caspari 2014). 11 Impulse für eine performative Entwicklung narrativer Diskurse 430 <?page no="431"?> 1 Während meiner Tätigkeit an diesem Institut erfolgten mehrere Namens- und Funkti‐ onsänderungen. Als „Pädagogisches Zentrum“ (PZ) in den 60er Jahren gegründet, wurde es 1994 als Berliner Institut für Lehrerfort- und -weiterbildung (BIL) neu ge‐ gründet und fusionierte 2000 mit der Landesbildstelle zum Landesinstitut für Schule und Medien (LISUM). 2007 fusionierte das Berliner Landesinstitut (LISUM) mit dem Brandenburgischen Landesinstitut (LISUM Bbg, vormals Pädagogisches Landesinstitut Brandenburg, PLIB). 12 Reflexion des Forschungsprozesses In diesem Kapitel wird der Forschungsprozess der Studie nachgezeichnet und die Ergebnisse werden kritisch beleuchtet. Kapitel 12.1 reflektiert den Aus‐ gangspunkt der Forschungsarbeit, Kapitel 12.2 die Ergebnisse des spiralför‐ migen Forschungsprozesses und die Angemessenheit der angewandten For‐ schungsmethoden unter dem Aspekt des Theorie-Praxisbezugs. Kapitel 12.3 zeichnet den Forschungsprozess als eigenen Aktionsforschungsprozess der For‐ scherin nach. Kapitel 12.4 reflektiert die Gütekriterien, Kapitel 12.5 die Reich‐ weite der Studie. 12.1 Der Ausgangspunkt der Forschungsarbeit Zu den Entscheidungsdimensionen meiner Forschungsarbeit (Caspari 2016d: 368) gehören neben dem zum Zeitpunkt des Projektbeginns reifenden For‐ schungsinteresse (Kap. 2.1.1) die Schwerpunkte meiner bisherigen beruflichen Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Fortbildnerin am Berliner In‐ stitut für Lehrerfort- und -weiterbildung 1 . Im Laufe dieser Tätigkeit nahm ich an einem Forschungsprojekt zum Einsatz von Theaterformen im Fremdspra‐ chenunterricht teil. Ziel des Projekts war es, das damalige Semesterthema der Gymnasialen Oberstufe, Le théâtre, fachlich, didaktisch und unterrichtsprak‐ tisch aufzuarbeiten und Handreichungen für ein Theatercurriculum zu entwickeln. Aus diesem Vorhaben entstand ein Projekt zum theoriebasierten und handlungsorientierten Umgang mit Theatertexten und Theaterinszenie‐ rungen. Es wurde ein dramenpädagogischer Ansatz für den Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe II entwickelt, der anschließend auf den Unterricht der Sekundarstufe I ausgeweitet wurde (Bergfelder-Boos et al. 2004). Parallel zur Forschungsarbeit führte ich Fortbildungsveranstaltungen zum Einsatz von <?page no="432"?> Theaterformen und zur Entwicklung von Theaterprojekten im Fremdsprachen‐ unterricht durch, so dass ich Theorie, Praxis und die theoriegeleitete Weiter‐ entwicklung der Praxis schon vor Beginn meines Dissertationsprojektes im Blick hatte. Den Ausschlag, das Dissertationsprojekt durchzuführen, gab meine Arbeit als Weiterbildnerin an der Freien Universität Berlin, denn hier konnte ich mein Interesse an der Erforschung des Theatralischen einerseits und an der Verknüpfung von Theorie und Praxis andererseits weiterverfolgen. Aus diesen Motivationssträngen entwickelten sich das Erkenntnisinteresse und die Zielsetzungen meiner Arbeit (Kap. 2.1.2). Im letzten Kapitel der Arbeit soll nunmehr reflektiert werden, inwiefern dem Erkenntnisinteresse der Studie bei ihrer Durchführung Rechnung getragen werden konnte und welche Ziel‐ setzungen mit welchem Ergebnis realisiert wurden. 12.2 Der spiralförmige Forschungsverlauf und der Theorie-Praxis-Bezug der Studie Den Ausgangspunkt der Forschungsspirale bildete (Kap. 2.1.1, 2.2.2, 12.1) die Unterrichts- und Weiterbildungspraxis, verbunden mit dem Ziel ihrer Verände‐ rung. Erste Etappe Da ein erster vor diesem Projekt durchgeführter Versuch der Projektarbeit mit Weiterbildungsstudierenden (s. das Pilotprojekt in Kap. 2.1.1) wegen man‐ gelnder Verbindlichkeit nicht zum gewünschten Erfolg führte, leitete ich die erste Forschungsetappe mit dem Erstellen eines neuen Curriculums (Kap. 8.1.1) für den nächsten Weiterbildungsstudiengang ein und schloss sie mit der im Verlauf der Weiterbildung erfolgten Datenerhebung ab. Zweite Etappe Da es sich bei der Durchsicht der erhobenen Daten herausstellte, dass die mir zur Verfügung stehenden Analyseinstrumente nicht differenziert genug waren, leitete ich die zweite Forschungsetappe mit einer Phase intensiver Theoriearbeit ein und schloss sie mit der Entwicklung der Erzähl-, Potenziale- und Ana‐ lyse-Modelle ab. Dritte Etappe Die entwickelten Modelle erprobte ich in der dritten Etappe am empirischen Material. Dessen Analyse lieferte Konkretisierungen und praktische Umset‐ 12 Reflexion des Forschungsprozesses 432 <?page no="433"?> zungen der Theoriemodelle sowie Impulse zu ihrer Neuformulierung. Auf diese Weise bereicherte die Analyse der Praxis die narrative und performative Theo‐ riebildung. Vierte Etappe Aus der Zusammenführung der Ergebnisse der Theorie und der Empirie konnten die drei Konzepte für die Praxis des Fremdsprachenunterrichts entwi‐ ckelt werden. Auf diese Weise bereicherte die Zusammenführung der Ergebnisse der theoretischen Arbeit mit den Analyseergebnissen der Praxis die fachdidak‐ tische Theoriebildung. 12.3 Der Forschungsprozess der Forscherin als Aktionsforschungsprozess Aus dem spiralförmigen Forschungsverlauf, den forschungsmethodischen Ent‐ scheidungen, aus dem Theorie-Praxis-Bezug meiner Forschung und dem Zu‐ sammenhang zwischen meiner beruflichen Situation und den Zielen meiner Forschung lässt sich schließen, dass auch die Forscherin als Weiterbildnerin einen Aktionsforschungsprozess durchlaufen hat - in einer ihrer beruflichen Situation entsprechenden Facette von Aktionsforschung (Bergfelder-Boos 2011). Aus dieser Perspektive lassen sich die Forschungsentscheidungen der oben dargestellten Etappen reflektieren und ein typischer Aktionsforschungs‐ verlauf nachzeichnen. Der Ausgangspunkt Der Ausgangspunkt meiner Forschung entspricht einem klassischen Einstieg in die Aktionsforschung. Er ergab sich aus der Beobachtung der eigenen berufli‐ chen Praxis, beruhte auf dem Wunsch nach Verbesserung der Praxis und führte dazu, dass ich nach Handlungsalternativen und -konzepten suchte. Der subjektbezogene Ansatz Der subjektbezogene Ansatz - die Erforschung des eigenen Berufsfeldes - ist nur bedingt vorhanden, denn der empirische Hauptgegenstand meiner For‐ schung ist die Praxis der Studierenden. Über die Erforschung ihrer Praxis und durch eigene theoretische Forschung und Anwendung ihrer Ergebnisse entwi‐ ckelte ich jedoch meine eigene Weiterbildungspraxis weiter. 12.3 Der Forschungsprozess der Forscherin als Aktionsforschungsprozess 433 <?page no="434"?> Der kreisförmige, zyklische Forschungsverlauf Der ausschlaggebende Faktor für die Zurechnung zur Aktionsforschung sind die Parallelen zwischen dem spiralförmigen Verlauf meiner Forschung (Kap. 2.6) und dem kreisförmigen, zyklischen Verlauf der Aktionsforschung sowie den Auslösern ihres Verlaufs, den Altrichter / Aichner et al. (2010: 806) mithilfe des folgenden Modells (Abb. 27) darstellen: Abb. 19: Der Kreislauf von Reflexion und Aktion (Altrichter / Aichner et al.: 2010: 806) Aus dem Vergleich dieses Modells mit den Spiralen meiner Forschung ergibt sich als erste Gemeinsamkeit die Abfolge von Einstieg (A), Sammlung von Daten und Erfahrungen (B), die zu einer Phase der Reflexion und einer praktischen Theorie führen (C), aus der Konsequenzen gezogen werden (E), um mithilfe 12 Reflexion des Forschungsprozesses 434 <?page no="435"?> eines Handlungsplans (F) zu einer Aktion zu gelangen. In meinem Fall handelt es sich jedoch nicht um eine praktische Theorie, sondern um eine praxisorien‐ tierte These. Eine zweite Gemeinsamkeit stellt die Fortsetzung des Zyklus durch eine erneute Aktionsidee dar, die zu einem erneuten Zyklus von Datensamm‐ lung, Reflexion, überarbeiteter Theorie und Aktion führt. Aus dieser Perspektive erweisen sich die ersten beiden Etappen meiner For‐ schung als zwei aufeinander folgende Aktionsforschungszyklen. Die Unzufrie‐ denheit mit den Projekten des ersten Studiengangs bildete den Einstieg (A). Aus der Durchsicht der Studienpläne und der Reflexion der ersten Projekte (B) ergab sich die praxisorientierte These, durch einen ‚roten Erzählfaden‘ Theorie und Praxis besser miteinander zu verknüpfen (C). Daraus ergab sich als Konsequenz das ‚Erstellen eines Erzählcurriculums‘ (E) und als Aktion die Begleitung der Projektarbeit des zweiten Studiengangs (F). Die Ergebnisse der Projektarbeit - die empirischen Daten meiner Studie - eröffnen den zweiten Aktionsfor‐ schungszyklus. Die Kenntnisnahme und Durchsicht der Ergebnisse entspricht einer zweiten Phase der Reflexion. Dabei konnte ich zum einen Nachholbedarf im Hinblick auf die mir zur Verfügung stehenden Analyseinstrumente fest‐ stellen. Zum andern zeigte es sich sehr schnell, dass die sprachlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler in den mitgeschnittenen Erzählstunden nicht be‐ sonders hoch waren und die Narrativierungen der Lernenden sich auf den ersten Blick als sehr undifferenziert darstellten. Möglicherweise, so mein erster Ein‐ druck, lohnt sich die Analyse nicht. Eine Alternative zur Beschäftigung mit diesem Material wäre eine weitere Datenerhebung mit anderen Lerngruppen und denselben Studierenden oder eine weiterbildungsexterne Suche nach Pro‐ banden gewesen. Ich habe mich trotzdem für die Arbeit mit dem erhobenen Material entschieden - zum einen, weil ich die Verankerung meines Forschungs‐ projekts in der Weiterbildung nicht aufgeben wollte, zum andern weil ich es als Herausforderung annahm, auch auf der Kompetenzstufe dieser Lernenden Ent‐ wicklungen durch die gemeinsame Arbeit der Akteure zu entdecken. Aus dieser Reflexionsphase ergab sich als Konsequenz eine weitere praktische These: Im mündlichen Erzählen, so stellten Akteure und Forscherin in ersten Reflexions‐ gesprächen fest, stecken besondere, für die Mündlichkeit und Handlungsorien‐ tierung des Unterrichts bedeutsame Potenziale. Es lohnt sich, ihnen nachzu‐ gehen - woraus sich der nächste Aktionsplan, die theoretische Forschung im Bereich der Narrations- und Performancetheorie ergab. Jede weitere durchlaufene Station meines Forschungsprozesses stellt einen eigenen Aktionsforschungszyklus dar, der auf forschungsmethodischen Ent‐ scheidungen beruht. So war nach der zweiten Forschungsetappe eine Entschei‐ dung im Hinblick auf den Umgang mit dem Datenmaterial zu treffen. Es war für 12.3 Der Forschungsprozess der Forscherin als Aktionsforschungsprozess 435 <?page no="436"?> die Anwendung der nunmehr erarbeiteten Modelle zu umfangreich. Ich ent‐ schloss mich deshalb für eine Datenreduktion (Kap. 2.4, 8.2.2) und eine exem‐ plarische Analyse der beiden Erzählstunden (EZ / 1 und EZ / 2) anhand aller erarbeiteten Kriterien. Eine Alternative wäre eine punktuelle Überprüfung der Modelle anhand ausgewählter Beispiele aller Erzählstunden gewesen. Die Ent‐ scheidung für eine exemplarische, intensive Analyse anhand der Narrativie‐ rungsleistungen der ausgewählten Lerngruppen hatte den Vorteil, dass tatsäch‐ lich Linien der Entwicklung narrativer Diskurse auch auf einem relativ niedrigen sprachlichen Niveau nachgewiesen werden konnten. Die Perspektivierung der Forschung Ein weiteres Charakteristikum von Aktionsforschung, die Perspektivierung der Forschung durch Einbeziehung unterschiedlicher Sichtweisen und durch An‐ wendung kollegialer Arbeitsformen wie der kollegialen Beobachtung und Be‐ ratung (Kap. 8.1.2), ist ebenfalls gegeben. Unter den verschiedenen Facetten fremdsprachendidaktischer Aktionsforschung (s. auch Jäger 2011, Benitt 2014, 2015), die inzwischen vermehrt als Forschungsdesign gewählt wird (Caspari 2016c: 73), besteht die Besonderheit des Designs meiner Studie darin, dass sie zwei einander ergänzende Funktionen erfüllt. Sie dient einerseits der Erfor‐ schung des Unterrichts der Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer durch die Akteure selbst und leistet einen Beitrag zu deren Professionalisierung (Kap. 11.3.3). Sie dient gleichzeitig der fachdidaktischen Unterrichtsforschung (Hermes 1997, Altrichter / Aichner et al. 2010) und der Weiterentwicklung der beruflichen Praxis der Forscherin, die die Aktionsforschung der Weiterbil‐ dungsstudierenden durch kollegiale Beratung begleitete. Die Durchführung des dritten Weiterbildungsstudiengangs (2009-2012) mit einem nochmals verän‐ derten Curriculum, das den Einsatz der Methode der Aktionsforschung syste‐ matisch in das Weiterbildungsprogramm aufnimmt, kann als Fortsetzung des einmal begonnenen Aktionsforschungszyklus angesehen werden (Kap. 11.3.3). 12.4 Gütekriterien der Studie Die Kernkriterien der Güte qualitativer Forschung (Steinke 2007: 319-331, Grotjahn 2006: 257-259, 2007: 496f., Caspari / Helbig / Schmelter 2007: 500) konnten in der Gesamtkonzeption und Durchführung meiner Studie wie folgt realisiert werden: Die Relevanz der interdisziplinären Recherche des Potenzials mündlichen Erzählens und der in der Studie generierten Modelle und Konzepte für den 12 Reflexion des Forschungsprozesses 436 <?page no="437"?> Fremdsprachenunterricht ergibt sich aus der Bedeutung der Diskursform Er‐ zählen für die Entwicklung der sprachlichen und pragmatischen Kompetenzen der Lernenden, aus der Bedeutung des Mündlichkeitsprinzips im Sprachunter‐ richt (Kap. 5.2 und 5.3) und aus den Desiderata fremdsprachendidaktischer For‐ schung zu diesem Thema (Kap. 2.1.2). Der Herstellung intersubjektiver Nachvollziehbarkeit (Steinke 2007: 324) dient vor allem die Dokumentation des Forschungsprozesses durch • die umfassende Darlegung der Komplexität des Forschungsgegenstandes, der Ziele (Kap. 2.1) und der forschungstheoretischen und -methodologi‐ schen Rahmung der Studie (Kap. 2.2), • die Begründung der Forschungsentscheidungen anhand der Zielset‐ zungen und des Forschungskontextes (Kap. 2.3) sowie die ausführliche Erläuterung der eingesetzten Verfahren der Datenerhebung, -auswertung und -bearbeitung (Kap. 2.3, 8.3), • die präzisen Angaben der Informationsquellen (Kap. 2.2.2), die Doku‐ mentation der Unterrichtsprodukte und die anschaulichen Beschrei‐ bungen der beobachteten Unterrichtsaktionen (Kap. 9). Zur intersubjektiven Nachvollziehbarkeit tragen darüber hinaus die Anwen‐ dung eines kodifizierten Verfahrens zur Auswertung der Interviews (s. die In‐ haltsanalyse nach Mayring 2010 in Kap. 8.3.2) und die Explikation und Darstel‐ lung der Analyseverfahren zur Auswertung der Videografie (s. die textsemiotischen Analyseschritte in Kap. 4.5.2) bei. Eine transparente Darstellung der Forschungsergebnisse konnte mithilfe der Zwischenfazits nach jedem Analyseschritt (Kap. 7, 9.4, 10.3) und der Ergeb‐ nisdarstellung der Schlusskapitel der Studie (Teil C) erreicht werden. In den Zwischenfazits werden die Hauptergebnisse der Analyseschritte zusammenge‐ fasst und auf zuvor erarbeitete Ergebnisse bezogen. Im Schlussteil der Studie werden die Ergebnisse der Theorie- und der Praxiserforschung zusammenge‐ führt. Die forschungsmethodologische Entscheidung, die Forschungsziele mithilfe einer komplex angelegten theoretischen Forschungsarbeit und einer in sie in‐ tegrierten empirisch-qualitativen Studie (Kap. 2.2.2) zu realisieren, erwies sich aus folgenden Gründen als gegenstandsangemessen (Steinke 2007: 326-328): • Es konnten unterschiedliche, einander ergänzende Forschungsansätze und -ergebnisse zum mündlichen Erzählen als Performance aufgearbeitet und für die Ziele des Projekts zusammengeführt werden. 12.4 Gütekriterien der Studie 437 <?page no="438"?> • Durch die Anwendung der Modelle auf die Beispiele der Unterrichtspraxis konnten ihre Kohärenz überprüft und ihre Leistung zur Analyse narra‐ tiver Aktivitäten gezeigt werden (Kap. 9.4.3). Als weiteres Gütekriterium der empirischen Teilstudie fungieren folgende Formen der Triangulation (Knorr / Schramm 2016: 91ff.): • die Datentriangulation, denn es werden unterschiedliche Datenquellen (Kap. 2.3) genutzt, • die Methodentriangulation, denn die videogestützte Beobachtung wird mit der Befragung der Akteure (Kap. 10.1, 10.2) kombiniert und • die Theorientriangulation, denn die Recherche der Potenziale ist inter‐ disziplinär angelegt (Kap. 3, 4, 5, 6). Neben ihrer Funktion als Gütekriterium qualitativer Forschung werden die zum Einsatz gebrachten Triangulationsformen auch als Erweiterungs- und Hand‐ lungsstrategie (Knorr / Schramm 2016: 90) gebraucht. Sie dienen der „Vertiefung und Erweiterung“ (a. a. O.) der Analyseergebnisse, weil sie helfen, das mündliche Erzählen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Nimmt man den Wei‐ terbildungskontext und die Aktionsforschungselemente der Studie (Kap. 2.2.3) in den Blick, so zeigt sich, dass sie auch eine „Aktionsfunktion“ übernehmen, auf die Schründer-Lenzen verweist: In derartiger Praxisforschung geht es in der Einbeziehung möglichst vielfältiger Per‐ spektiven auf einen Forschungsgegenstand nicht nur darum, mit dieser Perspekti‐ ventriangulation eine möglichst umfassende oder detaillierte Beschreibung eines Re‐ alitätsausschnitts zu erhalten, sondern unmittelbar um Praxisveränderung. Anders als in dem Forschungsprogramm ‚subjektive Theorien‘, in dem es um die Rekonstruktion subjektiven Sinns geht, steht hier die Konstruktion einer ‚praktischen Theorie‘ im Vordergrund. (Schründer-Lenzen 2010: 154) Zur Herstellung reflektierter Subjektivität (Steinke 2007: 330f.) habe ich meine Forschungsinteressen auch aus der Perspektive meines beruflichen Wer‐ degangs (Kap. 12.1) erläutert. Die besonderen Bedingungen und den Stellenwert des Weiterbildungs- und des Aktionsforschungskontextes (Kap. 2.2.3, 8.1.1, 8.1.2) sowie deren Einfluss auf die Datenerhebung meiner Forschung (Kap. 8.2) wurden offengelegt. Die aus dieser Konstellation erwachsene Doppelrolle als Weiterbildnerin und als Forscherin sowie möglicherweise sich ergebende Kon‐ flikte wurden kritisch beleuchtet, die eingeschlagenen Lösungswege dargelegt. 12 Reflexion des Forschungsprozesses 438 <?page no="439"?> 12.5 Die Reichweite der Studie Die vorliegende Untersuchung weist verschiedene Limitationen (Steinke 2007: 329-330) auf, die sich vor allem auf den empirischen Teil der Studie beziehen. Diese kann nicht den Anspruch auf Repräsentativität erheben, denn die Daten wurden nur an fünf Berliner Schulen erhoben und von diesen erhobenen Daten wurden lediglich zwei Datensätze von zwei Oberschulen systematisch ausge‐ wertet. Dieser Limitation stehen die reichhaltigen Ergebnisse der Analyse der Da‐ tensätze gegenüber, die zum einen auf die detaillierte, exemplarische Analyse, zum andern auf das Datenmaterial selbst zurückzuführen sind. Dieses bot viel‐ fältige, konkrete Anwendungsbeispiele performativen Erzählens und ebenso vielfältige, individuelle Äußerungen der Lehrenden und Lernenden zum per‐ formativen Erzählen im Fremdsprachenunterricht. Mit der Reichhaltigkeit und Vielfalt der Ergebnisse erfüllt die empirische Studie ihre Funktion als Explora‐ tion des performativen Erzählens im Fremdsprachenunterricht, als praktische Anwendung der in Theoriearbeit entwickelten Modelle und als Impulsgeber für die Entwicklung der praxisorientierten Konzepte zur Unterrichtsgestaltung. Eine weitere Limitation ergibt sich aus der Begrenzung des Teilnehmerinnen- und Teilnehmerkreises auf die weiterbildungsstudierenden Lehrkräfte. Die Wei‐ terbildungssituation bot den Lehrkräften Möglichkeiten einer intensiven, the‐ oriebasierten Auseinandersetzung mit dem mündlichen Erzählen sowie Motivation für die Erprobung der Diskursform in Erzählprojekten. Diese Vo‐ raussetzungen sind im normalen Schulalltag nicht gegeben. Aber aus dem An‐ schauungsmaterial der Erzählstunden ließen sich Bedingungsfaktoren für das Ausschöpfen des Potenzials mündlichen Erzählens und Konzepte für die Praxis entwickeln. Insofern erfüllt das performative Erzählkonzept der Studie (Kap. 11.3.3) die Funktion der Veröffentlichung von Erfahrungen und Ergebnissen aus Aktionsforschungsprojekten - für Altrichter / Posch (2007: 29) ein wichtiges Merkmal von Aktionsforschung. Die Limitation der Teilnehmerinnen und Teil‐ nehmer betrifft auch die Lerngruppen. Der Fokus der Untersuchung liegt auf der 9. Jahrgangsstufe. Die Erzählstunden der 4. und 5. Klassen der Grundschule wurden nur punktuell zur Erweiterung des Spektrums der Basistexte zum Er‐ zählen, der Stundendesigns und der narrativen Aufgaben herangezogen (Kap. 11.2, 11.3). Über die Einschränkungen im Hinblick auf den Datenumfang und die Aus‐ wahl der Probanden hinaus liegt eine Begrenzung der Erzählgenres vor. Zwar wurden von den Lehrenden unterschiedliche narrative Aufgaben und von den Lernenden unterschiedliche fiktionale Erzählgenres entwickelt, aber es liegt 12.5 Die Reichweite der Studie 439 <?page no="440"?> eine Limitation auf das Fiktionale und eine Fokussierung auf das Märchen als narrative Kleinform vor, wobei das in der Sekundarstufe I gewählte Zweibrü‐ dermärchen durch die in der Grundschule gewählten Zauber- und Tiermärchen ergänzt wurde. Eine letzte, die Reichweite der Studie betreffende Einschränkung ergibt sich aus dem relativ weit zurückliegenden Zeitpunkt der Datenerhebung (2007 / 2008). Dass die Ergebnisse der Studie erst zum jetzigen Zeitpunkt vorgelegt werden, ist auf den langwierigen, spiralförmig zwischen Phasen der Theorie‐ bildung, der Datenerhebung und -auswertung sowie der Überarbeitung von Er‐ gebnissen der theoretischen und empirischen Arbeit (Kap. 2.6) zurückzuführen. Die zeitliche Distanz fällt jedoch insofern nicht weiter ins Gewicht, als zum Zeitpunkt der Datenerhebung bereits nach den Prinzipien des kompetenzori‐ entierten Fremdsprachenunterrichts und auf der Grundlage kompetenzorien‐ tierter Rahmenlehrpläne unterrichtet wurde. Das freie Sprechen hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits als zu fördernde Kompetenz etabliert und die Gestal‐ tung kompetenzorientierter Aufgaben bildete bereits einen Schwerpunkt der fachdidaktischen Diskussion. Es ist nicht zu erwarten, dass in den 10er Jahre konzipierte Erzählstunden nach grundlegend anderen Prinzipien gestaltet werden und in anderen Interaktionsmustern verlaufen wie die Beispiele der Studie. Darüber hinaus konnten die Ergebnisse der Studie vor dem Hintergrund aktueller fachdidaktischer Ansätze diskutiert und ausgewertet werden (Kap. 11.2, 11.3). Vor dem Hintergrund der dargelegten Limitationen der Studie stellt sich die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit (Steinke 2007: 329) ihrer Ergebnisse. Diese kann aus folgenden Gründen und unter folgenden Voraussetzungen als gegeben angesehen werden: 1. Die narrativen Aktivitäten der Erzählstunden konnten unter Anwendung der Kriterien und Indikatoren der im konzeptionellen Teil der Studie ent‐ wickelten Modelle mehrperspektivisch und detailliert untersucht werden. Es ist davon auszugehen, dass sich die Analyseinstrumente auch auf die Leistungen anderer Lerngruppen und auf andere Genres übertragen lassen, denn bereits die erste Anwendung auf das empirische Material der Studie zeigte: Beispiele aus der Praxis, die in den Modellen nicht vorge‐ sehen sind, lassen sich in eine der Dimensionen der Modelle integrieren, ohne Widersprüche im System zu erzeugen (Kap. 9.4, 10.3). 2. Was den Gebrauch der Potenziale mündlichen Erzählens als Performance im Fremdsprachenunterricht betrifft, so wurden die aus der empirischen Analyse folgenden Bedingungsfaktoren für ihr Ausschöpfen in den Er‐ zählstunden benannt und erläutert (Kap. 12.2). Die Ergebnisse der Re‐ 12 Reflexion des Forschungsprozesses 440 <?page no="441"?> cherche der Potenziale lassen sicher keine Verallgemeinerung in dem Sinne zu, dass nur die in diesen Erzählstunden realisierten Potenziale und nur die von ihren Akteuren realisierten Unterrichtsdesigns ausschlagge‐ bend für ein erfolgreiches Ausschöpfen der Potenziale sind. Aber sie zeigen Wege auf, um mithilfe fachlicher Überlegungen, pädagogischer und ästhetischer Entscheidungen und mithilfe narrativ-performativer Unterrichtsstrategien eine mehrdimensionale Anwendung der Potenziale zu erreichen. 3. Was die Anwendbarkeit der im Schlussteil der Studie entwickelten Kon‐ zepte auf Lerngruppen unterschiedlicher Schulstufen, Lernjahre und Fremdsprachenfolgen betrifft, so gelten auch hier die o. g. Bedingungs‐ faktoren. Als ‚Gelingens-Faktoren‘ gelesen, bieten sie Anregung zum Umgang mit den Konzepten. Da die Konzepte unter Zuhilfenahme an‐ derer praxisbezogener Vorschläge zum Einsatz des mündlichen Erzählens im Fremdsprachenunterricht (Kap. 6.3.1) und im Rekurs auf die Ergeb‐ nisse erzähl- und fachdidaktischer Forschung (Kap. 5.2, 5.3, 6.1-6.3) ent‐ wickelt wurden, kann von einer Übertragbarkeit der Prinzipien der Ko