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Literaturübersetzen als Reflexion und Praxis

0813
2018
978-3-8233-9193-7
978-3-8233-8193-8
Gunter Narr Verlag 
Vera Gerling
Belén Santana López

In der Auseinandersetzung mit dem Literaturübersetzen tut sich häufig eine große Kluft auf zwischen Vertretern der Praxis und der Theorie. Dieser Band nimmt sich nun vor, hier eine Brücke zu schlagen, indem Akteure des literarischen Lebens vorgestellt werden, die in ihrem Wirken beides verbinden: praktische Übersetzerinnen und Übersetzer verschiedenster Sprachen, die sich auch in theoretischen Überlegungen mit dem Phänomen der Übersetzung befassen.

<?page no="1"?> Literaturübersetzen als Reflexion und Praxis <?page no="2"?> TRANSFER Kulturen, Sprachen, Literaturen in / der Übersetzung 24 Herausgegeben von Volker C. Dörr, Vera Elisabeth Gerling, Birgit Neumann <?page no="3"?> Vera Elisabeth Gerling, Belén Santana López (Hrsg.) Literaturübersetzen als Reflexion und Praxis <?page no="4"?> © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de ISSN 0939-9941 ISBN 978-3-8233-8193-8 Umschlagabbildung: Antonello da Messina, Der heilige Hieronymus im Gehäuse, ca. 1475, National Gallery, London. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 17 33 43 65 85 99 115 135 Inhalt Vera Elisabeth Gerling und Belén Santana López Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positionierungen Albrecht Buschmann Der Diskurs der Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henri Bloemen ‚Ausnahmezustände‘. Mutmaßungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis beim Übersetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Belén Santana López Übersetzungstheorie aus der Praxis. Swetlana Geier und Miguel Sáenz im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzungspraxis theoretisch reflektiert Martina Nicklaus Lawrence Venuti (in-)visible? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philippe Humblé und Arvi Sepp Übersetzung und Reflexion: Barber van de Pol und Paul Claes . . . . . . . . . . . Beate Sommerfeld „Wissende Metaphern“ als Diskurs und Handlungsrahmen der Übersetzung. Der polnische Literaturübersetzer und Essayist Andrzej Kopacki . . . . . . . . Laura Strack Einübung in das Denken. Gérard Granels „Introduction“ zu seiner Übersetzung von Martin Heideggers Was heißt Denken? . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzungstheorie als literarische Praxis Birgit Neumann und Yvonne Kappel Sprache, Übersetzung und Selbstübersetzung: Ngũgĩ wa Thiong’o zwischen Lokalität und Transkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 157 167 185 205 Angela Sanmann „Entrevoir une aube“. Anmerkungen zum Verhältnis von Übersetzungspoetologie und -praxis bei Yves Bonnefoy . . . . . . . . . . . . . . . . Vera Viehöver „La pratique, c’est la théorie“ / „La théorie, c’est la pratique“. Henri Meschonnics Poetik des Rhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vera Elisabeth Gerling Von Greguerías zu Criailleries: Valery Larbaud als Förderer und Übersetzer von Ramón Gómez de la Serna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 <?page no="7"?> 1 Gerade in einem beruflichen Umfeld, in dem Frauen stark repräsentiert sind, stellt sich die Verwendung des generischen Maskulinums als recht fragwürdig dar. Da die sprach‐ lichen Strategien im Umgang hiermit sehr unterschiedlich sind, haben wir diesbezüglich bei den nachfolgenden Beiträgen nicht eingegriffen. Einleitung Vera Elisabeth Gerling und Belén Santana López Die Umschlaggestaltung des vorliegenden Bandes zum Thema der Verbindung von Reflexion und Praxis beim Literaturübersetzen zeigt den Heiligen Hiero‐ nymus in einer Darstellung von Antonello da Messina aus dem Jahre 1474. Als Übersetzer der Vulgata, der ersten lateinischen Übersetzung der Bibel, wurde er zum Schutzheiligen der Übersetzer ernannt. Auf diesem Gemälde sehen wir ihn bei der Arbeit, umgeben nicht nur von Büchern, Pflanzen, Tieren und Gegen‐ ständen, sondern auch von einer artifiziell anmutenden Architektur, die durch eine Vielzahl von Fenstern mit unterschiedlichen Ausblicken geprägt ist bis hin zum Türrahmen, durch den wir selbst die Szenerie betrachten und der als mise en abyme den Bildrahmen verdoppelt. So vermag dieses Kunstwerk das aufzu‐ zeigen, was für unseren Sammelband eine zentrale Fragestellung bedeutet: Es soll darum gehen, Übersetzerfiguren 1 in ihrem Handeln und Reflektieren zu be‐ trachten. Geschieht doch das Übersetzen nicht voraussetzungsfrei, sondern vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen und Prägungen. Es findet nicht im diskursfreien Raum statt und basiert stets auf vom Kontext mit bestimmten strategischen Entscheidungen, mögen diese auch mehr oder weniger unbewusst begründet sein. In der neueren Übersetzungswissenschaft wendet man sich unter dem Begriff der Translator Studies Untersuchungen zu, in denen ÜbersetzerInnen als Per‐ sonen im Mittelpunkt stehen, sodass sie als Akteure des literarischen Feldes und als Individuen wahrgenommen werden. Bei unserer spezifischen Fragestellung soll es darum gehen, die Wechselwirkungen eigener Reflexionen zum Über‐ setzen mit der Praxis des Übersetzens selbst nachzuvollziehen. Zwischen diesen <?page no="8"?> zwei Bereichen tut sich häufig eine große Kluft auf: Übersetzungswissenschaft‐ lerInnen tendieren dazu, die Erfordernisse der beruflichen Praxis nicht wahr‐ zunehmen, wohingegen BerufspraktikerInnen sich gern gegen theoretische Auseinandersetzung sträuben, da sie zurecht ihre Tätigkeit als eine künstleri‐ sche ansehen. Diese Kluft zwischen Theorie und Praxis ist keineswegs neu und bereits aus mehreren Perspektiven und anlässlich der unterschiedlichen trans‐ latorischen Turns (Snell-Hornby 2006) thematisiert worden. Zu Beginn der Translationswissenschaft schon findet sich diese Frage als wissenschaftstheo‐ retische Auseinandersetzung in Wolfram Wilss’ Artikel „Theorie und Praxis des Übersetzens“ (1985), und Rosemary Arrojo und Andrew Chesterman widmen diesem Thema noch im Jahr 2000 erneut einen viel rezipierten Aufsatz unter dem Titel: „Shared Ground in Translation Studies“. Auch in der aktuelleren Übersetzungssoziologie wird diese Frage diskutiert (Wolf und Fukari 2007), wenn hier Übersetzung sowohl als Prozess wie auch als Produkt im jeweiligen literarischen Feld analysiert wird. Nicht zuletzt handelt es sich hierbei um Fra‐ gestellungen, die auch in der Hochschuldidaktik von besonderer Bedeutung sind, wenn es in der Übersetzungsausbildung um die theoretische Fundierung praxisorientierter Lehre geht (z.B. Sinner 2002). Auch wenn es um das Übersetzen von Literatur geht, hat diese Kluft Tradition. Dabei gibt es zunehmend Versuche, Brücken zwischen beiden Bereichen zu schlagen, insbesondere ausgehend von ÜbersetzungswissenschaftlerInnen mit Praxiserfahrung (u.a. Kohlmayer 2007 und 2011). Ein hervorragendes Bespiel dafür stellt der von Albrecht Buschmann im Jahr 2015 herausgegebene Sam‐ melband Gutes Übersetzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Litera‐ turübersetzens dar, in dem das in praktischer Arbeit und berufsbildender Refle‐ xion gewonnene Wissen einer kleinen, hoch spezialisierten Berufsgruppe - der LiteraturübersetzerInnen - für die akademische Welt sichtbar gemacht wird und zusammen mit den Erkenntnissen aus der traditionellen Wissenschaft als Grundlage für den Dialog zwischen Theorie und Praxis dient (Buschmann 2015: 3). Im Mittelpunkt stehen dabei Texte (Originale und Übersetzungen), die aus historischer, theoretischer und methodologischer Sicht analysiert werden. Im hier vorliegenden Band soll dieser Blick auf unterschiedliche Ansätze im Umgang mit Texten erweitert und ergänzt werden um die Fokussierung auf Übersetzerpersönlichkeiten, die sowohl die Reflexion als auch die Praxis ver‐ treten. Unser Vorhaben situiert sich somit im neueren Forschungsbereich der Translator Studies, die in den letzten Jahren die ÜbersetzerInnen als AkteurInnen in den Mittelpunkt gerückt haben, sei es aus kultureller, kognitiver oder sozio‐ logischer Perspektive (Chesterman 2009: 19). Kulturgeschichtlich orientierte Translator Studies untersuchen die Rolle und den Einfluss von ÜbersetzerInnen Vera Elisabeth Gerling und Belén Santana López 8 <?page no="9"?> 2 In besonderer Weise hat Lawrence Venuti durch sein Buch The Translator’s Invisibility (1995) auf diese Unsichtbarkeit aufmerksam gemacht, durch die auch dem Übersetzen als kreativer, interkultureller Prozess keine Bedeutung beigemessen wird. Zu Sichtbar‐ keit des Prozesses bei Venutis eigenen Übersetzungen siehe den Beitrag von Martina Nicklaus im vorliegenden Band. und DolmetscherInnen im jeweiligen historischen Kontext und gehen den Wert‐ vorstellungen und Ideologien, der jeweiligen Berufsethik und Übersetzungs‐ tradition nach, die das Handeln mitbestimmen. Im Bereich der Kognition widmet man sich den mentalen Prozessen beim Übersetzen, den Entschei‐ dungsstrategien, der Bedeutung von Emotionen (z.B. Empathie) oder auch den jeweils angenommenen Übersetzungsnormen. Die soziologische Perspektive thematisiert das Verhalten von Übersetzerinnen und Übersetzern als Individuen oder als Mitglieder bestimmter Gruppen oder Netzwerke, untersucht ihren ge‐ sellschaftlichen Status, ihren Umgang mit anderen Berufsgruppen oder auch mit relevanter Technologie. Gerade im spezifischen Feld der Literaturübersetzung eröffnet sich hier ein weites Forschungsfeld, das den ÜbersetzerInnen zu einer Sichtbarkeit verhelfen kann, die nach wie vor ein Desiderat 2 darstellt. Der hier vorliegende Band nimmt sich nun vor, das Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis aus einem übersetzerbezogenen Blickwinkel zu betrachten, indem Figuren des literarischen Lebens in ihrem Wirken vorgestellt werden, die in ihrer Person die Beschäftigung mit der Theorie wie auch mit der Praxis ver‐ binden. Praktische ÜbersetzerInnen also, die sich auch in theoretischen Über‐ legungen mit dem Phänomen der Übersetzung in unterschiedlichen Sprach‐ kombinationen befasst haben und die somit Literaturübersetzen als Reflexion und Praxis betreiben. Einige dieser Portraits zeigen auf, wie fruchtbringend die Be‐ schäftigung mit sowohl Theorie als auch Praxis für das Übersetzen sein mag, andere machen ersichtlich, wie auch Reflexion selbst als Übersetzung ver‐ standen werden kann, wiederum andere stellen unter Beweis, dass die eigene Reflexion über das übersetzerische Handeln nicht unbedingt Eingang findet in das eigene Tun. Der vorliegende Band besteht aus drei Teilen. Zunächst finden wir unter Positionierungen drei teils provokant entgegengesetzte, teils einander ergän‐ zende Annäherungen an die fokussierte Thematik, bezogen auf die Literatur‐ übersetzung: Albrecht Buschmann geht bei seinen Überlegungen vom viel‐ beschworenen Begriff der Transparenz aus. Er analysiert die Kollateralschäden, die der sogenannte ‚Transparenztraum‘ mit sich bringt, den die Übersetzungs‐ wissenschaft insbesondere im Zuge der Etablierung als akademische Disziplin fortgeschrieben hat. Unter Einbezug anderer kultureller und akademischer Be‐ reiche hinterfragt der Autor die objektive Gültigkeit dieses dominanten Theo‐ Einleitung 9 <?page no="10"?> riediskurses zur Wahrnehmung der Übersetzung im literarischen Feld. Anhand des Begriffs ‚Transparenztraum‘ zeigt er die historischen und kulturellen Gründe dafür auf, wie die unverhandelbaren Maximalforderungen der Theorie an die Praxis entstanden sind und warum sie für das Übersetzen literarischer Texte nicht vertretbar sind. Henri Bloemen hingegen möchte die Bedeutung der Theorie besonders hervorheben, da seiner Ansicht nach der Übersetzungspraxis stets - als be‐ wusster oder auch unbewusster Vorgang - eine Vorstellung vom Übersetzen, mithin eine Art der Theorie, vorangeht. Gemeinhin werde davon ausgegangen, in der Berufspraxis bediene man sich allein dann der Theorie, wenn man sich im Übersetzungsprozess vor einem unlösbaren Problem befinde. Der Autor be‐ dauert diese Annahme der Ursächlichkeit für das Rekurrieren auf die Wissen‐ schaft, woraus aufseiten der Praxis der Eindruck entstehe, die Theorie diene allein als präskriptives Werkzeug übersetzerischer Zweifelsfälle, die zugleich die Freiheit beim Übersetzen einschränke, ohne in der Lage zu sein, konkrete Pro‐ bleme zu lösen. Andererseits kritisiert Bloemen, dass sich die theoretische Be‐ schäftigung mit dem Übersetzen in letzter Zeit ausschließlich mit der Beschrei‐ bung der Bedingungen für das Übersetzen befasse und dabei den Blick für das Wesentliche verloren habe. Diese bislang dargestellten Haltungen finden sich in den Ausführungen von Belén Santana López wieder, die sich den Reflexionen zum Übersetzen zweier so besonderer Persönlichkeiten wie Swetlana Geier und Miguel Sáenz widmet - beide dienen als Beispiel dafür, wie Theorie und Praxis auch fruchtbringend ineins gehen können. Zwar haben die beiden einander nicht gekannt, jedoch finden sich verblüffende Parallelen in ihren Auffassungen zur Essenz und den Bedingungen des Übersetzens. Auch verbindet beide die Ansicht, das Unter‐ richten des Übersetzens als Experimentierfeld habe sie zwingend dazu gebracht, über ihre Aufgabe zu reflektieren. Die Autorin plädiert daher dafür, die Über‐ setzungsdidaktik in der Berufspraxis wie auch an den Universitäten als idealen Ort für die Erarbeitung einer auf Literatur fokussierten Übersetzungstheorie zu nutzen, die den Beitrag aus der Praxis ernst nimmt und so von ihr bereichert wird. Im Anschluss an diese eher allgemeine Annäherung an die Thematik möchte der zweite Block unter dem Titel Übersetzungspraxis theoretisch reflektiert der Frage nachgehen, wie eine theoretische Reflexion der übersetzerischen Praxis aussehen kann. Hier werden mehrere Übersetzerpersönlichkeiten unterschied‐ licher Sprachkombinationen vorgestellt, die selbst versucht haben, eine Brücke zwischen beidem zu schlagen. Wenngleich Lawrence Venuti und seine Idee der Sichtbarkeit vielfach rezipiert wurde, so hat man sich doch bislang selten mit Vera Elisabeth Gerling und Belén Santana López 10 <?page no="11"?> seiner eigenen Übersetzungstätigkeit befasst. Dies nimmt sich nun Martina Nicklaus vor, die anhand des von Venuti selbst vertretenen Konzepts des foreignizing die Spielarten sprachlicher Fremdheit in einer von ihm selbst ver‐ antworteten Übersetzung näher untersucht. Sie wählt dazu seine englische Übersetzung des italienischen Romans Arrivederci Amore, ciao von Massimo Carlotto, um nachzuvollziehen, inwiefern Venuti selbst seine in der Theorie entworfenen Verfremdungsstrategien auch einsetzt. Die in der Analyse einge‐ brachten Beispiele zeigen anhand lexikalischer, (morpho-)syntaktischer und in‐ formationeller Faktoren überraschende Ergebnisse bezüglich der intrinsischen sowie extrinsischen Fremdheit im Vorgehen Venutis, die mit seinen theoreti‐ schen Ansprüchen an das Übersetzen nicht unbedingt übereinstimmen. Philippe Humblé und Arvi Sepp erweitern das sprachliche Profil dieses Bandes um die Zielsprache Niederländisch und befassen sich vergleichend mit der praktischen Arbeit und der theoretischen Reflexion bei Barber van de Pol und Paul Claes, zwei herausragenden Übersetzern aus verschiedenen Sprachen, die sich wiederum in ihrer Einstellung zur Übersetzungsbzw. Literaturwissen‐ schaft grundlegend unterscheiden. Während van de Pol eine entschieden anti-akademische Haltung einnimmt, die sich in ihrer Übersetzungstätigkeit z.B. im vollständigen Verzicht auf Fußnoten äußert, stützt sich Claes bei seiner Ar‐ beit auf eine hermeneutisch-interpretative Methode, in der Kommentare und Interpretationsvorschläge des Übersetzers nicht nur erwünscht sind, sondern auch entsprechend sichtbar eingesetzt werden. Ein weiterer hier vorgestellter Übersetzer, der sich von der Praxis her der theoretischen Auseinandersetzung widmet, ist der polnische Germanist und Schriftsteller Andrzej Kopacki, den uns Beate Sommerfeld vorstellt. Kopacki wählt den Essay als Genre, um, ausgehend von seiner praktischen Erfahrung, einen theoretischen Diskurs zum Übersetzen zu entwickeln, insbesondere be‐ züglich des Umgangs mit deutschsprachiger Lyrik. Er beschränkt sich dabei nicht darauf, die üblichen und bereits etablierten Metaphern auf seine Art zu verwenden (Schönheit vs. Treue, Verschuldung am Original), sondern er unter‐ läuft oder bereichert sie - indem er sie z.B. in den Bereich der Paarbeziehung transferiert -, um so auch zu ethischen Fragen des Übersetzens zu gelangen. Für Kopacki stellt das Übersetzen einen Akt des „schönen Gehorsams“ dem Original gegenüber dar sowie einen metonymischen Prozess des Neuschreibens, wie an‐ hand der Übersetzung von Bildcollagen Herta Müllers exemplarisch dargelegt wird. Auf diese Weise vertritt auch Kopacki die Idee der Sichtbarkeit des Über‐ setzers in seiner Rolle als Schaltstelle, an der die akademische Übersetzungs‐ kritik über die Übersetzungspraxis vermittelt werden kann. Einleitung 11 <?page no="12"?> Dieser zweite Teil wird beschlossen von einem Beitrag von Laura Strack, der sich mit der Übersetzung philosophischer Texte vom Deutschen ins Fran‐ zösische befasst. Sie präsentiert uns als Beispiel den Übersetzer und Philosophen Gérard Granel und dessen Vorwort zur eigenen Übersetzung des Textes „Was heißt Denken? “ von Martin Heidegger. Granel widerspricht ganz explizit der Trennung von Theorie und Praxis und begreift sie als ineinandergreifend, denn „seine Übersetzungen sind selbst Texte, die denken, und sein Denken ist immer schon, in gewisser Weise, Übersetzung“. Mehr noch, für Granel ist das Über‐ setzen eine der wichtigsten philosophischen Praktiken überhaupt. Dieses Vor‐ wort Granels gibt dem Reflektieren über Denken und Sprache noch eine weitere Dimension, da das übersetzte Original Heideggers genau dies auch zum Thema hat. Anhand konkreter Beispiele wird aufgezeigt, wie Granel sich der Möglich‐ keiten und Grenzen des Französischen bedient und so einen möglichen Weg der Sinnsuche beschreitet, wobei er eine Übersetzung präsentiert, die in sich schon eine ganze Theorie enthält. Nach diesen Einblicken in die theoretischen Reflexionen einiger Übersetzer, die von der beruflichen Praxis ausgehen, widmen sich die folgenden Aufsätze unter dem Titel: Übersetzungstheorie als literarische Praxis dem entgegenge‐ setzten Blickwinkel von der Theorie auf die Praxis. Birgit Neumann und Yvonne Kappel präsentieren uns in ihrer Analyse, welche Rolle die Idee der Übersetzung im Werk des kenianischen Autors Ngũgĩ wa Thiong’o einnimmt. Im Sinne der postkolonialen Übersetzungstheorie misst Thiong’o der Sprache einen deutlich politischen Charakter bei und versteht die Übersetzung als Raum für Verständigung und Konnektivität. Auch in seinem eigenen schriftstelleri‐ schen Werk fordert der Autor ein Neuverhandeln der grundlegenden Konzepte von „Original“ und „Übersetzung“ ein, um so auch die zwischen den Sprachen bestehenden Hierarchien zu hinterfragen. Seine Erfahrungen als übersetzter Autor und als Selbstübersetzer gehen in Thiong’os Texte als pluralisierende Kraft der Übersetzung ein, die er als konstitutive Praxis zur Verhandlung von Verbindungs- und Konfliktlinien zwischen den Kulturen und Sprachen reali‐ siert. Auch Yves Bonnefoy steht ein für die Bedeutung der Übersetzung als origi‐ näres Schreiben. Angela Sanmann geht der Beziehung zwischen Theorie und Praxis anhand der von diesem französischen Lyriker und Übersetzer publi‐ zierten, hybriden Texte nach, essayistisch-literarischen Texten, in denen er das übersetzerische Handeln selbst reflektiert. Vor dem Hintergrund des angenom‐ menen Ideals einer einzigen, vorbabylonischen Sprache sieht Bonnefoy die nie‐ mals absolute Kenntnis der Ausgangssprache als Potential für eine Wahrneh‐ mung des Originals als aube, als Morgendämmerung an. Diese Idee, die als Vera Elisabeth Gerling und Belén Santana López 12 <?page no="13"?> Metapher seine Gedichte, seine Übersetzungen und seine Essays durchzieht, verweist auf den Zwischenraum, der beim Übersetzen entsteht, insbesondere in der Lyrik, und der nach Bonnefoy dem lyrischen Akt selbst ganz nahesteht. Es kommt nicht von ungefähr, dass er in seiner Person als Lyriker, Übersetzer und Denker verschiedene Rollen in sich vereint. Ein weiterer Autor, der von der Untrennbarkeit von Theorie und Praxis aus‐ geht und danach strebt, die Begriffe Original und Übersetzung zu überdenken, ist der französische Linguist, Übersetzer und Schriftsteller Henri Meschonnic. Ausgehend von einer kurzen Darstellung seiner Poetik zum Rhythmus, in der Meschonnic für eine neue Inbezugsetzung zwischen Rhythmus und Sinn ein‐ steht, analysiert Vera Viehöver, wie sich dieser Ansatz in der Arbeit des Autors als Übersetzungskritiker widerspiegelt, ist doch für ihn die kritische Auseinan‐ dersetzung der ideale Ort, um Theorie und Praxis in einem lesenden Schreiben, lecture-écriture, umzusetzen. Als Beispiel stellt Viehöver seine Analyse der fran‐ zösischen Übersetzungen vom Werk Paul Celans vor: Meschonnic vertritt hier nicht nur die Ansicht, der Übersetzer müsse zwingend zunächst eine genaue Rhythmusanalyse am Original vornehmen, dem eigentlichen Wertesystem, er kritisiert zudem harsch die Übersetzung der anderen, in denen Celans Verse an eine konventionelle Ästhetik der Zielsprache angepasst werden. Meschonnic bietet zudem selbst Alternativen an, die aus der Auffassung resultieren, die Übersetzung sei die zweite Erfahrung des poetischen Diskurses und versuche, die Subjektivität des Originals erneut hervorzubringen. Die Idee von der Übersetzung als kritische Auseinandersetzung mit dem Ori‐ ginal findet sich in den theoretischen Reflexionen zum Übersetzen bei Valery Larbaud wieder. Vera Elisabeth Gerling stellt diesen französischen Autor und Übersetzer als Förderer der modernen Literatur dar in ihrem Artikel: „Von Gre‐ guerías zu Criailleries: Valery Larbaud als Förderer und Übersetzer von Ramón Gómez de la Serna“. Neben James Joyce unterstützte Larbaud insbesondere den Spanier Ramón Gómez de la Serna. Er machte ihn früh in Frankreich bekannt und übersetzte auch selbst Texte von ihm, insbesondere mehrfach unterschied‐ liche Sammlungen von „Greguerías“, einer literarischen Kurzform, die Gómez de la Serna selbst erfunden hat. Diese Übersetzungen stellen eine Ergänzung und Erweiterung des Werks von Valery Larbaud dar und die Existenz verschie‐ dener Versionen unterstreicht dessen moderne Einstellung zum Schreiben und Übersetzen als jeweils unabgeschlossene Prozesse. Anhand der in diesem Sammelband vereinten Untersuchungen stellen wir ein gewiss nur fragmentarisches, aber doch vielfältiges und repräsentatives Panorama an ÜbersetzerInnen zur Verfügung, deren Werk aufzeigt, dass der Dialog zwischen Theorie und Praxis beim Übersetzen von Literatur nicht allein Einleitung 13 <?page no="14"?> möglich, sondern eigentlich unausweichlich und unverzichtbar ist. Daher möchten wir den BeiträgerInnen dieses Bandes unseren besonderen Dank aus‐ sprechen, denn sie haben sich, ausgehend von einer Podiumsdiskussion wäh‐ rend der Tagung „Other Europes: Migrations, Translations, Transformations“ (Modern Language Association, 2016) in Düsseldorf, auf unsere daraus entwi‐ ckelte spezifische Fragestellung eingelassen. Ermöglicht wurde der Druck dieses Bandes insbesondere durch die Anton- Betz-Stiftung der Rheinischen Post e.V. sowie weiterhin durch die Unterstützung der Abteilung Übersetzen und Dolmetschen der Universität Salamanca und das Dekanat der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düssel‐ dorf. Weiterhin danken wir Anne Degenhardt für die formale Bearbeitung der Beiträge und die sorgfältige Erstellung der Druckvorlage. Literaturverzeichnis Arrojo, Rosemary / Chesterman, Andrew. 2000. „Shared Ground in Translation Studies.“ Target 12/ 1, 151-160. Buschmann, Albrecht (Hg.). 2015. Gutes Übersetzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens. Berlin: de Gruyter. Chesterman, Andrew. 2009. „The Name and Nature of Translator Studies.“ Hermes - Journal of Language and Communication Studies 42-2009, 13-22. Kohlmayer, Rainer. 2007. „Vom Vergnügen des kreativen Nachahmens. Zu Theorie und Praxis des Literaturübersetzens.“ In: Bozena Choluj / Ulrich Räther (Hg.). Grenzerfah‐ rungen literarischer Übersetzung. Berlin: Logos Verlag, 33-51. —2011. „Literaturübersetzen und Translationswissenschaft. Kritischer Rückblick, hoff‐ nungsvoller Ausblick.“ In: Wolfgang Pöckl / Ingeborg Ohnheiser / Peter Sandrini (Hg.). Translation, Sprachvariation, Mehrsprachigkeit. Festschrift für Lew Zybatow zum 60. Geburtstag. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 179-196. Sinner, Carsten. 2002. „Zu Theorie und Praxis des Übersetzens in der Übersetzerausbil‐ dung.“ Lebende Sprachen: Zeitschrift für fremde Sprachen in Wissenschaft und Praxis 47/ 3, 101-110. Snell-Hornby, Mary. 2006. The Turns of Translation Studies. Amsterdam: Benjamins. Venuti, Lawrence. 1995. The Translator’s Invisibility: A History of Translation. London / New York: Routledge. Wilss, Wolfram. 1985. „Theorie und Praxis des Übersetzens.“ In: Hildegrund Bühler (Hg.). X. Weltkongress der FIT. Kongressakte. Wien: Braumüller, 315-320. Wolf, Michaela / Fukari, Alexandra (Hg.). 2007. Constructing a Sociology of Translation. Amsterdam: Benjamins. Vera Elisabeth Gerling und Belén Santana López 14 <?page no="15"?> Positionierungen <?page no="17"?> Der Diskurs der Transparenz Albrecht Buschmann Theoretische Ansprüche versus Praxis des Übersetzens „The translator’s invisibility“ ist vor allem in den angelsächsischen Translation Studies ein prominent behandeltes Thema (vgl. Venuti 2 2008). Die vergleichs‐ weise geringe Sichtbarkeit von Übersetzerinnen und Übersetzungen im kultu‐ rellen Feld entwickelte sich in den vergangenen 20 Jahren zwar zu einem wich‐ tigen Schlagwort der akademischen Diskussion, doch die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge des Phänomens Sichtbarkeit blieben weitgehend unberück‐ sichtigt; dabei legten Studien wie Jean Starobinskis Jean-Jacques Rousseau, la transparence et l’obstacle (1971) oder Richard Sennetts Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (engl. The Fall of Public Man, 1977) bereits vor längerer Zeit die Vermutung nahe, dass soziale Wahrnehmung keine objektive Tatsache ist und optische Wahrnehmbarkeit nicht allein objektivier‐ baren Verfahren gehorcht. Vielmehr ist die Grammatik der Sichtbarkeit, die unser (Selbst)Bild sozial organisiert, ist die Forderung, ja das Begehren nach Sichtbarkeit bereits als Teil eines Diskurses zu verstehen, der in der jüngeren Vergangenheit mit ökonomischen und technologischen Argumenten Machtin‐ teressen organisiert. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, ist in diesem Zu‐ sammenhang der Begriff der Transparenz sowie die Kulturgeschichte des „Transparenztraums“, die Manfred Schneider (2013) in seinem gleichnamigen Buch entfaltet, in besonderer Weise erhellend: Wo der Begriff der Sichtbarkeit auf die Wahrnehmung der Oberfläche zielt, strebt er auf alles zu, was hinter der Oberfläche liegt. Wie sind diese beiden Begriffe nun mit dem Übersetzen in Verbindung zu bringen? Vereinfacht gesagt wäre dem Nachdenken über die „translator’s invi‐ sibility“ das über die (vermeintliche) Intransparenz der Übersetzung hinzuzu‐ fügen, verstanden als Gegenbild zum Ideal der transparenten Übersetzung, wie es die Translatologie formuliert. Die Diskussion über die (soziale) Unsichtbarkeit des Übersetzers möchte ich schärfen und ergänzen um eine Reflexion über die Kollateralschäden, die der Transparenztraum im Verhältnis von übersetzeri‐ scher Theorie und Praxis angerichtet hat. Dafür soll zunächst der Widerspruch zwischen den theoretischen Ansprüchen der Übersetzungswissenschaft an das <?page no="18"?> Literaturübersetzen und den praktischen Erfordernissen dieser Tätigkeit skiz‐ ziert werden, u.a. indem dieses Verhältnis von Theorie und Praxis mit dem in anderen kulturellen Praktiken (wie literarisches Schreiben, Tanzen, Schauspie‐ lern) und anderen akademischen Feldern verglichen wird. In einem zweiten Schritt werde ich als Erklärung für die überzogenen theoretischen Ansprüche an das Übersetzen auf Manfred Schneiders Begriff des Transparenztraums zu sprechen kommen, der - so meine These - unreflektiert hinter vielen der For‐ derungen an gutes Übersetzen steht. Offenbar wird dem Übersetzen die Erfül‐ lung eines Traums aufgebürdet, gemäß dem „Wunsch nach trugloser, täu‐ schungsfreier Kommunikation“ (Schneider 2013: 30), wie er im Sehnen nach Transparenz seit der Antike zum Ausdruck kommt. Der Blick der Theorie. Vergleich mit anderen Künsten Die Erwartungen der heutigen Übersetzungswissenschaft wie auch vieler klas‐ sischer Autoren, die sich zum Wesen des Literaturübersetzens geäußert haben, sind hoch. Die gegenwärtige Translatologie beschäftigt sich zwar vorrangig mit den Herausforderungen des maschinellen Übersetzens, also nicht mit Literatur; aber bis in die 1990er Jahre prägte sie durch ihren Anspruch, mit exakten, quasi naturwissenschaftlichen Verfahren zu operieren, die Diskussion auch jenseits des linguistischen Zweigs der Übersetzungswissenschaft. Zwar stand Literatur‐ übersetzen nie im Mittelpunkt ihres Interesses, vielmehr die Absicherung der Ausbildung von Fachübersetzerinnen, dennoch waren und sind ihre funktiona‐ listischen Kategorien wie etwa der Begriff der „kommunikativen Äquivalenz“ (Reiß/ Vermeer 1991), der zwischen Original und Übersetzung im Rahmen der Skopostheorie anzustreben sei, noch immer verbreitet. Auch der literarische Text wird nach dieser Theorie dem Zweck untergeordnet, Information und Kommunikation zwischen Sprachen zu realisieren. Zwar sind diese und andere Modelle, deren Funktionalismus beim Übersetzen literarischer Texte nie einzu‐ lösen war, ab den 1980er Jahren zunehmend kritisch betrachtet worden (vgl. Apel/ Kopetzki 2 2003: 34ff.), blickt man aber z.B. in aktuelle Vorlesungsverzeich‐ nisse, sind sie immer noch im Gebrauch - obwohl sie sich zur Beschreibung des Literaturübersetzens als unbrauchbar erwiesen haben, weil der ihnen innewoh‐ nende „Behaviorismus“ (Albrecht 1998: 259) am Kern dessen vorbei geht, was Literatur ausmacht (z.B. Vielstimmigkeit). Die Überfrachtung der Praxis des interlingualen Übersetzens ist allerdings kein Privileg neuerer Translatologie. Sie beginnt mit dem Faktorenmodell der Translation, das zirkuläre Modelle mit ethischen Kategorien verknüpft und „Funktionsgerechtigkeit“ anstrebt (Nord 1993: 14), und geht ebenso von Fried‐ Albrecht Buschmann 18 <?page no="19"?> 1 Dabei kommt noch erschwerend hinzu, dass der im Zeitalter der Globalisierung schier allgegenwärtige Begriff der Übersetzung immer weniger zu greifen ist. Schon in der ästhetischen Theorie der deutschen Romantik wurde die Kernbedeutung des interlin‐ gualen Übersetzens ergänzt um den metaphorischen Gebrauch des Begriffs, der nun für das sprachliche Erkennen der Welt stand (vgl. Kopetzki 2015: 72). Von dieser Weiterung ins Hermeneutische führt der Weg der semantischen Diffusion über Walter Benjamin (vgl. Buschmann 2015d) zur postkolonialen Theoriebildung etwa eines Homi K. Bhabha, der „Translation“ je nach Bedarf mal konkret interlingual, mal metaphorisch benutzt, wie Birgit Wagner (2012) in einer klugen Analyse herausgearbeitet hat. Für die heutige Praxis der interlingualen Übersetzer folgt daraus, dass sie selbst in der interessierten Öffentlichkeit mit einem eher unscharfen, aber je nach akademischer Herkunft uni‐ versalistisch oder global aufgeladenen Übersetzungsbegriff konfrontiert sind. Wichtig für meine Argumentation ist die auch von dieser Seite zu beobachtende emphatische Verwendung des Begriffs. rich Schleiermacher aus, wenn er darüber nachdenkt, den Originalautor und den Leser der Übersetzung „in ein so unmittelbares Verhältnis zu bringen, wie es das eines Schriftstellers und seines ursprünglichen Lesers ist“ (Schleiermacher 1973: 45). Ähnlich hoch wird die Latte bei George Steiner gelegt, der in seinem Vier-Phasen-Modell als Telos die Wiederherstellung von Text und Semantik anstrebt (vgl. Steiner 1982), und noch höher bei Walter Benjamin (die Wört‐ lichkeit möge gleich einer Arkade das Original erkennbar machen, vgl. Benjamin 1972). Sie und viele andere Theoretiker lassen in ihren Thesen und Modellen Ansprüche an eine gute oder gelungene Übersetzung erkennen, die in der Praxis nicht zu erfüllen sind - zumal die von ihnen und anderen Autoren über die Jahrhunderte formulierten Merksätze auch noch untereinander widersprüchlich sind (vgl. Albrecht 1998: 47f.). Die hier nur exemplarisch angeführten Ansprüche an „gutes Übersetzen“ (Buschmann 2015a) klingen nicht nur danach, sie sind Maximalforderungen - mit dem Unterschied, dass anders als in der Politik von Seiten der Übersetze‐ rinnen über diese Maximalforderungen nicht zu verhandeln ist. Vielmehr stehen sie wenig hinterfragt im Raum, prägen den Diskurs im literarischen Feld und sorgen qua Diskursmacht für eine deutliche Markierung: Denn jede kritische Wortmeldung eines Übersetzers gegen diese Ansprüche kann nur aus einer Po‐ sition der Defensive heraus erfolgen, was eine Schwächung der jeweils vorge‐ brachten Argumente nach sich zieht. Die Diskurstheorie spricht von den „Re‐ degewohnheitsnotwendigkeiten“ (Röttgers 1988: 124), denen sich der einzelne Sprecher nicht entziehen kann. Diese Diskursmacht gilt es zu befragen, wenn man über Rolle, Wert und Wahrnehmung von Übersetzern und Übersetzungen im literarischen Feld nachdenkt. 1 Erschwert wird diese Diskursanalyse durch den doppelten Charakter ihres Gegenstandes, des Literaturübersetzens, das einerseits ein Handwerk ist, mit Der Diskurs der Transparenz 19 <?page no="20"?> goldenen Regeln und Hinweisen zu guter Praxis (Zimmer 1993, Heibert 2015), das auch als Studiengang belegt und in Düsseldorf, Hildesheim und vielen an‐ deren Universitäten gelernt werden kann. Andererseits ist Literaturübersetzen unmöglich ohne ein Minimum an ästhetischem Gespür, künstlerischer Sensibi‐ lität, sprachlichem Feingefühl (vgl. Lange 2015, Stroinska 2015). Wie auch immer man diese zusätzlichen Fähigkeiten nennen mag, selbst die Übersetzung eines sprachlich einfach gebauten Kriminalromans kommt ohne sie nicht aus, und erst recht ein Roman, Theaterstück oder Gedicht, dessen Sprache sich nach allen Regeln der Kunst polyphon und polysem dem eindeutigen Verstehen entzieht. Wäre Literaturübersetzen nur Handwerk, könnten die oben genannten Hand‐ reichungen und Kategorien der Translatologie ja noch ihre funktionale Berech‐ tigung haben. Da aber Handwerk und Kunst in der Praxis voneinander un‐ trennbar sind sowie im Vollzug des Übersetzens durchgehend und synchron Geltung beanspruchen und beachtet werden müssen, sind die ins Maximale tendierenden Ansprüche an das Literaturübersetzen de facto unerfüllbar. Das ist auch deshalb seltsam, weil die ästhetische Theorie seit der Romantik an keine andere Kunstform in analoger Weise präskriptive und zugleich uner‐ füllbare Ansprüche formuliert hätte. Man könnte annehmen, dass es damit auch seine Richtigkeit hat, denn Malerei, Musik, Literatur lassen sich gewissermaßen als genuine Künste begreifen, wären als solche rein schöpferische Praxis und folglich nicht analog zum Übersetzen zu betrachten. Andererseits werden diese Künste ebenfalls gelehrt und unterrichtet, sie beruhen ebenfalls - wenn auch zu einem geringeren Anteil - auf handwerklichem Können; dieser Aspekt hat al‐ lerdings in ihrer ästhetischen Theorie keine Bedeutung und ist in der Wahr‐ nehmung im Feld selten relevant. Warum also gerade das Übersetzen metho‐ dologisch so streng an die Kandare genommen wird, ist zumindest rätselhaft. Wie reagieren die Praktiker darauf ? Anstatt sich mit den Schriftstellern zu vergleichen, wählen Übersetzer gern einen anderen Vergleichsrahmen, den der sogenannten darstellenden Künste: den Blick zu Schauspielern und Tänzern (vgl. Leupold/ Raabe 2008), Sängern und Musikern, die bereits als Originale vor‐ liegende Texte beziehungsweise Kompositionen erst lesen, dann zu verstehen versuchen, nachfolgend für sich interpretieren und schließlich zur Aufführung bringen. Doch auch bei diesem vergleichenden Seitenblick fällt auf, dass dem letzten Schritt dieser Reaktualisierung des Kunstwerks (der „Interpretation“ des Stücks, der „Performance“ des Auftritts) im jeweiligen Feld weitaus mehr Be‐ deutung zugeschrieben wird als der Übersetzung - wenn die denn überhaupt bei der Besprechung einer Neuerscheinung erwähnt wird. Der Schauspieler und der Musiker treten als autonome Subjekte einer von ihnen zu verantwortenden Darbietung auf, also mit der künstlerischen Freiheit, teilautonom zu agieren (in Albrecht Buschmann 20 <?page no="21"?> den Grenzen von Regie oder Dirigat) und dabei zu brillieren oder zu scheitern; damit gewinnen einige von ihnen beträchtliches symbolisches Kapital, ihre Namen auratische Bedeutung. Die kommt zum Ausdruck, wenn jemand sagt, er habe Nurejev gesehen, Anne-Sophie Mutter oder Simon Rattle gehört. Spätes‐ tens an dieser Stelle enden sinnvollerweise die Analogien zwischen den Über‐ setzerinnen und anderen darstellenden Künstlerinnen: Scheitern können sie zwar auch, aber sie „tanzen in Ketten“, wie es im Titel eines von Übersetzerinnen herausgegebenes Buches heißt (Leupold/ Raabe 2008). Ihre Teilautonomie ist minimal, ihre Spielräume zum Brillieren sind winzig und allenfalls von Kollegen wahrnehmbar; für die Diskussion im literarischen Feld sind sie weitgehend ir‐ relevant. Aber warum „brillieren“ Übersetzerinnen nicht? Schließen wir an dieser Stelle die Hypothese aus, dass sie immer und partout lausige Sätze bauen, glanz‐ lose Werke abliefern und folglich zu Recht nicht brillieren. Schauen wir also auf das andere Bedeutungsfeld des Brillierens, das anklingt, wenn der darstellende Künstler mit seiner Darbietung das Original zum Leuchten bringt und vor dem Publikum glänzt. Aber, genau diese Art des Brillierens vor Publikum und im performativen Akt ist den Übersetzerinnen verwehrt; sie arbeiten im Stillen und allein. Und wenn sie ausnahmsweise einmal bei einer öffentlichen Lesung oder auf einem Festival einen vollen Saal begeistern, dann tun sie das in erster Linie als Schauspieler, die gekonnt einen Text vortragen, mit dem in dieser Situation nebensächlichen Effekt, dass sie ihn zusätzlich zuvor auch übersetzt haben. Der donnernde Applaus gilt in diesem seltenen Fall der brillanten Liveshow, weniger dem halben Jahr Vorarbeit am Schreibtisch. Anders als andere interpretierende Künstler „brillieren“ Übersetzerinnen folglich deshalb nicht, weil ihre interpre‐ tierende Kunst im Wesentlichen hinter verschlossenen Türen stattfindet, nicht auf der Bühne und deshalb unsichtbar. Die optische Metapher führt also gera‐ dewegs zur Frage nach der Sichtbarkeit oder vielmehr der Unsichtbarkeit der Akteure wie auch ihrer Tätigkeit, wie sie Lawrence Venuti ( 2 2008) und ebenso seine Kritiker (vgl. Myskja 2013) durchdekliniert haben. Seitenblick: Theorie und Praxis der Literatur und der Übersetzung Bis hierher stand der Vergleich des Übersetzens mit anderen Künsten im Fokus, schauen wir nun vergleichend auf das Verhältnis von Theorie und Praxis. Zwar ist die Reflexion über das Übersetzen ähnlich alt wie das Übersetzen (bereits im 2. Jahrhundert v. Chr. verhandelte der Aristeas-Brief die Übersetzung der Tora ins Griechische), aber bis ins 19. Jahrhundert fällt auf, dass die wichtigsten Bei‐ träge zum besseren Verständnis von den Praktikern selbst kamen, formuliert in Der Diskurs der Transparenz 21 <?page no="22"?> Briefen oder Vor- und Nachworten, die sich auf konkrete Texte und deren Über‐ setzung bezogen: Hieronymus ü̈bersetzte im Auftrag des Konzils von Trient (1546) die Bibel ins Lateinische, und nur weil man ihm vorwarf, einen neutes‐ tamentarischen Brief zu frei ü̈bersetzt zu haben, verteidigte er sich in einem Schreiben an einen Freund gegen diesen Vorwurf. Martin Luther übersetzte die Bibel, Friedrich Schleiermacher Platon, Walter Benjamin Baudelaire, und ohne diese praktische Basis gäbe es keinen „Sendbrief vom Dolmetschen“, keine Ab‐ handlung „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens“, keinen Auf‐ satz über „Die Aufgabe des Übersetzers“. Douglas Robinson spricht deshalb von einer „anekdotischen Tradition“ der Übersetzungswissenschaft: Translation theory from its beginnings has been insistently anecdotal. Until the last few decades, in fact, theoretical pronouncements on translation have arisen almost exclusively out of specific translators’ engagement with specific texts. (Robinson 1998: o.S.) Erst in den 1960er Jahren, als sich die Übersetzungswissenschaft zur universi‐ tären Disziplin formierte, trennten sich die Wege von Übersetzungspraxis und Übersetzungsreflexion. Zwar schrieben Übersetzer auch weiterhin Nachworte und Werkstattberichte, hielten Preisreden und traten bei Lesungen auf, von nun an standen ihnen aber die akademisch berufenen Vertreter der universitären Übersetzungswissenschaft gegenüber. Deren Ziel war es, Übersetzen nunmehr systematisch zu beschreiben und theoretisch zu erfassen; die praktische Über‐ setzererfahrung des Forschers war dafür nicht von Bedeutung. Damit hatten sich Theorie und Praxis nicht nur institutionell getrennt, sondern auch ihre Ak‐ teure und Repräsentanten waren in der Regel nur noch in einem der beiden Bereiche anerkannt: Denn als Folge der institutionellen Trennung wurden auch die Maßstäbe neu definiert, nach denen jemand als Autorität in Übersetzungs‐ fragen Anerkennung fand. Bis dahin galt für jeden, der im intellektuellen Feld symbolisches Kapital als Fachmann für Übersetzungsfragen erwerben wollte, dass er sich auch selbst als Übersetzer bewährt haben musste; nunmehr war Praxiserfahrung nicht zwingend notwendig, von nun an verschafften akademi‐ sche Titel, Fachpublikationen oder Institutionenzugehörigkeit mehr Reputation als Praxiserfahrung. Damit wurde das, was Douglas Robinson die „anekdoti‐ sche“ Tradition von 2000 Jahren Übersetzungstheorie nennt, ab den 1960er Jahren unterbrochen (vgl. Buschmann 2015b: 181f.). Nur vor diesem Hintergrund wird das seitdem und bis heute höchst eigen‐ artige Verhältnis zwischen Praktikern und Theoretikern in Fragen des Litera‐ turübersetzens verständlich; wenn es denn ein Verhältnis gibt, schließlich ar‐ beiten Theorie und Praxis bislang zumeist Rücken an Rücken. Man ist sich Albrecht Buschmann 22 <?page no="23"?> 2 Ausnahmen bestätigen die Regel: Man denke z.B. an Georges Mounins Vision, Philo‐ logie unter Einschluss von Sprach-, Literatur- und Übersetzungswissenschaft zu denken (vgl. die Kapitel „L’ethnographie est une traduction“ und „La philologie est une tra‐ duction“ in Mounin 1963: 227-248). verbunden durch freundliches Desinteresse. Das fällt besonders deutlich ins Auge, wenn man zum Vergleich das Verhältnis der Literaturwissenschaft zur Literatur betrachet. Die Literaturwissenschaft greift durchaus auch autoritativ auf Subjekte und Artefakte zu, um im Feld kanonisierend symbolisches Kapital zuzuweisen: In Literaturgeschichten, Anthologien, Werkausgaben, Kommen‐ taren oder Einzelstudien werden Autorinnen und Werke als mehr oder wenig relevant markiert. Die ästhetische Theoriebildung aber, die diese Sortierung des je nationalen Kanons seit der Romantik begleitet, orientierte sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts an den genuinen Anforderungen, denen eine Theorie zu genü‐ gen hat, nicht jedoch daran, eine bestimmte literarische Machart vorzuschreiben (solche Kämpfe wurden publizistisch, nicht akademisch ausgefochten). Die strukturalistische und nachstrukturalistische Literaturwissenschaft schließlich, disziplinär erweitert um die nicht mehr im nationalen Rahmen denkende All‐ gemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, betonte gegenüber den o.g. Arbeitsfeldern die fachinterne Theoriebildung noch mehr als zuvor die Natio‐ nalphilologien. Demgegenüber hatte die übersetzerische Selbstreflexion bis Mitte des 20. Jahrhunderts keine der Literaturwissenschaft vergleichbare me‐ diale Auffächerung vorzuweisen, die sie in der Wahrnehmung im Feld nach‐ haltig verankert hätte, und eine darauf gründende Autorität fehlte auch der Übersetzungswissenschaft, wie sie sich ab den 1950er Jahren akademisch he‐ rausbildete. Die Tendenz ihrer Theoriebildung war von den universitären An‐ fängen in den 1960er Jahren an stärker auf die Autonomisierung des Faches, seine Emanzipation von der Sprach- und Literaturwissenschaft gerichtet; 2 dass die Autonomie der Übersetzerinnen möglicherweise auch der Stärkung bedurft hätte, rückte erst durch grundlegende Untersuchungen zur Medien- und Kul‐ turgeschichte des Übersetzens ab den 1980er Jahren in den Fokus der Forschung. So erklärt sich der im Vergleich stärker präskriptive Ansatz der Translations‐ wissenschaft. Ein weiterer Grund hierfür dürfte sein, dass der Autor in der tra‐ ditionellen Literaturwissenschaft als Künstler gedacht wird, in der Überset‐ zungswissenschaft hingegen als Facharbeiter des Wortes und allenfalls am Rande als Künstler; nicht als kreatives Subjekt, sondern als „planvoll, bewusst und verantwortlich handelndes Subjekt“ (Stolze 2008: 255). Während sich die Literaturwissenschaft (mühsam) an der inkommensurablen Individualität allen künstlerischen Schaffens oder an der Komplexität intertextueller Generierungs‐ modelle abarbeitet, tendiert die akademische Reflexion zum Literaturübersetzen Der Diskurs der Transparenz 23 <?page no="24"?> dazu, die Übersetzerin zu ent-individualisieren und ihre Performanz zu objek‐ tivieren. Auf diese Entwicklung reagierten die Literaturübersetzerinnen in der Bun‐ desrepublik, indem sie sich seit den 1980er Jahren verstärkt als Berufsstand organisierten, im Verband Deutschsprachiger Übersetzer (VdÜ) sowie im Deut‐ schen Übersetzerfonds (DÜF); in diesem institutionellen Rahmen gelang es ihnen, Projekt- und Fördermittel einzuwerben, Fortbildungen zu organisieren, sich international zu vernetzen und schließlich wieder vermehrt selbst als Au‐ torinnen über ihr Tun zu reflektieren und zu schreiben (vgl. Buschmann 2015c: 1-3). Inzwischen sind aus diesen Aktivitäten mehrere Bücher hervorgegangen, in denen sich das praktische Wissen der Übersetzerinnen, didaktisch in Fortbil‐ dungen erprobt und angereichert um methodische Reflexion, niederschlägt (vgl. Leupold/ Raabe 2008, Leupold/ Passet 2012, Knott/ Witte 2014, Pfetsch 2014, Knott/ Brovot/ Blumenbach 2015). Und sogar ein wissenschaftliches Standard‐ werk, die Metzler-Einführung Literarische Übersetzung (Apel/ Kopetzki 2 2003), ist von einer Übersetzerin, Annette Kopetzki, mit verfasst. Übersetzerinnen sind also inzwischen nicht mehr nur Objekte, sondern auch Subjekte der Fachdis‐ kussion innerhalb des Feldes. Vor dem Hintergrund der Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt sich das wie ein großer Schritt nach vorn aus, angesichts der Theoriegeschichte seit der Antike muss man es wohl eher als ein Anknüpfen an die anekdotische Tradition früherer Jahrhunderte betrachten, erweitert um breitere Publikationsmöglichkeiten dank berufsstän‐ discher Professionalisierung. Doch reicht all dies, bisher zumindest, nicht aus, um die Stimme der Über‐ setzer im literarischen Feld aus den eingangs skizzierten diskursiven Zwängen zu befreien: Ihre Arbeit wird akademisch wie journalistisch weiterhin an Maxi‐ malstandards gemessen, die das Verfertigen von guten Übersetzungen in den Bereich des Unmöglichen verschieben. Die universitäre Übersetzungsforschung ist in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel dafür, wie das methodologische Pro‐ blembewusstsein eines Faches in unguter Weise auf seinen Gegenstand zurück‐ fallen kann. Denn sucht man bibliographisch in den Kultur- und Geisteswissen‐ schaften nach dem „Problem“, fördert man in Verbindung mit „Übersetzen“ mehr als in anderen Teildisziplinen Dutzende Titel von Aufsätzen, Einführungen, Textsammlungen und Einzelstudien zu Tage, die das Problem der Übersetzung im Titel tragen (vgl. Buschmann 2015b: 189f., Anm. 32). Grundsätzlich ist die „Problematik“ des Übersetzerhandelns, verstanden als Komplexität der Praxis, ja nicht zu leugnen. Dennoch ist festzuhalten, dass die immer wieder geführte Rede vom Problem der Übersetzung zu einer gleichsam psychopathologischen Obsession der Übersetzungswissenschaft geworden ist, in deren Folge bevor‐ Albrecht Buschmann 24 <?page no="25"?> 3 Anhand einiger historischer Spuren dieses Unmöglichkeitstopos’ - von dem wenig praktikablen Binarismus zwischen „freiem“ und „treuem“ Übersetzen, über das Babel- Trauma bis zum irreführenden Pseudowissen viel zitierter Redensarten - vertrete ich in einem anderen Aufsatz die These, dass sich die Diskurse vom Übersetzen schon früh darauf ausrichten, dem Übersetzer eine Schuld zuzuschreiben, ihn mithin einem mora‐ lischen Urteil zu unterwerfen (vgl. Buschmann 2017). zugt darüber geforscht wurde, wo beim Übersetzen die Schwierigkeiten liegen, warum es bestenfalls näherungsweise funktioniert oder eigentlich unmöglich ist. Dieser Unmöglichkeitstopos wiederum hängt eng zusammen mit den ein‐ gangs genannten Maximalforderungen an das Übersetzen: Denn ist der An‐ spruch nur hoch genug angesetzt, ist die Unmöglichkeit zum Greifen nah und das Scheitern so gut wie garantiert. 3 Der Transparenztraum vom Übersetzen Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage nach den diskursiven Regeln, denen historisch auf die Spur zu kommen wäre, und zur These, dass sie mit einer in unserer Kultur tief verankerten Idealvorstellung von Transparenz verknüpft ist, wie sie Manfred Schneider (2013) als historisches Phänomen von der Antike bis ins Internetzeitalter ausgeleuchtet und Byung-Chul Han (2013) in einem sozi‐ alphilosophischen Essay als Gegenwartsdiagnose zugespitzt hat. Bereits in einer Fabel des Aesop kommt mit einem Bild aus der Optik die Idee zum Ausdruck, dass das Geheimnisvolle, das Undurchschaubare des Menschen für die Autori‐ täten ein Problem darstellt. Der Gott Momos, aufgerufen, die von Zeus, Poseidon und Athene geschaffenen Werke zu begutachten, merkt beim von Zeus geschaf‐ fenen Menschen kritisch an, „dass er kein Fenster [...] in der Brust trage, durch das sich jedermanns Auge Zutritt verschaffen könne, um dort die Gedanken und üblen Absichten des Nachbarn abzulesen“ (Schneider 2013: 23f.). Von diesem Urbild bis zu den digitalisierten Überwachungstechniken des Internetzeitalters spannt Schneider den kulturgeschichtlichen Bogen und fördert Beispiele aus beinahe allen Bereichen der menschlichen Erfahrungswelt zu Tage: Ob in der Literatur - Miguel de Cervantes’ Novelle „El licenciado vidriera“ -, ob in der politischen Philosophie - Jean-Jacques Rousseaus „volontée générale“ als Be‐ griff gewordene Herrschaftslegitimation -, ob in der Architektur - wo der Londoner Cristal Palace oder die von Michel Foucault analysierte panoptische Gefängnisarchitektur nur die bekanntesten Beispiele sind -, ob in den psycho‐ logisch inspirierten Avantgardephantasien einer die wahre Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit erfassenden „écriture automatique“ des frühen Surrealismus - überall und zu allen Zeiten gibt es offenbar ein Bedürfnis, Transparenz zu er‐ Der Diskurs der Transparenz 25 <?page no="26"?> zeugen und dadurch die Welt gerecht, moralisch rein und vor allem unmittelbar erfahrbar zu machen. Im Transparenztraum steckt nach Schneider beides: ein Machtanspruch und ein Streben nach Unmittelbarkeit. Der Machtanspruch steckt, jenseits aller vorgeschobenen altruistischen Motive, in dem von Gott Momos bis zum Global Player Google nachweisbaren Begehren, dem Anderen das Recht auf Geheimnis, Widersprüchlichkeit, Inkongruenz, Dunkelheit, Opak‐ heit abzusprechen und idealerweise zu entziehen: „Im Zeitalter der globalen Kommunikation ist jedes Geheimnis in Gefahr, Geheimnis der Regierungen, Geheimnis der Banken, Geheimnis des Forschers, Geheimnis der Privatper‐ sonen, Geheimnis der Geheimdienste.“ (Schneider 2013: 34) Damit, so Schneider, sei der jahrhundertealte Traum von der Transparenz „enteignet“ worden und Transparenz heute so etwas wie ein „Star“, ein „Programm leerer Versprechen oder vielmehr des Unmöglichen“ (Schneider 2013: 34f.). Für unsere Situierung des Übersetzens unmittelbar anschlussfähig ist der zweite Aspekt, das Streben nach Unmittelbarkeit, welches im Transparenztraum zum Ausdruck kommt. Denn es hat mit Sprache zu tun: Der Transparenztraum ist in seinem ursprünglichen Impuls der Wunsch nach trug‐ loser, täuschungsfreier Kommunikation. Insofern ist er ein Sprachtraum: die Wörter strikt an die Dinge zu binden, die sie bezeichnen, oder die Wörter durchsichtig zu machen oder Sprechen durchsichtig zu machen oder eben den Sprechenden durch‐ sichtig zu machen. (Schneider 2013: 30) Schneider meint mit Transparenz also nicht wie Venuti ( 2 2008: 273) „the illusion of transparency“ eines Textes, der frei von Markern experimenteller oder kul‐ tureller Fremdheit sein soll, sondern die unserer Schriftkultur von Beginn an eingeschriebene Utopie störungsfreier Kommunikation, allumfassenden Ver‐ stehens und transparenter Akteure. Was in der kulturellen Erzählung ein Traum war, ist nun dabei, sich in einen Alptraum zu verwandeln, der auch die Wissen‐ schaft und ihre Episteme erfasst: Der Alptraum ist darum so unheimlich, weil er dem Unmöglichen Kredit gibt. Das Unmögliche ist das Verlangen, das Reale selbst zu haben. […] Woraus besteht die Welt? Du wirst es niemals wissen, mein lieber Forscher! Wir werden das Reale nie haben, sondern müssen es uns immer in Symbolen, Bildern, Tabellen, Zahlen, Daten, Charts aneignen. Das ist der Fluch des Auszugs aus der Natur. Es gibt keinen Weg zurück ins Paradies der Unmittelbarkeit. […] Die Verwechslung von Realem und Symbolischem, von Natur und Kultur, ist Ideologie. (Schneider 2013: 33) Byung-Chul Han fügt dem die Beobachtung hinzu, dass die Welt der Zahlen jenem Gedanken, dass Transparenz möglich sei, weitaus näher stehe als die Welt Albrecht Buschmann 26 <?page no="27"?> 4 Ein schlagendes Beispiel entfaltet Rafael Arnold (2015) in einer Untersuchung jener jüdischen Übersetzer, die sich im 16. und 17. Jahrhundert den Anspruch auferlegten, eine in jeglicher Hinsicht „treue“ Übersetzung biblischer Texte aus dem Hebräischen ins Judenspanische zu verfassen - und damit schnell an die Grenzen der Verständlich‐ keit stießen. der Erzählung: „Die Addition ist transparenter als die Narration [...] Im Gegen‐ satz zum Rechnen ist das Denken sich nicht transparent.“ (Han 2012: 50) Beide Autoren beschäftigen sich nicht mit dem Thema Übersetzen, doch indem sie den Transparenztraum als Phänomen beschreiben, in dem Machtdis‐ kurs und präskriptive Sprachpolitik sich überlappen, bieten sie einen Schlüssel, um die eingangs genannten diskursiven Zwänge beim Reden über das Über‐ setzen in produktiver Weise anders zu begreifen. Die Übersetzung wäre in diesem Sinne zu betrachten als die in der Zielsprache lesbare Oberfläche, die - je nach übersetzerischer Haltung (vgl. Heibert 2015) - in sich oder hinter sich den Ausgangstext weiterhin erkennbar hält. In den über die Jahrhunderte immer wieder formulierten Forderungen, die Übersetzung solle treu, wörtlich, dem Ausgangstext verpflichtet oder antiillusionistisch sein, wird jener Transparenz‐ traum erkennbar, die Wörter des Zieltextes mögen durchsichtig sein und eine unmittelbare Erfahrung des Ausgangstextes ermöglichen. Da diese Art der Übersetzung aber unmöglich ist, 4 folgt aus der Anerkennung dieses Anspruchs, dass man als Übersetzer zwingend scheitert. Denn weder Sprachtatsachen noch Kulturtatsachen sind aus einer natürlichen Sprache in eine andere ohne seman‐ tische und kulturelle Transformationen zu übertragen. Da diese Transformatio‐ nen von den menschlichen Prozessen des Verstehens nicht zu trennen sind (bei Autor, Übersetzer wie Leser und Kritiker), sind sie selbst mit Hilfe avancierter Techniken interkultureller Hermeneutik (vgl. Schaffers 2003) nicht eineindeutig zu erfassen. Alle Gegenreden jedoch, die für die freie, sinngemäße, einbürgernde oder dem Zieltext verpflichtete Übersetzung eintreten, entziehen sich tenden‐ ziell dem Machtanspruch des übersetzerischen Transparenztraums. Eine Poetik des Übersetzens, die die Sichtbarkeit der Übersetzung, verstanden als Lizenz zum selbstbewussten Nutzen mit den Mitteln der eigenen Sprache, höher einstuft als die erkennbare intertextuelle Ausrichtung auf den Ausgangstext, ist wider‐ ständig. Sie schützt nicht nur die Übersetzung, sondern auch den Prozess und vor allem die Übersetzer, an die sich der Anspruch, „durchsichtig“ zu werden, ebenso richtet. Es geht an dieser Stelle wohlgemerkt nicht darum, wie man in der Praxis besser oder schlechter übersetzt, ob „freies“ Übersetzen besser ist als „treues“, „sinngemäßes“ besser als „wörtliches“, zumal diese binären Modelle konzeptio‐ nell irreführend und in der Praxis schädlich sind (vgl. Buschmann 2015b: Der Diskurs der Transparenz 27 <?page no="28"?> 5 Vgl. die einschlägigen Zitate in der Datenbank „Trésor des métaphores de la traduction“ (vgl. http: / / recherche.univ-lyon2.fr/ ) sowie den Band La traduction en citations von Jean Delisle (2007). 177-180), sondern vielmehr um die Frage, wo die diskursiven Zwänge beim Reden über das Übersetzen ihren Ursprung haben. Einer dieser Ursprünge scheint der Transparenztraum zu sein, der in allen Phasen der übersetzerischen Modellbildung, von der Antike bis in die Gegenwart diskurssteuernde Wirkung entfaltete, was sich auch daran ablesen lässt, wie die in Sinnsprüchen geronnene Rede vom Übersetzen den immer gleichen Topos variiert, wonach Überset‐ zungen bzw. ihre Autoren defizitär seien. Mal ist der Übersetzer ein Betrüger oder Verräter (am Original wie am Auftraggeber: „traduttore traditore“), mal ist er „Diener zweier Herren“ (also offenbar nicht loyal zum wahren Herrn, dem Original), mal pflegt er „das zweitälteste Gewerbe der Welt“ (und spielt die Original-Liebe nur vor, und das auch noch für Geld). Die optische Isotopie des Transparenzgedankens konkretisiert sich in jenem Vergleich, wonach sich die Übersetzung zum Original verhalte wie die Rückseite des Teppichs zu seiner Vorderseite; Miguel de Cervantes legt es im Don Quijote seinem gelehrten Ritter in den Mund (vgl. Buschmann 2017) und suggeriert, dass eine Übersetzung denkbar wäre, die aussieht wie die Vorderseite des Originalteppichs; Transpa‐ renztraum und Unmöglichkeitstopos liegen hier besonders nah beieinander. Liest man sich weiter durch die entsprechenden Datenbanken und Zitate‐ sammlungen zum Übersetzen, 5 überwiegen eindeutig die Erzählungen von der Defizienz des Übersetzens. Aber nicht das Übersetzen ist grundsätzlich män‐ gelbehaftet, sondern das Betrachtungsmodell, auf dessen Grundlage seine Qua‐ litäten bewertet werden. Nicht die Praxis ist das Problem, sondern die Theorie: weil sie häufig mit unreflektierten Elementen des Transparenztraums operiert. Darin manifestiert sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auch ein Machtan‐ spruch der Wissenschaft gegenüber ihrem Untersuchungsgegenstand, von deren Akteuren sie sich vor allem in der frühen Phase ihrer Konstituierung als akademische Disziplin zu emanzipieren suchte. Und es gibt noch weitere heutige Machtdiskurse, die mit dem Schlagwort der Transparenz bewaffnet autoritativ auf die Übersetzungspraxis zugreifen: Der Übersetzer Javier Calvo (2016: 107-151) beschreibt die Sprachpolitik spanischer Großverlage, die mit dem Ar‐ gument der besseren Verständlichkeit (also: transparenter Sinnhaftigkeit) ihre Übersetzer dazu drängen, sich eines übernationalen Standardspanisch, eines „español estándar“ oder „neutro“ zu befleißigen (Calvo 2016: 139ff.). Eindrück‐ lich skizziert der die fatalen Wirkung eines solchen Zwangs zum Schreiben in bereinigtem Standardspanisch: Für Jargon, Dialekte oder gar sprachspielende Transgression bleibt darin kein Raum mehr. Erneut erkennt man, wie der zum Albrecht Buschmann 28 <?page no="29"?> pragmatischen Machtdiskurs geronnene Traum von der Transparenz gerade das untergräbt, worum es eigentlich geht: Bürstet man einen literarischen Text (egal ob übersetzt oder nicht) auf transparente Sinnhaftigkeit um, ist er keine Literatur mehr: Denn wenn er nicht mehr vieldeutig verstanden werden kann, hat er seine Literarizität verloren. So wie der Mensch nur Mensch ist, wenn ihm ein Ge‐ heimnis zugestanden ist, ist Literatur nur Literatur, wenn sie polysem ist. Der Zwang zum „español neutro“ leugnet diese banale Tatsache, und dieser Zwang kann nur deshalb so selbstverständlich auftreten, weil er sich im Einverständnis mit dem wirkmächtigen Diskurs um den Transparenztraum weiß. Dieses Zusammenspiel lässt sich auch allgemeiner formulieren: Maximalan‐ sprüche an die Übersetzungspraxis ließen und lassen sich nur deshalb weitge‐ hend unwidersprochen formulieren, weil sie im Einklang mit dem Diskurs der Transparenz auftreten. Doch der Kaiser ist nackt: Denn mit Blick auf die Kul‐ turgeschichte des Transparenzbegriffs wurde deutlich, dass dieser Anspruch auf zu vielen unreflektierten und unhaltbaren Prämissen beruht. Literaturverzeichnis Albrecht, Jörn. 1998. Literarische Übersetzung. Geschichte - Theorie - Kulturelle Wir‐ kung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Apel, Friedmar / Kopetzki, Annette. 2003. Literarische Übersetzung. 2. Auflage. Stuttgart: Metzler. Arnold, Rafael. 2015. „Das Wissen um die Grenzen der eigenen Methoden. Die Ladino-Übersetzer im 16./ 17. Jahrhundert.“ In: Albrecht Buschmann (Hg.). Gutes Über‐ setzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens. Berlin: de Gruyter, 315-332. 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Der Diskurs der Transparenz 31 <?page no="33"?> ‚Ausnahmezustände‘ Mutmaßungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis beim Übersetzen Henri Bloemen Aber Praxis bedarf auch eines Anderen, in Bewusstsein nicht sich Erschöpfenden, Leibhaften, vermittelt zur Vernunft und qualitativ von ihr verschieden. Th. W. Adorno, Negative Dialektik (‚Das Hinzutretende‘) Skandal der Übersetzung? Die Philosophie kennt ihren ‚Skandal der Philosophie‘. Als skandalös empfindet man die Tatsache, dass trotz einer Jahrtausende alten Tradition des Denkens noch immer keine gesicherte, bewiesene und von allen Philosophen akzeptierte Erkenntnis über das Wesen der Dinge vorliegt. Als ‚skandalös‘ gilt ebenso, dass die Philosophie nicht im Stande ist, allgemein verbindliche Richtlinien für das praktische Handeln bereitzustellen. Allgemein bekannt ist Marx’ These, die Philosophen hätten die Welt nur und verschieden interpretiert, es käme aber darauf an, sie zu verändern. Unabhängig von der Frage, ob es wohl legitim sei, von der Philosophie letzte Sicherheiten bzw. die praktische Veränderung (und zwar der Welt, der Wirklichkeit oder der Gesellschaft) zu fordern, gibt der Plural im Titel von Lawrence Venutis bekanntem Buch The Scandals of Translation (1998) Anlass zu der Vermutung, es könne innerhalb der Geisteswissenschaften kaum einen anderen Bereich geben, in dem die Spannung zwischen Theorie und Praxis dermaßen groß ist, wie beim Übersetzen, insbesondere beim literarischen Übersetzen. Wahrscheinlich beschreibt der Begriff ‚Spannung‘ nicht einmal genau das Verhältnis zwischen Übersetzungstheorie und Übersetzungswissen‐ schaft auf der einen und Übersetzungspraxis auf der anderen Seite. Die Kluft ist <?page no="34"?> so tief, dass die immer vorhandene Reibung zwischen Theorie und Praxis im Bereich des Übersetzens unfruchtbar zu bleiben scheint. Der Übergang von Theorie zu Praxis ist niemals reibungslos, nicht einmal in den Naturwissenschaften. Wichtig dabei ist, den argumentativen Austausch zwischen beiden als Medium der Vermittlung zu betrachten. Damit Erkenntnis‐ gewinn stattfinden kann, darf Theorie niemals reine Reproduktion von Praxis sein. Und auf der anderen Seite verkommt eine Praxis, die nur dem theoretischen Stand der Dinge folgt, zur Technik, zur bloßen Anwendung. Das Verhältnis zwi‐ schen Theorie und Praxis ist nicht symmetrisch. Obwohl so etwas wie Geist oder Denken in Anlehnung an Theodor W. Adorno ursprünglich gewiss aus welt‐ verändernder Arbeit, also aus Praxis, hervorging (1969), setzt die Kluft zwischen beiden erkenntnistheoretisch dennoch einen Vorrang der Theorie vor der Praxis voraus. Gerade im Bereich des Übersetzens ist das augenfällig: Ohne einen Be‐ griff vom Übersetzen lässt sich kaum übersetzen. Jeder ‚praktische‘ Übersetzer hat, bewusst oder unbewusst, eine Vorstellung von seinem Tun, die seine Praxis nicht gänzlich bestimmt, aber doch beeinflusst. Es macht schon einen Unter‐ schied, ob man das Übersetzen etwa als ‚formal äquivalente‘, als ‚dynamisch äquivalente‘ Wiedergabe (Nida 1964) eines Textes auffasst, als zielsprachlich orientierten Kommunikationsakt (Vermeer 1996, Nord 1997), als horizontbe‐ stimmten Verstehensakt (Gadamer 1973) als maßvoll verfremdende Wiedergabe der sprachlichen Andersheit des Ausgangstextes (Schleiermacher 1973 [1838]) oder als dem privilegierten Zeugen einer jeglicher Subjektivität entzogenen Sprachbewegung (Benjamin 1977 [1923]) - die Reihe der Begriffsbestimmungen ließe sich noch weiter fortsetzen: jeder theoretische Ansatz ergäbe im Endeffekt eine andere Übersetzung. In der Geschichte des Übersetzens kennen wir bis in die heutige Zeit den Jahrhunderte alten Streit zwischen den Anhängern des buchstäblichen und des freien Übersetzens. So sehr jede einzelne Übersetzung für den Übersetzer auch als jeweils ursprüngliche Arbeit erscheinen mag, ist sie im Grunde doch immer schon ‚vorbedacht‘. Noch auf andere Weise zeigt sich im Übersetzen, wie die Praxis auf theoreti‐ schen Überlegungen basiert. Nämlich immer dann, wenn der Prozess ins Sto‐ cken gerät, wenn sich nicht sofort eine Lösung einstellt, wenn der Übersetzer nicht mehr weiter weiß. Obwohl solche Momente - sie gehören zum Kern der ‚Erfahrung des Übersetzens‘ - gar nicht so selten sind, stellen sie doch in ge‐ wisser Hinsicht ‚Ausnahmemomente‘ dar: sie unterbrechen den normalen Gang des Übersetzens. Es sind dies genau genommen Momente im Übersetzungspro‐ zess, in denen der Übersetzer von der Absicht, sich konsequent von einer text‐ übergreifenden Strategie leiten zu lassen, absehen muss und, wie es heißt, sich konkret und notfalls entgegen der angenommenen Strategie entscheiden muss. Henri Bloemen 34 <?page no="35"?> Gerade als ‚Ausnahmemomente‘ sind sie aber konstitutiv für den Begriff des Übersetzens überhaupt. Es würde hier schon genügen, auf Hans G. Hönigs (1986) Unterschied zwischen Reflex und Reflektion hinzuweisen, oder auf Andrew Chestermans (1997: 87) Annahme, die Unzufriedenheit mit einer Lösung oder deren Ausbleiben setze das Nachdenken in Gang, wonach dann ein reflektier‐ teres, also ‚besseres‘ Übersetzen stattfinde. Viele Übersetzer sehen solche Mo‐ mente jedoch als Beweis dafür an, dass Übersetzen theoriefrei verlaufen kann: An solchen Stellen entscheide einzig und allein die Kreativität des Übersetzers, frei von allen normativen oder theoretischen Zwängen. Aber wenn sich in sol‐ chen Momenten schon die Pleite der Theorie zeigen würde, dann äußert sich darin nicht weniger auch die als Kreativität getarnte Ratlosigkeit der Praxis an‐ gesichts eines Textes, der sich querstellt, der sich dem strategischen Zugriff, der technischen Zubereitung, der Unterordnung unter ein funktionales Ziel oder auch der subjektiven Willkür widersetzt. Bekannt ist Luthers Geständnis im Sendbrief vom Dolmetschen: „Und ist uns wohl oft begegnet, dass wir vierzehn Tage, drei, vier Wochen haben ein einziges Wort gesucht und gefragt, haben’s dennoch zuweilen nicht gefunden.“ (Luther 1973: 20) Man hätte natürlich gerne gewusst, was Luther an jenen Stellen ‚stattdessen‘ gemacht hat. In solchen Momenten manifestiert sich der ‚Vorrang des Objektes‘ (Adorno 1969: 176), wo‐ durch sowohl die Theorie wie die Praxis auf den Prüfstand gestellt werden. Die Ambiguität der Praxis All diese Elemente würden das Übersetzen im Grunde zu einem Modellfall machen, an dem sich ein ideales Verhältnis von Theorie und Praxis konkret demonstrieren ließe. In Wirklichkeit aber (d.h. vor allem in den Diskussionen zwischen praktischen Übersetzern und Übersetzungswissenschaftlern) ist in weiten Teilen des Übersetzungsfeldes dieses Verhältnis äußerst problematisch. Auf Seiten der Praxis zeigt sich tiefes Misstrauen, ja Feindschaft gegenüber Theorie, die gerade in jenen Ausnahmemomenten, in denen ihre Hilfe gefragt wäre, der Nutzlosigkeit geziehen wird. Die Übersetzungstheorie ihrerseits hat sich, gerade in der Gestalt der deskriptiven Übersetzungswissenschaft, nur allzu geflissentlich von der Praxis verabschiedet und sich in den akademischen Be‐ trieb zurückgezogen; von dieser Warte aus betrachtet sie Übersetzer und Über‐ setzungen als Forschungsobjekte. Irgendwelche Richtlinien für die Praxis sind nicht das Ziel und unerwünscht. Diese Situation gereicht beiden zum Nachteil, weil sie beide auf sich selbst zurückwirft und dadurch zur Hilflosigkeit ver‐ dammt: Die Theorie hilft der Praxis nicht, weil sie diese nicht erreicht, und diese verschließt sich jener ostentativ aus angeblich erwiesener Nutzlosigkeit. ‚Ausnahmezustände‘ 35 <?page no="36"?> Dennoch eignet dieser Haltung der Praxis eine gewisse Doppeldeutigkeit, die auf bestimmten Erwartungen an die Theorie und auf einem bestimmten Theo‐ rieverständnis beruht, was gerade in genannten Ausnahmemomenten sichtbar wird. Wo das Objekt, der zu übersetzende Text, sich bemerkbar macht, wird der Ruf nach der Theorie laut. Sie soll die Lösung bringen, die sich im ‚normalen‘ Übersetzungsprozess nicht von selbst ergibt. Diese Forderung an die Theorie ist zunächst einmal das zähneknirschende Eingeständnis ihres Vorrangs, der Rück‐ griff auf das, was der Praxis lenkend vorangeht. Diese Annahme dürfte stimmen, denn niemand wird bezweifeln, dass die Analyse der Ausgangslage - Ausgangs‐ textanalyse, Möglichkeiten der Zielsprache, Entwurf einer Übersetzungsstra‐ tegie, Form-Funktion-Analyse usw. - eine Bedingung für eine gute Praxis ist. Aber weil die Praxis die Theorie auf ihre Hilfestellung in Notfällen reduziert, beschränkt sie auch generell deren Rolle auf die einer nützlichen Problemlöserin, während der Anspruch der Theorie doch immer etwas Ganzheitliches hat. Diese eingeschränkte Erwartung an die Theorie bestätigt aber zugleich die schon voll‐ zogene Trennung zwischen Theorie und Praxis: jene soll bloß in Ausnahme‐ fällen weiterhelfen, und sich dann wieder verabschieden (obgleich doch Aus‐ nahmefälle immer auch etwas über das Ganze sagen). Die Trennung wird aber ostentativ und ideologisch, wenn die Theorie die erbetene Hilfe nicht leisten kann. Die Übersetzungstheorie wird dann alsbald als Bevormundung empfunden, als unberufener Normenlieferant, als Instanz, die zwingend vorschreibe, was Übersetzen ist und wie zu übersetzen sei. Die Theorie wird als Inhaberin des Geheimnisses und des letzten Wissens um die Übersetzung betrachtet, womit zugleich eingestanden wird, dass die Praktiker selbst wohl auch nicht im Besitz dieses Wissens sind. Diese Reaktion von Seiten der Praxis ist ideologisch in doppelter Hinsicht: zum einen in der Annahme, die Theorie besitze die letzte Wahrheit über das Übersetzen, zum anderen in ihrem Selbstverständnis als ‚freie‘ Praxis, die sich in ihrer Selbstverständlichkeit von niemandem etwas vorzuschreiben lassen brauche. Die Praxis verwirft die Theorie als unnötig, weil sie sich gegenüber ihren Objekten - dem literarischen Text, der entstehenden Übersetzung - an‐ geblich frei und unmittelbar verhält und in der Theorie eine Bedrohung dieser Freiheit und Unmittelbarkeit erblickt. Die Praxis habe, so der Glaube, mit dem ‚Objekt‘ selbst zu tun, während die Theorie in ihrer Abstraktion nie zum Han‐ deln komme, ja nicht einmal Richtlinien für die Praxis bereithalte. Gerade der Ruf nach Richtlinien verrät jedoch die hinter der puren Handlungsbereitschaft verborgene Hilflosigkeit. Nun wäre es ein Leichtes zu zeigen, dass die Praxis überhaupt nicht so frei und unmittelbar ist, wie sie selbst annimmt. Jedes praktische Übersetzen wird Henri Bloemen 36 <?page no="37"?> nicht nur, wie oben gesagt, immer schon von einer mehr oder weniger be‐ wussten Übersetzungsauffassung, sondern auch von einer Übersetzungstradi‐ tion mit einem bestimmten Normenapparat geleitet. Sofern jene Instanzen (Theorie, Tradition, Normen) außengesteuert sind - d.h. nicht aus der übersetze‐ rischen Ausgangslage selbst hervorgehen - bekommt die Übersetzungspraxis ihre Handlungsrichtlinien von anderswoher, im Endeffekt sind es oft die For‐ derungen und Usancen des literarischen Betriebs, also des Marktes. Die wohl beste Leistung der sogenannten Descriptive Translation Studies (DTS) besteht gerade darin, das Übersetzen als normgelenkte Aktivität (und nicht mehr als das) beschrieben zu haben. Die Praxis ist deshalb von vornherein nicht frei. Auch nicht gegenüber ihren Objekten: Wenn diese (Original und entstehende Über‐ setzung) sich als zu tückisch erweisen und der Übersetzungsnotstand ausge‐ rufen wird, werden sie relativ schnell den bekannten Techniken untergeordnet, geschliffen oder, mit Antoine Berman gesagt, ‚gekämmt‘ (Berman 1985: 60), und die Rücksicht auf Verleger und Leser werden als Grund dafür angeführt. Enttäuschung An der tatsächlichen Trennung von Theorie und Praxis in der Übersetzung trägt die Übersetzungstheorie in der Form der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Übersetzung selbst auch Schuld. Wo die vorwissenschaftliche Reflektion über das Übersetzen - etwa von Hieronymus bis Benjamin - noch ein gewisses en‐ gagiertes Verhältnis zum Übersetzen unterhielt, weil es aus der Erfahrung mit dem Übersetzen selbst hervorging und es quasi begleitete, da betrachtet die Übersetzungswissenschaft das Übersetzen, den Übersetzungsprozess und die Übersetzungen als Objekte einer mehr oder weniger methodischen Forschung. Das allein setzt schon eine Distanz voraus. In der Entstehungszeit der Überset‐ zungswissenschaft, exemplarisch etwa in Eugene Nidas Toward a Science of Translating (1964), wurde die linguistische Analyse des Übersetzens noch zur Legitimierung eines gewissen Umgangs mit dem Übersetzen eingesetzt. Die lin‐ guistischen Übersetzungstheorien ‚litten‘ insgesamt noch an einem normativen bzw. präskriptiven Gehalt wegen der Äquivalenzforderung, die im Mittelpunkt stand. Normativität (Präskription) und Wissenschaftlichkeit sind für die (des‐ kriptive) Übersetzungswissenschaft unvereinbare Eigenschaften. Wer vor‐ schreibt, wie das Objekt auszusehen hat, um als Forschungsobjekt in Betracht zu kommen, arbeitet wissenschaftlich unsauber. Die funktionalistischen Über‐ setzungstheorien (Vermeer 1996, Nord 1997, Reiss 1971, Hönig 1986) haben da‐ gegen in ihrer Zieltextorientiertheit diese Normativität niemals als Problem empfunden. Die deskriptive Übersetzungswissenschaft, wie sie etwa seit den ‚Ausnahmezustände‘ 37 <?page no="38"?> siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden ist, versucht konsequent, jede Normativität aus dem Begriff der Übersetzung zu entfernen, indem sie Übersetzen kurzerhand definiert als dasjenige, was man unter gewissen histo‐ rischen Umständen und in bestimmten Zeiten ‚Übersetzung‘ genannt hat, wie auch Dirk Delabastita meint: ‚„No one will dispute that there are phenomena in reality that people call, or used to call in their contemporary context, ‚transla‐ tions‘“ (Delabastita 1991: 140). Diese Definition ist zunächst einmal rein formell, da sie das Objekt angeblich absolut neutral umschreibt. Jede Definition, die in der klassischen Formulierung ‚Übersetzen ist...‘ ihr Objekt zu fassen versucht, läuft ja Gefahr, im nachfolgenden Attribut eine normative Beschränkung ein‐ zuführen. Die DTS, so könnte man sagen, ersetzen in der Definition das ‚Sein‘ der Übersetzung durch das ‚Nennen‘ der Übersetzung. Es ist eine nominalisti‐ sche Definition. Insofern dieses ‚Nennen‘ der Übersetzung vor allem bei denje‐ nigen gesucht wird, die sich mit Übersetzen beschäftigen - bei den Übersetzern, in ihren Nachworten, in Kommentaren zu ihrer Arbeit, in Diskussionen auf Tagungen usw. -, hat die deskriptive Definition etwas entschieden Tautologi‐ sches: sie reproduziert, was die Übersetzer über ihr Metier zu sagen haben. Aus diesem selbstreflexiven Diskurs der Übersetzer zur Übersetzung eruieren die DTS die herrschenden Normen, die das Übersetzen in bestimmten Zeiten oder Sprachgebieten beherrscht haben. Im Endeffekt resultiert das in einer Soziologie des Übersetzens, d.h. in der Beschreibung der gesellschaftlichen Umstände, in denen das Übersetzen stattfand und die es steuerten. Die Frage nach dem, was Übersetzung eigentlich sei, wird ersetzt durch die Frage nach den normativen Umständen, in denen Übersetzen sich ereignet. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist die Frage nach dem Wesen des Übersetzens. Es kennzeichnet einen Großteil der modernen Übersetzungswissenschaft, dass in ihr die Frage nach dem Wesen des Übersetzens vermieden wird. Es wird als etwas Selbstverständliches vorausgesetzt. Die große Enttäuschung besteht gerade darin, dass die Überset‐ zungswissenschaft sich präsentiert, als ob sie auf der Suche nach einer theore‐ tischen Bestimmung des Wesens der Übersetzung wäre - Gideon Tourys erste große Arbeit (1980) hieß noch In Search of a Theory of Translation - während sie der Beantwortung dieser Frage schon im Ansatz den Weg verbaut bzw. die Formulierung des Wesens ad calendas graecas verschiebt - nämlich zu dem Zeitpunkt, an dem mittels Beschreibung von Übersetzungsphänomenen genug Material gesammelt sein wird, um eine allgemeine Theorie des Übersetzens zu formulieren. Das große Datensammeln ist aber eine manifeste Vermeidung der Frage nach dem Übersetzen ‚selbst‘. Es darf nicht verwundern, dass die praktischen Übersetzer von dieser Art von Übersetzungstheorie, die ihnen quasi nur zurückgibt, was sie selbst schon in Henri Bloemen 38 <?page no="39"?> erster Reflektion zu sagen wussten, enttäuscht sind. Wohl noch enttäuschender ist es, dass es dieser Theorie nicht gelingt, ihren eigenen Anspruch als Theorie - zu sagen, was Übersetzung sei - gerecht zu werden. Ein anderer Diskurs? Im Diskurs über das Übersetzen hat es auch immer Stimmen gegeben, die ein engagierteres Verhältnis von Theorie und Praxis befürwortet haben, allen voran Lawrence Venuti in Amerika und Antoine Berman in Frankreich, beide nicht zufällig in einer Art Wiederaufnahme von Gedankengängen, die bei Friedrich Schleiermacher ihren Ursprung finden. Sowohl Venuti (1998) als auch Berman (1985) plädieren für ein Übersetzen, das sich selbst nicht ausradiert und sich nicht von den (wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen) Umständen und Zwängen vereinnahmen lässt. Dadurch wird die Perspektive ganz klar wieder auf das Übersetzen ‚selbst‘ (sofern von einem ‚Selbst‘ die Rede sein kann) ge‐ richtet. Venuti wie Berman kommen auf getrennten Wegen zu einer ethischen Sicht auf das Übersetzen: die Rücksicht auf das Andere des anderen Textes zwingt zu einer ‚sichtbaren‘ Übersetzungsweise. Eine Übersetzung ist ein Text im eigenen Recht und soll sich nicht als Original eskamotieren, das auf geheim‐ nisvolle Weise die Sprache gewechselt hat. Allerdings laufen beide Gefahr, in einer gewissen verfremdenden Haltung zu erstarren. Bei Venuti ist das ganz offensichtlich: Der ethische Ansatz verkommt bei ihm zu einer Art Technik, zur Anwendung von verfremdenden Strategien, die nicht unbedingt durch die über‐ setzerische Ausgangslage gerechtfertigt sind. Bei Berman ist diese Gefahr weniger groß, weil er sich kaum Illusionen macht über die Vermeidbarkeit der vom Übersetzungsbetrieb geforderten und geförderten ‚Deformationen‘ und zudem die Übersetzungsweise von der Einzigartigkeit des Originals und der je‐ weiligen Übersetzung abhängig macht, wobei der günstige Augenblick, der Kairos, eine entscheidende Rolle spielt. Im Zuge des so genannten ‚Cultural Turn‘ in den Translation Studies hat es in den letzten Jahren Entwicklungen gegeben, die das Übersetzen als Faktor in immer weiteren Kontexten untersucht haben. Die feministische Übersetzungs‐ theorie hat die Rolle des Übersetzens im Rahmen der Genderproblematik unter‐ sucht. Im ‚Power Turn‘ wird die Rolle des Übersetzens im Gefüge der Machter‐ haltung studiert. Die postkoloniale Literaturtheorie schenkt der Funktion des Übersetzens im Verhältnis zwischen dem imperialen Mutterland und den (ehe‐ maligen) Kolonien besondere Aufmerksamkeit. Und in der Kulturwissenschaft untersucht man z.B. die Rolle des Übersetzens in den Verhältnissen zwischen Mehrheits- und Minderheitskulturen. Diese ganzen Entwicklungen haben eine ‚Ausnahmezustände‘ 39 <?page no="40"?> Erweiterung des Übersetzungsbegriffs herbeigeführt und gezeigt, dass das Über‐ setzen in sehr verschiedenen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten eine wichtige Rolle spielt. Ob diese Entwicklungen auch einen Bei‐ trag zur ‚Arbeit am Begriff ‘ der Übersetzung geleistet haben, darf aber bezweifelt werden. So ist es die Frage, ob das Übersetzen in diesen neuen Kontexten nicht doch auch als ein Instrument in den Händen von politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Akteuren betrachtet wird. Als solches - als immer manipu‐ lierbares Instrument in den Händen von Subjekten - war es ja immer schon bekannt. Das Wesen der Übersetzung wird auch hier als bekannt vorausgesetzt: es ist ein Medium zum manipulativen Umgang mit Texten zur Durchsetzung gewisser (z.B. politischer, kultureller, gendermäßiger) Interessen. Ob diese neu‐ eren Entwicklungen die Trennung zwischen Theorie und Praxis aufheben oder gar zugunsten eines engeren Zusammengehens verändern werden, ist sehr zweifelhaft. Um zu einem anderen Verhältnis von Theorie und Praxis zu kommen, müsste man zunächst einmal begreifen, dass ‚Übersetzer sein‘ heißt, sich sowohl theo‐ retisch wie praktisch mit dem Phänomen Übersetzen zu beschäftigen. Die Be‐ zeichnung ‚praktischer Übersetzer‘ ist eine einseitige Beschränkung und inso‐ fern unsinnig, da doch auch jede Theorie immer schon selbst eine Gestalt von Praxis ist. In welche abstrakten Gefilde Theorie auch führen mag - etwa in die Beantwortung der Frage ‚Was ist Übersetzung? ‘ -, sie ist immer schon auf die praktische Umsetzung des Gedachten aus. Die Praxis müsste akzeptieren, dass eine Theorie, die der Wesensfrage nicht aus dem Weg geht, nicht nur nicht nutzlos ist, sondern immer auch über die bestehende Realität hinausgeht. Gute Theorie ist überschüssig. Als solche kann sie nicht auf ein Hilfsmittel reduziert werden, das in Ausnahmemomenten die rettende Technik zur Verfügung stellt. Sie mag in Einzelfällen den praktischen Zugriff aufs Objekt unterstützen, darü‐ ber hinaus aber stört sie, mahnt zur nochmaligen Überlegung. Wie kein anderer Text hat Walter Benjamins ‚Die Aufgabe des Übersetzers‘ diese Rolle erfüllt: als höchst abstrakter Text - von vielen Praktikern deswegen als nutzlos und elitär verschrien -, verliert er nie den Bezug zur Praxis, wie schon der Titel ankündigt. Aber statt Übersetzung in den Schemata von Dienstbarkeit und Kommunikation unterzubringen und sie als Instrument in den Händen von den Übersetzungsprozess beherrschenden Subjekten zu betrachten, versucht er, das ‚Wesen und die Würde‘ (Benjamin 1977 [1923]: 56) der Übersetzung als Form vor Augen zu führen. Denn er versucht, die Antwort auf seine Frage, was denn Übersetzung sei, „in der tiefsten Schicht der Sprachtheorie zu begründen“ (Ben‐ jamin 1980 [1916]: 151) und entzieht so der Überzeugung, eine Übersetzung sei eine möglichst genaue Wiedergabe des Sinnes eines anderen Textes, den Boden. Henri Bloemen 40 <?page no="41"?> Benjamins Überlegungen führen in unabsehbare Weiten, verlieren aber dennoch nie den Bezug zur Praxis: sie sind das Vorwort zu einer Übersetzung. Sie sind ein Stück Befreiung von jener Überzeugung, die das Übersetzen immer nur als Kommunikation, als Dienst am Leser und Verleger, kurzum als Instrument für irgendwelche Zwecke versteht. Ihr unmittelbar praktischer Nutzen ist wahr‐ scheinlich beschränkt, obwohl jemand wie Samuel Weber meint, die ‚Aufgabe‘ „remains a very practical text, not in spite of its abstractions but because of them.“ (Weber 2008: 55) Vielleicht sollten Theorie und Praxis ihre Chancen nutzen, wenn sie wieder einmal an einen Punkt gekommen sind, wo sie nicht weiterwissen, wo die einen am erreichten Wissen und die anderen am Stand der Technik verzweifeln. Solche Momente sind gar nicht so selten, vielleicht gibt es derer gar zu viele, und man hat sich allzu sehr daran gewöhnt. Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. 1969. „Marginalien zu Theorie und Praxis.“ In: Ders. Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 169-191. —1980. Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter. 1977 [1923]. „Die Aufgabe des Übersetzers.“ In: Ders. Illuminationen. Ausgewählte Schriften. 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Praktische Übersetzer kamen im Laufe der Ge‐ schichte traditionell nur dann zu Wort, wenn sie sich rechtfertigen mussten, und Übersetzungswissenschaftler schauen viel zu selten aus ihrem Elfenbeinturm, u. a. auch, weil das praktische Literaturübersetzen für eine akademische Lauf‐ bahn irrelevant ist. Aber das Blatt scheint sich langsam zu wenden. Die inzwi‐ schen als Forschungsgegenstand konsolidierte (Un)Sichtbarkeit des Übersetzers hat sicherlich dazu beigetragen. Sie ist in den letzten Jahren vor allem in den angelsächsischen Translation Studies dank der viel rezipierten Arbeiten Law‐ rence Venutis (2008) ein prominent behandeltes Thema, das mehrere Facetten aufweist. Das Verständnis von (Un)Sichtbarkeit bezieht sich hauptsächlich (1) auf die Person des Übersetzers als (Mit)Autor des Zieltextes und deren Aner‐ kennung im literarischen Feld (d. h. seitens der Verlage, der Medien und der kulturfördernden Institutionen); (2) auf die konkrete Übersetzungsarbeit im Text oder (3) auf das Übersetzen als kulturelle Praxis, als Prozess (mit den ent‐ sprechenden Produkten) (Emmerich, 2013: 200). Dieser Beitrag möchte das Au‐ genmerk auf eine Form von Sichtbarkeit richten, die unter die erste Variante fällt und den praktischen Literaturübersetzer als einen Autor präsentiert, der über sein eigenes Tun theoretisch reflektiert. Von der Theorie aus betrachtet wäre dieser Ansatz auch im Rahmen der so‐ genannten Translator Studies (Chesterman 2009) einzubetten, die in den letzten Jahren die Person des literarischen Übersetzers als Akteur vorwiegend aus drei Perspektiven - kulturell, kognitiv und soziologisch - in den Forschungsmittel‐ punkt gestellt haben. Autoren wie der bereits erwähnte Venuti, Douglas Ro‐ <?page no="44"?> binson (1991) oder Rainer Kohlmayer (2002) haben die Weichen dafür gestellt, und es sind weitere bereichernde Ansätze dazu gekommen, bspw. Jeremy Mundays (2014) Vorschlag, eine Alltagsgeschichte der Übersetzer und der Über‐ setzung zu schreiben, sowie Albrecht Buschmanns (2015b) Plädoyer für eine Ermöglichungsforschung, die den Weg für eine praxisorientierte Theorie des literarischen Übersetzens ebnet. Allen gemeinsam ist das Interesse an einem offenen und gleichberechtigten Dialog zwischen Theorie und Praxis. Seitens der Praxis gibt es, sofern ich es sprachlich verfolgen kann, zunehmend literarische Übersetzer, die in Form von Interviews, Sammelbänden oder Bü‐ chern auf Eigen- oder Fremdinitiative einen Einblick in ihre Arbeitswelt mit der entsprechenden Reflexion über ihr Tun gewähren (u. a. auf Deutsch: Leupold/ Raabe 2008, Leupold/ Passet 2012, Knott/ Witte 2014, Englisch: Grossmann 2010, Französisch: Gansel 2014, Spanisch: Calvo 2016). Das Zeitalter der neuen Tech‐ nologien trägt natürlich mit neuem Material in Form von DVDs (Spurwechsel 2003), Audiodateien (Literarisches Colloquium Berlin 2015) oder Blogs (Carpin‐ tero 2015 und 2016, Fondebrider 2009) dazu bei. Auch dort gibt es wertvolle Informationen, die als Grundlage und Inspiration für diese praxisorientierte Theorie des literarischen Übersetzens fungieren können. Die Gemeinsamkeiten in der Reflexion von Übersetzern, die sich gegenseitig wenig oder kaum rezipiert haben, sind zum Teil erstaunlich und sollen im Folgenden anhand eines Beispiels erläutert werden. Im Fokus stehen Swetlana Geier (1923-2010) und Miguel Sáenz (1932), beide Vorzeigefiguren der literarischen Übersetzung ins Deutsche bzw. ins Spanische, die in den letzten Jahren ihre Gedanken zum Übersetzen direkt oder indirekt verfasst haben. Nach einer biografischen Annäherung an beide Personen werden ihre Grundgedanken über das Literaturübersetzen, wiederum geteilt in Theorie und Praxis, zusammengefasst und miteinander verglichen. Abschlie‐ ßend wird die Nutzbarkeit solcher Reflexionen sowohl für die Übersetzungs‐ wissenschaft als auch für die Didaktik des literarischen Übersetzens themati‐ siert. 2. Swetlana Geier und Miguel Sáenz - ein Leben im Zeichen der Übersetzung Swetlana Geier wird 1923 als einziges Kind russischer Eltern bei Kiew geboren. Auf Initiative der Mutter, die Sprachen als eine Art Lebensversicherung für ihre Tochter sieht, erhält sie ab dem sechsten Lebensjahr Deutschunterricht bei einer Privatlehrerin (Literarisches Colloquium Berlin 2015: I, 02: 14). 1937 wird der Vater im Zuge der stalinschen Säuberungen verhaftet und ein Jahr lang inhaf‐ Belén Santana López 44 <?page no="45"?> tiert. Nach dessen Entlassung ist Swetlana Geier für die Pflege des Vaters zu‐ ständig, der sieben Monate später an den schweren Folgen des Gefängnisauf‐ enthalts stirbt. Am Vorabend des Kriegsausbruchs feiert Swetlana Geier ihr Abitur. Kiew wird von der deutschen Wehrmacht eingenommen und das junge Mädchen tritt bei einem deutschen Kommandeur als Dolmetscherin in den Dienst. Später arbeitet sie als Übersetzerin am geologischen Institut und bei einer deutschen Brückenbaufirma in Kiew. 1943 übersiedelt Geier als Mitarbei‐ terin der Firma mit ihrer Mutter nach Dortmund, wo sie in einem „Ostarbeiter‐ lager“ landen. 1944 reisen beide Frauen mit der Hilfe eines deutschen Wohltäters nach Berlin, wo Swetlana Geier eine Begabtenprüfung ablegt und ein Hum‐ boldt-Stipendium erhält. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft und der vergleichenden Sprachwissenschaft an der Freiburger Universität übernimmt Geier ab 1945 unterschiedliche Lehrstellen für Russisch auf Schul- und Hoch‐ schulebene, u. a. in Freiburg und Karlsruhe. 1957 wird ihre erste Übersetzung, Lazarus von Leonid Andrejev, in der Klassikerreihe bei Rowohlt veröffentlicht. Geier übersetzt in Folge weitere Bände, schreibt Einführungen dazu und lehrt ununterbrochen. 1994 erscheint der erste Band der großen Romane Fjodor Dos‐ tojewskis, Verbrechen und Strafe, in ihrer Neuübersetzung, dann folgen vier weitere „Elefanten“. Sowohl davor als auch danach bekommt Swetlana Geier mehrere Auszeichnungen für ihre Übersetzungsleistung. Im selben Jahr müssen die Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm über sie - Die Frau mit den fünf Elefanten ( Jendreyko 2009) - anlässlich des Arbeitsunfalls und nachfolgenden Todes ihres Sohnes Johannes unterbrochen werden. Der Film kommt zwei Jahre später in die Kinos. Swetlana Geier stirbt im November 2010 nach dreimona‐ tigem Krankenlager in ihrem Haus in Freiburg-Günterstal. Ihre Reflexionen zur Übersetzung in Form von Gesprächen und Interviews sind vorwiegend in zwei Büchern zu finden: Leben ist Übersetzen, herausgegeben von Lerke von Saalfeld (2008) und Ein Leben zwischen den Sprachen, aufgezeichnet von Taja Gut (Geier/ Gut 2013). Miguel Sáenz wird 1932 in Larache (Marokko) - damals spanisches Protek‐ torat - als drittes von vier Kindern spanischer Eltern geboren und verbringt die ersten 21 Lebensjahre in Nordafrika. Der Vater war ein hoher Offizier des spa‐ nischen Militärs in Sidi Ifni, und das Leben im Territorio hat Sáenzʼ Kindheit stark geprägt - vor allem sein Sprachgefühl und das Interesse, genauer gesagt die Liebe für das Fremde werden schon früh geweckt (Sáenz 2017: 36). Als Kind hat Sáenz Französisch, Griechisch und Latein in der Schule gelernt. Danach kommt Englisch und etwas später Deutsch dazu. Um 1950 fährt Sáenz auf die Kanaren zum Jurastudium, das er in Madrid mit der Promotion abschließt. Mitte der sechziger Jahre bekommt er eine Stelle in der spanischen Übersetzerabteilung Übersetzungstheorie aus der Praxis 45 <?page no="46"?> der Vereinten Nationen in New York, wo er mit Kollegen aus dem spanisch‐ sprachigen Exil in Kontakt tritt. Diese Lebensphase beschreibt Sáenz als beson‐ ders lehrreich (Sáenz 2013a: 160), u. a. was die Varietäten der spanischen Sprache und das Übersetzen als kollektive Tätigkeit betrifft. Die nächste UN-Station ist Wien, schon mit einem Senior-Status als Übersetzer und Korrekturleser. Jahre später geht er zurück nach Spanien, wo er in Madrid an der Universidad Com‐ plutense eine Dozentenstelle am Institut für moderne Sprachen und Überset‐ zung antritt, während er praktisch ununterbrochen als Freiberufler für ver‐ schiedene UN-Organisationen arbeitet und viel um die Welt reist. Nach der definitiven Rückkehr nach Spanien ist er in erster Linie als Jurist tätig und widmet sich abends der literarischen Übersetzung. Sáenzʼ Liebe zur deutschen Sprache und Kultur setzt verhältnismäßig spät ein, als er schon in Spanien lebt und als Lektor bei einem wichtigen Verlag mitagiert. Aufgrund seiner Deutsch‐ kenntnisse wird er mit der Begutachtung von deutschsprachigen Autoren be‐ auftragt, und erst daraufhin studiert er Germanistik. Dann kommt der Auftrag, Der Butt von Günter Grass ins Spanische zu übertragen - dies ist der Anfang einer fruchtbaren Übersetzerkarriere. Obwohl Sáenz auch aus anderen Sprachen übersetzt, ist er hauptsächlich für seine Übersetzungen der wichtigsten deutsch‐ sprachigen Autoren (u. a. Brecht, Döblin, Dürrenmatt, Goethe, Kafka, die Roths, Sebald, Schnitzler, Weiss, Winkler) bekannt und dafür mehrfach geehrt worden. Er ist für die Einführung von Thomas Bernhard in die spanischsprachige Lite‐ raturwelt zuständig und ebenfalls als Stammübersetzer von Günter Grass be‐ kannt. Seit 1999 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dich‐ tung. 2012 wird er als erster Literaturübersetzer Mitglied der Real Academia Española, der spanischen Sprachakademie. Sáenz ist als Übersetzer und Autor nach wie vor aktiv und engagiert sich in der Verteidigung von Übersetzer‐ rechten. Seine theoretische Reflexion zur Übersetzung wurde 2013 in dem Band Traducción. Dieciocho conferencias nada magistrales y dos discursos de circuns‐ tancias zusammengefasst. 2017 erscheint der autobiografische Roman Terri‐ torio. Miguel Sáenz lebt und arbeitet in Madrid. Wenn man beide Biografien miteinander vergleicht, stellt man fest, dass Geier und Sáenz schon als Kinder mit Fremdsprachen in Kontakt kommen und - wenn auch z. T. gezwungenermaßen - in einem multikulturellen Umfeld aufge‐ wachsen sind. Bei Geier war das Übersetzen eine Rettung, bei Sáenz der Schlüssel zu einer neuen Welt, die schließlich bei beiden zu einem Nebenberuf wurde. Sowohl Geier als auch Sáenz haben ihre übersetzerische Tätigkeit zu‐ mindest zeitweise mit der Lehre kombiniert, und ihre Gedanken dazu nieder‐ geschrieben bzw. niederschreiben lassen. Auch wenn beide Übersetzer laut An‐ gaben von Miguel Sáenz sich praktisch kaum rezipiert haben, findet man in ihren Belén Santana López 46 <?page no="47"?> 1 „Man übersetzt nicht Sprachen: man übersetzt einen geschriebenen Text aus einer Sprache in einen geschriebenen Text in einer anderen Sprache, was nicht dasselbe ist.“ Diese und die nachfolgenden Übersetzungen stammen von Vera Elisabeth Gerling. Schriften gemeinsame Themen, die einen Brückenschlag von der Praxis in die Theorie ermöglichen. 3. Gemeinsame Themen bei Swetlana Geier und Miguel Sáenz 3.1 Übersetzungstheorie - und es gibt sie doch! 3.1.1 (Un)Übersetzbarkeit als Grenzerfahrung Der Begriff ‚Übersetzungstheorie‘ setzt die Existenz und die (gegebenenfalls begrenzte) Möglichkeit ihres Hauptgegenstandes, nämlich der Übersetzung, voraus. Darüber hinaus würde man von einem professionellen Übersetzer mit langjähriger Erfahrung - auch in der Lehre - vielleicht nicht erwarten, dass er seine Tätigkeit grundsätzlich in Frage stellt, aber genau das ist bei Swetlana Geier der Fall gewesen, besonders in den Anfängen ihrer Karriere. Geiers Grundeinstellung beim Übersetzen war immer der Blick auf einen defizitären Vorgang, „[w]eil die Sprachen nicht kompatibel sind“ (Geier/ Gut 2013: 117). Den sogenannten Transportverlust illustriert sie an der unterschiedlichen Sub‐ jekt-Objekt-Beziehung im Russischen und im Deutschen (2013: 112) oder an der phonetischen Wirkung bestimmter Wörter - und genau das, was man beim Übersetzen nicht herüberbringe, hat Geier als junge, neugierige Frau interessiert (Literarisches Colloquium Berlin 2015: I, 15: 22). Im Hintergrund steht der hum‐ boldtsche Gedanke der gleichwertigen Beherrschung von Ausgangs- und Ziel‐ sprache als Voraussetzung beim Übersetzen: „Man muss übersetzen, nicht um die Menschen zu beglücken, sondern um seine Muttersprache eigentlich besser zu begreifen“ (Literarisches Colloquium Berlin 2015: IV, 20: 30). Miguel Sáenzʼ Einstellung beim Übersetzen hingegen war von Anfang an wohlwollender. Obwohl er in Anlehnung u.a. an Ortega y Gasset ebenfalls von der Inkompatibilität einzelner Wörter wie Wald im Deutschen und bosque im Spanischen, bzw. house im Englischen und maison im Französischen ausgeht (2013a: 27), ist für Sáenz grundsätzlich klar, dass man Texte und keine Sprachen übersetzt: „No se traduce entre lenguas: se traduce un texto escrito en una lengua a otro texto escrito en una lengua distinta, lo que no es lo mismo.“ 1 (Sáenz 2013a: 47) Der erweiterte Blick auf den Text ebnet bei Sáenz den Weg für die Übertra‐ gung nicht nur einzelner Wörter oder Sätze, sondern dessen, was sie sagen, was wiederum - in Anlehnung an Umberto Eco (2006) - nicht dasselbe ist; und da‐ Übersetzungstheorie aus der Praxis 47 <?page no="48"?> 2 „Wenn jeder Mensch ständig übersetzt, dann unterscheidet sich der Literaturübersetzer von ihm durch eine Art Sehnsucht nach dem Ganzen. Der Literaturübersetzer will alles übersetzen.“ rüber hinaus nicht nur von dem, was der Autor sagt, sondern von dem, was er sagen wollte (2013a: 27). Die Kernfrage dabei ist, inwieweit sich die Grenzen der Zielsprache ausdehnen bzw. verzerren lassen, um das Neue auszudrücken (2013a: 28f.). Trotz Geiers Pessimismus und Sáenzʼ Skepsis sind beide Übersetzer nach ihrer lebenslangen Berufserfahrung zu dem gleichen Schluss gekommen: „Das Über‐ setzen ist möglich, aber nur in bestimmten Grenzen“ (Geier/ Gut 2013: 117). Deshalb spricht Geier von einer „unendlichen Annäherung“ (2008: 144). Um diese Grenzen und um den sogenannten Übersetzungstrieb, der ihr Überwinden ermöglicht, soll es im Folgenden gehen. 3.1.2 Übersetzung als Urtätigkeit, Liebesakt und Lebensform Sowohl bei Geier als auch bei Sáenz findet man den - von Novalis in seinem Brief an Schlegel geprägten - Begriff des ‚Übersetzungstriebs‘ wieder: „Si todo hombre traduce, continuamente, lo que distingue al traductor literario es una especie de ansia de totalidad. El traductor literario quiere traducirlo todo.“ 2 (Sáenz 2013a: 48-49) Dieser Trieb beruht laut Geier auf der menschlichen „Sehn‐ sucht nach Identität, nach Vollkommenheit. Nach dem Original. [...] Und das ist natürlich der Reiz, und das eigentliche Humane am Übersetzen. Weil, weil wir, ohne es zu wissen, immer übersetzen. Auch jetzt.“ (Geier/ Gut 2013: 111) Geprägt von derselben Tradition des deutschen Idealismus, verstehen beide Übersetzer ihre Arbeit als die menschlichste Betätigung überhaupt, die sich aus der bereits erwähnten (Un)Übersetzbarkeit ergibt. Der Versuch, die Sehnsucht nach dem Original zu stillen, wirkt sich auf zwei Ebenen aus: einer persönlichen Ebene, in der das Übersetzen eine Urtätigkeit des Menschen darstellt, und einer kollektiven Ebene, in der das Übersetzen als dreifacher Liebesakt verstanden wird. Beide Dimensionen verbinden sich in dem Verständnis vom Übersetzen als Lebensform. Zum einen geht es beim Übersetzen um ein persönliches, fast existenzielles Anliegen, dem man sich nicht entziehen kann, sogar um eine Charaktereigen‐ schaft: Ich habe mich nie als Übersetzerin gesehen. Auch heute, nach fünfzig Jahren, nicht. Eigentlich spreche ich darüber nicht gerne - Nein. Ich glaube, ich fühle mich einfach als mich selber. Ich lebe gern, ich atme gern. Und Übersetzen ist eine Form zu atmen. (Geier/ Gut 2013: 124) Belén Santana López 48 <?page no="49"?> 3 „Zweifelsohne ist die Übersetzung eine Suchtdroge. […] Der eingefleischte Übersetzer folgt dem unwiderstehlichen Drang zu übersetzen, alles zu übersetzen oder zumindest jedes Werk zu übersetzen, das ihm zusagt.“ 4 „Es liegt in der Natur dieser Art des [literarischen] Übersetzens, dass es nur gut gelingen kann, wenn man liebt, was man übersetzt.“ 5 „Jemand hat behauptet, übersetzen sei wie Freunde haben, die herausragende Persön‐ lichkeiten sind, und sie anderen noch unbekannten Freunden, also den Lesern vorzu‐ stellen.“ Für Geier ist das Übersetzen eine Urtätigkeit, die zu den Grundnotwendigkeiten des menschlichen Seins gehört (2013: 125), man kann sich nicht von dieser Arbeit beurlauben lassen. Dieser Übersetzungswille, sorgfältig und genau zu sein, kommt einer Sucht gleich, die laut Geier nicht ungestraft bleibt. Interessanter‐ weise findet man bei Sáenz genau das Bild der Sucht und den Willen zur Voll‐ kommenheit wieder: „Lo que parece indudable es que la traducción es una droga adictiva. [...] El traductor de raza siente el impulso irresistible de traducir, de traducirlo todo o, al menos, de traducir toda obra literaria que le agrada.“ 3 (Sáenz 2013a: 156) Allerdings ist Sáenzʼ übersetzerische Motivation im Vergleich zu Geiers vielleicht bodenständiger. Man darf nicht vergessen, dass Sáenz immer neben einer anderen - nicht nur mit dem Übersetzen verbundenen - Haupttä‐ tigkeit Literatur übersetzt hat. Laut Sáenz wäre das eigene, kreative Schreiben nach einem achtstündigen Arbeitstag zu anstrengend gewesen, während das literarische Übersetzen, die Interpretation der Partitur eines Anderen hingegen eine Freude und eine Erleichterung darstelle (Sáenz 2013a: 156). Über die außer‐ ordentliche Leistungsfähigkeit dieser beiden Übersetzer lieβe sich lange reden, sie zeichnet sich aber in beiden Fällen dadurch aus, dass Geier und Sáenz prak‐ tisch nur das übersetzt haben, was sie übersetzen wollten. Deshalb verstehen beide ihre Urtätigkeit als Liebesakt. Dieser Liebesakt vollzieht sich bei Sáenz in drei Richtungen: Zum Ersten geht es um die Liebe zum Autor oder zum Werk, das man übersetzt: „[P]or la natu‐ raleza misma de ese tipo de traducción [literaria], es imposible realizarla bien si no se ama lo que se traduce“ 4 (Sáenz 2013a: 38). Zum Zweiten versteht Sáenz die literarische Übersetzung als Versuch, den Anderen besser zu verstehen; als Maßnahme gegen die Angst; als Lernmittel, um den Anderen zu lieben (2013a: 38). Dies soll vor dem Hintergrund einer Weltliteratur geschehen, die keine glo‐ bale Standardkost, sondern ein mehrgängiges Menü aus aller Herren Länder biete und die Entstehung von Fusionsgerichten ermögliche (2013a: 31). Zum Dritten sieht Sáenz die Übersetzung als Freundschaftsangebot auf einer kollek‐ tiven Ebene, in die der Wunsch des Einzelnen eingeht: „Alguien ha dicho que traducir es como tener amigos que son personas excepcionales y querer pre‐ sentárselos a otros amigos todavía desconocidos, que son los lectores” 5 (2013a: Übersetzungstheorie aus der Praxis 49 <?page no="50"?> 6 „Die Übersetzung ist nicht einfach eine wilde Ansammlung von Entscheidungen, son‐ dern ein harmonisches Gebilde von Entscheidungen, die auf bestimmten Regeln und Kriterien beruhen.“ 180). Geier hat diesen letzten kollektiven, solidarischen Anspruch den Lesern gegenüber zwar nicht, sie kann sich aber kaum vorstellen, einen Autor zu über‐ setzen, den sie nicht liebt. Daran knüpft Geier ein relativ strenges Auswahlkri‐ terium: „Literatur oder nicht Literatur. [...] man muss nicht alles übersetzen. Ich bin für Strenge, für Auswahl, und auch für Rücksicht“ (von Saalfeld 2008: 17). Nur die ganz Großen und dazu noch ohne Abgabefrist übersetzen zu können, sind großartige Arbeitsbedingungen, wie sie kaum jemand hat, räumt Geier ein (Geier/ Gut 2013: 140). Zusammenfassend stellt man fest, dass sowohl Geier als auch Sáenz das Übersetzen als Grundnotwendigkeit des menschlichen Seins und damit als Lebensform verinnerlicht haben: „Nirgendwo im Leben ist der Zwang von dieser Art, und der macht irgendwie süchtig. Es ist einfach eine Form zu leben“ (2013: 157). 3.1.3 Übersetzung als Ganzes - „Nase hoch beim Übersetzen! “ Die Übersetzung als sinnliches Erleben der Grenze ist für Geier nur dann mög‐ lich, wenn man den Text als Ganzes nimmt. Schon als junges Mädchen wurde ihr von einer Deutschlehrerin beigebracht, dass man sich vom Ausgangstext lösen solle - „Nase hoch beim Übersetzen! “ ist daraufhin und nicht ohne Miss‐ verständnisse seitens der Kritik ihr Berufsmotto geworden. Das klingt zwar wie eine Metapher, ist aber ganz real gemeint: „Die Übersetzung ist keine Raupe, die von links nach rechts kriecht, sondern die Übersetzung entsteht immer aus dem Ganzen“ ( Jendreyko 2009: 45: 11). Voraussetzung ist allerdings, dass man sich vorher den Text absolut aneignet - „Ich weiß, was auf jeder Seite steht und wie das so geht“ ( Jendreyko 2009: 08: 46) - und zudem als Ganzes liebt. Die Idee des Ganzen, ebenfalls aus der deutschen Tradition von Novalis stammend, wird auf den Zieltext übertragen. Bei der Übersetzung geht es nicht um einzelne unge‐ schickt oder fehlerhaft eingesetzte Worte, das Ganze ist sogar der Maßstab für die Gültigkeit einer Übersetzung (Geier/ Gut 2013: 150). Sáenz vertritt den glei‐ chen Ansatz, wenn er das Übersetzen als eine Summe richtiger Entscheidungen definiert: „La traducción no es solo un cúmulo desordenado de decisiones, sino un conjunto armónico de decisiones tomadas con arreglo a unas pautas y a unos criterios.“ 6 (Sáenz 2013a: 49) Die einzelnen Entscheidungen beeinflussen sich gegenseitig und bilden sozusagen den Fahrplan des Übersetzers für den Text als Ganzes - Sáenz benutzt hierfür das Bild des Schmetterlingseffekts nach dem Meteorologen Edward Lorenz, wonach kleine Ereignisse unvorhersehbare Aus‐ wirkungen haben können, Geier hingegen die Idee des Fadens, der im (Text)Ge‐ Belén Santana López 50 <?page no="51"?> 7 „Der Wert einer Übersetzung kann sich nicht anhand von Bruchstücken beurteilen lassen, sondern nur durch die gemeinsame Betrachtung der Fehler und der Leistungen, gemeinsam betrachtet sind sie weit mehr als die Summe ihrer Teile.“ webe seine Orientierung finden muss. Dieser holistische Ansatz wirkt sich auf das Verständnis von Übersetzungskritik aus. In Anlehnung an Dedecius plädiert Sáenz für eine Kritik, die den Zieltext nicht aufgrund einzelner Fehler beurteilt, sondern als mehrwertiges Ganzes wahrnimmt: „El valor de una traducción no puede juzgarse de forma fragmentaria, sino solo por la relación entre sus errores y sus méritos en conjunto, un conjunto que siempre es mucho más que la simple suma de las partes.“ 7 (Sáenz 2013a: 75) Die Entfernung vom Ausgangs- und vom Zieltext ist schließlich ein Zeichen von Uneigennützigkeit, der Beweis, dass man dem Text immer zu Diensten stehe. Beide Übersetzer möchten ihre Leser vor dem Fehler gewarnt wissen, den Ausgangstext verbessern zu wollen, und be‐ kennen sich zur bescheidenen Aufgabe des Kopisten (Sáenz 2013a: 79). Bei Geier führt dies wieder zum Ausgangspunkt und damit zur Unübersetzbarkeit: „Im Grunde aber, sehen Sie, bin ich gar nicht dafür, dass man mit den Übersetzern viel Aufhebens macht, weil mir dann immer einfällt, dass Übersetzen etwas ist, das eigentlich gar nicht geht.“ (Geier/ Gut 2013: 144) 3.2 Übersetzungspraxis ‒ Kunst oder Handwerk? 3.2.1 Der Übersetzer als Interpret Was die konkrete Übersetzungspraxis anbelangt, greifen sowohl Geier als auch Sáenz auf das klassische Bild des Übersetzers als Musikinterpreten zurück. Geier geht es erneut um die Auffassung des Originals als Ganzes, das man zunächst durch mehrmaliges Lesen verinnerlichen muss: „Es geht um die Worte, Pausen, Übereinstimmungen [...]. Der erste Satz in Verbrechen und Strafe kann nicht ohne den letzten Satz übersetzt werden. Es ist etwas, was ein Musiker sofort versteht: erster Ansatz im Bewusstsein des Schlussakkordes.“ ( Jendreyko 2009: 20: 00) Sáenz führt seinerseits das in seinen Augen geglückte Bild des Übersetzers als Interpret einer Wortpartitur (2013a: 163) sehr viel weiter, sieht dabei aber ge‐ wisse Einschränkungen. Ausgehend von der Tatsache, dass man nicht nur den Liedtext, sondern auch die Melodie, nicht nur das Thema, sondern auch seine Entwicklung, kurzum: nicht nur die Worte, sondern auch die Musik übertragen soll, definiert Sáenz den Übersetzer als Autor von etwas Neuem, als jemand, der andere Instrumente benutzt, um zum gleichen Klangeffekt wie der Komponist zu kommen: „[El traductor literario es] un verdadero creador que utiliza otros Übersetzungstheorie aus der Praxis 51 <?page no="52"?> 8 „[Der Literaturübersetzer ist] ein wahrer Schöpfer, der andere Instrumente, ein anderes Orchester benutzt, um das gleiche Ergebnis zu erzielen.“ instrumentos, otra orquesta, para tratar de conseguir los mismos resultados.“ 8 (Sáenz 2013a: 37f.) Daraus könnte man schließen, dass es beim Übersetzen auf die Orchesterbesetzung ankommt. Und nun die Einschränkung: laut Sáenz steht der Übersetzer im Vergleich zum Musikinterpreten in der schwächeren Position, denn er hat keine Vorgaben, weder zur Tonlage noch zum Takt, und muss all die Informationen der Partitur entnehmen. Hat der Übersetzer ein gutes Ohr, wird er die nötigen Vorgaben finden, die Unterschiede zwischen seinem und dem Instrument des Originals wahrnehmen, die ihn ggf. zu bestimmten Trans‐ positionen und einem unvermeidlichen Atmosphärenwechsel zwingen (Sáenz 2013a: 104f.). Daraus erschließt sich automatisch die Möglichkeit vieler Inter‐ pretationen und damit vieler, stets alternder Übersetzungen sowie das Ver‐ ständnis vom literarischen Text als die Summe des Originals und seiner Über‐ setzungen im Sinne Walter Benjamins. Die Frage der Empathie zwischen Autor (Komponist) und Übersetzer (Inter‐ pret) erläutert Sáenz ebenfalls in Anlehnung an die Musik; sie ebnet den Weg für fruchtbare Kontroversen darüber, ob jeder alles übersetzen kann bzw. ob es analog zur Musik so etwas wie übersetzerische Stimmlagen gibt, ob ein Autor immer von derselben Person übertragen werden muss, ob die Übersetzerstimme mit der Zeit nachlässt oder erst im Alter für einen spezifischen Autor reif ist. Wichtig ist jedenfalls, dass das Instrument - die Sprache - gut gestimmt sei: wohl temperiert und möglichst offen für die Dissonanzen des Originals. Aller‐ dings arbeitet der Übersetzer im Unterschied zum Musikinterpreten immer im Aufnahmestudio: Er kann sich zwar nicht auf die unmittelbare Reaktion des Publikums verlassen, kann dafür aber neu ansetzen und die Details korrigieren. Eine letzte Parallele, die Sáenz zur Musik zieht, betrifft die Übersetzerausbil‐ dung. Das musikalische Gehör könne man schulen, aber ein großer Interpret werde man nicht allein durch den Besuch der Musikhochschule, denn zusätzlich zur Elementar-, Harmonie und Kompositionslehre brauche man eine gewisse Gabe, die sich nicht unbedingt unterrichten lasse. 3.2.2 Der Übersetzer in seinem Gehäuse Die Idee des Übersetzers als interpretierender Mensch führt direkt zur Person und zu den Umständen, die seine Arbeit begleiten. Inspiriert vom Gemälde Der heilige Hieronymus im Gehäuse (ca. 1475) des italienischen Malers Antonello da Messina und vom Gehäuse selbst als Bild für den menschlichen Leib als Hülle der Seele, spricht Geier vom persönlichen Charakter einer Übersetzung und da‐ Belén Santana López 52 <?page no="53"?> 9 „Ob er es will oder nicht, der Übersetzer ist immer Kind seiner Zeit. Und nicht nur seiner Zeit, sondern auch seines Lebensalters.“ durch auch von ihren Grenzen: „Es [das Gehäuse] ist die irdische, vorgezeich‐ nete, unabweisliche Voraussetzung des Übersetzers. Der Übersetzer übersetzt stets und nur im Rahmen seiner biografischen Begebenheiten. Er kann nicht aus sich aussteigen.“ (Geier/ Gut 2013: 121) Die Persönlichkeit des Übersetzers ist für Geier genauso unabdingbar wie die grundsätzliche Inkongruenz zwischen den Sprachen. Dies hat zur Folge, dass eine Übersetzung als „gehäusebedingter und -gerechter“ Text, im Unterschied zum Original, immer sterblich ist: „Es ist klar, das Gehäuse wird schütter, und es wird oft auf eine sehr eindrucksvolle Weise älter“ (von Saalfeld 2008: 8). Bis auf glückliche Ausnahmen, wie für Geier z.B. die Schlegel-Tieck-Übersetzung von Shakespeare, plädiert sie deswegen sehr ausdrücklich für die Neuübersetzung von „lebenswichtigen“ Büchern, zum einen aus der bereits erwähnten Sehnsucht nach dem unerreichbaren Original und dem Bewusstsein über die Grenzen des eigenen Gehäuses, zum anderen aufgrund sich wandelnder Übersetzungstraditionen: „Jede Übersetzung ist das Kind ihrer Zeit. Die nächste Generation wird sich andere Freiheiten erlauben“ (Literarisches Colloquium Berlin 2015: III, 03: 58). Sáenz sieht ebenfalls einen unausweichlichen Zusammenhang zwischen der Arbeit des Übersetzers und seinen erworbenen Kenntnissen, seinen Lektüren, seinem Elternhaus und seinen Lehrern, einen Bezug zu den Orten, an denen er sich aufgehalten hat, und drückt es in fast denselben Worten wie Geier aus: „[L]o quiera o no, un traductor es hijo de su época. Y no sólo de su tiempo sino también de su edad.“ 9 (Sáenz 2013a: 148) Im Unterschied zu Geier zeigt sich Sáenz etwas skeptischer bezüglich der absoluten Notwendigkeit von Neuübersetzungen; er nennt ebenfalls das positive Beispiel der deutschen Shakespeare-Übersetzung und ist der Meinung, dass bestimme Übersetzungen auch einen Klassikerstatus erreichen können. Bei der Übertragung eines Klassikers gibt es laut Sáenz drei Grundsätze oder Leitbegriffe: Respekt vor dem Original, Vertrauen in den Leser und die Freiheit, das Original immer wieder und neu zu interpretieren. Deshalb bevorzugt er das Bild des Übersetzers von Klassikern als Restaurator von Ge‐ mälden (vgl. Sáenz 2013a: 35f.). Genauso wie sie sich über die Zeitgebundenheit von Übersetzungen einig sind, schätzen sowohl Geier als auch Sáenz das Alter und damit die Erfahrung als Mehrwert für die Übersetzung bestimmter Texte, zum einen, weil man mehr weiß, zum anderen, weil man sich vielleicht mehr traut. So meint Geier zur Übersetzung von Schuld und Sühne: „Ich gestehe er‐ rötend, dass auch mir bei meiner ersten Übersetzung der Mut gefehlt hat, gegen den Strom zu schwimmen, und nur eine Fußnote sollte mein professionelles Übersetzungstheorie aus der Praxis 53 <?page no="54"?> 10 „Daher muss jemand, der Literaturübersetzer werden möchte, auch wenn es masochis‐ tisch ist, zuallererst einen Weg finden, sich das Leben zu finanzieren.“ Gewissen beruhigen“ (Geier/ Gut 2013: 151). Es kommt vielleicht nicht von un‐ gefähr, dass beide Übersetzer erst in einer späteren Lebens- und Arbeitsphase ihre theoretische Reflexion zu Papier gebracht haben. 3.2.3 Das Übersetzen als Beruf Wie bereits erwähnt, sind die Arbeitsbedingungen sowohl von Geier als auch von Sáenz untypisch für den Beruf, denn beide wählen das, was sie übersetzen, praktisch selbst aus bzw. übersetzen fast nur das, was sie mögen. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass keiner von beiden hauptberuflich Literatur übersetzt oder übersetzt hat. Geier hatte sogar nie im Sinn, literarische Übersetzung als Beruf zu wählen, und fühlt sich eher unwohl, wenn sie danach gefragt wird: „Ich wollte es [das Übersetzen] weder als Beruf, noch damit Geld verdienen“ (Literarisches Colloquium Berlin 2015: I, 15: 00). Sáenz äußert seinen Pessimismus in Bezug auf die prekären Arbeitsbedingungen der literarischen Übersetzer in Spanien und sieht einen Ausweg in der Kombination verschiedener Tätigkeiten: „Por eso, quien quiera ser traductor literario, aunque sea masoquista, lo primero que debe hacer es buscar una forma de ganarse la vida de otro modo.“ 10 (Sáenz 2013a: 39) Trotz dieser etwas radikalen Haltung hat Sáenz ein starkes Berufsethos, er kennt die spezifische Problematik der Literaturübersetzer - ob haupt- oder nebenbe‐ ruflich - sehr gut und nutzt jede Gelegenheit, ihre Arbeit und ihre Rechte zu verteidigen, so z. B. in seiner Antrittsrede als Mitglied der spanischen Sprach‐ akademie (2013b). Obwohl die spanische Gesetzgebung aus dem Jahr 1986/ 87 im Bereich des Urheberrechts für europäische Verhältnisse relativ fortschrittlich ist, lassen die Arbeitsbedingungen von literarischen Übersetzern laut Sáenz in puncto Bezahlung, Einhaltung der gesetzlichen Regelung und Umgangsformen seitens mancher Verleger sehr zu wünschen übrig. Deswegen plädiert er für das Engagement in Literaturübersetzerverbänden, die für die Rechte des Berufs‐ standes kämpfen. Trotzdem stellt Sáenz genauso wie Geier den Berufscharakter der literarischen Übersetzung grundsätzlich in Frage. Geier überträgt ihre Berufsskepsis auf die Frage der Sichtbarkeit des Über‐ setzers: Zum einen beklagt sie seinen sekundären Status innerhalb eines Verlags und wünscht sich bessere Arbeitsbedingungen für ihre Kollegen, zum anderen betrachtet sie die Unsichtbarkeit als berufsimmanent, denn „die beste Überset‐ zung ist die, die man nicht wahrnimmt“ (Geier/ Gut 2013: 141). Interessant bei Geier sind die Parallelen, die sie oft zu ganz normalen Aufgaben des Alltags zieht und die der Übersetzung - fernab vom Kunstbegriff - eine gewisse Bodenstän‐ Belén Santana López 54 <?page no="55"?> digkeit verleihen. Auch im Film Die Frau mit den 5 Elefanten ist Geier sehr oft beim Kochen, Einkaufen oder Bügeln zu sehen, denn solche Aufgaben spielen bei ihr eine bedeutende Rolle, einerseits als Ausweg aus der Hilflosigkeit, die ihr die Unübersetzbarkeit des Originals bereitet, andererseits als Zeichen dafür, dass der Zieltext reif zum Diktat ist. Geiers Übersetzungsmethode ist nämlich „ein ungeheurer Luxus“ (von Saalfeld 2008: 8): Zunächst muss sie den Text durch mehrmaliges Lesen verinnerlichen und zeitaufwändige Nebenstudien zum Werk und Autor betreiben. Dann wird ein Durchschlag von dem abgetippt, was Geier ihrer Mitarbeiterin mit möglichen Varianten aus dem Kopf diktiert, während sie das Original auf dem Schoß hält. Nach drei bis vier Wochen „Absetzungszeit“ wird über die Varianten entschieden. Dabei wird der Durchschlag von einem Musikerfreund vorgelesen, mit dem Original verglichen und nach einer Farb‐ systematik verbessert. Zuletzt wird das Ergebnis erneut abgetippt und der zweite Lesedurchgang erfolgt ganz zum Schluss, von ihrem Musiker-Wohltäter für sich im Stillen (Geier/ Gut 2013: 140). Im 21. Jahrhundert der neuen Techno‐ logien hat diese Arbeitsweise absoluten Seltenheitswert. Diese Kurzbeschrei‐ bung vermag den zwar persönlich wichtigen, aber gesellschaftlich eher un‐ scheinbaren Charakter der Übersetzung nach Geiers Auffassung zu betonen. Bei ihr fehlt die Unterscheidung zwischen Sichtbarkeit des Übersetzers im Zieltext und Sichtbarkeit des Übersetzers als wichtiger Akteur im literarischen Betrieb, wobei sie selbst ohne Zweifel durch ihre Arbeit sehr viel für die öffentliche Wahrnehmung der Übersetzerleistung getan hat (Geier/ Gut 2013: 203). Sáenz hat sich aufgrund seiner Lehrtätigkeit mit moderneren Übersetzungs‐ theorien befasst und glaubt mit Venuti an die Sichtbarkeit des Übersetzers im Text, an einen eigenen Übersetzungsstil sogar, bedingt durch sein „Gehäuse“, wobei die Freiheit durch das zu übersetzende Werk beschränkt ist. Ebenso wie Geier warnt Sáenz vor Verbesserungsallüren bezüglich des Originals (Sáenz 2013a: 148f.). Was die Sichtbarkeit des Übersetzers in der Gesellschaft als Bot‐ schafter fremder Literaturen anbelangt, steht ihre Bedeutung im Falle Sáenzʼ als erstes Übersetzermitglied der spanischen Sprachakademie außer Frage. Trotz ihrer Preise und Verdienste haben Geier und Sáenz eine bescheidene Einstellung ihrem Schaffen gegenüber - beide meiden das Rampenlicht und sind sich der Grenzen ihrer Arbeit bewusst. 3.3 Übersetzungsdidaktik - ein Schlüssel zur Theorie Im Bereich der Übersetzungsdidaktik stellt man bei Geier und Sáenz erneut ent‐ gegengesetzte Ausgangspositionen fest. Geier glaubt dezidiert nicht, dass man das Übersetzen lernen kann: „Der Studiengang ‚Übersetzen‘ ist sinnlos. Man kann übersetzen [sic] nicht lernen.“ (Geier/ Gut 2013: 110) Dennoch wird sie im Übersetzungstheorie aus der Praxis 55 <?page no="56"?> 11 „Was man lernen kann, kann man auch lehren, beispielsweise das Übersetzen.“ 12 „Wer Übersetzer ist, ist gebildet oder… ist keiner.“ Laufe der Jahre ihre Position relativieren, denn über das Interesse für den Trans‐ portverlust beim Übersetzen und den Russischunterricht ist sie zur theoreti‐ schen Reflexion gekommen, „[d]enn da muss ich mir die Sachen immer wieder klarmachen.“ (Geier/ Gut 2013: 142) Geier definiert das Übersetzen als eine un‐ lösbare Gleichung mit zwei Unbekannten, die es aber zu lösen gilt. Dafür sind gewisse Regeln einzuhalten, unter der Voraussetzung, dass man das Übersetzen als notwendige Stufe in einem Prozess des Bewusstwerdens über die Inkompa‐ tibilität von Sprachen versteht. Sáenz vertritt eine ganz andere Meinung, die er 2009 in einem Vortrag mit dem Titel „Lo que se puede aprender se puede enseñar, por ejemplo traducir“ 11 ausführlich erläutert (2013a: 159ff.). Sein Ausgangspunkt ist, dass das, was man lernt, auch gelehrt werden kann. Sáenz blickt auf sein Berufsleben als UN-Übersetzer zurück und listet die Inhalte auf, die er damals gelernt hat und die seines Erachtens für eine gute Übersetzerausbildung von Bedeutung sein könnten: ein Jurastudium als solides Fundament; Teamfähigkeit, Genauigkeit und Verantwortungsbewusstsein; das kollektive Übersetzen als ideale Lernumgebung und drei Grundsätze, die im Übersetzerhandbuch der spa‐ nischen UN-Abteilung zu Sáenzʼ Zeiten zu finden waren: terminologische Ein‐ heitlichkeit, syntaktische Klarheit und stilistische Prägnanz (2013a: 160). Diese Triade erinnert an Geiers Anweisungen zum richtigen Übersetzen: „Es sind ja drei ... es ist ja alles so simpel, jeder weiß es, und man schämt sich, wenn man es wiederholt: Die Worte müssen stimmen. Punkt. Die Dinge müssen stimmen. Mehr nicht. Der Rhythmus und die Assoziationen müssen stimmen. Und mehr nicht. Und die Worte können ja stimmen nur in einem bestimmten Grade“ (Literarisches Colloquium Berlin 2015: IV, 14: 56). Was die Übersetzerausbildung anbelangt, nennt Sáenz weitere Elemente: ein solides Allgemeinwissen („Un buen traductor será culto… o no será“ 12 , Sáenz 2013a: 165), die Beherrschung technischer Hilfsmittel und die berufsethische Komponente. Er setzt sich für eine Zusammenarbeit unterschiedlichster Lehrinstitutionen ein und schätzt die Erfahrung, im Sinne des gesunden Menschenverstands, als etwas, was ebenfalls gelernt und gelehrt werden kann (Sáenz 2013a: 166). Die Rolle der Übersetzungstheorie als Basis für die Lehre wird von beiden Übersetzern thematisiert. Gefragt nach ihrer Übersetzungstheorie räumt Geier fast gezwungenermaßen ein, dass sie wohl eine haben muss: „Wahrscheinlich habe ich eine [Übersetzungstheorie]; jedenfalls muss ich irgendetwas vertreten, wenn ich mit Studenten arbeite“ (Geier/ Gut 2008: 158ff.). Diese Theorie beruht auf einer „altmodischen“ Auffassung von Sprache und hängt mit einer gewissen Belén Santana López 56 <?page no="57"?> 13 „Heute ist meine Haltung der Theorie gegenüber eine andere. Sie erscheint mir für jeden Übersetzer unabdingbar.“ Disposition zusammen. Übersetzen ist eine Bewegung aus dem Ganzen ins Ein‐ zelne. Dazu kommen das Handwerk mit seinen elementaren Regeln (Verinner‐ lichung des Ausgangstextes) und ganz banale Anhaltspunkte: [D]ass die Syntax beibehalten werden soll, so gut es geht; dass nichts ausgelassen wird; dass die Sätze alle stimmen und dass man den Text insgesamt - und wenn es 800 Seiten sind - so gut kennt, dass man, wenn auf Seite 130 ein Scheit Holz in den Kamin kommt, das auf Seite 625 noch weiß. Und das im Detail und in umfassenderen Strukturen. (Geier/ Gut 2013: 159) Miguel Sáenz hat sich Mitte der achtziger Jahre als Dozent der Translations‐ wissenschaft mit neueren Übersetzungstheorien auseinandergesetzt. Nachdem er sich in der einschlägigen Fachliteratur einer damals noch zaghaften Disziplin eingelesen hatte, dachte er, die Theorie sei ohne Praxis nicht viel wert. Geleitet vom Grundsatz, dass man etwas dann am besten lernt, wenn man es selber lehrt, hat er seine eigenen Unterlagen für den Unterricht erarbeitet. Fast dreißig Jahre später ist seine Meinung zum Sinn und zur Notwendigkeit der Übersetzungs‐ theorie umgeschlagen: „Hoy, mi actitud hacia la teoría ha cambiado. Me parece absolutamente necesaria para cualquier traductor.“ 13 (Sáenz 2013a: 162) Diese Entwicklung ergibt sich wohl aus verschiedensten Lektüren, begleitet vom Durchbruch und der nachfolgenden Konsolidierung der Translationswissen‐ schaft in den neunziger Jahren. In Anlehnung an Benjamin plädiert Sáenz nicht für eine einzige, allgemeingültige Übersetzungstheorie, sondern eher für die Koexistenz verschiedener Strömungen, deren Vielfalt und Zusammenschluss für eine bessere Qualität der Zieltexte sorgen. Er muntert die Studierenden sogar dazu auf, ihre eigene theoretische Reflexion darzulegen. Geier wie Sáenz, so stellen wir fest, finden über die Lehre zur Theorie. 4. Ausblick - Die Lehre als Grundlage für eine Übersetzungstheorie aus der Praxis Ausgangspunkt dieses Beitrags war die Sichtbarkeit vom Literaturübersetzer als (Mit)Autor, der über sein eigenes Tun reflektiert. Daran wurde die Frage ange‐ schlossen, ob und inwieweit sich durch diese Reflexion aus der Praxis die Brücke zur wissenschaftlichen Übersetzungstheorie schlagen lässt, und welche Folgen sich daraus für die Übersetzungsdidaktik ergeben. Als zeitgenössische und re‐ nommierte Übersetzer in ihrem jeweiligen Sprachraum wurden Swetlana Geier Übersetzungstheorie aus der Praxis 57 <?page no="58"?> und Miguel Sáenz exemplarisch gewählt. Diese Analyse ist nur ein erster Schritt, und natürlich auf andere Übersetzer übertragbar. So stellt auch das Studium weiterer Quellen wie Archive, Manuskripte, persönliche Notizen usw. für die übersetzerische Geschichtsschreibung ein Forschungsdefizit dar (vgl. Munday 2014). Aus der Analyse der Grundaussagen von Geier und Sáenz ergibt sich, dass die übersetzerische Reflexion um gemeinsame Fragen kreist, die das Objekt der Übersetzung, d.h. das Was, thematisieren: (Un)Übersetzbarkeit; Übersetzen als Grundnotwendigkeit des menschlichen Seins und mehrfache Liebeserklärung; Ganzheitlichkeit vom Ausgangs- und vom Zieltext. Hinzu kommen Aspekte, die sich mit dem Wie des Übersetzens auseinandersetzen: Darunter fallen die Sub‐ jektivität des Übersetzers als Interpret, der in seinem Gehäuse lebt; seine Sym‐ pathie bzw. Empathie gegenüber dem Autor des Originals; der traditionelle Spagat zwischen Handwerk oder Kunst; der Bedarf nach persönlicher oder kol‐ lektiver Sichtbarkeit und die Frage nach der eigenen Übersetzungsmethode. Be‐ sonders interessant für den Dialog zwischen Theorie und Praxis erscheint mir die Feststellung, dass sowohl Geier als auch Sáenz die Bedeutung der Lehrtätig‐ keit als Grundlage für die theoretische Reflexion betonen. Auf dieser Gemein‐ samkeit bauen folgende Schlussbemerkungen auf: 1. Das alte Lied über die Kluft zwischen Theorie und Praxis des literarischen Übersetzens ist inzwischen zum lästigen Ohrwurm geworden - jeder kennt es, es prägt sich leicht ein und ist bequem, aber der Mainstream lenkt oft von alternativen Stimmen ab, die für einen offenen, vorurteils‐ freien Dialog plädieren. 2. Die Reflexion über das eigene Tun des Übersetzers ist immer da, ob be‐ wusst oder unbewusst; sie wird oft nur dann geäußert, wenn der Über‐ setzer sich vor Kritik rechtfertigen muss bzw. wenn er aufgrund der zu‐ nehmenden Sichtbarkeit in der Gesellschaft direkt danach gefragt wird. Eine Reflexion über das eigene Tun, die Aspekte wie Kreativität oder In‐ tuition mit einbezieht, macht den guten Übersetzer aus. 3. Die Didaktik kann eine gute Grundlage für eine Theorie des literarischen Übersetzens bieten, wenn die Reflexion aus der Praxis einfließt. Erst wenn man erklären muss, wie man etwas macht, besteht der Bedarf nach einer gewissen Systematisierung des Handwerks, die die künstlerische Kom‐ ponente nicht außer Acht lässt und keinen Anspruch auf Allgemeingül‐ tigkeit erhebt. Dies geschieht bereits sowohl an der Universität, als auch durch die verschiedenen Weiterbildungsmaßnahmen für literarische Übersetzer, die bspw. im deutschsprachigen Raum vom deutschen Über‐ setzerfonds (Brovot 2015) angeboten werden. Weder die Akademie noch Belén Santana López 58 <?page no="59"?> die Praxis sollten hierbei einen Exklusivitätsanspruch erheben, sondern Augen und Ohren für neue Tonlagen öffnen und ein mehrstimmiges Zu‐ sammenspiel anstreben. Positive Beispiele in dieser Richtung gibt es be‐ reits in Form von Fachliteratur (Buschmann 2015), kleinen Forschungs‐ gruppen wie TradLit (Universität Salamanca) und größeren Projekten wie dem europäischen Netzwerk zur Aus- und Weiterbildung von literari‐ schen Übersetzern PETRA-E oder auch im Studiengang Literaturüber‐ setzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Mehrere ihrer Mit‐ glieder sind mit unterschiedlichem Schwerpunkt sowohl in der Forschung als auch in der Praxis tätig, wobei dies keine conditio sine qua non sein muss, um ein offenes Ohr bei der anderen Seite zu finden. Es würde sicher‐ lich helfen, wenn seitens der Praxis alter Argwohn gegenüber der ver‐ staubten Theorie abgebaut und seitens der Theorie (und des akademi‐ schen Establishments) der Praxisbezug in Forschung und Lehre stärker gewürdigt würde - es ist an der Zeit, dass der Dialog zwischen Theorie und Praxis des literarischen Übersetzens nicht nach Zukunftsmusik klingt, sondern Realität wird. Gemeinsame Lehrinitiativen und die An‐ erkennung der Vielfalt könnten ein Schritt in die richtige Richtung sein. Literaturverzeichnis Benjamin, Walter. 1977 [1923]. „Die Aufgabe des Übersetzers.“ In: Illuminationen. Ausge‐ wählte Schriften I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 50-62. Brovot, Thomas. 2015. „Zielsprache: Deutsch! Fortbildung unter Literaturübersetzern.“ In: Albrecht Buschmann (Hg.). Gutes Übersetzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens. Berlin: de Gruyter, 191-200. Buschmann, Albrecht. 2015a. „Gutes Übersetzen. Ein Dialog zwischen Praxis und Theorie.“ In: Ders. (Hg.). Gutes Übersetzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens. Berlin: de Gruyter, 1-11. ―2015b. „Von der Problemforschung zur Ermöglichungsforschung. Sieben Vorschläge für eine praxisorientierte Theorie des Übersetzens.“ In: Ders. (Hg.). Gutes Übersetzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens. Berlin: de Gruyter, 177-190. 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Übersetzungstheorie aus der Praxis 61 <?page no="63"?> Übersetzungspraxis theoretisch reflektiert <?page no="65"?> 1 Zitiert wird hier aus der zweiten, um weitere Beispiele ergänzten Auflage von 2008 (im Weiteren: Invisibility). 2 Es wird hier die maskuline Form als generische Form gewählt - Übersetzer -, auch wenn gerade das Berufsfeld Translation weiblich dominiert ist. 3 Für äußerst wertvolle Hinweise zum Englischen danke ich Dieter Stein, Prof. i.R. für Anglistische Sprachwissenschaft (Düsseldorf, Heinrich-Heine-Universität). 4 Mit Scandals wird im Weiteren auf Venutis 1998 erschienene, kulturpolitisch motivierte Monographie The Scandals of Translation hingewiesen. 5 Douglas Robinson fragt sich in seiner Rezension von Invisibility (Robinson 1997: 106), ob fluency überhaupt bestimmbar ist, „whether fluency isn’t just a reification of some‐ one’s response, a reification that may only work for that one reader.“ Lawrence Venuti (in-)visible? Martina Nicklaus 1. Die skandalöse Unsichtbarkeit des Übersetzens In The Translator’s Invisibility  1 beschwört Lawrence Venuti seine Literaturüber‐ setzerkollegen 2 , endlich ihre merkwürdige Selbstverleugnung, ihre „weird self-annihilation“ (Invisibility: 8) aufzugeben und als Autoren sichtbar zu werden, d.h. die Vorgaben der Verlagslektoren zu ignorieren. Diese nämlich wünschen, so Venuti, nur Übertragungen, die sich wie Originale lesen lassen - ganz so, als habe es keinen Übersetzer gegeben. Die Verlage verlangen „the ab‐ sence of any linguistic or stylistic peculiarities“ und streben ein „domestiziertes“ („domesticated“), glatt lesbares („fluent“) Englisch 3 an (Invisibility: 1), das im Dienst einer - für Venuti illusorischen - Transparenz steht: „The illusion of transparency is an effect of a fluent translation strategy, of the translator’s effort to insure easy readability by adhering to current usage, maintaining continuous syntax, fixing a precise meaning.“ (Invisibility: 1, vgl. auch Scandals  4 : 12) 5 Fremd‐ sprachige Autoren, deren Werke sich für eine Übertragung in flüssiges Englisch nicht eignen oder die nicht zum literarischen Kanon in der angelsächsischen Zielkultur passen, haben laut Venuti keine Chance, ins Verlagsprogramm auf‐ genommen zu werden (vgl. Scandals: 124). Venuti hält diese Zustände für skandalös (vgl. Scandals: 1) und formuliert eindringlich zwei zentrale Empfehlungen. Was das Übersetzen selbst betrifft, ermutigt er die Translatoren zu verfremden und rät ihnen, einerseits gerade die widerspenstigen Originale zur Übersetzung vorzuschlagen (Invisibility: 125; <?page no="66"?> 6 Pym bleibt noch relativ unspezifisch in seinem Urteil, konkrete Übertragungsbeispiele führt er nicht an, geht auch nicht auf die von Venuti in Invisibility (125-134) vorge‐ brachten Rechtfertigungen seiner Lösungen ein. 7 Bei Einzelbelegen aus den Primärwerken folgen nur die Seitenangaben. Scandals: 81) und andererseits sichtbar fremde Elemente in die Zieltexte einzu‐ flechten („perceptible deviations“, Invisibility: 273; Scandals: 10-11). Was das Auftreten der Translatoren betrifft, plädiert er für mehr Selbstvertrauen und rät den Translatoren u.a. dringend, ihre Autorschaft in den Arbeitsverträgen aner‐ kennen zu lassen (Invisibility: 275; Scandals: 65-66) sowie, last but not least, ihr Tun kritisch reflektierend zu präsentieren, um als intellektuell Arbeitende wahr‐ nehmbar zu werden: Translators tend to present themselves in the most impressionistic terms, making the empiricist assumption that the value of their writing is self-evident and ultimately advocating an understanding of translation that is not simply uncritical but antiintellectual (Invisibility: 275). Als Universitätsdozent wird Venuti zweifelsohne als intellektuell Arbeitender sichtbar. Aber wird auch sein Übersetzen sichtbar? Berücksichtigt Venuti als Übersetzer unbequeme Autoren und lässt er eine sichtbar fremde Sprache zu? An Venutis englischer Version von Ugo Tarchettis Fosca (englischer Titel: Passion) ist eine Begutachtung der sprachlichen Verfremdung schon einmal vor‐ genommen worden - mit ernüchterndem Ergebnis: Nichts Außergewöhnliches, mithin nichts Fremdes, sei ihm bei der Lektüre aufgefallen, resümiert der Über‐ setzungswissenschaftler Anthony Pym (2010: 172): „I [...] was quietly scanda‐ lized to find nothing loudly scandalous“. 6 Ähnlich das Urteil des Kollegen Dou‐ glas Robinson: „In fact, Venuti’s translations [von Tarchetti, M.N.] read pretty fluently to me.“ (Robinson 1997: 106) Im Folgenden soll Venutis bisher noch nicht kommentierte Übersetzung von Massimo Carlottos Kriminalroman Arrivederci Amore, ciao (Erstveröffentli‐ chung: 2001, im Weiteren: Arrivederci) in amerikanisches Englisch, Titel: The Goodbye Kiss (2006, im Weiteren: Goodbye) 7 zur Beantwortung der oben ge‐ stellten Frage näher analysiert werden. Vorausgeschickt werden die in Invisibi‐ lity und Scandals identifizierbaren Spielarten sprachlicher Fremdheit (2.). An‐ hand von Beispielen aus Goodbye, die lexikalische, (morpho-)syntaktische und informationelle Faktoren betreffen, soll anschließend (3.) ermittelt werden, ob Venuti als Übersetzer den geforderten Mut zur Fremdheit zeigen kann. Martina Nicklaus 66 <?page no="67"?> 8 Auch in dem von Myskja (2013: 1) vorgelegten Überblick zur Kritik an Venuti wird die definitorische Unschärfe als Hauptproblem ausgemacht. 9 Venuti setzt sich hier deutlich von Gideon Toury ab, einem Vertreter der Descriptive Translation Studies, für den übersetzte Texte ohnehin immer fremd sind und ein eigenes System im Literaturangebot der Zielsprache konstituieren (vgl. Toury 1995: 29). 2. Wider die Unsichtbarkeit durch foreignizing Venutis Aufruf zur Verfremdung von Übersetzungen „has given impetus to a wealth of research testing his claims“ (Paloposki 2011: 41). Doch trotz dieser Forschungsaktivität bleiben seine auf Friedrich Schleiermacher (1813) zurück‐ gehenden Schlüsselbegriffe „domesticating“ (Schleiermacher: Einbürgern) und „foreignizing“ (Schleiermacher: Verfremden, vgl. Invisibility: 20) immer noch diffus und kaum operationalisierbar: „[...] domestication and foreignization are abstractions, and as such, need to be treated with care [...].“ (Paloposki 2011: 41) 8 Venuti selbst stellt wiederholt fest: The ‚foreign‘ in foreignizing translation is not a transparent representation of an es‐ sence that resides in the foreign text and is valuable in itself, but a strategic construc‐ tion whose value is contingent on the current target-language situation (Invisibility: 20; Venuti 1993: 210). Dabei ergreift dieses strategische Konstrukt nicht den gesamten Text. In Scan‐ dals (5) bemerkt Venuti einschränkend, dass jeder Übersetzer automatisch auch domestiziert, dass selbst der Original-Autor, würde er spontan in der Zielsprache schreiben, die dort gültigen „values“ berücksichtigen würde. So bleiben die der amerikanischen Prüderie geschuldeten semantischen Verschiebungen, wie eng‐ lisch „illusion“ für deutsch „Rausch“ in Lowe-Porters Übertragung von Manns Zauberberg, nach Venuti durchaus akzeptabel (vgl. Scandals: 33). Offen lässt Venuti, wie Fremdheit in Texten zuverlässig geprüft werden kann, er benennt jedoch die zwei schon genannten Maßnahmen, die Fremdheit her‐ beiführen können: „[...] choosing to translate a foreign text excluded by domestic literary canons, for instance, or using a marginal discourse to translate it“ (Invisibility: 20). Unbequeme, nicht mit dem Literaturkanon der Zielsprache harmonierende Originaltexte, die als Übersetzung wie Fremdkörper auf dem zielsprachigen Markt wirken müssen, sind vergleichsweise gut bestimmbar. 9 Die zweite Verfremdungsmaßnahme, die Bestimmung einer grenzwertigen Sprachnutzung, eines „marginal discourse“ (Invisibility: 20) ist schon problema‐ tischer. Die Merkmale einer solchen grenzwertigen Sprachverwendung sind schwierig festzumachen und werden bisher nur in wenigen Einzelstudien an‐ gesprochen (vgl. z.B. Ballard 2000, Doherty 1997 und Doherty 1999). Zuverläs‐ Lawrence Venuti (in-)visible? 67 <?page no="68"?> 10 In einem Artikel, der einige Gedanken aus Invisibility vorwegnimmt, stellt Venuti le‐ diglich fest: „Discontinuities at the level of syntax, diction, or discourse allow the trans‐ lation to be read as a translation, revealing the strategy at work in it [...].“ (Venuti 1993: 217) 11 House führt die Dichotomie der overt und covert translation ein, Koller spricht von Normabweichungen in Ausgangs- und Zieltext, Henjum erkennt intrinische Fremdheit in fingierter Mündlichkeit. 12 Referenzwerke für Bewertungen in den folgenden Abschnitten sind die einsprachigen Wörterbücher Merriam-Webster Unabridged (= MW) und Zingarelli 2017 (= Z) sowie die zweisprachigen Wörterbücher Langenscheidt-Collins Großwörterbuch Englisch (LC) und Il nuovo dizionario di tedesco (= Nuovo); bei eindeutigen Fällen (z.B. englisch hell of a woman) wird auf eine Bedeutungsangabe verzichtet. Von der Verfasserin ergänzte Bedeutungsangaben sind mit „M.N.“ gekennzeichnet. sige Kriterien für die Evaluierung eines „marginal discourse“, einer fremd an‐ mutenden Sprachnutzung in literarischen Texten fehlen in Venutis Ausführungen 10 , dafür werden jedoch sowohl in Invisibility als auch in Scandals eine Reihe von konkreten Übertragungsbeispielen vorgestellt und hinsichtlich ihres Verfremdungseffekts bewertet. Wenn auch die Argumentationen im Einzelnen gut nachvollziehbar sind, bleiben die Beispiele verwirrend heterogen. Sie lassen sich zunächst unter‐ schiedlichen Produktionssituationen zurechnen. D.h. sie sind entweder intrin‐ sisch fremd und damit vom Autor des Originals grenzwertig, als kalkulierte „Regelverstöße“ (Krapoth 2007: 1678) konzipiert, oder extrinisch fremd und damit vom Übersetzer in der Zielsprache grenzwertig gestaltet, typischerweise infolge von Interferenzen (vgl. auch Huntemann/ Röhling 1997: 9, House 2004: 109-110, Koller 2011: 119-120, Henjum 2004: 517) 11 . Weiterhin weisen Venutis Beispiele Fremdheit in unterschiedlichen dekodie‐ rungsrelevanten Dimensionen auf. Sie können auf Fremdes referieren, somit auf spezifische Sachverhalte der Ausgangskultur verweisen, auf sogenannte Realia. Sie können auch lediglich in ungewohnter Weise referieren und dies in vier Aus‐ prägungen, die grob umschrieben werden könnten als: seltene, komplexe, au‐ torenspezifische oder fremdsprachliche Ausdrucksweisen. 12 2.1 Referieren auf Fremdes: Realia Das lexikalische Problem der Realia, oft an erster Stelle im Zusammenhang mit Fremdheit genannt (etwa von Krapoth 2007: 1677) wird relativ selten von Venuti angesprochen. In Scandals (188-189) taucht es im Kommentar zur diffizilen Übersetzung aus dem Englischen in indigene afrikanische Sprachen auf. Hier wird z.B. englisch rose zum Problem: Rosen werden in der afrikanischen Ziel‐ sprache Twi nicht benannt, da sie nicht zur Lebenswelt der Twi-Sprecher ge‐ hören. Der Übersetzer kann auch kein Wissen um Rosen voraussetzen, wenigs‐ Martina Nicklaus 68 <?page no="69"?> 13 Konsultiert wurde das ausgewogen-gemischte Corpus of Contemporary American Eng‐ lish (COCA) mit zur Zeit 520 Millionen Wörtern aus gesprochenen und geschriebenen Quellen. 14 Davon ca. ein Drittel als Namenszusatz. tens nicht bei dem anvisierten breiten Publikum („mass readership“, Scandals: 188), das zum Lesen erst angeregt werden soll. Eine assimilierende Umschrei‐ bung von rose wird hier von Venuti explizit gutgeheißen, denn sie erfülle den Zweck „to promote cultural innovation and change“ (Scandals: 188). In diesem besonderen Fall führt also gerade nicht ein (sprachliches) foreignizing, z.B. die unkommentierte Übernahme von englisch rose, zum Wahrnehmen des Fremden, sondern paradoxerweise die domestizierende Strategie. 2.2 Referieren in ungewohnter Weise Beispiele für diese zweite Form der Fremdheit lassen sich zahlreich bei Venuti finden. Die Belege sind, linguistisch betrachtet, in lexikalischer oder (morpho-) syntaktischer, mitunter auch in informationeller Hinsicht fremd; betroffen sind sowohl die Ausgangs- (intrinsische Fremdheit) als auch die Zieltexte (extrinsi‐ sche Fremdheit). 2.2.1 Seltenheit In Invisibility (193) wird die Übersetzung von bona mater (etwa: ‚tüchtige Mutter‘) aus dem Lateinischen in sexy mother oder bonny mater diskutiert. Das Original-Beispiel stammt aus einem Gedicht von Catull, die englischen Ent‐ sprechungen aus Übersetzungen von 1971 bzw. 1991. Die Kritiker, so Venuti, bevorzugen die ältere englische Version (sexy mother). Die jüngere, experimen‐ tell-verfremdende Version wird dagegen scharf abgelehnt und „criticized in the most damning terms“ (Invisibility: 191). Verfremdet wird in der jüngeren Über‐ setzung durch Einfügen kaum geläufiger, laut Venuti archaischer (193) Aus‐ drücke wie bonny (laut LC besonders im Schottischen: ‚hübsch‘) und lateinischer Elemente wie mater. Tatsächlich lässt sich für sexy mit Hilfe von Korpusdaten 13 eine signifikant höhere Frequenz (7852 Belege) als für bonny (432 Belege 14 ) er‐ mitteln. Die Fremdheit von lateinisch mater ist schon durch die Zugehörigkeit zu einem fremdsprachigen Wortschatz gegeben (s.u., Kap. 2.2.4). 2.2.2 Komplexität In einigen Beispielen führt Venuti die Fremdheit offenbar auf nicht unmittelbar linear verarbeitbare Strukturen zurück, die hier verkürzt als „komplex“ erfasst werden. Diese Spielart von sprachlicher Fremdheit widerspricht besonders wir‐ kungsvoll der mit fluency verknüpften Illusion von transparency. Herausge‐ Lawrence Venuti (in-)visible? 69 <?page no="70"?> 15 Venuti erwähnt auch den Nachvollzug der russischen Relativsätze „the subsequent se‐ ries of relative clauses“ (Invisibility: 122), übersieht dabei jedoch, dass im Englischen Konditionalsätze gewählt wurden, also für eine leichte Abweichung vom Original ge‐ sorgt wurde. griffen sei hier ein Beleg, in dem die Transparenz garantierende „continuous syntax“ untergraben wird. Wenn „continuous syntax“ zu verstehen ist als linear verarbeitbare syntaktische Struktur, dann liegt diese im Englischen dann vor (u.a.), wenn im Satz die Ordnung SVO (Subjekt, finites Verb, Objekt) respektiert ist. Es wundert also nicht, wenn Venuti an der englischen Übersetzung der Brüder Karamasow von Dostojewski gerade die Wahl einer OSV-Konstruktion lobt: „And this F. Pavlovich began to exploit.“ (Invisibility: 123) Die beiden Übersetzer folgen der Serialisierung im russischen Original, wie Venuti kommentiert, und erzeugen damit im Zieltext einen Bruch: „Here Pevear and Volokhonsky recre‐ ated features of Dostoievsky’s syntax that disrupt fluency.“ (Invisibility: 122) In der Tat, durch die Topikalisierung („fronting“) des Objekts „this“ entsteht eine syntaktisch hochgradig markierte Struktur: Though constituents other than Objects may be fronted [...] in this way, Object fronting is perhaps the most striking case, probably because IP Complements, such as Direct Objects, are „normally“ quite rigidly fixed following the predicating element. (Payne 2011: 371) Die unmarkierte SVO-Folge wird im Englischen deshalb rigide befolgt, weil nicht auf morphologische Kasus-Markierung, die eine richtige Deutung eines präverbal positionierten Objekts erleichtern würde, zurückgegriffen werden kann. In konfigurationalen Sprachen, wie dem Englischen (vgl. Sornicola 2006: 391), ist die syntaktische Deutung eines vorgezogenen Objekts kognitiv höchst aufwändig, sie wird nur über eine nachträgliche Korrektur der ersten Deutung als Subjekt erreicht (vgl. Anderson/ Funke 2013: 279). Ein präverbal positioniertes Objekt sorgt im Englischen somit für Komplexität, im definierten Sinn. Dennoch, oder gerade deshalb, in Ausnutzung der erhöhten Aufmerksam‐ keit für einen informationellen Effekt, können im Englischen zur emphatischen Topikalisierung, etwa bei Kontrastierung zweier Objektreferenten (vgl. Payne 2011: 370), Objekte vorangestellt werden. Die von Venuti gelobte Übernahme der russischen Syntax in der englischen Übersetzung 15 ist ein Beispiel für durch Interferenz entstandene Fremdheit, somit für extrinsische Fremdheit par excellence. Allerdings wurde hier über das erklärte Übersetzungsziel, „to restore the stylistic peculiarities“ (Invisibility: 122) Martina Nicklaus 70 <?page no="71"?> 16 Ergänzen ließe sich, dass Gioia im zitierten Beispiel auch syntaktisch glättet und un‐ terschiedlich konstruierte italienische Teilsätze parallelisiert. hinausgegangen und in der Übersetzung nicht nachgebildet, sondern eine zu‐ sätzliche, emphatisch akzentuierte Zäsur gesetzt. 2.2.3 Autorenspezifik Im Kapitel Simpatico (Invisibility: 237-264) stellt Venuti Dana Gioias Übersetzung von Eugenio Montales Mottetti (1939) zur Diskussion, die bereits für die italie‐ nischen Leser „strikingly different“ (Invisibility: 244) wirken. Diese intrinsische Fremdheit entsteht u.a. durch indirekte oder elliptische, fragmentarische For‐ mulierungen (vgl. Invisibility: 242). Gioia bricht ebendiese, für Montale typische hermetische Ausdrucksweise auf und entscheidet sich für eine gefällig-narrative Darstellung. In dem von Venuti herausgegriffenen mottetto fügt Gioia wieder‐ holt ein personales Subjekt in erster Person ein (Invisibility: 244), kann somit die sperrig gereihten Gedanken des Originalgedichts durch die direkte Rückbin‐ dung an ein empfindendes Dichter-Ich in eine zusammenhängende Reflexion wandeln. 16 Für Venuti ist dieser morphosyntaktische Eingriff des Übersetzers eine unübersehbare Anpassung an romantisierende angloamerikanische „main‐ stream poetics“ (Invisiblity: 242). Schon 1993 (vgl. Venuti 1993: 217) lehnt er solche Domestizierungen des intrinsisch Fremden ab - obwohl sie immerhin Montale einen „canonical status in British and American writing“ beschert haben (242). Venuti argumentiert ähnlich, wenn er Sigmund Freuds eigentüm‐ lichen, zwischen Wissenschafts- und Allgemeinsprache oszillierenden Stil als erhaltenswert beurteilt (vgl. Venuti 1993: 220). Bei Montale, Freud und Dosto‐ jewski (s.o.) plädiert Venuti für die Orientierung am Original und den Nach‐ vollzug des ausgangssprachlichen Fremdheitseffekts, mithin des intrinsisch Fremden, auch im Zieltext. 2.2.4 Fremdsprachlichkeit Im Kapitel Dissidence (Invisibility: 125-163) lobt Venuti einen englischen Über‐ setzer, der vereinzelt in der Übersetzung eines japanischen Kriminalromans Elemente aus dem englischen Unterweltjargon („underworld argot“) unvermit‐ telt mit transkribierten japanischen Wörtern, wie etwa „yakuza“ (Invisibility: 163) mischt. Dieser Einsatz fremder lexikalischer Elemente ist hier keine Lösung für Realiabezug, denn yakuza z.B. hätte ja, so Venuti, durchaus ein denotativ äquivalentes Gegenüber, etwa gangster. Die fremdsprachigen Ausdrücke dienen vielmehr als „abrupt reminder of the different culture“ (Invisibility: 163), ähnlich wie oben lateinisch mater. Lawrence Venuti (in-)visible? 71 <?page no="72"?> Genau genommen votiert Venuti hier für eine extrinsische Fremdheit in ihrer extremsten Ausprägung. Der referentielle Wert des fremden, aus der Ausgangs‐ sprache übernommenen Elements muss vom Rezipienten neu bestimmt werden, möglicherweise bleibt es auch bei dem Effekt der (feinen) Irritation ohne Zu‐ weisung eines Referenzobjekts. 2.2.5 Zusammenfassung Sprachliche Fremdheit ist ein Phänomen, das sich auf heterogene Weise mani‐ festiert, dies ist der erste Eindruck, den die zahlreichen Beispiele besonders in Invisibility vermitteln. Fremdheit kann nicht nur auf unterschiedlichen sprach‐ lichen Ebenen angelegt sein (Lexik, Morphosyntax, Syntax, Informations‐ struktur), sondern kann auch, beobachtet man Venutis Argumentationen ge‐ nauer, vier verschiedenen Fremdheitsursachen zugeordnet werden: Seltenheit, Komplexität, Autorenspezifik, Fremdsprachlichkeit. Sichtbares Übersetzen voll‐ zieht sich, so muss man Venuti verstehen, auf nicht minder heterogene Weise und ist keineswegs mit einem mechanischen Umsetzen einer allgemeingültigen Verfremdungsstrategie gleichzusetzen. Die Sichtbarkeit muss vielmehr bei jedem Übersetzungsvorhaben und der dazugehörigen strategic construction (s.o., Abschnitt 2.) neu ausgelotet werden. Venutis Argumentationen wirken beeindruckend in ihrer Fülle, meist plau‐ sibel im Einzelnen, jedoch inkohärent im Ganzen. Venuti versucht erst gar nicht, Fremdheit auf einen Nenner zu bringen, ein Eindruck, den auch Robinson bei seiner Lektüre von Invisibility gewinnt (Robinson 1997: 97): „[...] it rarely sounds as if he is playing on a single string.“ 3. Wie sichtbar übersetzt Venuti? Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, welche Verfremdungsmaßnahmen für die Übertragung des mehrfach prämierten Kriminalromans Arrivederci amore, ciao von Massimo Carlotto (2001) von Venuti selbst angesetzt wurden. 3.1 Der Roman Massimo Carlottos Kriminalroman aus dem Jahr 2001 ist eine zynische Be‐ schreibung der Korruptheit von Gesellschaft und Staat in Italien. Die Handlung ist durchgängig autodiegetisch aus der Sicht des Protagonisten Pellegrini dar‐ gestellt und kommentiert. Pellegrini, ursprünglich ein Kämpfer der extremen linken Szene in Italien, wandelt sich vom gescheiterten Idealisten zum gesell‐ schaftlich erfolgreichen Geschäftsmann - freilich nur dank skrupellos exeku‐ tierter Verbrechen, darunter die Ermordung seiner Verlobten und seines Martina Nicklaus 72 <?page no="73"?> 17 Siehe Verlagstext auf der Homepage von edizioni e/ o: https: / / www.edizionieo.it/ book/ 9788876419874/ arrivederci-amore-ciao [30.4.2017]. Freundes. Carlotto lässt den Protagonisten in einem sachlich distanzierten, ge‐ radezu geschäftsmäßigen Stil - laut Verlagsangaben (edizioni e/ o) in einem „stile asciutto, sarcastico, lapidario“ 17 - erzählen, kann damit den Widerspruch zwi‐ schen moralisch verwerflichem Handeln und fehlender emotionaler Beteiligung auf geradezu befremdende Weise verschärfen. 3.2. Kanonkonformität Venutis Übersetzung für den Verlag Europa Editions ist die erste eines Werks von Carlotto ins Englische. Es folgen von 2007 bis 2013 vier weitere, von anderen Übersetzern im selben Verlag veröffentlichte, darunter sogar eine nachträgliche Übersetzung des ersten Romans Il fuggiasco (1995) unter dem Titel: The Fugitive (2007). Venuti hat somit womöglich diesen Autor für das angloamerikanische Publikum entdeckt, wenigstens aber seine Entdeckung angestoßen. Mit der Ein‐ führung dieser italienischen Ausprägung des angloamerikanischen hard-boiled Genres, später auch noir thriller (vgl. Nünning 2008: 9-10), bereichert Venuti die angloamerikanische Palette der crime novels um eine neue Nuance, den noir mediterraneo, wie ihn Carlotto selbst nennt (vgl. Vermandere/ Janssen/ Lanslots 2010: 12). Eine der beiden vorgeschlagenen Verfremdungsmaßnahmen, die Aus‐ wahl eines Werks, das den Zielkanon um Neues erweitert, wurde offenbar er‐ folgreich angewandt. 3.3 Ausgewählte sprachliche Merkmale und deren Übersetzung Ob und wie auch die zweite empfohlene Verfremdungsmaßnahme, die Auf‐ nahme von marginal discourse, realisiert wird, sei im Folgenden in den ersten und letzten jeweils 10 Seiten der englischen Version geprüft, ausgehend von den in 2.1 dargestellten Manifestationstypen von Fremdheit. 3.3.1 Ungewöhnliche Referenten: Realia Schwierigkeiten mit veritablen Realia sind in Übersetzungen, die, wie im vor‐ liegenden Fall, im weiteren Kulturraum des Ausgangtexts verbleiben, kaum zu erwarten. Tatsächlich sind die besonders im zweiten untersuchten Abschnitt vorkommenden, vorwiegend aus dem gastronomischen Bereich stammenden Kandidaten für den Realienstatus wenig spektakulär. Die Benennungen italie‐ nischen Spezialitäten wie linguine, parmigiano, cannelloni oder tiramisù sind im amerikanischen Englisch lexikalisiert (MW) und können problemlos dekodiert werden. Lawrence Venuti (in-)visible? 73 <?page no="74"?> 18 Die deutschen Entsprechungen lauten etwa: ‚mit einem Mädchen zusammensein‘, ‚auf der Suche nach Vergnügen sein‘, ‚Liebe machen‘, ‚fleischliche Bedürfnisse‘ (M.N.). 19 Die deutschen Entsprechungen lauten: ‚vögeln‘, ‚Schwanz‘, ‚Fick‘, ‚vögeln‘ (Nuovo). 20 Die deutschen Entsprechungen lauten: ‚Arschloch‘, ‚Scheißleben‘ bzw. ‚Terrorist‘ (Nuovo), ‚mein Leben, das ich begonnen hatte zu hassen‘ (M.N.). Der TV-Sendungstitel Striscia la notizia und der Markenname Mulino Bianco (assoziiert mit süßen Backwaren) dagegen könnten im Zieltext durchaus irri‐ tieren. Als Teil der beschriebenen Situationen - Entspannung beim Fernsehen, beim Frühstück - könnten sie jedoch mit ähnlichen Referenten aus der Leser‐ erfahrung verknüpft werden. Die beiden Benennungen könnten somit für eine sanfte extrinsische Verfremdung sorgen, auf die Venuti jedoch verzichtet. Statt‐ dessen greift er auf die traditionellen verständnissichernden Strategien für Rea‐ liabenennungen zurück (vgl. Koller 2011, 235), und erläutert durch eine Appo‐ sition („[...] that comic news program, Striscia la Notizia“, Goodbye: 138) oder verallgemeinert durch Einsetzen des Produktnamens („store-bought cookies“, Goodbye: 138). 3.3.2 Ungewöhnliches Referieren 3.3.2.1 Seltenheit Carlottos Stil bewegt sich überwiegend auf der Ebene des Standardwortschatzes. Was Maeder (2010: 124) für die Sprache in Carlottos Krimiserie Ciclo dell’Alli‐ gatore feststellt, trifft auch auf Arrivederci zu: „semplice e rozzo“ (‚schlicht und unbearbeitet‘, M.N.) und dies für die Darstellung schwerstkriminellen Verhal‐ tens. Manche Wortwahl des Autors jedoch durchbricht die Schlichtheit, sofern diese mit Standardsprachlichkeit gleichzusetzen ist. So greift Carlotto in Arri‐ vederci besonders für den Tabubereich Sexualität zwar einerseits auf die im Standard erwartbaren Euphemismen wie stare con una ragazza (12), cercare il piacere (172-3), fare l’amore (173), bisogni della carne (173) 18 zurück. Andererseits jedoch streut er, wenn der Sexualakt oder die beteiligten Personen abgewertet werden sollen, auch Substandardelemente, d.h. vulgär oder diastratisch niedrig markierte Ausdrücke (italiano popolare/ familiare) ein: scopare (15), uccello (17), scopata (15), sbattersi (una prostituta, 172) 19 . Negative Affekte, wie Unzufrieden‐ heit und Zorn, werden ebenso stellenweise mit Vulgarismen versprachlicht. So stehen: testa di cazzo (13), vita di merda (18) synonym neben: terrorista (13) und „la mia vita reale che avevo iniziato a odiare“ (14). 20 Die punktuelle Register‐ alternanz scheint genau dosiert, also durchaus „bearbeitet“. Mit dem Ausdruck sbattersi una prostituta (172) etwa wertet Pellegrini sein Fremdgehen vor der Verlobten als Nebensache ab, mit testa di cazzo (13), referenzidentisch mit ter‐ Martina Nicklaus 74 <?page no="75"?> 21 Ballbuster in MW: „Informal + sometimes offensive“, bezogen auf Personen, deutsch etwa ‚Dreckskerl‘, im vorliegenden Zusammenhang übertragen auf ein Problem; ball- (in LC: slang). 22 Mit importante sollen nicht die Eigenschaften der Frau, sondern die Auswirkungen des aufgedeckten Betrugs aufgewertet werden! rorista (13) im vorangehenden Satz, wird die Wut über die Folgen einer Terror‐ attacke nachgereicht. Vulgarismen und Substandardelemente sind ebenso wie literarisch markierte Elemente insofern selten, als sie situativ oder sozial gebunden sind. Überdies setzt Carlotto die standardfernen Elemente nur alternativ zu den standard‐ sprachlichen Synonymen ein, gezielt zur Stützung einer negativ-affektiven Fär‐ bung. Über diese zweifache Seltenheit kalkuliert sich ein Effekt von Fremdheit, den die Übersetzung erhalten kann, wenn sie Häufigkeit und Platzierung der standardfernen Elemente im Zieltext weitestgehend beibehält. Venuti übernimmt den Wechsel zwischen Standard- und Substandard-Seg‐ menten in seiner Übersetzung in allen oben zitierten Belegen. Er verändert je‐ doch insgesamt die Dosierung und zeigt eine Tendenz zum verstärkten Einsatz von Substandard (slang-Elemente, Vulgarismen). So übersetzt Venuti z.B. „si fece corteggiare“ (14; deutsch etwa: ‚sie ließ sich hofieren‘, M.N.) mit „she made me suck up to her“ (15; dt. etwa: ‚ich musste vor ihr kriechen‘, M.N.; LC: informell, MW: slang). Die stilistisch neutrale Aussage „La cosa era seccante“ (18; dt. etwa: ‚die Sache war unangenehm schwierig‘, M.N.) wird zu „The whole thing was a ball-buster“ (18; deutsch etwa: ‚Die ganze Sache war eine Scheißangelegenheit‘ M.N. 21 ). Ähnlich unmarkiert ist die Wortwahl für die Szene, in der Pellegrini von seiner langjährigen Geliebten in flagranti mit einer Deutschen entdeckt wird. Für Pellegrini bedeutet dies immerhin das abrupte Ende eines bequemen Lebens mit Schutz vor Strafverfolgung. Im Italienischen wird kühl von einer „tedesca“ und einer „donna molto importante“ 22 gesprochen (15). Venuti übersetzt mit dem pejorativ markierten slang-Ausdruck (MW) „broad“ (16, dt. etwa: ‚Tussi‘, M.N.) und mit dem hier abwertend eingesetzten pussy (16, slang-Ausdruck für weib‐ liche Genitalien, MW). Die durch kalkulierte Platzierung vereinzelter standardferner Ausdrücke er‐ zeugte intrinsische Fremdheit wird somit in der Übersetzung nur in abge‐ schwächter Form nachempfunden. 3.3.2.2 Komplexität In Venutis Übersetzung fällt auf, dass die englische Vorvergangenheit past per‐ fect weitgehend vermieden wird, auch dort, wo Carlotto eine italienische Ent‐ Lawrence Venuti (in-)visible? 75 <?page no="76"?> 23 Unter piuccheperfetto subsumiert Bertinetto das trapassato passato mit dem Hilfsverb im Imperfekt und das piuccheperfetto im engeren Sinn mit dem Hilfsverb im Perfekt. sprechung dieses Tempus, das trapassato prossimo, einsetzt. So berichtet der Protagonist Pellegrini zum Auftakt des Romans zunächst im zentralen Erzähl‐ tempus passato remoto (Perfekt), wie er seinen Freund erschießt und unmittelbar danach den Ort des Geschehens verlässt. Anschließend blickt Pellegrini auf den Moment des Tötens zurück, sowie auf das Gespräch am Vorabend mit seinem Auftraggeber. Diese beiden Rückblenden werden von Carlotto mit der Vorver‐ gangenheit erfasst, von Venuti dagegen mit dem zentralen Erzähltempus past tense, ohne zusätzliche adverbiale Zeitbestimmungen. Venuti nutzt past perfect lediglich, wenn ein abgeschlossener Vorgang vor einem explizit angegebenen oder leicht rekonstruierbaren Bezugszeitpunkt in der Vergangenheit liegt: „Her mood had improved. Even if she still felt tired.“ (Goodbye: 138-139) Der grundsätzlich großzügige Umgang mit der Vorvergangenheit im Italie‐ nischen gegenüber dem Deutschen ist bekannt und in Studien nachgewiesen (u.a. Sergo 2008). Bertinetto (2001: 110-114) kann, ausgehend von der üblicher‐ weise diesem Tempus zugeschriebenen Funktion auf Vorvergangenes zu ver‐ weisen, mehrere „usi“ herausarbeiten, darunter das „[p]iuccheperfetto di fan‐ tasia“ 23 ; Bertinetto erkennt später in literarischen Texten eine Tendenz des piuccheperfetto zur Aoristqualität, mit einer die Handlung vorantreibenden Wir‐ kung („aoristic tense, endowed with propulsive capacities“, 2013: 150); ver‐ gleichbare Aussagen liegen für das Englische nicht vor. Die italienische Vorliebe für dieses Tempus in narrativen Texten lässt sich auch am Verhalten italienischer Translatoren ablesen (vgl. Nicklaus, in Vorbereitung). Insgesamt versucht Venuti, intuitiv oder bewusst, eine unüblich hohe Fre‐ quenz von past perfect im Zieltext zu umgehen. Dies ist eindeutig eine domes‐ tizierende, Fremdheit vermeidende Taktik. Venuti geht recht weit und wählt auch dort durchgängig past tense, wo selbst im Englischen eine Stufung past - past perfect in narrativen Texten üblich ist. Etwa im Prologo, wo Carlotto die reale Chronologie umkehrt, die narrative Reihenfolge durch Rückblenden von der Folge der Ereignisse löst und dadurch von der unmarkierten, kognitiv schlichteren Sequenzierung (vgl. Fleischman 1990: 131) abweicht. Bei solchen Rückblenden wären past-perfect-Formen laut Wyld (2004: 165) eine - auch im Englischen nicht fremde, hier nur in ihrer Dichte ungewohnte - wichtige Un‐ terstützung für die Rekonstruktion des fiktiven zeitlichen Ablaufs gewesen, sowie für die Situierung der Handlungen in Vorder- und Hintergrund (groun‐ ding, vgl. Fleischmann 1990: 183-199). Fehlt diese Unterstützung, erhöht sich die Anforderung an die Dekodierung, eventuell wird der Leser verwirrt. Martina Nicklaus 76 <?page no="77"?> 24 To hang out: ‚sich herumtreiben, chillen‘, LC. 25 To dog: ‚jdm. hart auf den Fersen sein/ bleiben‘, LC. 26 Rock-solid: ‚solide wie ein Felsen‘, M.N.; nicht in den Wörterbüchern verzeichnet. Venutis domestizierende Beibehaltung des past tense erzeugt paradoxerweise höhere Komplexität im hier definierten Sinn, damit Fremdheit, über einen län‐ geren Abschnitt hinweg. Es scheint jedoch fraglich, ob dieser Eingriff in die textuelle Organisation als bereichernde, „innovation“ und „change“ (vgl. oben) befördernde Fremdheit gewertet werden kann. 3.3.2.3 Autorenspezifik Zu Carlottos einfacher Sprache gehört die Vermeidung von Bildlichkeit. So wird Pellegrinis überhasteter Auszug aus der gemeinsamen Wohnung nach dem Sei‐ tensprung schlicht erfasst mit: „Il mattino dopo ero fuori dall’hotel.“ (wörtlich: ‚Am Morgen danach war ich aus dem Hotel draußen.‘ M.N.) Venuti übersetzt mit einer lexikalisierten Metapher, die auf den aufgerichteten Schweif fliehender Tiere anspielt: „I hightailed it“ (Goodbye, 16; ‚abhauen, verduften‘, LC). Es folgt eine kurze, sachliche Darstellung zu Plänen für die Zukunft, zu Flucht, Ankunft in Paris und Kontaktaufnahme mit einem ehemaligen Mitstreiter. Bis auf wenige lexikalisierte, eher verblasste Metaphern (z.B. „l’intuizione prese corpo“, 16), für die Venuti jeweils gleichwertige Metaphern im Englischen findet (hier z.B.: „the hunch took shape“, 16; ‚die Idee nahm Gestalt an‘, M.N.), bleibt Carlottos Lexik anschaulich-konkret ohne bildlich zu sein. Venuti jedoch tendiert zur Bildlich‐ keit und streut lexikalisierte Metaphern und Metonymien, mitunter mit hyper‐ bolischem Akzent ein, deren Quellkonzept unmittelbar assoziierbar ist z.B. (je‐ weils S. 16): „brava donna“ wird „a hell of a woman“, „frequentava“ wird „used to hang out“ 24 , „inseguiva“ wird „dogged my trail“ 25 , „una decisione irrevocabile“ wird „a rock-solid decision“ 26 und „passai il controllo“ wird „I sailed through customs“. Metaphern sind ein Versuch, das Gesagte dem Rezipienten nahezu‐ bringen, indem es als sensoriell erfassbar dargestellt wird. Solange sie nicht verblasst sind, können Metaphern daher als Ausdruck von emotionaler Beteili‐ gung des Sprechers gewertet werden (vgl. Drescher 2003: 101-102). Tatsächlich bevorzugt Carlottos Protagonist jedoch direkte Bezüge, greift allenfalls auf ver‐ blasste Metaphern zurück. Sogar abfällige Wertungen bleiben mitunter hinter einer neutralen Wortwahl als Implikatur versteckt. Im Italienischen, in der Wiedergabe des Verhörs nach dem Mord an der Verlobten, wird beschrieben, wie der brigadiere seinem Vor‐ gesetzten, dem maresciallo, wie selbstverständlich zur Tür hinaus folgt. Den im Italienischen nur nahegelegten Spott angesichts derartig devoter Dienstbe‐ flissenheit macht Venuti mit dem negativ konnotierten to ape (‚nachäffen‘, Lawrence Venuti (in-)visible? 77 <?page no="78"?> 27 Vergleichbar der Effekt der Adjektive italienisch brava und simpatica (Goodbye: 32, 40), die Venuti im weiteren Verlauf des Texts als Übernahmen zulässt. pejorativ, LC) explizit: „[...] prontamente imitato dal collega.“ (180; dt. etwa: ‚sein Kollege machte es ihm sofort nach‘, M.N.), für: „[...] promptly aped by his col‐ league.“ (143; dt. etwa ‚sein Kollege äffte ihn sofort nach‘, M.N.) Pellegrinis affektfreie Ausdrucksweise in der Darstellung spannungsgela‐ dener Situationen entspricht nicht den Erwartungen, sie befremdet. Erneut nimmt Venuti diese intrinsische Fremdheit nur zum Teil im Zieltext wieder auf, er tendiert, in Vermeidung des fluency befördernden „precise meaning“ (s.o.), zu metaphorischer Ausdrucksweise. Damit verfährt er anders, als der von ihm ge‐ lobte Übersetzer von Montales Gedichten, der sich um den Nachvollzug des für Montale charakteristischen Stils bemüht. 3.3.2.4 Fremdsprachlichkeit In The Goodbye kiss finden sich drei Typen von Belegen, die als „abrupt reminder of the different culture“ (Invisibility: 163) dienen können. Zunächst sind die Be‐ nennungen aus dem gastronomischen Bereich anzuführen, die nur einen ge‐ ringen Fremdheitsgrad aufweisen. Beim zweiten Typ von Fremdsprachlichkeit handelt es sich um die Ergänzung zusätzlicher lexikalischer Elemente. Diese Strategie kommt in den beiden hier untersuchten Abschnitten nur einmal vor, wenn der ehemalige Mitstreiter von Pellegrini das Ende des revolutionären Kampfes beschreibt. Venuti schiebt ein „it’s finito“ (17) ein, ergänzt somit eine tatsächlich ungewöhnliche lexikalische Einheit, die im COCA lediglich 35 Mal belegt ist und im Wörterbuch (MW) nicht erfasst ist, möglicherweise jedoch gut erschlossen werden kann. 27 Beim dritten Typ formaler Fremdheit ist die in Erinnerung gerufene „different culture“ nicht der kulturelle Hintergrund des Originaltexts, sondern eine weitere fremde Kultur, eventuell eine im Kontext angesprochene. So fallen in der eng‐ lischen Version Lehnwörter auf, die für italienische Ausdrücke im Original ge‐ wählt wurden, etwa der Hispanismus cabana (Venuti ergänzt die Tilde: „cabaña“; Goodbye: 11), für italienisch „capanna“ (9; ‚Hütte‘, Nuovo), womit die Hütte eines südamerikanischen Dorfs bezeichnet wird. Für das abwertende italienisch „boria“ (11; deutsch ‚aufgeblasenes Verhalten‘, M.N.) wählt Venuti den Galli‐ zismus „grandeur“ (13), der im Englischen lexikalisiert ist (MW), jedoch ohne abwertende Konnotation (‚große Würde‘, LC). Ergänzt sei ein weiterer, ebenfalls lexikalisierter Gallizismus (Z), „noms de guerre“ (17), den Venuti im Kontext einer Szene in Paris für „nomi di battaglia“ (17; ‚Decknamen‘, Nuovo) wählt. Martina Nicklaus 78 <?page no="79"?> Andererseits werden eine spanische Realienbenennung sowie zwei französi‐ sche Lehnwörter des Originals im Englischen nicht aufgenommen: „Frente“ (12) für Frente popular, die südamerikanische Volksfrontbewegung, wird schlicht „Front“ (13), „qualche habitué“ (170) wird „regulars“ (135; ‚Stammkunden‘, LC) und „troupe della televisione“ (12) wird „TV crew“ (13). Im letzten Fall ist die Entscheidung nachvollziehbar, denn englisch troupe ist nur in der hier unpas‐ senden Bedeutung (Künstler-)‚Truppe‘ (LC) lexikalisiert. Überraschend ist die Vermeidung des spanischen Frente, alternativ Frente Popular, das die Assozia‐ tionsfähigkeit eines italienischen Lesers ebenso fordert wie die eines englisch‐ sprachigen und immerhin Eigennamencharakter hat. Habitué hätte ohne seman‐ tische Verluste (laut MW) beibehalten werden können. Was die Fremdheit durch Fremdsprachlichkeit betrifft, scheint Venuti spontan zu entscheiden und dabei mitunter sogar gegen Verfremdungen zu op‐ tieren, die, wie bei Frente oder habitué, das Original nahelegt. 4. Schluss Insgesamt lässt sich an den beiden Abschnitten aus Goodbye kein strategisches Konstrukt erkennen, das zuverlässig für wiederkehrende sprachliche Merkmale des Ausgangstexts eine bestimmte verfremdende Behandlung vorsieht. Erstaun‐ lich ist, dass die Chance, intrinsische Fremdheit nachzuzeichnen, wie etwa für Montale-, Dostojewski- und Freudübersetzungen von Venuti gefordert, nur halbherzig genutzt wird. Die autorenspezifische, forcierte sprachliche Distan‐ ziertheit im italienischen Original verliert im Zieltext erheblich an Schärfe. Die Chance extrinsisch zu verfremden, durch Orientierung am italienischen Tem‐ pusgebrauch, bleibt ebenfalls ungenutzt, ist freilich auch problematisch. Ein verstärkter Einsatz von past perfect hätte im Prologo für die Rückblenden zwar gewagt werden können, hätte jedoch gleich zu Beginn des Romans die Leser mit marginal discourse, mit einer unüblichen Dichte an past-perfect-Formen kon‐ frontiert. Venutis Lösung, die Beibehaltung des simple past, bewirkt jedoch nicht weniger Irritation und reduziert gleichzeitig die im Ausgangstext angelegte Dif‐ ferenziertheit. Die Konzeption und Umsetzung einer strategic construction scheint schwierig. Dennoch sollte Venutis Generalentschuldigung nicht angenommen werden: Translations can precipitate a disciplinary revision because the representations they construct are never seamless or perfectly consistent, but often contradictory, assem‐ bled from heterogeneous cultural materials, domestic and foreign, past and present. (Scandals: 70) Lawrence Venuti (in-)visible? 79 <?page no="80"?> Wenn sich Übersetzen einer Überprüfung entziehen darf, dann gerät es zu einem spontanen ‚aus-dem-Bauch-heraus-Handeln‘, mithin zu einem Handeln, das nur als „uncritical“ und „anti-intellectual“ wahrgenommen werden kann. Und dies war gerade nicht das Ziel von Venuti (s.o.). Kein Text kann auf allen Ebenen nahtlos („seamless“) und konsistent („con‐ sistent“) wirken. Ein übersetzter Text allerdings könnte den Grad der Nahtlo‐ sigkeit und Konsistenz des Ausgangstexts anstreben, dabei manche Merkmale nahtlos und konsistent, einer strategic construction folgend, verfremden. Vor‐ aussetzung dafür ist eine schon 2005 für Filmsynchronisation geforderte „Kon‐ tinuität der Übersetzerentscheidungen“ (Heiss/ Soffritti 2005: 213), die, so die hier vertretene Ansicht, durch Rückgriff auf zuverlässige Referenzwerke, re‐ präsentative Korpora und Resultate kontrastivistischer Studien garantiert werden könnte. Die in diesen Quellen feinkörnig erfassten Anwendungspräfe‐ renzen sprachlicher Zeichen könnten für Übersetzungs-, besonders für Ver‐ fremdungsstrategien eine stabile Orientierung liefern. Es bleibt abschließend dem Übersetzer überlassen, wie er die Informationen zum Anwendungsprofil eines bestimmten sprachlichen Zeichens oder Zeichen‐ typs jeweils in sein strategisches Konstrukt integriert. D.h. er kann Anwen‐ dungspräferenzen der Zielsprache durchkreuzen, also verfremden, er kann den Anwendungspräferenzen der Zielsprache folgen, also glätten, und wird, auf‐ grund übergeordneter Faktoren (etwa: Rhythmus, etwa: Verlagsvorgaben) In‐ konsistenzen zulassen müssen. Eine solche flexible Strategie könnte ein impuls‐ orientiertes Taktieren weitgehend überflüssig, die Entscheidungen begründbar und schließlich den Zieltext attraktiv machen, im Sinne einer „new readability that provide more sophisticated pleasures“ (Invisibility: 273). 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Die wissen heutzutage auf einmal so viel übers Übersetzen, dass es ja ein richtiges Lehrfach geworden zu sein scheint.“ Alle Übersetzungen fremdspra‐ chiger Zitate im vorliegenden Beitrag stammen von den Verfassern. 2 „Häufig vorkommende Fehler statistisch aufzubereiten und daraus dann ein Überset‐ zungsfach abzuleiten, sogar eine Übersetzungswissenschaft, das ist wirklich absurd.“ Übersetzung und Reflexion: Barber van de Pol und Paul Claes Philippe Humblé und Arvi Sepp Einleitung Obwohl einige Übersetzungstheoretiker auch praktisch tätig waren bzw. sind (wie z.B. Antoine Berman und Lawrence Venuti), erfreuen sich theoretische Be‐ trachtungen der Übersetzungspraxis selten besonderer Beliebtheit bei prakti‐ schen Übersetzern. Bisweilen lässt sich dabei sogar eine gewisse Geringschät‐ zung erkennen, wie beispielsweise bei Gerrit Komrij (1944-2012), einem der bedeutendsten Autoren und Übersetzer des niederländischen Sprachgebiets im 20. Jahrhundert, der über eine außerordentlich reiche Erfahrung im Übertragen von Prosa, Poesie und Theaterstücken aus sechs verschiedenen Sprachen ver‐ fügte. Er bezweifelt in einem Interview mit Liesbeth Koenen in Vrij Nederland auf provozierende Weise den Nutzen der Translatologie als Disziplin und sogar der Didaktik für die Praxis: Als Übersetzer habe man lediglich „met de auteur te maken, en niet met collega-vertalers. Of met mensen op de universiteit. Die weten tegenwoordig ineens zoveel van vertalen, het schijnt een leerbaar vak geworden te zijn.“ 1 (Komrij 1990: 120) Weiter bringt er in demselben Tonfall seine Skepsis der Theorie gegenüber zum Ausdruck: „Om nou statistisch veel voor‐ komende fouten bij elkaar te zetten en daar een vertaalvak van te maken, een vertaalwetenschap zelfs, dat is onzinnig.“ 2 (ebd.) Henri Bloemen ist zum Thema Übersetzen der Ansicht, dass „de relatie tussen de zogenaamde theorie en de zogenaamde praktijk niet zo onmiddellijk en dui‐ <?page no="86"?> 3 „die Beziehung zwischen der sogenannten Theorie und der sogenannten Praxis nicht so unmittelbar und nachvollziehbar ist wie allgemein angenommen.“ 4 Siehe hierzu auch den Beitrag von Henri Bloemen im vorliegenden Band. delijk is als men meestal denkt“ 3 (Bloemen 2010: 363). Erstens stellt die philo‐ sophisch orientierte Übersetzungswissenschaft keine praktischen Anweisungen zur Verfügung. Zweitens geht sie dem Übersetzen nicht voraus, sondern tritt erst in Erscheinung, nachdem eine Übersetzung bereits erfolgt ist. 4 Als empiri‐ sche Wissenschaft - wie beispielsweise in der deskriptiven Übersetzungswis‐ senschaft - konzentriert sie sich darauf, die Übersetzungsphänomene - das heißt die Übersetzungsprozesse und die Produkte, die daraus resultieren - in einem ersten Schritt so vollständig wie möglich zu beschreiben und diese an‐ schließend so gut wie möglich zu erläutern (vgl. van den Broeck 2006: 17). Reflexionen über Theorie und Praxis beim Übersetzen gehen vielfach von grundlegend verschiedenen Definitionen des Übersetzungskonzeptes aus. Der Begriff der „Unübersetzbarkeit“, der in philosophischen Überlegungen zur Über‐ setzung eine wichtige Position einnimmt, ist aus Sicht des praktischen Über‐ setzers nicht verwertbar. Die fehlende einheitliche Definition des Übersetzungs‐ begriffs sorgt für Diskussionen und bietet zugleich Raum für Kompromisse, denn Argumente aus der Theorie können in der Praxis eine wichtige Rolle spielen, wenn es um die Frage nach der ‚adäquaten‘ Übersetzung geht (vgl. Bloemen/ Sepp 2017). Denken wir dabei nur an Titel wie „De optimo genere interpretandi“ oder „Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens“ die belegen, dass Theorie und Praxis immer schon eng miteinander verknüpft sind. Seitdem sich die Übersetzungswissenschaft indes ihres normativen Erbes ent‐ ledigt zu haben scheint, ist auch das Verhältnis von Theorie und Praxis span‐ nungsvoll. In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie zwei der prominentesten Übersetzer des niederländischen Sprachgebiets - die niederländische Überset‐ zerin Barber van de Pol und der flämische Übersetzer Paul Claes - über dieses spannungsvolle Verhältnis zwischen Übersetzungstheorie und -praxis reflek‐ tieren. Beide, insbesondere aber Barber van de Pol, bieten sich als beispielhafte Figuren besonders gut an, da ihre Ansätze sehr gegensätzlich sind. Dabei sind es gerade die Theoretiker, die die Übersetzer in den letzten Jahrzehnten mehr in den Vordergrund haben treten lassen. Noch 1986 schrieb Yves Gambier: La peur de la théorisation explique certainement pourquoi la traduction n’a pas encore la place qu’elle mérite dans la science des textes et pourquoi le traducteur n’est pas ou que partiellement reconnu: on ignore encore trop les contraintes de son travail, les Philippe Humblé und Arvi Sepp 86 <?page no="87"?> 5 „Die Angst vor der Theoretisierung erklärt zweifellos, weshalb das Übersetzen noch nicht seinen verdienten Platz innerhalb der Textwissenschaften einnimmt und weshalb der Übersetzer nicht oder nur teilweise wahrgenommen wird: Man weiß immer noch zu wenig über die Anforderungen seiner Tätigkeit sowie die damit verbundenen Kom‐ petenzen. Man weiß immer noch zu wenig über den Einfluss von Übersetzungen auf den Informationsfluss - sowie auf die Qualität des Informationsaustausches.“ 6 „Wie in jeder jungen, sich in der Entwicklung befindlichen Disziplin herrscht in der Übersetzungswissenschaft ein gewisses Chaos: konkurrierende Schulen und Strö‐ mungen, Uneinigkeit über Zielsetzungen und Methoden, unterschiedliche Auffas‐ sungen über Inhalt und Grenzen des Fachgebiets, eine große Distanz zwischen Über‐ setzungstheorie und -praxis usw.“ 7 Für die einzige niederländischsprachige übersetzungswissenschaftliche Zeitschrift der Niederlande und Belgiens, Filter, Tijdschrift over vertalen, ist in dieser Hinsicht der Zu‐ sammenhang zwischen Theorie und Praxis explizit Programm: Sie „richtet sich an jeden, der sich auf irgendeine Art für das Phänomen des Übersetzens interessiert, an Übersetzer und Theoretiker, an Denker und Handelnde.“ (http: / / www.tijd‐ schrift-filter.nl/ over-ons/ visie, letzter Zugriff: 6.8.2017) compétences que celui-ci exige et on ignore encore trop l’impact des traductions dans la circulation des informations - et aussi la qualité des échanges. 5 (Gambier 1986: 167) Etwas später, zu Beginn der 1990er-Jahre, betrachtet Kitty van Leuven-Zwart die Spannung zwischen Theorie und Praxis als ein spezifisches Merkmal für eine sich noch in der Entwicklung befindliche, junge Disziplin. Die Situation der jungen Übersetzungswissenschaft beschreibt sie als „chaotisch“, da sich immer noch keine Forschungstraditionen herausbilden konnten: Zoals in iedere jonge, zich ontwikkelende discipline heerst er in de vertaalwetenschap een zekere chaos: concurrerende scholen en stromingen, onenigheid over doelstel‐ lingen en methoden, uiteenlopende opvattingen over de inhoud en de grenzen van het vakgebied, een grote afstand tussen de theorie en praktijk van het vertalen enzo‐ voort. 6 (van Leuven-Zwart 1992: 8) Die Theorie führte zu einer ernsthafteren Wahrnehmung der Übersetzer, und sie ist für jeden Übersetzer von Bedeutung, ob er will oder nicht, denn seinem Handeln liegt immer eine Haltung, eine Strategie zugrunde. 7 In Exploring Trans‐ lation Theories schreibt Anthony Pym (2014 [2010]: 1) in diesem Zusammen‐ hang: „Translators are theorizing all the time. Once they have identified a trans‐ lation problem, they usually have to decide between several possible solutions.“ Hier treffen Praxis und Theorie zusammen. Ton Naaijkens sieht gerade in der Analyse von Übersetzungsstrategien den „Nutzen“ der Übersetzungswissen‐ schaft: Übersetzung und Reflexion: Barber van de Pol und Paul Claes 87 <?page no="88"?> 8 „Es ist deshalb sehr wichtig, der Funktion von Übersetzungsauffassungen beim litera‐ rischen Übersetzen nachzugehen. Die Übersetzungswissenschaft kann diese untersu‐ chen und relativieren sowie mit einer gewissen Distanz betrachten. Beim Übersetzen selbst muss man sie kennen, um adäquat handeln zu können. Damit ist bereits ein bestimmter Nutzen der Übersetzungswissenschaft gegeben […].“ 9 „die Verkörperung […] des technisch-analytischen Übersetzers, der jede Anspielung und Bedeutungsebene in einem Text auf stoische und geradezu mechanische Weise entwirrt“. Het is daarom van groot belang te hameren op het functioneren van vertaalopvat‐ tingen bij het literair vertalen. Vanuit de vertaalwetenschap kunnen die worden be‐ studeerd en gerelativeerd en van op afstand bekeken. Bij het vertalen zelf moet je ze hebben om adequaat te kunnen handelen. Daarmee is al een zeker nut van de ver‐ taalwetenschap gegeven […]. 8 (Naaijkens 2012: 651) Fußnoten und Kommentare sind vor diesem Hintergrund von großer Bedeu‐ tung, um einen Eindruck von der Art und Weise zu bekommen, wie der Über‐ setzer vorgeht (vgl. Sardin 2007: 1). Die ‚Fußnote‘, auf die im vorliegenden Ka‐ pitel näher eingegangen werden soll, kann einen Erklärungsbedarf des Lesers decken, Übersetzungsentscheidungen begründen oder kontextualisierende Hin‐ tergrundinformationen anbieten. Die beiden Übersetzer ins Niederländische, die hier vorgestellt werden, Barber van de Pol und Paul Claes, sind Beispiele entgegengesetzter Überset‐ zungsauffassungen. Erstere steht Theorie und Übersetzerkommentaren sehr kritisch gegenüber, Letzterer - als „de belichaming […] van de technisch-ana‐ lytische vertaler, die elke toespeling en betekenislaag in een tekst koelbloedig, haast mechanisch oplost“ 9 (Naaijkens 2012: 652) - gilt dagegen als großer Be‐ fürworter. Um die sehr unterschiedlichen Ansichten von van de Pol und Claes zu untersuchen, rücken im Folgenden die Peri- und Epitexte der beiden Über‐ setzer in den Fokus. Anthony Pym vertritt die Meinung, dass gerade in den Peritexten - beispielsweise Übersetzungskommentaren, Fußnoten, Einlei‐ tungen zu Übersetzungen - und in den Epitexten - beispielsweise Interviews, Artikel in Übersetzungszeitschriften - Übersetzungsauffassungen erläutert werden und so eine Brücke geschlagen wird zwischen der Übersetzungspraxis und ihrer theoretischen Reflexion: „This private, internal theorizing becomes public when translators discuss what they do.“ (Pym 2014 [2010]: 1) Barber van de Pol Barber van de Pol ( Jahrgang 1944) ist eine der renommiertesten ÜbersetzerInnen im niederländischen Sprachraum. Bereits 1975 erhielt sie den berühmten Mar‐ Philippe Humblé und Arvi Sepp 88 <?page no="89"?> 10 „Ein Übersetzer ist kein Linguist.“ 11 „Diejenigen, die sich, wie ich, eher zur Literatur als zur Literaturwissenschaft hinge‐ zogen fühlen, geben sich lieber als Cervantes selbst denn als Cervantes-Spezialist aus.“ tinus-Nijhoff-Preis für die Übersetzung von Julio Cortázars Rayuela. Nach dem Studium der spanischen Sprache und Literatur an der Universität Amsterdam konzentrierte sie sich hauptsächlich auf die Übersetzung von spanischspra‐ chigen Werken. Autoren, die sie ins Niederländische übersetzt hat, sind Fran‐ cisco de Quevedo, Gabriel García Márquez, Juan Carlos Onetti, Pablo Neruda, Jorge Luis Borges und Miguel de Cervantes. Zu ihrer umfangreichen Produktion gehören aber auch nicht-spanischsprachige Schriftsteller der Weltliteratur, wie beispielsweise Djuna Barnes, Melville, Molière, Schiller, Hebbel, Kleist und Goethe. Barber van de Pol ist daneben auch selbst Schriftstellerin: Sie hat drei Kin‐ derbücher und zwei Romane veröffentlicht. Darüber hinaus sind zwei Essay‐ bände hervorzuheben, in denen sie sich explizit mit ihrer Übersetzungsarbeit auseinandersetzt: Cervantes & co: in plaats van voetnoten (2000) und Mobydicki‐ ana (2009). Barber van de Pol hat auch Kolumnen in renommierten niederländ‐ ischen Zeitungen wie De Volkskrant und De Groene Amsterdammer geschrieben. Darüber hinaus hat sie zwischen März 2013 und Dezember 2016 verschiedene Essays zum Thema ‚Übersetzung‘ in der niederländischen Zeitschrift Filter ver‐ fasst. Die ‚Übersetzungstheorie‘ von Barber van de Pol lässt sich am besten aus diesen neuesten Veröffentlichungen destillieren. Die Kolumnen in Filter zeichnen sich durch ihren ausgeprägt informellen Ton aus. Wir werden später sehen, dass dieser Tonfall keinesfalls unwichtig ist, wenn wir die Übersetzung des Don Quijote fokussieren. In ihren Kolumnen nimmt van de Pol klare, zuweilen kontroverse Standpunkte in puncto Übersetzung ein. Sie hebt durchgängig hervor, dass Übersetzung und Wissenschaft zweierlei sind: „Een vertaler ís geen taalkundige“ 10 (2016a: 12). Dementsprechend ist, so van de Pol, der subjektive literarische, auch emotionale Bezug des Übersetzers zum Text nicht unbedingt mit der Literaturwissenschaft in Einklang zu bringen: „Wie zich als ik heel veel meer tot de literatuur dan tot literatuurwetenschap voelt aan‐ getrokken, speelt liever voor Cervantes dan voor Cervantes-kenner.“ 11 (2000: 28) Ihre Abneigung gegen einen wissenschaftlichen, analytischen Ansatz in der Übersetzungspraxis schlägt sich auch in ihrer Ablehnung von Fußnoten als her‐ meneutisches Prinzip nieder. Im Jahr 2013 schreibt sie vor diesem Hintergrund: „Hou op met die bespottelijke ‚voetnoten van de vertaler‘. Denk je dat een Ne‐ Übersetzung und Reflexion: Barber van de Pol und Paul Claes 89 <?page no="90"?> 12 „Hören Sie mir auf mit diesen lächerlichen Fußnoten des Übersetzers. Glauben Sie, dass ein niederländischer Leser dümmer ist als der französische, deutsche oder spanische Leser, der das Original liest? “ 13 „Eine der hartnäckigsten Gewohnheiten beim Übersetzen besteht darin, mittels Fußnoten alles explizit erklären zu wollen, als Kompensation oder logische Anpassung. Auf diese Weise zeigt man Eifer statt Erfindungsreichtum, und gleichzeitig wird jede Illusion von Authentizität beseitigt. Fußnoten sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie integraler Bestandteil des Textes sind [...].“ 14 „Ich denke, dass der Leser vor allem zum Buch gebracht werden sollte.“ derlandse lezer stommer is dan de Franse, Duitse of Spaanse lezer die het ori‐ gineel las? “ 12 (2013: 21) Und später, im Jahr 2015, heißt es: Een van de hardnekkigste hebbelijkheden bij vertalen is om expliciet, dus niet via compensatie of logische aanpassingen, aan het uitleggen te slaan via het fenomeen voetnoten. Zo geef je blijk van ijver in plaats van inventiviteit, en tegelijk wordt elke illusie van authenticiteit weggenomen. Noten zijn alleen gerechtvaardigd als ze een geïntegreerde rol in de tekst spelen […]. 13 (2015: 4) Eine genuine ‚Übersetzungstheorie‘ hat van de Pol in ihren Reflexionen nicht entwickelt. Außer in Cervantes & co: in plaats van voetnoten (Cervantes & Co: Statt Fußnoten) schreibt sie selten über theoretische Ansätze. Hier befasst sie sich mit Benjamin und Schleiermacher und kommt in Anlehnung an Letzteren zu dem Schluss: „Mij dunkt dat de lezer vooral naar het boek moet worden ge‐ bracht.“ 14 (2000: 21) Was bedeutet das für die Übersetzung des Don Quijote? Die Version van de Pols wurde von der Kritik sehr positiv rezipiert (vgl. z.B. Evenhuis 1997, Steen‐ meijer 2007, Van Ee 1997). Die Rezensionen heben vorrangig den ‚modernen‘, verfremdenden Charakter der Übersetzung hervor. Ihre Übersetzung aus dem Jahr 1997 sei, so liest sich in mehreren dieser Rezensionen, wesentlich aussage‐ kräftiger als die von Werumeus Buning und Van Dam aus dem Jahr 1944. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass die beiden Übersetzungen fast 50 Jahre aus‐ einanderliegen und sich die Sprache naturgemäß weiterentwickelt hat, so dass ältere Formulierungen womöglich formeller erscheinen als aktuelle. Das gilt sicherlich auch für die Passagen, in denen der Erzähler spricht und die Über‐ setzung volkstümlicher klingt, also informeller als das Original. Van de Pol be‐ achtet allerdings auch in besonderem Maße die im Don Quijote so häufig vor‐ kommenden Registersprünge, die zwischen schwülstig, archaisch und umgangssprachlich wechseln. Darüber hinaus habe van de Pol auch den Rhythmus, der für Cervantesʼ Stil von grundlegender Bedeutung ist, in beson‐ derem Maße beachtet, so die Rezensenten. Philippe Humblé und Arvi Sepp 90 <?page no="91"?> 15 „Wer zu wenig wagt, kann ein totes Kind zur Welt bringen.“ 16 „Ich hätte Hunderte, Tausende von Anmerkungen machen können, informative, lustige, vielleicht aufschlussreiche, aber meine Entscheidung war, das Buch für sich selbst spre‐ chen zu lassen. Cervantes hat auch keine Fußnoten gemacht. Das Buch ist auch ohne Anmerkungen gut zu verstehen.“ 17 „Ich wurde einmal gebeten, ihn zu übersetzen, und jeder Tag dabei ist mir eine Freude. Schnell Kaffee kochen und hin zu ihm. Verrückt nach Kaffee war auch er; beinahe möchte man ihm eine extra Tasse bereitstellen.“ Es dürfte kein Zufall sein, dass der Aufsatz van de Pols in Filter zur Überset‐ zung des Don Quijote „Argeloosheid versus studie“ (‚Arglosigkeit versus Stu‐ dium‘) heißt. Wie eine Analyse von van de Pols Äußerungen zum Thema Über‐ setzung zeigt, tritt das Gegensatzpaar ‚Analyse/ Intuition‘ bei van de Pol immer wieder in den Vordergrund. Die Intuition des Übersetzers wird auf kontroverse Weise mit ‚Mut‘ assoziiert; ein Übersetzer muss es ‚wagen‘: „Wie te weinig waagt, kon wel eens een dood kind baren.“ 15 (van de Pol 1997: 37) In Überein‐ stimmung mit dieser Überzeugung findet sich keine einzige Fußnote in der ge‐ samten Übersetzung des Don Quijote: „Ik had honderden, duizenden noten kunnen maken, informatieve, grappige, wellicht onthullende noten, maar mijn keus was het boek voor zichzelf te laten spreken. Cervantes heeft ook geen noten gemaakt. Het boek kan het nog altijd makkelijk stellen zonder noten.“ 16 (ebd.) Auf der anderen Seite des literarischen Spektrums liegen die Borges-Über‐ setzungen van de Pols. Sie übersetzte sowohl seine Essays (Borges 2016a) als auch eine große Anzahl seiner Erzählungen (Borges 2016b). Der Übersetzung der Essays geht ein Vorwort voraus, in dem sie ihre Liebe zum argentinischen Autor zum Ausdruck bringt: „Ooit kreeg ik het verzoek hem te vertalen en alle dagen dat ik het doe, kijk ik ernaar uit. Even koffie maken en hup, naar hem. Dol op koffie was ook hij; je zou haast een extra kopje neerzetten.“ 17 (van de Pol 2016b: 3) Ein solcher Tonfall mag bei einigen Stellen in der Übersetzung des Don Quijote angemessen sein, bei Borges eher nicht. Bei ihm stellt sich van de Pol wiederum auf dessen Ton ein, der sich in Vokabular, Ausdruck und Satzkon‐ struktionen äußert. Van de Pols Borges-Übersetzung ist wörtlich nah, ohne indes der niederländischen Idiomatik Abbruch zu tun. Borges ist ein sehr ironischer Schriftsteller, selten spielt er mit unterschiedlichen Registern, außer z.B. in den Texten, die er zusammen mit Bioy Casares unter dem Pseudonym Bustos Do‐ mecq geschrieben hat. Cervantesʼ Erzählstil hingegen changiert kontinuierlich zwischen populär, gehoben und archaisch, was von van de Pol in der Überset‐ zung penibel berücksichtigt wird. Sie lehnt jeglichen wissenschaftlichen, theo‐ retischen oder reflexiven Leitfaden beim Übersetzen ausdrücklich ab. Auch wenn für van de Pol die Übersetzung ohne Theorie auskommt und für sich selbst Übersetzung und Reflexion: Barber van de Pol und Paul Claes 91 <?page no="92"?> 18 „Die Raffinesse, mit der er relevante Informationen in seinen sorgfältig verfassten Kom‐ mentaren verarbeitet, seine einsichtigen Notizen und anregenden Einleitungen und Epi‐ loge machen deutlich, wie sehr sich diese Hintergründe in den jeweiligen Übersetzungen entfalten.“ 19 „Das unwirtliche Land.“ Die deutschen Übersetzungen von Eliots Werk tragen den Titel Das wüste Land (1957) und Das öde Land (2008). sprechen sollte, so ist doch anhand ihrer Übersetzungen deutlich erkennbar, dass sie jeweils eine dem Ausgangstext angemessene Übersetzungsstrategie verfolgt. Paul Claes Der Belgier Paul Claes ( Jahrgang 1943) ist Übersetzer, Essayist, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Er übersetzte die modernistische Literatur von Pound, Rilke, Joyce, T.S. Eliot, Mallarmé, Rimbaud, die metaphysische Poesie von Donne, die klassische Literatur von Sappho, Horaz, Heraklit und Catull. In seinen Übersetzungskommentaren betont Claes immer wieder, dass literari‐ sches Übersetzen viel mehr bedeute als nur einen Text von einer Sprache in die andere zu übertragen: Jedes Werk macht einen fundamentalen Teil einer spezi‐ fischen literarischen Tradition und einer (supra-)nationalen Literaturgeschichte aus, die beide gleichermaßen mit übertragen werden müssen. Seine Überset‐ zungen zeichnen sich durch substantielle Kontextualisierungen und Kommen‐ tare aus, in denen das literarische Werk interpretiert und Übersetzungsent‐ scheidungen veranschaulicht werden. Für seine Übersetzungen erhielt er als erster Flame 1996 den prestigeträchtigen Martinus-Nijhoff-Preis. In der Lau‐ datio wird vor allem auf die Wechselwirkung von Hermeneutik und Überset‐ zung bei Claes verwiesen: „Het raffinement waarmee hij de relevante informatie uiteindelijk verwerkt in zijn gedegen commentaren, heldere aantekeningen en prikkelende inleidingen en epilogen, wijst erop hoezeer die informatie haar werking doet in de vertalingen zelf.“ 18 (Naaijkens et al. 1996: 18) Die Bedeutung eines wissenschaftlichen Umgangs mit Texten ist beispielhaft nachvollziehbar anhand von Claesʼ Übersetzungen von T.S. Eliots The Waste Land, Rainer Maria Rilkes Neue Gedichte und Arthur Rimbauds Illuminations. Diese drei hermeti‐ schen Werke der Moderne wurden bewusst zweisprachig herausgegeben, wo‐ durch Original und Übersetzung sowohl visuell - auf der linken und rechten Seite - als auch in den Kommentaren in Kontrast gesetzt werden. Hinsichtlich seiner Übersetzung von T.S. Eliots The Waste Land - Het barre land  19 (2007) - gibt der Übersetzer in einem Interview zu erkennen, dass seine hermeneutisch-interpretative Methode einen unmittelbaren Einfluss auf die je‐ weilige Übersetzung hat: „Mijn vertaling zou lang niet zo correct geweest zijn Philippe Humblé und Arvi Sepp 92 <?page no="93"?> 20 „Meine Übersetzung wäre längst nicht so gut geworden, wenn ich nicht all die Bücher und Artikel gelesen hätte, die in meiner Bibliographie angegeben sind.“ 21 „Viele meiner Übersetzungsentscheidungen stützen sich auf meinen Kommentar.“ 22 „Rätsel von Rilke.“ Raadsels van Rilke ist allerdings an erster Stelle als Interpretations‐ hilfe zu betrachten, in der ausgewählte Gedichte auch übersetzt wurden. 23 „Meine Übersetzung hat keine literarischen Ansprüche, sondern dient als Hilfsmittel, um die deutsche Sprache zu begreifen. Um den Kommentar besser lesbar zu machen, zitiere ich meistens die Übersetzung.“ 24 „sind so komplex, dass selbst die akkurateste Übersetzung nur einen Eindruck von ihrer Tiefe und ihrer Musikalität geben kann. Der Kommentar, in dem ich ausführlich auf Bedeutungs- und Klangeffekte eingehe, stellt deshalb eine notwendige Ergänzung meiner Version dar.“ 25 Die Kommentare von Paul Claes in Illuminations sind immer gemäß folgender Struktur aufgebaut: Auf eine allgemeine Charakterisierung des Textes folgt eine Auflistung von Parallelen und Modellen (Zitaten und Allusionen), dann kommen eine referenzielle und thematische Analyse und schließlich eine Auflistung stilistischer Besonderheiten. (vgl. Claes 1999: 136) als ik niet alle boeken en artikelen had doorgenomen die ik in mijn bibliografie vermeld.“ 20 (Claes 2007: 23) Der Übersetzungskommentar ist in diesem Fall nicht reine Hintergrundinformation, sondern ein praxeologischer Leitfaden, der Übersetzungsentscheidungen in einen literaturwissenschaftlichen Rahmen ein‐ bettet: „Heel wat vertaalkeuzes zijn gestuurd door mijn commentaar.“ 21 (Claes 2007: 22) Auf ähnliche Weise formuliert Claes in der „Gebrauchsanleitung“ zu seiner „Lektüre“ von Rainer Maria Rilkes Neue Gedichte in Raadsels van Rilke  22 (1995): „Mijn vertaling heeft geen literaire pretenties, maar is een hulpmiddel om het Duits te begrijpen. Om de leesbaarheid van het commentaar te bevorderen citeer ik meestal de vertaling.“ 23 (Claes 1995: 27) Die Übersetzung verfolgt einen ein‐ deutig interpretativen Zweck für den Leser. Claesʼ Ziel ist es, dem Leser mithilfe der Auslegung der vielfältigen Interpretierbarkeit der Gedichte Rilkes und der jeweiligen Übersetzung zu einem besseren Verständnis zu verhelfen. Überset‐ zung und Kommentar sind damit für ihn einander ergänzende Interpretations‐ hilfen. Auch in seinen Übersetzungen von Rimbauds Prosagedichten macht Claes deutlich, dass diese auf keinen Fall ohne die Kommentare und Interpretations‐ vorschläge betrachtet werden können. Rimbauds Prosagedichte „zijn zo com‐ plex dat zelfs de nauwkeurigste vertaling alleen maar een idee kan geven van hun veelzinnigheid en muzikaliteit. Het commentaar, waarin ik uitvoerig inga op betekenisen klankeffecten, is dan ook een noodzakelijke aanvulling op mijn versie.“ 24 (Claes 1999: 136) 25 In einem übersetzungskritischen Kommentar in einer anderen Rimbaud-Übersetzung ein Jahr zuvor, ebenfalls in zweisprachiger Übersetzung und Reflexion: Barber van de Pol und Paul Claes 93 <?page no="94"?> 26 „Jede Übersetzung weist gegenüber dem Original Defizite auf. Der Kommentar muss dem Leser ausreichende Informationen zur Verfügung stellen, um meine Übersetzung zumindest in Gedanken zu vervollkommnen.“ 27 „ein Versuch, contemplostate […] zum Ausdruck zu bringen.“ 28 „L’ardeur de l’été fut confiée à des oiseaux muets et l’indolence requise à une marque de deuils sans prix par des anses d’amours morts et de parfums affaissés.“ (Rimbaud 1999: 106) - „De gloed van de zomer werd toevertrouwd aan verstilde vogels en de vereiste lusteloosheid aan een kostbare rouwschuit door kreken vol afgestorven liefdes en vergane geuren.“ (Rimbaud 1999: 107) („Die Glut des Sommers wurde verstummten Vögeln anvertraut und die gebotene Trägheit einem kostbaren Trauerkahn durch Rinn‐ sale voller abgestorbener Lieben und vergangener Gerüche.“) 29 „Der ‚rouwschuit‘ verkörpert die Nacht vor dem Hintergrund der ‚Sommerglut‘ (Peri‐ phrase des sonnigen Tages).“ Ausgabe, kam bereits seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die Übersetzung abstrakter, moderner Texte de facto Defizite aufweist und der Kommentar folg‐ lich einen notwendigen Unterbau darstellt: „Elke vertaling schiet tekort tege‐ nover het origineel. Het commentaar moet de lezer voldoende gegevens bieden om mijn vertaling althans in gedachten te vervolmaken.“ 26 (Claes in Rimbaud 1998: 192) Die Tatsache, dass Paul Claes konsequent und in hohem Maße mit erklä‐ renden Fußnoten arbeitet, ermöglicht es ihm, sich mehr Freiheiten für die Über‐ setzung herauszunehmen (vgl. Holierhoek 2003: 15). In dem übersetzten Text finden sich Neologismen oder nichtexistente Umformungen, die er sich sonst vielleicht nicht zugestanden hätte, um nicht den Eindruck zu erwecken, es han‐ dele sich um Druckfehler oder verpönte Übersetzungsfehler. So wird die Wort‐ schöpfung „kontemprostaatsie“ (Claes in Rimbaud 1998: 107) vom Übersetzer umschrieben als „een poging om contemplastate […] weer te geven.“ 27 (Claes in Rimbaud 1998: 158) Ein weiteres Beispiel: Im zweiten Satz 28 von Rimbauds Pro‐ sagedicht Fairy wird das französische „anse“ mit dem idiosynkratisch klin‐ genden „rouwschuit“ (Trauerkahn) ins Niederländische übersetzt, was im Kom‐ mentar als Übersetzungsentscheidung legitimiert wird: „De ‚rouwschuit‘ is de nacht gezien als een dodenschip voor de ‚zomergloed‘’ (perifrase van de zonnige dag).“ 29 (Claes 1999: 183) Es wird hier deutlich, dass Claes in den oben vorgestellten Beispielen einer grundlegend anderen Methode folgt als Barber van de Pol. Die Übersetzungs‐ wissenschaft habe eine wichtige beschreibende Funktion beim Ergründen und Analysieren des Übertragungsprozesses, jedoch ohne dabei für den Übersetzer über normatives Potenzial zu verfügen: Om de discussie in goede banen te leiden bestaat de vertaaltheorie, die beschrijft wat er bij het vertalen gebeurt. Voorschrijven hoe we moeten vertalen, kan deze weten‐ Philippe Humblé und Arvi Sepp 94 <?page no="95"?> 30 „Um die Diskussion in die richtigen Bahnen zu lenken, gibt es die Übersetzungstheorie, die die Vorgänge beim Übersetzen beschreibt. Vorschreiben, wie wir übersetzen müssen, kann diese Wissenschaft, so fürchte ich, jedoch kaum, denn ebenso wie die Liebe ist Übersetzen nicht nur Können, sondern auch eine Kunst, die nicht weniger schwierig ist als die Kunst der Liebe.“ 31 „Die Interpretatoren gehen kontemplativ vor und interessieren sich nicht direkt für den Text. Ich habe den Eindruck, dass sie den Text längst nicht so gut kennen wie wir. Ich bin ohne Weiteres bereit, Professoren herauszufordern, zusammen mit mir ein paar Seiten durchzugehen und zu sehen, wovon sie handeln.“ 32 „Beim Übersetzen war es mein Ziel, so nah wie möglich am Ausgangstext zu bleiben, ohne jedoch dem niederländischen Idiom Gewalt anzutun.“ 33 Bezüglich literarischer Übersetzungen aus dem Französischen stellt Claes fest, dass diese „vaak gesteld zijn in een weinig idiomatisch Nederlands. Dat ‚Nederfrans‘ ontstaat doordat vertalers te weinig oog hebben voor de systematische verschillen tussen de bronen de doeltaal. We kunnen dat vertaals aanzienlijk verbeteren door ons subjec‐ tieve taalgevoel in te ruilen voor objectieve vertaalregels.“ (Claes 2011: 37) („oftmals in einem wenig idiomatischen Niederländisch verfasst sind. Dieses ‚Niederfranzösisch‘ entsteht dadurch, dass Übersetzer zu wenig auf systematische Unterschiede zwischen Ausgangs- und Zielsprache achten. Wir können diese Übersetzungssprache erheblich verbessern, indem wir unser subjektives Übersetzungsgefühl gegen objektive Überset‐ zungsregeln eintauschen.“) schap, vrees ik, nauwelijks, want net zoals de liefde is de vertaling niet alleen een kunde, maar ook een kunst die niet minder moeilijk is dan de kunst van de liefde. 30 (Claes 2011 [1988]: 173) In einem Interview mit Karin Kosmeijer in De Groene Amsterdammer vom 7. August 1991 aus Anlass der Übersetzung von James Joyces Ulysses, die Claes damals zusammen mit Mon Nys vorbereitete und die schließlich 1994 erschien, sagt Claes, dass er als Übersetzer mit seiner hermeneutisch-analytischen Me‐ thode ein viel tiefer gehendes Verständnis vom Text aufbringen muss als die meisten Joyce-Forscher: „Die Interpretatoren zijn beschouwend bezig en inte‐ resseren zich niet direct voor de tekst. lk heb de indruk dat zij de tekst veel minder goed kennen dan wij. Ik wil gerust professoren uitdagen om samen met mij enkele bladzijden door te nemen en te bekijken waar ze over gaan.“ 31 Trotz ihrer gezielten lexikalen Exotisierung kann Claesʼ Übersetzungsauffas‐ sung im Allgemeinen als ‚idiomatisch‘ bezeichnet werden, wobei es ihm jedoch mehr um Lesbarkeit und Verständlichkeit geht als um Wörtlichkeit. Im Zusam‐ menhang mit seiner Rimbaud-Übersetzung schreibt Claes: „Bij het vertalen heb ik ernaar gestreefd zo dicht mogelijk bij de grondtekst aan te sluiten zonder het Nederlandse idioom geweld aan te doen.“ 32 (Claes 1999: 136) 33 In ähnlicher Weise hat er bei seiner Übersetzung des Ulysses von James Joyce eine stilistische Ent‐ sprechung angestrebt. Es geht ihm dabei mehr um die Oberflächenstruktur, die nicht am Englischen festhält (vgl. Claes 1991: 18; vgl. Claes 2011 [1988]: 167). Übersetzung und Reflexion: Barber van de Pol und Paul Claes 95 <?page no="96"?> 34 Beispiele für einen wissenschaftlichen Nachvollzug dieses Vorgehens finden sich z.B. in Gernig (1999) und El Gendi (2010). Paul Claes befürwortet also einerseits eine idiomatische Übersetzungsmethode, diese muss andererseits aber durch die konsequente Angabe einer wissenschaft‐ lich fundierten Legitimation für eine gezielte Exotisierung in einem Überset‐ zungskommentar der Spezifität des Textes gerecht werden. Fazit Die Übersetzungstheorie kann Übersetzern eine Terminologie und einen Be‐ griffsapparat zur Verfügung stellen, mit deren Hilfe sie sich mit Übersetzungs‐ fragen auseinandersetzen können. Die Analyse der Übersetzungsauffassungen von Barber van de Pol und Paul Claes zeigt auf, dass - bei aller Unterschied‐ lichkeit der Vorgehensweise - der Übersetzung des Textes immer eine intensive Beschäftigung mit dem Ausgangstext vorangeht. Auch diese ist bereits eine übersetzungswissenschaftliche Herangehensweise an den Text, denn man setzt sich nicht nur mit den Sprachstrukturen auseinander, sondern auch mit den in diesen Sprachstrukturen enthaltenen Deutungsmustern. Sprachstrukturen werden nicht allein als linguistische Werkzeuge betrachtet, sondern auch als Ausdruck einer Weltsicht und Grundlage für eine spezifische Interpretation. 34 Bereits solche hermeneutischen Elemente können als Ausgangspunkt einer praxisorientierten Übersetzungswissenschaft gelten, der es im Hinblick auf die Vermittlung der wechselseitigen Relevanz von Theorie und Praxis nicht so sehr darum geht, Regeln für ‚richtiges‘ Übersetzen bereitzustellen, sondern vielmehr zu versuchen, das Bewusstsein von Übersetzern und Übersetzungswissenschaft‐ lern für die unterschiedlichen Facetten des Übersetzens und für die Vielfalt an Alternativen und individuellen Übersetzungsentscheidungen sowie ihre Impli‐ kationen zu steigern. 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Er ist nicht nur als Lyri‐ ker und Übersetzer aus dem Deutschen hervorgetreten, sondern ebenso als Ver‐ fasser essayistischer Schriften zur Literaturwissenschaft und literarischen Über‐ setzung. Kopacki übersetzte u.a. lyrische Texte von Bertolt Brecht, Gottfried Benn, Hans Magnus Enzensberger und Herta Müller, aber auch essayistische Schriften von Walter Benjamin, Hannah Arendt, Max Weber und Martin Pollack. Kopacki gibt die Literaturzeitschrift Literatura na Świecie (Weltliteraturen) 1 he‐ raus, die in Polen im Bereich der Literaturübersetzung Maßstäbe setzt, da sie ein Team von namhaften Übersetzern um sich versammelt. So werden in Polen aktu‐ elle Tendenzen der Weltliteratur einem breiten Lesepublikum zugänglich ge‐ macht. Die einzelnen Hefte haben thematischen Charakter und sind jeweils einzel‐ nen Autoren, Autorengruppierungen oder Gattungsentwicklungen gewidmet. Die Zeitschrift ist dabei nicht auf die Übersetzung von Literatur beschränkt, sondern bietet dem polnischen Lesepublikum ebenfalls einen umfassenden Fundus an theoretischen Texten (Walter Benjamin, Gershom Scholem, Harold Bloom) und ist somit durchaus auch theoriebildend wirksam. Neben Überset‐ zungen beinhalten die Hefte Essays sowie Interviews mit Autoren und Über‐ setzern, so dass sowohl auf ausgangssprachlicher, als auch zielsprachlicher Seite eine breite Kontextualisierung gewährleistet bleibt. Das Konzept scheint auf‐ zugehen, Literatura na Świecie gehört zu den meist gelesenen (und in wissen‐ <?page no="100"?> 2 „Schöner Gehorsam und Verschuldung. Rede aus Anlass der Verleihung des Überset‐ zerpreises der Robert-Bosch-Stiftung.“ 3 „Metaphern, die ‚wissen‘, was Übersetzen ist“ schaftlichen Arbeiten zitierten) Zeitschriften. Sie schafft damit ein Forum zum Gedankenaustausch zwischen Übersetzern und Theoretikern und bildet pro‐ grammatisch die wechselseitige Beeinflussung von Übersetzungstheorie und übersetzerischer Praxis ab: Theorie (als Metanorm übersetzerischen Handelns) soll mit der Arbeit des Übersetzens zusammengeführt werden. Die Zeitschrift deckt zugleich die Tätigkeitsfelder Kopackis ab, die sich zwi‐ schen übersetzerischer Arbeit, Popularisierung, Kulturvermittlung und Theo‐ riebildung bewegen. So ist Kopacki nicht nur einer der begabtesten Literatur‐ übersetzer in Polen, er hat auch höchst originelle Gedanken zum Übersetzen formuliert. Bislang hat Kopacki keine zusammenhängende Übersetzungstheorie vorgelegt, in seine übersetzungskritischen Essays sind aber immer wieder Be‐ merkungen mit grundlegendem Charakter eingestreut (vgl. Kopacki 2002 und 2016). Die Vorgehensweise ist stets induktiv: Kopacki geht vom konkreten Übersetzungsfall aus und versucht, unter Rückgriff auf - nicht immer explizit genannte - theoretische Positionen Modelle übersetzerischen Handelns zu ge‐ nerieren. Diese essayistischen Schriften sollen im Fokus der nachstehenden Überlegungen stehen, um die Wechselwirkung von Theorie und Praxis in Ko‐ packis Schaffen nachzuvollziehen. „Wissende Metaphern“ - Kopackis Arbeit am Übersetzungsdiskurs Einer der Texte, die - unter Bezugnahme auf die eigene Übersetzungstätigkeit - theoretische Überlegungen zur Literaturübersetzung formulieren, ist die Rede, die Kopacki 2000 bei der Entgegennahme des Übersetzerpreises der Robert- Bosch-Stiftung hielt: „Piękne posłuszeństwo i zadłużenie. Przemówienie z okazji otrzymania Nagrody Fundacji Roberta Boscha.“ 2 (Kopacki 2000: 292-295). Auf‐ fällig ist der extensive Gebrauch von Metaphern. Im Titel der Rede finden sich gleich zwei Metaphorisierungen der Übersetzung, die im Text entfaltet werden: zum einen die Metapher der Treue (bzw. des Gehorsams) und zum anderen die Metaphorisierung der Übersetzung als ‚Verschuldung‘ am Original. Metaphern haben im Übersetzungsdiskurs ihren festen Ort. Der polnische Übersetzer, Translationswissenschaftler und Literaturtheoretiker Edward Bal‐ cerzan beschäftigt sich in seiner Studie „Metafory, które ‚wiedzą‘, czym jest tłu‐ maczenie“ 3 (2005) mit Metaphern, die seit Jahrhunderten bei der Beschreibung der zentralen Fragen der Translationswissenschaft verwendet werden. Bal‐ cerzan untersucht Ähnlichkeiten, die sich in Metaphern verschiedener Epochen Beate Sommerfeld 100 <?page no="101"?> und Sprachen bzw. Kulturen finden und verweist auf ihre axiologische und die epistemologische Funktion. Als einer der ersten untersuchte Werner Koller (1972: 40-63) den Stellenwert metaphorischer Rede im Übersetzungsdiskurs und zeigte eine Kontinuität in der Verbindung der metaphorischen Meta-Sprache mit den jeweils vorherrschenden Diskursen über Translation auf. Der Gebrauch von Metaphern lässt also Rückschlüsse auf übersetzungspraktische Präferenzen und translatologische Grundüberzeugungen zu, insofern wohnt ihnen ein heu‐ ristisches Potenzial inne. Sie legen bestimmte Übersetzungspraktiken nicht nur offen - die rhetorische Durchschlagkraft der tropischen Rede wird auch legiti‐ mierend wirksam. Auf der anderen Seite führt metaphorische Rede aber auch eine innovative Kraft mit sich, indem sie hilft, sich von etablierten Denkmo‐ dellen zu distanzieren oder sie weiterzudenken. So gibt Theo Hermans zu be‐ denken: The study of figurative usage in discourses on translation contributes to an under‐ standing of past and present conceptualizations of translation. It also helps us to ap‐ preciate how a change of metaphors can open up new ways of thinking. (Hermans 2004: 118) Damit illustrieren und begleiten Metaphern das Nachdenken über Übersetzung und halten es für Neuerung offen. Ihr übersetzungstheoretisch innovatives Po‐ tenzial liegt nicht nur darin begründet, dass übersetzungswissenschaftliche Konzepte und Paradigmen weiterentwickelt werden, sondern auch in der Of‐ fenlegung ihrer Instabilität. Metaphorik tritt also immer dort in Erscheinung, wo theoretische Konzepte und Performanz nicht ineinander aufgehen, und scheint die inhärente Spannung zwischen Theorie und übersetzerischer Praxis offenzulegen (vgl. ebd.). Insbesondere die Dichotomie zwischen einer am Original ausgerichteten oder aber einer freien Übersetzung scheint extensiv in metaphorische Rede überführt worden zu sein, wobei die Metaphern ebenso auf die Legitimationszwänge der Übersetzer als auch auf die Fragwürdigkeit des Konzepts verweisen. Mit dem geflügelten Wort von den belles infidèles nach Gilles Ménage (1613-1692) nimmt die Sexualisierung der Übersetzung ihren Lauf, die bis heute ihre Produktivität nicht eingebüßt hat (vgl. Hermans 2004: 122f.). Sie ist vor allem von feministi‐ scher Seite heftig kritisiert worden (vgl. Resch 1998, Flotow 2005 und 2014). So wird die Geschlechtermetaphorik im Übersetzungsdiskurs von Lori Chamber‐ lain (1988) aufgezeigt. Auch Vera E. Gerling (2008: 61-64) verweist auf stereotype Genderdiskurse im Hinblick auf die Übersetzung, die immer auch Machtver‐ hältnisse spiegelt, und sowohl wörtlich als auch metaphorisch in den Kategorien des Abgeleitet-Seins und der Inferiorität beschrieben wird. Die westliche Kultur „Wissende Metaphern“ als Diskurs und Handlungsrahmen der Übersetzung 101 <?page no="102"?> 4 „Die Beziehung zwischen Übersetzung und Original hat tatsächlich etwas von der Perversität der erotischen Beziehung. Sie bezeichnet ein Verhältnis zum Anderen und mit dem Anderen; eine Partnerschaft, die unvermeidlich ihren Anfang im Unterschied der Sprachen hat und die dem Übersetzer nur eine einzige Wahl lässt: den schönen Gehorsam. (Den Umstand, dass die Übersetzung im Deutschen weiblichen Geschlechts ist, schreibe ich dem Zufall zu.) Der Einstellung des ‚schönen Gehorsams‘ liegt eine Verbindung von Ästhetik und Ethik zugrunde, die dem Anderen die Ambition des Herrschens zugesteht, und jegliche Untreue - von Akten offener Gewalt ganz zu schweigen - verbietet sich von selbst.“ betont also deutlich den abgeleiteten Status der Übersetzung und bedient sich dabei eines bestimmten Weiblichkeitsdiskurses. Die metaphorische Rede von der Treue gegenüber dem Original verschiebt Kopacki zum „Gehorsam“, der ein anderes semantisches Feld entfaltet und als Gegenpol die Semantik des „Despotismus“ aufruft. Der Gehorsam gegenüber dem Original wird damit in eine Beziehung der Opposition zur Aspiration des Beherrschens gesetzt, die dem Anderen innewohnt. Indem er die Metaphern der Herrschaft ins Spiel bringt, führt uns Kopackis auf die Spur von Derridas Text The Hostipitality (Derrida 2000: 3-18), in dem die Ambivalenz des Umgangs mit dem Anderen, die Möglichkeit der Unterwerfung unter das Original bzw. dessen Dominanzbildung aufgeworfen wird. Derrida metaphorisiert den Übersetzer als einen Hausherrn (‚hôte‘), der dem Anderen als einem Gast Einlass gewährt. Im Augenblick der Konfrontation mit dem Gast ist der Hausherr gezwungen, sich ihm gegenüber zu positionieren und zugleich seine eigenen Kompetenzen und Rechte als Gastgeber festzulegen. Eine bedingungslose Gastfreundschaft, also die extreme Öffnung für das Andere, führt dazu, dass die Regeln und Rechte, die im Hause gelten, nivelliert werden: der Andere wird zum Eindringling und übernimmt die symbolische Herrschaft. Die Aporien dieser unauflösbaren Span‐ nung zwischen Gastfreundschaft (‚hospitalité‘) und Feindschaft (‚hostilité‘) bringt Derrida in ihrer Kontaminierung zum Neologismus „Hostipitality“ zum Ausdruck. Dieses Spannungsverhältnis wird in Kopackis Text entfaltet: Wdzięcznie perwersyjny erotyzm życiowego partnerstwa między przekładem a oryginałem - coś tu chyba jest na rzeczy. Stosunek do Innego i z Innym; partnerstwo, które nieuchronnie ma swój początek w międzyjęzykowej różnicy i przyznaje tłumaczeniu tylko jedno prawo: być pięknie posłusznym. (Okoliczność, że przekład - Übersetzung - jest po niemiecku rodzaju żeńskiego, kładę na karb przypadku.) Nadto pojęcie pięknego posłuszeństwa zakłada taki związek estetyki i etyki, w którym uznaje się aspirację Innego do panowania, a wszelka niewierność - nie mówiąc już o aktach przemocy - jest wykluczona. 4 (Kopacki 2000: 293) Beate Sommerfeld 102 <?page no="103"?> Indem er den Übersetzungsprozess in das Bild einer erotischen Beziehung kleidet, nimmt Kopacki zunächst auf die Sexualisierung der metaphorischen Rede über Übersetzung Bezug. Die Metapher der Partnerschaft, in die sie un‐ merklich hinübergleitet, verweist jedoch über die erotische Verstrickung hinaus auf das gegenseitige Zugestehen von Rechten. Die rechtlich geschützte Part‐ nerschaft, der Ehevertrag, zielt auf das Aushandeln von Rechten und Kompe‐ tenzen. Damit wird der Ambition zum Herrschen des Anderen quasi die Spitze genommen und die Verfangenheit der Übersetzung in die Derrida’sche ‚hosti‐ pitality’ relativiert. Der Übersetzer wird allerdings dazu angehalten, sich dem Anderen nicht auszuliefern, seinem Herrschaftsanspruch nicht zu erliegen. Damit wird ein Verständnis von Übersetzung ins Feld geführt, das Überset‐ zungen als Aushandlungszonen von Differenzen in den Blick nimmt und sich in Opposition zum Verständnis des Übersetzens als eines passiven Vorgangs positioniert. Diese Sichtweise der Übersetzung wird ebenfalls über den Rückgriff auf Me‐ taphern legitimiert. Der in Klammern gesetzte Hinweis auf die ‚Weiblichkeit‘ des Übersetzens legt eine weitere metaphorische Spur zu Derridas Text The Ear of the Other (1988). Im Interview, das dem Text zugrunde liegt, wird der franzö‐ sische Philosoph gefragt, warum er die maskuline Form „Übersetzer“ benutze, auch wenn von einer Übersetzerin die Rede sei. Die Antwort ist zunächst, es gehe ihm um das allgemeine der Übersetzung (das grammatische Geschlecht sei rein zufällig). Durch die Frage wird Derrida jedoch zu Überlegungen zum Status der Übersetzerin verleitet: […] the woman translator in this case is not simply subordinated, she’s not the author’s secretary. She is also the one who is loved by the author and on whose basis alone writing is possible. Translating is writing: that is, it is not translation only, in the sense of transcription. It is a productive writing called forth by the original. Thus the […] woman is on the side of the affirming law […]. The woman translator can be translated as secondary, subordinated, opressed feminity, but one can also translate her as ab‐ solutely desirable, the one who makes the law, truth and so forth. (Derrida 1988: 153) An dieser Stelle, auf die Kopacki in seiner Rede anspielt, wird der Archetyp von der „Weiblichkeit“ des Übersetzens negiert und die Arbeit der Übersetzerin als produktive Tätigkeit aufgewertet. Die Position der Übersetzung wird damit nicht nur gestärkt, sondern in einen ethischen Rahmen gestellt: Übersetzerische Praxis wird zu einer rechtlich geschützten Angelegenheit, hat mit Verantwor‐ tung zu tun und wird auf Wahrheit verpflichtet. Übersetzung wird damit als ethischer Akt konzipiert: „An agreement, or obligation of whatever sort - a promise, a marriage, a sacred alliance - can only take place, I would say, in „Wissende Metaphern“ als Diskurs und Handlungsrahmen der Übersetzung 103 <?page no="104"?> 5 „The original is in a situation of demand, that is, of a lack or exile. The original is indebted a priori to the translation. […] Translation does not come along in addition, like an accident added to a full substance; rather, it is what the original demands. […] If the translation is indebted to the original, […] it is because already the original is indebted to the coming translation.“ (Derrida 1988: 152f.) translation.“ (Derrida 1988: 125) Die ethische Verantwortung vor dem Original wird wiederum metaphorisch gefasst, in der - ebenfalls Derrida entlehnten - Metapher der Schuld, wobei Kopacki den Begriff ‚zadłużenie‘ benutzt, der in den ökonomischen Kontext gehört. Sie erscheint bereits im Titel von Kopackis Rede und wird im Text unter Berufung auf The Ear of the Other weiterentwickelt, der in polnischer Übersetzung zitiert wird: Oryginał jest w sytuacji żądania, a to znaczy: braku i wygnania. Oryginał jest a priori zadłużony w tłumaczeniu. […] Tłumaczeni nie ukazuje się jako zwykły dodatek, akcydens przydany pełnej substancji, jest raczej tym, czego żąda oryginał. […] Jeśli tłumaczenie jest zadłużone w oryginale, […] to dlatego, że oryginał jest już zadłużony w przyszłym tłumaczeniu. 5 (Kopacki 2000: 294) Die Verschlungenheit von Original und Übersetzung stellt die einfache Oppo‐ sition von Original und Übersetzung infrage, die Übersetzung ist mit dem Ori‐ ginal in einem nicht auflösbaren Abhängigkeitsverhältnis verstrickt. Dabei ist es die Unmöglichkeit der Übersetzung, die die ‚Verschuldung‘ des Übersetzers nach sich zieht. Mit Derrida sieht Kopacki die Übersetzung somit in einer un‐ aufhebbaren Spannung - das Andere ist stets auf dem Rückzug und verlangt trotzdem nach der Übersetzung. Das erotische Moment, das Kopacki in der Übersetzung veranschlagt, sieht er somit in einer spannungsvollen Beziehung zum Anderen, die in der unhinter‐ gehbaren Differenz der Sprachen ihren Ursprung hat. Der „schöne Gehorsam“ wiederum, den Kopacki für die Übersetzung geltend macht, liegt in der Verant‐ wortung vor dem Text, die dieser Differenz Rechnung trägt und darum weiß, dass die Übersetzung dem Original immer etwas schuldig bleibt. Von diesem nicht zu kittenden Riss zwischen den Sprachen spricht Kopacki in all seinen Essays immer wieder mit großer Eindringlichkeit. Das Verleugnen dieser Dif‐ ferenz resultiert in der „Lebenslüge des Übersetzers“ („życie w kłamstwie“, Ko‐ packi 2000: 294). Um diese sinnfällig zu machen, wird das metaphorische Feld der ehelichen Partnerschaft entfaltet, wenn etwa vom „Heiratsschwindler“ („oszuści matrymonialni“) (ebd.) die Rede ist, und damit der Übersetzer gemeint ist, der das Eigenrecht des Anderen verleugnet und dem Leser die Illusion ver‐ mittelt, er habe es mit dem Original zu tun. So führt Kopackis Rede einen meta‐ phorischen Subtext mit sich, in dem ethische Fragen der Übersetzung verhandelt Beate Sommerfeld 104 <?page no="105"?> 6 „[…] sens działalności przekładowej, który wyczerpuje się w tym, aby niestrudzenie zbliżać się do Innego. Mimo świadomości, że jest to cel nieosiągalny.“ (Kopacki 2000: 294) „[…] der Sinn der übersetzerischen Tätigkeit erschöpft sich darin, sich dem Anderen anzunähern. Auch wenn man sich dessen bewusst sein muss, dass dies ein unerreich‐ bares Ziel ist.“ 7 „Es verlässt den Diskurs der Ähnlichkeit und Substitution und verortet sich im Diskurs der Anlehnung und der Re-Kombination. […] Der Ausgangstext ist dabei sowohl die erste Ursache, der Prä-Text der Übersetzung, als auch ihre Ergänzung und Vollendung.“ werden, über ökonomisch konnotierte Metaphern wird zugleich immer wieder der lebenspraktische Aspekt der Übersetzung ins Bewusstsein gerufen. Die ‚doppelte Bindung‘ (double bind) der Übersetzung (Derrida 1988: 129) be‐ zieht sich jedoch nicht nur auf die nie ganz überbrückbare Differenz zwischen den Sprachen, sondern auch auf das Andere der Literatur. Im Gefolge Derridas ist für den polnischen Übersetzer dieses Andere des Textes, das mit der Literatur gleichgesetzt werden kann, ein Unerreichbares. Die Literatur ist eben das, was ungreifbar bleibt, das nicht Übersetzbare, das doch die Übersetzung einfordert: „There is something ‚untouchable‘, something of the original text that no trans‐ lation can attain.“ (ebd.: 114) So liegt der Sinn der Übersetzung für Kopacki in einer steten Annäherung an das Andere, im Bewusstsein, dass dieses nie ganz erreicht werden kann. 6 In Anlehnung an Derrida modelliert Kopacki die Über‐ setzung somit als produktive Schreibpraxis, die sich ihrer unaufhebbaren „Ver‐ schuldung“ am Original bewusst bleibt. Dieses Übersetzungsverständnis korres‐ pondiert mit der Auffassung von Übersetzung als einem metonymischen Vorgang, als kreatives Weiterschreiben des Originals. So situiert Tamara Brzos‐ towska-Tereszkiewicz das metonymische Übersetzen im Spannungsfeld zwi‐ schen Anlehnung und Neu-Schaffen: Wykracza poza dyskurs podobieństwa i substytucji (mimesis) i sytuuje się w dyskursie przyległości i kombinacji. […] Tekst źródłowy jest zarówno pierwszą przyczyną, pre-tekstem przekładu, jak i jego przylegającym dopełnieniem. 7 (Brzostowska-Teresz‐ kiewicz 2012: 65) Im Unterschied zur Modellierung von Übersetzung als metaphorischer Prozess, die zur Abwertung von Übersetzung als rein mechanische, parasitäre und in‐ feriore Tätigkeit der Substituierung führt, würdigt eine metonymische Auffas‐ sung Übersetzung als innovatives Fortführen des Originals (Tymoczko 1999: 279f.). Durch die Konzeptualisierung von Übersetzung als metonymischer Prozess und mithin als Modus literarischen Schaffens, wird nicht nur die Illusion der Transparenz entmystifiziert (Venuti 2008: 24), es verkompliziert sich auch die Binarität von treuer bzw. verfremdender und freier, bzw. einbürgernder Übersetzung (vgl. Beasley 2012: 558). Dem metonymischen Übersetzen geht es „Wissende Metaphern“ als Diskurs und Handlungsrahmen der Übersetzung 105 <?page no="106"?> 8 „[...] die Übersetzung sollte so präzise wie möglich nicht nur Form und Inhalt der Vorlage wiedergeben, sondern noch etwas mehr: ihren sprachlichen Wirkungs‐ mechanismus, d.h. das Wechselspiel von Sinn und Sinnträgern, all das, was die Sprache unter der Federführung des Autors und der ihm zur Verfügung stehenden Techniken mit dem Text ‚tut‘.“ nicht um die wörtliche Treue zum Original, nach Douglas Robinson (1991: 144) impliziert es eine Grundhaltung gegenüber dem Anderen der literarischen Vor‐ lage: Ihm liege die Liebe zum Original zugrunde, der Übersetzer versuche, den Mechanismus des Ausgangstextes mit den Mitteln der Zielsprache nachzuvoll‐ ziehen. Ähnlich schreibt Brzostowska-Tereszkiewicz (2012: 59), der metony‐ misch verfahrende Übersetzer versuche den Konstruktionsmechanismus des Originals zu erfassen und mit den Mitteln der Zielsprache wiederzugeben. Meto‐ nymische Übersetzungspraxis kommt somit ohne eine „conceptual analysis of the source text“ (Brzostowska-Tereszkiewicz 2016: 133) nicht aus. Übersetzerische Praxis „Schöner Gehorsam“ gegenüber dem Original ist dementsprechend nicht das Ersetzen, das Transkribieren im Sinne eines metaphorischen Prozesses, sondern das metonymische Weiterschreiben als eine produktive Praxis, die dem Original in Verantwortung verpflichtet bleibt. Aus diesem Übersetzungskonzept ver‐ sucht Kopacki einen translatorischen Handlungsrahmen zu gewinnen. Das Be‐ streben, sich an den Ausgangstext anzulehnen und im Zieltext den Mechanismus der Vorlage wiederzugeben, ist sowohl in seinen übersetzungskritischen Texten als auch in eigenen Übersetzungen gut erkennbar. Er entwickelt daraus zunächst ein übersetzungskritisches Modell, das auf der konzeptuellen Analyse des Ori‐ ginals basiert. In seinem Celan-Essay „… skoro kamień jest. Przekłady wybrane Paula Celana“ („… weil Stein ist. Ausgewählte Übersetzungen der Lyrik Paul Celans“) fordert er: […] przekład powinien mianowicie jak najtrafniej oddawać w innym języku nie tylko formę i treść oryginału, ale coś jeszcze - mechanizm działania językowego, tzn. wzajemną zależność sensów i ich nośników, czy też instrumentów przekazu; tego wszystkiego, co język pod piórem autora i za pomocą właściwych mu technik ‚robi‘ w tekście i z tekstem. 8 (Kopacki 2002: 170) Übersetzung modelliert Kopacki somit als das Nachvollziehen der poetischen Verfahren, die in den Ausgangstexten zum Tragen kommen. Im Falle Celans erblickt er diese darin, das Sprachmaterial zu destruieren und wieder neu zu‐ sammenzusetzen, sowie in der Polysemie, syntaktischen Mehrbezüglichkeit, Beate Sommerfeld 106 <?page no="107"?> 9 Zu Henri Meschonnics Poetik des Rhythmus beim Übersetzen von Paul Celans Lyrik siehe den Beitrag von Vera Viehöver im vorliegenden Band. 10 2010 folgte die Nobelpreisträgerin einer Einladung der Raczyński-Bibliothek in Poznań. den Klangbildern, Rhythmen und intratextuellen Verweisen (Kopacki 2002: 164) 9 . An der Übersetzung Ryszard Krynickis bemängelt Kopacki man‐ gelndes Formbewusstsein und eine nonchalante Haltung gegenüber dem Ori‐ ginal, die zu unberechtigten Abweichungen führe - dem Anderen der Celan’‐ schen Lyrik werde somit der Einlass in die polnische Sprache verwehrt. Dem wird die Neuübersetzung von Jakub Ekier gegenübergestellt, der gemäß dem „Mechanismus“ von Celans Gedichten übersetze und damit dem Original Ge‐ horsam erweise. Jakub Ekier - in ähnlichem Maße wie die Übersetzung von Stanisław Barańczak - sei nicht dem Prinzip einer falsch verstandenen Treue im Sinne einer metaphorisch-substituierenden Übersetzung aufgesessen, die das Translat zu einer unlesbaren Transkription des Originals werden lasse (vgl. ebd.: 64-73). Um in Derridas Metaphorik zu bleiben: Die nach dem Prinzip der Meto‐ nymie verfahrenden Übersetzer haben ihr Hausrecht nicht aufgegeben, sondern mit den Mitteln der eigenen Sprache einen lesbaren poetischen Text produziert. An einem solchen Modell von Übersetzung, das nicht in der Dichotomie von Schönheit vs. Treue aufhebbar ist und Übersetzen als produktive Schreibpraxis realisiert, die sich von den im Original wirksamen Mechanismen leiten lässt, richten Kopackis eigene Übersetzungen sich aus. Sein übersetzerisches Ver‐ fahren soll im Folgenden anhand seiner Übersetzungen der Text-Bild-Collagen von Herta Müller paradigmatisch vorgeführt werden. Herta Müller ist in Polen recht gut bekannt. Alle wichtigen Texte wurden ins Polnische übersetzt, die Autorin war mehrfach in Polen zu Gast (2003 auch an der Adam-Mickie‐ wicz-Universität in Poznań). 10 Ihre Text-Bild-Collagen sind jeweils in einer an‐ deren Auswahl in zwei Übersetzungen erschienen: Der zweisprachigen Ausgabe mit der Übersetzung und einem ausführlichen Nachwort von Leszek Szaruga (Müller 2013) und der ebenfalls deutsch-polnischen Auswahl in der Übersetzung von Kopacki in Literatura na Świecie (Müller 2014: 133-156). Müllers Collagen sind hybride Arbeiten aus Text- und Bildschnipseln, die die Autorin nach ihrer Ausreise in die BRD aus den westdeutschen Printmedien ausschnitt und zu bi‐ zarren Werken neu zusammenfügte. Zu Paul Celans Lyrik ergeben sich gewisse Gemeinsamkeiten der poetischen Strategien, die im Auseinandernehmen des (Bildund) Sprachmaterials zum Tragen kommen, um es nach eigenen poeti‐ schen Gesetzen neu zusammenzusetzen. Diese kreative Kombinatorik ist das Herzstück der poetischen Strategie der rumäniendeutschen Dichterin. Auch die Gattung betreffend sind die Collagen hybrid, sie erzählen durchaus Geschichten aus dem Leben unter der rumänischen Diktatur, dabei gerät die narrative Text‐ „Wissende Metaphern“ als Diskurs und Handlungsrahmen der Übersetzung 107 <?page no="108"?> 11 Eine ausführliche Analyse zu den polnischen Übersetzungen der Collagen Müllers findet sich in Sommerfeld (2014: 95-103). bewegung immer wieder aus dem Tritt und erstarrt zu visuellen Arrangements, die auf simultane Wahrnehmung hin ausgerichtet sind und die Collagen eher lyrischen Texten angleichen. Besonders verpflichtet sind Müllers poetische Ver‐ fahren der experimentellen Lyrik der Wiener Gruppe, sie besitzen eine ausge‐ prägte Lautstruktur, die sie quer zu den narrativen Formationen rhythmisiert. Müllers Collagen charakterisiert zunächst eine spielerische Leichtigkeit, die aber immer wieder in einen tiefen Ernst umschlägt, der in traumatisch verhär‐ teten Erinnerungen seinen Ursprung hat. An den beiden polnischen Übersetzungen lassen sich jeweils völlig unter‐ schiedliche Strategien ablesen. Leszek Szaruga orientiert sich an der narrativen Achse und ist bemüht, den Inhalt möglichst kohärent wiederzugeben, seine translatorische Strategie wird im ausführlichen Nachwort des Übersetzers dar‐ gelegt. Kopacki konzentriert sich dagegen auf die poetischen Verfahren der Vorlage. 11 Dies soll am folgenden Textbeispiel aus Müllers Collagen-Band Die blassen Herren mit den Mokkatassen (2005) verdeutlicht werden: Der Schlaf warf mit der schwarzen Schnur Sen rzucił czarny sznurek Dran lief das Nachthalshuhn mit dem Ge‐ sicht wiódł na nim nockę gołoszyjkę miała des Briefträgers und Mutters Hochzeit‐ bildfrisur twarz listonosza i fryzurę matki z monidła Als ich vom Sackbahnhof vier Uhr kiedy o czwartej ze stacji czołowej kuku‐ rydzowskiem Durchs Maisfeld immer nur durchs s e l b e wciąż tym samym żółto drapiącym chmurę haushoch gelbe Maisfeld zum Vater ins kukurydzowskiem jechałam do ojca który Gefängnis fuhr (Müller 2005: o.S.) siedział za murem (Müller 2014: 47). Die Collage hat durchaus eine klar nachvollziehbare narrative Ebene, sie handelt von einem traumatischen Kindheitserlebnis in der rumänischen Diktatur: Das Kind fährt am frühen Morgen schlaftrunken durch die endlosen rumänischen Maisfelder, um seinen internierten Vater im Gefängnis zu besuchen. Die kon‐ zeptuelle Analyse der Collage, die auch die formalen Merkmale einbezieht, er‐ gibt eine starke Rhythmisierung des Textes. Grundmetrum ist der Trochäus, der Beate Sommerfeld 108 <?page no="109"?> erst zu Beginn der vorletzten Zeile in den Jambus überwechselt. Die durch Reim (Reimschema: A - B - A - A - C - D - A) und Metrum erzielte Dynamik der Textbewegung korrespondiert mit dem atemlosen Laufen durch das Maisfeld, wobei die semantischen Bezüge mittels der typographischen Gestaltung unter‐ stützt werden, indem das Wort „lief “ im Kursivdruck erscheint und so die Bewegung graphisch nachbildet. Ein weiteres Merkmal der Collagen Müllers ist der spielerische Umgang mit dem Sprachmaterial, der es zu befreiendem Non‐ sens umordnet, und als ästhetische Fluchtbewegung vor schmerzhaften Erin‐ nerungen zu lesen ist: Indem im Sprachspiel Bedeutung fluide gemacht wird, sollen traumatische Verhärtungen aufgebrochen werden. Die Elemente finden aber immer wieder zusammen zum bedrückenden Erinnerungsbild und machen das vorgefundene Sprachmaterial durchlässig für die dem Kind zugefügten Ver‐ wundungen. Die Dynamik der Textbewegung wird immer wieder unterbrochen, die lautlich-prosodische Rhythmisierung wird durch ein intrigierendes Wech‐ selspiel mit der visuellen Strukturierung durchkreuzt, indem die Elemente gra‐ phisch hervorgehoben werden, die auf die Senkungen des Metrums fallen. Da‐ durch wirkt der Rhythmus gebrochen, die Textbewegung, in der sich die Autorin vom Phantasma der Vergangenheit freischreiben will, wird durch die semanti‐ schen und lautlichen Redundanzen („durchs Maisfeld immer nur durchs selbe haushoch gelbe Maisfeld“) abgebremst, die die Insistenz der Erinnerung sinn‐ fällig machen, an die rumänischen Maisfelder, die in ihrer Endlosigkeit die Hoff‐ nungslosigkeit einer zum Stillstand gerinnenden Zeit der Diktatur versinnbild‐ lichen. Die lautliche Rhythmisierung interferiert auf der visuellen Ebene mit der Redundanz der Farben, die eine weitere rhythmisch wirksame Wiederholungs‐ struktur darstellt. Das Wort „ich“ erscheint auf grünem Hintergrund, der sich im Bildteil wiederholt, während die mit dem Vater und dem Gefängnis verbun‐ denen Elemente in Schwarz-Weiß-Kontrasten gehalten sind. Die Collage ist damit über die medialen Grenzen hinweg lautlich und visuell rhythmisiert. Zu den horizontalen, sich mit der Textbewegung entfaltenden Bezügen kommen Korrespondenzen, die sich quer zum Text ergeben und Vertikalen aufreißen. Von dem Wortelement „Gefängnis“, das aufgrund seiner Größe und des schwarzen Fettdrucks den Textteil dominiert, verläuft eine assoziative Achse zu dem in den Bildteil über dem Text montierten Arm, der mit seinem schwarzweiß gestreiften Ärmel an eine Gefängniskluft erinnert. Der Sinn von Müllers experimentellen Text-Bild-Collagen erschließt sich somit über die Materialität der Elemente, die nach Gesetzen zusammengefügt werden, die auf tiefsitzende Erfahrungen hin‐ deuten. So verweisen die harten Schnitte im Bildteil der Collage auf die Pein und Gewaltsamkeit der Trennung, den Riss, der mitten durch die Welt und den Menschen geht. „Wissende Metaphern“ als Diskurs und Handlungsrahmen der Übersetzung 109 <?page no="110"?> Kopackis Übersetzung setzt bei den formalen Zügen des Originals an und versucht, den Mechanismus der Vorlage zu rekonstruieren. Der Übersetzer hat augenscheinlich die Bedeutung des Rhythmus erkannt. So wird vor allem der Reim, wenn auch zuweilen an anderer Stelle, als Binnenreim beibehalten (sznurek - Schnur, fryzurę - Frisur, chmurę - Wolke, żółto - gelb, który - wel‐ cher, murem - Mauer), was stark rhythmisierende Redundanzen erzeugt, die der Rhythmisierung der Vorlage gerecht werden. Der Übersetzer ist bei der Suche und Integrierung von Reimwörtern äußerst kreativ, wenn er das Wort „Ge‐ fängnis“ durch „za murem“ („hinter der Mauer“) ersetzt oder das Wortelement „haushoch“ durch „drapiący chmurą“ („wolkenkratzerhoch“) wiedergibt. Der sorgfältig herausgearbeitete Reim übernimmt die prosodische Funktion des Metrums. Die Dynamik der Textbewegung, die sich von dem traumatischen Er‐ lebnis freischreiben will, bleibt so erhalten. Die spielerische Kontingenz des Sprachspiels, die in Müllers Collage über die Materialität der ausgeschnittenen und neu zusammengefügten Wortelemente erzielt wird, akzentuiert die Über‐ setzung über den Neologismus „kukurydzowisko“ (kukurydza - Mais, das Suffix -isko denotiert eine Ansammlung oder räumliche Ausbreitung). Die konsequent durchgehaltenen Enjambements öffnen den Text auf semantische Mehrbezüg‐ lichkeit hin und realisieren einen spielerischen Umgang mit dem Sprachmate‐ rial, der der Poetik von Müllers Collage durchaus entspricht. Auf der anderen Seite wird die Insistenz der Erinnerung, die in der Collage über die Bildlichkeit und Konstellation der Bild- und Wortelemente sinnfällig gemacht wird, durch die semantischen Redundanzen („kukurydzowiskiem wciąż tym samym żółto drapiącym chmurę kukurydzowiskiem“) (wörtlich: „durch die Maisansamm‐ lung, die immer wieder gleiche wolkenkratzerhohe gelbe Maisansammlung“) beibehalten, die gleichermaßen den Grundaffekt der Angst und Verzweiflung vermitteln. Die Spannung zwischen spielerisch dynamischer Textbewegung und der Eindringlichkeit des Erinnerungsbildes, die den Rhythmus der Collage aus‐ macht, wird damit von Kopacki wiedergegeben. Von einer wortgetreuen Übersetzung im Sinne einer metaphorisch-substitu‐ ierenden Übersetzungspraxis ist Kopackis Fassung weit entfernt. Die Eingriffe des Übersetzers in den Text demontieren die Illusion der Transparenz des Über‐ setzens. Der polnische Text erweist dem Original vielmehr Gehorsam, indem er in der Zielsprache seine poetischen Verfahren nachvollzieht. Auf diese Weise soll dem Anderen der Collagen Müllers Einlass in die polnische Sprache gewährt werden. Der Übersetzer Kopacki gibt sein ‚Hausrecht‘ jedoch nicht auf, sondern schafft mit den Mitteln der eigenen Sprache einen lesbaren poetischen Text. Auf diesem Wege wird die Dichotomie Treue versus Schönheit von Kopacki durch‐ kreuzt. Sie wird in einem metonymischen Übersetzen aufgehoben, das sich als Beate Sommerfeld 110 <?page no="111"?> innovative, kreative produktive Praxis des Weiterschreibens realisiert, die der Vorlage verpflichtet bleibt. Die Übersetzung führt die poetische Struktur der Vorlage metonymisch weiter, indem sie selbst nach dem künstlerischen Ver‐ fahren der Collage agiert und die Vorlage nicht als fixe Sinnstruktur, sondern als bewegliches Gefüge von Elementen handhabt, die aufgrund ihrer materiellen Eigenschaften (Klang, Visualität) interagieren. Das Verfahren der analysierenden Dekomposition und Re-Komposition zieht sich durch alle Lyrikübersetzungen Kopackis. Seine neuesten Übersetzungen der Gedichte von Hans Magnus Enzensberger (2015: 5-15, 83-95) zeigen, dass sich der Übersetzer nicht nur im Falle experimenteller Lyrik an der Lautfaktur oder visuellen Signatur des Sprachmaterials orientiert und aus ihnen Sinn ge‐ neriert, um den zielsprachlichen Lesern einen poetisch geformten Text anzu‐ bieten. Fazit Zunehmend sind es die Übersetzer selbst, die die vielbeschworene Unsichtbar‐ keit des Übersetzers (Venuti 2008) durchbrechen, indem sie persönlich das Wort ergreifen und ihre Arbeit kommentieren und reflektieren. Damit wird nicht nur dem Übersetzungsmetier zur Geltung verholfen, sondern auch der Schritt von der Theorie zur Praxis (bzw. von der Praxis zur Theorie) getan - die Übersetzer werden zur Schaltstelle, an der die akademische Übersetzungskritik mit der Übersetzungspraxis vermittelt wird (vgl. Sommerfeld 2016: 110). Ausgehend von der eigenen Übersetzungspraxis wirft Kopacki einen Blick auf übersetzungs‐ theoretische Konzepte und gleicht sie mit den Erfordernissen übersetzerischer Arbeit ab. Kopackis Texte führen damit exemplarisch die Option einer Theo‐ riebildung ‚von unten‘ vor, und tun in dieser Weise dem Wunsch einer engeren Anbindung der Theorie an die Praxis Genüge. Als Diskursivierungsform von Übersetzungstheorie wird dabei essayistisches Schreiben erprobt. Die subjektiv-reflexive Form des Essays bietet den Raum, die eigenen Erfahrungen beim Übersetzen mit theoretischen Positionen zu vermitteln. Der Essay stellt den Rahmen bereit, in dem der Übersetzer sein Programm des Übersetzens nicht nur reflektiert, sondern als figurativ inszenierte Gedankenspiele ebenso disku‐ tiert wie literarisch umsetzt - die übersetzerischen Problemfelder werden in einer suchenden Textbewegung weniger in Begrifflichkeit aufgelöst als in sug‐ gestive Bilder übersetzt (ebd.). In seinen Essays nimmt Kopacki am translatologischen Diskurs mittels tro‐ pischen Sprechens teil, partizipiert aber nicht einfach an den bereits etablierten Metaphern zur Übersetzung, diese werden vielmehr weitergedacht und auf „Wissende Metaphern“ als Diskurs und Handlungsrahmen der Übersetzung 111 <?page no="112"?> kunstvolle Weise miteinander verknüpft. Mit diesem Wandern durch die Meta‐ phern der Übersetzung werden übersetzungstheoretische Positionen miteinan‐ der vernetzt und etablierte Grundüberzeugungen neu zur Disposition gestellt - z.B. die simplifizierende und in metaphorischer Rede festgeschriebene Verhär‐ tung der Fronten zwischen „sourcerers“ und „targeteers“ (Hermans 2004: 124). Die Arbeit am Übersetzungsdiskurs vollzieht sich in den Essays in einem me‐ tonymischen Gleiten durch die metaphorische Rede von Übersetzung. Nicht nur die übersetzungstheoretischen Schriften, sondern auch die Übersetzungen bieten sich auf der diskursiven Ebene der Lesbarkeit dar und können als per‐ formativ inszenierte Kritik an etablierten Überzeugungen und übersetzerischen Maximen gedeutet werden. Im metonymischen Verfahren werden bei Kopacki Übersetzungstheorie und -praxis zusammengeführt. Auf beiden Ebenen reali‐ siert Kopacki ein produktives Weiterschreiben, das seiner Anbindung an die - theoretischen und literarischen - Vorlagen eingedenk bleibt. Literaturverzeichnis Balcerzan, Edward. 2005. „Metafory, które ‘wiedzą’, czym jest tłumaczenie.“ (Metaphern, die wissen, was Übersetzen ist). Teksty Drugie 5, 41-52. —2009. Tłumaczenie jako „wojna światów”. W kręgu translatologii i komparatystyki. (Übersetzung als „Krieg der Welten.“ Aus Translatologie und Komparatistik). Poznań: Wydawnictwo Naukowe UAM. Barańczak, Stanisław. 1990. Mały, lecz maksymalistyczny manifest translatologiczny (Kleines, aber maximalistisches translatologisches Manifest). Teksty Drugie 3, 7-66. Beasley, Rebecca. 2012. „Modernism’s Translation.“ In: Mark Wollaeger / Matt Eathough (Hg.). The Oxford Handbook of Global Modernism. Oxford / New York: Oxford Univer‐ sity Press, 551-570. 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Einübung in das Denken Gérard Granels „Introduction“ zu seiner Übersetzung von Martin Heideggers Was heißt Denken? Laura Strack In gewisser Hinsicht läge es sicherlich nahe, den französischen Philosophen Gérard Granel (1930-2000) als einen Theoretiker und Praktiker der Übersetzung zu bezeichnen. Aus dem Deutschen übersetzte er vier längere Texte von Martin Heidegger, ein Werk des Phänomenologen Edmund Husserl sowie die Großzahl der Veröffentlichungen Ludwig Wittgensteins ins Französische. Antonio Gramscis Gefängnishefte übertrug er aus dem Italienischen, David Humes poli‐ tische Essays aus dem Englischen in seine Muttersprache. Die meisten seiner Übersetzungen erschienen in Granels eigenem, 1980 gegründeten Verlag Trans-Europ-Repress, der sich auf übersetzte fremdsprachige Philosophie spezi‐ alisiert hatte. Hier verlegte er auch 1985 gemeinsam mit Antoine Berman, An‐ nick Jaulin und anderen den Band Les Tours de Babel, der Granels wichtigsten übersetzungsphilosophischen Text „Les langues sont des terminaux logiques“ (1985) und andere „essais sur la traduction“ versammelte. Spätestens ab der Veröffentlichung dieses Aufsatzes, in dem er sein materi‐ alistisches Sprachverständnis auffaltet und den im abendländischen Denken tradierten idealistischen Sinnbegriff kritisiert, nimmt man ihn in übersetzungs‐ theoretisch interessierten Kreisen wahr und zieht ihn auf der Suche nach einer „doctrine en matière de traduction“ ( Janicaud 2001: 3) als Experten zu Rate. Solche vermeintlichen Ehrungen schlägt Granel jedoch entschieden in den Wind: „C’est une question d’une magnifique naïveté. La réponse est négative. Non seulement je n’ai pas de doctrine en matière de traduction de Heidegger, mais je n’ai pas de doctrine en matière de traduction tout court.“ 1 (ebd.) <?page no="116"?> Jenseits von Theorie und Praxis Granels vehemente Ablehnung der bloßen Idee einer einheitlichen ‚Theorie der Übersetzung‘ oder gar einer translatologischen ‚Doktrin‘ gründet in seiner Überzeugung, dass es gerade im Bereich des Übersetzens hinfällig ist, eine ‚praktische‘ von einer ‚theoretischen‘ Ebene zu trennen. Analyse und Poiesis, Denken und Schreiben gehen für den Übersetzer und Denker unauflöslich mit‐ einander einher; das Übersetzen gilt ihm als „une des pratiques philosophiques les plus élevées“ (Schulze 2014: 2), als philosophische Praxis, als denkendes Handeln, als Denken in actu. In der Dichotomie von Theorie und Praxis sieht er ein hartnäckiges Residuat des metaphysischen Weltbilds, für dessen Dekonst‐ ruktion und Überwindung er als Philosoph Zeit seines Lebens eintritt. Dement‐ sprechend anregend sind im Kontext einer Diskussion über Theorie und Praxis des Übersetzens Granels Kommentare, die er seinen großen Übersetzungen als Paratexte beigefügt hat und die in beeindruckender Weise bezeugen, wie un‐ trennbar Granels Übersetzungstätigkeit mit seinem sprach- und sinnphiloso‐ phischen Denken verknüpft ist: Seine Übersetzungen sind selbst Texte, die denken, und sein Denken ist immer schon, in gewisser Weise, Übersetzung. Im Folgenden soll nun Granels „Introduction“ zu seiner traduction von Hei‐ deggers Was heißt Denken? vorgestellt werden, die Ende der Fünfzigerjahre in Zusammenarbeit mit dem deutschen Aloys Becker entstand und 1959 erstmalig bei den Presses Universitaires de France erschien. Dieser sprachlich und ge‐ danklich bemerkenswert dichte Übersetzungskommentar Granels ist im Hin‐ blick auf die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis des Übersetzens, die hier als Frage nach der Möglichkeit einer Überwindung gestellt werden soll, umso aufschlussreicher, als bereits die heideggersche Vorlage wesentlich um den Zusammenhang von Denken und Übersetzen, Sprachmaterialität und Sinn‐ schöpfung kreist. Was schreibt Granel zu Qu’appelle-t-on penser? in seiner „Introduction“? Wieso fühlt er sich als Übersetzer dazu berufen, den gut zweihundert Seiten umfassenden Vorlesungen, die Heidegger im akademischen Jahr 1951/ 1952 an der Universität Freiburg hielt, ein Vorwort hinzuzufügen, das gleichermaßen einleitet und kommentiert, vorwegnimmt und ergänzt? Zum Geleit Auf knapp zwanzig Seiten fasst Granel einerseits die großen inhaltlichen Schwerpunkte des heideggerschen Textes zusammen, wobei er sie um eigene Denkbewegungen, Assoziationen und Überlegungen erweitert. So wird der Laura Strack 116 <?page no="117"?> 2 Zugunsten der Lesbarkeit werden die Zitate aus Granels „Introduction“ im Foglenden lediglich durch die Angabe der Seitenzahlen aus Granel (1973: 1-19) belegt. Alle anderen Verweise werden durch die übliche Kurzangabe gekennzeichnet. 3 „Von vorne bis hinten ist dieses Buch eine Übersetzung - und zwar in einem grundle‐ genden Sinne, den es nun zu erhellen gilt.“ französischsprachige Leser der „Introduction“ vor der Lektüre des übersetzten Textes bereits wissen, dass dieser von ihm unter anderem verlangen wird, sich mit einem Satz - „en un instant“ (wörtlich: „in Sekundenschnelle“, 2) 2 - in das sogenannte vorsokratische Denken zu versetzen und dabei die epistemologi‐ schen Voraussetzungen der abendländischen Geistesgeschichte seit Platon kurz‐ zeitig - in einem „vaillant oubli“ (4) - unverzagt zu vergessen. Er wird wissen, dass der Text Heideggers sich ihm als „apprentissage de la pensée“ (1), als Ein‐ übung in das Denken präsentieren wird, in dem Sinne, als er genau das zu denken sucht, was sich dem Denken üblicherweise entzieht - und zwar nicht nur dem metaphysischen Denken, sondern auch der „première pensée des Grecs“ (6), wenn auch in einer anderen Weise (vgl. 17). Und er wird wissen, dass Heidegger dieses sich Entziehende, das ihm so wichtige Sein im Sinne eines prozessualen Werdens (εον εμμεναι), in der Sprache selbst suchen wird, auf dem schwankenden Boden („terrain mouvant“), der die Sprache ist, in ihr als stür‐ mischem Meer („mer houleuse“, 19). Neben diesen inhaltlichen Vorwegnahmen widmet Granel in seiner „Intro‐ duction“ dem Aspekt der Übersetzung großes Augenmerk und entfaltet die Frage nach der Übersetzung, der „traduction elle-même“ (1), als eine, die im heideggerschen Text mehr oder minder explizit angelegt sei und ihn durch und durch belebe: „[L’]ouvrage constitue d’un bout à l’autre - mais en un sens fon‐ damental qu’il faut ici tenter d’éclaircir - une traduction“ 3 (ebd.). Dieser an‐ fänglichen Ankündigung Folge leistend, geht es Granel in der „Introduction“ vor allem darum, jenen grundlegenden Sinn aufzuzeigen, in dem der von ihm übersetzte Text Heideggers selbst nichts anderes ist als eine Übersetzung. Auch wenn so zu Beginn der „Introduction“ noch nicht eindeutig geklärt ist, inwiefern Was heißt Denken? denn nun eine Übersetzung ist, stellt Granel bereits klar: Wenn Was heißt Denken? die titelgebende Aufgabe, das Denken zu denken, er‐ füllt, dann tut der Text dies im Modus des Übersetzens. Der somit postulierte intrinsische, um nicht zu sagen wesentliche Zusammenhang zwischen Denken und Übersetzen scheint die Initiative des Übersetzers zu rechtfertigen, selbst vor seiner Übersetzung als (Weiter-)Denker in Erscheinung zu treten. Wobei der den Text denkende Übersetzer auf diese Weise zum Über-Setzer wird, zum Fähr‐ mann, zum Christophoros, der dem Leser Geleit gibt auf seinem Weg hinein in Einübung in das Denken 117 <?page no="118"?> den heideggerschen Text; auf dieser Passage, dieser ‚Überfahrt‘, die nur in einem Sprung gelingen kann („cette Traduction [qui] ne réussit que par un saut“, 2). Im Netz der Bezüge Um nun zu verstehen, auf welch grundlegende Weise Heideggers Text selbst schon eine Übersetzung ist, genügt es, sich dessen innere Textpragmatik vor Augen zu führen: Granel tut dies, indem er, den Leser „auf solche Art in das Denken“ (Heidegger 1954: 85) geleitend, seine eigene Stimme in den heidegger‐ schen Text hineinruft. Dort fügt sie sich in den polyphonen Chor jener Stimmen, die Heidegger aus der Philosophie- und Literaturgeschichte in seinem Text zi‐ tiert, um sie dort vielfach und immer wieder anders erklingen zu lassen. Na‐ mentlich Parmenides’, Nietzsches und Hölderlins Stimmen mischen sich mit der des deutschen Denkers; sie versucht er zu vernehmen, durch sie spricht er selbst. Heidegger setzt diese Stimmen in seinen Text hinein und drückt sich selbst über sie aus, indem er nach ihrem verborgenen Sinn gräbt, sie immer und immer wieder sagt, dreht und wendet, zerlegt und erneut zusammenbaut - mit anderen Worten: sie hin und her übersetzt. Granel nun fügt diesem hochgradig inter‐ textuellen Gefüge durch seine „Introduction“ eine weitere Stimme hinzu. Er er‐ gänzt diesen Text, der offenkundig schon viele Texte ist, um einen weiteren. Somit setzt er fort, was als programmatische Geste im heideggerschen Original erkennbar ist: Die Stimme des Autors erklingt durch die Sprache eines anderen, die Übersetzung eines alten Textes wird zum Denk-Raum eines neuen, jedwede Rangordnung zwischen Original und Zitat, Autor und Übersetzer, Davor und Danach wird aufgehoben. Fast kokett bekräftigt Heidegger an einer zentralen Stelle des Textes, sich selbst „in der Aufgabengrenze des Übersetzens“ (Heidegger 1954: 168) zu halten. Bescheiden ist diese Selbsteinschätzung nur vordergründig. Denn schließlich geht es Heidegger darum, „das Denken zu lernen“ (ebd. 5) - was nun bedeut‐ samer Weise im Modus der Übersetzung geschieht. Der erste Teil der Vorlesung ist insofern Übersetzung, als er sich an einer sprachanalytisch fundierten Aus‐ legung von Nietzsches Worten, der „trois mots de Nietzsche“ (1) versucht. Im zweiten Teil wird dann Stück für Stück und mit größter Akribie ein Fragment des Vorsokratikers Parmenides aus dem Altgriechischen neu übersetzt. Die Ant‐ worten auf die Frage Was heißt Denken? sucht Heidegger in den Texten und Äußerungen vermeintlich allzu bekannter Denker, die er jedoch sorgfältig und jede Lesegewohnheit verwerfend neu und anders übersetzt. Da er die geläufigen Auslegungen oder Übersetzungen der nietzscheanischen und parmenidischen Fragmente für defizitär befindet, zieht er für seine Archäologie am Wort lieber Laura Strack 118 <?page no="119"?> die Dichtungen Hölderlins zu Rate, eines Autors also, den man bekanntermaßen für seine ‚unbequemen‘, poetischen Übersetzungen antiker Texte rühmt (vgl. Beissner 1961). Granel nimmt diese Verpflichtung an ein ‚denkendes Übersetzen‘ ernst, indem er in seiner „Introduction“ die eigenen Übersetzungsentscheidungen in ähnlicher Weise abklopft, wie Heidegger es mit den seinen tut, und indem er noch weitere Texte, namentlich Heideggers Hölderlin-Kommentar „Andenken“ (vgl. 3-7), in das vielschichtige Textgeflecht hineinwebt. Übersetzend legt er den Text Heideggers aus und legt Weiteres in ihn hinein, ganz im Sinne desselben, für den „jede Übersetzung […] aber schon Auslegung [ist]“ (Heidegger 1954: 107). Der Übersetzer denkt den heideggerschen Text von dessen Über‐ setzt-Sein her und versteht den ihm eingeschriebenen, performativen Überset‐ zungsbegriff - wer übersetzt, denkt; wer denkt, übersetzt - als Aufforderung, selbst auslegend Eingang zu nehmen in das Textgeflecht, das Was heißt Denken? schon im deutschsprachigen Original ist. Sowohl im heideggerschen Text selbst als auch im Kommentar seines Über‐ setzers ereignet sich also radikale Bezüglichkeit als Motor des Schreibens; zeigt sich Übersetzung als originärer Modus des Textwerdens, als Praxis eines be‐ züglichen und in seiner Bezüglichkeit schöpferischen Denkens. Der Text selbst soll es sagen Es ist wichtig, in diesem Kontext zu erwähnen, dass die soeben skizzierte glei‐ chermaßen verschachtelte wie offene innere Textpragmatik sowohl für Hei‐ degger als auch für Granel programmatischen Stellenwert hat, geht es doch beiden Denkern auf inhaltlicher Ebene letztlich um die Infragestellung des me‐ taphysischen Erkenntnisregimes, das die vermeintlichen Hierarchien zwischen Subjekt und Objekt, Original und Kopie, ‚lebendigem‘ Wort und ‚toter‘ Schrift hervorgebracht hat. Heidegger interessiert sich im zweiten Teil von Was heißt Denken? ja gerade deswegen für die Neuübersetzung des Parmenides-Frag‐ ments, weil er darin die platonistische Sonne - „le soleil du Platon du Plato‐ nisme“ (13) - aufgehen sieht, die später das gesamte Abendland in das gleißende Licht der ‚seinsvergessenen‘ Vernunft tauchen wird. Die tradierten Übersetzungen des Parmenides-Fragments lassen Heidegger zufolge seine historische Teilhabe an diesem epochalen Umbruch vom soge‐ nannten vorsokratischen Denken zum für die nachfolgenden 2000 Jahre maß‐ geblichen Platonismus verschwinden (vgl. Heidegger 1954: 109ff.) - eine Neu‐ übersetzung erscheint dem Philosophen von daher dringend nötig, um die Kontingenz des platonischen Weltbildes und ihre historische Begrenztheit von Einübung in das Denken 119 <?page no="120"?> ihrem Ende her auf ihren Anfang hin sichtbar zu machen. Das parmenidische Fragment nehme die epochale Sinnverschiebung vom vorsokratischen Denken zum platonischen Zeitalter der Metaphysik vorweg und ‚rufe‘ sie so gewisser‐ maßen auf paradoxe Weise herbei. In ihm erklinge das „ungesprochen[e] Ge‐ heiß, das in den Beginn des abendländischen Denkens weis[e]“ (ebd. 110). Wie genau dieses Geheiß im vorsokratischen Text ins abendländische Denken ruft, wie genau also „la première pensée des Grecs […] appe[lle] ce lever du jour qui fait du monde une caverne“ (8f.) - das zu erarbeiten obliegt dem sehr kleinteilig vorgehenden Autor von Was heißt Denken? selbst. In einer sehr ausgefeilten Neuübersetzung tastet Heidegger den Spruch des Parmenides Wort für Wort ab und legt ihn vermittels der Übersetzung und gemäß der Leitfrage nach dem abendländischen Bild des Denkens neu aus. Überzeugt davon, dass „die vom neuzeitlichen Begriffsdenken her gelenkte Auslegung des griechischen Denkens diesem nicht nur ungemäß [bleibe], sondern [zudem] verhinder[e], daß wir vom Fragwürdigen des griechischen Denkens angesprochen […] w[ü]rden“ (Heidegger 1954: 129), versucht er, sich durch die kühne und unbequeme Neu-Übersetzung auf andere Weise an den Spruch heranzuschreiben. Dabei finden „grammatisch[e] Überlegung[en]“ (ebd. 223) ebenso Beachtung wie die „Wörterordnung“ (ebd. 114) und die etymologisch nachweisbaren und assozia‐ tiven semantischen Tiefenschichten der einzelnen Worte: „Die Weite des Aus‐ schlages seiner Bedeutung gehört überhaupt zum Wesen jedes Wortes“ (ebd. 168). Neu heißt für Heidegger folglich: so, dass durch die Übersetzung nicht nur „eine frühere Meinung der Philosophie zur Kenntnis [gebracht]“, sondern dass es möglich wird, „aus dem Spruch erst zu hören, in welche Grundzüge seines Wesens das Denken geheißen wird“ (ebd. 168). Die Neuübersetzung ist für Heidegger also ein aktives Aufbegehren gegen die tradierte abendländische Denkordnung, die einen unvoreingenommenen Blick auf die vorplatonische Philosophie versperre und diese höchstens als „pri‐ mitiv“ oder „noch nicht so weit fortgeschritten“ (ebd. 112f.) wahrnehmen könne: Auf welche Weise sollen wir nun aber den Spruch übersetzen? Hier bleibt nur ein Weg offen. Wir versuchen, ohne Rücksicht auf die spätere Philosophie und die von ihr geleistete Auslegung dieses Denkers, gleichsam aus der Frische der Worte auf den Spruch zu hören. (ebd. 109) Die Übersetzung soll also einen neuen, frischen Zugang zu dem Spruch schaffen, sodass die „Sprache des Parmenides“ (ebd. 114), gleichsam durch eine Überwin‐ dung des metaphysischen Sinnregimes, wieder vernehmbar werde. Gelingt es dem Denker, sich an die Sprache des Parmenides heranzuschreiben, gewisser‐ maßen in sie hin-über-zu-setzen, mag es ihm auch gelingen, „das Fragen [dieses] Laura Strack 120 <?page no="121"?> 4 Eine ausführliche Einschätzung des Verhältnisses von Dekonstruktion und Überset‐ zung findet sich bei Hirsch (1997). 5 „So soll es uns schließlich das Buch selbst sagen.“ 6 „Das Werk ‚Was heißt denken? ‘ ist im Grunde selbst eine Übersetzung.“ 7 „Der Text, der übersetzt werden soll, ist ein denkender Text.“ Denkers in die Fragwürdigkeit seines Gedachten hineinzufragen“ (ebd. 113), also freizulegen, was das eigentlich Drängende, nicht Selbstverständliche dieses Denkens ist, das Parmenides dazu bewegt hat, etwas aufzuschreiben, was nur im Nachhinein und durch völlige Unkenntnis der epistemischen und sinnge‐ schichtlichen Voraussetzungen dieses begriffslosen Denkens (vgl. ebd. 128) banal und belanglos anmuten mag. Bereits im heideggerschen Text also wird die Übersetzung als wichtiges Me‐ dium für die philosophische Dekonstruktion der Metaphysik 4 gekennzeichnet und deutlich gemacht: Ein antimetaphysischer Denker ist weniger ein im si‐ cheren Hafen des Begrifflichen vor sich hin kontemplierender Philosoph als vielmehr ein ständig „auf einem schwankenden Boden“ (ebd. 169) sich befin‐ dender Navigator „im Wellengang [des] Meeres“, das die Sprache ist. Er kann sich nicht auf die bestehenden Auslegungen und die geläufigen Deutungen der alten Texte verlassen, sondern muss immer wieder ohne Rücksicht auf tradierte Sinngebungen um „die Frische der Worte“ ringen, ihnen das ‚entlocken‘, was sie zwar immer schon sagen, was aber im ‚Begriffsgewitter‘ des konzeptuellen Denkens nur allzu leicht untergeht. Im Umkehrschluss ist ein Übersetzer je‐ mand, der durch seine bedingungslose Verpflichtung an die Sprache stets fern der sicheren Ufer des Begriffs und des Konzepts navigiert, dessen einziger Kom‐ pass in den Weiten des stürmischen Meeres (s.o.) das Sprechen des jeweiligen Textes selbst ist. In praktischer Konsequenz erteilt auch der Übersetzer Granel zum Ende seiner Einleitung zu Qu’appelle-t-on penser? dem Text das Wort: „Laissons enfin le livre le dire ...“ 5 (18f.). Sowohl für Heidegger als auch für Granel sind es die übersetzten, in den eigenen Text hinübergesetzten Texte selbst, die ‚sagen‘ und in gleichem Maße denken. Jedwede Trennung der übersetzerischen Praxis vom Nachdenken über diese wird in einem solchen Textdenkraum obsolet. Denken ist Übersetzen Wenn Granel also einerseits beobachtet: „Qu’appelle-t-on penser? est […] un ouvrage qui constitue lui-même une traduction.“ 6 (1), und andererseits feststellt: „[L]e texte qu’il s’agit de traduire est un texte qui pense.“ 7 (15), wird unmiss‐ verständlich deutlich, in welchem fundamentalen Sinn Übersetzen und Denken Einübung in das Denken 121 <?page no="122"?> 8 „Von ihm lernen wir, die Übersetzung zu denken, indem wir zunächst lernen, dass jedes Denken ein Übersetzen ist.“ 9 „Ich habe fast den Eindruck, dass es keine andere Möglichkeit gibt.“ 10 „So weit wollten wir mit unseren Fragen gar nicht gehen; wir wollten doch lediglich zu einem gewissen Denken der Übersetzung gelangen.“ 11 „Die Frage ‚Was heißt denken? ‘ eilt allen anderen voraus.“ zusammenhängen. Die Übersetzung, die Qu’appelle-t-on penser? ist, denkt selbst. Sie ist der Modus, in dem dieser Text denkt. Er denkt, weil er Übersetzung ist; als Übersetzung ist er denkend. Denken heißt nichts anderes als Übersetzen. Das sei die größte Lektion des heideggerschen Textes: „[C’]est de lui que nous ap‐ prenons à penser la traduction, en apprenant d’abord que toute pensée est une tra-duction“ 8 (3, meine Hervorhebung). Aus der übersetzenden Auseinandersetzung mit dem heideggerschen Text scheint Granel folglich einen Schluss zu ziehen, der sein Lebenswerk nachhaltig prägen wird: dass Übersetzen eine, wenn nicht sogar die größte philosophische Praxis ist (vgl. Schulze 2014: 2). Wer übersetzt, bewegt sich immer schon durch aufeinander irreduzible, absolut heterogene Sinnräume und agiert mithin dort, wo Denken sich in, durch und als Sprache entfaltet. Übersetzen ist aus dem Blickwinkel Granels - diese Überzeugung scheint in den übersetzungsreflexiven Momenten des Kommentars zu Qu’appelle-t-on penser? zur Sprache zu kommen - eine Praxis des In-der-Differenz-Seins, „une pratique de l’être en différence“ ( Jaulin 2001: 309), sprich eine Praxis der Bezugnahme, die vermeintlich Unzu‐ gängliches und Verborgenes ans Licht, zu Gehör bringen kann. So wird Granel viele Jahre später, in einem Gespräch mit dem französischen Schriftsteller Alain Veinstein auf dessen Frage, ob im Übersetzen die beste Möglichkeit liege, einen anderen Denker zu lesen, antworten: „J’ai presque l’impression que c’est la seule.“ 9 (France Culture 1996: ab Minute 00: 07: 30). In seinem Vorwort habe er eigentlich gar nicht in erster Linie Heideggers Frage Was heißt Denken? beantworten wollen: „Nous voulions apparemment demander moins que cela, nous ne voulions qu’atteindre une certaine pensée de la Traduction“ 10 (17f.). Doch im Versuch, in ein Denken, um nicht zu sagen in eine Theorie des Übersetzens zu gelangen, habe er gemerkt, dass die Frage nach der Übersetzung immer schon von der nach dem Denken eingeholt werde, ja, vielleicht sogar dieselbe sei: „La question ‚qu’appelle-t-on penser? ‘ court devant toutes les autres.“ 11 Was heißt Denken? heißt übersetzt Was heißt Übersetzen? - und umgekehrt. Laura Strack 122 <?page no="123"?> Zu Granels Übersetzung von Was heißt Denken? Im Fall von Gérard Granel und seiner Auseinandersetzung mit Heideggers Was heißt Denken? haben Inhalt und Form des Originaltextes offenbar einen un‐ mittelbaren und nachhaltigen Einfluss auf den Übersetzer und sein Verständnis von seiner Aufgabe. Als eine der wichtigsten Konsequenzen wurde die Aufhe‐ bung der Trennung zwischen Theorie und Praxis genannt. Diese Kategorien lösen sich auf, sobald Übersetzen als Grundmodus des Denkens und das Denken als Praxis der Bezugnahme verstanden werden. Nun scheint es an der Zeit, zu fragen, wie sich dies in Granels französischsprachiger Fassung des Textes nie‐ derschlägt. Wie beeinflusst ihn seine grundlegende gedankliche Ausrichtung in seinem sprachlichen, schriftstellerischen Umgang mit dem Text? Granel gibt darüber selbst Auskunft, indem er Elemente der nachfolgenden Übersetzung bereits in der „Introduction“ auftauchen lässt, sie dort teilweise kommentiert und so seine jeweilige Entscheidung rechtfertigt oder auf Probleme hinweist, die im Arbeitsprozess entstanden sind. Ums Denken ringen Heideggers Vorhaben in Was heißt Denken? ist, die hinderlichen, in der neu‐ zeitlichen Wissenschaft gründenden Sprachhülsen und -gewohnheiten der me‐ taphysischen Sprache aufzubrechen und sich „aus der Frische der Worte“ an Texte und Denkbewegungen heranzuschreiben, die andernfalls unzugänglich blieben. Dabei ist es entscheidend, dass es nicht darum geht, von einem Sprech- und Sinnsystem, dem metaphysischen, in ein anderes, zum Beispiel ein „onto‐ logisches“ zu wechseln, das dann nur vermeintlich dem Denken der Vorsokra‐ tiker gerechter würde oder gar eine eigene „langue de Heidegger“ (15) konstituieren könnte. Heidegger geht es um ein Schreiben, das in dem Sinne Denken ist, als es immer im Werden ist, als es kein Wort für gegeben, keinen Begriff für gesetzt hält und um jedes seiner Worte ringt. Es flieht den Begriff als Hülse und die Formel als Gewohnheit. Diesem Schreibgestus muss auch der Übersetzer Rechnung tragen, er muss selbst lernen, um jedes einzelne Wort, um jede einzelne Entscheidung zu ringen - einheitliche Regeln, wohltuende Be‐ schränkungen, erlösende Konventionen sind nicht gegeben: Il y a „absence de limite“ en effet, en ce sens que rien ne sépare quelque chose qui serait „inauthentique“ de quelque chose qui serait „originel“, ni dans la langue alle‐ mande en tant que telle ni dans „la langue de Heidegger“ - comme s’il y avait une Einübung in das Denken 123 <?page no="124"?> 12 „Tatsächlich gibt es keine ‚Grenze‘, in dem Sinne, dass es nichts gibt, was etwas ver‐ meintlich ‚Unauthentisches‘ von etwas vermeintlich ‚Ursprünglichem‘ trennen würde, weder in der deutschen Sprache im Allgemeinen noch in ‚der Sprache Heideggers‘ - als gäbe es innerhalb der deutschen Sprache ‚eine Sprache Heideggers‘ und als sei diese selbst immer schon eine ‚denkendere‘ oder gar die denkende Sprache schlechthin.“ 13 „Im Reich des gesunden Menschenverstandes würde man uns nachsagen, dass wir uns im Kreise drehen.“ 14 „Denn wenn diese griechischen Worte ins Griechische übersetzt werden sollen, heißt das zweifelsohne, dass wir sie auf Griechisch, also in dem hören sollen, was sie sagen und was sie nur in ihrer Sprache sagen.“ „langue de Heidegger“ à l’intérieur de la langue allemande, comme si celle-ci était déjà par elle-même plus pensante, ou même pensante par excellence. 12 (ebd. 15f.) Keinesfalls also kann es das Ziel des Übersetzers sein, das Französische nach einem äquivalenten Begriffs- und Gewohnheitssystem zu einem angeblichen heideggerschen Deutsch zu durchkämmen und die Übersetzung lediglich durch die Anwendung von Äquivalenzregeln zu bestreiten. Vielmehr muss die Über‐ setzung sich selbst ins und als Denken geben. Sie muss selbst um „die Frische der Worte“, ihre verborgenen Geheimnisse und tiefliegenden Sinndimensionen ringen. Hören als Maxime Wie kann dies gelingen? Zunächst, indem der Übersetzer Granel Heideggers Maßgabe befolgt, „in den Bereich vor- und hineinzuhören, aus dem [der Wink der Worte] kommt“ (Heidegger 1954: 91). Genau das meint der deutsche Philo‐ soph, wenn er etwas rätselhaft formuliert, die zur Übersetzung vorliegenden griechischen Worte Parmenides’ müssten weniger „in das Lateinische und in das Deutsche“, als vielmehr „endlich ins Griechische“ übersetzt, also „griechisch gehört“ werden (ebd. 140). Diese zunächst widersinnig anmutende Anweisung - „dans l’univers du bon sens, nous serions dit tourner en rond“ 13 (3) - wiederholt Granel zu Beginn der „Introduction“ und erklärt sie somit zur für die eigene Übersetzung maßgeblichen Weisung: „Car ces mots grecs qu’il faut traduire en grec, sans doute est-ce pour les entendre en grec, c’est-à-dire tout simplement pour les entendre dans ce qu’ils disent et qu’ils ne disent que dans leur langue.“  14 (ebd.) Tatsächlich bindet Granel anschließend immer wieder Beispiele aus seiner Übersetzung ein, die davon zeugen, wie er die deutschen Worte Hei‐ deggers ins Deutsche übersetzt, um zu vernehmen, was sie, deutsch gehört, ei‐ gentlich sagen. Besonders aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang die erste Laura Strack 124 <?page no="125"?> 15 „Für ‚traduire‘ sagt man auf Deutsch ‚übersetzen‘. Beide Worte hingegen beginnen erst dann, aktive Zeichen zu werden, wenn wir einen bestimmten Teil betonen: ‚Dieses aber Übersetzen ist nur möglich als Übersetzen‘. ‚Mais cette Traduction n’est possible que comme Tra-duction‘.“ in der „Introduction“ wiedergegebene Übersetzungsentscheidung, die Granel in beiden Sprachen zitiert und erklärend kommentiert: Traduire se dit en allemand „übersetzen“. Mais, que ce soit un mot ou l’autre, ils ne commencent à faire signe qu’à la condition que nous accentuions la particule: „Dieses aber Übersetzen ist nur möglich als Übersetzen“: „Mais cette Traduction n’est possible que comme Tra-duction“. 15 (1) Da im Französischen die Verschiebung des Wortakzents nicht einen grundle‐ genden Bedeutungsunterschied stiftet, der aus einem zwei lexikalisch vollwer‐ tige Wörter macht, kann Granel den Coup Heideggers lediglich durch die Ein‐ fügung des Bindestrichs in „Tra-duction“ suggerieren und zusätzlich erläuternd hervorheben. Im direkten Sprachvergleich führt Granel nun vor, wie der Into‐ nationswechsel im Deutschen die entscheidenden Bedeutungsverschiebungen produziert, die aus dem geläufigen Wort „übersetzen“ insofern ein Zeichen macht („[les mots] commencent à faire signe“), als es ihm den dort eingeschrie‐ benen, aber gewissermaßen vergessenen semantischen Aspekt der räumlichen Bewegung, des Übergangs, der Passage entlockt. Somit erlaubt er es dem fran‐ zösischen Leser, der des Deutschen nicht mächtig ist, die deutschen Worte selbst ‚deutsch zu hören‘, sie also in dem Bereich zu vernehmen, aus dem sie kommen. Eindrücklich verdeutlicht dieses Beispiel, wie bei Granel - der darin dem zentralen Anliegen Heideggers folgt - das Hören zur Maxime des Übersetzens wird. Dies erscheint gerade dann als folgerichtig, wenn man bedenkt, dass sich beide Übersetzungsansätze als performative Kritiken der metaphysischen Er‐ kenntnisordnung verstehen, die dem Wissensbegriff in der dominant visuellen „Zeit des Weltbildes“ (Heidegger 2003, meine Hervorhebung) zugrunde liegt. Das hörende Vernehmen gilt Heidegger und Granel als unmittelbarerer Modus eines Verstehens, das nicht primär an die in dieser Ordnung tradierten und gemeinhin in einer visuellen Metaphorik (‚Aufklärung‘, ‚Einsicht‘, ‚Erleuchtung‘ usw.) be‐ schreibbaren Erkenntniskonzepte geknüpft ist. Nun umfasst das Hören als Maxime des Übersetzens nicht nur die Aufgabe, die Worte so zu hören, wie sie in ihrer Sprache klingen, wie im Fall der beiden Homografe „Übersetzen“ und „Übersetzen“. Granels „Introduction“ verdeutlicht, dass es beim Übersetzen auch oft darum geht, in der zu übersetzenden Sprache das hören zu können, was diese sagt, ohne es auszusprechen, was sie gewisser‐ Einübung in das Denken 125 <?page no="126"?> 16 „Die vom ersten [also vom vorsokratischen, L.S.] Denken hervorgerufene Erschütte‐ rung besteht darin, jenen Tagesanbruch vorauszuahnen, ja ihn gar herbeizurufen, der aus der Welt eine Höhle machen wird [die Höhle des platonischen Gleichnisses als Schlüsselerzählung der abendländischen Geistesgeschichte, L.S.].“ maßen im Verborgenen mit sich trägt und was aber vielleicht in der Sprache der Übersetzung nach außen gekehrt werden kann. So übersetzt Granel beispielsweise Heideggers Satz „In der hohen Frühe seiner Wesensentfaltung kennt das Denken nicht den Begriff “ (Heidegger 1954: 128, meine Hervorhebung) mit: „À l’aube profonde du déploiement de son être, la pensée ne connaît pas le concept“ (8). Anstatt diese nicht selbstverständliche Übersetzungsentscheidung unkommentiert in seiner „Introduction“ stehenzu‐ lassen, knüpft Granel daran mit einer eigenen Auslegung der von Heidegger aufgeworfenen Grundproblematik an, das heißt des Verhältnisses des vorso‐ kratischen Denkens zum Platonismus. Die im deutschsprachigen Original an‐ gelegte Isotopie des Lichts interpretatorisch weiterführend, schildert Granel dieses Verhältnis als Moment der Dämmerung, in dem die ‚Sonne‘ der platoni‐ schen Ideenlehre zwar noch nicht vermittels der Reden Sokrates’ aufgegangen sei, das Geschwätz der Sophisten („le caquetage des Sophistes“) sich jedoch be‐ reits wie ein morgendliches Vogelkonzert („concert assourdissant d’oiseaux“, 9) anhöre, das den nahenden Tag mit seiner klaren Einteilung in Licht und Schatten vorausahne, wenn nicht sogar ‚herbeirufe‘: „[L’]ébranlement même de la pre‐ mière pensée [celle des Pré-socratiques, L.S.] consiste à pressentir, et même à faire venir, à „appeler“ ce lever du jour qui fait du monde une caverne [celle du mythe de Platon, récit clé de l’histoire de l’Occident, L.S.].“ 16 (ebd.) Durch seine Entscheidung, die Zeitangabe der „hohen Frühe“ mit dem assoziationsreicheren „aube profonde“ (etwa: „tiefe Morgendämmerung“) zu übersetzen, entlockt Granel den denkenden Worten Heideggers eine semantische Dimension, die ihnen implizit eingeschrieben und als solche auch im deutschen Text, wohlge‐ merkt an anderer Stelle, argumentativ entfaltet wird. Granel denkt sich hier also übersetzend an den heideggerschen Gedankengang heran. Seine Übersetzungs‐ entscheidungen entsprechen dem Prozess eines ringenden, arbeitenden Verste‐ hens, das mehr denn logisch-systematisches Begreifen poetische Invention ist. Heranschreiben an den Text Dieser poetisch-schöpferische Gestus des denkenden Übersetzens erlaubt es Granel auch, in die „Introduction“ einen weiteren Text Heideggers miteinfließen zu lassen, der ihm Anknüpfungspunkte, Querverbindungen und Anregungen für sein Verständnis von Was heißt Denken? liefert: Heideggers Kommentar zu Laura Strack 126 <?page no="127"?> 17 „Was jene, die am Beginn sind [also die Vorsokratiker, L.S.], daran hindert, in der ‚Nähe‘ zu sein, ist, dass sie im ‚Nächsten‘ sind. Auf welche Weise entzieht sich ihnen das εον εμμεναι? [...] Die Griechen vermeinen, so der Text weiter, ‚unmittelbar die Heimat zu fassen‘, weil sie im ‚nächsten Heimischen‘ sind. Doch diese Heimat ‚[entzieht sich] solchem Fassenwollen‘.“ 18 „Was bedeutet die Über-setzung, die wir nun vornehmen sollen? “ Hölderlins Gedicht „Andenken“ aus den Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1951). Aus diesem Text übernimmt Granel die Denkfiguren des „Ursprungs“ und der „Heimat“, da sie ihm helfen, ohne den Umweg über das begriffliche Denken direkt und auf poetische Weise in die „première pensée des Grecs“ (7) überzusetzen: In der parmenidischen Formulierung εον εμμεναι sei die verges‐ sene „Heimat“ („Patrie“) (ebd.) des Denkens, die unaufhebbare Zwiefalt des Sei‐ enden und des Seins, zwar anwesend, jedoch hätten sie die Vorsokratiker selbst nicht genau sehen können, da sie ihnen zu selbstverständlich, zu wenig frag-würdig, zu sehr schon begriffen gewesen sei. Wie es im Text zu „Andenken“ formuliert ist, habe das vorsokratische Denken als - Granel übersetzt - „premier patrimoin („das nächste Heimische“) die „proximité de la Patrie“ („die Nähe der Heimat“) (ebd.) nicht wahrnehmen können: Ce qui empêche ceux qui sont au commencement d’être dans la „Nähe“ est qu’ils sont dans le „nächste“. Quelle est la façon dont l’εον εμμεναι se retire pour eux? […] Les Grecs, selon ce que dit encore la suite du texte, parce qu’ils sont dans „le premier patrimoine“, pensent „saisir immédiatement la Patrie“. Mais celle-ci „se retire devant une telle volonté de saisir“. 17 (ebd.) Diese komplexe Passage verdeutlicht, wie sich Granel in seiner „Introduction“ durch die freie, ringende Übersetzung, Ver- und Weiterdichtung heideggerscher Motive an den inhaltlichen Kern jenes Textes heranschreibt, der nun übersetzt werden will und dabei selbst nach einem Über-setzen auf das ‚griechische Ufer‘ („rive grecque“, 9) der Vorsokratiker verlangt. Seine eigene Frage „Que signifie la tra-duction que nous devons maintenant accomplir? “ 18 (14) beantwortet Granel auf diese Weise selbst indirekt so: Die Übersetzung, die nun folgen wird, und die gleichzeitig eine Übersetzung in jene Bereiche des Denkens ist, aus denen die zu übersetzenden Worte kommen, be‐ deutet einerseits ein unablässiges Ringen um das, was Heideggers Text zu denken gibt, was er in die „Fragwürdigkeit“ (15), in die „dignité de question“ (12) rückt; andererseits bedeutet sie, unaufhörlich und unermüdlich nach dem Wie der Übersetzung, nach der bildnerischen Kraft der Sprache und nach ihrer singu‐ lären Widerständigkeit zu suchen. Einübung in das Denken 127 <?page no="128"?> Vom Widerstand der Sprache Diese doppelte Verantwortung fällt vor allem an jenen Stellen ins Gewicht, an denen es besonders schwer ist, dem Denken des Textes, das sich dem Ohr des Übersetzers in der „Frische der Worte“ preisgibt, auch in der Übersetzungs‐ sprache Gehör zu verschaffen. Davon gibt es in Heideggers Text nicht wenige, da der deutsche Philosoph viele wichtige Kniffe seines Textes durch ausschließ‐ lich im Deutschen vorhandene Konstellationen grammatischer und lexikali‐ scher Tiefenstrukturen gewinnt. Eine erste solche Schwierigkeit begegnet dem Übersetzer direkt beim Versuch, den Titel des Textes Was heißt Denken? zu übersetzen. Im Deutschen kann - lässt man die allein in der geschriebenen Form sichtbare Vereindeutigung durch die Substantivierung des Verbs einmal außer Acht - das Wort ‚denken‘ unterschiedliche grammatische Funktionen ein‐ nehmen. Der Titel von Heideggers Text stellt mithin zwei Fragen: Einerseits „Was bedeutet der Akt des Denkens? “ oder „Was heißt es, zu denken? “; anderer‐ seits „Was heißt (uns) denken? “, „Wer oder was gibt zu denken, veranlasst das Denken? “ Diese Polysemie des deutschen Wortes ‚heißen‘, das hier sowohl im Sinne von ‚Bedeutung‘ als auch im Sinne von ‚Geheiß‘, ‚Weisung‘ gelesen werden kann, ist für Heideggers Text sinnkonstitutiv. Den Übersetzer hingegen stellt die Doppeldeutigkeit des Titels im Deutschen vor ein Problem, da das Französische auf den ersten Blick keine Möglichkeiten bereithält, diesen ‚ins Denken heißende‘ pluralen Sinn mit einem vergleichbaren grammatisch-lexi‐ kalischen Coup nachzubilden. Tatsächlich muss Granel sich schließlich für den Satz Qu’appelle-t-on penser? entscheiden, um zumindest auf lexikalischer Ebene den semantischen Aspekt der Weisung zu wahren: Das ‚Geheiß‘ schwingt im Verb appeler natürlich viel eher mit als in Formeln wie „Que veut dire …“ oder „Que signifie …“. Allerdings fällt diesem „In-die-Acht-Nehmen“ (Heidegger 1954: 125) der Sprachperformativität auf lexikalischer Ebene die in Heideggers Original so wirkungsvolle Abwesenheit einer personalen Markierung zum Opfer. Das Verb ‚appeler‘ erfordert ein personales Subjekt, welches Granel mit dem generischen ‚on‘ zwar noch möglichst konturlos hält, die radikale Unbe‐ stimmtheit der Aktanten im deutschen Satz aber dennoch verliert. Als ähnlich problematisch erweist sich die Übersetzung der heideggerschen Formulierung „Es brauchet“, die ihrerseits Übersetzung des altgriechischen Χρη im Spruch des Parmenides’ ist. Heidegger selbst ‚hört‘ der erneut unpersönli‐ chen Wendung im Deutschen ausführlich auf den Grund, indem er das vielfältige Sinnpotenzial zwischen ‚benötigen‘ (brauchen), ‚benutzen‘ (gebrauchen) und ‚üblicherweise pflegen‘ (Brauch) detailliert auffächert und so auch diesen Satz‐ bestandteil zum ‚denkenden Zeichen‘ in seiner Parmenides-Übersetzung macht. Laura Strack 128 <?page no="129"?> 19 „Χρη. Il est d’usage. Es brauchet. So stellt sich die Sache dar, nur so kann sie angegangen werden. Χρη. Darauf muss geachtet werden.“ Mindestens einen dieser Aspekte kann Granel in seiner Übersetzung nicht retten, das im Französischen naheliegende ‚il faut‘ ist in keiner Weise ähnlich vielsinnig. Granel entscheidet sich schließlich für die immerhin ebenfalls un‐ persönliche Formulierung ‚il est d’usage‘, deren eigene, von der des deutschen ‚Es brauchet‘ recht stark differierende und selbst für den französischsprachigen Leser weit weniger einleuchtende Polysemie er explizit in der „Introduction“ erklärt - gleichsam seine Übersetzungsentscheidung als Akt des Denkens of‐ fenlegend und verteidigend: „Χρη. Il est d’usage. La chose se révèle ainsi; elle ne peut être prise en main qu’ainsi. Χρη. Il faut y prendre garde.“ 19 (9) Setzungen und Öffnungen In seiner „Introduction“ zu Qu’appelle-t-on penser? versammelt Granel also aus‐ gewählte Elemente seiner Übersetzung, die sowohl das große Potenzial als auch die eklatanten Schwierigkeiten des übersetzenden Umgangs mit Was heißt Denken? aufzeigen. Mal helfen die spezifischen grammatikalischen oder lexika‐ lischen Möglichkeiten des Französischen, dem Original semantische Aspekte und Dimensionen zu entlocken, die dieses nicht auf den ersten Blick preisgibt, oder ihm sogar solche hinzuzufügen, die dem prozessualen und offenen Text- und Denkverständnis Heideggers entsprechen. Dann wiederum stößt Granel auf Grenzen der französischen Sprache, die es ihm versagen, die raffinierten sprach‐ lichen Coups der deutschen Fassung in die Übersetzung hinüberzuretten. Ge‐ rade in diesen Fällen scheint die eigene Erfindungsgabe des Übersetzers gefragt, sein schöpferisches Denken, seine Fähigkeit, sich in den Text hinein und ihn in der eigenen Sprache fortzudenken, auf singulärem Terrain gewissermaßen, oder - mit anderen Worten - auf offener See. Granels Einleitung zu Qu’appelle-t-on penser? ist das beeindruckende Zeugnis eines Übersetzungsprozesses, der sich auf dem Grund der Überzeugung ent‐ faltet, dass Denken letztlich immer Übersetzen, Übersetzen stets Denken heißt. Viele der Eindrücke, die in diesem ‚Erfahrungsbericht‘ des Übersetzers auf fri‐ sche, unmittelbare und lebendige Weise Ausdruck finden, wird Granel später in seinen sprach-, sinn- und übersetzungsphilosophischen Schriften bis zu einem gewissen Grad konzeptualisieren. So wird er in „Les langues sont des terminaux logiques“ den Begriff der matérialité logique prägen, um dem bei der Überset‐ zung von Was heißt Denken? beobachteten Phänomen der absolut unhintergeh‐ baren strukturellen Singularität jeder einzelnen Sprache einen Namen zu geben: Einübung in das Denken 129 <?page no="130"?> 20 „Allerdings kann das Geschriebene nur gemäß den möglichen Weisen des Schreibens dort stehen, die jeder Sprache als je eigenes Potenzial innewohnen und sich bei jedem Gebrauch dieser Sprache in einem Sprachakt manifestieren, als ebenfalls singulärer Ausdruck dessen, der spricht oder schreibt. Und wenn tatsächlich alles in der wechsel‐ seitigen Entstehung von Sprache und Sprechen logische Konfigurationen hervorbringt, ist somit bewiesen, dass es sich ausschließlich um singuläre logische Konfigurationen handelt. Das nenne ich logische Materialität.“ 21 „In dem Maße, wie der zu übersetzende Text ein denkender Text ist, hat er selbst an der zum εον über-setzenden Bewegung teil.“ 22 „Sinn geben ist wie Kurs nehmen: sich einen Weg bahnen über das offene Meer, voran‐ kommen, immer wieder erneut aufbrechen und unterbrochen werden, der Willkür der Winde ausgesetzt, treu ergeben dem Ziel.“ Cependant l’effectivement écrit ne l’est que selon les façons possibles d’écrire, qui en puissance sont propres absolument à chaque langue, et en acte à chaque usage de la langue dans un tour de langage, frappe elle aussi absolument singulière de qui parle ou écrit. Et s’il est vrai que tout, dans la genèse réciproque d’une langue et d’un lan‐ gage, produit des configurations logiques, il est donc démontré qu’il n’y a là que des configurations logiques singulières. Ce que j’appelle: matérialité logique. 20 (Granel 1985: 159) Die bildnerische Kraft der Sprache, die er zweifellos in der Übersetzung von Heideggers Text mit all seinen sprechenden und denkenden Worten in aller Wucht erfahren hat, wird Granel imagerie disante nennen und beharrlich gegen die clôture désignative eines technokratischen Übersetzungsverständnisses, dem Sprache lediglich als Vehikel von Information gilt, verteidigen (ebd. 165ff.). Bei aller Konzeptualisierung und nachträglichen Benennung der zunächst noch begriffslosen, frischen Erfahrung wird Granel jedoch nie die konstitutive Leere im Zentrum seines Sprach-, Sinn- und Übersetzungsdenkens aufgeben, die er - so ist nach der Lektüre der „Introduction“ anzunehmen - von Heidegger gelernt hat: „Dans la mesure en effet où le texte qu’il s’agit de traduire est un texte qui pense, il est lui-même un moment de ce mouvement de Traduction à l’εον.“ 21 (15) Übersetzend denken heißt fortan: sich der radikalen Offenheit eines unverfügten Prozesses hingeben, sich den Gefahren und Schönheiten im offenen Ozean der Sprachen öffnen und sich mit der erfrischend diesseitigen Aufgabe bescheiden, Schritt für Schritt, Wort für Wort, Text für Text einen von unendlich vielen möglichen Wegen durch die unermessliche Weiten des immer noch ent‐ stehenden Sinns zu bahnen: „Faire sens est comme faire route: frayage irrégulier sur la mer sans chemins, avancée autant de fois reprise que rompue, soumise aux aléa des vents, fidèle au but.“ 22 (Granel 1985: 165) Laura Strack 130 <?page no="131"?> Literaturverzeichnis Beissner, Friedrich. 1961. Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen. 2. Auflage. Stuttgart: Metzler. Berman, Antoine / Granel, Gérard / Jaulin, Annick (Hg.). 1985. Les Tours de Babel. (Essais sur la traduction). Mauvezin: T.E.R. Granel, Gérard. 1973. „Introduction.“ In: Martin Heidegger. Qu’appelle-t-on penser? Über‐ setzt aus dem Deutschen von Aloys Becker und Gérard Granel. 3. Auflage. Paris: Presses Universitaires de France, 1-19. —1985. „Les langues sont des terminaux logiques.“ In: Antoine Berman / Gérard Granel / Annick Jaulin (Hg.). 1985. Les Tours de Babel. (Essais sur la traduction). Mauvezin: T.E.R., 151-179. France Culture (Hg.). 1996. „Entretien de Gérard Granel avec Alain Veinstein.“ Du jour au lendemain 8.2.1996. Audio online verfügbar unter: http: / / www.gerardgranel.com/ a udio _video.html [08.03.2018]. Heidegger, Martin. 1951. Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann. —1954. Was heißt Denken? Vorlesungen 1951/ 52. Tübingen: Max Niemeyer. —1973. Qu’appelle-t-on penser? Übersetzt aus dem Deutschen von Aloys Becker und Gé‐ rard Granel. 3. Auflage. Paris: Presses Universitaires de France. —2003. Holzwege. (1935-1946). Gesamtausgabe, Band 5. Herausgegeben von Friedrich- Wilhelm v. Herrmann. 2. Auflage. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann. Hirsch, Alfred (Hg.). 1997. Übersetzung und Dekonstruktion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Janicaud, Dominique. 2001. Heidegger en France II: Entretiens. Paris: Albin Michel. Jaulin, Annick. 2001. „Traduire.“ In: Jean-Luc Nancy / Élisabeth Rigal (Hg.). Granel, l’éclat, le combat, l’ouvert. Paris: Belin, 301-313. Schulze, Sophie. 2014. „Gérard Granel, l’homme à qui l’on doit la ‚déconstruction‘.“ Bib‐ liobs.nouvelobs.com. Online verfügbar unter: http: / / bibliobs.nouvelobs.com/ essais/ 201 4 0505.OBS6148/ gerard-granel-l-homme-a-qui-l-on-doit-la-deconstruction.html [08.03.2018]. Einübung in das Denken 131 <?page no="133"?> Übersetzungstheorie als literarische Praxis <?page no="135"?> 1 Winnie Wambui Kamau danken wir sehr herzlich dafür, dass sie die vielen Facetten von Gikuyu Sprichwörtern und Begriffen mit uns diskutierte. Sprache, Übersetzung und Selbstübersetzung: Ngũgĩ wa Thiong’o zwischen Lokalität und Transkulturalität Birgit Neumann und Yvonne Kappel Antikoloniale Sprach- und Übersetzungspolitik Die Entscheidung des kenianischen Autors, Intellektuellen und Übersetzers Ngũgĩ wa Thiong’o, der englischen Sprache den Rücken zu kehren und sein literarisches Werk fortan in seiner Muttersprache Gikuyu 1 , einer der zahlreichen Landessprachen Kenias, zu verfassen, gleicht fast einem Gründungsmythos der antikolonialen Sprach- und Übersetzungspolitik. Die englische Sprache, in der Ngũgĩ bislang international erfolgreiche und viel beachtete Romane publiziert hatte, sei ungeeignet, um Afrika auch auf kultureller und mentaler Ebene zu entkolonialisieren. Vielmehr gelte es, so Ngũgĩ in seinem nicht unumstrittenen Manifest Decolonising the Mind - The Politics of Language in African Literature aus dem Jahre 1986, durch den Rückgriff auf Gikuyu einen kulturellen Befrei‐ ungskampf gegen die britische Vorherrschaft zu führen und die in Afrika noch immer fest verwurzelten imperialen Wertehierarchien zu unterlaufen. Mit dem Rückgriff auf Gikuyu verband sich die Hoffnung, die andauernde Entfremdung der kenianischen Bevölkerung von ihrer Kultur, Tradition und Sprache, die die britische Imperialpolitik unweigerlich zur Folge hatte, zu überwinden: „I believe that my writing in Gikuyu language, a Kenyan language, an African language, is part and parcel of the anti-imperialist struggles of Kenyan and African peo‐ ples.“ (Ngũgĩ 1986a: 28) Sprache, betont Ngũgĩ an anderer Stelle, und nicht etwa militärische Eroberung, physische Ausbeutung oder Landnahme, sei die mäch‐ tigste Waffe des Imperialismus, die in Kenia - wie in vielen anderen Kolonien des Britischen Empire - dazu geführt habe, lokale Traditionen, Wissensbe‐ stände, Erinnerungen und Wertvorstellungen zu zerstören oder zumindest als minderwertig zu diskreditieren (vgl. Ngũgĩ 2009a: 20). Sprache sei es demnach auch, mithilfe derer die kulturelle Befreiung, die Rückgewinnung lokaler Prak‐ tiken und eine Revitalisierung der eigenen kulturellen Wurzeln ermöglicht werde: „The choice of language and the use to which language is put is central <?page no="136"?> 2 Zum Zusammenhang von Sprache, Kolonialismus und politischer Selbstbehauptung siehe auch Ngũgĩ (1986b: 17-18): „There are other contradictions of a writer in a neo‐ colonial state. For whom does he write? For the people? But then what language does he use? […] All the major African writers wrote in English, French, and Portuguese. But by and large, all the peasants and a majority of the workers - the masses - have their own languages. Isn’t the writer perpetuating, at the level of cultural practice, the very neo-colonialism he is condemning at the level of economic and political practice? “ 3 Vor diesem Hintergrund ist die Verwendung von Gikuyu nicht nur als Mittel der Kritik an kolonialen Strukturen, sondern auch an neokolonialen Machtverhältnissen im post‐ kolonialen Kenia zu verstehen (vgl. Gikandi 2000: 37-38). to a people’s definition of themselves in relation to the entire universe.“ (Ngũgĩ 1986a: 4) Sprache wird damit von dem postkolonialen Autor in einen dezidiert politischen Kontext gestellt. Als zentrale, quasi organisch gewachsene Aus‐ drucksform von Lokalität und Verwurzelung sei sie zugleich wirkmächtiges In‐ strument der Gemeinschaftsstiftung und politischen Selbstermächtigung, ein Instrument, das sinnhaften Welt- und emanzipatorischen Selbstbezug überhaupt erst ermögliche (vgl. Ngũgĩ 1986a: 3). 2 Ngũgĩ gab seine Entscheidung, nunmehr auf Gikuyu zu schreiben, im Jahre 1978 bekannt; maßgeblich beeinflusst war dieser Schritt von seiner Inhaftierung im Kamithi-Hochsicherheitsgefängnis in Nairobi unter Präsident Jomo Ke‐ nyatta, dem ersten Ministerpräsidenten des unabhängigen Kenias. Anstoß für die Verhaftung gab Ngũgĩs - gemeinsam mit Ngũgĩ wa Mirii verfasstes und 1977 uraufgeführtes - Theaterstück Ngaahika Ndeenda (engl. I Will Marry When I Want), das als Versuch konzipiert war, ein indigenes kenianisches Theater auf den Weg zu bringen, das dezidiert auf Publikumspartizipation setzte und der Vorherrschaft bourgeoiser, euorozentrisch orientierter Theaterkonventionen ein Ende setzen sollte. Das Stück, das weitreichende Kritik an neokolonialen Wirtschaftsstrukturen, aber auch an christlichen Institutionen im kolonialen und postkolonialen Kenia übte, sorgte unter den Zuschauern für viel Aufruhr und setzte politische Proteste in Gang. Es war nicht zuletzt Ngũgĩs Erkenntnis, dass diese Reaktion maßgeblich durch die Verwendung des Gikuyu angestoßen wurde, die ihn dazu bewegte, auch weiterhin an dieser angeblichen ‚kleinen Sprache‘ festzuhalten: „I would attempt a novel in the very language which had been the basis of incarceration“ (Ngũgĩ 1986a: 71). 3 In der Tat schien der Ge‐ brauch der Landessprache eine direkte Ansprache an das von Ngũgĩ anvisierte lokale Publikum zu erlauben, das somit nicht länger als „subject of discourse“, sondern als „subject in discourse“ (Swindells 1995: 5) konstituiert wurde. Völlig auf seine internationale, zumal anglophone Leserschaft verzichten wollte der kenianische Autor, Intellektuelle und Aktivist mit der Hinwendung Birgit Neumann und Yvonne Kappel 136 <?page no="137"?> 4 Vgl. Gikandi (2000: 209), der auf die problematischen Implikationen dieser Aussage aufmerksam macht, da zum Zeitpunkt der Publikation von Caitaani mũtharaba-Inĩ bereits etliche literarische Texte anderer Autoren auf Swahili vorlagen. zu Gikuyu indes nicht. Vielmehr setzte er fortan auf den Wert von Überset‐ zungen, die er als zentrale Praxis der Verständigung und Konnektivität versteht: Writing in Gikuyu does not cut me off from other language communities because there are always opportunities for translation. My Gikuyu novel, for example, has been translated not only into English and Kiswahili but also directly from Gikuyu into Swedish. A German edition is planned, and a translation directly from Gikuyu into Japanese may appear later. In other words, there is already a dialogue emerging with the rest of the world due to the translation of a piece of Gikuyu literature into foreign languages. (Ngũgĩ 1985: 155) Die Hinwendung zu Gikuyu und die nachträgliche Übersetzung ins Englische verbindet sich für Ngũgĩ mit dem Ziel, das - in der Translationstheorie viel und kontrovers diskutierte - Verhältnis zwischen sogenanntem ‚Original‘ und ‚Übersetzung‘ vor dem Hintergrund bestehender Hierarchien zwischen ‚kleinen‘ und ‚großen‘ Sprachen neu zu verhandeln. Ohne die grundsätzliche Dichotomie von Original und Übersetzung in Frage zu stellen, sollte über eine Umkehr der üblichen Relationierung eine Neudefinition von Wertigkeit er‐ folgen. Als Original sollte nicht länger die hegemoniale Sprache des Englischen gelten; vielmehr sollte das Original durch die ‚kleine‘ Sprache Gikuyu hervor‐ gebracht werden: „Writing in Gikuyu directly“, so stellt Ngũgĩ (2009b: 19) rück‐ blickend fest, „now ensured the existence of the original text. Its life was not dependent on translation.“ Umgekehrt sollte der englischen Sprache durch den Akt der Übersetzung ihre Vormachtstellung entzogen werden; sie sollte die Spuren des afrikanischen Originals tragen und damit den Eigensinn und die Widerständigkeit der Gikuyu-Kultur zum Vorschein bringen (vgl. Ngũgĩ 2009b: 19). Noch während seiner zweijährigen Haft verfasste Ngũgĩ seinen ersten ‚afri‐ kanischen‘ Roman, nämlich Caitaani mũtharaba-Inĩ (1980), geschrieben auf Toilettenpapier. Ngũgĩ (vgl. 1982a: 165) zufolge markiert der Roman den Beginn ‚einer neuen kenianischen Literatur‘. 4 Zwei Jahre später, im Jahr 1982, erschien der Roman in Ngũgĩs Übersetzung auf Englisch unter dem Titel Devil on the Cross (vgl. Ngũgĩ 1986a: 74). Bevor sich Ngũgĩ im Jahre 1977 dazu entschloss, die globale Sprache Englisch zugunsten einer lokalen Sprache aufzugeben und damit auf ein Idiom zurück‐ zugreifen, das im internationalen Literaturbetrieb kaum Verbreitung finden würde, hatte er sich bereits mit der Veröffentlichung von vier, auf Englisch ver‐ fassten Romanen einen Namen gemacht: Weep Not, Child (1964), The River Bet‐ Sprache, Übersetzung und Selbstübersetzung 137 <?page no="138"?> ween (1965), A Grain of Wheat (1967) und Petals of Blood (1977). Alle vier Romane wurden in der einflussreichen, in London ansässigen Heinemann African Writers Series veröffentlicht - die ersten drei Romane bezeichnenderweise unter dem Namen James Ngũgĩ. Die African Writers Series wurde im Jahre 1962 mit dem Ziel ins Leben gerufen, afrikanischen Autoren jenes Forum zu bieten, das ihnen der lokale, von imperialistischen Strukturen weitgehend lahm gelegte Litera‐ turmarkt verwehrte; sie gilt gemeinhin als Meilenstein in der Herausbildung eines postkolonialen Literaturkanons (vgl. Currey 2008). Dass dieser postkolo‐ niale Kanonisierungsprozess zunächst maßgeblich von in westlichen Metro‐ polen lokalisierten Agenten vorangetrieben wurde, kann wohl als kennzeich‐ nend für die bis heute fest verankerten Hierarchieverhältnisse zwischen dem Global North und dem Global South gelten, die den internationalen Literatur‐ betrieb strukturieren. Ngũgĩ selbst, inspiriert vom marxistischen Gedankengut seines an der Universität von Leeds ansässigen Lehrers Arnold Kettle, plädierte bereits 1968 gemeinsam mit Taban Lo Liyong und Henry Owuor-Anyumba für die „Abolition of the English Department“ an afrikanischen Universitäten. Vor dem Hintergrund dieser institutionellen Entkolonialisierungsbestrebungen kann es wenig überraschen, dass Ngũgĩ rückblickend seine auf Englisch ver‐ fassten Romane als ‚afro-europäisch‘ diskreditiert (vgl. Ngũgĩ 1986a: 27). Fast beschämt räumt er ein, dass er in seinen bisherigen Werken zwar viel über die kenianische Landbevölkerung und ihren Befreiungskampf geschrieben habe, indes nicht für sie: „I came to realise only too painfully that the novel in which I had so carefully painted the struggle of the Kenyan peasantry against colonial oppression would never be read by them.“ (Ngũgĩ 1993: 9) Die Verwendung von Gikuyu muss damit auch, wie Ngũgĩ (1986a: 44) an anderer Stelle betont, als Versuch verstanden werden, einen ‚epistemologischen Bruch‘ mit seinem bis‐ herigen Œuvre zu vollziehen (vgl. Gikandi 1992: 133). Damit verbindet sich für den postkolonialen Autor ein persönlicheres Ziel, nämlich das, einen als schmerzhaft erlebten Prozess der ständigen Selbstübersetzung, also der Über‐ setzung seiner Muttersprache Gikuyu in eine von außen auferlegte Sprache, zu überwinden: All writing in a language that is not the mother tongue, or the first language of one’s upbringing, is largely an exercise in mental translation. [...] I soon came to realize that my relationship to English was based on a coercive system of rewards and terror. I was rewarded with praise and distinction when I did well in English, spoken and written, but punished and humiliated when I was caught speaking Gikuyu in the school compound. (Ngũgĩ 2009b: 18) Birgit Neumann und Yvonne Kappel 138 <?page no="139"?> Ngũgĩs Sprachverständnis als scheinbar originäre, authentische und organisch gewachsene Ausdrucksform einer ebenso als essentialistisch gedachten Ge‐ meinschaft wurde vielfach und zu Recht kritisiert (vgl. z.B. Gikandi 1992 und 2000, Slaymaker 1995, Ogude 1997, Vakunta 2010). Es verkennt die performative Dimension von Sprache, durch die erfundene Gemeinschaften (sensu Benedict Anderson 2016) und entsprechende geokulturelle Räume erst hervorgebracht - und nicht etwa abgebildet - werden (vgl. Pollock 1998: 8). Überdies generiert die Privilegierung von Gikuyu im Kontext des multilingualen Kenias ihrerseits zahlreiche Ausschlussmechanismen (vgl. Gikandi 1992: 138, Andindilile 2014: 182). Tatsächlich hatte Ngũgĩ die Entscheidung, seine Romane auf Englisch zu verfassen, zunächst auch mit der Absicht begründet, einem antikolonialen Panafrikanismus den Weg bereiten und transnationale Solidaritätsbildungen - jenseits lokaler Traditionen und ethnisch basierter Identifikation - voran‐ bringen zu wollen (vgl. Andindilile 2014: 183, Helgesson 2016). Ziel des vorliegenden Beitrags ist nicht, in den Chor dieser Kritiker einzu‐ stimmen und Widersprüchlichkeiten in Ngũgĩs Argumentation aufzudecken. Das Ziel ist ein bescheideneres: Es geht um eine Analyse von Ngũgĩs Praxis und Theorie der Übersetzung und dies insbesondere vor dem Hintergrund der kon‐ statierten Neuverhandlung der Dichotomien Original vs. Übersetzung, großer vs. kleiner Sprache, Kosmopolitismus vs. Lokalität, etc. Was uns besonders in‐ teressiert, ist die Frage, wie das Primat des Englischen in und durch die Über‐ setzung gebrochen wird. Wie also werden die Partikularität des Gikuyu und die transformative, potentiell entfremdende Kraft der Übersetzung dem englischen Standard eingeschrieben und wie verändern diese Übersetzungsprozesse die von Ngũgĩ reklamierte Interdependenz von Gemeinschaftsbildung und Sprachver‐ wendung? Um diese Fragen - kursorisch und exemplarisch - zu beantworten, soll zunächst Ngũgĩs englische Übersetzung von Caitaani mũtharaba-Inĩ (1980) betrachtet werden; in einem zweiten Schritt soll die englische Übersetzung, die er unter dem Titel Devil on the Cross (1982c) vorlegt, mit Petals of Blood (1977) verglichen werden, einem Roman, den er im Original auf Englisch schrieb und den er später als „Europhone African Literature“ (Ngũgĩ 2000: 7) brandmarken sollte. Wenn, so die Ausgangsthese, mit der Verwendung von Gikuyu tatsächlich ein epistemologischer und normativer Bruch eingeleitet werden sollte, dann sollte sich dieser Bruch auch in der Verwendung des Englischen, nämlich in der Schaf‐ fung eines alternativen, antikolonial gebrochenen, karnevalesk entstellten und pluralisierten Idioms materialisieren. Gerade die Beschäftigung mit den von Ngũgĩ selbst übersetzten Werken erlaubt wichtige Einblicke in die Politik und Ethik der Übersetzung, da eine mögliche Treue oder aber Distanzierung zum Sprache, Übersetzung und Selbstübersetzung 139 <?page no="140"?> sogenannten ‚Original‘ als strategischer Akt der Transformation und Interven‐ tion verstanden werden kann. Wie Eva Gentes betont, zeichnen sich Selbst‐ übersetzer dadurch aus, dass „sie sich stets in mindestens zwei literarischen Feldern bewegen, die im Fall von mehrsprachigen Gesellschaften in einem di‐ rekten Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen können“ (2016: 19). Selbst‐ übersetzungen sind daher in einem politischen Rahmen zu lokalisieren. Dieser Aspekt ist im postkolonialen Kenia von besonderer Bedeutung, da trotz Kenias Unabhängigkeit im Jahre 1963 immer noch ein Ungleichgewicht zwischen lokalen Sprachen und der ehemaligen Kolonialsprache vorherrscht (vgl. Ngũgĩ 2014: 67). Wie zu zeigen sein wird, loten Ngũgĩs Selbstübersetzungen das Ab‐ hängigkeitsbzw. Hierarchieverhältnis zwischen den Sprachen des polyglotten Kenias kontinuierlich aus und definieren neue, komplexere Beziehungen zwi‐ schen den Sprachen, die alternative Formen der Sozialität suggerieren. Sprachliche Ent-kolonialisierung in Devil on the Cross Die auf Gikuyu verfassten Romane Caitaani mũtharaba-Inĩ (1980), Matigari Ma Njiruungu (1986) und Murogi wa Kagogo (2003) werden gemeinhin Ngũgĩs ‚post-englischer‘ Phase zugeordnet und sind auch als Versuche zu verstehen, eine durch das koloniale Bildungssystem auferlegte ‚Selbstkolonialisierung‘ zu überwinden. Die drei Romane eint ihr Interesse an unterschiedlichen - kolo‐ nialen und neokolonialen - Formen der politischen Unterdrückung, an ökono‐ mischer Ungleichheit und Möglichkeiten von Widerstand, Selbstermächtigung und Gerechtigkeit. Sie eint aber auch ihr Interesse an mündlichen Erzähltradi‐ tionen und damit das Ziel, die Gattung des Romans für die Spezifität afrikani‐ scher Ausdrucksformen, insbesondere der Oralität, zu öffnen (vgl. Ngũgĩ 1986a: 83). Alle drei Romane sind durchzogen von einer Vielzahl von Referenzen auf afrikanische Volksmärchen, Lieder und Sprichwörter. Sie enthalten außerdem zahlreiche Redewendungen, die primär der mündlichen Sprache entstammen. In diesem Zusammenhang kommt Caitaani mũtharaba-Inĩ eine Vorreiterrolle zu, da er Ngũgĩ (1986a: 83) zufolge das Ziel verfolgt, der Gattung des Romans orale Erzählformen einzuschreiben und sie auf diese Weise von ihrer eurozen‐ trischen und bourgeoisen Prägung zu lösen. Zu Recht stellt Paul Bandia heraus, dass bereits die Literarisierung von Oralität einen vielschichtigen Überset‐ zungsprozess darstellt, der mit dem zwischen Sprachen vergleichbar ist: The writing of [...] oral narratives in fiction, which may be the result of conscious or unconscious translating by the author, can be likened to interlingual translating. In‐ deed, several parallels can be drawn between postcolonial intercultural writing and Birgit Neumann und Yvonne Kappel 140 <?page no="141"?> translation. They both involve movement from one language culture into another […]. (Bandia 2008: 3) Wie Bandias (2008) Verständnis von „translation as reparation“, also von ‚Über‐ setzung als Wiedergutmachung‘ signalisiert, haben derartige Übersetzungspro‐ zesse weitreichende ethische und sozio-politische Implikationen, die auf eine Neustrukturierung von Macht, Hierarchie und Anerkennung zielen. Auch in der englischen Übersetzung sollten, so Ngũgĩ, die Besonderheiten der mündlichen Erzähltraditionen der Gikuyu-Kultur erhalten bleiben. Seine eng‐ lischen Übersetzungen von Caitaani mũtharaba-Inĩ und Murogi wa Kagogo, die unter den Titeln Devil on the Cross (1982) bzw. Wizard of the Crow (2006) er‐ schienen, sind dementsprechend mit dem Ziel angefertigt, die Hegemonial- und Universalitätsansprüche des Englischen an ihre Grenzen stoßen zu lassen. An‐ stelle der gerade von vielen englischen Übersetzungen vorgenommenen Unter‐ drückung von Alterität und einer normativen Hypostasierung des Eigenen wollte Ngũgĩ die englische Sprache den Besonderheiten des afrikanischen Ori‐ ginals unterordnen - auch um so den symbolischen Wert von Sprachen, deren „language prestige“ (Mühleisen 2002: 8), neu zu bestimmen (vgl. Neumann 2016). Mit Blick auf seine englische Übersetzung von Caitaani mũtharaba-Inĩ stellt Ngũgĩ seine subversiv-emanzipatorischen Absichten dezidiert heraus. Das bending der Zielsprache, also der Regelbruch, war das erklärte Ziel: I translated the novel into English under the title Devil on the Cross and it was published by Heinemann (Kenya) and Heinemann (London) under the same title in 1982. […] I tried to make the reader become aware of the source language through bending the target language in such a way as to suggest the structure and the rhythm of the original source language. (2009b: 19) Seine Übersetzung ins Englische sollte, so Ngũgĩ, das afrikanische ‚Original‘ durscheinen lassen. Sie ist somit geprägt von Übersetzungsstrategien, die Law‐ rence Venuti als ‚foreignizing‘ bezeichnet und die sich gegen die Illusion von transparenter Repräsentation wenden: The ‚foreign‘ in foreignizing translation is not a transparent representation of an es‐ sence that resides in the foreign text and is valuable in itself, but a strategic construc‐ tion whose value is contingent on the current target-language situation. Foreignizing translation signifies the difference of the foreign text, yet only by disrupting the cul‐ tural codes that prevail in the target language. In its efforts to do right abroad, this translation method must do wrong at home, deviating from native norms to stage an alienating reading experience. (1993: 210) Sprache, Übersetzung und Selbstübersetzung 141 <?page no="142"?> So verstanden beschreibt Übersetzung weniger eine bloße Übertragung besteh‐ ender - sprachlicher, kultureller, epistemischer und normativer - Ordnungen in andere Kontexte; sie stellt keine reibungslosen oder geradlinigen Verbin‐ dungen zwischen Kulturen, ihren Sprachen, Wissensformen und Traditionen her. Vielmehr ist Übersetzung ein transformativer und differenzproduzierender Akt, der den Eigensinn der Ausgangssprache und -kultur zum Vorschein bringt und diese zugleich für die Andersheit neuer Rezeptionskontexte öffnet. Der Übersetzung ist damit immer schon ihr scheinbares Gegenteil, nämlich das Un‐ übersetzbare eingelassen, das die oftmals unterdrückte Differenz, die innere Pluralität und Fremdheit bestehender Ordnungen zum Vorschein bringt und das somit eine performative Affirmation von Diversität bedeutet (vgl. Apter 2006: 11, Neumann/ Rippl 2017). Wie sein Original ist auch Devil on the Cross von etlichen Elementen des oralen Erzählens durchzogen, also von Sprichwörtern, Liedfragmenten und an‐ deren musikalischen Elementen. Explizite Referenzen auf afrikanische Lieder sowie die Schaffung eines distinkten Rhythmus, etwa durch die Verwendung vielfältiger sprachlicher Tropen, Alliterationen und Wiederholungen einzelner Phrasen, tragen in Devil on the Cross außerdem zu einer Musikalisierung der Narration bei (vgl. Kiiru 2005: 36, Wolf 1999). Auffällig ist allerdings, dass diese literarisierte Oralität in Caitaani mũtharaba-Inĩ von Beginn an paratextuell markiert wird. Das Original enthält ein Vorwort, in dem Ngũgĩ die Situierung des Textes in den Kontext oral geprägter Erzählformen der Gikuyu-Kultur vor‐ nimmt. Das Vorwort trägt den Titel „Uga iitha! “ (Ngũgĩ 1980: o.S.) und unter‐ streicht mit dieser für Gikuyu-Volksmärchen typischen Anfangsformel, wie stark Caitaani mũtharaba-Inĩ mündlichen Erzählformen verpflichtet ist. Der Autor fordert seine Leserschaft im Vorwort auf: „Kiuge iitha riu nguganire! “, was so viel bedeutet wie: „Ruft ‚Iitha‘, dann erzähle ich euch eine Geschichte“ (vgl. Gikandi 2000: 211). Das Schlüsselwort ‚Iitha‘ ist Teil der folkloristischen Tradition und kann als emphatische Aufforderung der Zuhörer an den Erzähler verstanden werden, seine Geschichte weiter zuerzählen. Wie Simon Gikandi (2000: 211) herausstellt, etabliert Ngũgĩ mit dieser performativen Ansprache einen Pakt zwischen Autor, Text und Leser, der auf der Revitalisierung eines gemeinsamen Wissens- und Wertebestands beruht und der die Leser gleichsam zu Ko-Produzenten kulturspezifischer Traditionsstiftung macht. Wo der Gikuyu-Text auf Nähe, Gemeinsamkeit und Gemeinschaftsbildung setzt, setzt die englische Übersetzung auf Distanzierung, Ausschluss und die oftmals verstörende Kraft kultureller Alterität. In Devil on the Cross fehlt das Vorwort; die Leser werden unvorbereitet mit der kulturspezifischen Alterität des afrikanischen Textes konfrontiert. Die fehlende Übersetzung legt nahe, dass Birgit Neumann und Yvonne Kappel 142 <?page no="143"?> 5 Viele weitere Beispiele unterstreichen die Kulturspezifität der Sprichwörter; siehe z.B.: „The yam that one has dug up for oneself has no mouldy patches. The sugar cane that one has picked out has no unripe edges“ (Ngũgĩ 1982c: 22) oder „The grade cow has stopped yielding milk. So is it now fit only for slaughter? “ (Ngũgĩ 1982c: 25) Ngũgĩ betont, dass die Basis jeder Gemeinschaft „the soil, land“ (Ngũgĩ 1981: 7; vgl. Ngũgĩ 1986b: 153) sei. Er kritisiert, dass die Darstellung von Realität in englischer Literatur zumeist über die Parameter „European history, race, culture, and class“ (Ngũgĩ 1981: 15) erfolge, die allerdings kaum geeignet seien, afrikanischen Vorstellungen von Realität Ausdruck zu verleihen. 6 Ashcroft, Griffith und Tiffin (1989: 65) stellen in diesem Zusammenhang heraus, dass entfremdende Übersetzungen zu einem „active engagement with the horizon of the culture in which these terms have meaning“ herausfordern. englischsprachige Leser nicht in den Kreis derjenigen fallen, die an dem ge‐ meinschaftsstiftenden Akt der Erzählung und Erinnerung teilhaben. Dieser textuell produzierte Ausschlussmechanismus wird durch ein Spektrum von Übersetzungsstrategien akzentuiert, die allesamt sprachliche Transparenz ver‐ weigern und damit eine allzu glatte Aneignung kulturspezifischer Traditionen durch eine westliche Leserschaft verunmöglichen. Zum Beispiel werden viele Gikuyu-Sprichwörter zumeist wörtlich, aber nicht sinngemäß übersetzt, wie etwa die folgende Passage illustriert: „Is it not said that an antelope hates less the one who sees it than the one who shouts to alert others to its presence? “ (Ngũgĩ 1982c: 7). Die genauen kulturellen Konnotationen der Antilope, deren Bedeutung für Praktiken des Sehens und Übersehens, der Anerkennung und Missachtung, bleiben opak bzw. ‚im Dunst‘, wie Glissant (1990: 120) es nennt. Immer wieder fungieren in übersetzten und doch zugleich unübersetzbar blei‐ benden Sprichwörtern Begriffe als Träger der Bedeutung, 5 die hochgradig kul‐ turspezifische Konnotationen haben. Der Text verwehrt den Lesern, die mit Sprache und Kultur der Gikuyu nicht vertraut sind, erläuterndes Kontextwissen. Deutlich wird durch diese Strategie, dass selbst dann, wenn die Figuren in der Übersetzung Englisch sprechen, ihre Umwelt und Erfahrungsrealität nicht in englischen Wissensordnungen aufgeht. In anderen Fällen kommt es durch wört‐ liche Übersetzungen einzelner Gikuyu-Phrasen oder Tropen zu weitreichenden semantischen Verschiebungen englischer Begriffe, so etwa wenn „ciero“, eine metonymische Bezeichnung des weiblichen Geschlechtsorgans, wörtlich - nämlich mit „thigh“ (Ngũgĩ 1982c: 19) - übersetzt und auf diese Weise mit neuen Konnotationen aufgeladen wird. Indirekt werden englische Leser aufgefordert, den bereits aus dem Gikuyu übersetzten Text weiter zu übersetzen, seine Alte‐ rität zu erkennen und anzuerkennen - ein Prozess, der den Text einerseits für transkulturelle Dialoge öffnet, 6 der andererseits die unübersetzbare Spezifizität von Gikuyu-Traditionen in Szene setzt. Die wörtlichen Übersetzungen weisen Sprache, Übersetzung und Selbstübersetzung 143 <?page no="144"?> 7 In Bezug auf seine Anfangswerke bemerkt Ngũgĩ: „What we have created is another hybrid tradition, a tradition in transition, a minority tradition that can only be termed as Afro-European literature“ (1986a: 26-27). Für Ngũgĩ selbst ist der Begriff der „hybrid tradition“ negativ konnotiert. 8 „Uhuru“ etwa bezeichnet ‚Freiheit‘ in Verbindung mit der Unabhängigkeit und markiert somit ein dezidiert transethnisches Konzept. „Wananchi“ heißt wörtlich übersetzt ‚Be‐ sitzer des Landes‘ und bezeichnet sinngemäß alle Bürger des Landes. „Ukenya“ bedeutet so viel wie ‚kenianisch sein‘ und indiziert somit auch ein Gemeinschaftsgefühl jenseits von ethnischer Identifikation. 9 Durch den Gebrauch sowohl von Gikuyu als auch von Swahili unterstreicht Ngũgĩ überdies auch noch einmal eine Forderung, die er im Vorwort auf Gikuyu formuliert: „O Mũũkeenya haandũ aarũma, aagĩrĩirwo nĩ gũkorwo arĩ njoorua ya thiomi igĩrĩ; rwa rũũrĩrĩ rwake […] na rwa bũrũri nĩ ruo Gĩthweri.“ Jeder Kenianer sollte demnach sowohl die Sprache seines ‚Stammes‘ und seines ‚Landes‘ beherrschen. nicht nur Ngũgĩs Roman als spezifische, lokal geprägte Ausdrucksform aus; sie hybridisieren auch die englische Sprache: 7 Sie konfrontieren diese mit ihrem gewaltsam unterdrückten Anderen und öffnen sie für Verhandlungsprozesse zwischen Kulturen. Neben solchen bewusst entfremdenden Übersetzungen ist Devil on the Cross von etlichen Code Switchings durchzogen, bei denen auf der Figurenebene un‐ vermittelt die Sprache geändert wird. Zumeist handelt es sich hierbei um Be‐ griffe, die kulturspezifische Speisen, Gegenstände oder Praktiken bezeichnen, für die es kein englisches Äquivalent gibt. Die Gikuyu-Begriffe „matatũ“ (Ngũgĩ 1982c: 98), „wandĩndĩ“ (95), „maatheng’eeta“ (130) oder „gĩcaandĩ“ (7) sind hierfür nur einige Beispiele. Im Kontext des multilingualen Kenias, das eben nicht nur durch Verflechtungen mit dem ehemaligen ‚Mutterland‘, sondern auch durch Verflechtungen zwischen ethnischen Gemeinschaften innerhalb des Landes geprägt ist, verdient außerdem Aufmerksamkeit, dass Devil on the Cross auch etliche Begriffe des Swahili, wie etwa uhuru, ujamaa, haraambe, wa‐ nanchi, ukenya oder ugeni integriert. Swahili ist, neben Englisch, die zweite Amtssprache Kenias; sie ist auch offizielle Verkehrssprache Ostafrikas. Ihr Ge‐ brauch ist daher weniger an die Identität einer bestimmten Ethnie gebunden, sondern an Vorstellungen einer nationalen, sogar transnationalen bzw. panafri‐ kanischen Identität. Es überrascht daher kaum, dass die unübersetzt bleibenden Begriffe vornehmlich aus dem Bereich der Politik stammen und eng mit den Unabhängigkeitsbestrebungen und dem postkolonialen nation building in Ver‐ bindung stehen (vgl. Kasanga/ Kalume 1996: 62). 8 Die Momente des Code Swit‐ ching situieren den Text in einem pan-afrikanischen Kontext und erinnern auch performativ an die Unabhängigkeitskämpfe des Kontinents, die als Grundlage eines einzelne Gruppen transzendierenden Gemeinschaftsgefühls mobilisiert werden. 9 Das Code Switching ist Element einer literarisch inszenierten Erinne‐ Birgit Neumann und Yvonne Kappel 144 <?page no="145"?> 10 Wir danken Ngũgĩ wa Thiong’o für diese Erläuterung (E-mail vom 19.09.2017). 11 Venuti (2008: 1) stellt in diesem Kontext fest: „The illusion of transparency is an effect of a fluent translation strategy, of the translator’s effort to insure easy readability by adhering to current usage, maintaining continuous syntax, fixing a precise meaning.“ rungspolitik, die der Vergegenwärtigung der Pluralität innerhalb des Landes dient und koloniale Vorstellungen eines weitgehend geschichtslosen und ho‐ mogenen Kontinents strategisch durchkreuzt (vgl. Ngũgĩ 1982b: 5). Daneben werden auch die anhaltenden Auswirkungen der Kolonialzeit durch ein zwei‐ fach markiertes Code Switching betont, das die Leser auf den Originaltext zu‐ rückverweist - und implizit zugleich die Annahme eines Authentizität und Reinheit verheißenden Originals in Frage stellt. So enthält die Übersetzung nämlich einige kursivierte englische Begriffe, die dem imperialen Bildungs‐ system entstammen und die auch im Gikuyu-Original auf Englisch und kursi‐ viert erscheinen, wie etwa die Begriffe „form four“ oder „School Certificate“ (Ngũgĩ 1980: 13, Ngũgĩ 1982c: 18). Diese Begriffe haben Eingang in den alltäg‐ lichen Sprachgebrauch einer (post-)kolonialen Bildungselite gefunden; ihre Kursivierung markiert zugleich eine Fremdheit bzw. die Gewalt kolonialer Fremdherrschaft 10 und erinnert an jene konstitutive Andersheit, die Ngũgĩ zu‐ folge das koloniale Bildungssystem in die Gikuyu-Kultur einführte. Maßgeblichen Anteil an der kreativen Entfremdung des Englischen haben schließlich all jene Strategien, bei denen die Syntax des Gikuyu als Modell für die englische Übersetzung dient. Die englische Übersetzung imitiert passagen‐ weise die Syntax des Gikuyu und nimmt so das, was sich aus englischer Pers‐ pektive als grammatikalischer Regelbruch darstellen mag, bewusst in Kauf. Übersetzungen wie „Me, I had a Tusker, and Wangari had a Tatino and Muturi drank Whitecap“ (Ngũgĩ 1982c: 155, unsere Hervorhebung) markieren nicht nur die Oralität des Erzählten. Sie unterstreichen auch den Anspruch Ngũgĩs, die Normativität der englischen Sprache durch die transformative Kraft lokaler Kontexte zu brechen und so eine ‚Afrikanisierung des Englischen‘ zu erreichen: The construction ‚Me‘, ‚I had ...‘ is clearly an ‚Africanism‘, a transfer into English of a perfectly acceptable syntactic structure in African languages. In English the use of the pronoun ‚me‘ besides ‚I‘ is redundant and, thus, considered sub-standard. (Kasanga/ Kalume 1996: 58) Durch das Zusammenspiel der genannten Übersetzungsstrategien wird Devil on the Cross zu einem Text, in dem Konzepte von Transparenz, die in der Regel für leserfreundliche Übersetzungen sorgen und damit vor allem der internationalen Vermarktung von Literatur in die Hand spielen, weitgehend ihr Primat ver‐ lieren. 11 Der Verlust sprachlicher Transparenz hat weitreichende sozio-politi‐ Sprache, Übersetzung und Selbstübersetzung 145 <?page no="146"?> 12 „Opakes muss erhalten bleiben, ein Appetit nach den für das Übertragen geeigneten Dunkelheiten ist anzuregen, die fälschlichen Vereinfachungen des eingebürgerten Kau‐ derwelsch sind zu entkräften. Das Grundmuster darf nicht Transparenz sein; und es reicht nicht aus, das Recht auf sprachliche Differenz oder andererseits auf Zwischen‐ sprachlichkeit zu behaupten, damit es auch tatsächlich umgesetzt wird.“ (Übersetzung Vera Elisabeth Gerling). Kritisch lässt sich natürlich einwenden, dass die Kursivierung der unübersetzt bleibenden Begriffe deren Potential, ein Recht auf Opazität in Szene zu setzen, minimiert. Auch die gelegentlichen Annotationen, die Ngũgĩ vornimmt, um zentrale kulturelle Konzepte und Praktiken zu erläutern, wie etwa den Hintergrund der Figur Kamoongonye, die einer Gikuyu Ballade entnommen ist (vgl. Ngũgĩ 1982c: 20), ist eine Übersetzungsstrategie, die einige Übersetzungswissenschaftler als ‚domestizie‐ rend‘ ansehen (vgl. Beebee 2012: 21, Gerling 2004: 133). Mitunter, so zum Beispiel das Argument Marion Gymnichs, werden somit Konzepte der dargestellten Kultur in das „Kategoriensystem der angloamerikanischen Kultur gezwungen und dabei verzerrt“, was eine Privilegierung des anglo-amerikanischen Referenzsystems nach sich zieht (2007: 80). Für Appiah hingegen sind Annotationen als zentrale Elemente einer „thick translation“ (1993: 817) anzusehen, die dazu beitragen, Texte in einen „rich cultural and linguistic context“ zu situieren. Ebenfalls positiv sieht Raoul den bewussten Gebrauch von Annotation und Glossarien, da sie den Dialog mit den Lesern befördern können, indem sie eine „liberating zone of mytonomic exchange“ herstellen (vgl. Raoul 2006: 98). Der Effekt sei keinesfalls domestizierend, sondern „ambiguous, entailing both unsa‐ voury assistance and hushed provocation.“ (ebd.) sche Implikationen, denn er suggeriert keine vollständige Lesbarkeit kultureller Alterität. Vielmehr behaupten sprachliche Intransparenz und Entfremdung ein Recht auf ‚Opazität‘, wie es der karibische Autor und Philosoph Edouard Glissant in La Poétique de la Relation (1990: 134) formuliert: Il faut préserver les opacités, créer un appétit pour les obscurités propices des trans‐ ferts, démentir sans répit les fausses commodités des sabirs véhiculaires. La trame n’est pas de transparence; et il ne suffit pas d’affirmer le droit à la différence linguis‐ tique ou, à l’opposé, à l’interlexicalité, pour les réaliser assurément. 12 Ganz zufrieden war Ngũgĩ mit seiner Selbstübersetzung von Caitaani mũtha‐ raba-Inĩ gleichwohl nicht. Selbstkritisch befand er, dass die englische Überset‐ zung der Komplexität seiner afrikanischen Charaktere nicht genügend Rech‐ nung trage und diese im Gegenteil als simpel und eindimensional erscheinen lasse. Hieraus ergaben sich für ihn zwei Schlussfolgerungen: Seinen folgenden Roman Matigari ma Njiruungi ließ er von der Übersetzerin Wangui wa Goro übersetzen, die, so Ngũgĩ (2009b: 20), „the pitfalls of mental translation“ ver‐ Birgit Neumann und Yvonne Kappel 146 <?page no="147"?> 13 Vgl. Ngũgĩ (2009b: 20): „Wangui wa Goro avoided the pitfalls of mental translation and that of making the rhythms and syntax of the original language overly present in the target language. […] In other words, readers could concentrate on their identification with the world of the novel without being tripped through the constant reminder that they were reading a translation.“ mied. 13 Seinen dritten Roman, Mũrogi wa Kagogo, übersetzte er wiederum selbst. Allerdings brachte er nun eine andere Übersetzungsstrategie zum Anschlag. So fertigte er die Übersetzung, die er 2006 unter dem Titel Wizard of the Crow vorlegte, in direkter Interaktion mit dem Gikuyu-Original an. Original und Übersetzung stehen sich in diesem Prozess nicht länger hierarchisch gegenüber; sie bilden kein binäres Oppositionspaar. Vielmehr gehen sie vielfältige Ver‐ flechtungen, Überlappungen und Überkreuzungen ein und transformieren sich in einem offenen - intra- und nicht inter-relationalen - Prozess wechselseitig. Übersetzung ist mithin keine sekundäre Angelegenheit, sondern eine kreative Praxis, die das sogenannte Original allererst entstehen und die Unterscheidung zwischen Original und Übersetzung letztlich obsolet werden lässt: I would say that in the process of writing and rewriting it, translating and retranslating it, there was a continuous dialogue between and interaction between Gikuyu and English in a way that would have been different had I been translating from a finished and published text as I had done with Devil on the Cross. (Ngũgĩ 2009b: 20) Ngũgĩs Prozess der Selbstübersetzung illustriert eindrücklich, dass „[t]renn‐ scharfe Grenzziehungen zwischen Schreiben und Übersetzen“ (Ette 2005: 110) kaum noch zu ziehen sind. Epistemologische Brüche? Multilingualität in Petals of Blood Für Ngũgĩ verband sich mit dem Wechsel zu Gikuyu das Ziel, einen ‚epistemo‐ logischen Bruch‘ (Ngũgĩ 1986a: 44) mit eurozentrischen Traditionen - und damit auch mit seinem eigenen, vorangehenden Werk - zu vollziehen. Seine auf Eng‐ lisch verfassten Romane Weep Not, Child (1964), The River Between (1965) und Petals of Blood (1977) wurden von Kritikern oftmals als affirmative Fortschrei‐ bung europäischer Modelle bzw. als koloniale Mimikry kritisiert; Ngũgĩ selbst scheint diesen Kritikern Recht zu geben, wenn er behauptet, seine auf Gikuyu verfassten Romane überwinden auch die in postkolonialen Kontexten noch vor‐ herrschende Orientierung an imperialen Normen. Tatsächlich fällt bei einer ge‐ naueren Betrachtung der Sprachverwendung in den genannten Werken vor allem eines auf: wie stark bereits in ihnen die englische Sprache gebrochen, hybridisiert und pluralisiert wird, indem Ngũgĩ ihr immer wieder - direkt oder Sprache, Übersetzung und Selbstübersetzung 147 <?page no="148"?> indirekt - Elemente des Gikuyu, aber auch des Swahili einschreibt (vgl. Andin‐ dilile 2014). Besonders deutlich wird diese Strategie in Petals of Blood, dem bislang letzten von Ngũgĩ auf Englisch verfassten Roman. Der Roman kreist um die politischen Spannungen, die das jüngst zur Unabhängigkeit gelangte Kenia in Bann halten, sowie um die Folgen des Mau-Mau Krieges und die zunehmende Verwestlichung des Landes, die sich vor allem in neokolonialen Strukturen und politischer Kor‐ ruption bemerkbar macht. Die Folgen des britischen Imperialismus werden in Petals of Blood nicht nur anhand des Spannungsverhältnisses zwischen Moderne und Tradition durchgespielt, das sich durch die kenianische Gesellschaft zieht und sich in die unterschiedlichen Semantisierungen des städtischen und länd‐ lichen Raums übersetzt; vielmehr zeigen sie sich auch in der Darstellung des Bildungssystems im postkolonialen Kenia, das einerseits kulturelle Emanzipa‐ tion und intellektuelle Selbstbefreiung zu verheißen scheint, das andererseits in kolonialen Strukturen und entsprechenden Wertehierarchien zwischen afrika‐ nischen und europäischen Wissensordnungen gefangen ist. Dem - in der fiktionalen Welt der story vorherrschenden - Festhalten an imperialen Bildungstraditionen stellt der Roman einen auf politische Emanzi‐ pation angelegten Sprachgebrauch entgegen, in dem sich Visionen einer alter‐ nativen, afrikanischen Moderne konkretisieren. Immer wieder finden sich in dem englischen Text Worte, Lieder und Redewendungen auf Gikuyu, deren Be‐ deutungen und kulturelle Konnotationen sich der englischen Leserschaft weit‐ gehend verschließen. Ngũgĩ selbst stellt in diesem Kontext heraus: I had to try and make the reader feel that these characters were speaking an African language [...] Sometimes, as in Petals of Blood, I left a whole lot of African words without any attempt at translating them either directly or in the context.“ (Ngũgĩ 2009b: 19) Er nutzt demnach in Petals of Blood seine Muttersprache nicht nur für die ver‐ einzelte Bezeichnung kultureller Besonderheiten, etwa aus dem Bereich des Es‐ sens, der Kleidung oder des Transportwesens. Vielmehr finden sich in dem Roman Elemente des Gikuyu auch immer wieder in solchen Passagen, die für das Verständnis der Handlung zentral sind. Als etwa einer der Protagonisten, Munira, den Bauern des kleinen Dorfes Ilmorog seine Reformpläne für die he‐ runtergekommene lokale Schule schildert, ist es ein Satz auf Gikuyu, der ihm schließlich Respekt verschafft: „Munira now seized this chance to elaborate on the future prospects of the school and begged their co-operation. Kamuingi koyaga ndiri, he said, not believing it, but noting that the words impressed them.“ (Ngũgĩ 1977: 10) Den Lesern, die des Gikuyu nicht mächtig sind, wird weder Birgit Neumann und Yvonne Kappel 148 <?page no="149"?> hier noch zu einem späteren Zeitpunkt ein Kontext geboten, der sich bei der Erschließung des Satzes als hilfreich erweisen könnte, und so bleibt ihnen das Wissen darüber, was die Bauern dazu bewegt, dem Fremden zu vertrauen, vor‐ enthalten. Tatsächlich handelt es sich bei der Wendung „Kamuingi koyaga ndiri“ um ein Gikuyu-Sprichwort, das Einheit und Zusammenhalt beschwört und dem insbesondere während des antikolonialen Unabhängigkeitskampfes der Mau-Mau Bewegung große Bedeutung zukam (wörtlich bedeutet es ‚eine Gruppe von Menschen kann einen Mörtel heben‘). Genutzt wurde diese Wen‐ dung von zahlreichen politischen Aktivisten, die maßgeblich an der Herausbil‐ dung eines Gikuyu-Nationalismus beteiligt waren, so u.a. auch von Jomo Ke‐ nyatta, der später der erste Präsident der unabhängigen Republik werden sollte. Dass diese Wendung in Petals of Blood Munira in den Mund gelegt wird, ist kein Zufall. Muniras Name bedeutet wörtlich so viel wie ‚Stumpf, Stummel‘ und in dieser allegorisch aufgeladenen Konstellation kann sein Kampfruf auch als Hin‐ weis für die Desillusionierung gelesen werden, die sich unter vielen Intellektu‐ ellen und Aktivisten im postkolonialen Kenia angesichts der Fortführung kolo‐ nialer Strukturen breitmachte. Die in Petals of Blood integrierten Redeweisen, Sprichwörter und Namen auf Gikuyu sind tief verankert in der Geschichte und Politik des Landes; sie ver‐ weisen auf sozio-politische Singularitäten, die einerseits eine Widerständigkeit und Unübersetzbarkeit der Gikuyu-Kultur markieren und damit den Anspruch auf Unabhängigkeit auf sprachlicher Ebene unterstreichen; andererseits fordern sie Leser gerade in dieser Nicht-Verfügbarkeit dazu auf, Übersetzungsprozesse anzustreben und sich eingehender mit Kultur, Sprache und Geschichte der Gi‐ kuyu zu beschäftigen. Eine Beherrschung beider Sprachen und Kulturen wird nicht, wie etwa von Evan Mwangi (vgl. 2004: 66) behauptet, vorausgesetzt. Viel‐ mehr ist sie eine vom Text projizierte Vision einer transkulturellen Gemein‐ schaft, die es erst noch zu etablieren gilt. Wenn es sich hier also um Momente der Unübersetzbarkeit handelt, dann bezeichnet das Unübersetzbare nicht das, was nicht übersetzt werden kann, sondern, in den Worten Barbara Cassins (2009: o.S.) „ce qu’on ne cesse pas de (ne pas) traduire“, was man nicht aufhört (nicht) zu übersetzen. Die doppelte Verneinung ist bemerkenswert. Denn sie markiert, dass das Unübersetzbare jene paradoxe, undialektisch gedachte Konstellation beschreibt, in der mit dem Wissen übersetzt wird, die Übersetzung nicht ab‐ schließen zu können bzw. zu dürfen. Diese Begegnung mit (linguistischer) Al‐ terität hat ethische Implikationen, denn sie fordert zu immer neuen, anderen Übersetzungen auf (vgl. Walkowitz 2015: 33-34). Eine exemplarische Betrachtung von Petals of Blood zeigt demnach, dass sich auch die ursprünglich auf Englisch verfassten Romane keineswegs glatt in eu‐ Sprache, Übersetzung und Selbstübersetzung 149 <?page no="150"?> 14 Ngũgĩ selbst beschreibt diese translatorische Poetik (vgl. Neumann 2018) als Resultat eines andauernden mentalen Übersetzungsprozesses aus seiner Muttersprache Gikuyu in die Amtssprache Englisch und somit als einen Hinweis auf seine eigene Zerrissenheit, sein Leben zwischen den Sprachen und Kulturen (vgl. Ngũgĩ 2009b: 19). 15 Siehe Ngũgĩ (2009b: 19): „One of the saddest results of writing in English was that, through mental translation of my creative process, I had lost what would have been the ‚original text‘ in Gikuyu.“ 16 Apollo Amoko stellt ebenfalls heraus, dass sich Ngũgĩs frühe Werke nicht problemlos als Kontinuierung europäischer Ästhetiken verstehen lassen: „Critics have generally identified these two texts with an ‚English aesthetic‘, which aesthetic, it is claimed, Ngũgĩ would come explicitly and decisively to repudiate in his later writing, most no‐ tably Petals of Blood and Devil on the Cross. I contend that while seemingly right in its broad outline, this reading is problematic on two interrelated grounds: firstly, it hinges on a radical discontinuity between Ngũgĩ’s early and later fiction that is not altogether sustainable; secondly, it appears to overlook the extent to which Ngũgĩ’s apparent em‐ brace of ‚Englishness‘ in his earliest fiction is riddled with ambivalence, ambiguity, and slippage“ (2005: 35). rozentrische Traditionen einordnen lassen, sondern dass sie ebenso wie die aus dem Gikuyu übersetzten Texte Spuren der Übersetzung tragen und kulturelle Differenz behaupten. Petals of Blood ist bereits im ‚Original‘ eine Übersetzung - nicht zuletzt „an exercise in mental translation“ (Ngũgĩ 2009b: 19) - und die Integration einzelner unübersetzter Passagen unterstreicht, dass der Text in mehreren Sprachen gleichzeitig zuhause ist. 14 Auch wenn Ngũgĩ beklagt, dass der Rückgriff auf die englische Sprache zu einem Verlust des Originals in Gikuyu geführt habe, 15 legt die Sprachpolitik seiner Werke etwas anderes nahe: Ein von Übersetzung unberührtes ‚Original‘ scheint es nicht zu geben. Für postkoloniale Autoren ist eine Rückkehr zu einer präkolonialen Vergangenheit unmöglich; umgekehrt aber lässt die Dynamik kultureller Verflechtungen zwischen Afrika und Europa auch die hegemoniale Sprache - in Wizard of the Crow (2006: 59) ironisch als „The King and Queen’s English“ bezeichnet - nicht unberührt. Viel‐ mehr sind es die transkulturellen Verflechtungen und Verstrickungen, die aus dem, was einst als Standard Englisch galt eine Vielfalt von englishes, global englishes (vgl. Pennycook 2006) macht, die klare Grenzziehungen zwi‐ schen Eigenem und Fremdem, Original und Übersetzung, Ausgangs- und Ziel‐ sprache, etc. dynamisieren. Ein epistemologischer Bruch zwischen Ngũgĩs afro-europäischen und afrikanischen Texten, den der Autor und Übersetzer so wirkungsvoll behauptet, besteht daher mitnichten. 16 Die Texte markieren viel‐ mehr ein Kontinuum zwischen afrikanischen und europäischen Sprach- und Erzählkonventionen (vgl. Andindilile 2014: 183), ein Kontinuum, das zeigt, wie eng afrikanische und europäische Konventionen in kolonialen und postkolo‐ Birgit Neumann und Yvonne Kappel 150 <?page no="151"?> 17 Vgl. Susan Bassnett (2017: 24), die zu einem ähnlichen Schluss kommt: „Ngũgĩ’s ack‐ nowledgement that he lives in more than one language is an indication of the difference in perception that has taken place since the 1980s. For whilst Postcolonial Studies was, essentially, concerned with challenging the hegemony of English a few decades ago, today there is greater recognition of the fact that millions live in a plurilingual envi‐ ronment, moving backwards and forward between two or more languages, translating themselves and being translated. Ngũgĩ’s rejection of English as the language of colonial oppression was a valid decision at the time, but in the 21 st century it has become im‐ portant to acknowledge a life lived in between more than one language and culture.“ nialen Kontexten miteinander verwoben sind bzw. sie sich in der ständigen Übersetzung wechselseitig konstituieren, konturieren und transformieren. Born Translated - Living in Translation Beide - Petals of Blood als auch Devil on the Cross - sind inhärent multilinguale Romane; beiden ist die transformative Kraft von Übersetzungen konstitutiv ein‐ gelassen - unabhängig davon, ob der Text zunächst auf Gikuyu oder Englisch verfasst wurde (vgl. Andindilile 2014: 194). Aus dieser Perspektive ist Überset‐ zung dem, was gemeinhin als ‚eine Sprache‘ bezeichnet bzw. klassifiziert wird, immer schon eingeschrieben oder, anders gesagt, jede einzelne Sprache trägt die Spuren anderer Sprachen und ist daher als multilingual anzusehen (vgl. Derrida 1998). Beide Romane lassen sich mit Rebecca Walkowitz (2015) als born trans‐ lated bestimmen, also als Texte, die in der Übersetzung entstehen und deren Poetik konstitutiv durch sprachliche und kulturelle Übersetzung geprägt ist. Born translated-Texte machen Übersetzung als Teil des Entstehungsaktes des sogenannten Originals selbst sichtbar und problematisieren auf diese Weise das naturalisierte Verhältnis zwischen Sprache, Kultur und Identität. Auf Homoge‐ nität angelegten Narrativen stellen sie die pluralisierende Kraft der Translation entgegen, die einen Raum zwischen den Kulturen öffnet, die Bewegung und Trajektorien zwischen unterschiedlichen kulturellen Kontexten herstellt und die das scheinbar Eigene für Differenz und Alterität verfügbar macht. Charak‐ teristisch sind solche Texte vor allem für solche Autoren und Autorinnen, die ‚ohne festen Wohnsitz‘ (Ette 2005) leben bzw. die an mehreren Kulturen, Spra‐ chen, Traditionen und Wissensbeständen partizipieren. Auch Ngũgĩ (2009b: 18) kommt rückblickend zu dem Schluss, dass er stets in der Übersetzung lebte und sein Selbstverständnis durch und durch von Übersetzungsprozessen geprägt ist: „Thinking back on it, I realized that I have always lived in translation.“ Wenn sich also etwas geändert hat, dann sind es weniger die Schreibprak‐ tiken, die einen radikalen Bruch zwischen Ngũgĩs englischen und post-engli‐ schen Werken markieren, als vielmehr sein Verständnis von Übersetzung. 17 Sprache, Übersetzung und Selbstübersetzung 151 <?page no="152"?> 18 In 2012 erklärt Ngũgĩ in seinem Essay „A Multi-Centred Globe - Translation as the Language of Languages“: „[W]e do need language that can bring colours and languages together, and that language, in my view, now has a name: Translation“ (2012: 117). Diese steht nämlich nicht in einem statischen und binär strukturierten Ver‐ hältnis zum Original; vielmehr ist sie für Ngũgĩ - ebenso wie für viele andere postkoloniale Autoren, Migranten, Exilanten und Kosmopoliten - eine konsti‐ tutive Praxis zur Verhandlung von Verbindungs- und Konfliktlinien zwischen den Kulturen und Sprachen, von denen sie unweigerlich und oftmals unfrei‐ willig geprägt wurden. Kulturen und Sprachen sind lokal situiert und tragen partikulares Wissen in sich. Kulturen und Sprachen jedoch existieren nie in splendid isolation; sie befinden sich mehr denn je in Bewegung und in der Über‐ setzung. Übersetzung öffnet lokale Figurationen für translokale Verstrickungen und macht Vergangenes für die Gegenwart verfügbar. Vor diesem Hintergrund mag Ngũgĩ in der Tat Recht haben, wenn er im Jahre 2012 Übersetzung als die ‚Sprache der Sprachen‘ bezeichnet. 18 Literaturverzeichnis Amoko, Apollo. 2005. „The Resemblance of Colonial Mimicry. 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Alle anderen Übersetzungen stammen von der Ver‐ fasserin. „Ich bin es tatsächlich ein wenig müde, so zu tun, als ob ich bei diesen Übersetzungs‐ themen Fragen theoretischer Natur beantworten würde - so zu tun als ob, weil mir in Wirklichkeit die Zeit gefehlt hat, diese ausreichend zu durchdenken, und weil das Übersetzen für einen Teil von mir, tief in meinem Innern, vor allem etwas Praktisches ist, das ganz offensichtlich über die Idee, die man sich davon gemacht zu haben glaubt, hinausgeht.“ „Entrevoir une aube“ Anmerkungen zum Verhältnis von Übersetzungspoetologie und -praxis bei Yves Bonnefoy Angela Sanmann Wenige Übersetzerinnen und Übersetzer haben sich so häufig und umfassend zu ihrer Tätigkeit geäußert wie der in Tours geborene Lyriker Yves Bonnefoy (1923-2016), der neben Shakespeare und W.B. Yeats auch Giacomo Leopardi und Petrarca ins Französische übertragen hat. 1 Zu den einschlägigen übersetzungs‐ theoretischen Debatten, seien sie zeitgenössischer oder historischer Art, hat er hingegen stets eine gewisse Distanz gewahrt, eine Distanz, die er vor allem auf seine Selbstwahrnehmung als ‚Praktiker‘ zurückführt: Je suis un peu lassé, en effet, de paraître répondre, sur ces sujets de la traduction, à des questions de nature théorique - paraître parce que en fait je n’ai pas eu le temps d’y réfléchir assez, en ces occasions, et parce qu’au fond de moi il y a même quelqu’un pour qui traduire est avant tout une pratique, qui déborde, et de façon tout de suite bien apparente, l’idée que l’on croit s’en être faite. 2 (Bonnefoy 2000: 60) Bonnefoys Zurückhaltung gegenüber den „questions de nature théorique“ schwächt jedoch in keiner Weise sein Streben nach einer klar definierten Über‐ setzungspoetik, die er gegenüber LeserInnen und KritikerInnen expliziert. Und <?page no="158"?> 3 „Ich schreibe keine Gedichte, wenn man unter diesem Wort ein klar abgegrenztes, ei‐ genständiges Werk zu verstehen hat […], was ich schreibe, sind Gesamtheiten, inner‐ halb derer jeder einzelne Text nur ein Bruchstück ist.“ 4 „Der Übersetzer und der Dichter empfinden ganz ähnlich.“ trotz seiner Reserve gegenüber systematischen Ansätzen stehen seine Refle‐ xionen nicht im luftleeren Raum, sondern greifen vielfach übersetzungstheore‐ tische Diskurse auf - in den allermeisten Fällen jedoch implizit, ohne nähere Ausführungen oder Belege: sei es die von Novalis betonte Verwandtschaft zwi‐ schen Dichter und Übersetzer oder das für Paul Celan zentrale Prinzip des dia‐ logischen Übersetzens - so allgegenwärtig die Bezüge, so rar die Fußnoten und Nachweise. Auf diese Weise entspinnt sich ein komplexes, unterschwelliges Verweissystem, das dechiffriert werden will. Der vorliegende Beitrag widmet sich - neben den genannten intertextuellen Referenzen - im Besonderen der Frage, in welchem Verhältnis Bonnefoys Übersetzungspoetologie zu seinem ly‐ rischen Schaffen steht. Bonnefoys übersetzungspoetologische Schriften, die oft von konkreten Bei‐ spielen aus der eigenen Praxis ausgehen, gehören einem hybriden Genre an: häufig in der Ich- oder Wir-Form gehalten, stehen die Texte auf der Schwelle zwischen übersetzungspoetologischer Reflexion, Werkstattbericht und lyri‐ schem Essay. Charakteristisch für diese Form übersetzerischen Nachdenkens ist die Grundspannung zwischen der reflektierenden Distanznahme zum eigenen Tun (Bonnefoy 2000: 26) und der unverkennbaren Literarizität seiner Äuße‐ rungen, die sich in einem Nebeneinander begrifflicher Konzepte und Metaphern niederschlägt. Besonders eng verzahnt sind Bonnefoys Essays mit seinem lyri‐ schen Werk, aus dem er zahlreiche Schlüsselmotive übernimmt und in seiner Übersetzungspoetik verankert. Seine Lyrik hat Bonnefoy wiederholt als ein Kontinuum bezeichnet, in dem sich die Motive aus den Einzeltexten gegenseitig ergänzen und erhellen: „Je n’écris pas de poèmes, s’il faut entendre par ce mot un ouvrage bien délimité, autonome [...], ce que j’écris ce sont les ensembles dont chacun de ces textes n’est qu’un fragment“ 3 (Bonnefoy 1992: 19). Sein dichterisches Werk versteht sich als Mosaik, das sich nur im Zusammendenken aller seiner Teile erfassen lässt. Von diesem mosaikartig strukturierten lyrischen Werk führen wiederum (motivische und strukturelle) Verbindungslinien zur Tätigkeit des Übersetzers, der Bonnefoy zufolge mit dem Lyriker eine „communauté“, eine Gemeinschaft bilde: „le traducteur et le poète n’ont guère à se sentir différents“ 4 (Bonnefoy Angela Sanmann 158 <?page no="159"?> 5 Bonnefoys Formulierung ruft Novalis’ Vorstellung vom Übersetzer als „Dichter des Dichters“ wach, die letzterer im Zusammenhang mit der „verändernden Übersetzung“ beschreibt, die er von der „grammatischen“ und der „mythischen“ Übersetzung unter‐ scheidet: „Zu den verändernden Übersetzungen gehört, wenn sie ächt seyn sollen, der höchste poetische Geist. Sie fallen leicht ins Travestiren, wie Bürgers Homer in Jamben, Popes Homer, die Französischen Übersetzungen insgesamt. Der wahre Übersetzer dieser Art muß in der That der Künstler selbst seyn, und die Idee des Ganzen beliebig so oder so geben können. Er muß der Dichter des Dichters seyn und ihn also nach seiner und des Dichters eigner Idee zugleich reden lassen können. In einem ähnlichen Ver‐ hältnisse steht der Genius der Menschheit mit jedem einzelnen Menschen.“ (Novalis: 2005 [1797/ 1798]: 255) 6 „Es ist, als ob uns unsere verhältnismäßige Unkenntnis der anderen Sprache einem ursprünglichen Bewusstsein annäherte, eine Morgendämmerung erahnen ließe.“ 2000: 38; 78). 5 Auch seine Schriften zum Übersetzen haben, wie im Folgenden gezeigt wird, teil an diesem werkinternen Bezugsgeflecht. Erst in der wechsel‐ seitigen Bespiegelung mit seiner Lyrik und seiner Übersetzungspraxis lässt sich Bonnefoys Übersetzungspoetologie erfassen. Wie eng Bonnefoy das Verhältnis zwischen Übersetzungsreflexion und -praxis verstanden wissen will, zeigt sich auch daran, dass seine Essays die übersetzten Bände oft als Paratexte begleiten: in Form von Einleitungen, Vor- und Nachworten. Ein zentrales, Bonnefoys lyrisches und essayistisches Schreiben verbindendes Motiv ist das der Morgendämmerung, dem er ein spezifisches Erkenntnispo‐ tential zuschreibt. Dieser Frage nach dem Erkenntnispotential widmet er neben der Diskussion eigener übersetzerischer Entscheidungen besondere Aufmerk‐ samkeit. Dazu gehört für Bonnefoy auch die Frage, worin die Faszination des Übersetzens besteht und was Menschen (insbesondere LyrikerInnen) zu dieser Tätigkeit motiviert. Ein zentraler Beweggrund liegt ihm zufolge in der Sehn‐ sucht nach einem ursprünglichen, der babylonischen Sprachverwirrung vor‐ ausgehenden Bewusstseinszustand und damit nach einer einheitlichen, allen Menschen gemeinsamen Sprache. Auch wenn das Übersetzen die vollzogene Ausdifferenzierung der Einzelsprachen nicht rückgängig machen kann, so ver‐ mittle sie doch einen Eindruck davon, welches ursprüngliche Bewusstsein von Sprache ihr vorausgegangen sein mag: „C’est comme si notre relative ignorance de l’autre langue nous rapprochait d’un niveau de conscience originelle, nous faisait entrevoir une aube“ 6 (Bonnefoy 2000: 12). Was genau versteht Bonnefoy unter der „relative ignorance“ der Ausgangs‐ sprache, die er im Rahmen des Übersetzungsprozesses als erkenntnisfördernd betrachtet? Mathilde Vischer zufolge tritt Bonnefoy für eine poetische Überset‐ zungspraxis ein, die den Akzent nicht allein auf eine möglichst große Vertraut‐ heit mit der Aussprache legt, sondern sich im Gegenteil zu einer gewissen „igno‐ rance“, zu einem „Nicht-Beherrschen“ der fremden Sprache bekennt und gerade „Entrevoir une aube“ 159 <?page no="160"?> 7 „[Die] Fähigkeit, ein Gedicht in poetischer Sprache wiederzugeben, übersteigt sogar die Sprachkenntnisse; das Nicht-Wissen gilt nun als möglicher Zugang zu einem Bewusst‐ seinsgrad, der dem Wissen vorenthalten bleibt.“ 8 „[...] Shakespeare solange zuhören, bis ich ihn in meinem ganzen Schreiben überflügeln kann, statt ihn hier einfach widerzuspiegeln. Und bis dahin jelly ganz bewusst (und ergänzt um eine Anmerkung) mit einem eigenen Wort wiedergeben, das einem anderen Streben entstammt: cendre [dt. Asche] ... Die Übersetzung ist, punktuell, gescheitert. Aber der Übersetzungsprozess hat begonnen und wird später zu Ende geführt, an einem anderen Ort - und immer noch hier.“ Es wird deutlich, dass Bonnefoys Nachdenken weniger auf eine Theorie der Übersetzung als vielmehr auf eine Theorie des Übersetzens abzielt (Bonnefoy 2000: 26f.), d.h. es geht ihm weniger darum, eine Übersetzung im Sinne eines abgeschlossenen, auf Papier fixierten Resultats zu reflektieren, sondern vielmehr das Übersetzen als Tätigkeit, als prozesshaftes Tun zu denken. darin die Voraussetzung für einen gelingenden Übersetzungsakt sieht: „[L]a ca‐ pacité à rendre un poème en langage poétique dépasse même les compétences linguistiques, l’ignorance étant dès lors posée comme la possibilité d’un accès à un degré de conscience qui échappe à la connaissance“ 7 (Vischer 2009: 398, FN 32). Das gezielt eingesetzte „Nicht-Wissen“ wäre damit nicht nur Vorbedingung für eine gelungene Übersetzung lyrischer Texte, sondern eröffne auch den Zu‐ gang zu einer das rationale Denken übersteigenden „ursprünglichen“ Bewusst‐ seinsform, die Bonnefoy mit der Morgendämmerung assoziiert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass seine Wendung der „relative ignorance de l’autre langue“ eine mit begrenzten Kenntnissen der Ausgangssprache operierende Übersetzungs‐ praxis zu rechtfertigen sucht. Angesichts der Tatsache, dass Bonnefoy an seinen eigenen Übersetzungen jahre-, gar jahrzehntelang gearbeitet und sie wiederholt selbstkritischen Analysen unterzogen hat, wäre diese Deutung auch nicht nahe‐ liegend. Die von Bonnefoy vielfach proklamierte Unabschließbarkeit des übersetze‐ rischen Aktes zeigt sich eindrücklich am Beispiel seiner Hamlet-Fassung von 1957. Hier gibt er das englische „jelly“ zunächst mit „cendres“ wieder, einem Schlüsselbegriff aus seinem lyrischen Werk, den er, rund zwanzig Jahre und fünf Fassungen später, durch „bouillie“ (Roesler 2006: 113) ersetzt. Zur Erstfassung seines Hamlet schreibt Bonnefoy: […] écouter Shakespeare jusqu’au moment où je pourrai le devancer dans toute mon écriture et non simplement, ici, le refléter. Et en attendant, et en connaissance de cause (j’ajouterai une note) rendre jelly par un mot à moi, impliqué dans d’autres poursuites: cendre... La traduction est manquée, au plan local. Mais l’acte de traduire est com‐ mencé, et aboutira plus tard, ailleurs - ici encore. 8 (Bonnefoy 1992: 155) Vor dem Hintergrund des beständigen Infragestellens und Umarbeitens seiner eigenen Übersetzungen stellt sich erneut die Frage, was Bonnefoy unter der Angela Sanmann 160 <?page no="161"?> 9 Eine gerade im Rahmen von Literaturfestivals verbreitete (und durchaus kontrovers diskutierte) Praxis kollektiven Übersetzens besteht darin, LyrikerInnen auf der Grund‐ lage von Interlinearversionen Gedichte aus einer Sprache übersetzen zu lassen, die sie nicht oder nur ansatzweise beherrschen. Zentral ist dabei der direkte, von Dolmetschern ermöglichte Austausch zwischen ÜbersetzerInnen und AutorInnen. 10 Hier lässt sich die Frage anschließen, ob die Ahnung von der gemeinsamen Grundlage der Einzelsprachen auch für das Übersetzen zwischen sehr unterschiedlich struktu‐ rierten Sprachfamilien gilt, z.B. zwischen dem Koreanischen und dem Französischen. Bonnefoy differenziert seine These an dieser Stelle nicht weiter aus, d.h. er unter‐ scheidet nicht zwischen dem Transfer zwischen verwandten und weniger verwandten Sprachen. 11 In ihrer Diskussion der genannten Textstelle geht Mathilde Vischer nicht näher auf das Motiv der Morgendämmerung ein. „relative ignorance de l’autre langue“ versteht - eine Herabstufung der Bedeu‐ tung von Fremdsprachenkenntnissen wohl nicht. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass Bonnefoy auf den unauflöslichen Rest Fremdheit abheben will, der beim Umgang mit der fremden Sprache des Originals unweigerlich als Heraus‐ forderung bestehen bleibt. 9 Da nur wenige ÜbersetzerInnen mehrere Sprachen auf muttersprachlichem Niveau beherrschen, treffen beim Übersetzen not‐ wendig eine vertraute und eine weniger vertraute Sprache aufeinander. Diese Kluft, dieser Zwischenraum zwischen den Sprachen ist unüberwindbar - und erweist sich Bonnefoy zufolge als besonders erkenntnisfördernd. Denn das be‐ wusste und gezielte Gegenüberstellen von eigenen und fremden Worten auf der Suche nach semantischen, syntaktischen und rhythmischen Entsprechungen vermittle eine Ahnung von der gemeinsamen Grundlage der Einzelsprachen, die dem Alltagsbewusstsein entzogen bleibt. 10 Obwohl Bonnefoy hier (und auch sonst) nicht explizit auf Benjamins Essay von der Aufgabe des Übersetzers aus dem Jahr 1923 rekurriert, drängt sich die Vorstellung der verschiedenen „Arten des Meinens“ (Benjamin 1977: 55) auf, durch die sich die Einzelsprachen vonein‐ ander unterscheiden. Beim Übersetzen ergänzen sich Benjamin zufolge diese „Arten des Meinens“ gegenseitig, in der Bewegung auf eine (imaginierte) reine Sprache hin. Auch wenn Bonnefoys übersetzungspoetologische Essays weit weniger ver‐ schlüsselt sind als Die Aufgabe des Übersetzers, zeichnen auch sie sich durch einen dezidiert literarischen Duktus aus. Bonnefoy rekurriert insbesondere auf Metaphern und Motive aus seiner eigenen Lyrik - so wie das bereits zitierte Motiv der Morgendämmerung („aube“) aus seinem erstmals 1958 erschienenen Band Hier régnant désert - und fordert seine Leser auf, diese Spur weiterzuver‐ folgen. Dieses charakteristische Durchdringen von essayistischen und lyrischen Schreibweisen hat jedoch in der Forschung bislang erst wenig Beachtung ge‐ funden. 11 „Entrevoir une aube“ 161 <?page no="162"?> 12 Vgl. Genesis „ 4 Gott sah, dass das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis 5 und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag.“ 13 „Dies ist nicht Frühe mehr, / dies ist schon der Tag voll sagbarer Wünsche.“ (57) 14 „Er wagt nicht zu wissen, / ob er wahrhaft der Tag / und ob er dieses Frühwort lieben darf, das die Mauer des Tages für ihn durchstieß.“ (21) In seinen Gedichten fächert Bonnefoy verschiedene, den Bereich des Visu‐ ellen (Wechsel von Dunkelheit und Licht, Nacht und Tag) und den Bereich der Sprache verknüpfende Facetten des Dämmerungsmotivs auf und rekurriert damit auf die Genesis, wo die Trennung von Licht und Finsternis in der Er‐ schaffung des ersten Tags der göttlichen Schöpfung mündet. 12 Die erste Strophe von Ici, toujours ici (Hier, immer hier) inszeniert den augenblickshaften Umschlag vom Dämmerzum Tageslicht: „Ce n’est plus l’aube, / C’est déjà la journée aux dicibles désirs“ 13 (Bonnefoy 1969: 56). Die Morgendämmerung, ein Symbol für das Ununterscheidbare und Noch-Nicht-Greifbare, weicht der mit dem plötzli‐ chen Sagbarwerden von Gedanken und Wünschen („dicibles désirs“) assozi‐ ierten Tageshelle. Aus dem Zusammendenken von Tageshelle und Sagbarkeit folgt jedoch nicht, dass die Morgendämmerung zwangsläufig ein von Stille und Schweigen ge‐ prägter Moment sein muss. In Le visage mortel (Das sterbliche Antlitz) wird auch dem Dämmerlicht eine „parole“, ein Wort, zugeordnet, das weniger ein Kom‐ munikationsmittel im strengen Sinn, als vielmehr eine Vorform davon darstellt. In der zweiten Strophe heißt es: Il n’ose pas savoir S’il est vraiment le jour Et s’il a droit d’aimer cette parole d’aube Qui a troué pour lui la muraille du jour. 14 (Bonnefoy 1969: 20) Die „parole d’aube“, das „Dämmerungswort“, treibt den Tagesanbruch voran, indem es „die Mauer des Tages“ („la muraille du jour“) durchlöchert. Die „parole d’aube“ lässt sich als Vogelschrei oder als ein anderes, nicht in menschliche Sprache übersetzbares Geräusch deuten, das, die Stille der Morgenröte durch‐ brechend, den Tag verkündet. Eine zweckfreie, noch nicht instrumentalisierte Form des Ausdrucks also, der Binarität des sprachlichen Zeichens vorgelagert; ein Wort, das noch keinen Inhalt hat. In seinen Entretiens sur la poésie spricht Bonnefoy von der „aube de la parole où le mot est encore vacant“ (Bonnefoy Angela Sanmann 162 <?page no="163"?> 15 Vgl. dazu die Ausführungen in Roesler (2009: 44). 16 „Er ist die Frührot-Erde. Wo ein wesenhafter Schatten / auf jedes Licht und jede Wahr‐ heit fällt.“ (43) 17 „Ich seh den Tag herschreiten zwischen den Steinen, / du nur in seiner Weiße trägst ein schwarzes Kleid.“ (53) 1990: 327), von der Dämmerung der Sprache, in der das Wort noch unbesetzt sei. 15 In der zweiten Strophe von Le Feuillage éclairé IV (Erhelltes Laubwerk IV) steht die Ununterscheidbarkeit von Licht und Dunkelheit für das Verborgen-Sein der Wahrheit: „Il est la terre d’aube. Où une ombre essentielle / Voile toute lumière et toute vérité“ 16 (Bonnefoy 1969: 42). Auch der Mensch ist von der paradoxen, unauflöslichen Gleichzeitigkeit von Hell und Dunkel, Schwarz und Weiß affi‐ ziert, wenn es in Une voix (Eine Stimme) heißt: „Je regarde le jour venir parmi les pierres, / Tu es seule dans sa blancheur vêtue de noir“ 17 (Bonnefoy 1969: 52). Diese Verse zeigen, wie Bonnefoys Dämmerungsmotiv auf vielfältige Weise den Übergang zwischen entgegengesetzten Zuständen markiert: die Schwelle zwischen Hell und Dunkel, Tag und Nacht, Schlafen und Wachen, aber auch zwischen Schweigen und Sprechen, zwischen Gedanken und ausformulierten Worten, zwischen Unklarheit und Wahrheit. Dem Motiv der Dämmerung in Bonnefoys Lyrik wohnt ein Moment der Vor‐ ahnung inne - und dieses utopische Moment kennzeichnet das Motiv ebenfalls in übersetzungspoetologischen Zusammenhängen, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Im Rahmen seiner Gedichte steht die Dämmerung für den verhei‐ ßungsvollen, mit Bedeutung aufgeladenen Augenblick, bevor ein Gedanke sich zum Wort kristallisiert, bevor er formulier- und sagbar wird. Im Rahmen des Übersetzungsakts hingegen tritt eine andere Nuance des Motivs hervor; hier figuriert die Dämmerung als Moment der Ungeschiedenheit, der Einheit der menschlichen Sprache, bevor sich diese - nach Babel - in viele verschiedene Einzelsprachen aufspaltet. Den mit dem Dämmerungsmotiv verknüpften uto‐ pischen Charakter dieser vorbabylonischen Vision unterstreicht er zusätzlich durch das Verb „entrevoir“ (deutsch: ahnen, vorhersehen, undeutlich sehen). Einerseits kennzeichnet das Verb die Annäherung an die Utopie einer „reinen Sprache“ (Benjamin 1977: 55) als eine prekäre, tastende, unabschließbare: Stets bleibt ein nicht aufzulösender Abstand zwischen dem Übersetzenden und der von ihm ersehnten vorbabylonischen Sprache. Andererseits zeigt die Kombina‐ tion der beiden Morpheme „entre“ und „voir“ auch eine besondere, das Tages‐ bewusstsein übersteigende Erkenntniskraft an: Der menschliche Sehsinn figu‐ riert hier als ein Dazwischen-Sehen, ein Zwischen-zwei-Dingen-Hindurchsehen - oder ist es ein Zwischen-den-Sprachen-Hindurchsehen? Bonnefoys Wendung „Entrevoir une aube“ 163 <?page no="164"?> 18 „Von den Klängen, Assonanzen und Rhythmen getragen, sind die Worte im Vers weniger Werkzeuge, um die Aspekte der Welt konzeptuell zu interpretieren oder der Sehnsucht eine Bühne zu bieten, sondern sie sind vielmehr, einmal von ihren Fesseln befreit, di‐ rekte, und ja, ich würde sogar sagen, lautlose Beschwörungen, die einer Sache ihren paradiesischen Glanz zurückgeben. Dichtung bedeutet nicht, sie zeigt.“ 19 „Auch meine Übersetzung soll ein Gedicht sein: Rhythmus und Sinn, einer durch den anderen hervorgebracht. Doch Vorsicht: dieser Rhythmus wird mein eigener sein. Er wird den Rhythmus des Originals niemals ganz wieder aufleben lassen können, wegen der Kluft zwischen dem, der man ist und dem, den man bewundert.“ „Entrevoir une aube“ evoziert einen im Übersetzungsakt sich öffnenden Schwel‐ lenraum: zwischen Autor und Übersetzer, Original und Übersetzung, Ausgangs- und Zielsprache, zwischen Alltagsbewusstsein und Ursprungsutopie, zwischen Präsenz und Absenz. Nicht nur dem Übersetzen, auch der Poesie schreibt Bonnefoy das Potential zu, dem Menschen einen Zugang zu seinen eigenen Anfängen zu eröffnen: Die Aufgabe von Gedichten sieht er weniger darin, die erfahrbare Welt zu analy‐ sieren und zu erklären, als sie in ihrer Evidenz aufscheinen zu lassen, oder, wie er selbst sagt: „den Dingen ihren paradiesischen Glanz zurückzugeben“: Soutenus par les timbres, les assonances, les rythmes, les mots sont moins dans le vers des outils pour interpréter, conceptuellement, les aspects du monde, ou bâtir une scène pour le désir, que, délivrés de leurs chaînes, les convocations directes et, dirai-je même, silencieuses qui restituent à la chose son éclat du jardin d’Eden. La poésie ne signifie pas, elle montre. 18 (Bonnefoy 2000: 28) Die Motive des Garten Eden und der Morgendämmerung stehen in Bonnefoys Werk für das Erkenntnispotential der lyrischen und der übersetzerischen Praxis, sie versprechen eine Annäherung an die Ursprünge der menschlichen Existenz und Sprache. Davon bleiben auch Bonnefoys Aussagen zur lyrischen Überset‐ zungspraxis nicht unberührt: Eine seiner Hauptforderungen für das Übersetzen von Gedichten besteht darin, den originären Schreibakt des Autors oder der Autorin nachzuvollziehen, ihn sich anzuverwandeln, ohne dabei ein vollstän‐ diges Einswerden mit dem Ausgangstext anzustreben: Ma traduction aussi doit être un poème: rythme et sens, produits l’un par l’autre. Mais attention: ce rythme sera le mien. Il ne pourra jamais tout à fait revivre le rythme de l’original, à cause de l’écart entre qui l’on est et qui l’on admire“ 19 (Bonnefoy 1998: 223). Erneut ist hier von einem Zwischenraum die Rede, einem „écart“ zwischen dem Erstrebten und dem Erreichbaren, erneut erweist sich die Übersetzung als Be‐ wegung, als Annäherung, diesmal an den Rhythmus des Ausgangstextes, den ÜbersetzerInnen nur ‚erahnen‘, um ihn dann mit eigenen Mitteln in der Ziel‐ Angela Sanmann 164 <?page no="165"?> 20 Für eine ausführliche Analyse dieses Briefes und des vorausgehenden Schreibens von Karl Dedecius vgl. Sanmann 2013: 167ff. sprache neu zu erfinden. Hier lässt sich an die Worte Paul Celans denken, der in seinem Brief an Karl Dedecius aus dem Jahr 1960 dessen Vorstellung wider‐ spricht, Übersetzen sei ein Akt des Verschmelzens - und stattdessen auf der unhintergehbaren Fremdheit, dem je individuellen „Anderssein“ des Überset‐ zers beharrt: Noch beim allerwörtlichsten Nachsprechen des Vorgegebenen - [...] es bleibt, faktisch, immer ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen; noch im scheinbar restlosen „Auf‐ gehen“ bleibt der „Aufgehende“ mit seiner - auch sprachlichen - Einmaligkeit, mit seinem Anderssein (Sanmann 2013: 388). 20 Celan spricht vom „Anderssein“, Bonnefoy seinerseits von der „relative igno‐ rance de l’autre langue“ als den aus ihrer Sicht konstitutiven Elementen des übersetzerischen Akts. Beide haben das Dichten und das Übersetzen eng zu‐ sammengedacht, die miteinander verwandten Rollen des Lyrikers, Übersetzers und Übersetzungspoetologen in sich vereint. Mit Blick auf Bonnefoy ist zudem deutlich geworden, wie vielfältig und komplex die Verbindungslinien zwischen seinen Gedichten, seinen Übersetzungen und seinen Essays sich darstellen - das Motiv der Morgendämmerung ist dafür ein repräsentatives Beispiel. Sein mo‐ saikartig angelegtes, von unterschwelligen Verweissystemen durchzogenes Werk lädt immer wieder dazu ein, das Erkenntnispotential poetischer Motive zu erfassen und über die Sprach- und Genregrenzen hinweg auszuloten. Literaturverzeichnis Benjamin, Walter. 1977 [1923]. „Die Aufgabe des Übersetzers.“ In: Ders. Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 50-62. Bonnefoy, Yves. 1969. Hier régnant désert / Herrschaft des Gestern: Wüste. Übersetzt aus dem Französischen von Friedhelm Kemp. München: Kösel. ―1990. Entretiens sur la poésie (1972-1990). Paris: Mercure de France. ―1992 [1976]. „La traduction de la poésie.“ In: Ders. Entretiens sur la poésie (1972-1990). Paris: Mercure de France, 150-156. ―1998. „Traduire les sonnets de Shakespeare.“ In: Ders. Théâtre et poésie: Shakespeare et Yeats. Paris: Mercure de France, 221-226. ―2000. La communauté des traducteurs. Strasbourg: Presses Universitaires de Strasbourg. „Entrevoir une aube“ 165 <?page no="166"?> Novalis. 2005 [1797/ 1798]. Vermischte Bemerkungen/ Blüthenstaub. In: Hans-Joachim Mähl (Hg.). Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich Hardenbergs. Band 2. 2. Auflage. Mün‐ chen: Hanser. Roesler, Stéphanie. 2006. „Au-delà des figures, les êtres: Shakespeare et Yeats traduits par Yves Bonnefoy.“ TTR: traduction, terminologie, rédaction 19/ 1, 97-121. Online verfüg‐ bar unter: id.erudit.org/ iderudit/ 016661ar [21.7.2017]. ―2009. Yves Bonnefoy et Hamlet. Online verfügbar unter: http: / / digitool.library.mcgill.ca/ webclient/ StreamGate? folder_id=0&dvs=1521109237745~295 [21.7.2017]. —2016. Yves Bonnefoy et „Hamlet“: Histoire d’une retraduction. Paris: Classiques Garnier. Sanmann, Angela. 2013. Poetische Interaktion. Französisch-deutsche Lyrikübersetzung bei Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig, Volker Braun. Berlin / New York: de Gruyter. Vischer, Mathilde. 2009. La traduction, du style vers la poétique: Philippe Jaccottet et Fabio Pusterla en dialogue. Paris: Kimé. Zach, Matthias. 2011. Traduction littéraire et création poétique. Yves Bonnefoy et Paul Celan traduisent Shakespeare. Tours: Presses Universitaires François-Rabelais. Angela Sanmann 166 <?page no="167"?> 1 Vgl. z.B. Dessons et al. (2005) 2 Allerdings entsteht zur Zeit eine deutsche Übersetzung von Éthique et poétique du tra‐ duire, die 2018 erscheinen soll. Übersetzerin ist Béatrice Costa, Université de Mons (Belgien). „La pratique, c’est la théorie“ / „La théorie, c’est la pratique“ Henri Meschonnics Poetik des Rhythmus Vera Viehöver „Il est donc clair qu’écrire suppose de repenser toute la théorie du langage. Et que traduire est la pratique qui, plus que tout autre, la met en jeu.“ Henri Meschonnic (Éthique et politique du traduire) Der französische Sprachtheoretiker, Übersetzer und Dichter Henri Meschonnic (1932-2009), der in Frankreich von manchen zu den großen intellektuellen Figuren des 20. Jahrhunderts gezählt wird, 1 ist im deutschen Sprachraum immer noch weitgehend unbekannt. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Zum ersten ist bis heute keines seiner maßgeblichen Werke ins Deutsche übersetzt worden, 2 zum anderen hat Meschonnic sein Sprachdenken in kritischer Ab‐ grenzung von gerade denjenigen Vertretern der French Theory entwickelt, die in Deutschland über lange Zeit hinweg die geisteswissenschaftlichen Debatten dominiert haben, also gewissermaßen gegen Lévi-Strauss, Jakobson, Barthes, Genette, Foucault, Deleuze, Lacan, Kristeva und Derrida. Der Romanist Jürgen Trabant, dessen persönlicher Freund Meschonnic war, erklärt das weitgehende Fehlen einer deutschen Meschonnic-Rezeption mit der unterschiedlichen Be‐ deutung, die der sogenannte ,Strukturalismus‘ (und damit auch die Struktura‐ lismuskritik) in Deutschland und Frankreich hatte: „Es gab hier [in Deutschland] kein vergleichbares ,strukturalistisches Klima‘, so daß die ja durchaus recht <?page no="168"?> 3 Siehe u.a. Meschonnic (1970a: 177) zahlreichen entsprechenden Bemühungen auch nicht in demselben Maße dis‐ kutiert wurden wie in Frankreich.“ (Trabant 1989/ 90: 198). Insbesondere die mächtige Germanistik habe den Blick eher nach Amerika denn nach Frankreich gerichtet oder sich der deutschen Alternative zum „Immanentismus“ der fünf‐ ziger Jahre zugewandt: der Rezeptionsästhetik. So sei der Strukturalismus in Deutschland „schon vom Tisch [gewesen], bevor er auf denselben kam“ (Trabant 1989/ 90: 199). Für Meschonnic war diese Entwicklung insofern von (negativer) Bedeutung, als er sein Denken seit den siebziger Jahren in beständiger Ausein‐ andersetzung mit den in Frankreich jeweils gerade diskutierten literatur-, sprach- und zeichentheoretischen Ansätzen entwickelte. Vielleicht könnte man sagen, dass sein Werk generell aus Antworten auf oder Widersprüchen gegen zuvor Geschriebenes besteht: Meschonnic, der ein geradezu manischer Leser war, formte seine Gedanken grundsätzlich an den Gedanken anderer. Anders formuliert: Keines seiner Werke ist der erste Aufschlag in einem Spiel, es hat immer schon begonnen, wenn Meschonnic das Feld betritt. Insofern ist sein Schreiben grundsätzlich ein re-agierendes, welches das Schreiben Anderer immer schon voraussetzt; es formiert sich im Modus des Kritisierens und Kom‐ mentierens, ja man könnte sagen: es ist kritischer Kommentar. Eine solche Form der lecture-écriture  3 , eines Konzepts von Lesen, das die Unterscheidung von Re‐ zeption und Produktion infrage stellt, verweigert sich den seit der Geniezeit gerade in Deutschland tief verwurzelten Vorstellungen vom Autor als einem Urheber und vom Werk als einem Ursprung. In Frankreich wurde Meschonnic zu Beginn der siebziger Jahre bekannt, und es ist bezeichnend für seine Konzeption des Zusammenhangs von Theorie und Praxis, dass er innerhalb von fünf Jahren seit 1970 auf drei verschiedenen Ge‐ bieten gleichzeitig in Erscheinung trat: In diesem Zeitraum erschienen die ersten drei Bände von Pour la poétique (1970b, 1973a, 1973c) mit denen er erstmals in die sprach- und literaturtheoretischen Debatten eingriff, außerdem die ersten Übersetzungen aus dem Tanach (Les Cinq Rouleaux, 1970a) sowie der Gedicht‐ band Dédicaces proverbes (1972) der schon im gleichen Jahr mit dem Prix Max Jacob ausgezeichnet wurde. Man könnte also sagen, dass Meschonnic zugleich als Theoretiker und Praktiker die Bühne betrat, und dies nicht nur bezogen auf Sprache und Übersetzung, sondern auch auf Literatur bzw. Dichtung. Me‐ schonnic betrachtet nämlich ganz selbstverständlich auch seine Gedichte als Teil seines theoretischen Werks, wie er umgekehrt seine theoretischen Schriften als Fortsetzung oder Komplemente seiner Gedichte begreift. Nicht zuletzt stellt er, wie erwähnt, die Trennung zwischen Produktion und Rezeption infrage, denn Vera Viehöver 168 <?page no="169"?> 4 „Die Theorie kann nur aus einer Praxis hervorgehen. Die Vorschläge, die ich hier ma‐ chen möchte, […] sind Bruchstücke eines Ganzen, das notwendig unabgeschlossen bleibt. Theorie, Lektüre, Übersetzungen und Gedichte sind als eine einzige Praxis und Theorie des Schreibens anzusehen, nicht als eine Kunst, sondern als eine Sprache [langage i. S. von Sprachaktivität], die eine Praxis des Kontinuierlichen auf ein Denken des Kontinuierlichen hin ausspannt.“ Diese und alle nachfolgenden Übersetzungen stammen, soweit nicht anders gekennzeichnet, von der Verfasserin. auch Lesen - im Sinne der lecture-écriture - ist für ihn Praxis und Theorie zu‐ gleich (vgl. dazu Viehöver 2015). Von dieser geradezu frühromantisch anmu‐ tenden Auffassung der Untrennbarkeit von Dichtung und Kritik, Übersetzung und Übersetzungsreflexion, also von Praxis und Theorie, zeugt bereits das Motto, das programmatisch dem ersten Band von Pour la poétique vorangestellt ist: La théorie ne peut être issue que d’une pratique. Les propositions tentées ici […] sont les fragments d’un tout qui ne peut qu’être inachevé. Théorie, lecture, traductions et poèmes se veulent une seule pratique et théorie de l’écriture, non un art, mais un langage qui tende une pratique du continu vers une pensée du continu. 4 (Meschonnic 1970a: o.S.) Diesem Credo entsprechend, beginnt das Buch Les Cinq Rouleaux (1970a), eine Übersetzung und somit das Resultat praktischer Arbeit, mit dem theoretischen Text Pour une poétique de la traduction. Dieser programmatische ‚Theoriebeitrag‘ hat jedoch in Meschonnics eigenem Verständnis nicht etwa den Status eines Paratextes zum ‚eigentlichen‘ Werk, er ist vielmehr Teil dieses Werkes. Dies wird auch darin deutlich, dass Meschonnic auf dem Titelblatt nicht als Übersetzer, sondern als Autor des gesamten Buches firmiert. Pour une poétique de la traduction enthält in nuce bereits die Kerngedanken seines übersetzungstheoretischen Hauptwerks Poétique du traduire, die ich weiter unten näher erläutern werde: die Neukonzeption des Zusammenhangs von Sinn und Rhythmus sowie die Kritik an einer Linguistik bzw. semiotisch fundierten Übersetzungswissenschaft, die sich zu ihrem großen Schaden von der Poetik abgekoppelt habe. Wollte man Meschonnics Beitrag zur Frage nach dem Zusammenhang von Theorie und Praxis auf den kleinsten Nenner bringen, so könnte man sagen, dass das Denken des Kontinuierlichen (la pensée du con‐ tinu), das für ihn einer Überwindung des Zeichendenkens (Meschonnic spricht in seinen Schriften vom „régime du signe“ oder einfach vom „signe“ im Sinne eines auf dem Dualismus des Zeichenmodells aufbauenden Denkgebäudes) gleichkommt, im Begriff der Poetik kondensiert: Poétique, definiert als „étude de la littérarité“ (Meschonnic 1970a: 174), ist für ihn immer schon Theorie und „La pratique, c’est la théorie“ / „La théorie, c’est la pratique“ 169 <?page no="170"?> Praxis zugleich, und zwar nicht nur des Schreibens und Übersetzens - insofern letzteres für Meschonnic écriture sein muss -, sondern zugleich auch des Lesens im Sinne der lecture-écriture. In seinem 1999 erschienenen Hauptwerk zur Poetik des Übersetzens, Poétique du traduire, spiegelt sich diese für Meschonnics Denken zentrale Auffassung der Untrennbarkeit von Theorie und Praxis (nicht nur) beim Übersetzen in der Wahl der Überschriften für die beiden Hauptkapitel: „1. La pratique, c’est la théorie“, und „2. La théorie, c’est la pratique“. Poetisches Schreiben (écriture), kritisch-kommentierendes Lesen (lecture-écriture) und Übersetzen (traduire écrire) sind aus Meschonnics Sicht unterschiedliche Er‐ scheinungsformen eines Selben, nämlich dessen, was er Sprachaktivität (activité du langage) nennt. Um deutlich zu machen, auf welchen Grundannahmen Meschonnics In-Eins-Denken von Theorie und Praxis beruht, ist es unumgänglich, die von ihm in kritischer Auseinandersetzung mit der Semiotik und insbesondere mit dem literaturtheoretischen Strukturalismus der sechziger und siebziger Jahre entwickelte poétique du rythme, in der sein Verständnis der Einheit von Theorie und Praxis des Übersetzens seinen Ursprung hat, zumindest in Grundzügen darzustellen. 1. Grundzüge von Meschonnics Poétique du rythme Bereits in den frühen Schriften zur Poetik, die, wie erwähnt, parallel zu seinen ersten Bibelübersetzungen und Dichtungen entstanden, erst recht aber in den häufig voluminösen theoretischen Werken der achtziger und neunziger Jahre - genannt seien hier nur Critique du rythme (1982), Politique du rythme, politique du sujet (1995) und Poétique du traduire (1999) - nimmt der Begriff des Rhythmus’ einen prominenten Platz ein. Beim Übersetzen der hebräischen Bibel nach dem sogenannten masoretischen Text war Meschonnic aufgefallen, dass keine der bereits vorliegenden französischen Übersetzungen das te’amim, jenes komplexe System von Akzenten mitübertragen hatte, die mit Blick auf die Kantillation im Gottesdienst Hinweise zu Betonung und Atempausen, aber auch zur syntakti‐ schen Logik der Texte geben. Nun sei aber das te’amim für die Texte des Tanach keineswegs ein kontingenter Zusatz zum Text, vielmehr konstituiere sich in diesem System von achtzehn disjunktiven und neun konjunktiven Akzenten des Hebräischen allererst der Sinn der biblischen Texte. Folglich müsse eine Über‐ setzung, die lediglich an der lexikalischen Bedeutung der Wörter als Zeichen orientiert sei, den Sinn der biblischen Texte notwendig verfehlen. Nur eine Übersetzung, die vom Rhythmus ausgehe, also von dem, was das Zeichenmodell gerade nicht zu erfassen vermag, könne dem Sinn des Gedichts (poème) gerecht Vera Viehöver 170 <?page no="171"?> 5 Den Begriff poème - Gedicht - verwendet Meschonnic gattungsunabhängig für jeden poetischen Text. Insofern ist auch eine Übersetzung, insoweit sie poetische écriture ist, ein Gedicht. 6 „Es ist mir darum gegangen [….], die Akzente und Pausen wiederzugeben, deren kom‐ plexer Hierarchie der biblische Vers seine Modulationen und manchmal sogar seinen Sinn verdankt. Der Rhythmus ist der tiefe Sinn eines Textes.“ (Übersetzt aus dem Fran‐ zösischen von Hans Lösener; Lösener 1999: 23) 7 Sowohl Jürgen Trabant als auch Hans Lösener übersetzen den Meschonnic’schen Ter‐ minus discours mit dem im Deutschen häufig auf mündliche Äußerungen bezogenen Begriff ,Rede‘. Es muss daher betont werden, dass der Begriff innerhalb von Meschon‐ nics Theorie sowohl schriftliche als auch mündliche Erscheinungsformen von Sprache meint. ,Rede‘ kann ebenso ein mündlicher Ausruf wie ein Drama, ein Gedicht oder ein Roman sein. 8 „Ich definiere den Rhythmus in der Sprache als die Gestaltung von Merkmalen, durch die die Signifikanten, seien diese sprachlich oder (vor allem bei mündlicher Kommu‐ nikation) außersprachlich, eine spezifische Semantik hervorbringen, welche sich von der lexikalischen Bedeutung unterscheidet, und die ich die Bedeutungsweise nenne; damit sind diejenigen Werte gemeint, die einer und nur dieser einen Rede angehören. […] Der Rhythmus, der sowohl die Bedeutungsweise als auch die Bedeutung der Rede gestaltet, ist selbst die Gestaltung des Sinns in der Rede. Und da der Sinn die Aktivität des Äußerungssubjektes bildet, ist der Rhythmus die Gestaltung des Subjekts als Rede in und durch seine Rede.“ (Übersetzt aus dem Französischen von Hans Lösener; Lösener 1999: 29) werden, als das Meschonnic, die Unterscheidung von Lyrik und Prosa hinter sich lassend, 5 die jüdische Bibel betrachtet: „J’ai voulu rendre […] les accents et les pauses dont la hiérarchie complexe fait la modulation du verset biblique, son rythme et parfois même son sens. Le rythme est le sens profond d’un texte.“ 6 (Meschonnic 1970: 15) Mit Rhythmus ist hier also keine formale Qualität von Texten gemeint, ebenso wenig ist der Sinn mit dem signifié als der Inhaltsseite des Sprachzeichens zu verwechseln. Vielmehr produziert für Meschonnic der Rhythmus die je spezifische Bedeutungsweise (signifiance) der Rede 7 (discours) eines Subjekts. In seinem 1982 erschienenen Hauptwerk Critique du rythme schlägt Meschonnic deshalb folgende Definition vor: Je définis le rythme dans le langage comme l’organisation des marques par lesquelles les signifiants, linguistiques et extralinguistiques (dans le cas de la communication orale surtout) produisent une sémantique spécifique, distincte du sens lexical, et que j’appelle la signifiance: c’ést-à-dire les valeurs, propre à un discours et à un seul. […] Organisant ensemble la signifiance et la signification du discours, le rythme est l’or‐ ganisation même du sens dans le discours. Et le sens étant l’activité du sujet de l’énon‐ ciation, le rythme est l’organisation du sujet comme discours dans et par son dis‐ cours. 8 (Meschonnic 1982, 216f.). „La pratique, c’est la théorie“ / „La théorie, c’est la pratique“ 171 <?page no="172"?> 9 Zwei Übersetzungen ins Englische sind im Meschonnic-Blog von Serge Martin verlinkt, siehe Meschonnic 2011 (http: / / meschonnic.blogspot.de/ 2011/ 02/ le-manifeste-pour-unparti-du-rythme-en.html [9.9.2017]). Serge Martin stellt außerdem eine internationale Forschungsplattform bereit (http: / / mescho.hypotheses.org [9.9.2017]). 10 Bis heute liegen weite Teile von Benvenistes Werk nicht in deutscher Übersetzung vor. Der Rhythmus ist es, in dem sich für Meschonnic Sprache (langage) als spezifi‐ sche „Sinn-Form“ (forme-sens) artikuliert, die einem Text - und immer nur diesem einen - eigen ist, weil das Subjekt der Rede sich durch seine je spezifi‐ sche, gestaltende Sprachaktivität allererst selbst hervorbringt. In seinem Mani‐ feste pour un parti du rythme (2001), einem halb ironisch, halb ernst gemeinten Pamphlet, definiert er den Rhythmus deshalb auch als eine „Subjekt-Form“: „[…] le rythme est une forme-sujet. La forme-sujet.“ 9 Hans Lösener hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Begriffe wie discours (Rede), signifiance (Bedeutungsweise), activité du sujet (Tätigkeit des Subjekts), sujet de l’énonciation (Äußerungssubjekt) und valeur (Wert) - „auf die sprach‐ theoretische Kontinuität hin[weisen], in der Meschonnics Rhythmustheorie steht“ (Lösener 1999: 29). Meschonnic bezieht sich auf Émile Benveniste und Wilhelm von Humboldt, aber auch, vor allem mit den Begriffen système (System) und valeur (Wert), auf die originalen Vorlesungsmitschriften des Cours de lin‐ guistique générale Ferdinand de Saussures, den er gegen die Vereinnahmung durch den Strukturalismus vehement verteidigt. Während allerdings Saussure mit valeur den Stellenwert eines Zeichens im System einer Einzelsprache meint, bezieht Meschonnic den Begriff auf das Wertesystem einer poetischen Rede (discours): Nicht nur einzelne Wörter, sondern jedes Element kann in der Rede einen eigenen semantischen Wert erhalten, was für alle Formen der Rede und in charakteristischer Weise für die Dichtung gilt. […] Noch die allerbanalsten Wörter können durch die Rede einen besonderen Wert erhalten. (Lösener 1999: 36) Das Sprachdenken Benvenistes, der übrigens mit seinem Nach-Denker das Schicksal teilt, in Deutschland kaum rezipiert zu werden, 10 hat auf Meschonnic in mehrfacher Hinsicht inspirierend gewirkt. Zunächst war es ein viel disku‐ tierter Beitrag zur Etymologie des griechischen Begriffs ρυθμός, der Meschonnic beeindruckte. Benveniste wirft darin den Geisteswissenschaften vor, jahrhun‐ dertelang kritiklos die platonische Auslegung des Begriffs, die ρυθμός mit re‐ gelmäßigem Wechsel oder Takt gleichsetzt, übernommen zu haben, während vorsokratische Texte, die den Begriff in anderer Bedeutung verwendet hätten, ignoriert worden seien. Benveniste bringt eine Vielzahl von Belegen dafür, dass der Begriff ρυθμός bei den Vorsokratikern, etwa bei Demokrit, gerade nicht mit Vera Viehöver 172 <?page no="173"?> 11 „Der Mensch, den wir in der Welt antreffen, ist ein sprechender Mensch, ein Mensch, der zu einem anderen Menschen spricht, ja es ist die Sprache, die den Menschen über‐ haupt erst definiert.“ dem Wechsel der Gezeiten oder irgendeiner anderen regelmäßigen Bewegungs‐ abfolge assoziiert war, sondern verwendet wurde, um die charakteristische An‐ ordnung der Teile in einem Ganzen („l’arrangement caractéristique des parties dans un tout“; Benveniste 2012a: 330) zu bezeichnen bzw., noch allgemeiner, eine distinktive Form, eine proportionierte Figur, eine Anordnung („forme distinc‐ tive; figure proportionnée; disposition“; ebd.). Mit Hans Lösener lässt sich die zentrale Erkenntnis Benvenistes, an die Meschonnic mit seiner Rhythmus- Definition anknüpft, so zusammenfassen: Aufgrund seiner Entdeckung der vorplatonischen Bedeutung des Begriffes Rhythmus als vorübergehender Gestalt und veränderlicher Form, als besonderer Anordnung des Fließenden, kann der Rhythmus als ein durch und durch sprachliches und damit se‐ mantisches Phänomen aufgefaßt werden. Dadurch enthält die Rhythmustheorie eine völlig neue Ausrichtung. Denn bis dahin ermöglichte die platonische Reduzierung des Rhythmus auf das Metrum nur Rhythmuskonzeptionen, in denen Rhythmus und Sprache getrennt blieben, da er lediglich als abstraktes numerisches Schema, als auf die Sprache projizierte Form gedacht werden konnte. Erst in dem Augenblick, wo man den Rhythmus als veränderliche, vorübergehende Anordnung auffaßt, kann er zu einem sprachlichen Phänomen werden und in Korrelation zur Rede und zum Sinn treten. (Lösener 1999: 17) Doch Meschonnic verdankt Benveniste über den Aufsatz zur Etymologie des Begriffs Rhythmus hinaus noch weitere Impulse. Wegweisend wird für ihn die Lektüre von Benvenistes sprachtheoretischem Hauptwerk Problèmes de linguis‐ tique générale und des darin enthaltenen Kapitels „De la subjectivité dans le langage“, in dem Benveniste fragt, aufgrund welcher Eigenschaften Sprache überhaupt Kommunikation zwischen Menschen ermögliche. Der gängige Ver‐ gleich der Sprache mit einem Instrument sei insofern irrig, so argumentiert Benveniste, als diese Vorstellung eine Gegenüberstellung von Mensch und Natur impliziere. Alle von ihm verwendeten Instrumente nämlich finde der Mensch in der Natur vor oder erfinde sie, so dass sie grundsätzlich von ihm getrennt seien; die Sprache hingegen sei nicht vom Menschen getrennt. Vielmehr sei der Mensch immer schon im Besitz der Sprache gewesen, er sei von Anbeginn an „sprechender Mensch“: „C’est un homme parlant que nous trouvons dans le monde, un homme parlant à un autre homme, et le langage enseigne la définition même de l’homme.“ (Benveniste 2012b: 259) 11 Nach Benveniste verleitet also die inadäquate Instrument-Analogie zu einem falschen Sprachmodell, nämlich der „La pratique, c’est la théorie“ / „La théorie, c’est la pratique“ 173 <?page no="174"?> 12 „In der Sprache und durch die Sprache konstituiert der Mensch sich als Subjekt, denn in Wirklichkeit […] begründet allein die Sprache das Konzept des ‚ego‘.“ 13 „,Ego‘ ist, wer ,ego‘ sagt.“ 14 „Benveniste weiterdenken. Der Rhythmus in der Rede wird ein Machen des Subjekts. Während das traditionelle Sprachdenken das Subjekt nur als eine subjektive Illusion betrachtete. Das Rhythmus-Subjekt der Rede ist in Merkmalen gegenwärtig, die die Rede gestalten. Das Subjekt ist gerade die Integration dieser Merkmale.“ (Unterstrei‐ chung VV) Vorstellung einer grundsätzlichen Unverbundenheit von Mensch und Sprache; in Wirklichkeit liege die Sprache jedoch nie getrennt vom Menschen vor, son‐ dern immer nur als an den „sprechenden Menschen“ gebundene Rede. In seiner Poétique du traduire (Meschonnic 1999: 427-492) betont Meschonnic, dass das Modell der Sprache als gebundene Rede nicht nur von Benveniste, sondern auch von Wilhelm von Humboldt bereits 1829 vorgedacht wurde, und zitiert einige berühmte Formulierungen aus dessen Kavi-Werk: „Die Sprache liegt nur in der verbundenen Rede, Grammatik und Wörterbuch sind kaum ihrem todten Ge‐ rippe vergleichbar“ (Humboldt 2002: 186) und: „Sie selbst [die Sprache] ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia)“ (Humboldt 2002: 418). In‐ nerhalb seiner eigenen Poetik fasst er die Vorstellung der Gebundenheit der Sprache in der historisch je einmaligen menschlichen Sprachtätigkeit im Begriff des Kontinuierlichen (continu). Noch ein weiterer Gedanke Benvenistes ist für Meschonnics Poetik von großer Bedeutung. Laut Benveniste verdankt der Mensch der Sprache überhaupt erst die Möglichkeit, sich als Subjekt zu setzen: „C’est dans et par le langage que l’homme se constitue comme sujet; parce que le langage seul fonde en réalité […] le concept d’,ego‘.“ 12 (Benveniste 2012a: 259) Da das Subjekt sich in der Sprache und durch die Sprache konstituiere, ist Subjektivität für Benveniste nicht außersprachlich denkbar, sie ist vielmehr ein Emergenzphänomen der Sprache: „Est ,ego‘ qui dit ,ego‘.“ 13 (Benveniste 2012a: 260) Meschonnic knüpft insofern an diese Erkenntnis Benvenistes an, als er selbst den Rhythmus als eine Tätigkeit eines Subjekts definiert, das in der poetischen Rede emergiert: Prolonger Benveniste. Le rythme dans le discours devient un faire du sujet. Au lieu que la langue ne concevait le sujet que comme une illusion subjective. Le sujet-rythme du discours est présent dans toutes les marques qui organisent le discours. Le sujet est l’intégration même de ses marques […]. 14 (Meschonnic 1985: 84; Unterstreichung VV) Aus dieser Konzeption des Subjekts, das sich in der und durch die Rede (dis‐ cours) allererst konstituiert, das also weder mit dem empirischen Autor-Subjekt Vera Viehöver 174 <?page no="175"?> 15 „Streben nach einem Subjekt, das sich durch seine [Sprach-]Aktivität als Subjekt zu konstituieren bemüht, jedoch durch eine Art von Aktivität, die darauf ausgerichtet ist, dass derjenige Subjekt ist, durch den ein Anderer Subjekt ist. In diesem Sinne ist dieses Subjekt, insofern es Sprachwesen ist, immer zugleich ethisch und politisch.“ 16 Vgl. Benveniste 1974: 66. 17 „Die semantische Ordnung entspricht der Welt der Äußerung und dem Universum der Rede.“ 18 „In Wirklichkeit ist die Welt des Zeichens geschlossen. Vom Zeichen zum Satz gibt es keinen Übergang, weder durch syntagmatische Zergliederung noch sonst irgendwie. Sie [die Welt des Zeichens und die Welt der Äußerung (énonciation)] sind durch einen Hiatus voneinander getrennt.“ noch mit dem linguistischen Äußerungssubjekt im Sinne des Benveniste zu‐ sammenfällt, leitet Meschonnic letztlich auch den Zusammenhang von Poetik und Ethik her. Ethik definiert er als „recherche d’un sujet qui s’efforce de se constituer comme sujet par son activité, mais une activité telle qu’est sujet par qui un autre est sujet. Et en ce sens, comme être de langage, ce sujet est insé‐ parablement éthique et poétique.“ 15 (Meschonnic 2007: 8) Auch hinsichtlich der für seine Poetik zentralen Kritik am Zeichendenken findet Meschonnic in Benveniste einen Vordenker. In kritischer Wendung gegen Saussures Zeichenmodell hatte Benveniste für die Unterscheidung zwischen semiotischer und semantischer Bedeutungsweise (signifiance) plädiert. 16 Wäh‐ rend die semiotische signifiance sich bei Benveniste auf die Sprache als Zei‐ chensystem (langue) bezieht, also Bedeutung als Denotation von Zeichen kon‐ zeptualisiert, bezieht sich die semantische signifiance auf die Sprache als Rede (discours): „L’ordre sémantique s’identifie au monde de l’énonciation et à l’uni‐ vers du discours.“ (Benveniste 1974: 64). 17 Eine rein semiotische Sprachtheorie sei unzureichend, da sie nicht zu erklären vermöge, wie man von der langue als Zeichensystem zur Sprachaktivität des „homme parlant“ gelange: „En réalité le monde du signe est clos. Du signe à la phrase il n’y a pas transition, ni par syntagmation ni autrement. Un hiatus les sépare.“ 18 (Benveniste 1974: 65) Auf diese von Benveniste beschriebene unüberbrückbare Kluft zwischen der Welt des Zeichens und der Welt der menschlichen Sprachaktivität referiert Me‐ schonnic mit dem Begriff des discontinu. Sein gesamtes Werk kann man als einen einzigen vehementen Einspruch gegen die Einseitigkeit des semiotischen Sprachmodells sehen oder umgekehrt als Plädoyer für ein anderes Modell von Sprache, das dem Kontinuierlichen der menschlichen Rede (wohlgemerkt so‐ wohl in ihrer mündlichen wie auch in ihrer schriftlichen Erscheinungsform) Rechnung trage. In einem der wenigen ins Deutsche übersetzten Beiträge aus Meschonnics Feder heißt es: „Es geht darum, dem Kontinuierlichen nach seinem „La pratique, c’est la théorie“ / „La théorie, c’est la pratique“ 175 <?page no="176"?> 19 „All das gehört zum Zeichendenken. Ich habe es schon einmal gesagt, man kann es jedoch nicht oft genug wiederholen. Weil das Zeichendenken an der Macht ist.“ Gemeint ist: ohne dass wir uns seiner Herrschaft überhaupt noch bewusst sind. langanhaltenden Verschwinden in der Dunkelheit eine theoretische Existenz zu geben, die seiner empirischen Existenz entspricht.“ (Meschonnic 2010: 613) Der unter Einsatz aller Mittel der Polemik geführte Kampf gegen das régime du signe betrifft aus Meschonnics Sicht keineswegs nur Fragen der Linguistik, Literatur und Übersetzung, er ist vielmehr von größter Tragweite für Ethik, Politik und Gesellschaft. Meschonnic unterscheidet sechs Paradigmen des Zei‐ chens, von denen der Dualismus von signifiant und signifié (das linguistische Paradigma) nur der am deutlichsten sichtbare ist. Darüber hinaus gibt es für ihn jedoch auch das philosophische Paradigma, das einen Dualismus von Wörtern und Dingen konstruiert; das anthropologische Paradigma, das die lebendige Stimme den toten Buchstaben der Schrift gegenüberstellt; das theologische Pa‐ radigma, welches das Alte Testament zum signifiant des Neuen Testamentes als dessen signifié macht; das soziale Paradigma, das auf der Opposition von Indi‐ viduum und Gesellschaft beruht; sowie das politische Paradigma, das auf dem Gegensatz von Minderheit und Mehrheit basiert (vgl. Meschonnic 2007: 18f.). Meschonnics gesamtes Werk, das poetische wie das diskursive, kann als Arbeit gegen die Übermacht des Zeichenmodells im abendländischen Denken be‐ trachtet werden, die sich umso unheilvoller auswirke, als diejenigen, die darin lebten, also wir alle, es für naturgegeben hielten: „C’est tout cela, le signe. Je l’ai déjà dit mais on ne le redit jamais assez. Puisqu’il règne.“ 19 (Meschonnic 2007: 19) 2. „Traduire Celan“ - Der Übersetzungskritiker Meschonnic zwischen Theorie und Praxis Das von Meschonnic propagierte ,andere‘ Sprachdenken, die pensée du continu, hat nun ganz konkrete Auswirkungen auf die Praxis des Übersetzens. Für Me‐ schonnic besteht die Aufgabe des Übersetzers darin, nicht semiotisch, also „de langue à langue“ (Meschonnic 1999: 18), sprich: von Zeichensystem zu Zeichen‐ system, sondern semantisch, nämlich „de texte à texte“ (ebd.), d.h. - ausgehend von Meschonnics Definition des literarisches Textes als discours oder écriture - von Wertesystem zu Wertesystem, zu übersetzen. Der Übersetzer muss sich dazu aus der binären Logik von Zeichen und Bedeutung, Form und Inhalt, d.h. von der Vorstellung, Übersetzen sei eine hermeneutische Tätigkeit, lösen: „On ne peut pas en sortir si on reste dans l’herméneutique. C’est le combat du poème Vera Viehöver 176 <?page no="177"?> 20 „Man kann sich nicht aus dem Zeichendenken lösen, wenn man der Hermeneutik ver‐ haftet bleibt. Darum geht es im Kampf des Gedichts gegen das Zeichen, des Kontinu‐ ierlichen gegen das Diskontinuierliche.“ 21 „Schreiben Übersetzen im poetischen Sinne müssen sich als zwei miteinander verbun‐ dene und doch verschiedene Erfahrungen einer écriture [eines Textes] ereignen.“ Das Pseudo-Verbalkompositum am Satzanfang sowie die störend wirkende Pluralform des Verbs sind im französischen Original absichtlich gesetzt. 22 „Um welche Sprachen es auch immer geht, es gibt nur eine source [langue source und langue cible sind in der französischen Übersetzungswissenschaft übliche Begriffe für Ausgangssprache und Zielsprache], und die besteht darin, was der Text macht; es gibt nur eine cible: in der anderen Sprache zu machen, was der [zu übersetzende] Text macht.“ (Unterstreichung VV) 23 Weitere an Meschonnics Rhythmustheorie anknüpfende Lektüren von literarischen „Textsystemen“ hat Hans Lösener in seiner Habilitationsschrift Zwischen Wort und Wort vorgelegt (vgl. Lösener 2006). contre le signe, du continu contre le discontinu.“ 20 (Meschonnic 2007: 15) Der Übersetzer muss demnach das je spezifische Wertesystem einer poetischen Rede in den Blick nehmen und mithin die Subjektivität, die sich in dieser Rede kon‐ stituiert. Erst so kann die Übersetzung zu einer zweiten „Erfahrung“ dieser po‐ etischen Rede werden: „Écrire traduire, poétiquement, doivent pourtant se pro‐ duire comme les deux expériences, liées, différentes, d’une même écriture.“ 21 (Meschonnic 1973: 388) Diese Sicht auf das Übersetzen impliziert für Me‐ schonnic nicht zuletzt auch eine Revision der Begriffe source und cible: „Quelles que soient les langues, il n’y a qu’une source, c’est que fait un texte; il n’y a qu’une cible, faire dans l’autre langue ce qu’il fait.“ 22 (Meschonnic 1999: 27; Un‐ terstreichung VV) Auf ihre knappste Formel gebracht lautet die Parole: „traduire le rythme! “ Praktisch bedeutet dies, dass der Übersetzer den Rhythmus (im Sinne Meschonnics, nicht im Sinne einer Formeigenschaft des Textes), also das Wer‐ tesystem des Textes, aufs Genaueste analysieren muss, bevor er überhaupt mit dem Übersetzen beginnen kann. Welche Elemente zum Wertesystem eines Ge‐ dichts (poème im gattungsübergreifenden Sinne) gehören, hat Meschonnic in seiner Poétique du traduire an verschiedenen Beispielen gezeigt, u.a. an Kafkas Erzählung Eine kleine Frau (Meschonnic 1999: 396-426) und an Gedichten Georg Trakls (Meschonnic 1999: 383-395). 23 Meschonnic hat bis zu seinem Tod übersetzt, seine letzte Übersetzung eines biblischen Textes erschien ein Jahr vor seinem Tod: Dans le désert. Traduction du livre des Nombres (2008). Von der lebenslangen Arbeit an seinen Bibelüber‐ setzungen abgesehen, bestand seine Praxis allerdings eher im kritischen Kom‐ mentieren der Übersetzungen anderer denn im eigenen Übersetzen - was an‐ gesichts eines Sprachdenkens, in dem écriture, écriture-lecture und traduire écrire in einer einzigen umfassenden Poetik aufgehen, nicht allzu verwunderlich ist: „La pratique, c’est la théorie“ / „La théorie, c’est la pratique“ 177 <?page no="178"?> 24 „Und das nennt man Celan übersetzen.“ 25 Du Bouchet steht im Fokus der Kritik Meschonnics, die Mitübersetzer Jean Daive und Jean-Pierre Burgart werden weniger heftig attackiert. Übersetzungen kritisch zu kommentieren ist für Meschonnic immer zugleich ein Tun und dessen Reflexion: Sie ist lecture-écriture im oben genannten Sinne und realisiert sich als solche auch im Gegenüberstellen der kommentierten Übersetzung mit der eigenen (nur virtuell vorhandenen); sie ist aber auch ein Befragen der Übersetzung auf die ihr immanente Theorie hin, da jede Überset‐ zungsentscheidung, auch wenn dies dem Übersetzer nicht immer bewusst ist, eine Übersetzungstheorie impliziert. Das bekannteste Beispiel für Meschonnics Praxis des Kritisierens von Über‐ setzungen Dritter ist seine polemische Rezension „Et on appelle cela traduire Celan“ 24 , die aus Anlass des Erscheinens von Strette, einem Band mit Überset‐ zungen ausgewählter Celan-Gedichte, im Jahr 1972 in den Cahiers du Chemin erschien (wieder in: Meschonnic 1973b) und aufgrund ihres verletzend-aggres‐ siven Tons heftige Gegenreaktionen hervorgerufen hat. Dirk Weissmann, der in seiner Dissertation (Weissmann 2003) die frühe Celan-Rezeption detailliert nachgezeichnet und ausführlich kommentiert hat, analysiert den polemischen Angriff Meschonnics gegen den Celan-Übersetzer André du Bouchet 25 im Kon‐ text der kulturellen Kämpfe im Frankreich der siebziger Jahre: „Die Vehemenz dieser Attacke ist vor dem Hintergrund einer Renaissance und Verhärtung jü‐ discher Identität im Frankreich der frühen 1970er Jahre zu verstehen. Es geht darum, das Jüdische zum Kern der Interpretation zu machen und sich von den frühen werkimmanenten oder esoterischen Ansätzen abzusetzen.“ (Weissmann 2008: 352) Vordergründig gibt allein schon das von Celan einem Gedicht aus der Niemandsrose vorangestellte Tzwetajewa-Zitat, das Meschonnic seiner Kritik als Motto beigegeben hat, Weissmann Recht: „Tous les poètes sont des juifs.“ (Me‐ schonnic 1973b: 369) Die Beobachtung, dass die in Frankreich mit großer Heftigkeit geführten De‐ batten über die Frage, wie Celans Gedichte „richtig“ zu übersetzen seien, auch im Zusammenhang mit dem Kampf jüdischer Intellektueller gegen eine christ‐ liche Vereinnahmung und damit zugleich Ent-Historisierung von Celans Lyrik zu sehen sind, ist sicherlich nicht zu bestreiten. Allerdings wird Meschonnics Kritik an den frühen Celan-Übersetzern, wie bereits Marko Pajevic in Ausein‐ andersetzung mit Weissmanns Argumentation festgestellt hat, erst dann in vollem Umfang verständlich, wenn man sie aus seiner Theorie, besser: aus seiner sprachtheoretisch fundierten Poetik heraus zu verstehen versucht (was nicht bedeutet, ihren verletzenden Ton zu entschuldigen). Für ihn ist Meschonnic alles andere als ein Anhänger der identitären Bewegung innerhalb des französischen Vera Viehöver 178 <?page no="179"?> 26 „Wenn Meschonnic sich auf die jüdische Erfahrung bezieht, geht es ihm entweder um die Geschichtlichkeit singulärer Erfahrungen oder um eine eher hebräische denn jüdi‐ sche Tradition. Und dies alles ist Teil seiner Poetik des Rhythmus.“ 27 „Das Schweigen gehört bei Celan zur Sprache, er geht dem Tod nicht entgegen, er kommt von ihm her. Er geht zu ihm hin, weil er aus ihm zurückkommt. […] In der Sprache bewegt er sich zum Verstummen hin, weil er daran arbeitet, sich von zwi‐ schenmenschlichen Beziehungen nach dem Ich-Du-Modell zu lösen, […]. Eine solche Sprache ist verletzt, sie verteidigt sich gegen das Menschliche und geht zum Stein, zur Blume, zum Wasser […].“ Judentums: „Ce qui est en jeu lorsque Meschonnic se réfère à l’expérience juive, c’est soit l’historicité des expériences singulières, soit une tradition plutôt héb‐ raïque que judaïque. Et cela s’intègre dans sa poétique du rythme.“ 26 (Pajevic 2012: 158) Für eine angemessene Einordnung dieser geradezu militanten Über‐ setzungskritik ist es daher entscheidend zu verstehen, welcher Stellenwert dem Begriff juif in Meschonnics Poetik zukommt. Doch zunächst seien die Grundli‐ nien der Kritik in der Strette-Rezension skizziert. Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass Meschonnic in seiner legendären Re‐ zension du Bouchet und seine Mitübersetzer nicht nur kritisiert, sondern gera‐ dezu vernichtet: Diese hätten, so der zentrale Vorwurf, Celans schwieriges Werk annektiert, verunstaltet und zensiert, und zwar so, dass die Übersetzung einem Massaker und einem Verrat an Celan gleichkomme (Meschonnic 1973a: 369f.). Die Rezension ist in drei Unterkapitel gegliedert: Das erste ist einer Analyse dessen gewidmet, was man den „langage celanien“ oder den „rythme celanien“ nennen könnte, die beiden anderen enthalten detaillierte Kritiken der in Strette gesammelten Gedichtübersetzungen, vor allem derjenigen du Bouchets. Aus‐ gangspunkt der im ersten Unterkapitel präsentierten Rhythmus-Analyse sind Beobachtungen zum besonderen Status des Schweigens („statut particulier du silence“; Meschonnic 1973b: 372) in Celans poetischer Rede, denn gerade in der „Spannung zum Schweigen hin“ („tension vers le mutisme“) des Celan‘schen Gedichts wird für Meschonnic die intrinsische Beziehung zwischen Ethik und Übersetzen, die er in vielen seiner Werke, insbesondere aber in Éthique et poli‐ tique du traduire (2007) reklamiert, augenfällig. Le silence chez Celan fait partie du langage, il ne va pas vers la mort, il en vient. Il y va parce qu’il en revient. […] Dans le langage, il va vers le mutisme parce qu’il travaille à se détacher des relations interpersonnelles du je-tu, […]. Un tel langage est blessé, et se défend contre l’humain, vers la pierre, la fleur, le bois, l’eau […]. (Meschonnic 1973b: 373f.) 27 Im Folgenden bringt Meschonnic viele Beispiele für den „rythme celanien“, der eine Verbindung zwischen Schreiben, Körper und Tod (Meschonnic 1973b: 378) „La pratique, c’est la théorie“ / „La théorie, c’est la pratique“ 179 <?page no="180"?> 28 Sinngemäß: „Ausgehend von den Nominalkomposita, die er vom Surrealismus über‐ nahm, entwickelte er in einem synkopierten Nominalstil eine Sprache für die Erinne‐ rungen, für die Schreie. Seine Arbeit bestand darin, Sätze neu zu machen [i.S. des Meschonnic’schen faire] und an der Struktur des Wortes zu arbeiten. […] Immer häufiger bildete er Komposita und Ableitungen, immer öfter machte er neue Adjektive und Adverbien, […] immer intensiver arbeitete er mit Präpositionen und Präfixen. Immer häufiger schuf er neue Wörter mit dem Negationspräfix -un. Die Zerlegung von Wörtern und Namen ist in seinem Werk häufig anzutreffen, in Strette jedoch fehlt sie fast völlig.“ 29 Meschonnic hat in den späteren siebziger Jahren versucht, die Rechte für eine Gesamt‐ übersetzung der Gedichte Celans zu bekommen, die bei Gallimard erscheinen sollte. Dieses Projekt scheiterte am Widerstand der Witwe Gisèle Celan-Lestrange, die sich gegen die Übersetzung aller Gedichte durch einen einzigen Übersetzer aussprach und - wegen des aggressiven Tons der Strette-Kritik - möglicherweise auch Vorbehalte gegen Meschonnic als Person hatte. Zu den Umständen des Scheiterns dieses Überset‐ zungsprojektes vgl. Weissmann (2003: 288-293). Nach Auskunft von Serge Martin (E-mail vom 20.2.2017) existieren im Nachlass von Henri Meschonnic keine vollstän‐ digen Celan-Übersetzungen. ins Werk setze. Der Abschnitt endet mit einem Fazit, das veranschaulicht, dass für Meschonnic die „Rhythmus-Analyse“ einer Analyse des Wertesystems (im weiter oben erläuterten Sinne) gleichkommt, die Celans écriture eigen sind: A partir des composés nominaux hérités du surréalisme, dans un style nominal syn‐ copé, des souvenirs, des cris, refaire des phrases autant que travailler la structure du mot, a été son travail. […] Il a de plus en plus composé, dérivé des mots, fait des adjectifs, des adverbes […], travaillé les prépositions et les préfixes. De plus en plus crée des mots à partir du préfixe négatif [un]. La décomposition des mots ou des noms est un exercice fréquent dans son œuvre, et à peu près absent de Strette. 28 (Meschonnic 1973b: 379f.) Im letzten Abschnitt des Beitrags belegt Meschonnic anhand zahlreicher Bei‐ spiele, dass der „rythme celanien“ in Strette zum Verschwinden gebracht worden sei, und stellt den aus seiner Sicht misslungenen Übersetzungen jeweils einen eigenen Vorschlag zur Seite: 29 So habe du Bouchet den Initialvers des Gedichts Sprachgitter, „Augenrund zwischen den Stäben“, mit „Œil - le rond parmi les ferrures“ (Celan 1971: 22/ 23) übersetzt und damit das für das Metaphernsystem des Bandes Sprachgitter relevante „Gitter“ eliminiert. Meschonnics eigene Über‐ setzung lautet: „Rond des yeux entre les barreaux“ (Meschonnic 1973b: 394). Ähnlich argumentiert er im Hinblick auf die Übersetzung des Verses „Kommst du nun, schwimmendes Licht“ (Mit Buch und Uhr aus Sprachgitter) durch „Vien‐ dras-tu, mouvante lumière? “ (Celan 1971: 68/ 69): „Le réseau rigoureux de l’eau qui oppose chez Celan le langage à la mer-mort et lumière […] n’est pas respecté et l’appel à la mort et à Dieu disparaît.“ (Meschonnic 1973b: 394). Meschonnics Vera Viehöver 180 <?page no="181"?> 30 Der Zusammenhang von allem, was bei Celan mit Rissen, Schrunden und Einkerbungen zu tun hat, wird in diesem blottis [eingeschmiegt] ausgelöscht. Gegen das Netz [i.S. von Wertsystem] einer Sprache steht hier die Suche nach dem schönen Wort, selbst um den Preis der Bedeutung. Vorschlag lautet: „Viens-tu maintenant, nageante lumière? “ (ebd.) Damit res‐ pektiert er exakt die Lexik sowie auch die Wortfolge des deutschen Verses und verzichtet auf jegliche Glättung, die den französischen Vers nach konventio‐ nellen Maßstäben „poetischer“ klingen lassen würde. Auch die Übersetzung des Gedichts Chymisch aus Die Niemandsrose kritisiert Meschonnic heftig. Indem du Bouchet aus „verkohlten Händen“ „des mains brûlées“ und aus „alle[n] mit-verbrannten Namen“ „avec elles, consumés, tous les noms“ (Celan 1971: 126/ 27) gemacht habe, anstatt mit „mains carbonisées“ und „noms brûlés“ zu übersetzen, habe er die Präzision der historischen Referenzen getilgt (Me‐ schonnic 1973b: 394). In dem Gedicht Das umhergestoßene aus Atemwende sind es die Verse „Erfundene / Blicke/ Seh-/ narben/ ins Raumschiff gekerbt“, deren Übersetzung durch „Regards trouvés,/ cicatrices scrutant, dans la/ coque de l’espace blottis“ (Celan 1971: 46/ 47) Meschonnic nicht akzeptieren kann, und zwar wiederum, weil das „Sprachnetz“ der Celan’schen Gedichte (die Me‐ schonnic in ihrer Gesamtheit als ein Gedicht, eine écriture, betrachtet) nicht be‐ achtet worden sei: „Le rapport entre tout ce qui est crevasse, rayure, entaille chez Celan est effacé dans ce blottis. […] Contre le réseau d’un langage se consti‐ tue une recherche de la trouvaille au prix même de la signification […].“ 30 (Me‐ schonnic 1973a: 394) Seine Gegenübersetzung lautet: „Regards trouvés, cicatrices de la vue, entaillées dans le navire de l’espace“ (ebd.), wiederum eine lexikalisch und syntakisch eng am Original bleibende Übertragung. Der Hauptvorwurf Meschonnics gegen du Bouchet und seine Mitübersetzer ist also der, Celans Sprache den Prinzipien einer konventionellen Ästhetik ent‐ sprechend poetisiert (poétisation ist in Meschonnics Poetik der negative Gegen‐ begriff zu poésie) und damit das spezifische Wertesystem der historisch situ‐ ierten écriture Celans zum Verschwinden gebracht zu haben. Damit hätten sie dieses Werk nicht nur gemäß einer obsoleten bürgerlichen Kunstideologie (Me‐ schonnic spricht von einer „idéologie surlivresque“; Meschonnic 1973b: 384) zugerichtet, sondern ent-historisiert, ideologisiert und sich selbst entfremdet. Vernichtender kann eine Übersetzungskritik, wenn sie denn Meschonnics theoretische Prämissen anerkennt, nicht sein: Den Rhythmus eines Textes zu verfehlen bedeutet nämlich dann zu verkennen, dass der poetische Text eine forme-sujet ist, und dies wiederum kommt in Meschonnics Logik einem über‐ setzerischen Totalversagen gleich. Denn der Übersetzer hat damit nicht nur sprachlich versagt, sondern zugleich ethisch, insofern er die poetische Rede „La pratique, c’est la théorie“ / „La théorie, c’est la pratique“ 181 <?page no="182"?> 31 Vgl. Meschonnic (1995: 156). Meschonnic verwendet die Formulierung in seinem Werk mehrfach. 32 „Gegenüber einem Denken des Seins, der Essenzen und der Identitäten, das zur Exklu‐ sion führt, privilegiert die Meschonnic’sche Poetik das empirische und geschichtliche Denken, das ermöglicht, Alterität und Pluralität einzubeziehen und den binären Op‐ positionen zu entkommen, die immer einen herrschenden und einen beherrschten Pol erzeugen. Dieser Blickwinkel ist eng mit dem Judentum verbunden: Für Meschonnic liegt das Eigentümliche des Jüdischen in einer ‚Aktivität‘, im ‚Abenteuer des Geschicht‐ lichen‘, er betrachtet das Jüdische nicht als eine Identität oder ein Bekenntnis. Es geht ihm aber nicht um das Eigentümliche des Judentums, sondern um die Möglichkeit des Eigentümlichen überhaupt. Gerade das poetische Schreiben fördert aus seiner Sicht eine solche Individuierung.“ nicht als activité de langage eines Subjekts erkannt hat. Seine Un-Übersetzung ist somit das Resultat einer vollkommenen Verkennung dessen, was den Text zum Gedicht (poème) macht. Und da sie nicht dem Rhythmus, sondern dem Zei‐ chen verpflichtet sei, ist sie in Meschonnics poetologischer Logik zugleich eine ,un-jüdische‘ Übersetzung, jedoch nicht im essentialistisch-identitären Ver‐ ständnis, wie Weissmann suggeriert. Das Jüdische nämlich repräsentiert für Meschonnic, den Übersetzer des te’amim in den biblischen Texten, die Sprache als Rede und somit den Rhythmus, der diese Rede gestaltet - ja, der Rhythmus ist in einem theoretischen, nicht-essentialistischen Verständnis selbst das Jüdi‐ sche: „Le rythme est le Juif du signe“, 31 - „Der Rhythmus ist der Jude des Zei‐ chendenkens“ - lautet eine weitere der griffigen Parolen Meschonnics. Lucie Bourrassa, die seinem Gesamtwerk eine lesenswerte Einführung gewidmet hat, erklärt diesen Zusammenhang so: À une pensée de l‘être, des essences, des identités, qui mène à l’exclusion, la poétique meschonnicienne privilégie celle de l’empirique et l’historique, qui permet de prendre en compte l’altérité, la pluralité, de sortir des oppositions duelles engendrant un pôle dominant et un pôle dominé. Cette perspective est étroitement liée à celle du judaïsme: Meschonnic situe la spécificité juive „comme une activité“, une „aventure de l’histo‐ rique“, et non comme une identité, ni une confession. L’enjeu n’est pas la spécificité juive, mais la possibilité même de toute spécificité. Et l’écriture de poésie est ce qui, par excellence, favorise cette individuation. 32 (Bourassa 2015: 12) ,Un-jüdisch‘ ist eine Übersetzung demnach, wenn die sie - meist unreflektiert - leitende Theorie eine semiotische ist, ‚jüdisch‘ ist sie, wenn sie das verwirk‐ licht, was Meschonnic traduire écrire nennt. Das Tzwetajewa-Zitat „Tous les poètes sont des juifs“, das Meschonnic seiner Polemik voranstellt hat, offenbart damit seinen Sinn innerhalb des spezifischen système de valeurs (Wertesystem) von Meschonnics eigenem Schreiben: „être juif “ bedeutet Ausgeschlossen-Sein, Vera Viehöver 182 <?page no="183"?> Verdrängt-Werden, Zum-Verschwinden-gebracht-Werden. Innerhalb seiner Theorie ist nun gerade der Rhythmus das im régime du signe Unterdrückte, Ver‐ drängte, Eliminierte, insofern ist der Rhythmus juif: verdrängt vom Zeichen. Der Satz „Tous les poètes sont des juifs“ kann jedoch gerade darum auch positiv gewendet werden: Wer den Rhythmus übersetzt, schafft ein poème; er ist juif und damit wahrhaft poète. Literaturverzeichnis Benveniste, Émile. 1974. Problèmes de linguistique générale II. Paris: Gallimard. —2012a [1951]. „La notion de ,rythme‘ dans son expression linguistique.“ In: Ders. Pro‐ blèmes de linguistique générale I [1966]. Paris: Gallimard, 327-345. —2012b [1966]. Problèmes de linguistique générale, I [1966]. Paris: Gallimard. Bourassa, Lucie. 2015. Henri Meschonnic. Pour une poétique du rythme. Paris: Rhuthmos. Dessons, Gérard / Martin, Serge / Michon, Pascal (Hg.). 2005. Henri Meschonnic, la pensée et le poème. Paris: Éditions In Press. 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Weissmann, Dirk. 2008. „Internationale Celan-Rezeption, 1.2: Frankreich.“ In: Markus May / Peter Goßens / Jürgen Lehmann (Hg.). Celan-Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler, 350-354. Vera Viehöver 184 <?page no="185"?> 1 Larbauds Eltern hatten auf ihrem Grundstück die Saint-Yorre-Quelle aufgetan. Nach einem Schlaganfall im Jahr 1935 war er bis zu seinem Lebensende sprech- und bewe‐ gungsunfähig (vgl. Grenier 1995: 8f.). Von Greguerías zu Criailleries: Valery Larbaud als Förderer und Übersetzer von Ramón Gómez de la Serna Vera Elisabeth Gerling Zielsetzung Valery Larbaud (1881-1957) war Schriftsteller und Übersetzer. Ebenso hat er sich als Übersetzungstheoretiker hervorgetan, insbesondere durch seine Reflexionen zum Schreiben und Übersetzen, die 1946 unter dem Titel Sous l’invocation de Saint Jérôme in einem Band zusammengetragen wurden (Larbaud 1997). Zudem jedoch ist er ein Literaturvermittler weit über das Übersetzen hinaus, gilt er doch als früher Literaturagent, der unterschiedlichste Autoren der Moderne entdeckt und durch seinen unermüdlichen Einsatz publik gemacht hat. So war er unter den Ersten oder teils auch der Erste unter denen, die herausragende Autoren in und für Frankreich entdeckten: Saint-John Perse (Frankreich), Samuel Butler (England), Joseph Conrad (Polen), James Joyce (Irland), Walt Whitman und Wil‐ liam Faulkner (USA), Ricardo Güiraldes (Argentinien) und Ramón Gómez de la Serna (Spanien) (vgl. Grenier 1995: 8). Für zwei dieser Autoren hat er sich ganz besonders eingesetzt, auch unter Aufwendung finanzieller Mittel: James Joyce und Ramón Gómez de la Serna. Für beide trat er als Literaturagent erster Stunde, Mäzen und Übersetzer oder auch Lektor auf. Darin liegt eine der Besonderheiten im übersetzerischen En‐ gagement Valery Larbauds: Solange er intellektuell aktiv war, also bis 1935, lebte er ausgestattet mit reichlich finanziellen Mitteln. 1 Das Übersetzen und Schreiben war für ihn mithin niemals eine Beschäftigung zum Broterwerb, vielmehr besaß er die Freiheit, sich Autoren und Werken den eigenen Qualitätsmaßstäben ent‐ sprechend zu widmen, auch gegen den kanonisierten Mainstream. Darüber <?page no="186"?> hinaus konnte er noch unbekannte Autoren bzw. ihre Publikationen auch fi‐ nanziell unterstützen. Die nachfolgende Betrachtung soll nun der Frage nach‐ gehen, wie sowohl sein Einsatz für unbekannte Autoren als auch die überset‐ zungstheoretischen Reflexionen sich widerspiegeln in seinem Engagement für das Werk von Ramón Gómez de la Serna und insbesondere die sogenannten „Greguerías“. Betrachtet wird dabei zum einen die etwas unübersichtliche Edi‐ tionsgeschichte, soweit sie an das Engagement Valery Larbauds für den spani‐ schen Autor gebunden ist. Weiterhin sollen auch Übersetzungsstrategien nach‐ vollzogen werden, die in der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Valery Larbaud noch keine Beachtung gefunden haben. Die Greguería, ein von Ramón Gómez de la Serna erfundenes, schwer zu bestimmendes Genre (vgl. Durán 1988: 113), erinnert zunächst an den Apho‐ rismus, handelt es sich doch auch hier um kurze, teils nur einen Satz umfassende Gedanken. Jedoch fehlt den Greguerías das Ziel, einen allgemeinverbindlichen Blick auf die Welt zu postulieren und davon ausgehend Maximen formulieren oder eine Moral vertreten zu wollen (ebd: 115). So unterstreicht auch Hans- Martin Gauger im Nachwort zu einer von Rudolf Wittkopf übersetzten Samm‐ lung von Greguerías (Gómez de la Serna 1986), sie sei eben „kein Kondensat, sie sucht nicht Sinn oder gar Tiefsinn“ (Gauger 1986: 122). Valery Larbaud be‐ zeichnet diese Texte als Epigramme ohne Pointe oder auch als Prosa-Haikus (Larbaud 1923: XVI). Die Arbitrarität dieser Kurztexte, ihr fragmentarischer Charakter und die oft humorvoll ironische Infragestellung etablierter Ord‐ nungssysteme von Welt und Sprache situieren diese Gattung vielmehr in einer Moderne, in der symbolische und transzendente Werte ihre verlässliche Sinn‐ haftigkeit verloren haben, das Subjekt als dezentriert, ja chaotisch wahrge‐ nommen wird und der Zugriff auf die Außenwelt nur noch zufällig und assozia‐ tiv stattfindet (vgl. Cardona 1979: 15). Gómez de la Serna kreiert in seinen Greguerías kontingente Analogien zwischen sonst unvereinbaren Wahrneh‐ mungsbereichen. Syntaktische, alogische Inversionen spiegeln die moderne Desorientierung der Welt wider. Dabei ist jede Greguería ein alleinstehendes Kunstwerk, eine poetische Monade (Durán 1988: 124), sie repräsentiert die Welt, so Wittkopf, „als ästhetisches Phänomen“ (Gauger 1986: 123). Es handelt sich somit um einen poetischen Zugriff auf die Welt, der sie nicht abbilden will, sondern sie in ihrer Poetizität aufgreift. Larbaud selbst liest das Werk des Ramón Gómez de la Serna daher auch als Ausdruck einer modernen Wahrnehmung der Welt: Indem er auf Henri Bergson Bezug nimmt, nach dessen Zeitvorstellung das Fertige zu ersetzen sei durch das Werdende, sieht er Ramóns Schreiben als Akt der Befreiung des Subjekts vom „tout-fait“, des normalerweise in seiner Absolutheit nicht in Frage Stehenden. Sein individueller Blick auf die Objekte Vera Elisabeth Gerling 186 <?page no="187"?> 2 Zur Frage nach der Beziehung zwischen Leben und Text als epistemologisch betrach‐ tetes Übersetzungsphänomen siehe Gerling 2018 und vergleiche auch Borsò 2010. Wie in Valery Larbauds eigenem literarischen Werk eine ästhetische Präsenz erfahrbar wird, habe ich an anderer Stelle analysiert (Gerling 2013). 3 „Meine Übersetzung will nichts anderes sein als persönliche Interpretation. Es ist meine Übersetzung, nicht die eines anderen, die ich euch anbiete.“ Diese und die nachfol‐ genden Übersetzungen stammen von der Verfasserin. Zur Frage der Hermeneutik als zentrales Element in Larbauds übersetzungstheoretischen Reflexionen siehe Gerling 2015. erlaube es ihm, ein „crépitement de la réalité enregisté par sa sensibilité pro‐ fonde“, ein Knistern der Realität zu erzeugen, das er mit seiner tiefen Feinfüh‐ ligkeit wahrzunehmen verstehe (Larbaud 1924: 11). So lassen sie sich lesen als literarischer Ausdruck der modernen Welterfahrung. Sie erzeugen in ihrer äs‐ thetischen Verfasstheit ein Fremdwerden der Welt, das im Fremdwerden der Sprache erst seine Wirkung entfaltet als eine Art ‚Übersetzung‘ von Welterleben in Text. 2 Valery Larbauds übersetzungstheoretische Reflexionen Bereits im Jahr 1913 stellt Larbaud in seinem kleinen Aufsatz mit dem Titel „De la traduction“ (1992a) das Übersetzen als individuelle Interpretationsleistung dar: „Ma traduction ne veut être qu’interprétation personnelle. C’est ma tra‐ duction, non celle d’un autre, que je vous offre“ 3 (Larbaud 1997: 234). Dabei kann sein Ansatz jedoch nicht als Ausdruck einer klassischen Hermeneutik gelesen werden, vielmehr ist für ihn die Übersetzung eine von vielen möglichen Aus‐ drucksformen literarischer Vielstimmigkeit: Er nimmt bereits die Intertextuali‐ tätsdebatte vorweg, wenn er behauptet, er könne Lamartine nicht ohne Jammes und Vergil nicht ohne Rimbaud lesen, und so die Chronologie der Bezüge zwi‐ schen Hypo- und Hypertext umkehrt (Larbaud 1992a: 233). Eine vergleichbare Form der Enthierarchisierung findet sich ebenfalls in seiner Bewertung der Be‐ ziehung zwischen Original und Übersetzung wieder: Seiner Gedichtsammlung Poèmes par un riche amateur ist in der Erstausgabe von 1908 ein Vorwort des fiktiven Herausgebers Xavier Maxence Tournier de Zambre vorangestellt, in dem die Behauptung wiedergegeben ist, beim hier publizierten lyrischen Werk des A.O. Barnabooth handele es sich um unmarkierte Übersetzungen aus ver‐ schiedensten Sprachen, insbesondere aus dem lateinamerikanischen Spanisch. Den Protagonisten Barnabooth veranlasst dies lediglich dazu, es als eine Urin‐ analyse, „une analyse d’urine“ abzutun (Larbaud 1958: 1157). Die Idee des Plagiats steht demnach bei ihm nicht für betrügerisches Handeln gegenüber einem absolut gesetzten Original, sondern stellt eine von vielen Von Greguerías zu Criailleries 187 <?page no="188"?> 4 Zum Kosmopolitismus bei Valery Larbaud siehe Auzoux/ Charbonnier 2017. Formen der Textproduktion dar, bei der die Autorität des Originals keine abso‐ lute Größe darstellt. Ganz im Sinne des aktuell diskutierten, von Rebecca Wal‐ kowitz (2015) entworfenen Begriffs der „born translated“-Literatur, wäre dem‐ nach für Larbaud das Übersetzen eine grundlegende Eigenschaft des Schreibprozesses selbst, wie er auch polemisch in seinem Hieronymus-Buch unterstreicht, wenn er alle Schreibenden per se als Plagiatoren benennt: „pla‐ giaires que nous sommes tous, à l’origine.“ (Larbaud 1997: 69) Zum anderen zeigt sich hier das globale Verständnis für Kultur und Literatur jenseits nationaler Grenzen, wofür das Werk dieses kosmopolitischen Autors ebenfalls steht. 4 Bei Larbaud sind also Texte niemals heilige, unveränderbare Originale: Bereits die Sprache sei instabil und kontingent (vgl. Larbaud 1997: 110) und die Unverän‐ derlichkeit des gedruckten Textes eine reine Sinnestäuschung: „L’immobilité du texte imprimé est une illusion d’optique“ (Larbaud 1997: 78). Jedweder Text steht somit in einem steten, achronologischen Austauschprozess, wobei weder das sogenannte Original noch die Übersetzung abschließbar sind. Die Wahrnehmung literarischer Texte wäre demnach stets ein sehr indivi‐ dueller, u.a. auf der eigenen Leseerfahrung sich gründender, nie abschließbarer, sondern im Werden befindlicher Vorgang. Das Übersetzen sei zudem eng ver‐ bunden mit der sprachlichen Prägung der Übersetzer: der ideale Übersetzer ver‐ fügte nach Larbaud über ein umfassendes und rasches Erinnerungsvermögen, „une mémoire riche et prompte“ (Larbaud 1997: 9) und die „trouvaille“ des rich‐ tigen Wortes beruhe zwar zum einen auf eifriger Suche in den Wörterbüchern, ebenso jedoch würden sie im „latenten Wörterbuch“ unseres individuellen Ge‐ dächtnisses aufgestöbert, also „rencontré dans notre mémoire“ (Larbaud 1997: 81). Als niemals abschließbarer Prozess kommt denn nach Larbaud das Übersetzen einer Form der sowohl bescheidenen und schüchternen, zugleich aber auch einfachsten und angenehmsten Literaturkritik gleich, also als „la tra‐ duction, qui n’est peut-être, au fond, qu’une forme de la critique: la plus humble, la plus timide, mais aussi la plus facile et la plus agréable à pratiquer.“ (Larbaud 1997: 70) Im Gegenzug lehnt er sklavische, wörtliche Übersetzungen ab, denn diese seien untreu dem eigentlichen, literarischen Sinne gegenüber. Durch wortwört‐ liche Übertragungen, „le mot à mot insipide et infidèle à force de servile fidélité“ (Larbaud 1997: 58), also das fade Wort zu Wort, diese sich in Untreue wandelnde untertänige Treue, werde der Übersetzer gerade zum traditore, dessen Überset‐ zung nicht den in seiner poetischen Materialität liegenden literarischen Sinn eines Textes zu erschließen vermöge. Denn jeder Text verfüge laut Larbaud über Vera Elisabeth Gerling 188 <?page no="189"?> 5 Zur europäischen Rezeption des Werks von James Joyce siehe: Lernout/ Van Mierlo (2004). 6 Es gilt als etablierte Annahme, Gómez de la Serna habe sich nur aus Eigennutz an Valery Larbaud gehalten (vgl. Elwes Aguilar 2010 und Corbí Sáez 2011: 77). María Isabel Corbí Sáez (2011) entwirft anhand der Korrespondenz zwischen beiden ein anderes Bild, ins‐ besondere sieht sie es als zweifelhaft an, solche Thesen zu vertreten, da nur die Briefe von Ramón Gómez de la Serna erhalten sind, nicht aber die von Valery Larbaud an ihn (Corbí Sáez 2011: 78). Für unsere Untersuchung sollten diese Fragen der persönlichen Beziehung nicht von Bedeutung sein. seinen ihm eigenen Klang, seine Farbe, seine Bewegung, seine Atmosphäre: „un son, une couleur, un mouvement, une atmosphère, qui lui sont propres“. Dieser weniger offensichtliche „Sinn“ des Textes bringe erst dessen ästhetische Wir‐ kung hervor, und diesen zu transportieren sei die eigentliche Aufgabe des Über‐ setzers (Larbaud 1997: 65). Larbauds Auffassung vom Übersetzen steht hier den Gedanken Walter Benjamins in seinem Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ von 1923 nahe, für den die Bedeutung sprachlicher Kunstwerke in ihrer „Art des Meinens“ liege, da die Worte „einen Gefühlston mit sich führen“ (Benjamin 1972: 17). Ein Kuriosum mag die Nähe Larbauds zu Ramón Gómez de la Serna bezüglich dieser Auffassung vom Übersetzen belegen: Eine der „Lügen“, der „Mensonges“, von Gómez de la Serna, einer Sammlung kürzester Statements, lautet in der Übersetzung Larbauds: „Traduction littérale“: Die wörtliche Übersetzung wird also per se, so sehen es sowohl Larbaud als auch Gómez de la Serna, als Lüge betrachtet (Gómez de la Serna 1923: 72). Valery Larbaud als Entdecker Ramón Gómez de la Sernas Valery Larbaud war ein Reisender - in der Eisenbahn kreuz und quer durch Europa, im Kopf aber weit darüber hinaus: Denn er war ebenso ein literarischer Weltenbummler, ein Kenner und Entdecker auch der außereuropäischen Lite‐ ratur. Ohne seine Einflussnahme wäre die Übersetzung von James Joyces Ulises ins Französische nicht möglich gewesen. Sein Engagement für diesen Autor, für den er sich gemeinsam mit Adrienne Monnier stark machte, zeigt sich sowohl durch das Übersetzen und Lektorieren, insbesondere aber durch die finanzielle und ideelle Unterstützung der Publikation dieses Romans, der so umstritten war, dass er zunächst in Frankreich publiziert wurde. 5 Auch für Ramón Gómez de la Serna (1888-1963) war die Unterstützung durch den Franzosen von entscheidender Bedeutung, um über Spanien hinaus bekannt zu werden. 6 Larbaud hält sich seit 1916 längere Zeit in Spanien auf. In seiner Zeit in Alicante wird er auf das Werk von Gómez de la Serna aufmerksam und Von Greguerías zu Criailleries 189 <?page no="190"?> 7 Diese Zeitschrift widmete sich spanischsprachiger Literatur. Es erschienen zwischen 1918 und 1922 fünf Ausgaben, danach wurde sie eingestellt. Dass es sich noch um eine ganz neue Publikation handelte, die auch nicht überall zu kaufen war, belegt der Hin‐ weis von Valery Larbaud selbst in der erwähnten „Bibliographie sommaire“, diese Zeit‐ schrift könne erworben werden in der Buchhandlung „M.P. Rosier, libraire, 26, rue de Richelieu“ (Larbaud 1919: 1). 8 Laut Elwes Aguilar gemeinsam übertragen von Valery Larbaud und B. Moreno, teils ebenfalls von M. Latour-Maubergeon, die sich auch beraten ließen von Ventura García Calderón, einem in Frankreich ansässigen Hispanisten (Elwes Aguilar 2010: 203), der die Zeitschrift Hispania herausgab. Sie stützt sich hier wohl auf Larbauds Ausführungen im Vorwort zu Échantillons (1923), wo er sich meines Erachtens auf alle Texte bezieht, die in der Zeitschrift Hispania erschienen sind. Ich möchte mich hier an die Angaben halten, die in der Zeitschrift selbst gemacht werden, gehe aber davon aus, dass Larbaud alle Texte auch selbst lektoriert hat. erkennt in ihm den Vertreter der spanischen Moderne schlechthin, von dem er später noch behaupten wird, das moderne Spanien sei das Spanien Ramóns: „L’Espagne moderne, c’est l’Espagne de Ramón“ (Larbaud 1923: 14). Kaum hat er im Januar 1918 drei Bücher von Gómez de la Serna gelesen, beginnt er, das Werk des Spaniers durch Übersetzungen und andere Publikationen bekannt zu machen (Poylo 1981: 214), wie die folgenden zwischen 1918 und 1923 erschie‐ nenen Ausgaben belegen: 1. Bereits im Jahr 1918 erscheinen auf Initiative Valery Larbauds in der fran‐ zösischsprachigen Zeitschrift Hispania  7 Auszüge aus Ramóns Werk erst‐ mals überhaupt in französischer Übersetzung. Neben anderen Texten und Textauszügen aus dem Werk Ramóns finden sich hier unter der Über‐ schrift „Criailleries“ auch zwanzig Greguerías (Gómez de la Serna 1918a: 254-258). Während bei den anderen Passagen Valery Larbaud als Über‐ setzer angegeben ist (254), zeichnet für die französische Fassung der Gre‐ guerías laut den dortigen Angaben „Mme B.-M. Moreno“ verantwortlich (263). 8 Larbauds Einfluss auf diese Übersetzung erschließt sich jedoch di‐ rekt über eine als Anmerkung der Redaktion, „Note de la Rédaction“ be‐ nannte Fußnote, in der erläutert wird, Moreno habe in Abstimmung mit Larbaud den Titel „Criailleries“ gewählt. Die Herausgeber der Zeitschrift präsentieren in der Fußnote weitere Überlegungen dazu und bringen als Alternative das aus dem Arabischen stammende Wort „algarabe“ ein (Gómez de la Serna 1918a: 254f. FN 1), womit sie sich aber offensichtlich nicht gegen Larbaud durchsetzen konnten. Dieser Präsentation ausge‐ wählter Texte Ramóns in französischer Übersetzung ist eine Einführung des mexikanischen Autors Alfonso Reyes (1889-1959) vorangestellt, mit dem Valery Larbaud freundschaftlich verbunden war. Dieser preist den Vera Elisabeth Gerling 190 <?page no="191"?> 9 Laut Martínez-Collado (1997: 77) ist dieser Text ganz entscheidend für die Bekanntma‐ chung Ramóns in Frankreich. spanischen Autor in höchsten Tönen, er sei zu allem fähig: „Il est capable de tout“ (Reyes 1918: 234). Sein Atelier in Madrid wird als surreales Sam‐ melsurium von Gegenständen beschrieben: Leinwände, Öllampen, afrika‐ nische Skulpturen, wie ein surrealistisches Museum (vgl. Reyes 1918: 235). Ebenso wie diese Umgebung sei auch seine Sprache ein unhygienischer Exzess des Individualismus, „un excès antihygiénique d’individualisme“ (Reyes 1918: 235), im Kontext der spanischen Literaturtradition sei er einer der Rebellen (vgl. ebd. 235). Die von ihm erfundenen Greguerías böten einen unnachahmlichen Blick auf die Welt und die menschliche Seele, die in der mikroskopischen Betrachtung durch Ramón aus Gre‐ guerías bestehe (ebd. 240). 2. Bereits ein Jahr später konnte Valery Larbaud auch eigene Übersetzungen ausgewählter Greguerías publizieren: In der Zeitschrift Littérature: revue mensuelle erschienen 15 Greguerías abermals unter dem Titel „Criaille‐ ries“ (Gómez de la Serna 1919b: 8-10). Vorangestellt ist in diesem Fall eine Einleitung von Valery Larbaud selbst 9 , ausgehend von bibliographischen Hinweisen zu den bisherigen Veröffentlichungen Ramóns - in dieser „Bibliographie sommaire“ verweist er auch auf die Publikation von 1918 (Larbaud 1919: 1). Wie er hier explizit betont, möchte er in seiner Dar‐ stellung bewusst keinen akademischen Gepflogenheiten folgen, die auch Ramón abgelehnt hätte (vgl. Larbaud 1923: 1). Larbaud lobt Ramón als einen der originellsten und wichtigsten Schriftsteller der jungen spani‐ schen Literatur, „un des écrivains les plus originaux et les plus importants de la jeune littérature espagnole“, und als Motor einer großen intellektu‐ ellen Renaissance in der Folge der 1998er Generation (ebd. 2). Der Autor habe in den Jahren 1904 und 1914 zunächst in Anlehnung an die vorhe‐ rigen Generationen seinen eigenen Ton gesucht, woraus noch recht arti‐ fizielle Werke entstanden seien. Doch selbst in diesem Frühwerk lasse sich neben einer ausgeprägten kosmopolitischen Kultur und einem gesuchten Umgang mit der Nationalsprache bereits eine persönlich-individuelle Verfasstheit der Texte ausmachen (ebd. 2f.). Erst danach vermöge Ramón sich von etablierten Normen zu befreien, so Larbaud: statt zu kompo‐ nieren („composer“) beginne er zu dekonstruieren („decomposer“) (ebd. 3). So stellt er den jungen spanischen Schriftsteller als Vertreter der lite‐ rarischen Moderne vor, kontextualisiert ihn in der spanischen Kulturge‐ schichte und hebt dessen kosmopolitische Orientierung hervor. Die lite‐ Von Greguerías zu Criailleries 191 <?page no="192"?> rarischen Vorstellungen beider Autoren liegen offensichtlich nah beeinander. 3. Im Jahr 1921 dann erscheinen wiederum andere von Valery Larbaud übertragene Greguerías, 32 an der Zahl, erneut unter dem Titel „Criail‐ leries“ in der Zeitschrift Les écrits nouveaux (Gómez de la Serna 1921). Die hier publizierten Kurztexte finden sich dann 1992 in der von Anne Che‐ valier verantworteten, Valery Larbaud gewidmeten Ausgabe der Cahiers de l’Herne. Sie trägt damit dem besonderen Engagement Larbauds für Ramón Rechnung, auch da diesen „Criailleries“ (Gómez de la Serna 1992b: 241-244) ein Auszug aus dem Artikel vorangestellt ist, mit dem Larbaud Ramóns Texte zunächst in der Zeitschrift Littérature präsentiert hatte (Larbaud 1992b: 240, vgl. Larbaud 1919: 5f.). Chevalier gibt als Quelle für die hier angeführten „Criailleries“ in ihrer Fußnote an, sie seien im Januar 1921 in den Écrits nouveaux erschienen und im Band Échantillons erneut aufgenommen worden. Es handelt sich zwar tatsächlich um exakt die gleiche Auswahl wie die von 1921, jedoch enthält das genannte Buch viel mehr dieser Kurztexte, daher ist diese Darstellung irreführend und teils auch unzutreffend, da sich nicht alle dieser Texte dort finden und wenn, dann womöglich in veränderter Übersetzungsversion, wie die später ana‐ lysierten Beispiele zeigen. 4. Im gemeinten Band Échantillons erscheinen nämlich 1923 insgesamt 242 Greguerías, darunter auch zahlreiche längere, die bis zu einer Seite oder mehr umfassen, und zwar wiederum neben einer Auswahl anderer Texte Ramóns (Gómez de la Serna 1923: 17-81), in diesem Falle herausgegeben von Larbaud gemeinsam mit Mathilde Pomès. Hervorstechend an dieser Form der Präsentation ist, dass die übersetzten Greguerías teils thema‐ tisch geordnet sind. Unter „La créature impossible“ (‚Die unmögliche Kreatur‘) werden überraschende Episoden menschlicher Verhaltens‐ weisen präsentiert, unter „Astronomies“ (‚Astronomien‘) finden sich Kurztexte, in denen die Sterne und der Mond vorkommen, „Le crochet à serrures“ (‚Diebschlüssel‘) enthält nur einen einzigen Text, die „Preuves d’amour“ (‚Liebesbeweise‘) beinhalten die meisten der hier versammelten Greguerías und zwar zum Umgang der Geschlechter miteinander, wo‐ hingegen unter „Criailleries“ (sic! ) unterschiedlichste Thematiken auf Menschen, Natur und Welt bezogen versammelt sind. Einige der zuvor in Hispania oder Littérature publizierten Greguerías finden sich in dieser Ausgabe erneut, wobei sie teils gar nicht, teils leicht, teils deutlich über‐ arbeitet sind, auf jeden Fall aber in gänzlich anderer Reihenfolge, verstreut zwischen den anderen. Vera Elisabeth Gerling 192 <?page no="193"?> Im Gegensatz zu den später übersetzten Romanen von Gómez de la Serna, die keinen großen Anklang fanden, wurden die Greguerías als Ausdruck einer übernationalen modernen Schreibform sowohl in Frankreich als auch in Spanien mit Beifall bedacht (vgl. Elwes Aguilar 2010), daran hatte der Einfluss Valery Larbauds großen Anteil (vgl. Martínez-Collado 1997: 77) Schon die Tatsache, dass sich Larbaud als Übersetzer, Agent und Förderer für Autoren der internationalen Moderne einsetzt, insbesondere für James Joyce und Ramón Gómez de la Serna, bestätigt sein Interesse an kosmopolitischer Literatur - Corbí Sáez spricht ihm einen komparatistischen und universalisti‐ schen Blick (2011: 78) auf solche Texte zu, die sich aus internationalen Quellen speisen und nicht auf einen nationalen Kontext zu beschränken sind. Zudem erkennt er als einer der wenigen das Potential der spanischen Literatur und insbesondere Ramóns für die avantgardistischen Bewegungen der Moderne entgegen der etablierten Diskurse über ein stets rückständiges Spanien (vgl. Corbí Sáez 2011). So listet er in einem Brief an Adrienne Monnier aus dem Jahr 1923 die aus seiner Sicht drei wichtigsten, noch lebenden Autoren der Moderne in dieser Reihenfolge auf: 1. James Joyce, 2. Ramón Gómez de la Serna, 3. Marcel Proust. Danach komme lange nichts (vgl. Corbí Sáez 2011: 86). Die Aufnahme von Ramóns Werk in Frankreich ist somit geprägt von Valery Larbaud als mei‐ nungsbildender Förderer der Literatur, betont auch Dietrich Rall in seiner ein‐ schlägigen Studie (1983: 233). Durch Larbauds unermüdliches Engagement wurde Ramón in Frankreich schlagartig bekannt, so dass er schon 1923 zu einem Bankett des Cercle Littéraire International eingeladen wurde (vgl. Martínez-Col‐ lado 1997: 80). Zugleich spiegelt sein Vorgehen bei den Publikationen seine Auffassung von Literatur und Übersetzung, seine Infragestellung der Autorität des Originals und das von ihm geforderte selbstbewusste Handeln der Übersetzer: In allen aufge‐ führten Fällen erscheinen die Criailleries in unterschiedlicher Anordnung, 1923 sogar versehen mit einer thematischen Systematik. Dies Vorgehen widerspricht zwar dem Charakter des Zufälligen, den auch Larbaud als typisches Merkmal dieser Textform benennt, da er die Criailleries als „non classées et peut-être inclassables“, als weder klassifiziert noch klassifizierbar bezeichnet (Larbaud 1919: 6). Jedoch unterstreicht das Einführen einer Ordnung die Souveränität des Herausgebers und Übersetzers. Zudem führt sich diese Strukturierung auch gleich selbst wieder ad absurdum, wenn eine der Unterkategorien selbst aber‐ mals „Criailleries“ genannt wird, das Ordnungssystem hier also in seiner Ver‐ Von Greguerías zu Criailleries 193 <?page no="194"?> 10 Eine solche mise en abyme der Odnung selbst findet sich später bei Jorge Luis Borges, der eine chinesische Enzyklopädie erfindet, in der eine Klassifikation der Tierwelt unter anderem die Kategorie „innumerables“ [„unzählbare“] und „incluidos en esta clasifica‐ ción“ [„in diese Klassifizierung Gehörende“] enthält (Borges 1952: 123f.). Michel Fou‐ cault wird diese ‚Ordnung‘ dann in seiner Einleitung zu Les mots et les choses verwenden (Foucault 1966). 11 Dass dieser Begriff spezifisch Spanisch sei, betont Larbaud noch durch eine erläuternde Fußnote zur Betonung des Worts auf der vorletzten Silbe: „Accent tonique sur la pé‐ nultième“ (Larbaud 1919: 3, Fußnote *). 12 Unter diesem Titel wirbt Larbaud auch in einem Brief an Adrienne Monnier vom 18.08.1919 für die Greguerías des Ramón Gómez de la Serna (vgl. Corbí Sáez 2011: 85, Fußnote 31). lässlichkeit parodiert und so in Frage gestellt wird. 10 Weiterhin variieren die Übersetzungen, worauf in den vorangestellten Texten allerdings nicht einge‐ gangen wird. Die Veröffentlichung unterschiedlicher Übersetzungsversionen in kurzem zeitlichen Abstand scheint für ihn keine erwähnenswerte Bedeutung zu haben. Von Greguerías zu Criailleries Die Übersetzungsproblematik zeigt sich in diesem Falle bereits bei der Gat‐ tungsbezeichnung „Greguerías“. In Larbauds Ausführungen zur Ausgabe einiger dieser Kurztexte in Littérature und in seiner Einleitung zum Band Échantillons geht Larbaud auf diese Thematik ein. Ramón selbst habe zunächst mit Begriffen experimentiert, die problemlos hätten ins Französische übersetzt werden können: „regards“ (‚Blicke‘), „moments“ (‚Momentaufnahmen‘) und „ressem‐ blances“ (‚Ähnlichkeiten‘) (Larbaud 1923: XVI). Zufrieden sei er aber erst ge‐ wesen, als er dann ein beinahe unübersetzbares Wort gefunden habe (Larbaud 1919: 3), die so ganz spanische Benennung als „Greguerías“ 11 , die laut Alfonso Reyes von Ramón selbst auch liebevoll „grègues“ genannt wurde (Reyes 1918: 239). Bei der Suche nach einer möglichen Übersetzung habe er die etablierten Wörterbücher der Zeit konsultiert und verschiedenste Definitionen gefunden. Im einsprachig spanischen von Vicente Salvá habe er die Erläuterung entdeckt, die er hier ins Französische übersetzt wiedergibt: „Cris confus, clameurs dont on ne saisait par l’articulation“ (‚Konfuse Schreie, die von den Hörorganen nicht erkannt werden‘), im zweisprachig französisch-spanischen von Darbas und Igón die lautmalerische Bezeichnung für Lärm: „brouhaha“ und im spanisch-engli‐ schen von Francisco Corona Bustamante finde sich „Criailleries“ - hier übersetzt er ganz unhinterfragt in das von ihm gewählte Wort. 12 Man finde auch „bavar‐ Vera Elisabeth Gerling 194 <?page no="195"?> 13 Siehe hierzu auch Elwes Aguilar (2010: 204f.). 14 „Angesichts einer fehlenden idealen Lösung haben wir auf unsere erste Wahl zurück‐ gegriffen, Criaillerie, die als Vorteil die gleiche Silbenzahl und eine gewisse klangliche Ähnlichkeit mit Greguería aufweist.“ dage, ramage, jacasserie“, also Geplauder, Geplapper, Geschwätz. Die schließlich für die Publikationen gewählte Übersetzung mit „Criailleries“ sei, so Larbaud, als provisorisch zu verstehen. Nachteilig sei, dass hier die negative Assoziation wirren und störenden Lärms mitschwinge, die es beim Wort „greguerías“ nicht gebe, das eher angenehm klinge (Larbaud 1919: 4). 13 Es habe auch gemeinsame Überlegungen zu den Bezeichnungen „ramage, jacasserie, piaillerie“ gegeben und der Herausgeber der Zeitschrift, Ventura García Calderón, habe noch das Wort „algarabe“ vorgeschlagen (Larbaud 1923: XVI), wie es dort auch in einer entsprechenden Fußnote erläutert wird (vgl. o.). Dieses Experimentieren und die Bezeichnung der gewählten Übersetzung als provisorisch entspricht Larbauds Auffassung von stets in Bewegung befindli‐ chen Texten, die eine Festlegung auf eine Bedeutung des Originaltextes wie auch die Verabsolutierung einer Übersetzungsversion ablehnt. Eine jede Übersetzung wäre demnach lediglich als provisorische Annäherung zu begreifen, nicht als definitive Lösung. Die Wahl von „Criailleries“ für die jeweiligen Publikationen entspricht dabei Larbauds Zielsetzung, Übersetzungen sollten nicht wörtlich sein, sondern den sprachlichen Klang berücksichtigen, so schreibt er in der Ausgabe von 1923: „Nous avons maintenu, faute de mieux, le premier choisi, criaillerie, qui a l’avantage d’avoir le même nombre de syllabes et une certaine ressemblance de son avec greguería.“ 14 (Larbaud 1923: XVII) Neuübersetzungen der Greguerías Auch wenn Larbaud noch 1917 behauptet, er werde nie ein Werk aus dem Spa‐ nischen übersetzen, da ihm die Kenntnis der spanischen Literaturtradition fehle und er niemals auf Spanisch denken würde (vgl. Chevalier 1992: 239), traut er sich doch bald an die Greguerías von Ramón Gómez de la Serna heran. Um nachvollziehen zu können, wie sich seine Vorstellungen vom Übersetzen und seine individuelle Lesart von Ramóns Werk auch in seinen eigenen Übertra‐ gungen widerspiegeln, eignet sich besonders ein Vergleich unterschiedlicher Übersetzungsversionen. Dies möchte ich anhand zweier Beispiel darstellen, die beide zugleich illustrieren, dass Larbaud für den Band Échantillons die bereits vorher bestehenden Übersetzungen nicht ungeprüft erneut publiziert, sondern teils überarbeitet hat. Von Greguerías zu Criailleries 195 <?page no="196"?> 15 Laut Angaben in der Zeitschrift Hispania entstammen die dort publizierten Greguerías der Ausgabe von 1917 (Gómez de la Serna 1917). Dieses Buch konnte bislang nicht von mir eingesehen werden, da es nur noch selten antiquarisch verfügbar ist. Ich greife daher auf Gómez de la Serna 1919a zurück. „Die auf Sockeln stehenden Statuen bewegen sich nur ganz unbemerkt - denn alles andere als ihre Beweglichkeit wäre unaushaltbar und absurd -, um den Fuß abzuwechseln, auf dem sie stehen. Wenn man genau hinsieht, wird man sehen, dass sie sich manchmal komplett auf den linken und manchmal kom‐ plett auf den rechten stützen.“ Im ersten Fall handelt es sich um eine Greguería, die erstmals 1918 in der Zeitschrift Hispania, somit in der Übersetzung von B.-M. Moreno, auf Franzö‐ sisch erschienen ist. Da Valery Larbaud diese Erstausgabe sowohl intiiert hat, die anderen Texte von ihm selbst übertragen wurden und zudem sein Einfluss auf die Benennung als „Criailleries“ bekannt ist (vgl. o.), können wir davon aus‐ gehen, dass er diese Übersetzungen durchaus auch mit betreut hat, allerdings zeichnet er nicht namentlich verantwortlich. Bei Ramón lautet der Text folgen‐ dermaßen: Las estatuas en pie sobre sus pedestales sólo se mueven con un gran disimulo - porque otra cosa sería más irresistible y más absurda que su movilidad - para cambiar el pie que las aguanta… Fijándose bien, se verá que unas veces se apoyara por entero sobre el pie izquierdo y otras sobre el derecho. 15 (Gómez de la Serna 1919a: 147f.) Diese Greguería entspricht in besonderer Weise der Interpretation, die Valery Larbaud dem Werk Ramóns gewidmet hat: Statuen stehen hier für das Feste, das „tout-fait“ nach Henri Bergson. Ramón eröffnet uns als poetisches Bild die Vor‐ stellung, Statuen seien in steter Bewegung, alles andere wäre für das lyrische Ich nachgerade unvorstellbar und absurd. In artifizieller Analogie zum Men‐ schen werden die Statuen hier also personifiziert und ihnen wird ein Bedürfnis nach Bewegung zugesprochen. Diese Konfrontation des Lesers mit einer Wahr‐ nehmung, die sich dem logisch-wissenschaftlichen Blick auf die Welt entzieht, steht für die Freiheit, eine solche Art der Entgrenzung zu entwerfen, die unseren etablierten Blick auf die Wirklichkeit in Frage stellt. Hier nun die beiden Über‐ setzungsfassungen im Vergleich: Les statues debout sur leur piédestal bougent seulement avec grande précaution - car autre chose que leur mobilité serait irrésistible et absurde - pour changer le pied qui les soutient… En observant bien, on verra que quelquefois elles s’appuient entièrement sur le pied droit et d’autres sur le gauche. (Gómez de la Serna 1918a: 256) Les statues debout sur leurs piédestaux changent de position, à la dérobée, - car il serait intolérable et absurde de penser qu’elles restent toujours immobiles, et elles portent tantôt sur un pied, tantôt sur l‘autre autre… En les observant de près on verra Vera Elisabeth Gerling 196 <?page no="197"?> 16 „Die kleine Spinne überrascht uns mit ihrer Zirkuskunst, wenn wir sehen, wie sie sich vom Trapez ins Nichts stürzt, wie sie in der Luft hängt, wie sie hinauf- und hinunter‐ klettert. Schon wollten wir sie töten, aber sie bei diesen so riskanten und so überraschenden Übungen zu beobachten, hält uns davon ab. Die Musik, unsere innere Musik, verstummt, verstummt einen Moment wie bei der waghalsigsten Übung im Zirkus.“ qu’elles s’appuient parfois sur le pied gauche, parfois sur le droit. (Gómez de la Serna 1923: 48) Obgleich Larbaud selbst die wortwörtliche Übersetzung ablehnt, ist hier zu‐ nächst festzustellen, dass er durchaus Korrekturen an der Version von Moreno vornimmt: Wie im Original stehen bei ihm die Sockel im Plural und wird zu‐ nächst der linke, dann der rechte Fuß genannt. Wenn er statt „avec grande pré‐ caution“ nun „à la dérobé“ schreibt, dann ist dies nicht nur in der Semantik korrekter, es trägt auch zur inneren Textlogik bei, denn die angenommene Be‐ wegung der Statuen ist ja eigentlich gar nicht zu sehen. Andererseits ändert er in größerer Abweichung vom Original die Syntax (der Gedankenstrich schließt nicht, so dass die Bezüge im Satz sich wandeln). Die Verkürzung von „car autre chose que“ zu „il serait“ zeigt wiederum, dass Larbaud sich hier größere Frei‐ heiten erlaubt, indem er in der Folge auch das Verb „penser“ einbringt, also auf das menschliche Denken rekurriert. Dies wie auch die Verlängerung zu „tantôt sur un pied, tantôt sur l’autre“ sowie die Wiederholung von „parfois“ unter‐ streicht einen weiteren, wichtigen Aspekt: den der klanglichen Ästhetik. Hier sehen wir in der Strategie Larbauds genau das realisiert, was er selbst auch als Auffassung vom Übersetzen vertritt, nämlich den Vorrang des Klangs vor der Wörtlichkeit. Seine Version hat eine rhythmische Eleganz, der Text wird so zu einem poetischen Kunstwerk. Beim zweiten Beispiel handelt es sich um die Überarbeitung einer bereits bestehenden, eigenen Übersetzung. Hier die Fassung von Ramón Gómez de la Serna: La arañita nos sorprende con su arte de circo, viendo cómo se tira del trapecio lan‐ zándose al vacío, cómo se queda colgada y cómo baja y sube... Ya íbamos a matarla, pero nos disuade el verla hacer un ejercicio tan arriesgado y tan sorprendente... La música, nuestra música interior, calla, calla un momento, como en el ejercicio más arriesgado del circo. (Gómez de la Serna 1919a: 277) 16 Auch in diesem Fall haben wir es mit einer Anthropomorphisierung zu tun, hier über eine Analogie zwischen Tier- und Menschenwelt, die wiederum mit un‐ serem etablierten Blick auf die Welt bricht. In der Normalität unserer Welt würden wir eine Spinne als ein störendes Ungeziefer begreifen, das ganz neben‐ Von Greguerías zu Criailleries 197 <?page no="198"?> bei getötet werden kann. Doch es überrascht - und durch die erste Person Plural werden wir als Leser in diese Wahrnehmung mit eingeschlossen - die Akrobatik des Tiers, die an menschliche Akrobatik im Zirkus erinnert. Dieser Moment affiziert uns als Beobachter, lässt uns innehalten, die Luft anhalten, die gewohnte innere Melodie verstummt. Eine solche Beschreibung des Tiers bricht somit abermals mit den üblichen Diskursen, nach denen unhinterfragt eine Hierarchie zwischen Menschen- und Tierwelt besteht, die den Menschen das Recht zuweist zu töten. Schauen wir uns nun an, wie Valery Larbaud selbst seine Übersetzung mit einem Abstand von nur zwei Jahren revidiert: Die erste Version stammt aus der Zeitschrift Les écrits nouveaux von 1921, die zweite aus dem Buch Échantil‐ lons von 1923. In beiden Fällen ist Larbaud selbst als Übersetzer angegeben: La petit araignée nous surprend par son talent d’acrobate, lorsque nous la voyons s’élancer de son trapèze dans le vide, rester suspendue, monter et redescendre… Nous allions la tuer, mais de lui voir faire un exercice si périlleux et si surprenant nous en dissuade. La musique, notre musique intérieure, s’arrête, s’arrête un instant, comme au moment de l’exercice le plus dangereux au cirque. (Gómez de la Serna 1921: 26) La petite araignée nous surprend par son art d’équilibriste, quand elle se jette du haut du trapèze dans le vide, demeure suspendue, remonte et redescend… Nous allions la tuer, mais lui voir faire un exercice aussi surprenant et aussi dangereux nous en dis‐ suade… La musique, notre musique intérieure, s’arrête un moment, comme à l’instant de l’exercice le plus périlleux, au cirque. (Gómez de la Serna 1923: 67f.) Die Änderungen scheinen hier auf den ersten Blick gering zu sein, da es kaum Varianten in der Wortwahl gibt. Allerdings passt Larbaud den Text grammatikalisch an und tauscht Wörter aus. Abermals scheint das Ziel insbesondere darin zu liegen, den Text poetischer zu gestalten. Der Verzicht auf die zunächst wörtlich übernommene Verbalperiphrase „viendo como“ mit „lorsque nous la voyons“, welche die dreifache Verwendung des sperrigen Infinitivs erfordert, verleiht dem Satz eine neue Dynamik, wobei in beiden Fällen in Kauf genommen wird, die Wiederholung von „cómo“ nicht aufzugreifen. Diese Rücksichtnahme auf den Klang mag ebenso die Vermeidung der unschönen Akkumulation von harten Konsonanten beim Wechsel von „son talent d’acrobate“ zu „son art d’équilibriste“ hervorgebracht haben. Und auch die Umstellung und der Wechsel der Wortwahl von „lui voir faire un exercice si périlleux et si surprenant“ zu „lui voir faire un exercice aussi surprenant et aussi dangereux“ scheint der Akzen‐ tuierung der Poetizität des Textes dienen. In beiden Fällen lässt sich deutlich die Tendenz erkennen, beim Übersetzen den Klang des Textes als bedeutendes Merkmal ernst zu nehmen und entspre‐ chend in die Übersetzungsentscheidungen einfließen zu lassen, diesem auch den Vera Elisabeth Gerling 198 <?page no="199"?> Vorrang vor der semantischen, wörtlichen Nähe zu geben. Schon die Auswahl dieser beiden Greguerías, deren Überarbeitung zeigt, dass Larbaud diesen auch eine besondere Aufmerksamkeit widmet, unterstreicht die besondere Bedeu‐ tung, die er ihnen beimisst. Sie sind Ausdruck einer modernen Weltwahrneh‐ mung, stellen sie doch beide „normale“ Annahmen zur Körperlichkeit in Frage sowie die etablierten Vorstellungen vom Menschen. Denn gerade die Konfron‐ tation der Normalitätsvorstellung mit der Personifikation von Statuen und Tieren ist als inszeniertes Fremdwerden der Welt zu lesen, welches durch das Fremdwerden der Sprache in der ästhetischen Ausführung des Textes noch un‐ terstrichen wird. So stehen diese Greguerías für das Anschreiben gegeben das „tout-fait“ und die Überarbeitung der französischen Version zugleich für die Übersetzung als ein im Werden befindlicher Prozess. Alles bleibt hier in Bewe‐ gung. Fazit Wie die Ausführungen gezeigt haben, kann Valery Larbaud als ein Beispiel dafür angeführt werden, wie sich im Handeln des Übersetzers auf vielfältige Weise die eigenen Überzeugungen über das Schreiben und Übersetzen im konkreten Handeln als Akteur des literarischen Feldes widerspiegeln. Zusammenfassen lässt sich dies in vier Punkten: 1. Valery Larbauds Interesse an Literaturformen, die sich gegen die eta‐ blierten Kulturnormen richten, und seine kosmopolitische Offenheit lassen ihn aufmerksam werden für solche Autoren, die es in Frankreich erst zu entdecken gilt. Als literarische Persönlichkeit setzt er sich durch das eigene ideelle und finanzielle Engagement ganz bewusst für deren Bekanntmachung ein und nimmt so auch Einfluss auf den literarischen Austausch im frühen 20. Jahrhundert. Neben James Joyce und anderen, stellt das Werk des Ramón Gómez de la Serna ein herausragendes Beispiel dafür dar, welchen Einfluss Larbaud als meinungsbildender Förderer der modernen Literatur jenseits des Mainstream genommen hat. Nicht um‐ sonst nennt Elwes Aguilar Larbauds übersetzerisches Engagement im Titel ihres Aufsatzes: „Traducción como Promoción“, setzt hier also Über‐ setzung mit Förderung und Bekanntmachung gleich (2010: 201). Wei‐ terhin zeigt sich bereits in der Auswahl der von ihm geförderten Autoren, wie Larbaud nach seinen eigenen, individuellen Vorstellungen handelt. So unterstreicht Anne Poylo, Larbauds Entdeckungen in Spanien, sie nennt hier neben Gómez de la Serna auch den Alicantiner Schriftsteller Gabriel Mirô Ferrer, bildeten seinen Geschmack ab, jenseits der Erwar‐ Von Greguerías zu Criailleries 199 <?page no="200"?> tungshaltung, die man in Frankreich der spanischen Literatur entgegen‐ bringe (Poylo 1981: 213). So wird sein Handeln auch seiner Überzeugung gerecht, dass sich Nationalliteraturen aus einem internationalen Kontext nähren müssen: Ein guter Stil, so schreibt er, sei immer „donc bien nourrie ‒ d’emprunts“, also gut genährt durch Entlehnungen (Larbaud 1997: 165). 2. Seine Auffassung vom Übersetzen als individueller und stets im Wandel befindlicher und somit nicht abschließbarer Interpretationsakt zeigt sich insbesondere in den Überarbeitungen bereits zuvor publizierter Überset‐ zungen, gerade auch, weil er darauf in seinen Vorworten gar nicht ein‐ geht. Bei der Suche nach dem richtigen Wort für die Gattungsbezeichnung nimmt Larbaud zwar verschiedenste ein- und zweisprachige Wörterbü‐ cher zur Hilfe, dies gleicht er jedoch mit seinem eigenen, individuellen, latenten Wörterbuch ab, um schließlich zu einer Lösung zu kommen, die er auch gegen die Einwände anderer beibehält. 3. Diese Souveränität des Übersetzers, die er in seinen theoretischen Refle‐ xionen postuliert, findet sich somit ebenfalls in seinem eigenen Verhalten wieder. Zum einen ändert er bereits bestehende Übersetzungen und setzt sich auch gegenüber dem Herausgeber der Zeitschrift Hispania mit dem Titel „Criailleries“ durch. Weiterhin wird seine Präsenz als Übersetzer und das Übersetzen als Prozess in den von ihn verfassten Paratexten deutlich, seien es unabhängige Texte über den Autor, aus denen auch hier zitiert wurde, oder Vorworte zu den Herausgeberschaften. Nicht nur als Her‐ ausgeber, auch als Übersetzer macht er sich selbst somit sichtbar. Sou‐ verän ist er auch in der Auswahl und Anordnung der zu übersetzenden Werke, wie er sie teils auch in den Vorworten begründet. 4. Letztendlich spiegelt sein Handeln also seine moderne Auffassung vom sprachlichen Kunstwerk generell: Er übersetzt nicht sklavisch treu, son‐ dern sucht nach dem, was er den literarischen Sinn der Texte nennt, nach Klang, Farbe, Bewegung, Atmosphäre. Dies ist ihm wichtiger als seman‐ tische Genauigkeit. Wenn er Neuübersetzungen von Greguerías anfertigt, so entspricht dies seiner Auffassung, alle Texte seien stets wandelbar, nicht festgelegt. Die Übersetzung als „Criailleries“ stellt er mehrfach als Provisorium dar, was wiederum unterstreicht, dass Übersetzen für ihn ein konstantes Werden bedeutet. Für Larbaud ist die Vorstellung, Texte seien unbeweglich, eine optische Täuschung: „L’immobilité du texte imprimé est une illusion d’optique“ (Larbaud 1997: 78), ganz wie die Unbeweg‐ lichkeit der Statuen in Ramóns Greguería. Das Übersetzen ist somit für Larbaud eine der Formen des modernen Schreibens als unaufhörliche Vera Elisabeth Gerling 200 <?page no="201"?> 17 Wie das Übersetzen bei Larbaud als Modell für Transgression gelesen werden kann, erläutere ich an anderer Stelle (Gerling 2017). Transgression 17 von Normen und Grenzen. Das Übersetzen der Gregue‐ rías von Ramón Gómez de la Serna bedeutet zugleich ein Fortschreiben einer literarischen Gattung der Moderne. Literaturverzeichnis Auxouz, Amélie / Charbonnier, Gil. 2017. „Introduction: Pensée européiste et société universelle.“ Cahiers Valery Larbaud 53, 13-36. Benjamin, Walter. 1972 [1923]. „Die Aufgabe des Übersetzers.“ In: Ders. Gesammelte Schriften IV/ 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 9-21. Borges, Jorge Luis. 1952. Otras Inquisiciones. Buenos Aires: Sur. Borsò, Vittoria. 2010. „‚Bio-Poetik‘. Das ‚Wissen für das Leben‘ in der Literatur und in den Künsten.“ In: Wolfgang Asholt / Ottmar Ette. Literaturwissenschaft als Lebenswis‐ senschaft. 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Von Greguerías zu Criailleries 203 <?page no="205"?> Autorinnen und Autoren Dr. Henri Bloemen ist Dozent für Übersetzungswissenschaft und literarische Übersetzung (Deutsch-Niederländisch) an der KU Leuven. Er ist Redaktions‐ mitglied der wissenschaftlichen Reihe Approaches to Translation Studies ( John Benjamins) und publiziert über Übersetzungstheorie und -didaktik. So hat er gemeinsam mit Winibert Segers in der Zeitschrift Filter: Tijdschrift voor Vertalen en Vertaalwetenschap die Aufsätze „Inleiding bij 'Hervertaling als ruimte van de vertaling' / Hervertaling als ruimte van de vertaling (Vertaling van Antoine Berman ‚La retraduction comme espace de la traduction‘)“ (2014, 21/ 3, 25-29), „Het verschil van één letter: vertalen, het goed en het goede doen“ (2013, 20/ 3, 35-39) veröffentlicht. Weitere aktuelle Publikationen in Filter zum Thema sind [...] „Poes en nog eens poes? “ (2014, 21/ 1, 35-40) und „Het fetisjkarakter van de vertaling en zijn geheim“ (2011, 18/ 2, 11-22). Prof. Dr. Albrecht Buschmann ist Professor für spanische und französische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Rostock. Er promovierte mit einer Studie zum spanischen und italienischen Kriminalroman und habili‐ tierte sich über die Literatur des republikanischen Exils. Weitere Forschungs‐ interessen sind: Gewalterfahrung und Literatur, Transareale Literatur- und Kul‐ turgeschichte, spanische und französische Gegenwartsliteratur. Neben der akademischen Laufbahn war er zeitweise auch als literarischer Übersetzer aus dem Spanischen tätig (u. a. von Manuel Vázquez Montalbán und Max Aub) und erhielt den Übersetzerpreis der Spanischen Botschaft im Jahr 2003. Seine For‐ schungsschwerpunkte in diesem Bereich sind: das Zusammenspiel von Über‐ setzungstheorie und übersetzerischer Praxis (hierzu als Herausgeber: Gutes Übersetzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens, 2015), die kulturwissenschaftliche Bedeutung des Übersetzens und die Sicht‐ barkeit des Übersetzers in solchen Kulturtransferprozessen. PD Dr. Vera Elisabeth Gerling lehrt Literatur- und Kulturwissenschaft mit Blick auf Spanien, Lateinamerika und Frankreich sowie Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Hier wurde sie promoviert mit einer Studie zu den Rezeptionsmechanismen bei der Aufnahme von Erzählungen aus Lateinamerika im deutschsprachigen Raum: Lateinamerika: So fern und doch so <?page no="206"?> nah? Übersetzungsanthologien und Kulturvermittlung (2004). Im Jahr 2015 habi‐ litierte sie sich mit einer Arbeit unter dem Titel „Leben im Text. Übersetzerisches Denken als epistemologisches Paradigma“. Sie hat die argentinischen Autoren Fernando Sorrentino und Héctor Dante Cincotta übersetzt (Förderpreis für Literatur der Landeshauptstadt Düsseldorf, Sparte Übersetzung, 2010) und gibt die Reihe Düsseldorf übersetzt und die online-Zeitschrift ReLü - Rezensionszeit‐ schrift zur Literaturübersetzung heraus. Gemeinsam mit Volker C. Dörr und Birgit Neumann verantwortet sie die Publikationsreihe Transfer im Narr-Verlag. Zusammen mit Liliana Ruth Feierstein hat sie den Sammelband Traducción y Poder. Sobre marginados, infieles, hermeneutas y exiliados (2008) herausgegeben. Prof. Dr. Philippe Humblé lehrt Übersetzungswissenschaft (Spanisch) und Interkulturelle Kommunikation an der Freien Universität Brüssel (VUB). Er ist Autor von Dictionaries and Language Learners (2001) über die Anwendung von elektronischen Wörterbüchern. In den letzten Jahren konzentrierte er sich in der Forschung auf Übersetzungen im Kontext von Migration, Exil und Inter‐ kulturalität. Zusammen mit Julie Deconinck, Arvi Sepp und Hélène Stengers gab er Transcultural Awareness in Translation Pedagogy (2017) und zusammen mit Arvi Sepp Bearing Across: Translating Literary Narratives of Migration (2016) heraus. Yvonne Kappel (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Anglophone Literaturen und Literaturübersetzen der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie lehrt Literatur- und Kulturwissenschaften mit Fokus auf postkoloniale Studien, Narratologie und Intermedialität. Seit November 2017 promoviert sie zum Thema „Latenz und Erinnerung in anglophonen Gegen‐ wartsromanen“ in Düsseldorf, wo sie auch ihren Masterabschluss gemacht hat. Ihr erster Artikel „Re-Membering the Travelogue: Generic Intertextuality as a Memory Practice in Teju Cole’s Every Day is for the Thief“ ist 2017 in der Zeit‐ schrift für Anglistik und Amerikanistik erschienen. Prof. Dr. Birgit Neumann ist Professorin für Anglophone Literaturen und Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zuvor war sie Professorin an der Universität Passau und hatte Gastprofessuren an den Universitäten Wisconsin-Madison und Cornell (USA). Sie ist Vizepräsidentin der Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, gewähltes Mit‐ glied der Academia Europea, Mitglied des Editorial Committee for the Compa‐ rative History of Literatures in European Languages (CHLEL) sowie Mitglied in zahlreichen internationalen Forschungsnetzwerken. Ihre Forschungsschwer‐ punkte liegen auf anglophonen Weltliteraturen, postkolonialer Literatur und Intermedialität, Kulturaustausch und Literatur sowie kulturwissenschaftlichen Autorinnen und Autoren 206 <?page no="207"?> Narratologien. Sie ist Autorin von u.a. Die Rhetorik der Nation in britischer Lite‐ ratur und anderen Medien des 18. Jahrhunderts (2009), An Introduction to Narra‐ tive Analysis (2008; mit Ansgar Nünning), Herausgeberin von Präsenz und Evi‐ denz fremder Dinge im 18. Jahrundert (2015) und Mitherausgeberin von u.a. Raum und Bewegung in der Literatur. Weitere aktuelle Publikationen sind Anglia - Special Issue: Anglophone World Literatures (2017); Postcolonial Ecocriticism (2017); Arcadia - Special Issue: Global Perspectives on Comparative Literary His‐ tories (2018) sowie Handbook Anglophone World Literatures (in Vorbereitung). Dr. Martina Nicklaus ist derzeit akademische Oberrätin am Institut für Romanistik an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und lehrt dort ro‐ manische Sprachwissenschaft sowie literarische Übersetzung aus dem Franzö‐ sischen und Italienischen. Sie wurde 1996 in romanistischer Sprachwissenschaft promoviert mit der Arbeit Gatta ci cova! Phraseologismen im Italienischen (1999). Ihr besonderes Forschungsinteresse gilt der Mediensprache, der kontrastiven Linguistik sowie der Phraseologie. Ihr Habilitationsprojekt liegt an der Schnitt‐ stelle zwischen Sprachwissenschaft und literarischer Übersetzung und fokus‐ siert die Unterschiede in den Linearisierungspräferenzen zwischen dem Deutschen, Französischen und Italienischen. Das Projekt erhielt eine Anschub‐ förderung des Strategischen Förderfonds der Heinrich-Heine-Universität. Ass.-Prof. Dr. Angela Sanmann lehrt und forscht im Bereich Übersetzungs‐ wissenschaft der germanistischen Abteilung an der Universität Lausanne. 2012 schloss sie ihre Promotion in Berlin und Nantes mit einer Studie zu deutsch‐ sprachigen Dichter-Übersetzern ab: Poetische Interaktion. Französisch-deutsche Lyrikübersetzung bei Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig, Volker Braun (2013). Nach Stationen im C.H.Beck-Verlag und im Bureau du Livre der Franzö‐ sischen Botschaft in Berlin verfolgt sie seit 2015 an der Universität Lausanne ein Forschungsprojekt zur Tätigkeit von Literaturübersetzerinnen im 18. und 19. Jahrhundert. Gemeinsam mit Valérie Cossy und Martine Hennard Dutheil de la Rochère hat sie 2017 eine internationale Konferenz zu Übersetzerinnen in der Epoche der Aufklärung ausgerichtet. Der Tagungsband fémin|in|visible. Women authors of the Enlightenment. Übersetzen, schreiben, vermitteln erschien 2018 in der Reihe Cahiers du Centre de traduction littéraire de Lausanne. Sie hat unter anderem Emmanuèle Bernheim, Aurélie Filippetti, Bernard Noël und Larry Tremblay ins Deutsche übersetzt (Übersetzerpreis der „Euregio liest“, 2017). Dr. Belén Santana hat Übersetzen und Dolmetschen in Madrid und Heidelberg studiert. Nach mehrjähriger Berufserfahrung als Fachtext- und Literaturüber‐ setzerin wurde sie im Fach Translationswissenschaft an der Humboldt Univer‐ Autorinnen und Autoren 207 <?page no="208"?> sität zu Berlin mit einer Dissertation zur Übersetzung des Komischen promo‐ viert. Seit 2003 lehrt sie an der Übersetzungsfakultät der Universität Salamanca und ist zugleich als freiberufliche Literaturübersetzerin tätig. Sie hat u.a. zeit‐ genössische Autoren wie Ingo Schulze oder Julia Franck und moderne Klassiker wie Alfred Döblin, Franz Kafka und Siegfried Lenz ins Spanische übertragen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Übersetzung von Humor sowie Theorie und Praxis des literarischen Übersetzens. Sie publizierte u.a. Lachen - Humor - Komik (2012) und Memorias de una osa polar von Yoko Tawada (Anagrama 2018). Prof. Dr. Arvi Sepp ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Uni‐ versität Antwerpen und Professor für Deutsche Kultur und Übersetzungs‐ wissenschaft an der Freien Universität Brüssel (VUB). Veröffentlichungen zu Literaturtheorie, deutsch-jüdischer Literatur, Literatur und Diktatur, Überset‐ zungswissenschaft, Migration und Mehrsprachigkeit in der Literatur. Aktuelle Publikationen sind Bearing Across. Translating Literary Narratives of Migration (2016, mit Philippe Humblé), Topographie des Alltags. Eine kulturwissenschaft‐ liche Lektüre von Victor Klemperers Tagebüchern 1933-1945 (2016), Transcultural Awareness in Translation Pedagogy (2017, mit Julie Deconinck, Philippe Humblé und Hélène Stengers). Für seine wissenschaftliche Arbeit erhielt er u.a. den Tauber Institute Award (Brandeis University, USA), den Jacques-Rosenberg- Preis der Auschwitz-Stiftung (Brüssel) und den Wissenschaftskommunikations‐ preis der Königlich Flämischen Akademie Belgiens für Wissenschaften und Künste. Prof. Dr. habil. Beate Sommerfeld ist Leiterin des Lehrstuhls für Kompara‐ tistik und Theorie der literarischen Übersetzung am Institut für Germanische Philologie der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań. Hier wurde sie 2005 pro‐ moviert mit einer Arbeit unter dem Titel Kafka-Nachwirkungen in der polnischen Literatur unter besonderer Berücksichtigung der achtziger und neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. 2014 erfolgte die Habilitation mit der Studie Zwischen Augenblicksnotat und Lebensbilanz. Die Tagebuchaufzeichnungen Hugo von Hof‐ mannsthals, Robert Musils und Franz Kafkas (2013). Zusammen mit Stefan Kas‐ zyński, Maria Krysztofiak und Andrzeij Kątny betreut sie die Reihe Studien zur Germanistik, Skandinavistik und Übersetzungskultur im Peter-Lang-Verlag. Ge‐ meinsam mit Eliza Pieciul-Karmińska leitet sie an der Neophilologischen Fa‐ kultät der Adam-Mickiewicz-Universität eine Forschungsgruppe zur Rezeption und Übersetzung von Kinder- und Jungendliteratur. Ihre Forschungsschwer‐ punkte sind die deutschsprachige, französische und polnische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, intermediale Bezüge zwischen Literatur und bildender Kunst sowie literarische Übersetzung. Autorinnen und Autoren 208 <?page no="209"?> Laura Strack (M.A.) studierte Romanistik und Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum sowie Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine‐ Universität Düsseldorf. Ihre Masterarbeit im Fach Literaturübersetzen zum Denken des französischen Philosophen und Übersetzers Gérard Granel wurde mit dem Romanistikpreis des Deutsch-Französischen Kreises Düsseldorf aus‐ gezeichnet. Seit 2017 promoviert sie im Rahmen des internationalen Graduier‐ tenkollegs „Studi Culturali Europei“ an der Universität Palermo zu alternativen Theaterorten und zeitgenössischen Praktiken der Gemeinschaftsbildung. Ne‐ benbei übersetzt sie aus dem Französischen und aus dem Italienischen und wirkt als Dramaturgin an Theaterprojekten in Italien und Deutschland mit. Dr. Vera Viehöver lehrt seit 2013 als Professorin für Deutsche Literatur an der Université de Liège (Belgien). Sie ist Leiterin des Centre Interdisciplinaire de Recherche en Traduction et en Interprétation (CIRTI) und Mitglied des inter‐ disziplinären Forschungszentrums TRAVERSES an dieser Universität. Zu ihren Forschungsgebieten gehören die Literatur des 18. Jahrhunderts, Formen und Funktionen autobiographischen Schreibens vom Barock bis zur Romantik, ins‐ besondere Selbstdarstellungen von Musikern, sowie Poetiken des Übersetzens mit einem Schwerpunkt auf dem Werk von Henri Meschonnic. Zusammen mit Regina Nörtemann hat sie 2013 den Band Kolmar übersetzen: Studien zum Pro‐ blem der Lyrikübertragung herausgegeben, gemeinsam mit Bruno Dupont das Themenheft Réinventer le rythme/ Den Rhythmus neu denken (= Intervalles, 7/ 2015) zusammengestellt, das mehrere Beiträge zum Werk Henri Meschonnics enthält. In der Reihe Beihefte zur Germanisch-Romanischen Monatsschrift des Universitätsverlags Winter erscheint im Frühjahr 2018 der mit Valérie Leyh und Adelheid Müller herausgegebene Sammelband Elisa von der Recke. Kontexte und Perspektiven. Autorinnen und Autoren 209