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Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik

0923
2019
978-3-8233-9200-2
978-3-8233-8200-3
Gunter Narr Verlag 
Christiane Fäcke
Franz-Joseph Meißner

Dieses Handbuch bietet erstmals einen umfassenden Überblick über den Stand der Forschung und zur Praxis der Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik. Die über 120 Artikel behandeln u.a.: Sprachenpolitik (national und EU), Interkomprehension, Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb, Tertiärsprachendidaktik, lebensweltliche Vielsprachigkeit, Herkunftssprachen, bilingualen Sachfachunterricht, autochthone Mehrsprachigkeiten, Kompetenzorientierung, Didaktik der Grenzregionen, interkulturelles Lernen, Translanguaging, Unterricht an mehr- oder vielsprachigen Lerngruppen u.v.a.m.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-8233-8200-3 Dieses Handbuch bietet erstmals einen umfassenden Überblick über den Stand der Forschung und zur Praxis der Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik. Die über 120 Artikel behandeln u. a.: Sprachenpolitik (national und EU), Interkomprehension, Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb, Tertiärsprachendidaktik, lebensweltliche Vielsprachigkeit, Herkunftssprachen, bilingualen Sachfachunterricht, autochthone Mehrsprachigkeiten, Kompetenzorientierung, Didaktik der Grenzregionen, interkulturelles Lernen, Translanguaging, Unterricht in mehr- oder vielsprachigen Lerngruppen u. v. a .m. C. Fäcke / F.-J. Meißner (Hrsg.) Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik Christiane Fäcke / Franz-Joseph Meißner (Hrsg.) 18200_Umschlag.indd Alle Seiten 26.08.2019 14: 55: 11 <?page no="1"?> Prof. Dr. Christiane Fäcke ist Inhaberin des Lehrstuhls für Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen an der Universität Augsburg, Beraterin am Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), Autorin einschlägiger Fachbücher (u.a. Einführungen in die Fachdidaktik Französisch, Spanisch). Prof. (em.) Dr. Franz-Joseph Meißner war zuletzt Inhaber des Lehrstuhls Didaktik der romanischen Sprachen (1994-2012) an der Justus-Liebig-Universität, Gießen, ist Gründungspräsident des Gesamtverbandes Moderne Fremdsprachen, Mitglied des IQB (2007-2014), Mitherausgeber mehrerer Fachbuchreihen und Fachzeitschriften. Er ist Autor zahlreicher Fachbücher und Aufsätze. <?page no="2"?> Christiane Fäcke-/ Franz-Joseph Meißner (Hrsg.) Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik <?page no="3"?> www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8200-3 (Print) ISBN 978-3-8233-9200-2 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0187-5 (ePub) <?page no="4"?> Einleitung 1 A Sprachlichkeit und Kulturalität 17 1. Sprachlichkeit, Identität, Kulturalität (Adelheid Hu) 17 2. Staatliche (kollektive) und individuelle Mehrsprachigkeit (Sabine Ehrhart) 25 3. Mehrsprachigkeit in Einwanderungsgesellschaften ( Jürgen Erfurt) 29 4. Enkulturation und Sprachen (Cristina Allemann-Ghionda) 33 5. Code-Switching (Ulrike Jessner & Elisabeth Allgäuer-Hackl) 37 6. Mehrsprachigkeit, Interkomprehension, Übersetzen und Sprachmitteln (Frank G. Königs) 41 7. Mehrsprachigkeitsdidaktik (Franz-Joseph Meißner) 47 8. Mehrkulturalitätsdidaktik (Christiane Fäcke) 52 B Europäische Mehrsprachigkeits- und Fremdsprachenkonzepte 57 9. Politische Dimensionen der rezeptiven Mehrsprachigkeit für die europäische Demokratie (Franz-Joseph Meißner) 57 10. Sprache und Staat (Konrad Schröder) 65 11. Nationale Sprachpolitiken und Sprachlenkung (Claudia Polzin-Haumann) 71 12. Mehrsprachigkeitskonzepte der Europäischen Union (Sylvie Méron-Minuth & Senem Şahin) 76 13. Englisch als „Eurosprache“? (Göran Nieragden & Franz-Joseph Meißner) 80 14. Gesamtsprachencurriculum (Britta Hufeisen) 84 C Mehrkulturalität in einer multilingualen und multikulturellen globalisierten Welt 89 15. Bildungspolitische Perspektiven auf Mehrkulturalität (Hans-Jürgen Krumm) 89 Inhalt <?page no="5"?> VI  Inhalt 16. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Mehrkulturalität (Werner Wiater) 95 17. Pluri- und Multikulturalität im fremdsprachendidaktischen Diskurs (Lutz Küster) 102 D Kompetenzprofile für Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität 107 18. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (2001) und der Begleitband (Companion ) (2018) ( Jürgen Quetz) 107 19. Plurilinguale und plurikulturelle Kompetenz im CEFR Companion Volume (2018) (Eva Burwitz-Melzer) 112 20. Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (Karim Siebeneicher-Brito) 117 21. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in deutschen Richtlinien des Fremdsprachenunterrichts (Ursula Behr) 120 22. Sprachlernkompetenz und Mehrsprachigkeit (Hélène Martinez) 123 23. Portfolio im Kontext von Mehrsprachigkeit (Sandra Ballweg) 130 24. Mehrsprachigkeit in Wirtschaft und Beruf (Hermann Funk) 133 E Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität lehren 139 25. Lehrkompetenz und Förderung von Mehrsprachigkeit (Frank G. Königs) 139 26. Lehr- und lernseitige Einstellungen zu sprachenübergreifenden Ansätzen (Christine Beckmann) 143 27. Mehrsprachigkeitsdidaktik als Gegenstand der Lehrerbildung (Franz-Joseph Meißner) 147 28. Mehrkulturalitätsdidaktik als Gegenstand der Lehrerbildung (Christiane Fäcke) 153 29. Geschichte mehrsprachiger Ansätze (Marcus Reinfried) 158 30. Kommunikativer Fremdsprachenunterricht und Mehrsprachigkeit (Stephan Breidbach) 166 31. Mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit (Maik Böing) 173 F Didaktik der Mehrkulturalität 179 32. Interkulturalität und interkulturelles Lernen (Christiane Fäcke) 179 33. Interkulturelle Kommunikation (Adelheid Schumann) 184 34. Klischees und Stereotype (Christoph Vatter) 188 35. Landeskunde im Kontext von Mehrkulturalität und Globalisierung (Adelheid Schumann) 192 36. Didaktik des Fremdverstehens ( Jan-Oliver Eberhardt) 195 37. Von der Egalitätshypothese zur Global Education (Christiane Lütge) 200 38. Diskriminierung und Ausgrenzung im Kontext von Mehrkulturalität (Christiane Fäcke) 204 <?page no="6"?> VII Inhalt 39. Friedenserziehung in der Perspektive von Mehrsprachigkeit (Werner Wintersteiner) 209 40. Diskursanalyse und Dekonstruktion: postmoderne Diskurse (Laurenz Volkmann) 213 41. Transkulturalität und transkulturelles Lernen ( Jochen Plikat) 216 42. Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit im Literaturunterricht (Britta Freitag-Hild) 220 43. Kompetenzorientierung, Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit (Daniela Caspari) 224 44. Strategien und ihre Förderung im Rahmen interkultureller Ansätze (Hélène Martinez) 231 45. Formen partnerschaftlichen Lernens auf Gegenseitigkeit (Mark Bechtel) 238 46. Mehrkulturalität in Lehrmaterialien (Daniela Anton) 242 47. Mehrsprachigkeit und digital gestütztes Lernen und Lehren fremder Sprachen (Dietmar Rösler) 245 48. Evaluation / Assessment und Selbstevaluation / Assessment interkultureller Kompetenzen (Michael Byram) 251 49. Stufenmodelle interkultureller Kompetenzen (Claudia Harsch) 256 50. Mehrsprachigkeit in Klassenarbeiten und Tests ( Jochen Strathmann) 260 G Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb 265 51. Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb in der Forschung (Sandra Ballweg) 265 52. Kindlicher Spracherwerb in mehrsprachiger Umgebung (Yüksel Ekinci) 271 53. Mehrsprachigkeitsansätze in vorschulischen Bildungseinrichtungen (Anja K. Steinlen & Thorsten Piske) 276 54. Mehrsprachigkeit als Herausforderung und Chance in der Grundschule (Thorsten Piske & Anja K. Steinlen) 280 55. Übergangsdidaktik von der Primarzur Sekundarstufe ( Jürgen Mertens) 283 H Mehrsprachigkeit und Interkomprehension 289 56. Interkomprehension und Sprachenwachstum (Steffi Morkötter) 289 57. Interkommunikation (Christian Ollivier) 292 58. Europäische Mehrsprachigkeit und Interkomprehension in historischer Sicht (Franz-Joseph Meißner) 294 59. Natürliche Interkomprehension am Beispiel Skandinaviens (Kurt Braunmüller) 300 60. Interlexis und Morphologie als Ressourcen von (europäischer) Mehrsprachenkompetenz (Anna Schröder-Sura) 304 61. Die „Erfindung“ der europäischen Grammatikographie (Claudia Polzin-Haumann) 306 62. Das mehrsprachige mentale Lexikon (Madeline Lutjeharms) 312 63. Modellierung von Interkomprehensionsprozessen ( Johannes Müller-Lancé) 316 64. Interkomprehension und Transfer (Steffi Morkötter) 321 <?page no="7"?> VIII 65. Interkomprehension und sprachliche Kompetenzen (Madeline Lutjeharms) 325 66. Interkulturelle Kommunikation in mehrsprachigen Lernarrangements (Tanja Prokopowicz) 329 I Mehrsprachigkeits- und Interkomprehensionsdidaktik 333 67. Materiale Grundlagen der (romanischen) Mehrsprachigkeit (Christina Reissner) 333 68. Die Sieben Siebe für EuroComGerm (Nicole Marx & Robert Möller) 340 69. Schulische Sprachenfolgen und Grundlegung der europäischen Mehrsprachigkeit (Christine Beckmann) 344 70. Interkomprehensionsmethode, Aufgaben- und Übungsformate (Steffi Morkötter) 348 71. Mehrsprachigkeitsförderung durch Interkomprehension in der Sekundarstufe (Isabelle Mordellet-Roggenbuck) 354 72. Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik im Lern-/ Lehrkontext Studium und Universität (Barbara Hinger) 359 73. Kleine und selten erlernte Zielsprachen und Varietäten (Stefanie Wagner) 363 74. Fachsprachen (Thomas Tinnefeld) 366 75. Hörverstehen sprachlicher Varietäten lehren (Camilla Badstübner-Kizik) 369 76. Lesen in der Perspektive von Mehrsprachigkeit (Steffi Morkötter & Franz-Joseph Meißner) 372 77. Interkomprehensionsdidaktische Ansätze in Lehrwerken romanischer Sprachen (Michaela Rückl) 377 78. Interkomprehensionsdidaktische Ansätze in Lehrwerken slawischer Sprachen (Grit Mehlhorn) 380 79. Interkomprehensionsdidaktische Ansätze in Lehrwerken germanischer Sprachen (Anta Kursiša) 384 80. Romanische Interkomprehension unterrichten: Konzepte, Erfahrungen, Empirie ( Jochen Strathmann & Franz-Joseph Meißner) 387 81. Interkomprehension im Unterricht germanischer Sprachen (Robert Möller) 393 82. Slawische Interkomprehension unterrichten (Grit Mehlhorn) 397 83. Mehrsprachigkeit testen (Karl-Heinz Eggensperger) 401 84. Mehrsprachiges diagnostisches Schreiben (Bernd Tesch) 405 85. Mehrsprachigkeitsdidaktik und Interkomprehension: Forschungsstand und Perspektiven (Franz-Joseph Meißner) 408 J Der Erwerb spät erlernter Fremdsprachen 415 86. Tertiärsprachen ( Jochen Strathmann) 415 87. Deutsch als Fremdsprache nach Englisch / Französisch (DaFnE) / (DaFnF) (Lennart Bartelheimer) 417 88. English after German (Nicole Marx & Greg Poarch) 420 89. Französisch (Birgit Schädlich) 424 90. Italienisch (Inez de Florio-Hansen) 428  Inhalt <?page no="8"?> IX 91. Katalanisch interkomprehensiv: ein Beispiel für das Lernen und Lehren einer ‚kleineren‘ romanischen Sprache (Tilbert D. Stegmann) 431 92. Latein - ein Weg zur Mehrsprachigkeit? (Christiane Neveling) 433 93. Portugiesisch (Sílvia Melo-Pfeifer) 436 94. Russisch (Anastasia Drackert) 439 95. Weitere slawische Sprachen (Grit Mehlhorn) 442 96. Spanisch (Christiane Neveling) 446 K Englisch und Mehrsprachigkeit 451 97. English as a gateway to cultures (Claus Gnutzmann) 451 98. Englisch als europäische Brückensprache (Christina Reissner) 455 99. Verfahren der Mehrsprachigkeitsförderung im Englischunterricht ( Jenny Jakisch) 459 L Vielsprachige Umwelten und individuelle Mehrsprachigkeit 465 100. Lebensweltliche Mehrsprachigkeit (Havva Engin) 465 101. Didaktik der Grenzregionen (Albert Raasch) 469 102. Die audiovisuelle Gestalt von Sprachen und ihre Bedeutung für den Spracherwerb (Katrin Biebighäuser) 473 103. Mehrsprachige Kommunikation face to face ( Jürgen Erfurt) 477 104. Critical Incidents (Hans Jürgen Heringer) 480 M Herkunftssprachen und DaZ 485 105. Deutschkenntnisse und Integration (Andreas Sander, Theresa Schlitter & Nele McElvany) 485 106. Herkunftssprachenunterricht und Deutsch als Zweitsprache (Havva Engin) 489 107. Arabisch (Mohcine Ait Ramdan) 494 108. Russisch als Herkunftssprache (Grit Mehlhorn) 497 109. Türkisch (Till Woerfel & Seda Yilmaz Woerfel) 500 N Mehrsprachigkeit im bilingualen Sachfachunterricht in der Sekundarstufe 505 110. Unterrichten in vielsprachigen Lerngruppen ( Julia Settinieri) 505 111. Bilingualer Sachfachunterricht in der Perspektive von vorhandener und weiterzubauender Mehrsprachigkeit (Andreas Bonnet) 509 112. Geschichte als bilinguales Sachfach und die Förderung einer erweiterten Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätskompetenz (Bernd Tesch) 513 113. Geographie als bilinguales Sachfach und die Förderung einer erweiterten Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätskompetenz (Britta Viebrock) 517 114. Mehrsprachige Textarbeit im bilingualen Unterricht (CLIL) (Hans-Ludwig Krechel) 520 Inhalt <?page no="9"?> 115. Öffnung bilingualer Bildungsgänge zur Mehrsprachigkeit (Dagmar Abendroth-Timmer) 523 116. Ausbildung von Lehrkräften für den Sachfachunterricht aus Sicht der Mehrsprachigkeitsdidaktik (Hans-Ludwig Krechel) 526 O Autochthone Mehrsprachigkeiten 531 117. Autochthone Mehrsprachigkeiten: Europa (Eva Vetter) 531 118. Schweiz (Georges Lüdi) 537 119. Österreich (Georg Gombos) 541 120. Deutschland (Helena Olfert & Anke Schmitz) 544 121. Dänisch in Deutschland (Elin Fredsted) 547 122. Friesisch (Thomas Steensen) 549 123. Romanes (Dieter Halwachs) 552 124. Sorbisch (Ines Keller & Jana Schulz) 554 125. Niederdeutsch (Hans-Joachim Jürgens & Helmut Spiekermann) 556 126. Dialekte (Alfred Wildfeuer) 559 Begriffsregister 563 Die Autorinnen und Autoren 585 X  Inhalt <?page no="10"?> 1. Begriffsdefinitionen 1.1. Vielsprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Mehrsprachigkeitsdidaktik Mehrsprachigkeit (↗ Art. 6, 7) ist sowohl ein Dachbegriff oder umbrella-term , der unterschiedliche Konzepte und Referenzkontexte versammelt, als auch ein Bewegungsbegriff, der Menschen auf ein Ziel hin mobilisiert. Zugleich handelt es sich um einen Kernbegriff der EU-Sprachenpolitik (↗ Art. 12); nicht zuletzt als Ausdruck ihrer aus 24 Amtssprachen bestehenden Vielsprachigkeit. Zurzeit bestehen EU-weit drei große Tendenzen: Erstens, Englisch als internationale Sprache zu nutzen und zweitens, neben den Muttersprachen mindestens zwei Sprachen der EU (darunter Englisch) als eine Art mehrsprachiges Minimum möglichst weit in der EU-Bevölkerung zu etablieren. Hierneben steht drittens weiterhin die Pflege der Muttersprachen, mit denen sich nationale Identitäten (↗ Art. 1) verbinden. Die geschilderte Ausrichtung wird allerdings der Vielfältigkeit der europäischen Sprachenlandschaft noch nicht gerecht, was schon die Existenz von Verlautbarungen der EU zugunsten der angestammten regionalen Sprachen und Varietäten signalisiert. Wurden zu deren Schutz internationale und europäische Regelungen getroffen, so nur ansatzweise zu den Migrantensprachen auf dem Territorium der Union. Dabei übersteigt die Zahl der Teilhaber einer migrantischen Sprache manchmal erheblich die autochthoner Sprachgruppen. Indes ist es keine Frage, dass die Vielsprachigkeit Europas mit dem Appell einhergeht, die individuelle Mehrsprachigkeit - differenziert und abgestuft - zu fördern (↗ Art. 9). Was den Appell zum Ausbau der (individuellen) Mehrsprachigkeit angeht, so kommen die Befunde der empirischen Fremdsprachenforschung und der Lernpsychologie (↗ Art. 51) hinzu: Sie betonen neben der Relevanz der lernerseitigen Motivation nahezu einhellig die Nutzung des lernrelevanten Vorwissens für erfolgreiches Lernen (nicht nur von Sprachen). Die hohe Konjunktur des Begriffs interkulturelles Lernen (Fäcke 2005) zeigt ein Weiteres: In einem zusammenwachsenden Europa in einer globalisierten Welt sind ethnische und kulturelle Diversität eine Alltagserfahrung, die sich mit Vielsprachigkeit und Multikulturalität verbindet. Dies stellt hohe Anforderungen an die angestammte Bevölkerung, Fremdheiten zu akzeptieren und aushal- Einleitung <?page no="11"?> 2 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner ten zu wollen. Zugleich wird von Minderheiten der Wille zur Anpassung an die Standards der Mehrheitsbevölkerung verlangt (↗ Art. 15). Ziel ist, Andersheit nicht als Bedrohung für das eigene Selbst und das überkommene kollektive Wir, sondern als Bereicherung erscheinen zu lassen. Eine differenzierte individuelle Mehrsprachigkeit gepaart mit interkultureller Kompetenz, insbesondere Sensibilität für unterschiedliche Erscheinungsformen von Fremdheit, sind vor diesem Szenario Strategien und Mittel zugleich, um den Herausforderungen zu begegnen. Mehrsprachigkeit und Vielsprachigkeit meinen nicht dasselbe. Der Begriff Vielsprachigkeit bezeichnet als echter Kollektivsingular alle Sprachen, die auf einem definierten Territorium, z. B. einem Staatsgebiet, begegnen. In Deutschland sind dies weit über hundert. Vielsprachigkeit oder Multilinguismus ist vor allem Folge von Migration. All dies impliziert, dass das Profil von Vielsprachigkeit nur schwer konkretisierbar und kaum planbar ist. Mit Mehrsprachigkeit ( plurilinguism ) meint die EU i. d. R. die Sprachen von Individuen. Im Rahmen von Mehrsprachigkeit ist die Förderung konkreter Fremdsprachen durch schulischen Unterricht möglich. Zugleich verbreitet das Schulsprachenangebot bestimmte Mehrsprachigkeitsprofile. Allerdings durchbrechen zahlreiche sprachenpolitische Publikationen in verschiedenen Sprachen die semantische Komplementarität von Viel- und Mehrsprachigkeit. Die umrissene Gemengelage allein erklärt schon den vielleicht wichtigsten Grund für die Entstehung sprachenübergreifender Didaktiken. So fassen Mehrsprachigkeits - und Mehrkulturalitätsdidaktik (↗ Art. 7, 8) als komplementäre Großbegriffe eine Anzahl von Nachbar- oder Unterbegriffen: integrierte oder integrative Didaktik, Gesamtsprachencurriculum oder Common Curriculum , vernetzendes Sprachenlernen, éveil aux langues, interkomprehensiv basierter Ansatz und interkulturelles Lernen (mit verschiedenen Schattierungen). Ihrer Verbreitung kommt selbstverständlich ihre kognatische Internationalität zustatten ( didactique du plurilinguisme, didactique du pluriculturalisme, didactics of plurilingualism, didactics of pluriculturalism ). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die von der EU geprägten programmatischen Termini auf ein von Kommunikationsraum zu Kommunikationsraum unterschiedliches Bedingungsgefüge treffen, das ihre Bedeutung in gewissen Grenzen auch hinsichtlich der jeweiligen nationalen Umsetzung verändert (Meißner & Schröder-Sura 2014). Über viele Jahrzehnte hinweg wurden die Begriffe Zweisprachigkeit ( bilingualism, bilinguisme ) und in mitgedachter Verlängerung Mehrsprachigkeit ( plurilingualism, plurilinguisme ) negativ konnotiert. Man unterstellte fälschlicherweise, dass ‚echte‘ Zwei- oder Mehrsprachigkeit, was das Kompetenzniveau der Sprachen angeht, spiegelbildliche Kompetenzmuster in zwei bzw. mehreren Sprachen bedeuten müsse. Die Definition ist schon deshalb zu verwerfen, weil jede Sprache ein Zeichenrepertoire eigener Art darstellt, das dem einer anderen Sprache nie vollständig entsprechen kann. Zudem ist es kaum einem Individuum möglich, jederzeit in gleicher Intensität an allen Themen unterschiedlicher Kommunikationsräume zu partizipieren. Deshalb zeigen auch die Idiolekte konkreter Sprecher in ein und derselben Sprache keine deckungsgleichen Kompetenzmuster. In den Sprach- und Erziehungswissenschaften wurde Zweisprachigkeit - und in der Verlängerung Mehrsprachigkeit - oft mit einer sog. „doppelten Halbsprachigkeit“ in Verbindung gebracht: Man meinte generalisierend, <?page no="12"?> 3 Einleitung dass früher Zweisprachenerwerb weder zu einer hinreichenden Beherrschung der einen noch der anderen Sprache führe. Das Defizit wird noch heutzutage genannt (Wolski & Dralle 2019: 469). Jüngere Befunde unterschiedlicher Wissenschaften unterstreichen indes, dass der Begriff schon deshalb falsch fasst, weil er von einem monolingualen Kompetenzprofil und Sprachenwachstum ausgeht (vgl. Wiese et al. o.J). Pädagogisch komme es in der Tat weniger auf die Defizite an als darauf, vorhandene Kompetenzressourcen zu nutzen. Defizite sollten, so die Aussage, durch gezielte Förderung behoben werden. Eine pädagogische Orientierung liefern die ‚Vorschläge für einen erweiterten Fremdsprachenunterricht‘. In der von Bertrand & H. Christ koordinierten Fassung heißt es, dass: unter Mehrsprachigkeit nicht zu verstehen ist, man müsse mehrere Sprachen gleichermaßen beherrschen. Als mehrsprachig darf schon der bezeichnet werden, der auf der Basis der Kenntnis seiner Muttersprache eingeschränkte Kenntnisse in wenigstens zwei weiteren Sprachen entweder in gleichen oder verschiedenen Diskursbereichen hat (um z. B. soziale Kontakte in gesprochener oder geschriebener Sprache aufzunehmen oder Texte lesen oder Fachgespräche führen zu können). (Bertrand & Christ 1990: 208) Das Handbuch folgt weitgehend dieser, für die Entwicklung der Mehrsprachigkeit wichtigen Definition. 1.2. Diskurse der Mehrkulturalität Analog zu mehrsprachig benutzt dieses Handbuch mehrkulturell - obwohl der Begriff im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs deutlich weniger gängig ist als interkulturell oder selbst transkulturell . Mehrkulturell ist auf Individuen, ihre konkret nennbaren Kulturen und deren Manifestationen bezogen, mit denen sie mehr oder weniger vertraut sind (↗ Art. 17). Zugleich betont die konkrete Perspektivierung die Wichtigkeit des exemplarischen Lernens. Denn es existieren unzählige, zu viele kulturelle Fremdheiten, als dass wir uns mit ihnen allen vertraut machen könnten. Eine Auswahl, die uns tiefere Einblicke in die eine oder andere Kultur und die Wirkung ihrer Andersheiten auf uns selbst erlaubt, ist daher unumgänglich. Exemplarität bildet die Verbindung zwischen mehrkulturellen und interkulturellen Modellen. Hierneben steht wie im Deutschen auch im Englischen, Französischen und in weiteren Sprachen der Begriff vielkulturell ( multicultural/ multiculturel ) in Opposition zu mehrkulturell ( pluricultural/ pluriculturel ). Mehr als die anderen Eckbegriffe dieses Handbuchs zeigt gerade multikulturell die Spuren der politischen Praxis ( multikulturelle Gesellschaft, „multikulti“ ). Als tagespolitisches Programmwort unterschiedlicher Parteien ist es auch in der Bevölkerung in hohem Maße umstritten (↗ Art. 15). Dies erklärt nicht nur seine eigene starke emotive Aufladung, sondern auch die seines Begriffsfeldes bzw. seiner semantischen Nachbarn: Integration, Flüchtlinge/ Geflüchtete, Identität, Herkunftssprachen, Leitkultur und Herkunftskulturen , deutsch und ausländisch, deutsch und Islam usw. sind immer auch Wörter einer ebenfalls hochgradig umstrittenen „Willkommenskultur“. Entsprechende Artikel des Handbuchs werden zu diesen gesellschaftlich durchaus breiten Entwicklungen zwangsläufig in eine Beziehung gesetzt, denn sie antworten ja auf aktuelle Entwicklungen und Perspektiven. Die politische Auseinandersetzung ist immer auch eine um Wörter und deren Sinnfüllung. Zustimmung erheischende Formeln (in der Sprache der politischen Semantik: Miranda) <?page no="13"?> 4 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner werden kreiert und in bestimmter Weise benutzt und verbogen: Der Begriff lebensweltliche Mehrsprachigkeit (↗ Art. 100) bezieht sich auf den sprachlichen Erfahrungsbereich konkreter Menschen - vorzugsweise Kinder mit Migrationshintergrund - nicht aber auf die Gesellschaft (↗ Art. 2), denn diese ist vielsprachig (Fereidooni 2012). Ähnliches lässt sich zu Herkunftssprache (↗ Art. 106) sagen: Der alltagssprachliche Begriff zur Bezeichnung bestimmter Sprachen der Migration versteckt, dass alle Menschen eine sprachliche Herkunft haben, die spätestens dann ins Bewusstsein rückt, wenn sie eine zweite Sprache oder die sog. ‚Hochsprache‘ ihrer heimischen Varietät bzw. des eigenen Dialekts erwerben. Wer immer eine zweite Sprache lernt, hat bereits eine erste, in der die Welt auf Begriffe gebracht wurde. Es erscheint daher linguistisch zutreffender wie im Englischen und Französischen ( languages of immigration, langues de l’immigration ) von Sprachen der Immigration zu sprechen. Gleichwohl wird der Begriff Herkunftssprache in den Artikeln dieses Handbuches verwandt, weil der Begriff im Deutschen konventionalisiert ist. Er sollte daher entsprechend modifiziert verstanden werden. Sprache ist Wort gewordene Kultur (K. Schröder in diesem Band, ↗ Art. 10), Kulturen sind ohne Sprachen nicht denkbar. Sprache und Kultur sind Merkmale von Staaten. Kulturen sind auch von Gegensätzen geprägt. So ist die EU-Sprachenpolitik vielfach an ihre europäischen Kulturen und Mitgliedstaaten gebunden, und schon die Bildung der öffentlichen Meinungen geschieht auf nationaler wie EU-Ebene mithilfe von Sprachen. Dies hat insbesondere innerhalb demokratischer (und rechtsstaatlicher) Kulturen Gewicht (↗ Art. 9). So fällt im Vorfeld von Wahlen der öffentlichen Sprache die Aufgabe zu, die politischen Angebote der um die legitime Macht kämpfenden Parteien zu kommunizieren. Ohne Sprache wäre demokratisches Prozedere bzw. demokratische Kultur unmöglich. European citizenship ist ein Begriff des interkulturellen und politischen Lernfeldes. Die Problematik der Vielsprachigkeit für die Bildung einer Öffentlichen Meinung und das politische Prozedere der EU ist bis heute nicht gelöst. Dem Handbuch liegt ein weiter und pluraler Kulturbegriff (↗ Art. 1) zugrunde. In diesem Zusammenhang ist die gemeinsame Geistesgeschichte Europas, einschließlich der Alltagskulturen, relevant. Referenzbereiche sind Staatswesen und Kulturen bzw. Religionen, Wissenschaften, Künste, Sitten und Gebräuche und menschliche Praxen. Spätestens seit den 1990er Jahren wird kulturellen Prägungen auch für das Sprachenlernen Bedeutung zugeschrieben. Insbesondere spielen die Sozialisierung und Enkulturation der Lerner (↗ Art. 4), die Zusammenhänge von Sprache und Identitätskonstruktion oder kulturspezifische Einstellungen eine Rolle, und zwar seitens der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf Multikulturalität, Globalisierung, Migration sowie den Umgang mit ethnischer und kultureller Vielfalt, seitens der Migranten und Sprachenlerner der Integrationswunsch in die Zielgesellschaft X oder Sprachgemeinschaft und der Wunsch, sich Vorteile durch Kenntnis der Zielsprache und Zielkultur zu verschaffen (bei Dörnyei 2003 begegnet der Terminus Instrumentalität). Bzgl. der Erfahrung von ethnischer und/ oder kultureller Diversität lassen sich - grob - folgende Unterscheidungen treffen: 1. Fokussiert die Argumentation auf das Verhältnis zwischen ethnisch und kulturell deutlich voneinander abgegrenzten Personen (Gruppen, Gesellschaften, Nationen und Staatsvölker), so stehen i. d. R. <?page no="14"?> 5 angemessene (konventionalisierte) Umgangsweisen im Vordergrund. Für diesen Fall werden meist Kompositionen mit dem Präfix inter verwendet: interkulturelle Kompetenz, interkulturelles Lernen oder interkulturelle Kommunikation zwischen dem Eigenen und dem Fremden (↗ Art. 32, 36). Solche Bildungen beziehen sich nicht auf Kontraste konkreter Kulturen, sondern fassen generell. Natürlich können Ergänzungen diese Polarität durch Konkretisierung (Typ: der interkulturelle deutsch-britische Dialog ) aufheben. 2. Liegt der Fokus indes auf dem Bestreben nach Aufhebung dieser Oppositionen, dann folgt hieraus die Absage an ein Verständnis von in sich homogenen und geschlossenen Kulturen (die sich von anderen Kulturen unterscheiden und sich nach außen abgrenzen). In diesem Fall wird oft das Präfix trans genannt. Man spricht z. B. von einer (postmodernen) Transkulturalität (↗ Art. 41). Wie die Komplementarität von Vielsprachigkeit und Mehrsprachigkeit wird auch die von Interkulturalität und Transkulturalität nicht immer trennscharf benutzt. Der GeR und vor allem der CEFR Companion Volume transportieren, wie angeklungen, die Unterscheidung zwischen multicultural/ multiculturel/ multikulturell einerseits und pluricultural/ pluriculturel/ mehrkulturell andererseits (↗ Art. 18, 19). In einer vielkulturellen Umgebung und einem vielkulturellen Europa ( multicultural Europe und multicultural environment ) sollen pluricultural competences und ein pluricultural repertoire entwickelt werden. Das Präfix multidient, wie gesagt, zur Hervorhebung gesellschaftlicher Dimensionen, während das Präfix pluriindividuelle Dimensionen meint. Generell deuten die pluri -Begriffe auf konkrete Planbar- und Organisierbarkeit von gezieltem Unterricht. Hingegen sind die multi- Bildungen semantisch offener. Eine Politik zugunsten von mehr Mehrsprachigkeit und mehr Mehrkulturalität fällt auf unterschiedliche nationale Substrate (und deren eigenständige Interessen). Die Geschichte der europäischen Nationalstaaten ist eng mit ihren jeweiligen Nationalsprachen und einer sie begünstigenden Sprachpolitik verbunden. Während die Nationalsprachen längst hinlänglich normiert waren, beherrschten die jeweiligen nationalen Bevölkerungen diese bis weit ins 19. Jh. hinein nur unzureichend: Die meisten Menschen sprachen Dialekte und in den Vielvölkerstaaten zumeist auch unterschiedliche Sprachen. Vorrangige Aufgabe war im Zuge von Industrialisierung, Urbanisierung, der Entstehung gänzlich neuer Berufsgruppen wie der Angestellten, der Industriearbeiterschaft und weiterer die Herstellung eines einheitlichen nationalen Kommunikationsraums, an dem die Gesamtbevölkerung im Rahmen einer vor allem national miteinander kommunizierenden Wirtschaft teilhaben konnte. Träger dieser Entwicklung waren das allgemeine Schulwesen, die allgemeine Wehrpflicht, die Verbreitung von Presse und Radio zu Beginn des 20. Jhs. Die Lage erklärt, weshalb das jeweilige nationale Erziehungswesen des 19. und überwiegend des 20. Jhs. der Zwei- und Mehrsprachigkeit nicht förderlich gegenüberstand. Eine Politik zugunsten der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität gab es in nur wenigen Fällen - kaum jedoch in nennenswertem Umfang in großen Nationalstaaten wie Großbritannien, Frankreich, Spanien, Deutschland oder Russland. Eine gewichtige Ausnahme stellte der ehemalige Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn dar (Fäcke 2015). Die Verbreitung der Amtssprachen fand ihre Erweiterung in den Kolonien. Einleitung <?page no="15"?> 6 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner 2. Perspektiven einer Sprachen und Kulturen vernetzenden Didaktik Die einzelne Zielsprachen übergreifenden und vernetzenden didaktischen Ansätze, welche in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, sind nicht ohne Bezug zu den Didaktiken der einzelnen Sprachen, z. B. zur Englisch-, Französisch- oder Deutsch als Fremdsprache-Didaktik und ihrer langzeitlichen Entwicklung. Konzepte wie die schon genannten - vernetzendes Sprachenlernen, Gesamtsprachencurriculum (↗ Art. 14), Interkomprehensionsdidaktik (↗ Art. 70), Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik (↗ Art. 7, 8) überhaupt - wollen die einzelsprachlichen Didaktiken konzeptuell und methodisch im Sinne der Lernziele Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz ergänzen und bereichern. Die Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik ist eine sog. Transversaldidaktik. Ihre beiden Zweige wollen die einzelzielsprachlichen Fachdidaktiken nicht verdrängen, sondern sie ergänzen. Dies berührt zunächst die Didaktiken der Erstsprachen bzw. der hiesigen offiziellen Schulsprachen, sodann der Zweitsprachen und der unterrichteten Fremdsprachen. Da es sich bei diesen vor allem um europäische Sprachen handelt, lassen sich zwischen ihnen zahlreiche Ähnlichkeiten - Transferbasen - ausmachen, deren Nutzung den Erwerb einer neuen Sprache oder die Verbreiterung der interkulturellen Kompetenz erleichtert. Dies gab den Anstoß für die Entwicklung der Interkomprehensionsdidaktik. Für Konzepte des interkulturellen Lernens war es von vornherein konstitutiv. Reflexives Sprachenlernen begegnet in allen Formen des Sprachen miteinander vernetzenden Lehrens und Lernens. Hier überlappen sich die Felder von Sprachpolitik (zugunsten der jeweiligen eigenen Nationalsprache) und Sprachenpolitik (Förderung ausgewählter Fremdsprachen innerhalb eines nationalen Territoriums - z. B. durch die Einrichtung eines entsprechenden Schulfachs, etwa Englisch, Französisch oder aber Sorbisch in Deutschland). 2.1. Sprachenvernetzende Ansätze zwischen Sprach- und Sprachenpolitik (Interkomprehension) Zahlreiche Faktoren bestimmen die Stellung einer Sprache auf dem internationalen Sprachenmarkt, in bunter Mischung: die Zahl der Muttersprachler und der zweit- und fremdsprachlichen Sprachteilhaber, das kulturelle Prestige, die Kraft der jeweiligen Volkswirtschaft, der Status in internationalen Organisationen, die kommunikative Reichweite in den Wissenschaften, die Rolle im Alltagsleben der Menschen, ihre reale und virtuelle Erreichbarkeit bzw. ihre Präsenz in den Medien und dem Internet und last but not least ihre Erlernbarkeit. Apropos kommunikativer Radius: Sein Gewicht für die internationale Stellung einer Sprache verdeutlicht unübersehbar das Englische, für das schwer zu übersehen ist, ob es die fast 350 Mio. nativen Sprachteilhaber, die geschätzt 300 Mio. Zweitsprachensprecher oder die ca. 2 Mrd. heteroglotten Sprachteilhaber bzw. täglichen (heterokulturellen) Nutzer der globalen intersociety sind, die seinen hohen internationalen Marktwert bestimmen (↗ Art. 13, 97, 98). Dies allein schon erklärt, weshalb Sprachen ihre Stellung am Markt verbessern können, wenn ihre Kenntnis es erlaubt, auch weitere attraktive Sprachen zu verstehen und ihr Erlernen zu erleichtern. So findet das Französische in der spanischen oder italienischen <?page no="16"?> 7 Sprache sehr starke ‚Verbündete‘ und diese umgekehrt im Französischen. „Wenn du Spanisch oder Italienisch lernst, helfen dir Französischkenntnisse ungemein. - Mit dem Erlernen einer romanischen Sprache legst du die Grundlage für das leichte und rasche Erlernen quasi aller romanischen Sprachen (800 Mio. native Sprecher, ungezählte Mio. Zweit- und Fremdsprachensprecher).“ Das Argument, das natürlich auch für andere Sprachen und deren Familien als die genannten gilt, hat Gewicht, wenn es um die Überlegung geht, welche Sprache ein Kind oder ein Erwachsener lernen soll. Ein weiterer Faktor betrifft den Status einer Sprache als Schulfremdsprache innerhalb der Gesellschaft: So zeigen die Lernerkontingente der Volkshochschulen, wie sehr ein durch die Schulfremdsprachen vermitteltes Wissensprofil die Nachfrage nach bestimmten Fremdsprachen steigert. Dabei ist klar, dass sich von keiner Fremdsprache außer Englisch behaupten lässt, dass ein heutiges Kind diese Sprache in seinem späteren Erwerbsleben auch wirklich braucht (Sprachenbedarf). Umso wichtiger ist die Vermittlung von Sprachlernkompetenz, die sich vor allem mit dem Erlernen einer zweiten und dritten Fremdsprache bzw. interkomprehensiver Verfahren ausbilden lässt, da es wesentlich auf die Fähigkeit des zielgerichteten Vergleichens sprachlicher Strukturen ankommt (u.a. Schröder 2009). Die offizielle und offiziöse Sprachpolitik der einzelnen Sprachen hat auf derlei Fakten reagiert: In der Romania zeigen dies vor allem die von französischer Seite initiierten organisatorischen Maßnahmen zur Sprachlenkung (Schmitt 1988a und 1988b), die Gründung der Union Latine sowie zahlreiche EU-finanzierte Projekte (Galatea, Eurom4, EuroCom, Redinter, MIRIADI u. a. m.). Auch in Iberoamerika hat die Interkomprehension ein weites Echo gefunden (Interlat, Interrom u. a. m.). Vor diesem Hintergrund bezeichneten zu Beginn der 1990er Jahre Dokumente der Fédération Internationale des Professeurs du Français (F.I.P.F.) die romanischen Schwestersprachen als „langues fédérées“ (F.I.P.F. 1990). Andere Sprachpolitiken, z. B. die der UdSSR oder Russlands, sind diesen Weg jedoch nicht gegangen, obwohl die slawische Sprachenfamilie starke zwischensprachliche Ähnlichkeiten aufweist (↗ Art. 94, 108). Auch die Turksprachen halten ein erhebliches Potential für interkomprehensive Ansätze bereit. Die Lernerkontingente der sog. ‚kleinen‘ Sprachen zeigen, wie sehr sie als Fremdsprachen von den mehrsprachigen Vorkenntnissen der Lerner profitieren. Sieht man einmal von der Migrationsbevölkerung ab, so lässt sich festhalten, dass ein Großteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Katalanischkursen nicht nur über Kenntnisse im Englischen verfügt, sondern oft auch im Spanischen, im Französischen usw. Es ist eine offene Frage, ob sie einen Katalanischkurs auch ohne diese Vorkenntnisse und die eigenen Sprachlernerfahrungen belegt hätten (↗ Art. 91). Zeigt der romanische Sprachraum ein deutliches Interesse an der Förderung von Interkomprehension, so bezeugt Deutschland eine gewisse Zurückhaltung. Dabei nimmt das Land insoweit eine besondere Stellung ein, als neben dem Englischen und dem Lateinischen vor allem das Französische und das Spanische eine weite Verbreitung als Schulfremdsprache verzeichnen. Verstärkt wird die hier entgegentretende Lernerdisposition z.T. auch durch eine in migrantischen Mehrsprachigkeitsmustern angelegte Kompetenz. So schnitt eine deutsch/ russisch-zweisprachige Schülerin der Limburger Marienschule in einem zweiwöchigen Italienisch-interkomprehensiv-Unterricht an Primanerinnen eines Spanischkurses als beste Einleitung <?page no="17"?> 8 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner ab (bei generell sehr guten Ergebnissen), obwohl sie als einzige weder Französischnoch Lateinkenntnisse nachweisen konnte. Englisch-, Französisch-, Spanisch- und Lateinkenntnisse und der in den Sachfächern erworbene deutsche Bildungswortschatz verleihen deutschsprachigen Kindern ein pädagogisch nutzbares Maß an Transferbasen für romanische Interkomprehensibilität (↗ Art. 7, 56). So können auch Deutschsprachige ihre mehrsprachigen Kenntnisse nutzen, um weitere, nicht nur romanische Sprachen zu erlernen. ‚Interkomprehension über die Familie der eigenen Muttersprache hinaus‘ lautet daher ein Ansatz, der in der deutschen Fremdsprachendidaktik starkes Interesse findet, zumal sich herausgestellt hat, welch wirksame Strategie der interkomprehensive Ansatz für die Förderung von Sprachlernkompetenz ist. 2.2. Bilinguales Lernen Bilinguale Bildungsgänge (BiLi) gelten wohl weltweit als ein Erfolgsmodell (Bonnet & Siemund 2018). Sie zeichnen sich dadurch aus, dass zwei Sachfächer in einer anderen Sprache als der regulären (Deutsch) unterrichtet werden. Es handelt sich, wie gesagt, um Sachunterricht, der lehrseitig eine sachfachliche Kompetenz (nachgewiesen i. d. R. durch die Erste und Zweite Lehramtsprüfung im Sachfach) verlangt. Die sachfachlichen Lehr-/ Lernergebnisse sind durchaus jenen des Fachunterrichts in der regulären Schulsprache vergleichbar. Absolventen dieses Bildungsgangs erreichen in der Zielsprache eine hohe Kompetenz (C1, C2 nach den GeR-Kompetenzdeskriptoren). Empirische Studien zum interkomprehensiv basierten Unterricht an Schülerinnen und Schülern dieses Bildungsganges belegen deren vorzügliche Eignung für den Weiterbau ihrer schon vorhandenen Mehrsprachigkeit. An diese Erfahrung knüpfen Angebote wie Certilingua an. Das Zertifikat erweitert den Nachweis des im bilingualen Bildungsgang erworbenen Kompetenzprofils auf eine weitere Fremdsprache, die auf dem Niveau B2 oder höher beherrscht wird (↗ Art. 111). Im Grunde geschieht der Weiterbau der zielsprachlichen Kompetenz hier nach dem Grundsatz des schon in der Antike gelobten mnemotechnischen Prinzips rem tene, verba sequentur . Allerdings gilt auch für den regulären Fremdsprachenunterricht vor allem im Fortgeschrittenenbereich, dass sich das Sprachenwachstum und Situationswissen an Inhalten ausbildet: je mehr desto besser. 2.3. Lebensweltliche Viel-/ Mehrsprachigkeit: Sprachen - Kulturen - Identitätskonstruktionen Wie Gogolins (1994) Formel des „monolingualen Habitus der deutschen Schule“ meint „lebensweltliche Mehrsprachigkeit“ keinen konkreten fremdsprachendidaktischen Ansatz, sondern eine Kontextbezeichnung, die aufgrund ihrer Beschaffenheit einen bestimmten didaktischen Zugriff verlangt. Dabei verbindet sie die soziale bzw. soziolinguistische Situation der Lerner, insbesondere von Kindern, mit definierten Lehr- oder Lernzielen. Beide Pole sind derweil an Vielbzw. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität festgemacht. Dabei sind Erst- und Zweitsprachen ebenso im Spiel wie Fremdsprachen. Vor allem mit den Erstbzw. Familiensprachen und der Zweitbzw. Umgebungs- oder Mehrheitssprache (Deutsch) ist auch ein Stück Identitätsbildung betroffen (↗ Art. 1). Unsere europäischen Länder sind längst sowohl durch eine starke Einwanderung als auch durch eine rückläufige Entwicklung der angestammten Bevölkerungszahl gekenn- <?page no="18"?> 9 zeichnet. Eine erhebliche Verstärkung der aktiven Bevölkerung durch Immigration ist daher notwendig, schon um die sozialen Sicherungssysteme langfristig zu finanzieren bzw. zu erhalten (Meißner 2014). Hierauf müssen sich die betroffenen Gesellschaften und zuvorderst das Erziehungswesen einstellen. Auch vor diesem Hintergrund steht die Bewertung der etwa in Deutschland präsenten Einwanderer, ihrer Vielsprachigkeit und ihrer Identitätskonstruktion (↗ Art. 16). In den heimischen Varietäten (Dialekt), den Muttersprachen, Erstsprachen, den Zweitsprachen und in gewissem Umfang auch den Fremdsprachen verbinden sich die Kommunikationserlebnisse der Individuen mit deren Sozialisation. Nicht ohne Grund gelten sie als fundamental für die Enkulturation. Die sprachliche Bildung ruft daher nach Konzepten, wie unsere Gesellschaften mit der vorhandenen und der anzustrebenden Vielsprachigkeit umgehen sollen. Unbestritten ist, dass Migranten die Sprache der aufnehmenden Mehrheitsgesellschaft auf möglichst nativem Niveau erlernen sollen (sofern sie eine Integration in diese anstreben). Konkret verlangt eine plurale Gesellschaft zudem, dass Einwanderer, die ein Verbleiben in Deutschland anstreben, mittel- und langfristig die Werte des Grundgesetzes zur Richtschnur ihres Denkens und Handelns machen. Die hohe Relevanz sprachlicher und (inter) kultureller Bildung für die Ausbildung einer plurireferentiellen Identität ist unbestritten. Sie bildet sich bei Einheimischen und Einwanderern aus den unterschiedlichen Erfahrungsräumen der Individuen. In diesem Zusammenhang wird oft folgender Mix genannt: lokal, regional, national, europäisch (Frankfurterin, Hessin, Deutsche, Europäerin). Die örtlichen Markierungen stehen neben anderen Zugehörigkeiten, die identitätsstiftend sein können, wie z. B. Beruf, Geschlecht, Generation und Alter, Religion, sexuelle Orientierung u. v. a. m. Aus diesen Zugehörigkeiten und Gruppenerlebnissen leitet sich positiv eine Steigerung der psychischen Befindlichkeit ( psychic income ) her. Neben Pro-Zuordnungen sind auch Anti-Zuordnungen möglich: Wir-Gruppen können sich also auch in latenter oder offener Gegnerschaft zu anderen Gruppen bilden. Gründe hierfür können etwa echte oder vermeintliche Frustrationen, Ängste und Ablehnung sein. Das augenfälligste Beispiel hierfür liefert die Xenophobie. 2.4. Interkulturelles Lernen und interkulturelle Kompetenzen Das Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung verlangt interkulturelle Kompetenz, Fremdverstehen und Offenheit (Fäcke 2005). Es geht letztlich um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Émile Durkheim (1978) bezeichnete einen Zustand der sozialen Desintegration als Anomie. Er sah ihn in der Auflösung gültiger Normen, moralischer Überzeugungen und Kontrollen bzw. des Wegfalls einer gemeinsamen Wertebasis in den frühindustriellen Gesellschaften seiner Zeit begründet. Als greifbare Folge machte er einen Anstieg der Kriminalität und der Suizidrate aus. Ursächlich erschien ihm ein Bruch zwischen den überkommenen Werten und den gängigen Praxen der realen Gesellschaft. So wie die frühe Industriegesellschaft im 19. Jh. religiöse Bindungen in Frage stellte, so führen heutzutage die Globalisierung und ihre praktischen Folgen viele Menschen zu einem Gefühl des Abgehängt-Seins; die Bewohner großer Teile Afrikas oder der Kriegsgebiete im Nahen Osten suchen sich in Europa ein Minimum an Sicherheit und Wohlstand. Beängstigend für einen großen Teil der Einleitung <?page no="19"?> 10 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner hiesigen Mehrheitsbevölkerung ist die große Zahl der (potentiellen) Migranten. Nun haben unterschiedliche Kulturen und Kulturkreise nicht unbedingt dieselben Werte. Und ein hoher Anteil an Migranten aus unterschiedlichen Herkunftskulturen gibt die von ihnen internalisierten Werte nicht einfach bei einem Grenzübertritt ab. Nur langsam gelingt es vielen von ihnen, sich in den Wertekanon der aufnehmenden Gesellschaft einzufinden. Dies verlangt eine enorme Anpassungsleistung. Erfahrungsgemäß kann dies mehr als eine Generation dauern. Gesellschaften, die sich als plural verstehen, müssen den Eingewanderten die notwendige Zeit lassen und Hilfen bieten. Kenntnisse der Mehrheitssprache sind hierzu ein erster Schritt. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob und auf welcher Grundlage ein friedliches Miteinander basieren kann. Lassen sich universalistische Wertesysteme (↗ Art. 37) finden, auf die sich alle Beteiligten voll umfänglich einigen können? In der Regel eher nicht, wie das Beispiel kontrovers diskutierter Vorstellungen von Familienehre aufzeigt, die unterschiedlich über Einstellungen zum Sexualverhalten der Töchter definiert wird. Über den Bezirk der Ehre hinaus reichen Konventionen. Ein Blick zurück zeigt, dass die Anschauungen der Mehrheitsgesellschaft sich wandeln können: Interkonfessionelle Ehen galten noch vor wenigen Jahrzehnten als anrüchig, Homosexualität war ein Straftatbestand. In Deutschland diskutierte Konventionen von Minderheiten betreffen z. B. die folgenden Punkte: • Das Schächten von Tieren findet nicht die Zustimmung der deutschen Mehrheitsgesellschaft; gleichwohl geschieht es aus religiösen Gründen, zumal das Bundesverfassungsgericht die religiöse Praxis erlaubt hat. • Ebenso wenig erhält die Beschneidung von Jungen oder Mädchen im Judentum oder im Islam aus religiösen Konventionen die Zustimmung der hiesigen Mehrheitsgesellschafft. • Das Tragen des Kopftuches von muslimischen Frauen ist seit Jahrzehnten ein in Deutschland und Österreich umstrittenes Thema. Während es den Trägerinnen als Ausweis ihrer Identität gilt, halten andere - Muslima und andere - es für ein Zeichen der Unterdrückung oder des Wunsches, gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft ‚Andersheit‘ und ‚Ablehnung‘ zu signalisieren. Fazit: Gegenläufige Ehrauffassungen und Konventionen können spalten, sie schaffen Wir- und Sie-Gruppen. Konfliktpotenziale sind gegeben, Konflikte vorprogrammiert. Aufklärung tut not. Eine der klassischen Wir-Gruppen sind Religionsgemeinschaften, denn Religionen greifen in starker Weise auf die Wertekonstruktion von Menschen zu; und zwar in der Tendenz umso stärker, je weniger sie an Säkularisierung partizipierten. Andere wichtige Wir-Gruppen sind z. B. Nationen oder Ethnien. Bestimmte Wertesysteme hingegen beanspruchen universelle Gültigkeit. Am 10. Dezember 1948 verkündet die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als „das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“, das die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aller Menschen (Artikel 1) sowie das Verbot der Diskriminierung (Artikel 2) umfasst. Der hier formulierte Maßstab folgt einem universalistischen Anspruch, der einen Rahmen für ein weltweites friedliches Miteinander bieten soll und bereits in der Menschen- <?page no="20"?> 11 rechtserklärung der Französischen Revolution angelegt war. Die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen des Jahres 1789 jedoch wird kurze Zeit später von Olympe de Gouges dahingehend kritisiert, dass die Revolution die Frauen vergessen habe. Eine andere Infragestellung erfolgte in der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam , die 1990 etliche Werte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als Ausdruck eines individualistischen westlichen Denkens ablehnt. Angesichts dieser Beispiele stellt sich die Frage nach der Begründung und Begründbarkeit eines universellen Anspruchs der Menschenrechte für alle. Wer also den universellen Anspruch der Menschenrechte (aus guten Gründen) nicht aufgeben will, wird - um der friedlichen Koexistenz und der Vermeidung von Konflikten willen - gegenüber ihrer Relativierung eine kritische Toleranz praktizieren müssen. Im Bereich des deutschen Grundgesetzes ist eine solche Relativierung, welche die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte aufhebt, freilich verboten, weil verfassungsfeindlich. Diese Fragen sind auch für Erziehung und Unterricht relevant. Die Schule muss einerseits darauf vorbereiten, Fremdheit auszuhalten und aushalten zu wollen, andererseits zur Verfassungstreue erziehen. Dies erklärt, weshalb die Mehrkulturalitätsdidaktik stark auf Einstellungen und Volitionalität sowie auf politische Urteilkraft abhebt. Generell sind einstellungsbezogene, attitudinale und volitionale Ressourcen grundlegend für jegliche Kompetenzbildung. Ohne sie können Kompetenzen der Domänen von Wissen ( knowledge ) und Können ( can do ) nicht miteinander verbunden und aktiviert werden. Dies gilt auch für den Bereich der Mehrkulturalität. Betroffen sind hier 1.) das landeskundliche und das interkulturelle Faktenwissen ( knowledge, savoir ), 2.) das Wissen, wie man dieses Wissen zur Anwendung bringt ( savoir-faire, can do ), z. B. konkretes Handlungswissen im Umgang mit Fremdheit und heterokulturellen Personen praktizieren, 3.) schließlich das Wissen zur Selbststeuerung: Selbstaufmerksamkeit, Kontrolle der eigenen Einstellungen und Handlungen, der Wirkung von interkulturellen Erfahrungen bzw. des Perspektivenwechsels auf das Selbst, Empathie, Kritikfähigkeit gegenüber dem Eigenen und dem Fremden, Bereitschaft zur Revision von Vor-Urteilen ( attitudes, savoir-être ) (Byram 1997). Leider werden die Einstellungen im herkömmlichen Fremdsprachenunterricht vielfach wenig reflektiert, in interkulturellen Diskursen hingegen geschätzt. Anders als solche des Sprachenwachstums gehören interkulturelle Kompetenzen zu den schwer messbaren Kompetenzen (Frederking 2008) (↗ Art. 48, 49). Eine Möglichkeit der Evaluation eröffnet z. B. das Developmental Model of Intercultural Sensitivity (DMIS) von Milton Bennett (1993), das u. a. in der DESI- Studie verwendet wurde und das verschiedene Entwicklungsstufen von Ethnozentriertheit zu Ethnorelativierung erfasst. Neben diesem quantitativen Zugriff werden häufig eher qualitative Zugangsweisen favorisiert, die zudem auf der Binnenperspektive der Beteiligten aufbauen (z. B. die Autobiography of Intercultural Encounters , Council of Europe 2009). Einen Katalog von Deskriptoren bietet der RePA (↗ Art. 20). Qualitative Studien beschreiben sprachbiographische Erfahrungen (Franceschini 2004), Sprachenbilder, Kommunikation mit Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung, - um nur die hervorstechendsten Referenzbereiche anzuführen. Einleitung <?page no="21"?> 12 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner 2.5. Qualitätsentwicklung im sprachlich-kulturellen Lernfeld Spätestens seit der Teilnahme Deutschlands an den großen internationalen OECD-Vergleichsstudien im Bildungswesen bemüht sich das Land um empirisch belastbare Qualitätsstandards. Neben den traditionellen Maßnahmen - Richtlinien für den Unterricht, Abschlussprüfungen, Lehrerausbildung und eine entsprechende Aufsicht durch die Ministerien - sind Bildungsstandards Ausdruck dieser Orientierung. Qualitätsentwicklung setzt eine empirische Bildungsforschung (pädagogische Psychologie und Fachdidaktiken) voraus, die in der Lage ist, der politischen Steuerung des Bildungswesens wissenschaftliche Fundierung zu verleihen. Dass eine longitudinale Beobachtung von Unterrichtsprozessen im Kontext von Schule nur eingeschränkt möglich ist, erklärt, weshalb zurzeit im quantitativen Bereich vor allem sog. Leistungsstudien vorliegen, die das Ergebnis von Bildungsbemühungen messen. Deutlich seltener sind dagegen Erhebungen zu Unterrichtserlebnis, Lernerfahrungen und Lernabsichten (Meißner et al. 2008; in gewissem Umfang auch DESI). Dabei ist festzustellen, dass Deutschland einer ländervergleichenden Studie zum Jahr 2004 zufolge, was den Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe II betrifft, keine einheitliche Bildungslandschaft darstellt (Meißner & Lang 2005). Betroffen sind die Belegungen von Fremdsprachen und Kursen in der Sekundarstufe II. Eine erneute Erhebung ist im Jahre 2019 überfällig; zumal nie untersucht wurde, welche Folgen die signifikanten Unterschiede von Fremdsprachenbelegungen auf den weiteren Bildungsverlauf der Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Bundesländern hatten. Um im Bildungswesen Qualitätssicherung herzustellen ist es, da es sich um „große Systeme“ handelt - die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer an allgemeinbildenden Schulen beläuft sich im Schuljahr 2016/ 17 laut Statistica (2019) auf 763.304 Personen -, erforderlich, auch den Prozess der Einführung von Innovationen - z. B. die Interpretationen von Kompetenzorientierung und deren Umsetzung - zu auditieren. Erst solche longitudinal angelegten Prozessaudits lassen eine belastbare Aussage über die Realisierung von Qualitätsstandards zu. Dies fehlt allerdings nicht nur in Deutschland bis heute. Der späte Einsatz von Vergleichsstudien und die fehlende Prozessauditierung beeinträchtigen in erheblichem Maße Einsichten in die Qualität von Unterricht. 2.6. Sprachlernberatung Sprachlernberatung ist an den europäischen und nationalen Zielen des Fremdsprachenunterrichts orientiert, und zwar mit den Eckwerten „mehrsprachiges Minimum“, interkulturelles Lernen, interkulturelle Kommunikationsfähigkeit und Sprachlernkompetenz. Dies betrifft - gleichrangig - das Englische in seiner internationalen Rolle und die Mehrsprachigkeit. Qualitativ wie quantitativ stellt dies neue Anforderungen sowohl an das Schulwesen als auch an die Schülerinnen und Schüler sowie an die Lehrerschaft. In dieser Situation bietet die Erreichbarkeit der möglichen Zielsprache dank der Medien (Satelliten-TV und Internet) wirkungsvolle methodische Stützen (die sich erst erschließen, wenn man sie zu nutzen weiß). Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass schulischer Fremdsprachenunterricht schon wichtige Weichen für den Erwerb von Mehrsprachigkeit stellt. Denn der Unterricht lehrt nicht nur die Grundlagen einer neuen Sprache, <?page no="22"?> 13 sondern auch den Weg, sich fremde Sprachen anzueignen. Damit erwerben die Schüler ein Instrument, um auf die ihnen in ihrem erwachsenen Leben begegnende Vielsprachigkeit zu reagieren. Hier ist zu unterstreichen, dass die Bereitschaft des Erlernens fremder Sprachen schülerseitig deutschland- und EU-weit laut MES-Studie beeindruckend ist (Meißner et al. 2008: 74 u. 76). Das reale Schulfremdsprachenangebot kommt dem bei weitem nicht nach. Insbesondere fehlt weitgehend eine frühe Diversifizierung des Angebots, was den Studien bzgl. der Rolle von Sprachenfolgen eine breitere Solidifizierung verleihen würde. Eltern und Schüler sehen sich von den Regelungen der Schullaufbahn vor die Frage der Sprachenwahl gestellt. Damit treten sehr konkrete Fragen an sie heran: Welche Sprache soll als erste Fremdsprache gewählt werden? Welche als zweite? Vielleicht eine dritte? Welche Rolle spielt Latein für den Erwerb der modernen Mehrsprachigkeit? Wähle ich mit einer bestimmten Fremdsprachenkombination schon indirekt ein bestimmtes - z. B. west- oder osteuropäisches - Sprachenprofil? Welche Sprachen wähle ich in welcher Reihenfolge, um mögliche Synergien im Sinne der Lernökonomie auszuschöpfen und den Erwerb von Mehrsprachigkeit zu erleichtern? Und last but not least: Wie lernt man heute moderne Fremdsprachen? Wie kann man die Medien nutzen? Usw. usw. Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer sind immer wieder gehalten, solche und weitere Fragen zu beantworten. Sie benötigen hierzu gesichertes Wissen, im weitesten Sinne zur Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik, im engeren zu einer Vielzahl sehr konkreter Fragen zu den Lernern und dem Unterricht fremder Sprachen. Die Fremdsprachenverbände, insbesondere der Gesamtverband Moderne Fremdsprachen , sind auf dem Feld der Lehrerfortbildung aktiv. Dies berührt die Sprachlernberatung in erheblichem Maße. Natürlich verfolgen auch die Verbände eigene Interessen und der Vorwurf des Lobbyismus ist nicht immer ganz fern. Von einer Sprachlernberatung sind daher mehrere grundlegende Bedingungen zu verlangen: • Neutralität bzgl. der im begrenzten System des Schulwesens miteinander konkurrierenden Fremdsprachen, • Kenntnis des gesellschaftlichen Bedarfs an Fremdsprachenkenntnissen, • Kenntnis der Synergiepotenziale für den Erwerb unterschiedlicher Mehrsprachigkeitsprofile, • Kenntnis der Methoden, um die Synergiepotenziale zu nutzen, • Kenntnis des Fremdsprachenunterrichts auf unterschiedlichen Stufen und Schulformen (Primar- und Sekundarstufe), • Kenntnis der Zertifizierung von Sprachkenntnissen national und international. Das vorliegende Handbuch liefert zu diesen Punkten eine Fülle von Informationen. In diesem Sinne fungiert es auch als ein Instrument der Sprachlernberatung. 3. Struktur des Handbuchs Weder in der Mehrsprachigkeitsnoch in der Mehrkulturalitätsdidaktik gibt es den einen Diskurs. Dies folgt schon aus der Verschiedenheit der Referenzbereiche: autochthone Sprachen, Nachbarsprachen, Schulfremdsprachen, Muttersprachen, Herkunftssprachen, Alte und Neue Sprachen , lingua franca , globale Sprachen, regionale Sprachen, exotische Sprachen, Dialekte und Sprachen, offizielle Sprachen, Amtssprachen, ko-offizielle Sprachen, internationale Sprachen, Italienisch Einleitung <?page no="23"?> 14 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner nach Französisch, usw. Inhaltlich umfasst die Mehrkulturalitätsdidaktik die Referenzbereiche: Interkulturalität, Didaktik des Fremdverstehens, Transkulturalität, Multikulturalität, Plurikulturalität, Universalismus und Partikularismus, Antirassismus, Postkolonialismus, Diversität, dominante und marginalisierte Kulturen, kulturspezifische Kenntnisse, Handlungswissen und Einstellungen. Quasi jeder Bereich hat einen eigenen Diskurs. Sodann unterliegen natürlich auch die Diskurse selbst einer Entwicklung. Diese Heterogenität spiegelt den Aufbau des Handbuches mit den verschiedenen Abschnitten (von A bis O). Sie antwortet auf unterschiedliche Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Vielsprachigkeit, Mehrkulturalität und Vielkulturalität. Dabei ist einschränkend zu bemerken, dass das Handbuch auf den europäischen und speziell den deutschsprachigen Kontext ausgerichtet ist. Der Aufbau des Handbuchs umfasst die folgenden Abschnitte: A Sprachlichkeit und Kulturalität B Europäische Mehrsprachigkeits- und Fremdsprachenkonzepte C Mehrkulturalität in einer multilingualen und multikulturellen globalisierten Welt D Kompetenzprofile für Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität E Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität lehren F Didaktik der Mehrkulturalität G Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb H Mehrsprachigkeit und Interkomprehension I Mehrsprachigkeits- und Interkomprehensionsdidaktik J Der Erwerb spät erlernter Fremdsprachen K Englisch und Mehrsprachigkeit L Vielsprachige Umwelten und individuelle Mehrsprachigkeit M Herkunftssprachen und DaZ N Mehrsprachigkeit im bilingualen Sachfachunterricht in der Sekundarstufe O Autochthone Mehrsprachigkeiten Jeder Abschnitt besteht aus mehreren Artikeln, die aus unterschiedlichen Perspektiven berichten und unterschiedliche Sichtweisen ausleuchten. Die Struktur der Artikel folgt der ihnen eigenen Sachlogik, sodann aber den Merkmalen des Themas, Sachbericht, Forschungsstand und Relevanz für das Lehren und Lernen von Sprachen. Insgesamt spiegeln die in diesem Handbuch aufgenommenen Artikel den fremdsprachendidaktischen Diskurs um Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in ihren vielfältigen Bezügen: aktuelle gesellschaftliche, politische und pädagogische Fragen um Sprach- und Sprachenpolitik, Erst-, Zweit- und Fremdsprachen, Herkunftssprachen und lernrelevantes Sprachwissen, Spracherwerb und Integration, bilinguales Lernen, Sprachenwachstum und Kompetenzmessung, Kompetenzen und Methoden. * Mit der Vielfalt der Beiträge will dieses Handbuch den state of the art der Forschungen und die zahlreichen praktischen Erfahrungen und Perspektiven auf dem Feld der Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik darstellen und so einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Diskurse im Rahmen aktueller erziehungswissenschaftlicher, erst-, zweit- und fremdsprachendidaktischer, z.T. sachfachdidaktischer und allgemein gesellschaftspolitischer Fragen unserer Zeit leisten. <?page no="24"?> 15 Literatur Bennett, M. J. 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In Bezug auf das Konzept „Sprache“ setzen viele den Akzent nicht mehr auf Sprache als ein von anderen Sprachen abgrenzbares linguistisches System, das unabhängig vom Sprecher/ Lerner gedacht wird, sondern auf Sprache als Ressource bzw. Mehrsprachigkeit als integratives Repertoire der Lernenden, mit Hilfe dessen sprachlich gehandelt wird. Mit „Sprachlichkeit“ wird also ein subjektorientiertes Sprachkonzept zum Ausdruck gebracht. Ähnlich verhält es sich mit der Kategorie „Kultur“ bzw. „Kulturalität“. Während Kultur lange (und zum Teil auch heute) als ein abgrenzbares, beobachtbares System betrachtet und diesem i. d. R. ein gewisses Maß an Homogenität zugeschrieben wurde, verschiebt sich der Blick nun eher auf ein diskursiv-reflexives Verständnis von Kultur (↗ Art. 32), d. h. Kultur bzw. Kulturalität wird als Vermögen zur Sinn- und Bedeutungsstiftung und damit auch als gesellschaftliche Praxis verstanden (Gutmann 1998). Interessant und folgerichtig ist, dass im Laufe dieser epistemologischen Entwicklungen auch essentialistische Vorstellungen von Identität dekonstruiert wurden (↗ Art. 40). Darüber hinaus spielt Identität für sprachdidaktische Überlegungen eine immer wichtigere Rolle. Sowohl in interkulturellen Ansätzen (v. a. im europäischen Raum) als auch in sozio-kulturellen Ansätzen (u. a. im US-amerikanischen Raum) wird die Bedeutung von Identität für das Verständnis von Sprachlern- und -lehrprozessen stark hervorgehoben. 2. Sprachlichkeit Das Konzept „Sprachlichkeit“ - im Gegensatz zu „Sprache“ - beinhaltet vor allem drei Aspekte, die für die Didaktik der Sprachen und A Sprachlichkeit und Kulturalität <?page no="27"?> 18 AdelheidHu verwandte Forschungsbereiche von Bedeutung sind. Zum einen wird die Perspektive auf die Akteure gerichtet, d. h. Sprache wird nicht, wie in strukturalistischen Sprachauffassungen üblich, als vom Sprecher/ Lerner getrenntes „sprachliches System“ verstanden, sondern als soziale Praktik der Lernenden selbst und Teil ihrer Identität. Diese Positionierung beinhaltet eine Abwendung von vorrangig kognitiv-mentalistischen Auffassungen von Sprache bzw. Spracherwerb. Kennzeichnend hier ist etwa die einflussreiche Debatte um einen Artikel von Firth & Wagner (1997; 2007), in dem diese eine vorrangig kognitiv ausgerichtete Spracherwerbsforschung und damit einhergehende Konzepte wie z. B. das Konzept des native speaker , von interlanguage oder Input/ Output kritisieren und im Gegenzug ein poststrukturalistisches Konzept von Sprache bzw. Sprachenlernen/ Spracherwerb eingefordert hatten. Sprache wurde von ihnen nicht individualistisch, monolingual und formalistisch verstanden, sondern eindeutig praxeologisch, sozial und kontextgebunden (2007: 802). Wie später Pennycook (2010) feststellt: To look at language as a practice is to view language as an activity rather than a structure, as something we do rather than a system we draw on, as a material part of social and cultural life rather than an abstract entity. (Pennycook 2010: 2) Diese Position führte u. a. dazu, im deutschen Sprachraum von „Sprachlichkeit“ bzw. auch von „Spracherleben“ (Busch 2013: 18 ff.) zu sprechen und stärker in den Blick zu nehmen, wie Menschen - und zwar individuell wie auch kollektiv - Bedeutung und Bedeutungssysteme konstruieren, inszenieren oder erzählen. Die Lernenden werden als sinnstiftende, reflektierende und sich erinnernde Wesen verstanden (vgl. Hu 2013). Im englischsprachigen Raum spricht man zunehmend auch von „Languaging“ (Swain 2006), betont also durch die verbale Form den Handlungscharakter von Sprache. Eine zweite wichtige Dimension dieses soziokulturellen Verständnisses von Sprache bzw. Sprachlichkeit in Lehr-Lernzusammenhängen betrifft die Idee des Sprachenrepertoires. Mit Rückgriff auf Gumpertz (1964) und Bakhtin (1981) wird Sprachenrepertoire z. B. bei Busch folgendermaßen definiert (2013: 20): Das Repertoire wird als Ganzes begriffen, das jene Sprachen, Dialekte, Stile, Register, Codes und Routinen einschließt, die die Interaktion im Alltag charakterisieren. Es umfasst also die Gesamtheit der sprachlichen Mittel, die Sprecher_ innen einer Sprachgemeinschaft zur Verfügung stehen, um (soziale) Bedeutungen zu vermitteln. Dieses Konzept ist der bislang eingebürgerten Vorstellung von Monolingualismus diametral entgegengestellt, da es die scharfen Trennungen zwischen Einbzw. Zweisprachigkeit wie auch generell die Vorstellung von klar voneinander abgrenz- und zählbaren Sprachsystemen (L1, L2) aufbricht und auf grundsätzlich vorhandene „heteroglossische Ressourcen“ verweist (↗ Art. 2). Ein dritter wichtiger Aspekt betrifft den Zusammenhang von Sprache und Identität. Im angloamerikanischen Raum hat vor allem Norton auf die enge Verbindung von Sprachenlernen und Identität hingewiesen: Whereas some linguists may assume, as Noam Chomsky does, that questions of identity are not central to theories of language, we as L2 educators need to take this relationship seriously. The questions we ask necessarily assume that speech, speakers and social relationships are inseparable. <?page no="28"?> 19 1. Sprachlichkeit,Identität,Kulturalität […] In this view, every time language learners speak, they are not only exchanging information with their interlocutors, they are also constantly organizing and reorganizing a sense of who they are and how they relate to the social world. They are in other words, engaged in identity construction and negotiation. (Norton 1997: 410) Aus der Perspektive dieser soziokulturellen Theorien sind Sprachenlernende Mitglieder sozialer und historischer Gemeinschaften, die Sprache als dynamisches Werkzeug - nicht zuletzt zur Aushandlung von Identität - verwenden. Es ist bemerkenswert, dass die Entwicklungen in der Identitätstheorie und in den soziokulturellen Ausrichtungen von Spracherwerbsforschung (↗ Art. 51) und Didaktik der Sprachen durchaus konvergierende Züge aufweisen, wie im Folgenden dargestellt wird. 3. Identität Identität ist ein transdisziplinäres Konzept, das vor allem in den Geistes- und Humanwissenschaften und nicht zuletzt auch in der Mehrsprachigkeitsforschung und der Didaktik der Sprachen eine wichtige Rolle spielt. Drei Entwicklungsstränge in der Identitätstheorie sind - gerade in Bezug zum Thema „Sprachlichkeit“ - besonders hervorzuheben: die Dekonstruktion eines essentialistischen Subjektbzw. Identitätsbegriffs (↗ Art. 40), das Konzept der narrativen Identität sowie die Betonung der jeder Identität inhärenten Dynamik und Hybridität. Seit der nach-idealistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts und dem Beginn der Psychoanalyse setzt eine kritische Hinterfragung der Vorstellung eines rational-autonomen Subjekts ein (Nünning 2001: 613). Insbesondere poststrukturalistische Philosophen wie Jacques Lacan, Michel Foucault, Jean-François Lyotard und Jacques Derrida dekonstruieren die Vorstellung eines substanziell essentialistischen und selbstbestimmten Subjekts. Die Vorstellung von Identität im Sinne eines reifizierbaren Vorliegens eines Sachverhalts wird unhaltbar; Identität muss vielmehr als prinzipiell unvollständige und unvollendete Aspiration verstanden werden, […] als Fluchtpunkt einer sozialen Praxis, in deren Rahmen der Einzelne ins Verhältnis zu sich selbst tritt und sein Handeln am Horizont der gewünschten Autonomie des eigenen Selbst orientiert. (Straub 2004: 280) Bei Jacques Lacan z. B. wird die traditionelle Subjektvorstellung aus psychoanalytischer Perspektive in ein neues Licht gerückt. Die Rolle der Sprache gewinnt hier für die Genese des Subjekts einen zentralen Stellenwert: In der Lacanschen Entwicklungsgeschichte des Kleinkinds identifiziert sich das Kind noch vor dem Spracherwerb über sein Spiegelbild mit einem imaginären, ganzheitlichen und autonomen Ich (Spiegelstadium). Mit dem Spracherwerb erweist sich dieses Ich jedoch noch deutlicher als unerreichbar. Um ein soziales Subjekt werden zu können, muss der Einzelne in die von der Sprache verkörperte symbolische Ordnung eintreten, die seiner Existenz vorgängig ist und ihm nur dann die Möglichkeit bietet, sich auszudrücken und eine symbolische Identität anzunehmen […]. Darüber hinaus bedeutet der Eintritt in die Sprache eine Subjektspaltung. Das Ich, das spricht (sujet d‘ énonciation), ist ein anderes, als das Ich, das im Diskurs repräsentiert wird (sujet d’énoncé). (Nünning 2001: 613) Identität erscheint hier als der Ordnung des Imaginären zugehörig und stellt letztlich immer ein Trugbild dar. <?page no="29"?> 20 AdelheidHu Bei Michel Foucault handelt es sich hingegen weniger um eine psychoanalytische als um eine historisch begründete Kritik klassischer Subjektvorstellungen. Foucault geht von einem Subjektbegriff aus, der das Moment der Unterwerfung (lat. subicere = unterwerfen) ins Zentrum rückt und zwar der Unterwerfung der sprechenden Subjekte unter die Diskurse und der Unterwerfung der Diskurse unter die sprechenden Individuen (Foucault 1994, 246). Gegen die Idee der Voraussetzungslosigkeit von Sprache und sprachlich handelndem Subjekt stellt Foucault die Bedingungen für die Legalisierung von Diskursen ins Zentrum. In diesen Ansätzen innerhalb der Identitätstheorie spielt die Sprache - im Sinne von Diskurs - eine wichtige Rolle. In explizit narrativen Konzeptionen von Identität wird dieser Aspekt noch stärker hervorgehoben und die Verknüpfung von Selbst und Sprache in besonderer Weise betont, z. B. bei Jerome Bruner (1990), Anthony P. Kerby (1991), Alisdair Macintyre (1995) und Paul Ricoeur (1985). Während traditionellerweise das essenzielle Selbst der Sprache übergeordnet wurde, wird hier das Selbst als durch Sprache konstituiert verstanden: Our own existence cannot be separated from the account we can give of ourselves. It is in telling our own stories that we give ourselves an identity. We recognize ourselves in the stories that we tell about ourselves. It makes very little difference whether these stories are true or false, fiction as well as verifiable history provides us with an identity. (Ricoeur 1985: 214) Die eigene Identität wird also durch Geschichten konstituiert: On a narrative account, the self is to be construed not as a prelinguistic given that merely employs language, much as we might employ a tool, but rather as a product of language - what might be called the implied subject of self-referring utterances. (Kerby 1991: 4) Das Erzählen von Geschichten ist damit keine bloße Beschreibung von identitätsrelevanten Ereignissen, sondern eine komplexe Sprechhandlung mit psychosozialen Funktionen, wodurch ein performatives Wissen eigener Art zum Ausdruck gebracht wird (Straub 2004: 286). Der dritte wichtige Entwicklungsstrang, der in direktem Zusammenhang mit den bisher skizzierten Entwicklungen steht, betrifft die Konzeption „hybrider Identitäten“ (↗ Art. 100). In Abwendung von vereinfachenden Konzepten, die eine saubere Überlappung von Selbst, Sprache und kulturellem Ort implizieren, werden nun Subjekte als „mehrfach codierte, komplexe Identitäten“ (Bronfen & Marius 1997: 7) konzipiert, wobei diese Identitäten als narrative Leistungen verstanden werden. So z. B. bei Stuart Hall, einem der einflussreichen Theoretiker in diesem Kontext: Identities are never unified and in late modern times increasingly fragmented and fractured, never singular but multiply constructed across different often intersecting and antogonistic discourses, practices and positions. (1996: 4) 4. Kulturalität Nicht nur zwischen Sprachlichkeit und Identität bestehen somit enge Bezüge, auch in der jüngeren Kulturtheorie spielen Sprache und Identität eine zentrale Rolle. Zunächst einmal ist auch hier ist eine Abwendung von essentialisierenden und gleichzeitig eine Hinwendung zu diskursiv-reflexiven Konzeptionen von Kultur festzustellen (Bachmann-Medick 1996; Göller 2000; Hörning & Winter 1999). Weit- <?page no="30"?> 21 1. Sprachlichkeit,Identität,Kulturalität gehend Konsens herrscht etwa darüber, dass Kulturen nicht unabhängig von der Perspektive der Betrachter existieren. Auch die lange Zeit vorherrschende Vorstellung von Kulturen als kohärenten und voneinander abgrenzbaren Entitäten mit jeweils kulturspezifischen Charakteristika, die in Alltagstheorien durchaus immer noch lebendig ist, gilt weitgehend als obsolet. Eine auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Situation kristallisiert sich dabei heraus: Gerade in den letzten Jahren hat im Zusammenhang der kulturwissenschaftlichen Diskussion, die interdisziplinär alle Fächer der Humanwissenschaften umfasst, eine intensive Dekonstruktion der althergebrachten essentialistisch-objektivistischen Konzeptionen stattgefunden. Gleichzeitig aber entwickelt sich das Konzept Kultur zu einer Schlüsselkategorie, die als Basiskonzept grundlegend für jede verstehende Wissenschaft ist und gesellschaftliche Praxis als kulturelle Leistung begreift. Lawrence Grossberg pointiert diese aktuelle Situation zutreffend, wenn er sagt: „Cultural Studies müssen in gewisser Hinsicht darum ringen, der Kultur zu entfliehen, wenn sie die Macht der Kultur entdecken wollen“ (Grossberg 1999: 82). Kultur wird nicht als Form von Wissenssystem oder als Form von Vergesellschaftung begriffen, ebenso wenig als naturgegebener, fixierbarer Realitätsbereich. So heißt es zum Beispiel bei Mathias Gutmann aus der Perspektive der Kulturphilosophie: Als wesentliches Arbeitsergebnis der Rekonstruktion ergibt sich für den Kulturbegriff in seiner reflexiven Verwendung, dass missverständliche Formulierungen vermieden werden können. ,Wir’ leben weder in einer ,Kultur’, noch ,in einer Tradition’. (…) Eine wesentliche Aufgabe systematischer Philosophie der Kultur liegt demzufolge - unter Verzicht auf solche falschen Vertrautheiten - in der kritischen Analyse gesellschaftlicher Praxen als kultureller Leistungen. (Gutmann 1998: 329) Kultur wird also vielmehr als strukturierende, expressiv-ästhetische und deutende Praxis von Personen gesehen, als deren Vermögen, der Welt Bedeutung zu verleihen, Identitäten zu schaffen, aber auch Machtinteressen durchzusetzen. Hartmut Böhme definiert in seiner Einführung in die Kulturwissenschaften: Kultur erscheint als ein Prozess fortschreitender reflexiver Semantisierung, durch welche ununterbrochen Sinnressourcen geschaffen und distribuiert, aber auch subvertiert und zerstört werden. (Böhme 2012: 33) Böhmes Formulierung „reflexive Semantisierung“ impliziert bereits einen weiteren Aspekt, das Verhältnis von Kultur und Sprache , oder mit anderen Worten, Kultur als diskursive Praxis. Dazu noch einmal Stuart Hall: Eine nationale Kultur ist ein Diskurs, eine Weise, Bedeutungen zu konstruieren, die sowohl unsere Handlungen als auch unsere Auffassung von uns selbst beeinflusst und organisiert. (Hall 1994: 201) In diesem Verständnis sind Kultur und Sprache wiederum untrennbar miteinander verbunden. Sprache, die - verstanden in einem weiten semiotischen Sinne - Körpersprache, Musik, Stimme usw. mit einschließt, ist eines der wichtigen Medien, in denen kulturelle Praxis stattfindet. Auch aus der Perspektive der Kulturphilosophie wird dieser Aspekt betont, z. B. bei Thomas Göller: Menschliche Sinnstiftung, intra- oder interkulturelle Kommunikation und Interaktion wie auch menschliche Selbst-, Fremd- und Weltbezüglich- <?page no="31"?> 22 AdelheidHu keit bzw. menschlich-kulturale Sinnbestimmung überhaupt, ist in erster Linie an Sprache gebunden bzw. sprachlich vermittelt. Das gilt für alle Formen intrawie interkulturellen Austausches. (…) Sprache und Kultur sind aufs engste miteinander verwoben. (Göller 2000: 330 ff.) In deutlicher Parallele zum Identitätsdiskurs wird bei diesem reflexiven und diskursiven Kulturverständnis der Akzent weniger auf kollektiven Konsens gelegt. Jetzt stehen vielmehr Differenzen, Widerstreit, Synkretismus, Hybridität sowie idiosynkratische Deutungsmuster und Verarbeitungen im Mittelpunkt. Kultur wird nicht - wie bislang üblich - als „integrativer Kitt“ einer Gesellschaft (Hörning & Winter 1999: 8) gesehen, sondern im Gegenteil ist nun die Entlarvung von kultureller Homogenität als Inszenierung Ziel der reflexiv-kritischen Arbeit: Die in der Soziologie dominierende Auffassung, die Kultur in erster Linie nach der Gemeinsamkeit von Werten und Bedeutungen befragt und als integrativen ,Kitt’ der Gesellschaft vereinnahmt, weisen sie (die Cultural Studies , A.H.) zurück. (…) Kultur ist für die Cultural Studies nicht stabil, homogen und festgefügt, sondern durch Offenheit, Widersprüche, Aushandlung, Konflikt, Innovation und Widerstand gekennzeichnet. (…) Nicht die integrative Funktion von Kultur, sondern der Kampf um Bedeutungen’ (Lawrence Grossberg), der nie zu beendende Konflikt über Sinn und Wert von kulturellen Traditionen, Erfahrungen und Praktiken bestimmt ihre Analysen, die sich auf diese Weise den ,vermischten Verhältnissen’ der sich im raschen Wandel befindlichen Gesellschaften der Gegenwart stellen. (Hörning & Winter 1999: 9) Auch hier taucht wieder prominent die Metapher der Hybridität auf: Wenn, wie ich gesagt habe, der Akt kultureller Übertragung den Essentialismus einer vorher bestehenden, originären Kultur in Abrede stellt, dann erkennen wir, dass alle Formen von Kultur sich in einem andauernden Prozess der Hybridität, der Kreuzung und Vermischung, befinden. Für mich liegt die Bedeutung der Hybridität jedoch nicht darin, dass man sie auf zwei Ursprungselemente zurückführen könnte, aus denen das dritte entsteht, vielmehr ist die Hybridität für mich der ,dritte Raum’, aus dem heraus andere Positionen entstehen können. (Bhabha 1990: 211; hier zitiert nach Chambers 1996: 78) Statt Ursprung, Einheit, Reinheit und Zentriertheit von Kultur wird hier der Vermischung und dem Dazwischen Gewicht verliehen, was sich u. a. in einer veränderten Rhetorik und Metaphorik zeigt (vgl. Hu 2005). Auf der Basis des reflexiv-diskursiven Kulturbegriffs, der den Akzent einerseits auf Widerstreit, andererseits auf Vermischung legt, rückt der Aspekt der Macht ins Zentrum (vgl. Gilroy 1999; Grossberg 1999). Normative Kulturkonzepte werden als „metaphorisch-metonymische Vehikel zur Durchsetzung von Machtinteressen“ (Wägenbaur 1995: 23) erkannt. Typisierende und objektivierende kulturelle Abgrenzungen können auf dieser Basis als rhetorische Mittel zum Erreichen dieser Ziele beschrieben bzw. - im Sinne kritischer Diskursanalyse - kritisiert werden. Dazu noch einmal Hall: Wir sollten nationale Kulturen nicht als etwas Einheitliches, sondern als einen diskursiven Entwurf denken, der Differenz als Einheit oder Identität herstellt. Sie sind von tiefen inneren Spaltungen und Differenzen durchzogen und nur durch die Ausübung ,kultureller Macht ‘ ,vereinigt‘. (Hall 1994: 206) <?page no="32"?> 23 1. Sprachlichkeit,Identität,Kulturalität 5. Fazit Bei Sprache/ Sprachlichkeit, Identität sowie Kultur/ Kulturalität handelt es sich um Kernkonzepte der Human- und Sozialwissenschaften, insbesondere auch für pädagogische und sprachdidaktische Forschungsbereiche. Im Zuge poststrukturalistischen Denkens und den damit einhergehenden epistemologischen Neuorientierungen kristallisiert sich zunehmend die Interdependenz dieser drei Konzepte heraus. Sprache - nun verstanden als soziale Praxis - bildet in dieser Sichtweise die Wirklichkeit nicht ab, sondern erschafft diese. Gleichzeitig werden Sprachen nicht mehr als trennbare systemische Einheiten verstanden, sondern als heteroglossische Ressourcen von Personen. Essentialisierende Vorstellungen von Identität werden dekonstruiert und dagegen im Sinne narrativer, also sprachlich-diskursiv hervorgebrachter Identitäten konzeptionalisiert. Auch hier wird der Akzent zudem auf die grundsätzliche Hybridität von Identität gelegt. Das gleiche gilt für Kultur bzw. Kulturen. Kultur und Sprache werden in engster Verbindung gesehen, und normative Kulturkonzepte als Strategie zur Durchsetzung von Machtinteressen interpretiert. Zudem wird auch hier der Fokus auf Vermischung, intrakulturelle Differenzen und Widerstreit bzw. den Inszenierungscharakter von Homogenität gelegt (↗ Art. 40). Für aktuelle Positionen innerhalb der Mehrsprachigkeitsforschung waren diese Entwicklungen von großer Bedeutung. So sind die Vorstellungen etwa von plurilinguisme (im Gegensatz zu additiv verstandenem multilinguisme “ (z. B. bei Coste, Moore & Zarate 2009) (↗ Art. 18, 19), die Theorie des Translanguaging (z. B. bei Garcia & Li 2014), aber auch Theorieentwicklungen in der Mehrkulturalitätsforschung, etwa die Konzeption von Transkulturalität (z. B. bei Welsch 1997) durch die veränderten Verständnisweisen von Sprache, Kultur und Identität geprägt. Literatur Bakhtin, M. (1981): The dialogic Imagination. Four Essays by M.M. Bakhtin . Austin. Bhabha, H. (1990): Nation and Narration . London. Böhme, H. (2012): Kulturwissenschaft. In: R. Konersmann (Hrsg.): Handbuch Kulturphilosophie . Stuttgart/ Weimar, 31-38. Bronfen, E. & Marius, B. (1997): Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismus-Debatte. In: E. Bronfen, B. Marius & T. Steffen (Hrsg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismus-Debatte . Tübingen, 1-30. Bruner, J. (1990): Acts of Meaning . Cambridge, Mass. Busch, B. (2013): Mehrsprachigkeit . Wien. Chambers, I. 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Spracherwerb ist immer individuell, idiosynkratisch, dynamisch und sozial geprägt. Er setzt frei nach Chomsky neben einem Spracherwerbsapparat ( language acquisition device , LAD) soziale Interaktion, ein social support system (LASS), zwischen einem Erwerber und weiteren beteiligten Personen voraus. Auch diese sind natürlich durch ihre jeweilige Sozialisation geprägt und Träger von Idiolekten. Die mentale Verarbeitung von Sprache ist nicht einseitig erwerbsfixiert: Sprachkompetenz kann sich auch zurückbilden (vgl. Attrition). Wie die Lernpsychologie zwischen intentionalen und inzidentiellem Lernen trennt, so unterscheiden Erst- und Zweitsprachenerwerbsforschung unter dem Dachbegriff der Appropriation zwischen dem nicht initial intentionierten Erwerb ( acquisition ) und dem stärker institutionell unterstützten und/ oder individuell intentionierten Lernen ( apprentissage ). Natürlich verfügen beide Akquisitionswege über gemeinsame Schnittmengen. Erwerben durch Sprachkontakt bzw. interkulturelle Kommunikation ist prinzipiell in jedem Alter möglich, ob durch eine konkrete Erwerbsabsicht unterstützt oder nicht (Busch 2016). In spracherwerbstheoretischer Sicht erscheint es sinnvoll, Sprachkontaktsituationen danach zu taxieren, inwieweit sie ungesteuert oder unfokussiert, implizit und unbewusst ablaufen. Ein weiterer wichtiger Parameter ist der Grad an Freiwilligkeit bzw. Gezwungenheit, welcher als Ausgangspunkt für die Sprachkontaktsituation dient. Auch hier gibt es fließende Übergänge und die Möglichkeit des Gleitens von einem Modus in den anderen im Verlauf der Beschäftigung (Sprachnutzung, Sprachenbewusstheit) mit Sprachen; und zwar in bivalenten Richtungen, etwa hin zu einer stärkeren Motiviertheit zugunsten des Erwerbs einer Sprache oder aber zu einer Ausbildung einer wachsenden Aversion. Die Kreolistik zeigt uns, dass gerade auch ‚verbotene Sprachen‘ oft recht leicht gelernt werden, weil die Existenz von Hürden und Hindernissen die Motivation zum Lernen anregen kann (Ehrhart 2012). Insbesondere das oft versteckte sprachliche Potential der Arbeitswelt (mit Machtstrukturen für die multinationalen Betriebe, welche denen von Staaten durchaus ähneln können) ist in letzter Zeit in den Fokus des Interesses gerückt (↗ Art. 24); nicht nur in den Sprach-, sondern auch den Wirtschaftswissenschaften (Barner-Rasmussen et al. 2014). Über eine sinnvolle Verwendung der Mehrsprachigkeit im Bereich der internationalen Forschung (Steyaert & Janssens 2012) sowie im Rahmen von europäischen oder internationalen Institutionen (Gazzola & Grin 2013) und in der Weltpolitik (Ricento 2015) wird ebenfalls diskutiert (↗ Art. 9). Seit einigen Jahren wird auch immer mehr die Verbindung zwischen Migration bzw. Mobilität einerseits (Pellerin 2011) und dem Sprachwandel durch zunehmenden Sprachkontakt andererseits herausgestellt (Krefeld 2004; Stehl 2005; Garcίa 2009). Rezente Forschungen zum Postkolonialismus und den jüngsten Migrationsbewegungen zwischen dem Nahen Osten und Mittelbzw. Westeuro- <?page no="35"?> 26 SabineEhrhart pa und deren Bezug zum sprachlichen Handeln führen diese Gedanken weiter (z. B. Kalocsányiová 2017). Die neuesten europäischen Richtlinien mit einer Erweiterung des weithin bekannten Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR) des Europarats von 2001 unterstreichen die Notwendigkeit einer plurilingualen und plurikulturellen Kompetenz für die Bürger der Europäischen Union und darüber hinaus (Council of Europe 2018) (↗ Art. 18). Dieses neue und in seiner allgemeinen Ausrichtung nicht unumstrittene Dokument ersetzt die Zielvorstellung des native speakers durch die mehrsprachige Person, welche mit den sprachlichen und kulturellen Verhaltensweisen eines Landes vertraut ist (North & Piccardo 2016: 47). All diese Entwicklungen in Richtung einer immer stärkeren Fluidität des Raumes und einer wachsenden Mobilität der Sprechergruppen müssen in aktuellen Studien berücksichtigt werden, sodass eine klare Unterscheidung zwischen territorialer (im Raum verankerter) und gesellschaftlicher (in den Sprechergemeinschaften verankerter) Mehrsprachigkeit immer weniger möglich sein wird. Die aktuelle Grenzraumdidaktik beschäftigt sich mit derlei Fragen. Dabei sollten die vielfältigen Gegenreaktionen mit einbezogen werden - so die erneute Verstärkung von nationalen Grenzen, welche in der jüngsten Vergangenheit zu beobachten ist. Spolsky 2009 nennt die Bereiche, in welchen sich Sprachkontaktphänomene finden lassen, das sind die Familie im weiteren Sinn (family language policy) , religiöse und kulturelle Vereinigungen, Arbeitsbeziehungen und Handel, der öffentliche Raum, das Gesundheitswesen und das Militär sowie die Verwaltung, die Forschung und das Erziehungswesen auf allen Stufen. Die Diglossie bezeichnet mehrsprachige Situationen mit Sprachgruppen, welche über ein unterschiedliches politisches und gesellschaftliches Gewicht verfügen, auch hier sind oft keine klaren Abgrenzungen mehr festzustellen, die Übergänge sind eher fließend und aushandelbar. Im Sinne der Sprachökologie (Fill & Mühlhäusler 2001; Fill & Penz 2018) ist es nicht von Bedeutung, streng zwischen der individuellen Entstehung der allgemeinen Sprachfähigkeit und der spezifischen Ausbildung von Kenntnissen in einer oder mehreren Sprachen zu trennen. Jedes Inviduum entwickelt das sprachliche Repertoire, welches an seine Umgebung angepasst und dort auch stimmig ist; sei dies aus geografischer, sozialer, kultureller oder politischer Sicht. Es gibt kein Sprachenrepertoire, welches völlig einem anderen gleicht, es ist Folge individueller Lebenswege und bleibt ein Leben lang in Bewegung und in Kontakt mit den jeweiligen wechselnden Umwelten. Kein Mensch ist völlig einsprachig, er verfügt auf jeden Fall über verschiedene Register, diatopische, diastratische und diaphasische Varianten bzw. Soziolekte; gleichzeitig kann man auch die innere Mehrsprachigkeit einer jeden Sprache beobachten, die sich jeweils aus Elementen verschiedenster Herkunft zusammensetzt. Sprache und Nation sind seit dem Beginn der Sprachwissenschaft fast immer als untrennbares Paar aufgetreten (↗ Art. 10, 11). In den letzten Jahrzehnten wurde diese Verbindung immer stärker in Frage gestellt, zunächst durch die Soziolinguisten, welche auf die Bedeutung von Varietäten hinwiesen, die keine Armee, keine Akademie oder kein Erziehungssystem als Stütze hinter sich hatten und welche zahlenmäßig oder auch nur symbolisch schwächer waren als die groβen, mit den Nationalstaaten identifizierten und von diesen geschützten Sprachen. Neue kritische Anstöße kommen nun vor allem durch Autoren, die mit anderen Kultur- <?page no="36"?> 27 2. Staatliche(kollektive)undindividuelleMehrsprachigkeit kreisen und nicht nur dem europäisch-nordamerikanischen Raum in Verbindung stehen wie Pennycook und Otsuji (2015) oder Makoni und Pennycook (2007): sie dekonstruieren das Konzept von Sprache allgemein und sehen eher ein Mosaik an Äuβerungen, deren Verständlichkeit durch komplexe Austarierungsprozesse oder auch Akkomodationsprozesse gewährleistet wird, bei denen sich alle Partner auf die anderen einstellen, es wird nicht nur einseitig ein Integrationswille verlangt. Diese Beobachtungen in Räumen mit intensivem Sprachkontakt werden im Rahmen der Globalisierung immer repräsentativer für die Gesamtheit der Kommunikationssituationen auf der Welt. Ehrhart und Mühlhäusler oder Garcίa unterstreichen die Rolle von kleineren Sprechereinheiten als der Nation, den speech communities ; gerade aufgrund ihrer persönlichen Migrationserfahrung sehen sie auch die Dynamik von Sprecherbiografien, sie zeigen durch ihre Forschungen ebenfalls, dass man sich auch zu mehreren Gemeinschaften (hintereinander oder auch gleichzeitig) zugehörig fühlen kann. Der monolinguale Habitus (nach Gogolin 1994) ist oft nur ein Ausblenden oder sogar ein bewusstes Verdecken der tatsächlich überall auf der Welt herrschenden sprachlichen Diversität. Es wird immer klarer, dass diese Vielfalt auch in Ländern existiert, die offiziell als einsprachig ausgewiesen werden (hier werden häufig Frankreich und Spanien genannt, für beide jedoch auch schon mit sehr unterschiedlichen Sprachenpolitiken), nur ist sie da verdeckter als in z. B. Luxemburg oder in Kanada, welche einige (aber nicht alle) im Land gesprochenen Sprachen auf staatlicher Ebene ausweisen. Die Gleichung „Sprache entspricht Nation“ wird somit durch die innere Vielfalt der Länder aufgebrochen, und ebenfalls durch die Existenz von Ländern, welche sich eine gemeinsame Sprache oder Varietäten davon teilen. Fragestellungen dieser Art sind Inhalt der in ihrer Bedeutung stark anwachsenden Grenz(sprachen)didaktik (↗ Art. 101). Andererseits ist Sprache nicht der einzige verbindende Faktor für politische und soziale Einheiten: die Arbeiten von Canagarajah und Wurr (2011) eröffnen über die erziehungspolitischen Aspekte der Sprachen hinaus neue Perspektiven. So zitieren sie Kubachdanis Beschreibung des vielsprachigen Indiens, in dem ein Gemeinschaftsgefühl nicht unbedingt durch eine gemeinsame Sprache entstehen muss, es kann sich vielmehr auch allein durch das gemeinsam bewohnte und bewirtschaftete Land entwickeln. Dies erinnert an die Veröffentlichungen von Hartmut Rosa (2007), der den in letzter Zeit sehr strapazierten Begriff der Heimat wissenschaftlich neutraler als „eine Umgebung, die ich mir anvertraut habe“ definiert. Caroline Patzelt zeichnet ein eindrucksvolles Bild von “Sprachdynamiken in modernen Migrationsgesellschaften“ anhand ihrer Beschreibung der sehr mobilen Gesellschaft von Französisch-Guayana mit einer sprachlichen Vielfalt, welche „mit traditionellen soziolinguistischen Modellen nicht erklärbar scheint und die auch verschiedene Minderheitensprachen mit oftmals geringer Anzahl an L1-Sprechern dauerhaft erhält, wie diese Vielsprachigkeit im Alltag einer multikulturellen und -lingualen Gesellschaft konkret funktioniert und inwiefern auch solch komplexe sprachliche border -Konstellationen möglicherweise einer gewissen Regelhaftigkeit bzw. Systematik unterliegen“ (2016: 3, ohne Fuβnoten). Sie weist darauf hin, dass in diesen fluiden Gesellschaften „Stabilität durch Mobilität“ (S. 177) erreicht werden kann. Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass die traditionelle Aufteilung in plurilinguisme <?page no="37"?> 28 SabineEhrhart als Mehrsprachigkeit des Individuums und multilinguisme als Mehrsprachigkeit auf territorialer, gesellschaftlicher oder kollektiver Ebene nicht mehr ausreicht. Auch die Erweiterung in den Einleitungskapiteln des Referenzrahmens von 2001, welcher Multilingualismus als eine getrennte Behandlung von Sprachen dem Plurilingualismu s und seiner holistischen Sicht einer Sprachenlandschaft mit unter sich vernetzten Sprachen entgegensetzt (die englische Sprache unterschied lange Zeit überhaupt nicht und verwendete für alle beide multilingualism ), ist nicht mehr ausreichend (↗ Art. 18). Für Situationen mit ausgeprägtem Sprachkontakt und einer engen Verknüpfung zwischen dem individuellen und dem kollektiven Bereich schlagen wir daher den Begriff multiplurilingue vor (Bes & Ehrhart, in Vorbereitung). Diese hochgradig mehrsprachigen Kontexte werden heute noch häufig als Ausnahmesituationen betrachtet, in der Gesellschaft der Zukunft werden sie jedoch die Regel sein. Literatur Busch, B. (2016): Gehört werden. Sprachrepertoire und Spracherleben im Zeichen sozialer Exklusion. In: Forschung Sprache 2, 37-48. Barner-Rasmussen, W., Ehrnrooth, M., Koveshnikov, A. & Mäkelä, K. (2014): Cultural and Language Skills as Resources for Boundary Spanning within the MNC. In: Journal of International Business Studies 45/ 7, 886-905. Bes, A. & Ehrhart, S. (in Vorb.): A Multiplurilingual Space for Language Education. How can Teacher Education respond to the Linguistic and Cultural Diversity in a Given Place? In: Voces y Silencios . Bogotá. Canagarajah, A. S. & Wurr, A. J. (2011): Multilingual Communication and Language Acquisition: New Research Directions. In: The Reading Matrix 11/ 1, 1-15. Council of Europe (Hrsg.) (2018): Companion Volume with New Descriptors / Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs . [www.coe.int/ lang-cefr]. Council of Europe (2018): CEFR Companion Volume with New Descriptors . In: North & Piccardo (2016). Ehrhart, S. (2012): L’écologie des langues de contact . Paris. Ehrhart, S. & Mühlhäusler, P. (2007): Pidgins and Creoles in the Pacific. In: O. Miyaoka, O. Sakiyama & M. E. Krauss (Hrsg): The Vanishing Languages of the Pacific Rim . Oxford, 118-143. Fill, A. & Mühlhäusler, P. (Hrsg.) (2001): The Ecolinguistics Reader . London. Fill, A. & Penz, H. (Hrsg.) (2018): The Routledge Handbook of Ecolinguistics . New York. Gardou, C. (2013): Fragments sur le handicap et la vulnérabilité . Toulouse. García, O. (2009): Bilingual Education in the 21st-Century - A Global Perspective . New York. Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen . München, Berlin. Gazzola, M. & Grin, F. (2013): Is ELF more Effective and Fair than Translation? An Evaluation of the EU’s Multilingual Regime. In: International Journal of Applied Linguistics 23/ 1, 93-107. Gogolin, I. (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule . Münster. Kalocsányiová, E. (2017): Towards a Repertoire-Building Approach: Multilingualism in Language Classes for Refugees in Luxembourg. In: Language and Intercultural Communication 17/ 4, 474-493. Krefeld, T. (2004): Einführung in die Migrationslinguistik . Tübingen. Langinier, H., Barner-Rasmussen, W. & Ehrhart, S. (in Vorbereitung): Introduction of a Common Corporate Language: Experiences <?page no="38"?> 29 3. MehrsprachigkeitinEinwanderungsgesellschaften of a Best-Practice Scenario. In: Publications of GEM&L . Paris, Toulouse. Makoni, S. & Pennycook, A. (2007): Disinventing and Reconstituting Languages . Clevedon. North, B. & Piccardo, E. (2016): Developing Illustrative Descriptors of Aspects of Mediation for the CEFR . Strasbourg. Patzelt, C. (2016): Sprachdynamiken in modernen Migrationsgesellschaften . Stuttgart. Pellerin, H. (2011): De la migration à la mobilité: changement de paradigme dans la gestion migratoire. Le cas du Canada. In: Revue Européenne des migrations internationales 27/ 2, 57-75. Pennycook, A. & Otsuji, E (2015): Metrolingualism. Language in the City . Routledge. Ricento, T (2015): Language Policy and Political Economy. English in a Global Context . Oxford. Rosa, H. (2007): Heimat im Zeitalter der Globalisierung. In: Der Blaue Reiter - Journal für Philosophie 23, 13-18. Spolsky, B. (2009): Language Management . Cambridge, New York. Stehl, T. (2005): Unsichtbare Hand und Sprecherwahl. Typologie und Prozesse des Sprachwandels in der Romania . Tübingen. Steyaert, C. & Janssens, M. (2012): Multilingual Scholarship and the Paradox of Translation and Language in Management and Organization Studies. In: Organization 20/ 1, 131-142. Sabine Ehrhart 3. Mehrsprachigkeit in Einwanderungsgesellschaften 1. Begriffliche und historische Einordnung Eine Darstellung von Mehrsprachigkeit in Einwanderungsgesellschaften sieht sich mit einer kaum überschaubaren Vielfalt an Phänomenen und Fragestellungen konfrontiert. Dennoch lassen sich einige Konzepte identifizieren, die sowohl im Fokus der Migrationsforschung als auch der Mehrsprachigkeitsforschung stehen. Die dabei zentrale Frage ist die nach der sprachlichen Integration von MigrantInnen in der Einwanderungsgesellschaft (↗ 105) und den Möglichkeiten ihrer Partizipation an den gesellschaftlichen Ressourcen (vgl. Maas 2008). Integration und Partizipation werden maßgeblich durch die Sprachpolitik staatlicher und suprastaatlicher Akteure, durch das sprachliche/ soziale Handeln in Kindergärten, Schulen, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Vereinen etc. bestimmt. Insbesondere seit 2015 diskutieren die Länder der Europäischen Union gleichermaßen intensiv wie kontrovers „die Flüchtlingskrise“ und erzeugen hierbei den Eindruck, es handle sich um eine historische Ausnahmesituation. Dabei wird übersehen, dass Wanderungsbewegungen seit jeher Teil der europäischen Geschichte sind und Europa weit massivere Bevölkerungsverschiebungen erlebte als jene der Gegenwart (vgl. Bade et al. 2010). Umwelt- und humanitäre Katastrophen, Kriege, Gewalt, Vertreibungen, Armut und Hunger sorgen ihrerseits dafür, dass überall auf der Welt Menschen migrieren und potentiell jede Gesellschaft von Einwanderung wie von Auswanderung betroffen ist. Im Zuge des Kolo- <?page no="39"?> 30 JürgenErfurt nialismus entstanden einige der als klassisch verstandenen Einwanderungsländer wie die USA, Kanada oder Australien. Während ein Land wie Israel sozusagen per se eine vielsprachige Einwanderungsgesellschaft darstellt, geht in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, allen empirischen Befunden zu Ein- und Auswanderung zum Trotz, die Leitidee des Nationalstaats - ein Volk, ein Staat, eine Sprache - mit der politischen Ablehnung der Anerkennung und Gestaltung von Einwanderung einher (↗ Art. 10). Erst mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 zeichnet sich hier eine andere Wahrnehmung von Gesellschaft und Immigration ab. 2. Sprachregimes und Strategien des Konfliktmanagements Migration geht geradezu zwangsläufig mit dem Anwachsen sprachlicher Diversität in gesellschaftlichen Räumen einher (↗ Art. 100). Mit Coulmas (2005) wird unter Sprachregimes ein Bündel von Gewohnheiten, rechtlichen Regulierungen und Ideologien verstanden, die je nach sozialem Raum die Praxis der SprecherInnen in der Wahl der sprachlichen Mittel beschränken. Busch (2013: 135) verweist zudem darauf, dass es hierbei nicht nur um normative Regulierungen von Sprache, sondern auch um die Ungleichheit in der Verteilung von Ressourcen und Macht geht (↗ Art. 38). Sprachliche Integration und Partizipation unterliegen den jeweiligen Sprachregimes, die ihrerseits wiederum Einfluss darauf haben, wie sich das sprachliche Repertoire von ImmigrantInnen und MigrantInnen verändert. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Australien war die Zeit der Masseneinwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg aus nicht-englischsprachigen Ländern von einer konsequenten Assimilierungspolitik zugunsten eines einsprachigen Australiens gekennzeichnet. Andere Sprachen als Englisch waren in öffentlichen Räumen, in den Medien, im Buchbestand öffentlicher Bibliotheken usw. weitgehend ausgeschlossen; ImmigrantInnen sollten so bald wie möglich Englisch lernen und „so wie wir“ werden (Clyne 2003). Gegen die auf Einsprachigkeit in Englisch ausgerichtete Assimilierungspolitik und zugleich gegen die repressive und rassistische Minderheitenpolitik richtete sich in Australien, und sukzessiv in vielen anderen Ländern seit den 1970er Jahren, die Politik des Multikulturalismus. Sie wurde 1971 zuerst in Kanada offiziell eingeführt und avancierte hier zum gleichermaßen komplementären wie konkurrierenden Prinzip der offiziellen Zweisprachigkeit und der Bikulturalität. Zwar öffnet der Multikulturalismus mit der Anerkennung der Herkunftskulturen gewisse Räume für mehrsprachige Praktiken, hinter dem Rücken der Beteiligten setzt sich aber, wie die sprachlichen Verhältnisse im anglophonen Kanada zeigen, das Englische als dominante Sprache durch. Gegen die Politik des Multikulturalismus wenden sich das Konzept und die Politik der Interkulturalität, die im Sinne von Integration und Partizipation nicht mehr nur die Toleranz und das Nebeneinander der Kulturen und Sprachen, sondern das Miteinander und den Austausch favorisieren. Die Förderung interkultureller Kompetenzen zielt dabei auf das kulturelle Selbst- und Fremdverstehen und auf das Erlernen von an Mehrsprachigkeit orientierten Strategien (↗ Art. 44), ohne das Erfordernis einer gemeinsam verfügbaren Sprache in öffentlichen Räumen in Frage zu stellen. <?page no="40"?> 31 3. MehrsprachigkeitinEinwanderungsgesellschaften 3. Familie und Schule Mehrsprachigkeit in der Familie als primäre Sozialisationsinstanz für die darin aufwachsenden Kinder (↗ Art. 52) resultiert in der Regel entweder daraus, dass in einer Gesellschaft zwei oder mehrere Sprachen koexistieren und sie so auch in die Familienkommunikation hineinreichen, oder mindestens einer der Partner unter Migrationsverhältnissen lebt und seine Herkunftssprache(n) oder Zweitsprache(n) in der Erziehung der Kinder praktiziert. Im Kontext von Mehrsprachigkeit bedeutet Familiensprache oft jene für die Zwecke der mündlichen Kommunikation und des intimen und informellen Registers verwendete Sprache des Alltags, die - weltweit betrachtet - überwiegend eine andere ist als jene, in der die schriftsprachliche Sozialisation erfolgt. Elementare Aufgabe jeder Schule ist es, dass die Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Im Zuge der nationalstaatlichen Entwicklung erfolgt das Lernen in der Regel in der - oder ggf. in einer - Nationalsprache, somit im Modus der Einsprachigkeit. Für das schulische Erlernen weiterer Sprachen fand und findet dabei traditionell das Konzept der ‚Fremdsprache‘ Anwendung, dessen Sinn in vielsprachigen Migrationsgesellschaften jedoch in Frage zu stellen ist. Für Kinder, die bis zum Eintritt in die Schule nicht mit der Nationalsprache vertraut sind (↗ Art. 54), galt - und gilt auch heute noch - das Prinzip der Submersion , d. h. sie werden in die regulären Klassen eingeschult, indem darauf vertraut wird, dass sie im Kontakt mit ihren MitschülerInnen die Schulsprache erlernen. Seit den 1960er Jahren mehren sich die Versuche, der sprachlichen Diversität in den Gesellschaften dadurch Rechnung zu tragen, dass Modelle der Immersion erprobt werden. Hierbei werden SchülerInnen, deren Herkunftssprache eine andere ist als die Sprache der Schule, pädagogisch kontrolliert, vollständig oder teilweise in der Sprache der Schule unterrichtet. Dieses Modell verbleibt im Prinzip im Modus der Einsprachigkeit, es zielt aber auf die Förderung von Zweisprachigkeit. Zweisprachige Modelle sind hingegen solche, in denen das Curriculum in zwei Sprachen dargeboten wird. Im transitorischen Modell werden homogene Klassen für eine gewisse Zeit in der Herkunftssprache der Kinder unterrichtet und ihnen zunehmend Unterricht in der Zweitsprache erteilt, bis sie, meist nach zwei bis sechs Jahren, in die regulären Klassen übergehen. Im Language-maintenance-Modell wird die Herkunftssprache der Kinder bzw. die Sprache des „kulturellen Erbes“ (‚heritage language‘) während der gesamten Schulzeit als Medium eines wesentlichen Teils des Curriculums neben der dominanten Sprache verwendet. Dagegen werden im Modell der reziproken Immersion ( Two-Way-Immersion ) SchülerInnen verschiedener Sprachgruppen, meist je zur Hälfte aus Einheimischen und aus einer Migrantensprachgemeinschaft, in beiden Sprachen unterrichtet. Die Zweisprachigkeit wird in der gesamten Schulzeit verfolgt und hierbei lebensweltliche Sprachpraxis mit der bildungssprachlichen verbunden (ausführlich dazu Reich & Roth et al. 2002). 4. Sprachloyalität und Sprachumstellung Für Menschen, die sich in anderssprachigen Räumen niederlassen, stellt sich notwendig die Frage, wie sie einerseits die gesellschaftlich dominante Sprache für eine differenzierte Lebenspraxis erlernen können und andererseits, wie sie mit der Sprache oder den Sprachen, die ihre bisherige Biographie geprägt hat oder <?page no="41"?> 32 JürgenErfurt haben, umgehen sollen und wie funktional diese Sprachen in der neuen Umwelt noch sind. Die beiden Begriffe Sprachloyalität und Sprachumstellung (vgl. Fishmann et al. 1966) markieren die Pole einer Achse im Sprachverhalten von Migrantinnen und Migranten zwischen Erhalt ihrer Herkunftssprache(n) und der sprachlichen Akkulturation unter den sprachlichen Dominanzverhältnissen des Ziellandes (↗ Art. 106). Sprachloyalität ist dabei häufig ein Aspekt eines ganzen Bündels von identitätsbezogenen Merkmalen. Insbesondere bei Gemeinschaften, die in der Diaspora leben, verbindet sich religiös motivierte Abgrenzung mit dem Erhalt von erlernten sozialen Normen und der Praxis ihrer Herkunftsbzw. Gemeinschaftssprache. Quer zu dieser Achse verläuft als andere Achse die des sprachlichen Ausbaus, verbunden mit der Frage nach dem Erlernen von sprachlichen Formen, Strukturen und Normen, die eine differenziertere Sprachpraxis als jene der familiär tradierten und mündlich geprägten Nähe-Kommunikation ermöglichen. Der sprachliche Ausbau erstreckt sich somit vor allem auf das Erlernen der auch für die Distanz-Kommunikation erforderlichen Ressourcen des formellen Registers, wie es sich im Medium der Schriftsprache entfaltet und auf diese Weise den Zugang zur Sprache der gesellschaftlichen Verwaltung, des Rechts, der Literatur, der religiösen Texte, der Wissenschaft etc. ermöglicht. Loyalität zur Herkunftssprache und -kultur stellt im Kontext von Migration zunächst eine individuelle Entscheidung dar, die eigene Sprache weiterhin zu kultivieren und als kulturelle Ressource zu nutzen, wie es nicht nur für die sprachlichen und oftmals religiös geprägten Diasporagruppen (z. B. die Mennoniten/ Amischen in den USA und Kanada) kennzeichnend ist. Sprachloyalität ist verbreitet auch als ein widerständiger Akt im Kontext von sozialer Marginalisierung seitens der Mehrheitsgesellschaft anzusehen, wenn z. B. durch verfehlte Immigrations- und Integrationspolitik, wie gegenüber türkischen ImmigrantInnen in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren, die Gemeinschaften auf sich selbst zurückgeworfen werden und sich quasi autark organisieren müssen (↗ Art. 109). Sprachumstellung hingegen resultiert aus dem individuellen Arrangement mit den dominanten sprachlichen Verhältnissen. Somit folgen Sprachloyalität wie Sprachumstellung maßgeblich den Setzungen der jeweiligen Sprachenregimes. 5. Generation Anhand der Immigration in die USA entwickelte J. Fishman (1966) ein Mobilitätsmodell von Wanderung, das auch als Drei-Generationen-Modell bezeichnet wird. Dieses Modell steht für die sprachliche Akkulturation und für den Übergang von der Einsprachigkeit in der Herkunftssprache A in die Einsprachigkeit im Zielland in Sprache B. Zweisprachigkeit wird hierbei vor allem für die zweite Generation angenommen. Maas (2008: 22, 554 ff.) zeigt, dass dieses Modell im Hinblick auf die jeweils konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse und die Spannungen zwischen den Generationen revidiert werden muss und in etwa wie folgt zu beschreiben ist: Die erste Generation kann das ökonomische Überleben nur bewerkstelligen, wenn sie Kompromisse mit den habitualisierten Lebensgewohnheiten macht und sich zumindest eine „Überlebensvarietät“ in der Landessprache aneignet (z. B. „Gastarbeiterdeutsch“). Die zweite Generation wächst unter landessspezifischen Bedingungen auf; sie hat die Umgangssprache des Landes schon habitualisiert und partizipiert mehr oder weniger <?page no="42"?> 33 4. EnkulturationundSprachen erfolgreich an deren Ausbau in der Schule. In dem Maße, wie die Kinder sich erfolgreich mit den neuen Lebensverhältnissen arrangieren, verlieren für sie die Diasporaverhältnisse der Eltern an Gewicht; sie werden zu einem Konfliktterrain in der Auseinandersetzung mit der elterlichen Kontrolle. Hier gewinnen die Heiratsmigration, aber auch Au-pair-Situationen, an Bedeutung; sie stabilisieren die sprachlichen Verhältnisse in der Familie auch für die folgende Generation. Die dritte Generation ist dem Diasporakonflikt weitgehend enthoben. Mit Eltern, die sich um die Integration in die Einwanderungsgesellschaft bemühen, gehören sie mehr oder weniger erfolgreich zu dieser dazu. Sie erfahren aber häufig diskriminierende Zurücksetzung, durch die ihr Blick nahezu zwangsläufig wieder auf die Herkunft bzw. die Diasporasituation gelenkt wird; mit der Konsequenz, dass sie sich um Attribute der Herkunftskultur bemühen (vgl. ebd.: 555). Die neuere Migrationsforschung fokussiert zunehmend auf die Brechung der Integrationsverläufe, bei denen transnationale und transkulturelle Organisationsformen in den Blick kommen. Literatur Bade, K. J., Emmer, P. C., Lucassen, L. & Oltmer, J. (2010): Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart . Paderborn u. a. Busch, B. (2013): Mehrsprachigkeit . Wien. Clyne, M. G. (2003): Dynamics of Language Contact: English and Immigrant Languages . Cambridge u. a. Coulmas, F. (2005): Changing Language Regimes in Globalizing Environments. In: International Journal of the Sociology of Language 175-176, 3-16. Fishman, J.A., Nahirny, V. C., Warshauer, M. E. et al (1966): Language Loyalty in the U.S: the Maintenance and Perpetuation of non-English Mother Tongues by American Ethnic and Religious Groups . The Hague. Maas, U. (2008): Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft. Die schriftkulturelle Dimension. Göttingen. Reich, H. H., Roth, H.-J. et al. (2002): Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher: ein Überblick über den Stand der nationalen und internationalen Forschung. Hamburg. Jürgen Erfurt 4. Enkulturation und Sprachen 1. Begrifflichkeit Der Begriff Enkulturation wurde zuerst von Herskovits (1948: 39-42) verwendet. Nach seiner Definition bezeichnet enculturation alles, was in einem menschlichen Leben gelernt werden kann unter dem Aspekt dessen, was auf der Welt ist. Sozialisation ist nach der Definition von Child (1954: 655) „the whole process by which an individual, born with behavioral potentialities of enormously wide range, is led to develop actual behavior which is confined within a much narrower range - the range of what is customary and acceptable for him according to the standards of his group“. Zum großen Teil ist Lernen sowohl mit Enkulturation als auch mit Sozialisation verknüpft, wie am Beispiel von Sprache gut erkennbar ist. Ein Teil des erstmaligen Spracherwerbs (L1) beim Kind ist gesteuert. Lernende <?page no="43"?> 34 CristinaAllemann-Ghionda werden in der formalen Bildung, also durch Unterricht, ausdrücklich und systematisch sprachlich instruiert und lernen - dem Alter entsprechend - bewusst. Ein erheblicher Teil des Spracherwerbs erfolgt aber ungesteuert und unbewusst, also informell, vor und nach der Einschulung bzw. unabhängig davon. Ähnliches gilt für das Erlernen weiterer Sprachen parallel zur ersten oder nacheinander (↗ Art. 52). Verwandt mit den Begriffen Enkulturation und Sozialisation sind die Begriffe Akkulturation und Assimilation (sinngemäß: Angleichung). Im Vergleich zur Enkulturation sind diese Prozesse als sekundär und spezifisch zu verstehen. Sie erfolgen also ggf. im Rahmen der Enkulturation, wenn das Individuum - ob in der Kindheit oder später - durch Migration sich in eine Umgebung einfügen muss, die sprachlich und/ oder soziokulturell sich von der seiner Herkunftsfamilie und -region unterscheidet (↗ Art. 100). Berry (1997: 9 f.) versteht Assimilation als eine der möglichen Varianten des Vorgangs Akkulturation, eine andere ist Integration. Seit den 1930er Jahren haben die Begriffe Akkulturation und Assimilation (sowie der Begriff Integration) in der soziologischen und in der anthropologischen Terminologie, namentlich in der Migrationsforschung, verschiedene Gewichtungen und Konnotationen erhalten (Geisen 2018). In Bezug auf den Erwerb bzw. das Erlernen von Sprache(n) im Rahmen von Enkulturation, Sozialisation und Akkulturation sind solche Bedeutungsverschiebungen wichtig. Wenn eine Gesellschaft und ein Schulsystem das Modell der Assimilation als Ideal vorgeben und somit Einsprachigkeit in der Ankunftssprache (für Zugewanderte L2) als Norm voraussetzen, sind die Bedingungen anders als wenn eine Gesellschaft und ein Schulsystem Mehrsprachigkeit akzeptieren oder gar fördern. Auch die Kommunikation im Rahmen der einzelnen Familie wird vom gesellschaftlichen Klima beeinflusst. Ein starker Assimilationsdruck seitens der Politik (↗ Art. 11) und der Schule kann sich auf den Sprachgebrauch in der Familie auswirken: Diese wird sich für den Verzicht auf die Herkunftssprache(n) entscheiden. Auch die Größe der Gemeinschaft der Sprachteilhaber sowie das Prestige der jeweiligen Minderheiten- oder der Migrationssprachen können dabei eine Rolle spielen. 2. Problemaufriss In einer amtlich monolingualen Gesellschaft wird stillschweigend angenommen, dass das sprachliche Lernen beim Kind im Verlauf seiner Enkulturation in nur einer Sprache stattfindet. Eine solche Grundannahme prägt weitgehend auch das Selbstverständnis der einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen und die Diskurse, die - ggf. auch in Bildungspolitik und Unterrichtspraxis - daraus resultieren. In der neueren und gegenwärtigen soziologischen, anthropologischen, psychologischen und sprachwissenschaftlichen Forschung wird zunehmend über die Tatsache reflektiert, dass internationale Migrations- und Mobilitätsbewegungen die Bedingungen der Enkulturation sowie der Akkulturation (und ihrer Varianten) tiefgreifend verändert haben und weiterhin verändern. Gemischte Ehen, Schulen mit multilingualer Schülerschaft prägen das menschliche Verhalten in und außerhalb der Familie. Unter solchen Bedingungen kann in zahlreichen Fällen und Konstellationen von einer monokulturellen und einsprachigen Enkulturation keine Rede sein. Kontakt zwischen Kulturen und sozialen Milieus sowie Hybridisierung auch im Sprachgebrauch finden in mannigfaltigen Formen statt (↗ Art. 105). An <?page no="44"?> 35 4. EnkulturationundSprachen verschiedenen Stellen geht die Einführung von Segall et al. (1999: 62 f., 301 f.) mit dem Titel Human Behavior in Global Perspective (erstmals 1990 veröffentlicht) auf diesen Sachverhalt ein. 3. Forschungsstand Forschung über Enkulturation (und Akkulturation sowie ihrer Varianten) unter den Bedingungen der Vielfalt der Soziokulturen und Sprachen ist verhältnismäßig jung. Im Fokus stehen häufig das Jugend- und das Erwachsenenalter und die Ergebnisse der Akkulturation infolge von Migration. Neben der sozialpsychologischen Einführung von Segall et al. (1999) und dem umfangreichen theoretischen sowie empirischen Werk von Berry (1997) sind bisher kaum Arbeiten zu verzeichnen, die gezielt die Verbindung Enkulturation und Sprachen (im Plural) im Kindesalter etwa in Form von Längsschnittstudien zum Gegenstand haben. In der Sprachwissenschaft wurde bis in die 1960er Jahre hinein die Idee vertreten, dass frühkindliche Zweisprachigkeit etwas Unnatürliches, kaum Mögliches und - falls vorhanden - für die kindliche Seele etwas Schädliches sei. Allerdings fehlten damals belastbare Ergebnisse empirischer Untersuchungen, weil empirische Forschung in den Sozialwissenschaften noch in den Kinderschuhen steckte. Seit den 1960er Jahren ist ein Wandel der Perspektive festzustellen. Erste empirische Untersuchungen zeigten, dass Kinder ohne besondere Schwierigkeiten oder Nachteile zwei Sprachen parallel oder mit geringer Zeitverschiebung erwerben können (Baker & Prys Jones 1998: 62 f.). In der Anfangszeit jenes Paradigmenwechsels war noch kaum die Rede davon, dass unter bestimmten Umständen auch frühkindliche Dreisprachigkeit möglich sein kann. Ähnlich wie bei der sozialpsychologischen Forschung sind die 1990er Jahre auch für die Forschung über Mehrsprachigkeit (↗ Art. 51, 85) fruchtbare Jahre. Es kristallisieren sich drei Schwerpunkte heraus: • Frühkindliche Mehrsprachigkeit (↗ Art. 52, 53) als Gewinn für die menschliche Entwicklung und unverzichtbarer Bestandteil von allgemeiner Bildung; auf dieser Idee basiert die von vielen Bildungssystemen unterstützte Förderung des Unterrichts von einer oder zwei Fremdsprachen bereits in der Grundschule. Einen besonderen Fall stellen bilinguale Programme (↗ Art. 111) dar, wie sie Bildungssysteme in offiziell zweisprachigen Ländern, zum Beispiel Kanada, anbieten (Heller 2003). Dieser Ansatz wird einerseits durch die positive Wertung der frühkindlichen Zweibzw. Mehrsprachigkeit aufgrund vorliegender Forschungsergebnisse getragen, andererseits auch von Richtlinien politischer Körperschaften wie etwa der Europäischen Union (Europäische Kommission 1996) propagiert (↗ Art. 12). • Auswirkungen der frühkindlichen Zweibzw. Mehrsprachigkeit (in der Regel geht es jedoch bei Kleinkindern um höchstens drei Sprachen) auf kognitive Prozesse. Hierbei ist als Durchbruch zu nennen, dass moderne bildgebende Verfahren Einsichten in die Hirntätigkeit von Mehrim Vergleich zu Einsprachigen ermöglichen (Van de Craen & Mondt 2003: 213 f.). Nach heutigen Erkenntnissen der Neurolinguistik sind bei Zweibzw. Mehrsprachigen im Kindessowie im Erwachsenenalter kognitive Vorteile nachgewiesen, insbesondere wenn die Sprachen in der frü- <?page no="45"?> 36 CristinaAllemann-Ghionda hen Kindheit (0 bis 3 Jahre) erworben wurden und ein Leben lang verwendet werden. Als kognitive Vorteile werden non-verbale Fähigkeiten genannt wie selektive Aufmerksamkeit und Unterdrückung (selective attention/ inhibition), Verlagerung der Aufmerksamkeit (attention shifting), Arbeitsgedächtnis (working memory) (Bialystok & Poarch 2014). • Zusammenhänge zwischen dem Erwerb von mehr als einer Sprache parallel von Geburt an oder konsekutiv und der Identitätsbildung. Das Thema der Identität (↗ Art. 1) wurde mit Blick auf den - auch literarischen - Gebrauch von mehreren Sprachen durch Erwachsene untersucht (Lüdi 2018: 138). Zu Identität und natürlicher Mehrsprachigkeit von Sprachgemeinschaften s. Baker & Prys Jones (1998: 96 f.), zu Sprachenlernen und -lehren und Identität s. Cummins (2001) und Norton (2013). 4. Praxisrelevanz Untersuchungen über Enkulturation und Sprachen sind relevant • für Erziehungsberechtigte: Wie wird die eventuell mitgebrachte Zweisprachigkeit in gemischten Ehen oder Partnerschaften gehandhabt? Welche Sprachen sollen in Familien mit Migrationshintergrund im Familienalltag gesprochen werden, und wie sind Kinder am besten sprachlich zu fördern? Welchen Stellenwert hat die Erstbzw. Familiensprache (L1) im Verhältnis zur Sprache der Umgebung (L2)? • für vorschulische und schulische Bildung (↗ Art. 53, 54): In welchen Sprachen sollen Kinder mit Migrationshintergrund oder Kinder von hochqualifizierten Fachkräften (oft Expats genannt) die nur wenige Jahre im Aufnahmeland leben, unterrichtet werden? Wie können die Sprachen von Zugewanderten sowie Minderheitensprachen im Regelcurriculum adäquat berücksichtigt werden? • für die Didaktik der beteiligten Sprachen (L1, L2, L3, Ln): Wann sollen Fremdsprachen und Landessprachen einer anderen Sprachregion (zum Beispiel in der Schweiz) eingeführt werden? Welche Unterrichtsmethoden bewähren sich insbesondere in mehrsprachigen Klassen (↗ Art. 110)? • für interkulturelles Lernen: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Wertschätzung und Förderung der Mehrsprachigkeit, interkultureller Bildung und interkultureller Kompetenz? (Allemann-Ghionda 2013: 107 f.) (↗ Art. 32). 5. Perspektiven Die Verbreitung von Forschungsergebnissen über frühkindliche Zwei- und Mehrsprachigkeit im Rahmen der Aus- und Fortbildung von Lehrpersonen für alle Schulstufen erscheint notwendig. Der Mythos der Perfektion und Reinheit von Sprachen und Soziokulturen weicht der Erkenntnis, dass Mehrsprachigkeit beim Individuum als pragmatisch einzusetzendes Sprachenrepertoire zu verstehen ist. Nicht zuletzt dank der Forschung über frühkindliche Zweisprachigkeit verändert sich die Wahrnehmung und Definition von Enkulturation als zwingend monokulturell und einsprachig zugunsten der Erkenntnis, dass Enkulturation und damit einhergehend Spracherwerb und sprachliche Sozialisation multilingual erfolgen können. Weltweit wachsen Generationen heran, deren Enkulturation <?page no="46"?> 37 5. Code-Switching und Sozialisation bereits von Geburt an unter soziokulturell und sprachlich diversifizierten Bedingungen erfolgt. Hierbei werden Enkulturation und Akkulturation eins. Literatur Allemann-Ghionda, C. (2013): Bildung für alle, Diversität und Inklusion: Internationale Perspektiven. Paderborn. Baker, C. & Prys Jones, S. (1998): Encyclopedia of Bilingualism and Bilingual Education. Clevedon. Berry, J. W. (1997): Lead Article: Immigration, Acculturation and Adaptation. In: Applied Psychology: An International Review 46/ 1, 5-34. Bialystok, E. & Poarch, G. (2014): Language Experience Changes Language and Cognitive Ability. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 17/ 3, 433-446. Child, I. L. (1954): Socialization. In: G. Lindzey (Hrsg.): Handbook of Social Psychology , Bd. 2. Cambridge, MA, 655-692. Cummins, J. (2001): Negotiating Identities: Education for Empowerment in a Diverse Society. 2. Aufl. Los Angeles. Europäische Kommission (1996): Lehren und Lernen: Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft. Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung . Luxemburg. Geisen, T. (2018): Assimilation - Akkulturation. In: I. Gogolin, V. B. Georgi, M. Krüger-Potratz et al. (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Pädagogik. Stuttgart, 44-49. Heller, M. (2003): Identity and Commodity in Bilingual Education. In: L. Mondada & S. Pekarek Doehler (Hrsg.): Plurilinguisme - Mehrsprachigkeit - Plurilingualism. Enjeux identitaires, socio-culturels et éducatifs. Tübingen, Basel, 3-13. Herskovits, M. J. (1948): Man and his Works: The Science of Cultural Anthropology. New York. Lüdi, G. (2018): Mehrsprachigkeit. In: I. Gogolin, V. B. Georgi, M. Krüger-Potratz et al. (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Pädagogik . Stuttgart, 133-139. Norton, B. (2013): Identity and Language Learning. In: M. Byram & A. Hu (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Language Teaching and Learning. 2. Aufl. London, New York, 327-332. Segall, M. H., Dasen, P. R., Berry, J. W. & Poortinga, Y. H. (1999): Human Behavior in Global Perspective: An Introduction to Cross-Cultural Psychology. 2. Aufl. Boston, London, Toronto, Sydney, Tokyo, Singapore. Van de Craen, P. & Mondt, K. (2003): Multilingual Education, Learning and the Brain: The End of Language Education as a Pre-Scientific Field. In: L. Mondada & S. Pekarek Doehler (Hrsg.): Plurilinguisme - Mehrsprachigkeit - Plurilingualism. Enjeux identitaires, socio-culturels et éducatifs. Tübingen, Basel, 209-217. Cristina Allemann-Ghionda 5. Code-Switching 1. Definitionen Code-Switching beschreibt die Verwendung von zwei oder mehreren Sprachen bzw. Sprachvarietäten in einer Äußerung oder längeren Interaktion. Verwandte Konzepte, die sich teilweise mit Code-Switching überschneiden, sind borrowing ( weekend für Wochenende) sowie code mixing . Mixing z.B. kann sich auf das Mischen innerhalb eines Satzes, auf Code-Switching-Phänomene oder auf neue Sprachmischungen wie Denglish oder Portuñol beziehen (vgl. Myers-Scotton, Beitrag in Li 2007: 102). Auch calques (z. B. <?page no="47"?> 38 UlrikeJessner-&ElisabethAllgäuer-Hackl fall in love/ tomber amoureux/ -se , in Québec als tomber en amour übersetzt) werden in diesem Zusammenhang genannt. Diglossie steht für die Verwendung von zwei Varianten einer Sprache (z. B. eines Dialekts und einer standardisierten Variante) oder von unterschiedlichen Sprachen innerhalb einer Sprachgemeinschaft, wenn die Sprachen bestimmten Funktionen und soziolinguistischen Kontexten zugewiesen werden können (Fishman 2007: 47-54). Weiterführende Beiträge zu Code-Switching und verwandten Begriffen finden sich in Li (2007) und Auer & Li (2007). In aktuellen Forschungen werden neue Begriffe diskutiert: Language crossing (vgl. Beitrag von Rampton in Li 2007: Kap. 9) bezieht sich auf den Wechsel zwischen Sprachen oder Sprachvarianten über ethnische und soziale Grenzen hinweg; code meshing (Canagarajah 2011) auf das Mischen von Sprachen in schriftlichen Produktionen, und Translanguaging (García & Sánchez 2018) auf die Verwendung mehrerer Sprachen in der schulischen Praxis. 2. Code-Switching - (historischer) Problemaufriss Erklärungsmodelle für Code-Switching stammen aus unterschiedlichsten Disziplinen. Die sozio-linguistische bzw. sozio-kulturelle Perspektive betrachtet Code-Switching als Frage der Sprachenwahl, bei der soziale Prozesse und linguistische Formen ineinandergreifen. Code-Switching als rationale Entscheidung dient der Ausverhandlung von Rollen und Funktionen, bildet die sozialen Beziehungen und Netzwerke der Sprachteilhaber auf der Mikro- und Makroebene ab bzw. ist eine politische Strategie zur Sicherung der Dominanz oder als Ausdruck des Widerstands (vgl. Heller 1988: 1-3; Beiträge in Li 2007: Teil 1; Auer & Li 2007). Myers-Scotton (vgl. Beitrag in Li 2007: Kap. 5) geht in ihrem Modell davon aus, dass die Wahl einer Sprache auf einem „set of rights and obligations“ der Gesprächspartner beruht. Sie kann markiert (Wechsel der Intention, der sozialen Beziehungen etc.) oder nicht markiert (erwartete Norm) sein. In der psycholinguistischen Forschung (↗ Art. 51) wird Code-Switching den Sprachkontakt- oder Transferphänomenen zugeordnet. Erforscht wird u. a., welche switches möglich sind, ob diese grammatikalischen Begrenzungen unterliegen, ob es eine Basissprache gibt und wie man diese definiert (vgl. Beiträge in Milroy & Muysken 1995). Theorien über Code-Switching wurden mit psycholinguistischen oder syntaktischen Theorien verbunden. Das Matrix Language Frame Model von Myers-Scotton (vgl. Beitrag in Milroy & Muysken 1995) z. B. basiert auf der Annahme einer Basissprache, die das grammatikalische Gerüst vorgibt und in die die zweite Sprache eingebettet ist. Es stellte sich aber bald heraus, dass der Wechsel zwischen Sprachen eher pragmatischen denn syntaktischen Regeln folgt (vgl. Auer & Li 2007). 3. Forschungsstand: Neuere-Sichtweisen Ab den 1990er Jahren entstand eine ganzheitliche Sicht von Mehrsprachigkeit (↗ Art. 6, 7), die der Annahme von getrennten Sprachsystemen widersprach (Grosjean 1985). Diese führte zur Definition von mehrsprachigen Menschen als multikompetenten Individuen (z. B. Cook 1991), die durch den Kontakt zwischen den Sprachen u. a. ein erhöhtes metalinguistisches bzw. multilinguales Bewusstsein und eine andere Art der Sprachverarbeitung <?page no="48"?> 39 5. Code-Switching in Form von Code-Switching und erweiterten pragmatischen Transfer-Fähigkeiten entwickeln (vgl. z. B. das Konzept der crosslinguistic interaction CLIN von Herdina & Jessner 2002). In der Mehrsprachigkeitsforschung (↗ Art. 85) werden in der Diskussion über die Bedeutung der Brückensprachen die Funktionen von switches diskutiert (siehe dazu Williams & Hammarberg 1998). Jessner (2006) erweitert in ihrer Studie mit zweisprachig (in Italienisch und Deutsch) aufgewachsenen Englischstudierenden diese Diskussion um die Bedeutung von switches in metasprachlichen Äußerungen bzw. Metasprache. Code-Switching in multilingualen Gesellschaften (↗ Art. 3) erfüllt unterschiedliche diskursive Funktionen, z. B. um die individuelle und soziale Identität zu definieren oder Inklusion und Empathie herzustellen. Neuere Forschungen beziehen sich auf Sprachwechsel und Identität (↗ Art. 1), auf Sprachwahl in der digitalen Kommunikation und im familiären Kontext oder auf den Wechsel zwischen Laut- und Gebärdensprachen. Der Begriff Translanguaging hat Code-Switching inzwischen in vielen Bereichen abgelöst (vgl. Stavans & Porat, im Druck). 4. Praxisrelevanz - Code-Switching und Translanguaging im schulischen Kontext Frühe Studien zu Code-Switching wurden in den USA bereits in den späten 1970er Jahren durchgeführt, oft in Zusammenhang mit der Diskussion über Vor- und Nachteile des bilingualen Unterrichts (↗ Art. 111) und die Funktion der involvierten Sprachen (meist Englisch und Spanisch). In der Fremdsprachendidaktik schloss die Fokussierung auf negativen Transfer oder Interferenz zwischen der/ den L1 und der Zielsprache die Erstsprache/ n für lange Zeit aus dem Unterricht aus. Code-Switching, wie in Forschungen festgestellt wurde, dient jedoch der Klärung von Unsicherheiten oder Beziehungsfragen zwischen Lehrenden und Lernenden und erleichtert das Erklären grammatikalischer Konzepte oder das classroom management (vgl. Beiträge in Milroy & Muysken 1995). Code-Switching wurde zur (vorübergehenden) Lern- und Kommunikationsstrategie im Unterricht, die das Erreichen höherer Kompetenzen in der Zielsprache unterstützt. Das Zulassen von Code-Switching zwischen allen im Repertoire der Lernenden vorhandenen Sprachen als Lernprinzip kann als Schritt in Richtung einer ganzheitlichen, die Sprachen vernetzenden Didaktik verstanden werden, die die Förderung von multilingualem Bewusstsein beinhaltet ( Jessner, Allgäuer- Hackl & Hofer 2016). Ein neuerer, ganzheitlicher Ansatz ist Translanguaging als mehrsprachige, multimodale und transformative Kommunikation und Wissenskonstruktion (García & Li 2014), verstanden als Theorie von Sprache, die das individuelle Repertoire an Sprachen und semiotischen Zeichen als ein Ganzes sieht und die Lernenden anregt, dieses kreativ zu nutzen und weiter zu entwickeln. Translanguaging nimmt die kulturellen Elemente, Hierarchien und Machtgefälle zwischen den Sprachen in den Blick und durchbricht somit die gesellschaftlichen Muster von Abwertung und Ausgrenzung (↗ Art. 38). <?page no="49"?> 40 UlrikeJessner-&ElisabethAllgäuer-Hackl 5. Perspektiven Sprachkontaktphänomene wie Code-Switching wurden anfänglich im bilingualen, später auch verstärkt im multilingualen Kontext untersucht, im Bildungsbereich vor allem in Bezug auf die speziellen Herausforderungen von Lernenden in Minderheitenbzw. Migrationskontexten (↗ Art. 100, 105). Die monolingual orientierte, defizitäre Bewertung von Code-Switching wurde durch eine ressourcenorientierte Sicht abgelöst (vgl. Stavans & Porat, im Druck) und translinguale Praktiken als Lehr- und Lernstrategien definiert. Damit wird Code-Switching/ Translanguaging Teil einer ganzheitlichen Mehrsprachigkeitsdidaktik, die Lernende mit unterschiedlichsten sprachlichen, kognitiven, sozialen und kulturellen Voraussetzungen erreichen will. Code-Switching/ Translanguaging im Unterricht kann im Zusammenhang mit der Förderung von language management skills gesehen werden, wie sie unter anderem im Dynamischen Modell der Mehrsprachigkeit (Herdina & Jessner 2002) dargestellt und im Zusammenhang mit gesamtsprachencurricularen Ansätzen (↗ Art. 14) beschrieben wurden. Literatur Auer, P. & Li, W. (Hrsg.) (2007): Handbook of Multilingualism and Multilingual Communication. Series Handbooks of Applied Linguistics , Bd. 5. Berlin. Canagarajah, S. (2011): Code-meshing in Academic Writing: Identifying Teachable Strategies of Translanguaging. In: The Modern Language Journal 95/ iii, 401-417. Cook, V. J. (1991): The Poverty-of-the-Stimulus Argument and Multi-Competence. In: Second Language Research 7/ 2, 103-117. Fishman, J. (2007): Who Speaks What Language to Whom and When? In: Li, W. (Hrsg.): The Bilingualism Reader . 2. Aufl. London, 55-70. García, O. & Li, W. (2014): Translanguaging: Language, bilingualism and education . New York. García, O. & Sánchez, M. T. (2018): Transformando la educación de bilingües emergentes en el estado de Nueva York. In: Language, Education, and Multilingualism 1, 138-156. [https: / / edoc.hu-berlin.de/ handle/ 18452/ 19773]. Grosjean, J. (1985): The Bilingual as a Competent but Specific Speaker-Hearer. In: Journal of Multilingual and Multicultural Development 6, 467-477. Heller, M. (Hrsg.) (1988): Codeswitching: Anthropological and Sociolinguistic Perspectives . Berlin, New York, Amsterdam. Herdina, P. & Jessner, U. (2002): A Dynamic Model of Multilingualism: Changing the Psycholinguistic Perspective . Clevedon. Jessner, U. (2006): Linguistic Awareness in Multilinguals. English as a Third Language . Edinburgh. Jessner, U., Allgäuer-Hackl, E. & Hofer, B. (2016): Emerging Multilingual Awareness in Educational Contexts: From Theory to Practice. In: The Canadian Modern Language Review / La revue canadienne des langues vivantes 72/ 2, 157-182. Li, W. (2007) (Hrsg.): The Bilingualism Reader . 2. Aufl. London. Milroy, L. & Muysken, P. (Hrsg.) (1995): One Speaker, two Languages: Crossdisciplinary Perspectives on Code-Switching . Cambridge, New York. Stavans, A. & Porat, R. (im Druck): Code Switching. In: Montanari, S. & Quay, S. (Hrsg.): Multilingual Approaches to Multilingualism . New York. Williams, S. & Hammarberg, B. (1998): Language Switches in L3 Production: Implications <?page no="50"?> 41 6. Mehrsprachigkeit, Interkomprehension,Übersetzenund Sprachmitteln for a Polyglot Speaking Model. In: Applied Linguistics 19/ 3, 295-333. Ulrike Jessner-& Elisabeth Allgäuer-Hackl 6. Mehrsprachigkeit, Interkomprehension, Übersetzen und Sprachmitteln Das Aufkommen des Interesses an Mehrsprachigkeit und insbesondere an der Mehrsprachigkeitsdidaktik hat nicht nur zu neuen Betrachtungen des Lernens und Lehrens geführt, sondern hat eine Neubestimmung, zumindest eine Präzisierung von Begriffen, erforderlich gemacht. Im ersten Teil der folgenden Ausführung soll es um die begrifflichen Konzeptionen und Veränderungen gehen, bevor dann anschließend die daraus resultierenden Veränderungen für den Fremdsprachenunterricht und seiner Erforschung skizziert werden. 1. Der Mehrsprachigkeitsbegriff Die Diskussion um den Mehrsprachigkeitsbegriff ist nicht neu (↗ Art. 7). Grundsätzliche Anmerkungen zum Nutzen der Mehrsprachigkeit gibt es seit längerer Zeit. Ein markantes Datum liefert das Statement von Mario Wandruszka (1979), dass jeder Mensch mehrsprachig ist, was nicht zuletzt auch - oder: nicht nur - im Wechsel zwischen unterschiedlichen Registern zum Ausdruck kommt. Eine partielle Neuausrichtung erlebt der Begriff durch eine stärkere Fokussierung auf Schule und Unterricht, die sich aus mehreren wissenschaftlichen Disziplinen speist: 1. Die Gesellschaft ist zunehmend mehrsprachig geworden. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit einer anderen Herkunftssprache als der Bildungs- oder Umgebungssprache wächst beständig und führt z. B. bereits Gogolin (1994) zur Forderung nach der Abschaffung des monolingualen Habitus der deutschen Schule. 2. Der GeR (↗ Art. 18) nimmt diese Tendenz insofern auf, als er die Förderung von Mehrsprachigkeit als Aufgabe eines Fremdsprachenunterrichts propagiert, wenngleich er konkrete unterrichtliche Umsetzungsvorschläge schuldig bleibt. 3. Nicht zuletzt aus der romanistischen Fachdidaktik argumentieren etliche Fachvertreter dafür, sprachtypologische Gemeinschaften zwischen Sprachen lernpsychologisch zu nutzen (↗ Art. 67, 77), damit das Lernen weiterer Fremdsprachen zu fördern und in seiner Attraktivität für die Lerner zu erhöhen (vgl. bereits früh Meißner 1995 (1993); Meißner & Reinfried 1998). 4. Eng mit dem erstgenannten Punkt hängt zusammen, Interesse an und Nachfrage nach Deutsch als Fremdbzw. Zweitsprache stärker ins Visier zu nehmen. Dort haben wir häufig mit Lerngruppen zu tun, die von Hause aus Mehrsprachigkeit kennen und praktizieren oder aber als Lernergruppe unterschiedliche Sprachen ins Klassenzimmer mitbringen (↗ Art. 106). 5. Flankiert werden diese Beobachtungen durch lernpsychologische Beobachtungen, die zeigen, dass auch fremdsprachliches Lernen von der Anknüpfung an Bekanntes profitiert. <?page no="51"?> 42 FrankG.Königs Damit wird der Mehrsprachigkeitsbegriff zum einen solider, weil er nach mehreren Seiten abgesichert ist; damit rückt er zum anderen mehr in das Zentrum von Unterricht und Schule. Dies wird möglich, weil er nicht mehr nur strategisch und politisch gefüllt ist, sondern weil hinter ihm gleichzeitig ein bestimmtes Lern- und Informationsverarbeitungskonzept, nämlich das der Interkomprehension, steht. 2. Der Interkomprehensionsbegriff Der Interkomprehensionsbegriff (↗ Art. 70) hebt auf die Fähigkeit ab, beim Lernen einer neuen Sprache Verbindungen zu bereits Gelerntem und Vergleiche zwischen diesen Sprachen und der Muttersprache herzustellen. Das Besondere dabei ist, dass diese Vergleiche allenfalls durch die Präsentation bzw. die Auswahl des Materials initiiert werden. Die eigentliche Vergleichbarkeit und damit die weitere Durchdringung des sprachlichen Materials gehen auf die eigenständige, reflektierte und weitgehend autonome Leistung des Lernenden zurück. Die Interkomprehension lehnt sich also in gewisser Weise an die lernpsychologische Transferdiskussion (↗ Art. 64) an, wie wir sie schon länger kennen, betont aber nachdrücklicher das Potenzial, das in der aktiven Suche nach vergleichbaren Strukturen und Regelhaftigkeiten in den beteiligten Sprachen zu finden ist, als die Sorge vor möglichen negativen Transfers. Die Eindämmung des Risikos zu negativem Transfer soll erreicht werden durch die Förderung der lernerseitigen Kompetenz, fremdsprachliche Strukturen durch Vergleich mit äquivalenten Strukturen anderer Sprachen zu durchschauen. Dazu werden dem Lernenden zunächst Text(abschnitte) in einer fremden Sprache vorgelegt, die es ihnen erlauben, ähnliche Strukturen aus anderen Sprachen wiederzuerkennen. Dies funktioniert zunächst bei sprachtypologisch verwandten Sprachen. Von daher ist es auch nicht verwunderlich, dass der Interkomprehensionsgedanke zunächst in der romanistischen Fachdidaktik Fuß fasste, wo mindestens drei romanische Sprachen (Französisch, Italienisch, Spanisch) in Deutschland Schulfremdsprachen sind, wenn auch mit je unterschiedlichem Gewicht. Die Idee, das Lernen weiterer Fremdsprachen für (schulische) Lernende attraktiver zu machen, indem man ihnen vor Augen führt, was sie alles in einer für sie noch fremden Sprache verstehen können, führte u. a. zur Entwicklung der sogenannten sieben Siebe (↗ Art. 67): I: Internationalismen; II: panromanischer Wortschatz; III. Lautentsprechungen; IV: Graphien und Aussprachen; V: Syntaktische Kernsatztypen; VI: morphosyntaktische Elemente wie beispielsweise Adverbbildung und VII: Präfixe und Suffixe. Diese ursprünglich aus der Romanistik stammende Idee, sprachstrukturelle Verwandtschaften systematisch zu erfassen und für Sprachfamilien aufzulisten (vgl. Klein & Stegmann 1999) wurde dann lernpsychologisch unterfüttert (begann bereits bei Meißner & Reinfried 1998, erweitert u. a. in Meißner 2010) und auch auf andere Sprachfamilien (die slawischen, aber auch die germanischen Sprachen) übertragen (↗ Art. 68). Mit der Publikation von Hufeisen & Marx (2014) rundet sich dabei das Bild in doppelter Hinsicht ab: Zum ersten spielt in dem Zusammenhang auch das Englische eine bedeutende Rolle, dessen fachdidaktische und zum Teil auch fremdsprachenpolitischen Vertreter sich aus der Mehrsprachigkeitsdiskussion - insbesondere im schulischen Kontext - lange Zeit herausgehalten hatten. Zum zweiten wird dadurch unterstrichen, dass die weltweiten Bemühungen zur Vermittlung des Deutschen als Fremd- und <?page no="52"?> 43 6. Mehrsprachigkeit, Interkomprehension,Übersetzenund Sprachmitteln Zweitsprache vielfach auf den Rekurs auf das vorgängige Englischlernen nicht verzichten können (↗ Art. 87). Die kurze Skizze zum Interkomprehensionsbegriff zeigt, dass sich unsere Vorstellungen vom fremdsprachlichen Lernen grundlegend gewandelt haben. An die Stelle eher statisch-mechanistischer Vorstellungen tritt Sprachenlernen nunmehr als aktiv vom Lernenden gesteuerter, überwachter und auch selbstbestimmter Prozess, der auf die lernerseitige Autonomie ebenso setzt wie auf die beständige Interaktion der Lernenden sowohl mit ihren Vorwissensbeständen als auch mit den Interaktionspartnern. Dabei wäre es ein Missverständnis, von völliger Lernerautonomie auszugehen. Auch - und gerade - der Interkomprehensionsbegriff legt die Impulsgebung von außen nahe. Lehrkräfte haben also die Aufgabe, Lernende bei der Entwicklung des Interkomprehensionsgedankens durch entsprechende Aufgabenstellungen zu unterstützen und dessen Anregungspotenzial in der Konfrontation mit fremden Sprachen in Kooperation mit den Lernenden zu entfalten. Die geänderte Vorstellung von fremdsprachlichem Lernen, wie sie dem Interkomprehensionsbegriff zugrunde liegt, hat auch Auswirkungen auf den dritten Begriff aus der Überschrift, das Übersetzen. 3. Der Übersetzungsbegriff Die Diskussion um den Übersetzungsbegriff hat eine lange Tradition und verschiedene Ursachen. Zum einen hatte sich mit der Übersetzungswissenschaft eine eigene wissenschaftliche Domäne entwickelt, die ihre Aufgaben vor allem darin sah, dem angehenden professionellen Übersetzer und Dolmetscher mit den Informationen zu versorgen, die ihm seine angestrebte Tätigkeit erleichtern oder sogar ihre Grundlagen bildeten. Das führte insbesondere zu textstrukturellen, textvergleichenden und hermeneutischen Beschreibungsansätzen, bei denen der Übersetzer zwar das Ziel, selten aber der Mittelpunkt oder gar Ausgangspunkt der Überlegungen war. Mitte der 1980er Jahre zeigen dann Untersuchungen zum realen Übersetzungsprozess, dass wechselhafte Vorstellungen zum (professionellen) Übersetzen inzwischen einer Revision bedurften; nicht zuletzt, weil auch das Übersetzen häufiger autonom-kreativen Entscheidungen folgt. In partieller Abhängigkeit davon geriet gleichzeitig auch das Übersetzen im Fremdsprachenunterricht in die Diskussion. Traditionelles satzweises Übersetzen isolierter Einzeläußerungen zur Festigung neuer fremdsprachlicher Strukturen wurde als unzureichend angesehen, weil es stures Auswendiglernen als höher und wichtiger einschätzte als die notwendige Einbettung übersetzerischen Handelns in möglichst authentischen Situationen. Ziel des Einsatzes von Übersetzungsund/ oder Sprachmittlungsübungen konnte und kann es dennoch nicht sein, im Fremdsprachenunterricht angehende Übersetzer auszubilden, sondern die Lernenden vielmehr in multilingualen Kommunikationszusammenhängen in die Lage zu versetzen, kommunikativ und intentionsangemessen sprachlich zu handeln. Damit wird der Weg frei für den Begriff der Sprachmittlung, bei dem es nicht auf strukturell-sprachliche Äquivalenz, sondern auf die Mittlung der kommunikativen zentralen Botschaften einer Aussage ankommt. An die Stelle der früheren Strukturübungen in Form von Übersetzen treten neue Aufgabenstellungen, durch die Lernende in die Lage versetzt werden sollten, in Kommunikationssituationen, in denen die Gesprächsteilnehmer nicht über eine gemeinsame Sprache ver- <?page no="53"?> 44 FrankG.Königs fügen, zwischen verschiedenen Sprachen und Gesprächsteilnehmern zu vermitteln (↗ Art. 103). Dabei sollen sie lernen, kommunikativ relevante Inhalte von weniger relevanten Inhalten zu trennen und durch einen Abgleich mit vorhandenen sprachlichen Wissensbeständen verständlich und angemessen, aber nicht notwendig vollständig und sprachstrukturell äquivalent zu sprachmitteln. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass jetzt auch - wenngleich mit anderen Begründungen - darüber nachgedacht wird, dem Übersetzen im Fremdsprachenunterricht wieder einen eigenen Stellenwert zu geben, der allerdings über Sprachmittlung hinausgeht und den kulturellen und auch sprachdidaktischen Veränderungen und Herausforderungen Rechnung tragen soll (vgl. Rösler 2015). In der Entwicklung des Sprachmittlungsbegriffs treffen sich also mehrere unterschiedliche Entwicklungen: Zum einen verdankt er seine Entstehung den strukturell bisweilen überlasteten und wenig inhaltsvollen Satzübersetzungen, die häufig mehr der Kontrolle des Erreichten als der Entwicklung angemessenen kommunikativen Verhaltens dienen. Zum zweiten weist der Gemeinsame europäische Referenzrahmen (↗ Art. 18, 19) vielfach auf die Bedeutung der Sprachmittlung in unterschiedlichen Unterrichtskonstellationen hin. Und zum dritten führt auch hier die bereits erwähnte Entstehung von immer zahlreicheren Lernergruppen mit unterschiedlichen Herkunftssprachen (↗ Art. 106) ebenso zur Notwendigkeit, der Sprachmittlung mehr Aufmerksamkeit zu widmen, wie die Tatsache, dass internationale Schulkooperationen längst das Feld traditioneller deutscher Schulfremdsprachen verlassen haben und die Notwendigkeit nach der Suche gemeinsamer Kommunikationswege deutlich vor Augen geführt haben. Was aber folgt aus alldem für Gestaltung und Erforschung des Fremdsprachenunterrichts? 4. Brückensprachen und Übersetzen Wie die Geschichte der didaktischen Materialien zeigt, wurden die den Lernern bekannten Sprachen, zuvorderst die Muttersprachen, methodisch oft ‚mitgedacht‘, was zum Übersetzen anleitete. Hiervon zeugt schon die Grammatik- Übersetzungsmethode. Auch die Grammatiken - über weite Strecken hinweg waren grammaires und méthodes Synonyme - dokumentieren, dass Vergleiche zwischen Sprachen (insbesondere solchen, die nach Meinung der historischen Autoren den Nutzern bekannt gewesen sein durften oder für deren Erlernen ein Interesse vermutet wurde) nicht unüblich waren. Dies ging bis in individuelle Konstruktionen von Methoden und Eselsbrücken hinein (vgl. Meißner 2010). Dabei sei selbstredend daran erinnert, dass das zwischensprachliche Vergleichen von Formen, Bedeutungen, Funktionen und Aspekten eine grundlegende Strategie des Übersetzens ist (Königs 2006). Die Lernerfolg generierende Wirksamkeit des interlingualen Vergleichens gilt auch heute als eine wirksame Strategie nicht nur zur Entwicklung von Sprachenbewusstheit (↗ Art. 22). Butzkamm (1989: 256) spricht von der „muttersprachlichen Spiegelung der fremden Struktur“, an anderen Stellen von der sog. Sandwich-Technik im Zusammenhang mit dem reflexiven Üben. Allerdings haben die empirischen Befunde von Interkomprehensionsprozessen gezeigt, dass die Spiegelung keineswegs auf den Kontrast von Muttersprache(n) und Zielsprache begrenzt ist (Meißner & Burk 2001; De Angelis & Selinker 2001). Relevant für den erfolgreichen <?page no="54"?> 45 6. Mehrsprachigkeit, Interkomprehension,Übersetzenund Sprachmitteln Transfer sind die lernerseitig erkannten (und genutzten) Transferbasen, die sich besonders zwischen Sprachen ein und derselben Sprachfamilie feststellen lassen (↗ Art. 64). 5. Konsequenzen für Unterricht und Forschung Die Veränderungen in der Begriffsfüllung zu beschreiben, ist das eine. Das andere ist die Frage nach den unterrichtspraktischen und forschungsbezogenen Konsequenzen, die sich daraus ergeben (könnten). Darum soll es im letzten Abschnitt gehen. Ich beginne mit einigen unterrichtspraktischen Überlegungen. 5.1. Zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘ - Oder einfach anders? Die Forderung nach Ersatz traditioneller Übersetzungsübungen durch Sprachmittlungsaufgaben ist nicht neu (vgl. exemplarisch Königs 2000; Brammerts & Kleppin 2000; Rösler 2000). Sie lässt sich u. a. durch eine stringentere Mischung aus Spracharbeit, lernerbezogener Reflexion und lernerseitiger Selbstorganisation umsetzen. Die Aufgabenstellungen fordern dazu heraus, sowohl die Textproduktion bewusst zu begleiten als auch aktiver über potenzielle Äquivalenzen nachzudenken und auf der Grundlage möglichst authentischer Sprachmittlungssituationen die Reflexion über Mehrsprachigkeit und über die Auswahl der zu mittelnden Inhalte anzuregen. Die Interkomprehension hat ihren Ausgangspunkt in der Förderung rezeptiver Mehrsprachigkeit; das ist einerseits nachvollziehbar, bliebe aber auf halbem Wege stehen, wenn nicht auch die Rezeption als Vorstufe der Produktion mitgedacht würde. Sichtbar wird dies, wenn Aufgaben so formuliert werden, dass sie die aktive Analyse des kommunikativen Gehalts einer zu mittelnden Aussage/ eines zu mittelnden Textes stärker im Mittelpunkt steht als sprachstrukturelle, von der kommunikativen Orientierung losgelöste, linguistisch anmutende Sprachbetrachtungen. Das muss zu veränderten Lehrkompetenzen und Anforderungen an angemessenes methodisches Lehrerverhalten führen und damit zu einer systematischen Förderung des Reflexionsvermögens. Dies wiederum macht eine Erhöhung des Angebotsreichtums an authentischen Mehrsprachigkeitssituationen unabdingbar. Zu denken wäre hier an schulisch relevante Themen und Formen multilingualer Kommunikation (Schulkooperationen, aber auch entsprechende mehrsprachige Interviews oder schriftliche Materialien in den Medien) (↗ Art. 80, 81, 82). 5.2. Einige Fragen zum Forschungsaspekt Der oben behauptete Zusammenhang zwischen Rezeption und Produktion bei Aufbau und Förderung der schulischen/ unterrichtlichen Mehrsprachigkeit bedarf der Erforschung. An welchen Stellen wird er durch welche Maßnahmen gestärkt oder geschwächt und unter welchen Bedingungen? Ist es z. B. gerechtfertigt, auf die Lernertypendiskussion zu verzichten oder gibt es Bedingungen, unter denen bestimmte Lernertypen besonders von der Konfrontation profitieren? Die Mehrsprachigkeitsdiskussion in Europa (↗ Art. 85) bezieht sich schulisch und unterrichtlich zumeist auf die Schul- und Nachbarsprachen. Wir wissen allerdings aus der Erfahrung, dass die Entscheidung für oder gegen den Erwerb bestimmter Fremdsprachen sich nicht einfach als offene Angebotsstruktur darstellen lässt, sondern Beliebtheit und Ablehnung von bestimmten Sprachen zahlreiche Ursachen haben können. Der europäische <?page no="55"?> 46 FrankG.Königs Blickwinkel wird dabei durch die veränderten Lernerpopulationen mit z. T. erheblichen Mehrsprachigkeitserfahrungen erweitert. Wie können der Fremdsprachenunterricht, vor allem das Fremdsprachenlernen und seine Erforschung davon profitieren? Wenn Mehrsprachigkeit, Interkomprehension und kommunikatives Sprachmitteln durch Förderung der Eigenverantwortlichkeit gestärkt werden, müsste darüber nachgedacht werden, dass jeder Lernende zum reflektierenden „Selbsterforscher“ wird und seine Beobachtungen in einem mehrsprachigkeitsbezogenen Lerntagebuch festhält. Dabei könnte es um Beobachtung gehen wie: Wie habe ich mir eine neue Struktur unter Rückbezug auf andere Sprachen merken können? Was hat mir geholfen? Wie kann ich die gewonnenen Erkenntnisse überprüfen, absichern und dauerhaft verfügbar machen? Wie lernen andere Mitglieder meiner Gruppe? Der mehrsprachig orientierte Fremdsprachenunterricht steht erst am Anfang seiner Entwicklung. Wir sollten seine Förderung ernsthaft betreiben und uns in Unterricht und Forschung darauf einlassen. Literatur Brammerts, H. & Kleppin, K. (2000): Übersetzen im Tandem und Kooperatives Dolmetschen in mehrsprachigen Lerngruppen. In: Fremdsprache Deutsch 23, 40-46. Butzkamm, W. (1993): Psycholinguistik des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen, Basel. De Angelis, G. & Selinker, L. (2001): Interlanguage Transfer and Competing Linguistic Systems in the Multilingual Mind. In: J. Cenoz, B. Hufeisen & U. Jessner (Hrsg.): Cross-Linguistic Influence in Third Language Acquisition. Psychological Perspectives . Clevedon, 42-58. Gogolin, I. (1984): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule . Münster, New York. Hufeisen, B. & Marx, N. (Hrsg.) (2014): Euro- ComGerm - Die sieben Siebe. Germanische Sprachen lesen lernen . Aachen. Königs, F. G. (2000): Übersetzen im Deutschunterricht? Ja, aber anders. In: Fremdsprache Deutsch 23, 6-13. Königs, F. G. 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Hierzu notwendige plurilinguale und didaktische Transfereffekte greifen sowohl proaktiv auf neue Zielsprachen zu als auch retroaktiv, indem sie das bereits vorhandene mehrsprachige mentale Lexikon mit neuen Informationen überformen. Die gezielt freigesetzten Synergien unterscheiden das vernetzende Sprachenlernen von der additiven Mehrsprachigkeit bzw. den beziehungslos nebeneinanderstehenden Curricula und Praxen des Unterrichts einzelner Sprachen. Bei der Konzeption der Mehrsprachigkeitsdidaktik wurde von Anfang an mitgedacht, dass ihre Kehrseite die Mehrkulturalität ist (↗ Art. 28). Der Wunsch nach plurilingualer Lernökonomie steht am Anfang des Desiderats eines Gesamtsprachencurriculums (↗ Art. 14) oder einer integrativen Sprachdidaktik ( didactique intégrée, integrated approach ). Beide Dachbegriffe umschließen Mutter-, Zweit- und Fremdsprachen, Fachsprachen sowie unterschiedliche Bildungsziele und Methoden wie CLIL (↗ Art. 111, 115), frühes Fremdsprachenlernen, lebensbegleitendes Lernen, Sensibilisierung für Sprachen und Sprachenlernen (↗ Art. 22), und zwar im Rahmen einer diversifizierten und abgestuften Mehrsprachigkeit. Die Pluralen Ansätze zu Sprachen und Kulturen ( approches plurielles ) (↗ Art. 20) mit den Schwerpunkten Sprachenbewusstheit ( Eveil aux langues ), interkulturelles Lernen, Interkomprehension (↗ Art. 85) und integrative Didaktik bieten Deskriptoren für miteinander zu vernetzende Lernkontexte und Methoden. Allen Konzepten gemeinsam ist die Orientierung an metakognitiven Strategien zur sprachen- und lernbezogenen Sensibilisierung und, wenn lernerseitig möglich, zum Vergleichen mehrsprachiger Strukturen. Zugrunde liegt ein von den Wissenschaften vom Lehren und Lernen entwickelter, fächerübergreifend fassender Kompetenzbegriff, der <?page no="57"?> 48 Franz-JosephMeißner im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (↗ Art. 18) Eingang fand. Je offener die Konzepte sind, desto stärker verlangen sie eine über die Schulzeit hinausgreifende Lernplanung, wie sie in der Unterscheidung zwischen einer vorhandenen und noch zu erwerbenden Mehrsprachigkeit entgegentritt (Hallet & Königs 2010). Die Dachbegriffe Mehrsprachigkeitsdidaktik, integrierte Didaktik und Plurale Ansätze antworten auf einen Kontext, der global bis lokal von sozietaler Vielsprachigkeit und Vielkulturalität gekennzeichnet ist, wie es die Begriffe Mehrheitsversus Minderheitensprachen, autochthone Sprachen oder Varietäten und Migrantensprachen andeuten (↗ Einleitung, Art. 7). Bei Letzteren geht es vor allem darum, dem Verlust von Herkunftssprachen oder regionalen Sprachen vorzubeugen. Die Vielsprachigkeit impliziert allerdings, dass die meisten auf dem Territorium eines Staates vorhandenen Sprachen - in Deutschland weit über hundert (Chlosta & Ostermann 2008) - nicht einmal als herkunftssprachlicher Unterricht berücksichtigt werden können, was die Relevanz von Einstellungszielen (Offenheit, Empathie, Toleranz usw.) und den Einsatz entsprechender Strategien unterstreicht. Vorrangig gilt allerdings europaweit das Erlernen der Staats- und Umgebungssprache auf nativem Kompetenzniveau. Defizite hier verbinden sich mit einer geringen Chance auf Integration und beruflichem Erfolg in der aufnehmenden Gesellschaft. 2. Kommunikationskompetenz in einer vielsprachigen EU Neben den nationalen Sprachenpolitiken setzt - neben den einzelnen Mitgliedsstaaten - die Europäische Union mit ihren 24 Amts- und weiteren Sprachen (↗ Art. 12) den politischen Rahmen der genannten Leitbegriffe. Diese liefern die didaktischen Antworten auf die Heterogenität der EU-Bevölkerungen und ihrer Sprachen; sodann auf das Potential des Englischen als Medium für die internationale Kommunikation, aber auch als eine Bedrohung für den Status der einzelnen EU-Sprachen (↗ Art. 13, Phillipson 2003). Ziel ist stets ein Mehr an Kommunikationsfähigkeit der EU- Bürger - trotz vorhandener Sprachbarrieren. Es verlangt neben der Ausbildung produktiver Kompetenzen auch die der rezeptiven Fertigkeiten. Der von Horst G. Klein (1997) geprägte Begriff der Eurokomprehension nimmt auf die Interkomprehension zwischen den drei großen Sprachfamilien Europas Bezug. Am Gegenstand der romanischen Sprachen erarbeiteten Klein & Stegmann eine ‚Filtermethode‘, die die Ressourcen für einen interromanischen Transfer zusammenstellt (↗ Art. 67). Hufeisen & Marx (↗ Art. 68) adaptierten das Modell der ‚Sieben Siebe‘ für die germanischen Sprachen und Tafel et al. (2009) legten eine Einführung in die slawische Interkomprehension vor. Zweifellos hat das Interesse an europäischer Interkomprehension weiteres Interesse geweckt, so z. B. zur Interkomprehension zwischen den Turksprachen (Massakowa 2014). Auch außerhalb Europas stößt der interkomprehensive Ansatz auf breites Interesse. 3. Jüngere Geschichte des Begriffs und der Nachbarbegriffe Die Formel „Didaktik der Mehrsprachigkeit“ (↗ Einleitung) findet sich erstmals bei Mario Wandruszka (1979: 313, 323 ff.). Im Kern geht es bereits um das „kontrastive Lernen“ von Sprachen, Sprachaufmerksamkeit und <?page no="58"?> 49 7. Mehrsprachigkeitsdidaktik das reflexive Vergleichen sprachlicher Strukturen; aber, dies betont Wandruszka (1986), immer auch um Einsichten in den kulturellen Reichtum einer sich in vielen Sprachen ausdrückenden res publica litterarum . Mit Blick auf das damalige „Europa der Sechs“ bzw. die damalige Europäische Gemeinschaft entwarfen die ‚Homburger Empfehlungen‘ (Christ 1980) das Modell der sog. sprachenteiligen Gesellschaft, deren Bürgerinnen und Bürger von den meisten Anderssprachigen aus den sechs Ländern verstanden wurden. Die Empfehlungen nehmen Schlüsselbegriffe der späteren Schulsprachenpolitik vorweg: Begegnungs-, Fundamental-, Verkehrs-, Erschließungssprache, Sprachlernprozesse, bilinguale Klassen und bieten damit ein Curriculum für eine lebenslang auf- und weiterbaubare Mehrsprachigkeit. In Weiterführung der ‚Vorschläge für einen erweiterten Fremdsprachenunterricht‘ (Bertrand & Christ 1990) konkretisieren die ‚Umrisse der Mehrsprachigkeitsdidaktik‘ die bisherigen Ansätze um ein auf Vernetzung von Sprachen basiertes Konzept des Lernens und des Lehrens von (zunächst) rezeptiver Mehrsprachigkeit (Meißner 1995). In den ‚Umrissen‘ tauchen erstmalig grundlegende Begriffe wie Transferbasis, interlingualer Transfer und didaktischer Transfer, Sprachlernkompetenz (↗ Art. 20) auf. Die ‚Umrisse‘ betonten zugleich programmatisch, Prozesse des interlingualen Identifikationstransfers zunächst romanischer Sprachen durch Deutschsprachige analysieren zu wollen, um die Praktikabilität des interkomprehensiven Ansatzes in schulischem und außerschulischem Unterricht zu erproben und zu dokumentieren (↗ Art. 63, 70, 88; zu Interkomprehension und Lernerautonomie; zu Interkomprehension und Lerner u. a. m.). Weitere Bezugsfelder waren die empirisch begründete Entwicklung einer erweiterten Transfertypik und Studien zum Zusammenhang von Interkomprehension, Mehrsprachigkeit, Selbstwirksamkeit und Sprachlernmotivation (↗ Art. 64). In der Aktivierung des lernrelevanten Vorwissens liegt auch die Verbindung von Interkomprehension zu einer Methodik der Tertiärsprachen (↗ Art. 86). In der Romania sind didática do plurilinguismo und didactique de l’intercompréhension zumeist Synonyme . Der Begriff interkompréhension, intercompreensāo … schließt an die Fähigkeit der Romanophonen zum spontanen lesenden und hörenden Verstehen der Schwestersprachen an. Den Erstbeleg lieferte wohl Francis Debyser (1984). Schon 1975 hatte Louise Dabène ein Modell für das Erlernen typologisch nahverwandter Sprachen präsentiert, und 1971 hatte der Augsburger Romanist Fritz Abel beschrieben, wie sich im (deutschen) Französischunterricht rezeptive Kenntnisse des Spanischen vermitteln lassen. 1990 gibt die Fédération Internationale des Professeurs de Français (F. I.P. F.) dem Wort intercompréhension eine sprachpolitische Prägung. Wie sie unterstreicht, erweitert doch die romanische Interkomprehension den kommunikativen Radius z. B. des Französischen von 107 Millionen nativer Sprecher (Statista 2018) tendenziell auf 700 bis 800 Millionen nativer und auf viele Millionen sekundärer Sprachteilhaber. Intercompréhension gerät nun in die Nähe der Sprachlenkung (Schmitt 1988). Spätestens mit Sammelbänden wie der von Blanche-Benveniste & Valli 1997 erreicht der Neologismus dann die internationale Fachöffentlichkeit, wozu auch zahlreiche europäische Projekte beitrugen. <?page no="59"?> 50 Franz-JosephMeißner 4. Entwicklungen in der Romania und in Österreich 4.1. La didactique du plurilinguisme in der Romania Schon früh verband sich der Ansatz mit der Produktion von Lernmaterialien und breiter empirischer Forschung. Eurom4, Galatea u. a. m folgen dem Prinzip, nur das zu lehren, was interromanisch intransparent ist. Schwerpunkte der Forschungen betreffen Interkomprehension in den einzelnen Fertigkeiten und zwischen unterschiedlichen romanischen Sprachen, Lehren und Lernen romanischer Sprachen mithilfe von Interkomprehension, interkomprehensiv basierte mehrsprachige Projektarbeit und Lehrerbildung. Mit ‚Euro-Mania‘ entwickelte Escudé (2010) eine Methode für den muttersprachlichen Unterricht von Französisch an 8 bis 11jährige, die darauf zielt, inhaltliche Themen in mehreren romanischen Sprachen zu lehren und lernen. Erweitert Interkomprehension einerseits den kommunikativen Radius im Sinne der Gesamtromania, so erleichtert sie andererseits den Zugang zu den ‚kleinen‘ Sprachen und Varietäten (↗ Art. 91). Der interkomprehensive Ansatz unterstützt damit auch vor allem die autochthonen Minderheitensprachen, ein weiteres Ziel der Europäischen Union. 4.2. Das Curriculum Mehrsprachigkeit in Österreich Generell antworten didaktische Konzepte auf konkrete Kontexte, Interessen und Intentionen, sie sind dementsprechend heterogen (↗ Art. 50, 51, 52). Vor dem Hintergrund einer positiven Bewertung von Mehrsprachigkeit (↗ Einleitung) beklagt Gogolin (1994) aus Sicht der Erziehungswissenschaften das Unvermögen der deutschen Schule, das schülerseitig durch Migration vorhandene Potential an Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zu berücksichtigen („monolingualer Habitus“). Hu (2011) und Krumm (s. u.) betonen das Desiderat, die „lebensweltliche“ Vielsprachigkeit mit einem Konzept zur Förderung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zu verbinden. Idealiter sollte aus dieser Sicht eine Mehrsprachigkeitsdidaktik das gesamte Feld der mit Vielsprachigkeit interagierenden Formen der individuellen Mehrsprachigkeit erfassen. Dies versuchen tentativ Krumm & Reich mit dem für Österreich (↗ Art. 119) entwickelten ‚Curriculum Mehrsprachigkeit‘ (2011). Es handelt sich um den Entwurf eines Fächer und Sprachen übergreifenden Gesamtlehrplans, nach dessen Muster die Schulentwicklung auf die vorhandene Vielsprachigkeit reagieren kann. Das Curriculum umgreift quasi alle Schulstufen und -typen. Es fokussiert Sprachaufmerksamkeit, Sprachlernbewusstheit, Lernstrategien, Sensibilität für Kulturen und Heterokulturalität. Es nennt Lernziele, Methoden und abstützende Materialien. ‚Alle‘ in der Alpenrepublik präsenten Sprachen mit Ausnahme der Kunstsprachen und einschließlich der Alten Sprachen werden anvisiert. Die Passung für unterschiedliche Lernkontexte und Sprachen zielt primär auf Einstellungsziele: Offenheit gegenüber Mehrsprachigkeit und fremden Kulturen, Wertschätzung von Pluralität, Toleranz. Das Vergleichen von Sprachen bleibt allerdings relativ unverbindlich, solange konkrete Sprachen und Sprachenfamilien und deren Potentiale für Mehrsprachigkeit. nicht explizit nicht vorgestellt werden. Grundsätzlich gilt selbstredend: Sprach- und Mehrsprachenerwerb finden nicht statt, solange die Lerner nicht konkreten (ziel)sprachlichen Strukturen begegnen und diese mental verarbeiten. <?page no="60"?> 51 7. Mehrsprachigkeitsdidaktik Ähnliche, aber weniger umfassende Pläne wie das Curriculum Mehrsprachigkeit, liegen für die Schweiz vor (↗ Art. 118). 5. Ausblick Eine umfassende Mehrsprachigkeitsdidaktik oder integrative Didaktik wird spätestens dann erreicht sein, wenn Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr fragen, wie sie denn ihren Unterricht an vielsprachige Klassen optimieren können. Die Antwort kann nur aus einem Mix von Lehr- und Lernverfahren bestehen, der sich unter den Oberbegriff einer integrativen Didaktik bringen lässt. Deren wesentliche Elemente, vor allem solche der Interkomprehension, müssen lernwirksam den gesamten Sprachunterricht (Muttersprache, Englisch, Französisch usw.) durchziehen und in der täglichen Praxis von Lehren und Lernen zum Tragen kommen. Mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze können somit entweder als ein selbstständiges Kursangebot oder transversal in der Praxis der einzelnen Sprachfächer - der Muttersprachen, Zweit- und Fremdsprachen - verortet werden. Hierbei ist im Blick zu halten, dass Mehrsprachigkeitsdidaktik ein mächtiger Ansatz zur Entfaltung von Sprachlernkompetenz ist (↗ Art. 22). Ein Hoffnungsschimmer: Europas Schüler wollen mehr Sprachen lernen (Androulakis et al. 2007). Der Fremdsprachenunterricht muss weg von Konzepten der doppelten Einsprachigkeit im Sinne von etwa Deutsch plus Englisch und hin zu solchen der Mehrsprachigkeit: Deutsch und Englisch mit weiteren Sprachen. Literatur Abel. F. (1971): Die Vermittlung passiver Spanisch- und Italienischkenntnisse im Rahmen des Französischunterrichts. In: Die Neueren Sprachen 70, 355-359. Androulakis, G., Beckmann, C., Blondin, C. et al. (2007): Pour le multilinguisme: Exploiter à l’école la diversité des contextes européens. 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Definition Mehrkulturalitätsdidaktik hat Mehrkulturalität als Rahmenbedingung und Inhalt des Lehrens und Lernens von Sprachen zum Gegenstand. Dies bezieht sich auf mehrkulturelle biografische Bezüge aller am Prozess des Lehrens und Lernens von Sprachen Beteiligten, auf mehrkulturelle Kontexte der Gesellschaft, in der diese Prozesse ablaufen, und auf mehrkulturelle Bezüge der Themen und Inhalte. Mehrkulturalität ist abzugrenzen von Bikulturalität, d. h. es geht immer um mehr als zwei involvierte Kulturen. Damit stellt sich auch die Frage nach dem Kulturbegriff und nach verschiedenen Definitionen von Kultur (↗ Art. 1). Spätestens seit den 1990er Jahren wurde eine komplexe Debatte zum Kulturbegriff in der Fremdsprachendidaktik und in den <?page no="62"?> 53 8. Mehrkulturalitätsdidaktik Kulturwissenschaften geführt, ohne dass dies zu einem breit akzeptierten Konsens geführt hätte. Dabei wurden u. a. das Spektrum zwischen einem engen und einem breiten Kulturbegriff bzw. die Schwierigkeit der Zuordnung bestimmter kultureller Merkmale zu einer Kultur oder auch Fragen der (unzulässigen) Generalisierung und Homogenisierung einer bestimmten Kultur deutlich. Die Mehrkulturalitätsdidaktik hat diese Fragen zu bedenken und in jedem einzelnen Fall neu zu konkretisieren. Damit geht Mehrkulturalitätsdidaktik auch über die in der Fremdsprachendidaktik intensiv verhandelten Fragen des interkulturellen Lernens (↗ Art. 32) und interkultureller Kompetenzen (Fäcke 2005) hinaus, deren Schwerpunkt über Jahrzehnte in der Auseinandersetzung mit oder zwischen zwei Kulturen besteht. Konkret wird nicht allein das Miteinander z. B. zwischen Deutschen und Franzosen anvisiert, sondern ein differenzierender Blick auf weitere involvierte Kulturen neben Deutschland und Frankreich eröffnet, u. a. die Kulturen autochthoner (↗ Art. 117) und allochthoner Minderheiten. 2. Entwicklungen im historischen Rückblick Der Begriff der Mehrkulturalitätsdidaktik wird hier analog zur Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) verwandt, die vor allem seit den 1990er Jahren in der Fremdsprachendidaktik intensiv diskutiert wird. Davon abzugrenzen sind Begriffe, die in früheren Jahrzehnten Verwendung fanden: Die Debatte zu Multikulturalität / Multikulturalismus der 1990er Jahre war u. a. zentriert auf Themenfelder der Kunst und Musik (Leggewie 1990). Sie manifestierte sich z. B. in Projekten wie dem in Berlin gegründeten Radio Multikulti oder dem Karneval der Kulturen . Charakteristisch für diese Debatte ist ein positiver Fokus auf Gastronomie, Folklore, Tanz und Musik, damit auf exotische und schöne Besonderheiten der jeweiligen Kulturen, z. B. Sambatänzerinnen aus Brasilien oder Trommlergruppen aus dem Senegal. Der fröhliche Blick beinhaltet stereotypisierende und kulturalistische Elemente (↗ Art. 33) ebenso wie ein Ausblenden politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen und Hierarchien zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen. In schulischen Kontexten realisiert sich dieser Ansatz in der Berücksichtigung der Esskulturen ethnischer Minderheiten oder der Folklore verschiedener Herkunftskulturen. Insgesamt wird diesem Zugang Verharmlosung sozialer und politischer Dimensionen oder auch eine (innen-)politische Instrumentalisierung vorgeworfen. Der Begriff der Multikulturalität wird in den folgenden Jahren durch Begriffe wie Interkulturalität (↗ Art. 17, 32) und Transkulturalität (↗ Art. 41) abgelöst, wobei der ältere Terminus Interkulturalität vielfach als Oberbegriff gilt. Das Präfix Inter verweist auf ein heterokulturelles Gegenüber, gegebenenfalls auf ein Miteinander, auf ein Verschränken und auf Beziehungen zwischen den Kulturen. Als Klammerbegriff umfasst Interkulturalität verschiedene Ansätze, die Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen den Kulturen und Individuen in den Vordergrund schieben (↗ Art. 33, 34, 35, 36, 37). Dabei wird in der Fremdsprachendidaktik oft ein bikulturelles Paradigma des Austauschs zwischen dem Eigenen und dem Fremden bzw. dem Anderen mitgedacht (Bausch, Christ & Krumm 1994). Transkulturalität umfasst Positionen in der Tradition der Postmoderne, die Abgrenzungen zwischen einzelnen Kulturen grundlegend in <?page no="63"?> 54 ChristianeFäcke Frage stellen (Welsch 1992) (↗ Art. 40). Wesentlich bei diesen Ansätzen ist die Betonung der Aufbrechung des Kontrasts zwischen zwei oder mehreren Kulturen (Eckert & Wendt 2003). Der aus der Soziologie und Pädagogik stammende Begriff der Diversität ( diversity ) wird derzeit als Paradigma zur Beschreibung und Wertschätzung von Vielfalt in der Gesellschaft genutzt. Dabei geht es um eine Erweiterung der Fokussierung ethnischer und kultureller Herkunft auf die zusätzliche Berücksichtigung weiterer gesellschaftlicher Kategorien entlang von Hierarchisierungen und Diskriminierungen (↗ Art. 38): Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter, Religion oder Behinderung. Im Mittelpunkt stehen die Interdependenzen zwischen diesen Kategorien, die je nach Kontext unterschiedliche Gewichtungen erfahren (Allemann-Ghionda 2013). Ein Mensch wird damit nicht nur als „Spanier“ oder „Amerikaner“ eingestuft, sondern z. B. als älterer homosexueller katholischer Spanier oder als jugendliche Schwarze im Rollstuhl aus Alabama, wobei je nach Kontext verschiedene Dimensionen der Identität aktiviert werden. Diskurse der Diversität umfassen auch feministische Diskurse, Auseinandersetzungen zu Altersdiskriminierung oder Positionen zu Behinderung und Inklusion. In der Fremdsprachendidaktik werden Fragen nach der Relevanz von Gender für das Sprachenlernen ebenso diskutiert wie der Altersfaktor beim Spracherwerb oder die seit Kurzem in Schulen umgesetzte Forderung nach Inklusion. 3. Entwicklungen im internationalen Vergleich Während im deutschsprachigen Raum Konzepte wie Mehrkulturalität, Multikulturalismus, Plurikulturalität, Pluralität, Vielfalt und Diversität zum Tragen kommen, bestehen in anderen Sprachräumen z.T. vergleichbare Debatten. Im englischsprachigen Raum werden Konzepte wie multiculturalism, cultural pluralism und cultural diversity diskutiert (z. B. Taylor 1994). In den USA gehören Metaphern wie melting pot und salad bowl zur Identität einer nationalen Einwanderergesellschaft. Beide Bilder evozieren Vorstellungen eines durchmischten Miteinanders in einem Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“ und des American Dream . Damit sind grundlegend Fragen von gesellschaftlicher Integration, kultureller Assimilation und der Rassentrennung berührt, die in der amerikanischen Geschichte sehr kontrovers diskutiert wurden. Dabei spielt die Verquickung von race, class und gender eine wichtige Rolle. In Großbritannien ist multiculturalism vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte relevant, die in den 1950er und 1960er Jahren zu einer Aufnahme von Menschen aus den Ländern des Commonwealth mit allen Rechten in Großbritannien führte. Diskurse zur Auseinandersetzung um ethnisch-kulturelle Vielfalt, Identität einer mehrkulturellen Gesellschaft und Umgang mit Minderheiten erfolgen auch hier sehr heterogen und situieren sich zwischen Ablehnung der Vielfalt und der Anderen bzw. „Fremden“, Öffnung im Sinne einer Akzeptanz des multiculturalism und verschiedenen Realisierungen von Integration und Diskriminierung, Assimilation und Ausgrenzung. Englischsprachige Diskurse einer Mehrkulturalitätsdidaktik avant la lettre thematisieren und analysieren diese Konfliktfelder in pädagogischen und didaktischen Kontexten. Dazu gehören u. a. die British Cultural Studies mit ihrer Erweiterung des Kulturbegriffs auf materielle Artefakte, beobachtbare Verhaltensstrukturen und dahinterstehende vermutete Mentalitäten (Williams 1989) sowie auf mar- <?page no="64"?> 55 8. Mehrkulturalitätsdidaktik ginalisierte Gruppen, kulturelle Differenzen, Hegemonien und Machtstrukturen (Hall 1990). American Cultural Studies beinhalten verschiedene Etappen, u. a. Diskussionen des Kulturbegriffs in den Popular Culture Studies , im Ideological Criticism und im New Historicism sowie feministische und antirassistische Perspektiven der Race and Gender Studies oder auch neueste Entwicklungen hin zu Border Crossings, Multiple Identities und Transnationalisms (Fluck 2012). In Frankreich sind Vorstellungen zu ethnischer Diversität und Mehrkulturalität - multiculturalisme - seit der Französischen Revolution durch einen republikanischen Universalismus (↗ Art. 37) geprägt, der die Gleichheit ( égalité ) aller Bürger der Republik ohne Unterscheidung ihrer ethnischen und kulturellen Herkunft postuliert. Dieses Postulat der égalité erfolgt allerdings um den Preis einer Integration durch Assimilation und tendenzielle Aufgabe der Herkunftskultur, eröffnet zugleich jedoch Zugang zur Gemeinschaft und zur Nation. Die Einheit der französischen Nation impliziert die Verlagerung ethnischer, kultureller oder religiöser Identitäten ins Private und die Vorrangstellung der Ideale der Französischen Revolution als Fundament der Einheitsstiftung. Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Diskurse tragen der Mehrkulturalität der heutigen französischen Gesellschaft Rechnung. Die Argumentationen in einer didactique des langues et des cultures zur interculturalité umfassen seit den 1970er Jahren das Recht auf Differenz immigrierter Minderheiten, die universalistische Aufrechterhaltung republikanischer Werte und die Anerkennung von Pluralität und Diversität als Teil der gesellschaftlichen Realität Frankreichs in den 1990er Jahren (z. B. Abdallah-Pretceille & Porcher 1996). Die anfänglich auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund konzentrierten Diskurse werden auf die gesamte Schülerschaft ausgeweitet, weitere Themenfelder sind die Interkulturalität im Kontext der europäischen Nachbarstaaten sowie Englisch, Deutsch und Spanisch als Fremdsprachen. Nach 2000 geht es in der approche pluraliste (Meunier 2008) um Einstellungen und interkulturelle Kompetenzen in einer von Heterogenität und kultureller Diversität geprägten Gesellschaft. Insgesamt erweist sich in europäischen Diskursen die Unterscheidung der Präfixe multi- und pluri-, wie sie im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001: Kap. 8.1) und im CEFR Companion Volume with New Descriptors (Council of Europe 2018) vorgenommen ist, als prägend: Multikulturelle Kompetenz dient zur Beschreibung gesellschaftlicher Kontexte, während plurikulturelle Kompetenz auf Einzelne bezogen wird (↗ Art. 18, 19). 4. Ausblick Entwicklungen in der Forschung spiegeln gesellschaftliche Entwicklungen in einzelnen Ländern und Sprachräumen ebenso wie in ihrer internationalen Verflechtung wider. Einigkeit besteht in der Anerkennung von Mehrkulturalität als Realität in allen betrachteten Gesellschaften in Zusammenhang mit Migration und Globalisierung. Im deutschsprachigen Raum ist Mehrkulturalität ein Gegenstand verschiedener Disziplinen. Hierzu gehören • die Kulturwissenschaften und ihre Beschreibungen gesellschaftlicher Verhältnisse sowie historischer Entwicklungen einzelner Länder oder im Vergleich (↗ Art. 35), • die Erziehungswissenschaften, die Mehrkulturalität als Rahmenbedingung für pädagogische Kontexte und deren Relevanz dieses Faktors für mehrkulturell <?page no="65"?> 56 ChristianeFäcke geprägte Individuen in sozialpädagogischen und schulischen Kontexten analysieren (↗ Art. 16), • die Bildungswissenschaften und ihre Berücksichtigung mehrkultureller Bezüge z. B. als Faktor im Bildungsmonitoring oder auf individueller Ebene für den schulischen Erfolg (↗ Art. 16), • die Fremdsprachendidaktik, die sprachenpolitische Entwicklungen diskutiert sowie Erweiterungen interkulturellen und transkulturellen Lernens auf mehrkulturelle Kontexte untersucht (↗ Art. 17), • das Fach Deutsch als Zweit- und Fremdsprache, in dem mehrkulturelle Faktoren und ihre Auswirkungen auf den Erwerb von Deutschkenntnissen von Menschen mit Migrationshintergrund und Migranten thematisiert werden (↗ Art. 51, 52, 53, 106). Diese verschiedenen Perspektiven auf Mehrkulturalität eröffnen facettenreiche Perspektiven in einem komplexen gesellschaftspolitischen Umfeld, das vermeintliche Neutralität nicht zulässt. Daher sind diese Forschungsdiskurse und Standpunkte zwingend hoch politisch, mit Fragen der Identität verknüpft (↗ Art. 1) und nie abschließend zu führen. Als Spiegel mehrkultureller Gesellschaften werden sie auch in Zukunft Ambivalenzen, Brüche und komplexe sowie einander widersprechende Zielsetzungen sichtbar machen. Literatur Abdallah-Pretceille, M. & Porcher, L. (1996): Éducation et communication interculturelle . Paris. Allemann-Ghionda, C. (2013): Bildung für alle, Diversität und Inklusion: Internationale Perspektiven . Paderborn u. a. Bausch, K.-R., Christ, H. & Krumm, H.-J. (Hrsg.) (1994): Interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht. Arbeitspapiere der 14. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts . Tübingen. Council of Europe (Hrsg.) (2018): Companion Volume with New Descriptors-/ Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs . [www.coe.int/ lang-cefr]. Eckerth, J. & Wendt, M. (Hrsg.) (2003): Interkulturelles und transkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht . Frankfurt a. M. u. a. Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen . München, Berlin. Fäcke, C. (2005): Französischunterricht heute: Theoretische Positionen, didaktische Leitlinien, konkrete Umsetzungen. Eine Bestandsaufnahme - insbesondere im Hinblick auf interkulturelles Lernen. In: Neusprachliche Mitteilungen 58/ 4, 5-16. Fluck, W. (2012): American Cultural Studies. In: Middeke, M. et al. (Hrsg.): English and American Studies. Theory and Practice . Stuttgart, Weimar, 287-300. Hall, S. (1990): The Emergence of Cultural Studies and the Crisis of the Humanities. In: The Humanities as Social Technology 53, 11-23. Leggewie, C. (1990): Multi Kulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik . Berlin. Meunier, O. (2008): Les approches interculturelles dans le système scolaire français: vers une ouverture de la forme scolaire à la pluralité culturelle ? In: Socio-logos , 3/ 2008. [http: / / journals.openedition.org/ socio-logos/ 1962]. Taylor, C. (1994): Multiculturalism. Examining the Politics of Recognition . Princeton, NJ. Welsch, W. (1992): Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen . München. Williams, R. (1989): Resources of Hope: Culture, Democracy, Socialism . London. Christiane Fäcke <?page no="66"?> B Europäische Mehrsprachigkeits- und Fremdsprachenkonzepte 9. Politische Dimensionen der rezeptiven Mehrsprachigkeit für die europäische Demokratie 1. Aufriss: die Finalität der EU und die Mehrsprachigkeit Jeder europäische Bürger sollte sich außer in seiner Muttersprache in mindestens zwei anderen Sprachen gut verständigen können. (…) die bereits von mehreren Mitgliedstaaten erzielten Fortschritte [zeigen], dass es absolut erreichbar ist. (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2003: 4) Die Zielformulierung der Europäischen Union definiert als mehrsprachiges Minimum eine operable Mehrsprachenkompetenz in drei Sprachen, gekennzeichnet durch die Beherrschung aller vier Teilfertigkeiten auf freilich unterschiedlichen Kompetenzstufen. Das Adverb „mindestens“ signalisiert deren Erweiterung auf eine diversifizierte und abgestufte Mehrsprachigkeit. Die Abstufung betrifft zwei Aspekte: das in den Fremdsprachen zu erreichende Kompetenzniveau und die Reduktion aller vier Grundfertigkeiten auf zwei rezeptive Kompetenzen. - Die Zielvorgabe antwortet auf die Vielsprachigkeit der EU. - Zugleich rückt die Kommission von der unrealistischen Idealvorstellung des native speaker ebenso ab wie von der Fokussierung auf formal-sprachliche Fehlerlosigkeit; stattdessen wertet sie die mündlichen Kompetenzen und die interkulturelle Pragmatik im Rahmen einer interkulturellen Kommunikationsfähigkeit als übergeordnetes Lehrziel auf. An die Stelle des native speaker als Zielvorstellung tritt der mehrsprachige interkulturelle Sprecher. 1.1. Mehrsprachige Kompetenzprofile und europäische Kommunikation Während man im Europa der Sechs der 1960er Jahre noch mit Deutsch, Französisch, Italienisch, Niederländisch und der Weltverständigungssprache Englisch auszukommen glaubte, um den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu geben, in interkultureller Kommunikation ihre Muttersprachen zu gebrauchen, ist eine solche Eingrenzung in einer Union mit 24 Sprachen zu eng (↗ Art. 11). <?page no="67"?> 58 Franz-JosephMeißner Dies verlangt ein quantitativ wie qualitativ erweitertes schulisches und außerschulisches Fremdsprachenangebot im Sinne des mehrsprachigen Minimums. Faktisch schränkt die Minimalformel allerdings die Wahlfreiheit zugunsten aller EU-Sprachen insofern ein, als eine von zwei Fremdsprachen (außerhalb der irischen Republik, Malta und des Vereinigten Königreichs) immer und überall Englisch ist. Dies verbindet sich zwar mit dem gewaltigen Vorteil, der sich aus der Beherrschung einer Weltverständigungssprache ergibt, es setzt jedoch Menschen, die das Englische nur eingeschränkt oder gar nicht beherrschen, in einen nicht vertretbaren Nachteil. Auch bei der Herstellung einer einheitlichen europäischen politischen Öffentlichkeit bleibt Englisch als ‚Eurosprache‘ defizient, da es abgesehen von den englischsprachigen Gesellschaften nie Ausdruck der involvierten Kulturen und ihrer Themen ist. Keine Frage ist, dass die Mehrsprachigkeit unter Einschluss von Englisch ebenso eine breite Förderung verdient (↗ Art. 12) wie der Ausbau einer zweiten Fremdsprache auf hohem Kompetenzniveau in allen vier Grundfertigkeiten und den Weiterbau zu einer erweiterten Mehrsprachigkeit. 1.2. Mehrsprachigkeit als sprachenpolitische Leitlinie der EU Die EU-Leitlinie zur Fremdsprachenkompetenz steht in einer 50jährigen Tradition, die mit der European Cultural Convention (1954) ihren Anfang nimmt. Obwohl mehr Sprachenkenntnis per se noch nicht zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker führt (was auch die politisch verantwortlich Handelnden immer wussten), geht die EU davon aus, dass mehr individuelle Mehrsprachigkeit ihren Bürgerinnen und Bürgern mehr Verständnis füreinander („mutual understanding“) ermöglicht. Dies erklären explizit oder implizit zahlreiche EU-Dokumente, darunter der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen ( GeR ) (2001) und das diesen ergänzende Companion Volume (2018) (↗ Art. 18, 19), der Guide for the Development and implementation of curricula for plurilingual and intercultural education (Beacco et al. 2016) und Linguistic integration of adult migrants. Guide to policy development and implementation (Council of Europe 2014), um nur die vielleicht wichtigsten programmatischen Publikationen zu nennen. Mit den zuletzt genannten Dokumenten hat die EU ein unübersehbares Signal zur Entwicklung von mehr Mehrsprachigkeit an ihre Mitgliedsstaaten gesendet. Und diese bemühen sich, wie die Eurostatistiken (Eurydice 2012) belegen, die Empfehlungen auch umzusetzen (↗ Art. 21). Generell sieht die EU in der Mehrsprachigkeit eine „Schlüsselkompetenz“, die es erlaubt, innerhalb der Union Freizügigkeit des Arbeitsplatzes und der Residenz wahrzunehmen. Mit dieser Formulierung knüpft die Europäische Kommission an ihr Weißbuch Lehren und Lernen (…) Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft (1996: 3) an. Die individuelle und diversifizierte Mehrsprachigkeit selbst gilt auch als eine Strategie, um die EU zu dem „wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt“ zu entwickeln (ebd.). Zur Wechselwirkung zwischen einer breiten individuellen Mehrsprachigkeit und dem Funktionieren einer vielsprachigen Europäischen Demokratie schweigen sich die EU-Publikationen indes aus. Dabei wird eine diversifizierte Mehrsprachigkeit umso wichtiger, desto stärker die Finalität der Union auf eine solche Demokratie und die ihr zugrunde liegende Wertegemeinschaft zielt, in der sich das in weit über zwanzig Muttersprachen und <?page no="68"?> 59 9. PolitischeDimensionenderrezeptivenMehrsprachigkeitfürdieeuropäischeDemokratie Nationen ausdrückende (souveräne) Wahlvolk ein gemeinsames europäisches Parlament gibt und dieses die Exekutive wählt. Mag auch die Finalität der EU umstritten sein; unbestreitbar ist das Unvermögen der einzelnen europäischen Nationalstaaten, allein die epochalen Herausforderungen unserer Zeit zu lösen: den Klimawandel bekämpfen, Wohlstand und Sicherheit der Bevölkerung sichern, der europäischen Bevölkerung eine Stimme in der Welt geben. Dazu reicht ein lockerer Staatenbund nicht. 2. Die Rolle der Sprachen als meinungsgenerierende Faktoren in einer vielsprachigen Union aus sechsundzwanzig Staaten Es gibt nur wenige repräsentative Demokratien, in denen die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger nicht dieselbe Sprache sprechen und verstehen können. Die politische Wissenschaft betont seit Jahrzehnten (z. B. von Kielmansegg 1992), dass die Vielsprachigkeit und das hieraus folgende Fehlen einer gemeinsamen politischen Öffentlichkeit die wesentlichsten Hindernisse für den Ausbau einer europäischen Demokratie darstellen. Im Kern betriff dies vor allem die rezeptiv-mehrsprachige Kompetenz, denn sie entscheidet elementar darüber, ob die Bürger die Themen der ‚anderen‘ überhaupt verstehen können. Solange dies nicht der Fall ist, müssen Themen das Filter von Übersetzungen und nationalsprachlicher Berichterstattung durchlaufen. Dass es hierbei an affektivem Potenzial, das diese Themen in den sie stark betreffenden Menschen wachrufen, verloren geht, liegt auf der Hand. Was dies für die europäische Meinungsbildung bedeuten kann, sei anhand der Gedanken erläutert, die im Rahmen der Erfindung der repräsentativen Demokratie zum Phänomen ‚Meinung‘ - demokratische Macht beruht auf den unzähligen Meinungen des Wahlvolkes - im Falle der EU: der aus vielen Völkern zusammengesetzten Bürgerschaft - und unzähligen Themen - formuliert wurden. 2.1. Politische Meinungsbildung in der Anthropologie der Federalist-Papers Mehr als in Staaten, in denen der Volkswille nur eine nachgeordnete Rolle spielt, beruht laut Federalists-Papers (Madison 1788/ 1965) in (repräsentativen) Demokratien die legitime politische Macht auf der Mehrheitsmeinung der Wahlberechtigten. Zu ihrer Feststellung bedarf es eines transparenten, geregelten Wahlverfahrens. Sein Ergebnis konstituiert den politischen Handlungswillen, d. i. die Regierung. Die Gegenstände der Meinungsbildung umfassen ungezählte und sich immer neu stellende Fragen der Politik, für deren inhaltliche Beurteilung es keine verbindliche Methode gibt. Daher ist die Methode des politischen Urteilsvermögens topisch: Jedes Thema verlangt einen eigenen Zugriff, eventuell in einer nur ihm eigenen Sprache. Natürlich ist die Bürgerschaft überfordert, sich zu allen anfallenden Fragen ein Urteil zu bilden und dieses in der Öffentlichkeit zu verhandeln. Doch wie kommen Meinungen zustande? In den Augen des Verfassungsvaters und vierten Präsidenten der USA, James Madison, ist folgende Trias konstitutiv: passion (dt. Leidenschaft, Vorliebe, Geschmack), reason (Vernunft), interest (Interesse). Für die rein von passions geleitete Meinungsbildung sind weder die Nachvollziehbarkeit eines Arguments ( reason ) noch ein Interesse ( interest ) allein entscheidend, sondern Gefühle (Liebe, Hass, Sympathie/ Antipathie, Glaube, Ängste, Begeisterung, Rache usw.). Legitimierende und <?page no="69"?> 60 Franz-JosephMeißner polykausale Referenzen sind zur Herstellung passion -initiierter Wir-Erlebnisse nicht notwendig, doch sind Ausgrenzungen, Definitionen von out-groups und ‚Feinden‘ förderlich. - Eine Parenthese aus gegebenem Anlass: Simplifizierende, nationalistische und populistische Sichtweisen instrumentalisieren das ‚Fremde‘, und der Nationalismus blickt nicht auf das Gemeinsame und allen gemeinsam Mögliche, sondern auf kurzfristig wirkende eigennationale Vorteile (für die jeweilige Wählerschaft): Die Vorteile der Anderen erscheinen leicht als Nachteile zu Lasten des Eigenen. Nationale Egoismen zu reduzieren, erfordert die Aufhebung dieser Fixierung sowie kollektive Empathie, europäische Identität und generelle Mitmenschlichkeit. - Natürlich sind passions an sich neutral und können integrativ (sie sind wie wir) oder adversativ verwendet werden (sind anders). Passions entscheiden auch darüber, ob vernünftige ( reasonable ) Argumente zugelassen und wie sie dargestellt werden. Auch die interests sind an einer Finalität festgemacht. Zumeist betreffen sie wirtschaftliche oder pekuniäre Vorteile. Ihre Beurteilung fällt in kurzfristiger oder langfristiger Betrachtung oft unterschiedlich aus. Natürlich sind Meinungen nie ausschließlich das Ergebnis der einen oder anderen Komponente. Stets handelt es sich um einen Mix von interagierenden Variablen. Madison betont, dass auch reason -geleitete Meinungen unweigerlich dazu führen, dass sich die öffentliche Meinung aus vielen unterschiedlichen Einzelmeinungen bildet („… men […] inevitably fall into different opinions“, L). Der guten Regierung fällt u. a. die Aufgabe zu, die Auswirkungen von passions und interests im Sinne der dann handlungsleitenden, weil möglichst weit in die Zukunft blickenden reason im Sinne des Gemeinwohls zu formieren. 2.2. Die Federalist -Anthropologie, gewendet auf die EU Was heißt dies nun für das Funktionieren der vielsprachigen Europäischen Demokratie und ihrer wesentlichen funktionalen Grundvoraussetzung im Sinne der nationalen Volkssouveränitäten und/ oder einer weiter zu etablierenden europäischen Volkssouveränität bzw. des meinungsbildenden öffentlichen Diskurses? Welche Rolle spielt hierbei die rezeptive Mehrsprachigkeit? Passions, reasons und interests betreffen sowohl die Meinungsbildung der Menschen in ihrer Eigenschaft als Unionsals auch Staatsbürger. Sind die meinungsbildenden und an kollektiven Identitäten gebundenen Anteile der Trias schon innerhalb pluraler nationaler und einsprachiger Gesellschaften unterschiedlich verteilt, so gilt dies viel stärker noch für die vielnationale und vielsprachige Union. Was diese angeht, so müssen unterschiedliche, sich national formierende meinungsbildende Prozesse unter ein gemeinsames europäisches Dach gebracht werden. Auch die Medien stehen in diesem konfliktiven Dilemma, tendieren aber aus durchsichtigen Gründen dazu, die jeweilige eigennationale Perspektive viel detaillierter zur Sprache zu bringen als die der Nachbarn. Damit werden in den nationalen Gesellschaften der EU dieselben Themen nicht nur sehr unterschiedlich behandelt, es werden auch jeweils sehr unterschiedliche Gefühle ( passions ) losgetreten, was nicht zur Bildung eines gemeinsamen europäischen politischen Handlungswillens, erleichtert durch eine politisch tragfähige europäische Identität, beiträgt. Themen der Nachbarn, deren Sichtweisen und Sensibilitäten einfach okkultieren oder zumindest marginalisieren und zugleich eigene - vor allem passion -basierte - nationale Sichtweisen und Wertungen ‚zoomen‘ und ständig <?page no="70"?> 61 9. PolitischeDimensionenderrezeptivenMehrsprachigkeitfürdieeuropäischeDemokratie vor dem nationalen Publikum bestätigend wiederholen ist EU-weit in den Medien zu beobachten - und zwar keineswegs nur in den mehr und mehr autoritativen oder gelenkten Demokratien wie in Polen oder Ungarn. Das Verfahren hat Methode, die sich u. a. in der von Teilen der Wählerschaft ungestraft hingenommenen Gleichschaltung der Medien und der Produktion sog. fake news (die fast immer einseitig auf die passions schielen) manifestiert. Hier begegnet eine Strategie zur inneren Zersetzung der Europäischen Union von der Manipulation der nationalen Öffentlichkeiten her. Die Wirksamkeit des Verfahrens bewies die über weite Strecken hinweg lügenhafte Kampagne der Brexit-Befürworter im Juni des Jahres 2016. Statt bestraft, wurden die fake news -Lügner belohnt. 3. Europäische Demokratie und durch Rezeption erweiterte Mehrsprachigkeit im Diskurs der Fremdsprachendidaktiken In ungezählten Publikationen begleiten die Fremdsprachendidaktiken die Europäische Sprachenpolitik seit deren Anfängen. Ihrer Kernkompetenz gemäß beschränkten sie sich dabei nahezu ausschließlich auf folgende Bereiche: Lehren und Lernen fremder Sprachen und Kulturen, auch im Kontext der Komplexion relevanter Variablen; Methodik und Testen; Konstruktion von sprachlichen Minima; Lehrende und Lernende sowie Sprachenpolitik. Der Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und der Bildung der öffentlichen Meinung in einer vielsprachigen Europäischen Union der Bürgerinnen und Bürger, also nicht nur der Staaten, bleibt ausgeblendet. Anders gesagt: Die europäischen Leitlinien (↗ Art. 12) leiten nicht oder nur sehr unzureichend zur Ausbildung politischer Urteilsfähigkeit, bezogen auf eine vielsprachige Demokratie, an. 3.1. Das spezifische Potential von Fremdsprachenkompetenz zwischen nationalen Identitäten und Europäischer Identitätskonstruktion War der Erziehungsauftrag im 19. und überwiegend auch im 20. Jh. national ausgerichtet und an einer einzigen nationalen Sprache orientiert (Byram 2012), so ist er heute bzgl. des lernrelevanten Vorwissens und der Zielperspektiven zunehmend vielkulturell und mehrsprachig, wobei der jeweilige nationale Raum die stärkste Klammer bleibt. Der neue Anspruch an den Fremdsprachenunterricht - nunmehr zu echter interkultureller Kommunikationsfähigkeit in mehr als zwei Sprachen zu befähigen - verlangt eine Revision der Erziehungsziele, der Kursprofile und der Lehrlernmethoden: Wurden diese noch in Zeiten der Kommunikativen Fremdsprachendidaktik (↗ Art. 30) einzelzielsprachlich definiert, so stellt die EU nun hierneben das Ziel des mehrsprachigen Minimums. Die quantitative Zielperspektive hat qualitative Folgen. Weil Sprachen in Zahl und jeweiligem Umfang individuell nur begrenzt lern- und lehrbar sind und staatlicherseits Fremdsprachenunterricht nur für wenige Sprachen breit und qualifiziert anbietbar ist, ist eine Abstufung und Präzisierung des Kompetenzziels für dritte, vierte und weitere Fremdsprachen unerlässlich: Auch in diesem Zusammenhang treten die rezeptive Mehrsprachigkeit qua Interkomprehension, sodann die Sprachlernkompetenz und in der Methodik das sprachenvernetzende Lernen (↗ Art. 14) in den Blick. Doch welche neuen Ziele fügt der neue Anspruch den bisherigen Zielen hinzu? <?page no="71"?> 62 Franz-JosephMeißner „Identität“ - ob kollektiv oder individuell - ist nicht nur ein Bewegungsbegriff des politischen Bezirks (Koselleck 1972). Das Wort hat auch in den Fremdsprachendidaktiken ein Echo gefunden (Meißner 2013; Burwitz-Melzer, Königs & Riemer, passim). Es bezeichnet eine starke Verbindung zwischen einzelnen Menschen einerseits und einer kollektiven Entität (Staat, Region, Stadt, Religionsgemeinschaft, Arbeiterschaft, Geschlecht, Generation, Parteizugehörigkeit usw.) andererseits. Offensichtlich kann sich personale Identität nur an der Identität einer Gruppe ausbilden. Das, was Erneste Renan 1882 für die französische Nation beschreibt („…une grande solidarité, constituée par le sentiment des sacrifices qu’on a faits et de ceux qu’on est disposé à faire encore“), gilt mutatis mutandis auch für ein zu entwickelndes europäisches Wir-Gefühl. Dieses müssen die Bürger ausbilden; insbesondere, wenn sie die EU nicht nur als einen losen Staatenbund verstehen (wollen? ): Das Wissen um eine gemeinsame Vergangenheit (und deren gemeinsam erlittene Katastrophen) und der Wille zu einer gemeinsamen Zukunft sind für den politischen Bestand der Europäischen Union konstitutiv. Bis heute machen indes die nationalen Staaten weitaus mehr nationale Identifikationsangebote an ihre Bevölkerungen, als solche EU-seitig pro Europa existieren. Nicht nur das: Zu oft wird die Union zum Sündenbock abgestempelt, um von Fehlern der nationalen Politik (Politiker) abzulenken. Die politische Semantik spricht in nahem Zusammenhang hierzu von Miranda- und Tabuzonen: verehrungsträchtige oder zur Diskriminierung führende Themen und Symbolwörter. Für Luhmann (1987: 224, 229) ist Kultur ein Repertoire an Themen, die innerhalb einer Sprechergemeinschaft - zumeist eine nationale - intensiv und langzeitlich kommuniziert bzw. geteilt werden. So wachsen ein gemeinsames Grundwissen ( common grounds ) und das kollektive Gedächtnis mit der Semantik der Gesellschaft (Luhmann 1980). Die unterschiedlichen und unterschiedlich verteilten Miranda- und Tabuzonen sind Teile der verschiedenen gesellschaftlichen Semantiken in der EU. Die Europäische Gesellschaft ist - auch - in dieser Hinsicht vielfach kulturell fragmentiert. Die jüngere semantische Frame-Forschung beleuchtet diesen Zusammenhang mit anderen Mitteln (passim: Wehling 2018). - Fraglos ist eine EU-identitätsstiftende Erziehung nicht nur eine Aufgabe der sprachlichen Fächer. Doch sind die Fremdsprachen die einzigen, die die Begegnung mit zielkulturellen Themen in den Sprachen der EU-Bürgerinnen und -Bürger selbst erlauben. Im Klartext: Fremde Sprachen liefern uns die Sichtweisen der fremden Sprachgemeinschaften auf die jeweils eigenen, die nationalen sowie die europäischen Themen. Die rezeptive Mehrsprachigkeit ist die unseren Horizont erweiternde Brille, die wir uns aufsetzen müssen, um mehrere fremde Kontexte und dortige Meinungsbildungen erkennen und in ihren passion , reason und interests verankerten Voraussetzungen besser verstehen zu können. Kenntnisse in nur einer einzigen Fremdsprache neigen dazu, dass alle Fremdheiten in der Sammelkategorie der einzig bekannten sprachlich-kulturellen Fremdheit zu subsumiert werden. Fazit: Eine europäische Identitätsbildung kann nur polyreferentiell, plurinational, sprachlich diversifiziert und mehrsprachig gedacht und gemacht werden (↗ Art. 18). Sie muss an wirkungsmächtige national kommunizierte Inhalte anknüpfen, diese international-EU-europäisch vergleichen, integrieren und weiterführen, und zwar so, dass interests , passions und reason kulturspezifisch-differenzierend mitbedacht werden. <?page no="72"?> 63 9. PolitischeDimensionenderrezeptivenMehrsprachigkeitfürdieeuropäischeDemokratie 3.2. Kollektive Affektpotentiale über mehr rezeptive Mehrsprachigkeit europaweit bekannter machen Der Vorwurf der EU-Skeptiker gegenüber einem vereinten Europa verbindet sich regelmäßig mit einer vermeintlichen Bürgerferne des angeblich so fernen Brüssel und einem Kontrollverlust der nationalen Instanzen sowie einem Verlust von Geborgenheit im Nationalen. Das geforderte Mehr an Subsidiarität bedeutet europaweit natürlich auch mehr lokale, regionale und nationale Diversität, um die herum sich dann die in den Medien dargestellten und verhandelten Diskurse in den verschiedenen Sprachen bilden. Dass in diese Diskurse, von denen jeder einzelne vor einem eigennationalen kollektiven Gedächtnis steht, immer auch Konnotationen (Wertungen) einfließen, deren emotive Dimension nicht einfach qua Übersetzung angemessen widergegeben werden kann, steht der europäischen Identitätsbildung entgegen. Dies bezeugen frequente Hochwertwörter wie it. il mio paese (dt. mein Dorf, mein Land, das viel mit dt. „Heimat“ gemeinsam hat), frz. les riches (ein Kampfbegriff der französischen Linken ohne wirkliche emotive Entsprechung im Deutschen) oder La République ( …pour elle un Français doit mourir… , heißt es in dem bis heute gesungenen Chant du Départ des Jahres 1794; es wäre im deutschen Diskurs undenkbar), dt. Gutmenschen (frz. les bien pensants verkürzt um den „typisch deutschen“ Diskurs um politische Korrektheit), Euthanasie (das außerhalb des deutschen Sprachraums keineswegs in starker Weise mit dem Holocaust assoziiert wird, sondern dort regelmäßig Sterbehilfe bedeutet) usw. Natürlich prägen nicht nur affektiv stark aufgeladene Begriffe die politische Semantik staatlicher Sprachgemeinschaften; stattdessen wirken offene oder versteckte Wertungen generell innerhalb einer Sprachgemeinschaft und ihren Angeboten zur Meinungsbildung hinein (u. a. Wierzbicka 1997). Nicht ohne Grund ordnet die Friedensforschung die unmerkliche Führung unserer Gedanken durch die Sprache der kulturellen Gewalt zu (Galtung 1993). Die Wirkung auf Leser ist nicht dieselbe, wenn sie einen fremdsprachigen Text in der Originalfassung oder in einer (selbst guten) Übersetzung lesen. Denn schon die bloße Rezeption in einer fremden Sprache nimmt uns ein Stückweit in deren Kommunikationsgemeinschaft hinein (was keineswegs heißt, dass wir uns ‚fremden‘ Meinungen kritiklos anschließen). Hier liegt der Zugriff der rezeptiven Mehrsprachigkeit als einer Teilantwort auf die national-fragmentierten europäischen Öffentlichkeiten (↗ Art. 6). 4. Mehrsprachige Rezeptionskompetenz und Werteerziehung in der Europäischen Union als Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts Die geopolitische Situation in Gestalt der Globalisierung, dem Aufkommen neuer Zentren politischer und ökonomischer Macht, mit vielfältigen Facetten - als Antworten hierauf: die europäische Einigung und die Geburt der demokratischen EU als Lehre aus den Katastrophen der europäischen Geschichte, gegen das Unvermögen der einzelnen europäischen Nationalstaaten, die ökologischen und ökonomischen Herausforderungen der Zukunft zu bestehen und den Europäern im Konzert der Völker eine hörbare Stimme zu verleihen - verlangt (auch) eine grundlegende Revision des Erziehungswesens einschließlich des Fremdsprachenunterrichts. Zwar ist dank der oben angedeuteten Initiativen des Europarats <?page no="73"?> 64 Franz-JosephMeißner viel geschehen. Doch ist der gegenwärtige Status (man mag nicht vom state of the art sprechen) weit davon entfernt, den möglichen Beitrag des Fremdsprachenunterrichts zu einer europäischen Werteerziehung und einer plurireferentiellen europäischen Identitätsbildung zu leisten. All dies geht nicht ohne eine in der europäischen Bevölkerung hinreichend weit verbreitete Kenntnis der Nachbarsprachen und -kulturen. In diesem Sinne muss der Fremdsprachenunterricht in der EU auch als Teil der politischen Bildung begriffen werden. Auf der Grundlage des klug definierten mehrsprachigen Minimums erfordert dies neben der Förderung von dreisprachiger umfassender Kommunikationskompetenz die Regulierung von Maßnahmen zur Verbreiterung der rezeptiven Mehrsprachigkeit sowie die Öffnung des Fremdsprachenunterrichts über die einzelne Zielsprache und Zielkultur hinaus (↗ Art. 14, 16, 29, 65). Last but not least: Erziehung wirkt langfristig - eine notwendige Investition, die morgen ihre Früchte trägt. Eine Ergänzung des Fremdsprachenunterrichts um rezeptive Mehrsprachigkeit und einer politischen Werteorientierung zur Verbesserung der politischen Urteilskraft, die auch den Blick auf die Nachbarn mit einbezieht, ist längst überfällig. Die Weiterentwicklung des nationalen Fremdsprachenunterrichts zu einem in der Tat europäischen liegt zutiefst im Interesse Europas und seiner (hoffentlich) friedensstiftenden Wirkung in der Welt. Literatur Beacco, J.-C., Byram, M., Cavalli, M. et al. (2016): Guide for the Development and Implementation of Curricula for Plurilingual and Intercultural Education . [https: / / www.coe.int/ en/ web/ language-policy/ guide-for-the-development-and-implementation-of-curricula-for-plurilingual-and-intercultural-education]. Burwitz-Melzer, E., Königs, F. G. & Riemer, C. (Hrsg.) (2013): Identität und Fremdsprachenlernen. Anmerkungen zu einer komplexen Beziehung. Arbeitspapiere der 33. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen. 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Der Mensch ist plurilingual, gestuft mehrsprachig (Hochsprache, regionaler Dialekt, sozialer Dialekt, Zweitsprache(n), Fremdsprache(n)). Einsprachigkeit ist die Ausnahme, nicht die Regel. 2. Sprache und Recht Staaten und überstaatliche Verbünde verfügen in aller Regel über eine explizite Sprachgesetzgebung (↗ Art. 11). Ist sie politisch „hoch aufgehängt“, ist sie Bestandteil der Verfassung, oder, vordemokratisch: der obrigkeitlichen Legislative. Der Erlass Franz I. von Villers-Cotterêts (1539), der Französisch als Sprache der Staatsverwaltung und Rechtsprechung vorschreibt, ist ein solcher gesetzgeberischer Akt. Sprachregelungen können auch einfachgesetzlich und in föderativen Systemen von teilnehmenden Staaten festgelegt sein: Das deutsche Grundgesetz legt keine Amtssprache fest; alle Regelungen sind einfachgesetzlich, wobei die Regelungskompetenz als Bestandteil der Kulturhoheit bei den Ländern liegt. Die ‚Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen‘ des Europarats (1992) schützt als übergeordnetes Recht Minoritätensprachen innerhalb ihrer Siedlungsräume; in Deutschland garantiert sie, dass die Sprachen Dänisch, Friesisch, Niederdeutsch, Romanes und Sorbisch in der Hoheit der jeweiligen Bundesländer in bestimmten Bereichen Amtssprachen sind (↗ Art. 121-125). Mundarten gelten sprachrechtlich als Varietäten der Hochsprache (↗ Art. 126); Luxemburgisch und Jiddisch sind eigenständige Sprachen. Österreichisches Standarddeutsch und Schweizer Hochdeutsch werden als nationale Standardvarietäten klassifiziert (↗ Art. 118, 119). <?page no="75"?> 66 KonradSchröder Sprachgesetzgebungen regeln den Stellenwert der einzelnen auf dem Staatsterritorium benutzten Sprachen, auch als Gerichts-, Parlaments-, Gesetzes- und Schulsprachen. Sie können auf eine einzige, staatstragende Sprache hin ausgerichtet sein, oder alternativ auf ein Neben- und Miteinander gleichberechtiger Sprachen (etwa: Sprachgesetzgebung der EU). Kompromisse sind gängig, teilweise geboren aus der Macht des Faktischen, etwa in EU-Gremien (↗ Art. 12), in denen man sich auf die Sprachen der Experten und/ oder Englisch einigt (Hoheisel 2005). Auch das Verbot von Sprachen ist mitunter Bestandteil sprachlicher Gesetzgebung gewesen (Deutsch in Teilen Ostmitteleuropas nach 1945). Derartige Sprach- und Kulturverbote, stets als Kollektivstrafe verhängt, sind Verstöße gegen das Völkerrecht. 3. Sprache und Nation Der lateinische Begriff natio „Geburt, Volksstamm, Klasse, Herkunft, Sippschaft“ fokussiert in vager Form auf sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeiten. Die eine, staatstragende Sprache gibt er als Konsequenz nicht her. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war ein Gebilde mit vielen nationes und Sprachen, ohne verbindliche Leitsprache. Nach außen, in diplomatischer Mission, wurde Latein benutzt. Diese Sprache aber wurde seit dem 17. Jahrhundert von Frankreich, dem Hauptgegner auf der politischen Bühne, nicht mehr akzeptiert. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 wurde um Monate verzögert, weil die französische Abordnung behauptete, nur die eigene Nationalsprache zu verstehen, während die deutsche Delegation auf Latein als Verhandlungssprache beharrte. F. C. Moser (1750: 49 ff.) beschreibt die sprachenpolitischen Auseinandersetzungen im Detail. Die Nationalstaaten der Renaissance wie Frankreich und England betrachteten die symbiotische Einheit von Staat und Sprache als konstitutiv. Sie setzten auf konsequente Sprachentwicklung und Sprachpflege, gerade auch im literarischen und pädagogischen Bereich, und auf ein hohes Maß an Zentralismus (Schröder 2000). Deutschland vollzog den Wandel zum Nationalstaat erst drei Jahrhunderte später. Die Sprachpflege des (Hoch-) deutschen begann mit Luthers Bibelübersetzung; sie wurde im Zeitalter der deutschen Klassik intensiviert und mit der Säkularisation zum pädagogischen Programm. Noch die Preußische Akademie der Wissenschaften Friedrichs des Großen hatte auf Französisch funktioniert, doch das Französische als internationale Sprache war mit den Auswüchsen der Revolution und der napoleonischen Herrschaft in Misskredit geraten. Seine Agonie nach 1815 machte den Weg frei für den deutschtümelnden Nationalismus des nach dem Sieg über Frankreich 1871 gegründeten Kaiserreichs. Zu diesem Zeitpunkt galten die in Deutschland verbreiteten Minderheitensprachen als belanglose, teilweise moribunde Mundarten. Die internationale Blüte des Hochdeutschen währte nicht lange, bis zum Ende des 1. Weltkriegs. Nur wenige Staaten Europas waren im 19. Jahrhundert offiziell mehrsprachig, darunter die Schweiz und die Donaumonarchie mit ihren 11 Amtssprachen (↗ Art. 29). Nach 1918 lässt sich auf dem Gebiet der Donaumonarchie eine brisante semantische Verschiebung der Begrifflichkeit ‚deutsch‘, ‚Deutscher‘ nachweisen: War die Bezeichnung zuvor mit Blick auf die Siedlungsgebiete als „Sprecher des Deutschen“ (etwa innerhalb der größeren böhmischen oder mährischen Landsmannschaft) zu verstehen, so wurde sie nach 1918 umgedeutet als „über die Sprache <?page no="76"?> 67 10. SpracheundStaat der deutschen Nation zugehörig“, eine geschichtsklitternde Sichtweise, die der politischen Usurpation durch die Faschisten 1938 den Weg ebnete und die ethnischen Säuberungen von 1946 begünstigte. Die Tradition einer Koppelung von Nation und Nationalsprache im Sinne eines erzwungenen politischen Monolingualismus ist nicht überwunden, wie die 2018 verfügte Entscheidung der israelischen Regierung zur sprachlichen Ausgrenzung der arabischen Minderheit zeigt. Auch in der EU wird ausgegrenzt. Bestes Beispiel ist der Umgang der baltischen Staaten mit ihrer russischen Minderheit (↗ Art. 4). Manipulativ ist die Tendenz politischer Gruppierungen, an die Stelle des Begriffes ‚Nation‘ den seit der Romantik mystifizierten, über die gemeinsame Sprache definierten Begriff ‚Volk‘ zu setzen. Der Missbrauch des Begriffes hat in Deutschland eine lange Tradition, sowohl in der rechten Szene („ein Volk, ein Reich“, „Volksgerichtshof “, „Volksfeind“, „Volksschädling“) als auch am linken Rand („alle Kinder des Volkes“, „volkseigen“, „Volkspolizei“). Der begründete Slogan aus den Spättagen der DDR „Wir sind das Volk“ wurde durch den Kommentar der Rechten „Deutschland den Deutschen“ politisch pervertiert. Bei alledem hat sich nach 1980 auf nationalstaatlicher Ebene in vielen Ländern Europas ein Umdenken angebahnt. Stellte der gaullistische Premierminister Pompidou noch 1972 klar: „Il n’y a pas de place pour les langues et cultures régionales dans une France qui doit marquer l’Europe de son sceau“ (République française 2017), ist Frankreich heute - sichtbar - ein Land mit neun Regionalsprachen, auch wenn es die Charta des Europarats bisher nicht ratifiziert hat. Auch Spanien ist politisch und sprachlich regionalisiert, die neue Struktur scheint so lange zu funktionieren, wie einseitige Brüche und Sezessionen vermieden werden. Sie bringt dem Land die im Zeitalter des Zentralismus verschüttete kulturelle Vielfalt zurück, unter dem Dach einer neu ausgehandelten gesamtspanischen Gemeinsamkeit. Auch in Großbritannien ist die sprachliche Regionalisierung unter dem Stichwort devolution seit den 1970er Jahren spürbar vorangekommen. Englisch ( Southern Standard ) ist faktisch die Nationalsprache Englands, Englisch ( Northern Standard , Scottish English ) die meistgebrauchte Sprache Schottlands. Offiziell wird zwischen den beiden Standards nicht differenziert. Neben Scottish English existieren auf das Mittelalter zurückgehende süd- und ostschottische Dialekte des Englischen, die heute, als Scots Language zusammengefasst, als Regionalsprache gelten. In Teilen des westlichen Hochlands und auf den Hebriden wird schottisches Gälisch gesprochen; die Regionalsprache hat über ihr heutiges Verbreitungsgebiet hinaus im gesamten Schottland hohen Identifikationswert. Englisch (↗ Art. 13, 97, 98) ist Arbeitssprache des schottischen Regionalparlaments und Sprache der schottischen Gesetzgebung. Im Übrigen ist die Benutzung beliebiger Sprachen möglich; Übersetzung wird, soweit möglich, gestellt. In jüngster Zeit gibt es Initiativen, den Gebrauch des Gälischen im Parlamentskontext voran zu bringen (vgl. Scotland.org). In Wales liegen die Verhältnisse anders: Die walisische Sprache Welsh , als keltische Sprache mit dem Gälischen und enger noch mit dem Bretonischen verwandt, ist seit 2011 die einzige „ de jure official language “ des Landes. Englisch ist „ de facto official “. Die Regelung gilt auch für das walisische Regionalparlament (vgl. National Assembly for Wales). <?page no="77"?> 68 KonradSchröder 4. Sprachenrechte in der EU und Sprachenrechte von Minderheiten Den Gründervätern Europas war klar, dass ein Vereintes Europa keine Neuauflage der Vereinigten Staaten von Amerika sein könne. Europa war historisch, ethnisch und kulturell etwas Anderes (↗ Art. 9). Es gab keine (scheinbar) leeren Siedlungsräume, dafür aber eine gemeinsame, 2000 Jahre alte europäische Kultur. Nation building, wie in den USA, war keine Option. Gleichzeitig machten die Regionalkonflikte in Europa deutlich, dass ein monolinguales Europa ein bürgerkriegsanfälliges Europa sein würde. Alle diese Konflikte (etwa: Südtirol, Irland, Kosovo, Bosnien) hatten sprachenpolitische Komponenten. Für das Europa der Vaterländer de Gaulles war klar, dass die Nationalsprachen - und nur sie - auf dem Papier gleichberechtigt sein sollten, ohne offizielle Leitsprache. (Inoffizielle EU-Leitsprache war damals das Französische.) In den 1960er Jahren argumentierte man im Europa der Sechs, dass die Vielsprachigkeit des Kontinents als Reichtum gesehen werden sollte und nicht als Hindernis auf dem Weg zur Einheit. Es sollten plurilinguale Unionsbürger für ein multilinguales Europa herangebildet werden (↗ Art. 12). Nach 1969 propagierte der Europarat die Idee der rezeptiven Mehrsprachigkeit und, damit verbunden, einer sprachenteiligen Gesellschaft. Die Gedanken wurden in Deutschland positiv aufgenommen und an den Universitäten Augsburg (etwa: Finkenstaedt & Schröder 1992), Frankfurt (Main) (Arbeiten von D. Stegmann) und Gießen (etwa: Meißner 1998 und 2004) weiterentwickelt. Die Konsequenzen der europäischen Fremdsprachenpolitik für die deutsche Schule wurden 1980 in den ‚Homburger Empfehlungen für eine sprachenteilige Gesellschaft ‘ von H. Christ, K. Schröder, H. Weinrich und F.-J. Zapp programmatisch dargestellt. Demgegenüber waren die mehr als zehn Jahre später von der Europäischen Kommission im Rahmen des Weißbuchs ‚Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft ‘ (1996) an den Unionsbürger und die Schulsysteme gerichteten Forderungen in ihrer monolithischen Festlegung auf „drei Gemeinschaftssprachen“ von Anfang an umstritten; sie sind aus heutiger Sicht schon angesichts der Herausforderungen von Globalisierung und Migration veraltet (vgl. Schröder 2016: 78). Immerhin hat der auf gestufte Mehrsprachigkeit gerichtete Ansatz verhindert, dass sich in der Frühzeit der europäischen Einigung ein monolinguales Europa mit (im Regelfall schlechtem) Englisch als Leitsprache bildete, auch wenn Englisch fast überall 1. Fremdsprache wurde oder blieb. Von Anglisten ist die Rolle des Englischen unter dem Stichwort English as a Gateway to Languages (↗ Art. 97) inzwischen neu definiert und als ein Einstieg in die Mehrsprachigkeitserziehung ausgewiesen worden (Schröder 1999; Schröder 2009). Der porte aux langues -Ansatz wird auch in anderen europäischen Ländern gesehen (vgl. Candelier 2004). Er geht auf die 1629 erschienene ‚Janua Linguarum ‘ des J. A. Comenius zurück. Die Regelungen zum europäischen Sprachenrecht sind erstaunlich übersichtlich: Derzeit sind 24 Sprachen als gleichberechtigte Amts- und Arbeitssprachen anerkannt (↗ Art. 117). Unionsbürger haben das Recht, sich in einer dieser Sprachen an die Organe der EU zu wenden und eine Antwort in eben dieser Sprache zu erhalten. Schriftstücke, die ein EU-Organ an einen Mitgliedstaat oder eine der Hoheitsgewalt eines solchen Staates unterstehende Person richtet, sind in der Sprache dieses Staates abzufassen (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1958). Luxem- <?page no="78"?> 69 10. SpracheundStaat burgisch und zypriotisches Türkisch haben, obwohl Amtssprachen, derzeit keinen offiziellen Status in der EU. Die derzeitigen „festen“ Beitrittskandidaten der EU erweitern die Sprachenpalette um weitere vier Sprachen: Albanisch, Serbisch, Montenegrinisch, Mazedonisch. (Zur Sprachenfrage in ihrer Problematik insgesamt vgl. Sander 2005; Nißl 2011.) Der Übergang vom Konzept des nationalsprachlichen Europa der Vaterländer zu einem feingliedrigeren Europa der Regionen ist nachvollziehbar: Europa ist seit 1500 Jahren in sprachlicher und kultureller Hinsicht regional gegliedert. Nationalstaatliche Grenzziehungen sind späteren Datums, sie waren nicht selten das Ergebnis von Kriegen, und sie durchschnitten immer wieder gewachsene Regionen. Ein einiges, einträchtiges Europa kann nur auf der Basis befriedeter Regionen verwirklicht werden. Mit dem Übergang auf ein regionalisiertes Europa wird dessen komplexe regionalsprachliche Gliederung bedeutsam, wobei Regionalsprachen durch geschlossene Siedlungsräume definiert sind, die in einem oder mehreren Nationalstaaten (auch grenzüberschreitend) existieren. Regionalsprachen sind gegenüber den Nationalsprachen in der Position von Minderheitensprachen, was ihre Existenz oft negativ beeinflusst hat. Die gleiche Sprache kann in unterschiedlichen Staaten unterschiedlich behandelt werden. Relativ häufig sind Regionalsprachen in einem Staat Minderheitensprachen, während sie in einem anderen die Mehrheitssprache stellen (etwa: Dänisch in Deutschland, Schwedisch in Finnland, Russisch in den baltischen Staaten). Die russischen Minderheiten im Baltikum werden von den betroffenen Staaten nicht anerkannt, da sie auf der Basis einer auf Kulturunterwanderung gerichteten Siedlungspolitik zustande gekommen sind. Ihr Siedlungsraum wird als erzwungen erachtet; die baltischen Staaten haben die Charta des Europarats nicht ratifiziert. Nun spielt aber die Entstehung einer Minderheit im europäischen Rechtskontext keine Rolle. Geschützt werden die europäischen Minoritätensprachen, wie schon angedeutet, durch die am 5.11.1992 vom Europarat gezeichnete Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen (Lebsanft & Wingender 2012). Sie wurde von Deutschland 1998 ratifiziert (↗ Art. 120). Ihr Ziel ist die Anerkennung der regionalen Sprachen und Kulturen als einzigartiger Bestandteil des europäischen Erbes. Die Charta zielt auf die grenzüberschreitende Wahrung und Stärkung von regionalen Minderheiten ab. Gefährdete Sprachen sollen vor dem Aussterben geschützt und ihr Gebrauch im Bereich des Rechts, der Schulen, des öffentlichen Lebens und der Medien intensiviert werden, auch durch Sprachunterricht, Sprachstudium und die Weckung von Lernmotivation bei den Vertretern der Mehrheitssprache(n). Damit ist die Charta ein völkerrechtliches Instrument. Der Maßnahmenkatalog ist so gehalten, dass die Staaten nach ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen Verpflichtungen eingehen können. Eine Möglichkeit, Sprachrechte auf europäischer Ebene einzuklagen, besteht nicht. Allerdings sind die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, in regelmäßigen Abständen über ihre Fortschritte in der Förderung ihrer jeweiligen Minoritätensprachen zu berichten (↗ Art. 11). Sanktionen werden nicht verhängt. 5. Ein Blick auf die Gegenwart Das Europa der Regionen hat zehntausende Kilometer neu ins Bewusstsein getretener Sprach- und Kulturgrenzen geschaffen; eine <?page no="79"?> 70 KonradSchröder besondere Grenzkompetenz ( cross-border competence , compétence transfrontalière ) ist angesagt, auch als Gegenstand mehrsprachiger und plurikultureller Erziehung. Die Zahl der Sprachen ist von 24 Nationalsprachen auf etwa 100 Sprachen insgesamt gestiegen. Einige der Regionalsprachen haben es mittlerweile zu „halbamtlichen“ EU-Sprachen gebracht: Baskisch, Galicisch, Katalanisch, schottisches Gälisch und Walisisch. Sie sind weder Arbeitsnoch Vertragssprachen der EU, können jedoch zur Korrespondenz mit EU-Institutionen verwandt werden. An dieser Stelle setzt die Kritik am Regionalisierungskonzept der EU an: Sie habe eine Büchse der Pandora geöffnet und damit die EU einer neuen Kleinstaaterei unterworfen, in der überbewertete regionale Politiker ohne Loyalität zur europäischen Idee und ohne Gespür für nationalstaatliche Errungenschaften ad libitum agieren. Ein weiterer Sündenfall sei, dass Brüssel die real existierenden Immigrantensprachen und -kulturen in Europa dauerhaft aus der Diskussion ausgeklammert habe, weil die geschlossenen Siedlungsräume fehlten, und dies noch zu einem Zeitpunkt, als es längst solche Siedlungsräume gab (etwa: Berlin-Kreuzberg, Pariser Vororte, einzelne Londoner Stadtviertel, ja Teile von Brüssel selbst). Dies sei weltfremd und führe Europa in eine soziale Katastrophe. Die Diskussion der sprachlichen und kulturellen Gestalt Europas ist seit 2015 überdeckt durch die Flüchtlingsdebatte, aber auch durch die Tendenz zu neuem, populistischem Nationalismus und eine daraus resultierende fehlende Solidarität (↗ Art. 15). Literatur Candelier, M. (2004): Janua Linguarum. The Gateway to Languages. The Introduction of Language Awareness into the Curriculum: Awakening to Languages. Kapfenberg. Christ, H., Schröder, K., Weinrich, H. & Zapp, F.-J. (1980): Fremdsprachenpolitik in Europa. Homburger Empfehlungen für eine sprachenteilige Gesellschaft. Augsburg. Europäische Kommission (1996): Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft. Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung. Luxemburg. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (1958): Verordnung Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage. In: Amtsblatt Nr. 017 vom 6.10.1958, 0385-0386. 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Sprachpolitische Aktivitäten können auf den Status einer Sprache zielen oder den Ausbau und die Pflege einer Einzelsprache auf der sprachsystematischen Ebene (Normierung, Kodifizierung). Seit Kloss (1969) spricht man hier üblicherweise von Statusplanung und Korpusplanung . Der Begriff Sprachlenkung bezieht sich auf die Einflussnahme auf den öffentlichen Sprachgebrauch (vgl. ausführlich Polzin-Haumann 2006: 1472-1474). <?page no="81"?> 72 ClaudiaPolzin-Haumann Sprachpolitik ist ein breites Feld, das im Folgenden in seinen Bezügen zur Fremdsprachenpolitik betrachtet wird. Die weltweiten Sprachpolitiken für die drei in der Bundesrepublik Deutschland aktuell wichtigsten modernen Schulfremdsprachen Englisch, Französisch und Spanisch (Decke-Cornill & Küster 2010: 16) werden anhand (historischer) Entwicklungen, Institutionen, Diskurse und Besonderheiten vergleichend zusammengefasst und auf diese Sprachen als Unterrichtsfächer im deutschen Schulkontext bezogen. Russisch (↗ Art. 94), aktuell nach dem Spanischen (↗ Art. 96) auf Rang vier der modernen Schulfremdsprachen (Rang fünf, wenn man das Latein mit einbezieht) (↗ Art. 92), war vor allem in der ehemaligen DDR verpflichtende Fremdsprache ab Klasse 5. Heute wird es in allen Bundesländern außer dem Saarland als zweite oder dritte Fremdsprache angeboten, weist aber deutliche geographische Schwerpunkte in den neuen Bundesländern auf (Mehlhorn 2016: 536). Im vergleichsweise jungen Fach Deutsch als Fremdsprache (DaF) wird das Deutsche wissenschaftlich erforscht und didaktisch aufbereitet, um es (in Deutschland oder außerhalb Deutschlands) für Nicht- Muttersprachler zu unterrichten (↗ Art. 87). 2. Drei sprachpolitische Traditionen: Englisch, Französisch, Spanisch Sowohl Französisch als auch Spanisch und Englisch sind - in je spezifischer Ausprägung - als plurizentrisch (z. B. Leitner 1992; Pöll 2017; Lebsanft, Mihatsch & Polzin-Haumann Hrsg. 2012) zu charakterisieren. Für alle Sprachen wird sowohl national als auch weltweit aktiv Sprachpolitik betrieben. Das Französische ist durch eine monolinguale Tradition geprägt (Schmitt 2000). Das international sprachpolitisch entscheidende Organ ist heute die Organisation internationale de la Francophonie (OIF). Mit dieser Institution, die in der Folge der politischen Veränderungen nach Ende des Kolonialsystems seit den 1960er Jahren aufgebaut wurde, arbeitet Frankreich mit derzeit 84 Partnerländern bzw. -regionen weltweit daran, das Französische „als Nationalsprache, offizielle Sprache, Sprache der internationalen Kommunikation, Arbeitssprache oder Kultursprache“ (Erfurt 2005: 11) zu stärken. Dabei wird über sprachliche Aspekte hinaus auch die Werte- und Kulturgemeinschaft der Francophonie betont. In vielen neuen Mitgliedsstaaten der OIF ist das Französische nicht L1 oder L2, sondern Schulfremdsprache. Die Führungsrolle Frankreichs wird regelmäßig bekräftigt und zunehmend mit dem Schlagwort der Mehrsprachigkeit verbunden. Von den zahlreichen sprachpolitischen Institutionen innerhalb Frankreichs sind als heute einflussreichste die 1735 gegründete Académie Française und die Délégation Générale à la langue française et aux langues de France zu nennen. Vor allem letztere hat sich mehr und mehr zu einer sprachlicher Vielfalt gegenüber aufgeschlossenen Institution entwickelt. Der weltweiten Verbreitung der französischen Sprache sowie der französischen/ frankophonen Kultur(en) widmen sich über 200 Instituts français weltweit, von denen elf in Deutschland angesiedelt sind. Das erste dieser Institute wurde bereits 1949 gegründet. Von den drei hier betrachteten Sprachen kann das Französische sicher als die offiziell am wenigsten plurizentrisch geprägte Sprache gelten (Pöll 2017), auch wenn sich die weite geographische und soziale Verbreitung der Sprache auf allen Ebenen des Sprachsystems niederschlägt. Die normativ-präskriptive Tradition in Frankreich und die nur zögernde <?page no="82"?> 73 11. NationaleSprachpolitikenundSprachlenkung Umorientierung von einer monozu einer plurizentrischen Weltsprachegemeinschaft hinterlässt bis heute im Französischunterricht in Deutschland Spuren (vgl. Polzin-Haumann 2010; Montemayor & Neusius 2017; Schwender 2018). Das Spanische ist vor allem seit Ende des 20. Jahrhunderts durch explizite plurizentrische Merkmale gekennzeichnet. Nach einer langen Phase der allein durch Madrid bestimmten Sprachpolitik arbeitet die 1713 gegründete Real Academia Española de la Lengua (RAE) heute eng mit den nach 1870 gegründeten Sprachakademien zusammen, die sich 1951 zur Asociación de Academias de la Lengua Española (ASALE) zusammengeschlossen haben. Die verschiedenen Referenzwerke zeugen von einer wenn auch in den verschiedenen Teilbereichen unterschiedlich ausgeprägten, so doch insgesamt immer stärkeren Akzeptanz hispanoamerikanischer Varietäten (Polzin-Haumann 2012: 51). Diese Neuorientierung der RAE und die enge Kooperation mit der ASALE schlägt sich in dem Motto „La política (lingüística) panhispánica“ nieder. Neben den Akademien sind die Medien zu einem wichtigen sprachpolitischen Akteur geworden. Während die Stilbücher ( Libros de Estilo ) den Sprachgebrauch einzelner massenmedialer Organe sowohl in Spanien als auch in Amerika reglementieren, ist die Arbeit der 2005 gegründeten Fundación del español urgente ( Fundéu ) übergreifend angelegt. Besonders der korrekte Sprachgebrauch in den Medien ist Ziel der ‘Beobachtungen’, ‘Ratschläge’ und ‘Empfehlungen’. Fundéu kooperiert eng mit der RAE und ist darüber hinaus sehr interaktiv orientiert. Weitere wichtige sprachpolitische Akteure sind das 1991 gegründete Instituto Cervantes (IC), das sich primär der Verbreitung der spanischen Sprache und Kultur in der Welt widmet (fünf der insgesamt 77 Institute in 44 Ländern sind in Deutschland). Mit dem Centro Virtual Cervantes (CVC) wurde eine umfangreiche Internet-Plattform geschaffen. Sowohl das IC als auch das CVC bieten Fremdsprachenunterricht (klassisch vor Ort oder online) sowie weitere didaktische Materialien. Der plurizentrische Charakter des Spanischen ist heute zwar weitgehend anerkannt, allerdings nicht umfassend in der Lehre von Spanisch als Fremdsprache (ELE) abgebildet (vgl. schon Scotti-Rosin 1983; zur Frage, welches Spanisch Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts Spanisch in Deutschland ist, vgl. die Beiträge in Leitzke-Ungerer & Polzin-Haumann 2017). Als Mutter-, Zweit- und Fremdsprache gilt das Englische als „meistgenutzte Sprache der Erde“ (Kötter 6 2016: 502). Sein plurizentrischer Charakter ist unumstritten; längst wird von Englishes gesprochen (Trudgill & Hannah 2008). Auch zugunsten des Englischen wird eine gezielte sprachpolitische Förderung betrieben. So ist Englisch die einzig offizielle Sprache der meisten US-Staaten (mit Ausnahme von New Mexico und Hawaii). Der British Council verfolgt ähnliche Aufgaben wie die Instituts français , die Institutos Cervantes oder für die deutsche Sprache und Kultur in der Welt das Goethe-Institut. In Deutschland genießt Englisch als Sprache der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Kultur etc. sowie aufgrund seiner globalen Präsenz und kommunikativen Funktion ein hohes Prestige; als Schulfach ist es (nicht nur in Deutschland) in jeder Schulform vertreten und als Sprache des Frühen Fremdsprachenunterrichts mehrheitlich verankert. Anders als das Französische und Spanische muss es keine sinkenden Lernerzahlen fürchten oder andere Diskussionen (Status als 2./ 3. Fremdsprache o. ä.) führen (↗ Art. 13, 97, 98). <?page no="83"?> 74 ClaudiaPolzin-Haumann 3. Sprachenpolitik und Mehrsprachigkeit Trotz einer ausgeprägten Tradition zwei- oder mehrsprachiger Grammatiken und Lehrwerke, in denen auch sprachvergleichende Elemente eine wichtige Rolle spielten (vgl. Art. 61), war der moderne Fremdsprachenunterricht lange einsprachig geprägt. Noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein galt das methodische Dogma der sog. „strengen Einsprachigkeit“ in der Zielsprache. Auch die Interferenzgefahr wurde lange überbetont. Nur im Lateinunterricht war, wenn auch sehr implizit, ein Mehrsprachigkeitselement vorhanden, wenn (allerdings ohne empirische Evidenz) behauptet wurde, dass Lateinlernen auf moderne Sprachen wie Französisch, Italienisch und auch Englisch vorbereitet (↗ Art. 92). Ab den 1990er Jahren setzte auf europäischer Ebene eine Politik für Mehrsprachigkeit ein (Reissner 2015: 662-664). Zugleich wurde der Fremdsprachenunterricht zunehmend zum Objekt empirischer Forschung (Zweit- und Fremdsprachenerwerbsforschung, Sprachlehrforschung). Diese Entwicklung vollzog sich parallel zur europäischen Einigung. Die Sprachenpolitik des Europarates (↗ Art. 12) betraf indes nicht nur den Fremdsprachenunterricht in Gestalt von Empfehlungen und didaktischem Material, wie die 1992 vom Europarat verabschiedete und 1998 in Kraft getretene Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen zeigt (zuletzt Lebsanft & Wingender 2012). Der 2001 durch den Europarat geschaffene Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (GeR) (↗ Art. 18) hat u. a. Mehrsprachigkeit und die Kommunikationskompetenz in mehreren Sprachen als Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts stärker in den Vordergrund gerückt, bleibt jedoch methodisch im Konzept einer additiven Mehrsprachigkeit verhaftet. Mit dem Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen wurden ein Konzept und Deskriptoren entwickelt, die über die einzelsprachliche Perspektive hinausgehen (↗ Art. 20). Auch der 2017 erschienene, den GeR ergänzende Companion Volume enthält diese neue Sicht auf Mehrsprachigkeit (↗ Art. 19). Infolge der mehrsprachigkeitsorientierten Sprachpolitik wurden Ansätze entwickelt, die Bezüge zwischen verschiedenen Einzelsprachen schaffen und damit einzelsprachenorientierte sprachpolitische Traditionen in gewisser Weise relativieren. Die nun forcierte stärkere Vernetzung der Fremdsprachen (z. B. Meißner & Reinfried 1998, Klein & Stegmann 3 2000, Schröder 2009, Leitzke-Ungerer et al. 2012) eröffnet viele weitere Forschungsfragen. Literatur Decke-Cornill, H. & Küster, L. (2010): Fremdsprachendidaktik . Tübingen. Erfurt, J. (2005): Frankophonie. Sprache - Diskurs - Politik . Tübingen, Basel. Klein, H. G. & Stegmann, T. D. (2000): Euro- ComRom-- die sieben Siebe. Romanische Sprachen sofort lesen können . 3. Aufl. Aachen. Kötter, M. (2016): Englisch. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Aufl. Tübingen, 502-507. Kloss, H. (1969): Research Possibilities in Group Bilingualism . Québec. Lebsanft, F., Mihatsch, W. & Polzin-Haumann, C. (Hrsg.) (2012): El español, ¿desde las variedades a la lengua pluricéntrica? Frankfurt a. M., Madrid. Lebsanft, F. & Wingender, M. (Hrsg.) (2012): Europäische Charta der Regional- und Min- <?page no="84"?> 75 11. NationaleSprachpolitikenundSprachlenkung derheitensprachen. Ein Handbuch zur Sprachpolitik des Europarats . Berlin, Boston. Leitner, G. (1992): English as a Pluricentric Language. In: M. Clyne (Hrsg.): Pluricentric Languages: Differing Norms in Different Nations . Berlin, New York, 178-237. Leitzke-Ungerer, E., Blell, G. & Vences, U. (Hrsg.) (2012): English-Español: Vernetzung im kompetenzorientierten Spanischunterricht . Stuttgart. Leitzke-Ungerer, E. & Polzin-Haumann, C. (Hrsg.) (2017): Varietäten des Spanischen im Fremdsprachenunterricht. Ihre Rolle in Schule, Hochschule, Lehrerbildung und Sprachenzertifikaten . Stuttgart. Mehlhorn, G. (2016): Russisch. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Aufl. Tübingen, 534-539. Meißner, F.-J. & Reinfried, M. (Hrsg.) (1998): Mehrsprachigkeitsdidaktik. Konzepte, Analysen, Lehrerfahrungen mit romanischen Fremdsprachen . Tübingen. Montemayor, J. & Neusius, V. (2017): Diatopik im Unterricht romanischer Sprachen. Eine kontrastive Analyse zu Varietäten des Spanischen und Französischen am Beispiel ausgewählter Lehrwerke. In: E. Leitzke-Ungerer & C. Polzin-Haumann (Hrsg.): Varietäten des Spanischen im Fremdsprachenunterricht. Ihre Rolle in Schule, Hochschule, Lehrerbildung und Sprachenzertifikaten . Stuttgart, 179-200. Pöll, B. (2017): Normes endogènes, variétés de prestige et pluralité normative. In: Reutner, U. (Hrsg.): Manuel des francophonies . Berlin, Boston, 65-86. Polzin-Haumann, C. (2006): Sprachplanung, Sprachlenkung und institutionalisierte Sprachpflege: Französisch und Okzitanisch. In: G. Ernst, M.-D. Gleßgen, C. Schmitt & W. Schweickard (Hrsg.): Romanische Sprachgeschichte. Ein internationales Handbuch zur Geschichte der romanischen Sprachen. Bd. II. Berlin u. a., 1472-1486. Polzin-Haumann, C. (2010): A propos de la constitution de la norme dans l’enseignement des langues. In: M. Iliescu, H. Siller-Runggaldier & P. 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Hierbei wird die mehrsprachige Interlanguage der Individuen als ein dynamisches, idiosynkratisches und den Ausgangs- und Zielsprachen ähnelndes System verstanden. Von Sprecher zu Sprecher unterscheiden sich die sprachlichen Ressourcen (Sprachen und Varietäten). Dabei besitzen Mehrsprachige ein einzelnes, miteinander verbundenes Inventar von sprachlichen Elementen, die sie zur Lösung von (kommunikativen) Aufgaben oder Absichten mit ihren Kompetenzen und Strategien der Selbststeuerung kombinieren können (Council of Europe 2018: 28). 2. Historische Skizze Bereits in den 1970er Jahren wurde vom Europäischen Rat empfohlen, dass möglichst alle Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit zum Erlernen einer weiteren Sprache der Gemeinschaft haben sollten (EU 1976: C 038). 1989 wurde deren Bandbreite mit dem Beschluss des Rates zum Lingua-Programm klar konturiert: alle Amtssprachen sollen als Fremdsprachen gelehrt werden (Europäische Union 1989: 1 f.; auch Council of Europe 2014). Diese Ausdehnung der bildungspolitischen Forderungen und der Anzahl der erlernbaren Sprachen weist diesen in den europäischen Programmen für die allgemeine und berufliche Bildung seither eine zentrale Stelle zu (↗ Art. 9). Der Vertrag von Amsterdam 1997 schreibt - mit dem Beitritt neuer Länder zur EU - die europäische Vielsprachigkeit erneut fest, indem nunmehr jedem Unionsbürger das Recht zugestanden wird, sich schriftlich in einer Amtssprache seiner Wahl an jedes Organ oder an jedwede Einrichtung der EU wenden zu können, und eine Antwort in der von ihm benutzten Sprache zu bekommen (Europäische Union 1997). Der Europarat hatte 1992 bereits die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen gezeichnet (die allerdings von Frankreich nie ratifiziert wurde) (Lebsanft & Wingender 2012). Im Vertrag von Lissabon im Jahr 2000 wird die Charta der Grundrechte der Europäischen Union rechtsverbindlich angenommen, die in den Artikeln 21 und 22 die Diskriminierung aufgrund von Sprache (↗ Art. 38) verbietet und die Länder verpflichtet, die sprachliche, kulturelle und religiöse Vielfalt zu achten (Europäische Union 2000a). Hierdurch werden Mehrsprachigkeit und sprachliche Vielfalt als Grundwerte der EU offiziell anerkannt und die Charta als völkerrechtliches Dokument wird seither als ein wichtiges Referenz-Instrument für die Erhaltung der Regional- und Minderheitensprachen betrachtet. Die EU und der Europarat proklamieren 2001 das Europäische Jahr der Sprachen und formulieren das Ziel, die Sprachenvielfalt und das kulturelle Erbe Europas zu vertiefen, Sprachenlernen und -lehren attraktiver zu gestalten und lebenslanges Sprachenlernen über die Schulzeit hinaus zu fördern. Alle offiziellen Sprachen der Union werden erneut zu mög- <?page no="86"?> 77 12. Mehrsprachigkeits konzepteder EuropäischenUnion lichen Zielsprachen erklärt. Den Mitgliedsstaaten wird freigestellt, weitere Sprachen aufzunehmen und auch die Gebärdensprachen einzubeziehen (Europäische Union 2000b). Das vom Europäischen Rat in Barcelona im Jahr 2002 verabschiedete Abschlussdokument (Barcelona-Abkommen) enthält die Entschließung zur Förderung der Sprachenvielfalt und des Sprachenlernens. Hiernach soll jeder Bürger Europas vom frühesten Kindesalter an zum Erlernen mindestens zweier Fremdsprachen, nebst seiner Muttersprache, ermutigt werden. Dies soll die Verständigung unter den Mitgliedsländern erleichtern und den sprachlichen Reichtum Europas schützen (↗ Art. 9). Das Ziel lautet breite Herstellung einer diversifizierten und abgestuften Mehrsprachigkeit (faktisch unter Einschluss von Englisch). 3. Problemaufriss Die 28 Mitgliedsstaaten umfassende EU zählt derzeit ca. 512 Mio. Bürgerinnen und Bürger (Eurostat 2018), drei Alphabete, 24 Amts- und 60 Minderheitensprachen (Europäische Union 2018). Diese Sprachen als Kommunikationsmittel und Träger kultureller Identität werden als gleichberechtigt angesehen; eine Differenzierung nach vorgeblicher Wichtigkeit einer Sprache oder der Anzahl ihrer Sprecher wird nicht vorgenommen. Die o. g. Mitteilungen und Zielsetzungen zu Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt gelten für die einzelnen Länder als Richtmaß. Die Leitlinien der EU als überstaatliche Organisation können freilich nationalstaatlichen Traditionen entgegenlaufen, weil jedes Mitgliedsland einen eigenen kulturellen, politischen und sozialen Hintergrund, andere Zielsetzungen und Ausgangspositionen für die Erreichung von Mehrsprachigkeit hat (↗ Art. 10, 11). Zum Umgang mit Vielsprachigkeit in den EU-Organisationen: Vertragsgemäß müssen sämtliche EU-Verordnungen und sonstige Rechtsdokumente in alle Amtssprachen übersetzt und veröffentlicht werden. Dabei wird die Entscheidung über den jeweiligen Rechtsstatus der Regional- und Minderheitensprachen (↗ Art. 117) den einzelnen EU-Ländern selbst überlassen (EEC Council Regulation 1958). Praktisch fungiert dann der Übersetzungsdienst zumeist einzig zugunsten der politisch stärkeren Mehrheitssprachen als nationale Amtssprache (also das Kastilische [Spanische] als EU-Sprache, nicht aber das Baskische, obwohl auch dieses im Geltungsbereich der Spanischen Verfassung Rang einer offiziellen Regionalsprache Spaniens hat). So akzeptiert Ungarn bspw. dreizehn offizielle Minderheiten, während Frankreich seine Regionalsprachen zwar zur Kenntnis nimmt (Art. 75,1 der révision constitutionnelle du 23 juillet 2008 ), sie dank der Loi Deixonne (1951) als an französischen Schulen lehrbare Sprachen erlaubt und einrichtet, diesen jedoch keinen offiziellen nationalen Status zuweist ( langues de France [façonnant] l’identité culturelle de la France , Ministère de la Culture 2018). Die Reformen zur Verwirklichung der Ziele aus dem Barcelona-Abkommen konzentrieren sich in erster Linie auf den früh beginnenden Fremdsprachenunterricht (↗ Art. 53, 54), das Content and Language Integrated Learning (CLIL) und dessen Aufnahme in die Lehrpläne der Sachfächer (↗ Art. 111, 112, 113), ein breiteres Fremdsprachenangebot in der Sekundarschule und die Nutzung der von der Kommission und vom Europarat entwickelten Programme zum Fremdsprachenlernen (↗ Art. 69). In ihren offiziellen Verlautbarungen begreift die EU Mehrsprachigkeit als eine Investition in die Zukunft, indem sie die Bürger <?page no="87"?> 78 SylvieMéron-Minuth-&SenemŞahin in die Lage versetze, miteinander zu kommunizieren und auf dem europäischen Markt mobil zu sein. Allerdings werden seitens der EU nicht alle Sprachen gleich behandelt, zum Nachteil der Migrantensprachen. In diesem Zusammenhang bezeichnet Aydin (2016: 147) (aus Sicht von deren Interessen) die „Europasprachen“ als „Elitesprachen“. Neben den offiziellen Landessprachen sollen aber die Sprachen der wichtigsten internationalen Handelspartner und die kleineren europäischen Sprachen (Regional-, Minderheiten- und Einwanderersprachen) miteingeschlossen werden (Europäische Union 2002). Sowohl der grundschulische Fremdsprachenunterricht (↗ Art. 54) als auch CLIL (sowie das Erasmus-Austauschprogramm, die Initiative für Lebenslanges Lernen 2007) nützten mehrheitlich den ‚Elitesprachen‘ und entsprächen deshalb nicht der auf Förderung der sprachlichen Vielfalt und Erweiterung des Sprachenangebots ausgerichteten EU Politik. Bereits 2002 macht die Europäische Kommission auf das in der Unterrichtspraxis de facto eingeschränkte Sprachenangebot aufmerksam und fordert deshalb, eine möglichst große Zahl an Sprachen für das Lehren und Lernen zu fördern, um eine auf Englisch fokussierende kommunikative Einsprachigkeit zu vermeiden (↗ Art. 13, 97). Auch hier ist natürlich ein Feld für interkomprehensive Ansätze im Rahmen einer diversifizierten Mehrsprachigkeit (↗ Art. 56, 58). Belastbare Auswertungen der Europäischen Sprachenpolitik hinsichtlich ihrer Wirksamkeit stellen ein Forschungsdesiderat dar (Gazzola 2006: 394). 4. Ausblick Zu den 2002 in Barcelona vereinbarten Zielen hat die EU Kommission 2018 ein detaillierteres Konzept zur Verbesserung und Sicherstellung des Sprachenlernens in der allgemeinen schulischen Obligatorik vorgeschlagen (Europäische Kommission 2018: 9), nachdem das Europäische Forum für Mehrsprachigkeit 2018 die Politik der EU-Mitgliedsstaaten auf diesem Feld als weitgehend gescheitert bezeichnet und keine sichtbaren Fortschritte zu verzeichnen seien (Europäische Kommission ebd.: 2). Sowohl die sprachliche Vielfalt, einschließlich der Minderheitensprachen, als auch der interkulturelle Dialog mit dem Ziel gegenseitigen, europaweiten Respekts sollen weiterhin innerhalb der Union gestärkt werden. Langfristiges Ziel ist es deshalb, nicht nur dafür zu sorgen, dass mehr nicht nur junge Menschen zusätzlich zur Muttersprache mindestens zwei weitere Sprachen operabel beherrschen (ebd.: 9), sondern auch dass Bildungseinrichtungen und Gesellschaft von den mitgebrachten, vielfältigen Sprachen und Sprach(lern-)erfahrungen ihrer Schüler Gebrauch machen und profitieren. Die (retround) prospektive Mehrsprachigkeit (Hallet & Königs 2010: 304) und Eurokomprehension (↗ Art. 6, 7) bilden weiterhin die Priorität der EU. Literatur Aydin, S. (2016): Subjektive Auffassungen vom Englischlernen mehrsprachiger GymnasiastInnen mit türkischem Migrationshintergrund: Zwei Porträts aus einer Grounded-Theory-Studie. In: Appel, J., Jeuk, S. & Mertens, J. (Hrsg.): Sprachen Lehren . Dokumentation zum 26. Kongress der DGFF. Baltmannsweiler, 147-159. Council of Europe (Hrsg.) (2014): Languages for Democracy and Social Cohesion. Diversity, <?page no="88"?> 79 12. Mehrsprachigkeits konzepteder EuropäischenUnion Equity and Quality. Sixty years of European Cooperation. Strasbourg. [https: / / rm.coe. int/ 16806f5526]. Council of Europe (Hrsg.) (2018): Companion Volume with New Descriptors / Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs . [www.coe.int/ lang-cefr]. EEC Council Regulation (1958): Regulation No. 1 Determining the Languages to be used by the European Economic Community. [https: / / eur-lex.europa.eu/ legal-content/ EN/ TXT/ PDF/ ? uri=CELEX: 31958R0001&from=EN]. Europäische Union (1976): Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Minister für Bildungswesen vom 9. Februar 1976 mit einem Aktionsprogramm im Bildungsbereich . Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Nr. C 38/ 1. [https: / / eur-lex.europa. eu/ legal-content/ DE/ TXT/ PDF/ ? uri=CE- LEX: 41976X0219&from=DE]. 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Aufriss Das Vorhaben einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden (Art. 1 Abs. 2 EUV), setzt voraus, dass die Europäische Union die kulturelle Vielfalt der Nationalsprachen bekräftigt, in einer allgemeinen europäischen Sprache aber ein für Gesamteuropa wirksames Handlungsmittel entwickelt. Diese Europasprache wird in der Regel für die Unionsbürger Zweitsprache sein. (Kirchhof 2002: 216) Sprachpolitik (↗ Art. 9, 10, 11) ist immer interessensgeleitet und zuweilen umkämpft. Sprachen bieten national und international gewaltige ökonomische, kulturelle und soziale Vorteile (oder eben Nachteile). Unter den Sprachen gibt es Mammute und Mücken. Sprachen verdrängen einander und wachsen. Sprachen sterben mit den Sprechern, die sie vergessen. Sprachen transportieren Kulturen und Lebensgewohnheiten. Sprachen sind konstitutiv für Identitäten (↗ Art. 1) (Schröder 1995; Phillipson 2003). Über Sprachen verlaufen unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Sprachen verbinden Menschen miteinander in Sprachgemeinschaften. Spracherwerb - ob Mutter-, Zweit- oder Fremdsprache - ist immer mit einem Investieren von Lebenszeit verbunden. Sprachen prägen unser Denken, und legen uns auf bestimmte ‚Weltsichten‘ fest. Sprachen transportieren Konventionen. Sprachen begegnen auch als „kulturelle Gewalt“ (Galtung 1993). Eine Bevölkerung kann daher nicht einfach von einer Sprache in die andere ‚umziehen‘. In der Reichweite folgen Sprachen einem kommunikativen Bedürfnis, das lokal, regional, (seit Bestehen der Nationalstaaten) national und heutzutage zunehmend international sein kann. Die Staaten haben die Bedeutung von Sprache(n) für die nationale Gemeinschaft durchaus erkannt. So legt die Verfassung der Fünften Französischen Republik unmissverständlich im Artikel 2 fest: „La langue de la République est le français.“ Und 30 der 50 US-Staaten bestimmen in ihren Verfassungen das Englische als Staatssprache. Lehrt eine Universität regulär in einer anderen Sprache als Englisch, riskiert sie den Verlust von staatlichen Zuwendungen (Zimmer 1998). Die Problematik ist besonders brisant in der Europäischen Union, wo 24 Sprachen miteinander koexistieren und das Bedürfnis nach einer gemeinsamen Sprache mit der Dichte des Zusammenschlusses wächst. <?page no="90"?> 81 13. Englischals„Eurosprache“? 2. Vorteile des Englischen in der EU Infolge einer informellen Vereinbarung hat sich faktisch nach dem Beitritt der osteuropäischen Länder in die Union das Englische als Verkehrssprache der europäischen Bürger durchgesetzt (↗ Art. 97, 98). Die Breite und Tiefe der Themen, die über das Englische transportiert werden können, stehen und fallen mit der Englischkompetenz der Kommunikationspartner. Laut den Eurydice-Statistiken (z. B. 2017: 71) beherrschen die Europäer Englisch mehrheitlich besser als jede andere Fremdsprache. Zudem erkennen sie die Vorteile von guten Englischkenntnissen an. Dies erklärt, weshalb die meisten europäischen Schüler das Englische als erste Fremdsprache lernen. Klippel (2009: 15) rechnet einer funktionalen Englischkompetenz den Status einer notwendigen „Kulturtechnik“ ähnlich der Lese- und Rechenfähigkeit zu. Die Verbreitung des Englischen in den Medien, unserer Produktwelt, dem Internet, in Beruf und Studium befördert die Englischkenntnisse der europäischen Bevölkerungen. (Zugleich droht sie aber auch, Menschen aus der notwendigen Kommunikation auszuschließen, weil sie gar kein Englisch verstehen). Als eine Art Jokersprache bietet sich Englisch immer dann an, wenn die Kommunikationssituation Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen und operablen Fremdsprachenkenntnissen, jedoch ohne Kenntnis der beteiligten Partnersprachen, zusammenführt. Englisch wird dann von allen Teilnehmern noch am ehesten verstanden (doch wird auch stillschweigend vorausgesetzt, dass diese sich in englischer Sprache hinreichend präzise ausdrücken können); weil es auf den ersten Blick ökonomischer scheint, in Englisch zu kommunizieren als das Übersetzen in mehrere Sprachen; weil es den Vorteil der kulturellen Neutralität genießt (zumindest solange keine nativ Anglophonen und deren Normen im Spiele sind). In dieser Weise ist Englisch alternativlos, solange man Kunstsprachen (Esperanto usw.) ausklammert. Natürlich darf der Blick auf Euro-Englisch den globalen Status von Englisch (besser vielleicht von „the Englishes“) nicht ausblenden. Ob es ein Sesam-öffne-dich für die internationale Kommunikation ist (und wie weit es das tut), entscheidet die interkulturelle Kommunikationsfähigkeit einer amorphen intersociety . So bezeichnet Hüllen (1987) die sich täglich neuformierende, mindestens 1,5 Mio starke Gemeinschaft derer, die sich des Englischen als non-natives in internationaler Kommunikation bedienen. Weitgehend läuft deren Kommunikation in konkreten Situationen mit enger Mitteilungsintention - im Flughafen, beim Einkaufen usw. - ab. Ihr fehlen sehr oft weiter reichende „ common grounds “ von Themen. Gerade deren Repertoire aber macht, wie Luhmann (1991) betont, eine Kultur aus. Fehlende Sprachloyalität stellt auch die Orientierung an ein und derselben linguistischen Norm, etwa des britischen Englisch, in Frage. Das, was gedacht wird, läuft also weiterhin in Chinesisch oder Deutsch ab, die Oberfläche liefert indes das Englische (oft in einer fragwürdigen Form). All das kann zutreffen, muss aber nicht! Begegnet hier ein „Globalesisch“ (Trabant 2005)? Die Frage wird letztlich von den Menschen entschieden, die sich des Englischen als lingua franca , als Arbeitssprache oder als internationale Alltagssprache / Zweitsprache bedienen. Die Zuordnungen sind nicht leicht voneinander zu unterscheiden. Die Frage der Qualität der Kommunikation ist nicht plakativ zu beantworten. Der in den Wissenschaften geführte Diskurs um die Verwendung des Englischen z. B. im Deutschen betont die Unterschiede der Bindung von <?page no="91"?> 82 GöranNieragden-&Franz-JosephMeißner Sprache an Themen und Inhalten: Während die Inhalte der juristischen Fachsprache erst in der jeweiligen Rechtsgemeinschaft kreiert und kodifiziert werden, sind die Fachsprachen der Naturwissenschaften weitgehend unabhängig von einzelkulturellen Inhalten. Dieser Sachverhalt bedeutet Einiges für die Übertragung von Gedanken in eine fremde Sprache. Deutsche juristische oder geisteswissenschaftliche Zusammenhänge in englischer Sprache zu formulieren (nicht: zu übersetzen) ist nur zum Preis der Aufgabe von Konnotationen möglich. In diesem Zusammenhang unterstreichen mehrere Autoren das Risiko des Verlusts von Diskursdomänen in den gegenüber der internationalen Sprache schwächeren nationalen oder gar regionalen Sprachen. In allen Ländern der EU ist Englisch faktisch eine schulische Pflichtfremdsprache (Eurydice 2017: 71), zumeist wird es als erste Fremdsprache belegt. Ihr Unterricht beginnt überwiegend in der Grundschule, sodass das Kriterium, die geographisch nächstgelegenen Nachbarsprachen zu priorisieren, oft nur in den Grenzräumen Bestand hat. Der erhoffte Effekt, mit nahezu allen Nachbarn in Europa zumindest partiell auf Englisch kommunizieren zu können, lässt sich zwar aus der quantitativen Privilegierung des Englischen, das EU-weit von 85 % der Schüler auf der Sekundarebene erlernt wird (Eurydice 2017: 167) und mit 38 % die meistgesprochene Fremdsprache in Europa ist, ablesen, ist jedoch sicherlich noch eher eine Projektion als Realität. 3. Welches Englisch lehren? Was ist Euro-Englisch? Soll Englisch weltweit als Sesam-öffne-dich für die in Tausende von Sprachen aufgespaltene Menschheit fungieren, bedarf es einer Norm - für die globale Kommunikation und für das Erlernen der Fremdsprache. Europäer orientieren sich bislang eher an britischem, Asiaten eher an amerikanischem Englisch. Zugleich zeigen ihre ganz unterschiedlichen Lernersprachen Interferenzen der Muttersprachen, nicht nur in der Phonetik. Das Verständnis zwischen Asiaten, Lateinamerikanern und Europäern über Englisch erleichtert all dies nicht. Fazit: Eine Englisch-Didaktik für Englisch als internationale Sprache (EIL) tut not und ist längst überfällig (Gnutzmann 2000). Ist sie in Sicht? Zu berücksichtigen hätte sie eine der großen Normvarianten des polyzentrischen Englisch (Graddol 2006). Doch welche? Mit welchen Folgen? Englisch als Fremdsprache ist in der Reichweite wirksam, aber in der Anwendung aufwendig. Müssen Nichtanglophone einen Text in einer Fremdsprache verfassen, so beansprucht dies wesentlich mehr Zeit als in den Muttersprachen. (Längst ist daher innerhalb der umsatzstarken englischen Sprachindustrie die Branche der proof-reader entstanden). Vor diesem Hintergrund schlägt Seidlhofer (2003; 2011) mit Blick auf die EU eine Art Euro-Englisch vor, das sich nicht mehr an den kulturellen und linguistischen Standards des britischen (oder US-amerikanischen) Englisch orientiert. Es geht nicht um Schreibweisen wie to organise (brit.) oder to organize (US), sondern um die vielkulturelle Unterfütterung des Euro-Englisch durch die so verschiedenen Alltagspraxen der Europäer. Offensichtlich ist der Gebrauch des Euro-Idioms auf wenige thematische Domänen und kommunikative Funktionen/ Situationen begrenzt, während die national statistisch relevanten Themen vor allem bei den Nationalsprachen verbleiben. Das sog. VOICE-Projekt der Universitäten Wien und Oxford (2005-2013) hat ein International Corpus of English zusammengestellt, <?page no="92"?> 83 13. Englischals„Eurosprache“? das aus Texten nicht-nativer Kommunikation kompiliert wurde. Weitere Vorschläge wurden längst gemacht. Doch festzuhalten ist: Ein europaweit praktikables, sowohl in der muttersprachlichen wie zweitsprachlichen Sprechergemeinschaft mehrheitsfähiges Angebot für die Fremdsprachendidaktik zeichnet sich bis zum heutigen Tage nicht ab (Nieragden 2012: 148). Mit anderen Worten: Das mit Euro-Englisch verbundene Aufwendigkeitsproblem bleibt für die meisten Europäer ungelöst und die Erfüllung nativer Standards für die allermeisten von ihnen unerreichbar. 4. Fazit und Trends Innerhalb der vielsprachigen europäischen Kommunikationslandschaft erscheint das Englische immer dann als eine ‚natürliche‘ Wahl (oder als kleinster gemeinsamer Nenner), wenn die jeweiligen nationalen Sprachen nicht operabel von den Kommunikationspartnern beherrscht werden. Medien, Reisen und Konsum bestätigen tagtäglich, dass Englisch durchaus, wenn auch z.T. nur in gewissen Grenzen, international funktioniert. Die internationale Kommunikation und die global kooperierende Arbeitswelt (↗ Art. 24) verlangen eine weltweit gemeinsame Sprache, die auch nicht-native Teilhaber (Zweitsprachensprecher) elaboriert beherrschen können. All dies ist von der Lebenswelt der Menschen nicht zu trennen. Wenn die Fähigkeit zu kommunizieren im Prinzip eine Erhöhung des psychischen Einkommens ( psychic income ) bedeutet (was die Nationalismusforschung für die Nationalsprachen betont, Katz 1978), so gilt dies auch für die Sprache, in der sich die Menschen unterschiedlicher Muttersprachen miteinander erfolgreich austauschen. Das Englische teilt diese Eigenschaft selbstverständlich mit allen anderen Sprachen: Mutter-, Zweit- und Fremdsprachen, wenn auch die Reichweite von Mücken viel kleiner ist als die des Mammuts oder der Elefanten‘. Ob die vor allem funktional motivierte Dominanz von global oder European English (↗ Art. 97, 98) zum Verlust der europäischen Sprachenvielfalt und zum Verlust von Diskursbereichen in diesen Sprachen, an welchen deren Sprecher teilhaben können, führt, hängt davon ab, (1) wie sehr es der Sprachenpolitik der EU gelingt, eine diversifizierte und abgestufte Mehrsprachigkeit („mindestens Muttersprache plus zwei EU-Sprachen, eine davon Englisch“) zu verwirklichen und (2) wie sich die Europäer in ihrer täglichen kommunikativen Praxis zwischen Ein-, Mehr- und Vielsprachigkeit entscheiden. Sensibilität ist angezeigt („professors in the Netherlands have complained of Dutch becoming a second-class language and students have not been generally happy about the spread of English”, Green et al. 2012). - Umgekehrt wird sich das Englische dem Einfluss der Kommunikation zwischen den Europäern und weltweit nicht entziehen können (Crystal 2003). Ein Euro-Englisch könnte indes manchem Apologeten nationaler Normen (UK und USA) schon jetzt gar als eine Art Bedrohung erscheinen (Lanvers & Hultgren 2018). Literatur Crystal, D. (2003): English as a Global Language . Cambridge. Eurydice (2017): Key Data on Teaching Languages at School in Europe. Brussels. Galtung, J. (1993): Kulturelle Gewalt. Zur direkten und strukturellen Gewalt tritt die kulturelle Gewalt. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 4, 473-487. <?page no="93"?> 84 GöranNieragden-&Franz-JosephMeißner Gnutzmann, C. (2000): Teaching and Learning English as a Global Language. Native and Non-Native Perspectives. Tübingen . Graddol, D. (2006): English Next. Why Global English May Mean the End of 'English as a Foreign Language' . London. Green, A., Fangquing, W., Cochrane, P. et al. (2012): English Spreads as Teaching Language in Universities Worldwide. In: University World News , 22.08.2018, 1. 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Die zweisprachige Erziehung in den USA ist ein Lehrstück dafür, wie leicht sich vermeintlicher Fortschritt verrennt. In: Die Zeit 47, 12.11.98, 50. Göran Nieragden-& Franz-Joseph Meißner 14. Gesamtsprachencurriculum 1. Begrifflichkeit Der Begriff des Gesamtsprachencurriculums steht einerseits generisch für Unterrichtskonzepte, Stundentafeln und Strukturplanungen, die sprachenübergreifend organisiert sind und echte Mehrsprachigkeit in Schulen (und anderen Bildungsinstitutionen) anstreben (vgl. Hufeisen 2005, 2011) (↗ Art. 7, 21). Andererseits steht der Begriff des Gesamtsprachencurriculums als Prototyp für PlurCur®. Dies ist das Akronym für den Namen eines ursprünglich am Europäischen Fremdsprachenzentrum <?page no="94"?> 85 14. Gesamtsprachencurriculum in Graz angesiedelten Projektes, dessen Einsatz an 16 europäischen Schulen erprobt und erforscht wurde. Es gibt andere Konzepte, die sprachenübergreifendes Arbeiten ermöglichen sollen, z. B. stufenübergreifende Mehrsprachigkeit (vgl. Wode et al. 1999), für Österreich Reich & Krumm (2013), für die Schweiz Manno & Egli Cuenat (2018). PlurCur® zeichnet sich allerdings nicht nur durch das Merkmal des Sprachenübergreifenden, dem die interkulturellen Dimensionen inhärent sind, aus, sondern auch durch die Merkmale des Fächer- und Jahrgangsübergreifenden sowie die konsequente Projektorientierung, die die vorgenannten Merkmale überhaupt erst möglich machen (vgl. Allgäuer- Hackl et al. 2015). 2. Problemaufriss Der Entwicklung sprachenübergreifender Konzepte und Modelle liegt zunächst das bildungspolitische Ziel zugrunde, mit der Erstarkung einzelner überregionaler Verständigungssprachen in Bildungsinstitutionen andere und weitere Fremdsprachen zu erhalten und ebenfalls zu stärken. So soll verhindert werden, dass immer weniger Fremdsprachen immer häufiger und länger und so genannte zweite und weitere Fremdsprachen immer seltener und kürzer gelernt werden oder dass sie mit Verweis auf andere, vermeintlich wichtigere, Fächer ganz aus dem Lehrplan genommen werden. Für den deutschen Bildungsraum gilt dies beispielsweise für die typischen zweiten (Fremd)Sprachen Französisch oder Latein, für den weltweiten Raum gilt dies u. a. für die Fremdsprache Deutsch, die praktisch nirgends mehr als erste, sondern allenfalls als zweite Fremdsprache, meist nach Englisch oder einer anderen überregionalen Verständigungssprache, oder sogar erst nach beiden gelernt wird. Eine zweite Begründung für die Entwicklung gesamtsprachencurricularer Ansätze ist der Versuch, die lebensweltliche Mehrsprachigkeit (↗ Art. 100) curricular aufzunehmen und abzubilden. Dies geschieht durch den systematischen Einbezug einerseits der jeweiligen Umgebungssprache(n) (in Deutschland also deutsch), andererseits, wenn möglich, der jeweiligen Herkunftssprachen (↗ Art. 106) der Mitglieder einer Bildungsinstitution. Schließlich sollen in gesamtsprachencurricularen Rahmungen auch die so genannten klassischen Fremdsprachen einen Platz haben (vgl. Hufeisen 2015). 3. Forschungsstand Einzelberichte zu Forschungsstudien finden sich in Allgäuer-Hackl et al. (2015), z. B. zu den Einstellungen zur eigenen Mehrsprachigkeit von Schülerinnen und Schülern, die im Rahmen einer mehrsprachigen Theater-AG untersucht wurden (vgl. Henning eingereicht). Kordt (2018) erarbeitete im Rahmen der Untersuchung ihrer an EuroComGerm orientierten mehrsprachigen Projektwochen einen affordanztheoretischen Bezugsrahmen. Allgäuer (2017) zeigte den Nutzen mehrsprachigen Arbeitens für die Ausbildung von Sprachenbewusstheit und -sensibilisierung und die Auswirkungen für andere Fächer. 4. Praxisrelevanz Angesichts der kulturell und sprachlich immer heterogener werdenden Bevölkerungen sind gesamtsprachencurriculare Implementierungen an Bildungsinstitutionen eigentlich <?page no="95"?> 86 BrittaHufeisen eine zwingende Notwendigkeit; insofern ist von einer hohen Praxisrelevanz auszugehen. Jede Form der systematischen gesamtsprachencurricularen Umsetzung bedarf jedoch grundsätzlicher (Um)Strukturierungen, die auf allen Seiten der Beteiligten Geduld und einen langen Atem erfordern und sich nicht im Rahmen einzelner Legislaturperioden durchführen lassen. Einzelaspekte lassen sich unproblematisch in den Wahlpflichtbereich (vgl. Fasse 2014) oder in Projektwochen (vgl. Kordt 2015) und manchmal sogar ad hoc in den Unterricht einfügen; diese werden jedoch kaum so nachhaltig sein können wie umfassende Umstellungen (vgl. Hufeisen 2019). 5. Perspektiven Das ERASMUS+-Folgeprojekt PlurE hat den Umsetzungsdimensionen die digitale Komponente hinzugefügt (vgl. PlurE). Es gibt zunehmend Schulen, die sich für die Implementierung gesamtsprachencurricularer Strukturen interessieren und entsprechende Begleitforschung einplanen (vgl. formatio), so dass anzunehmen ist, dass Gesamtsprachencurricula noch eine Weile eher an individuellen Schulen ausprobiert und eingeführt werden, dass aber auch die offizielle Bildungspolitik diese Entwicklungen nicht dauerhaft ignorieren sollte. Literatur Allgäuer, E. (2017): Multilingual/ metalinguistic awareness in school contexts within a dynamic systems and complexity theory perspective. The effects of training on multiple language use and multilingual awareness. Innsbruck, unveröffentlichte Dissertation an der Universität Innsbruck. Allgäuer-Hackl, E., Brogan, K., Henning, U. et al. (Hrsg.) (2015): Mehr Sprachen? -- PlurCur! Berichte aus Forschung und Praxis zu Gesamtsprachencurricula . Baltmannsweiler. Fasse, G. (2014): Im Meer der Sprachen. In: Fremdsprache Deutsch 50 , 36-41. Henning, U. (eingereicht): Zum Wandel der Einstellungen von SchülerInnen zu Mehrsprachigkeit und einzelnen Sprachen. Darmstadt, Dissertation. Hufeisen, B. (2005): Gesamtsprachencurriculum: Einflussfaktoren und Bedingungsgefüge. In: B. Hufeisen & M. Lutjeharms (Hrsg.): Gesamtsprachencurriculum-- Integrierte Sprachendidaktik-- Common Curriculum. Theoretische Überlegungen und Beispiele der Umsetzung. Tübingen, 9-18. Hufeisen, B. (2011): Gesamtsprachencurriculum: Überlegungen zu einem prototypischen Modell. In: R. Baur & B. Hufeisen (Hrsg.): "Vieles ist sehr ähnlich." - Individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als bildungspolitische Aufgabe. Baltmannsweiler, 265-282. Hufeisen, B. (2015): Zur möglichen Rolle der sog. klassischen Sprachen für Gesamtsprachencurriculumskonzepte. In: S. Hoffmann & A. Stork (Hrsg.): Lernerorientierte Fremdsprachenforschung und -didaktik . Tübingen, 45-57. Hufeisen, B. (2019): Förderung des DAF- Unterrichts durch Mehrsprachigkeitskonzepte. In: U. Ammon & G. Schmidt (Hrsg.): Förderung der deutschen Sprache weltweit. Vorschläge, Ansätze und Konzepte. Berlin, 337-350. Kordt, B. (2015): Sprachdetektivische Textarbeit. In: Praxis Fremdsprachenunterricht 4, 4-9. Kordt, B. (2018): Herausforderungen und Chancen eines affordanztheoretischen Ansatzes in der Fremdsprachenlehr-/ lernforschung. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 29/ 2, 147-168. <?page no="96"?> 87 14. Gesamtsprachencurriculum Manno, G. & Egli Cuenat, M. (2018): Sprachen- und fächerübergreifende curriculare Ansätze im Fremdsprachenunterricht in der Schweiz. Curricula in zwei Bildungsregionen und Resultate aktueller empirischer Studien in der Deutschschweiz. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 29/ 2 , 217-243. Reich, H. H. & Krumm, H.-J. (2013): Sprachbildung und Mehrsprachigkeit. Ein Curriculum zur Wahrnehmung und Bewältigung sprachlicher Vielfalt in Unterricht. Münster. Wode, H., Burmeister, P., Daniel, A. & Rohde, A. (1999): Verbundmöglichkeiten von Kindergarten, Grundschule und Sekundarstufe I im Hinblick auf den Einsatz von bilingualem Unterricht. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 4/ 2. [http: / / tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/ index.php/ zif/ article/ view/ 655/ 631]. Internet formatio: www.formatio.li/ neuigkeiten/ nachrichten/ detailansicht/ datum/ 2018/ 02/ 28/ mehrsprachigkeit-als-schulkonzept-das-5bildungsforum-an-der-formatio.html PlurCur®: www.ecml.at/ plurcur PlurE: https: / / danmar-computers.com.pl/ en/ projekty-archiwum/ europejskie/ eu2015/ plure-erasmus/ ] und [http: / / www.daf. tu-darmstadt.de/ forschungprojekte/ laufende_projekte/ gesamtsprachencurricula/ inhalt_mit_marginalienspalte_43.de.jsp Britta Hufeisen <?page no="98"?> 15. Bildungspolitische Perspektiven auf Mehrkulturalität 1. Der Begriff Mehrkulturalität im gesellschaftlichen Kontext In Analogie zu gesellschaftlicher Vielsprachigkeit ( Multilingualism ) und individueller Mehrsprachigkeit (Plurilingualism ) lässt sich auch Mehrkulturalität einerseits als Zustand einer Gesellschaft (oft: Multikulturalität) und andererseits als Verfasstheit oder auch Kompetenz des Individuums, als individuelle Mehrkulturalität (oft: Interkulturalität), verstehen - und in diesem Zusammenhang ist Mehrkulturalität dann auch Zielsetzung von Erziehung. In der bildungspolitischen Debatte werden die genannten Begriffe aber keinesfalls konsequent unterschieden. In der deutschsprachigen Diskussion dominiert Interkulturalität , vor allem wenn es um die Beschreibung von Lernzielen und Kompetenzen geht (↗ Art. 32, 43). Allerdings wird der Begriff Interkulturalität inzwischen auch skeptisch gesehen, da hier zu stark das Gegenüber zweier Kulturen, Eigenes und Fremdes, im Fokus stünden und die komplexe Interrelation dadurch zu stark vereinfacht werde (Albrecht 2003: 236-237). Hier setzen Konzepte und Begriffe an, die davon ausgehen, dass die Gegenwart nicht durch solche einfachen Gegenüberstellungen oder eine additive Agglomeration, sondern durch eine komplexe Mischung von Sprachen und Kulturen gekennzeichnet ist, die sich nicht isolieren lassen, sondern neue Formen hervorbringen: Transkulturalität, Diversität, Heterogenität und Superdiversität (↗ Art. 41). All diese Begriffe zielen auf Gesellschaften, in denen verschiedene Kulturen nebeneinander, im günstigen Fall auch miteinander existieren und sich eventuell auch neue Formen der Mischung ergeben. Blell und Doff sehen Mehrkulturalität als einen diese verschiedenen Facetten bündelnden Oberbegriff: „Er bildet in diesem Kontext eine breite Klammer für Interkulturalität, Transkulturalität sowie Mehrkulturalität im engeren Sinne“ (Blell & Doff 2014: 2). Dazu bedarf es eines Kulturbegriffs, der die trotz der Anerkennung von Multikulturalität fortbestehende homogenisierende Orientierung an nationalen oder ethnischen Gruppen überwindet und Kultur als Verfügung über kulturelle Deutungsmuster versteht (↗ Art. C Mehrkulturalität in einer multilingualen und multikulturellen globalisierten Welt <?page no="99"?> 90 Hans-JürgenKrumm 1), wobei dann Mehrkulturalität impliziert, dass solche Deutungsmuster nicht mehr fraglos vorausgesetzt, sondern jeweils neu ausgehandelt werden müssen (vgl. Altmayer 2010: 1004-1009). Byram (2000: 51 ff.) spricht in diesem Sinne von „multikulturellen Milieus“ einerseits und von Mehrkulturalität im Sinne von „interkulturell-sein“ andererseits. Er betont zwei Wege zu dieser Mehrkulturalität: Zum einen bilde sie sich als Konsequenz des Zusammenlebens in einem multilingualen Milieu, zum andern sei sie ein wichtiges Ziel und Ergebnis von Sprachenlehren und Sprachenlernen. Dabei geht es zum einen um die zu erwerbenden Kompetenzen des ‚interkulturellen Sprechers/ Hörers‘, zum andern um Einstellungen (Byram: 2000: 53), d. h. der Begriff zielt auf Menschen, die nicht nur durch eine kulturelle Tradition geprägt oder dieser verbunden sind, sondern sich verschiedenen Kulturräumen zugehörig fühlen und sich damit jenseits eindeutiger nationaler und/ oder kultureller und/ oder sprachlicher Zuordnungen bewegen. Christ (posthum 2015: 116) betont in besonderem Maße Mehrkulturalität als Teil der Biographie: „Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität als Fähigkeiten manifestieren sich als soziale Praxen : Sie entwickeln sich in Interaktion mit anderen“. Auch wenn immer wieder betont wird, Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität seien „im europäischen Bildungsdiskurs fest verankert (…) und längst zu theoretischen Bezugspunkten für das Lehren und Lernen von Sprachen geworden“ (Schädlich 2009: 91), so gilt das im Grunde nur für die Mehrsprachigkeit. Zwar werden Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität oft in einem Atemzug genannt bzw. als unmittelbar mit einander verknüpft gesehen wie z. B. im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) (Europarat 2001: 17). Aber in der Konkretisierung geht es dann in der Regel, auch im GeR (↗ Art. 18), um Mehrsprachigkeit, ohne dass das Entstehen von und der Umgang mit Mehrkulturalität zum Thema wird. Und obwohl Mehrsprachigkeit als eine Basis des interkulturellen Dialogs (↗ Art. 33, 103, 104) und der interkulturellen Verständigung gilt (Schwan 2004), gibt es keinen Automatismus, nach dem Mehrsprachigkeit Interkulturalität notwendig hervorbringt oder garantiert; auch Fremdsprachenunterricht ist oft monokulturell angelegt und kann auch vorhandene Stereotypen (↗ Art. 34) verstärken (vgl. Schulze 2010). 2. Deskriptoren für Mehrkulturalität Mit dem Konzept der europäischen Bürgerschaft / democratic citizenship hat der Europarat (↗ Art. 9) ein Rahmenkonzept formuliert, das Bürger befähigen soll, in multikulturellen Gesellschaften tolerant und in gegenseitigem Verständnis zu leben: „Democratic citizenship is about inclusion rather than exclusion, participation rather than marginalisation, culture and values rather than simple procedural issues“ (Starkey 2009: 8). In zwei im Kontext des Europarats entstandenen Projekten wurde in jüngster Zeit versucht, die hier aufgerufenen Kompetenzen zu beschreiben: 1. Der „Referenzrahmen für plurale Bildung zu Sprachen und Kulturen“ (RePA) (Candelier et al. 2009) zielt auf sprachenübergreifende Kompetenzen, die ein integriertes interkulturelles Lernkonzept in Form von Deskriptoren präzisieren, so z. B. „Kompetenz zum Perspektivenwechsel“, „Kompetenz, dem sprachlich und/ oder kulturell Unvertrauten einen Sinn zu geben“. Dabei verzichtet der <?page no="100"?> 91 15. BildungspolitischePerspektivenauf Mehrkulturalität RePA (↗ Art. 20) auf eine strenge, abprüfbare Hierarchisierung im Sinne der Niveaustufen des GeR (↗ Art. 18), die Abstufung betont stärker den Zusammenhang und Übergang, ebenso wie das Ineinandergreifen von sprachlichen und kulturellen Kompetenzen. Zwar klingt gelegentlich auch hier die vereinfachte Vorstellung von zwei einander quasi gegenüberstehenden Kulturen an, indem die Unterschiede zwischen „der eigenen Kultur und anderen Kulturen“ (K-92) hervorgehoben werden, insgesamt aber geht der RePA davon aus, dass sich kulturelle Wahrnehmungen erst in der Interaktion herausbilden und mit Hilfe von Sprache Bedeutungen ausgehandelt werden können. 2. Mit einem „Companion Volume“ hat der Europarat u. a. für den im Referenzrahmen ausgesparten Bereich der ‚plurikulturellen Kompetenzen’ Deskriptoren entwickelt (↗ Art. 19). Auch hier bleibt die enge Bindung an die Mehrsprachigkeit erhalten, ergänzt um interkulturelle und soziolinguistische Dimensionen: „Seeing learners as plurilingual, pluricultural beings means allowing them to use all their linguistic resources when necessary, encouraging them to see similarities and regularities as well as differences between languages and cultures.“ (Council of Europe 2018: 27) Die Deskriptoren für die mehrkulturelle Kompetenz machen nur einen kleinen Anteil in dieser Ergänzung aus und bewegen sich sehr stark in dem den sprachlichen Fertigkeiten zugeordneten Bereich der soziolinguistischen Angemessenheit von kommunikativem Handeln. Der Companion versteht sich als Grundlage für Curricula und Lernziele zum interkulturellen Verstehen, erreicht aber das mit dem Stichwort „democratic citizenhsip“ skizzierte Verständnis von Teilhabe an einer mehrkulturellen Gesellschaft nicht. Hinzu kommt, dass die Deskriptoren für die mehrkulturelle Kompetenz bzw. soziokulturelle Angemessenheit nach dem Vorbild des Referenzrahmens in den sechs Niveaustufen A1 bis C2 hierarchisiert sind. Damit schreibt der Companion ein Problem fort, das aus bildungspolitischer Perspektive schon beim ursprünglichen Referenzrahmen zu Kontroversen geführt hat: Die Zuordnung der Kompetenzen zu diesen Niveaustufen wurde in der Praxis genutzt, um diese Niveaustufen als Schwellen z. B. für den Zugang zu Aufenthaltsrechten, d. h. für Segregation einzusetzen (vgl. Krumm 2007). Nicht die Möglichkeit individueller Profilbildung, die der Referenzrahmen durchaus anbietet, sondern diese Einstufung und eventuell Segregation von Zuwanderern bestimmt den migrationspolitischen Gebrauch trotz aller Kritik, die auch innerhalb des Europarats dazu formuliert wurde (vgl. Strik 2013). Hinsichtlich der Erweiterung des Referenzrahmens um Deskriptoren für plurikulturelle Kompetenzen wurde daher die Sorge geäußert, dass nun auch hier Niveaustufen zu einer (sozialen und politischen) Bewertung kultureller Leistungen (↗ Art. 48, 49) und damit zum Ausschluss von Menschen aus der Gesellschaft führen könnten: „Des Weiteren können die Konzepte, von denen vornehmlich die Rede ist (Mediation, Mehrsprachigkeit, Interkulturalität, etc.), nicht auf Deskriptoren, Niveaustufen, Kompetenzen, Aufgaben und kognitive Operationen beschränkt werden, insofern als sie hauptsächlich mit den Lebens- <?page no="101"?> 92 Hans-JürgenKrumm geschichten, den Vorstellungswelten und den Einzelerfahrungen der Menschen und der Veränderlichkeit der Situationen verknüpft sind (↗ Art. 6). Diese Konzepte lassen sich per se nicht in Raster fassen, außer man will sie kontrollieren und technischem Kalkül unterwerfen, um jegliche Diversität und Heterogenität zu unterbinden. Wie wird es sein, wenn die staatlichen Behörden sich dieser neuen Deskriptoren bemächtigen, um die „Mediationskompetenz“ der Geflüchteten zu normieren und zu begutachten, oder wenn sie prüfen, ob deren Verhalten den kulturellen Gepflogenheiten entspricht, um daraus dann den „Beweis“ für ihre Integration abzuleiten, oder um daran eine notwendige Bedingung für den Erhalt der Aufenthaltserlaubnis oder der Staatsbürgerschaft zu knüpfen? “ (ACEDLE/ ASDIFLE/ Transit-Lingua 2017). Diese Kritik der französischen Fachverbände ist leider bisher weder in der Fachdiskussion noch im Europarat aufgenommen worden, so dass die damit aufgeworfene Frage nach der Normier- und Überprüfbarkeit interkultureller Kompetenzen unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen Verwertbarkeit weiterhin offen ist. Die Debatte um Werte- und Orientierungskurse für Migrantinnen und Flüchtlinge zeigt, dass die Tendenz zu einem homogenisierenden, an nationalen oder ethnischen Gruppen orientierten Kulturbegriff in der Öffentlichkeit und in der Bildungspolitik keineswegs überwunden ist (↗ Art. 1, 4). 3. „Der monokulturelle Habitus“ des multikulturellen Bildungswesens Die von Gogolin (1994) für die Schule geprägte Wendung vom „monolingualen Habitus der multilingualen Schule“ lässt sich durchaus auch auf die kulturelle Perspektive übertragen: Fast überall in Europa ist das Bildungswesen ungeachtet der Tatsache, dass Kinder aus unterschiedlichen Kulturräumen und mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen sie besuchen, auf homogene Lerngruppen hin orientiert und verfügt über ein großes Instrumentarium, um diese Homogenität zu sichern bzw. herzustellen, von der Jahrgangsklasse, den Einschulungs- und Versetzungsbestimmungen über Notengebung und Leistungsbeurteilung, standardisierte Lehrpläne, Unterrichtsmethoden und Vergleichsstudien bis hin zu zentralen Bildungsstandards und Prüfungen. Nur unter der Voraussetzung der Homogenität kann es nämlich - so glaubte man lange und glaubt es vielfach immer noch - gelingen, 20 bis 30 Kinder in der gleichen Klasse, in der gleichen Lernzeit und nach den gleichen Unterrichtsmethoden erfolgreich zu unterrichten. Diese Homogenitätserwartung hat dazu geführt, dass Instrumente zur Assimilation anderssprachiger und kulturell anders geprägter Kinder entwickelt wurden, neben segregierenden Sprachförderprogrammen z. B. Werte- oder Orientierungskurse, die nicht immer dem differenzierenden Eingehen auf die mitgebrachten Ressourcen, sondern der Anpassung an die Rituale und Normalitätsvorstellungen der Aufnahmegesellschaft dienen. „Kultur“ bekommt in dieser Perspektive die Konnotation der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit, erlaubt es, Unterschiede zu machen; Integration wird zunehmend als Assimilation verstanden (↗ Art. 37). Eine Mischung von Kulturen, aus der dann etwas <?page no="102"?> 93 15. BildungspolitischePerspektivenauf Mehrkulturalität Neues entsteht und die bisherigen Unterschiede und Differenzen aufgehoben sind, wie das etwa auch im Begriff des Schmelztiegels zum Ausdruck kommt, ist in vielen europäischen Gesellschaften unerwünscht (↗ Art. 32). Der Begriff der multikulturellen Gesellschaft wird in der politischen Debatte daher zunehmend auch kritisch gesehen, das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft als gescheitert betrachtet. Andererseits bleibt es Ziel der Bildungspolitik, das Zusammenleben in der ‚multikulturellen Schule‘ zu fördern und zu erleichtern und die Schulentwicklung so zu gestalten, dass sich das monokulturelle Grundverständnis zugunsten einer multikulturellen Schule ändert. Seit die deutsche Bildungspolitik (↗ Art. 21) inklusive Erziehung zu einer ihrer Prioritäten erklärt hat und eine Pädagogik der Diversität anstrebt, gibt es hierfür eine Perspektive, wobei kritisch anzumerken ist, dass sich die deutsche Diskussion im Gefolge der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 entwickelt hat. Erst allmählich gewinnt der Menschenrechtsgedanke (↗ Einleitung) für alle Lernenden und die Erkenntnis an Boden, dass es darum geht, auf Unterscheidungen zwischen Menschen auf der Grundlage willkürlich gewählter Merkmale insgesamt zu verzichten und Bildungsgerechtigkeit herzustellen (vgl. Burwitz-Melzer u. a. 2017). 4. Mehrfachidentität Der Begriff der Identität (↗ Art. 1) ist gleichfalls ein Begriff, der sich zum einen auf Individuen richtet (personale Identität), zum andern aber auch genutzt wird, um soziale Gruppen zu charakterisieren (Gruppenidentität). Sprache und gemeinsame kulturelle Merkmale (Religion, gemeinsame Geschichte) machen eine Gruppe erst zur Gruppe - erst recht bei der ‚nationalen Identität‘, bei der ein Mensch sich erst durch solche Merkmale als zugehörig erweisen kann. Analog zu der nationalstaatlichen Entwicklung der letzten 200 Jahre in Europa mit der Vorstellung „ein Staat - eine Sprache“ hat auch hinsichtlich der kulturellen Prägungen und Zugehörigkeiten der Gedanke der gemeinsamen Kultur Fuß gefasst, gleich ob damit die religiösen Grundlagen oder ein geteiltes Geschichtsbewusstsein oder zentrale gesellschaftliche Konzepte gemeint sind; zur klassischen Vorstellung von kultureller Identität werden durchweg Ethnizität, Religion, Sprache und Nationalität gerechnet (↗ Art. 10). Gleichzeitig wird in allen Konzepten zur personalen Identität betont, dass es sich nicht um ein starres, unveränderliches Konstrukt handelt; je nach Entwicklung und Erfahrungen kann sich die Identität eines Menschen wandeln und damit auch die Rolle, die sprachlich-kulturelle Prägungen dabei spielen (vgl. Thim-Mabrey 2003). Das jedoch ist in monokulturellen Konzepten nicht vorgesehen: Mehrkulturelle Identität bedeutet, dass Normalitätsannahmen monokultureller Gesellschaften nicht mehr funktionieren, dass auch andere kulturelle Deutungen als die der Mehrheitsgesellschaft für einen Menschen bedeutsam sind. Ob und in welcher Form sich eine mehrkulturelle Identität entwickeln kann, also ein Selbstverständnis, in dem Menschen sich verschiedenen kulturellen Räumen und Gruppen zugehörig fühlen und verschiedene kulturelle Merkmale gleichrangig integriert haben, oder ob Mehrkulturalität als Bedrohung abgelehnt wird, hängt von den Lebensumständen und insbesondere der Offenheit der Gesellschaft (Schule und Aufnahmeland) ab. Im Laufe von Migrationsprozessen entstehen im günstigen Fall transnationale Räume, die die gleichzeitige und sich überlagernde Zugehörigkeit zu verschiedenen Sprach- und <?page no="103"?> 94 Hans-JürgenKrumm Kulturwelten erlauben und zur Entwicklung einer Mehrfachidentität führen können. Für die Entwicklung und Anerkennung einer solchen mehrkulturellen (und mehrsprachigen) Identität bedarf es einer Gesellschaft, die ihrerseits Mehrkulturalität als konstitutives Merkmal ihrer Verfasstheit ansieht und auf monokulturelle Normierungen verzichtet. Kulturelle Identität in diesem Sinne würde bedeuten, dass die Zugehörigkeit gerade durch die Anerkennung von Verschiedenheit entsteht (↗ Art. 38, 39). In diesem Sinne ist der Begriff der „democratic citizenship“ ausdrücklich nicht nur auf Nationalität bezogen, sondern auf die gemeinsame Verpflichtung auf Grundwerte wie z. B. fundamentale Menschen- und Freiheitsrechte (vgl. Starkey 2002). 5. Ausblick So wie die europäischen Gesellschaften erkennen und eingestehen mussten, dass sie längst zu Einwanderungsgesellschaften geworden sind, so müssen sie entsprechend ihre Bildungssysteme in mehrsprachige und mehrkulturelle Bildungssysteme umwandeln, monokulturelle Erwartungen und Ansprüche überwinden und sich für sprachliche und kulturelle Vielfalt öffnen. Was die sprachliche Vielfalt betrifft, so wird diese Entwicklung auch durch die Mehrsprachigkeitsstrategie der Europäischen Union gestützt (↗ Art. 9, 12). Die meist mitgenannte kulturelle Dimension kommt dabei allerdings immer noch zu kurz. Die Aufgabe, kulturelle Vielfalt zur Normalität werden zu lassen, ist ein langfristiges Projekt, für das Kindergarten und Schule den Grund legen müssen. Sie berührt auch eine machtkritische Perspektive: Solange kulturelle Zugehörigkeit ein Konzept der Inklusion und Exklusion ist, besteht ein Interesse an der Aufrechterhaltung kultureller Klassifikationen. „Das Konzept von Diversity verwirft Klassifizierungen jeglicher Art und setzt stattdessen - wie auch die Inklusion - auf die Achtung der Individualität jedes Einzelnen im Sinne der Menschenrechte“ (Georgi 2015: 26). Die ungleiche Verteilung von Macht ist kaum zu vermeiden, Mehrkulturalität aber betont die Notwendigkeit, Respekt, Würde und Teilnahme unabhängig von der realen Machtverteilung zu ermöglichen: „Der Diversity-Begriff ist positiv konnotiert: Er transportiert die Wertschätzung der Pluralität von Lebensentwürfen und hebt Vielfalt als gesellschaftliche Ressource hervor“ (Georgi 2015: 26). Der Referenzrahmen für plurale Ansätze für Sprachen und Kulturen (RePA) ist hier ein grundlegendes Instrument, weil er nicht nur die Dimension des Wissens, sondern auch die Dimensionen der Einstellungen und Emotionen einbezieht; es geht nicht nur darum, zu vermitteln, dass ‚auch andere Kulturen’ positiv zu verstehen sind, sondern - und das wäre dann ein Schritt über den RePA hinaus - sprachliche und kulturelle Vielfalt als Rahmenbedingungen für das Leben in einer demokratischen Gesellschaft zu akzeptieren (↗ Art. 20). Literatur ACEDLE/ ASDIFLE/ Transit-Lingua (2017): The Expanded CEFR Project: a not so Good Initiative by the Council of Europe / Das Projekt Weiterentwicklung des Europäischen Referenzrahmens: eine gutgemeinte, aber falsche Initiative des Europarates . [http: / / www.transitlingua. org/ assets/ projet-d-amplification-du-cadre-européen-de-référence-en-langues.pdf]. Albrecht, C. (2003): Fremdheit. In: A. Wierlacher & A. 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Hans-Jürgen Krumm 16. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Mehrkulturalität Richtet sich der Blick der Erziehungswissenschaft auf die Mehrkulturalität der deutschen Gesellschaft, stehen Fragen der Erziehung und Bildung im Kontext gesellschaftlicher Institutionen im Vordergrund. <?page no="105"?> 96 WernerWiater 1. Begrifflichkeit Gegenstand und Forschungsfeld der Erziehungswissenschaft sind die Erziehung und die Bildung des Menschen als Subjektindividuum im sozialen Kontext und mittels gesellschaftlicher Institutionen (Familie, Kindergarten, Schule, sozial-/ heilpädagogische Einrichtungen). Erziehung wird heute als eine notwendige und absichtsvolle Hilfe der Erwachsenengeneration bei der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu mündigen, d. h. selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und kritisch/ selbstkritisch reflektierenden Persönlichkeiten definiert. Als soziale Interaktion zwischen selbstständig handelnden Subjekten entzieht sich Erziehung jeder Machbarkeit. Ihr normativer Orientierungspunkt sind das Wohl des Kindes oder Jugendlichen, seine Würde und seine Grundrechte. Bildung wird seit der klassisch-idealistischen Epoche (v. Humboldt, Hegel) im deutschen Sprachgebrauch von Erziehung unterschieden. Zur Bildung kommt es, wenn sich der Mensch mit anderen Menschen und mit den geistigen, kulturellen und dinglichen Inhalten seiner Lebenswelt auseinandersetzt und dabei Kenntnisse und Einsichten erwirbt, die es ihm erlauben, das „Funktionieren“ der Welt zu verstehen, zu durchschauen und daraus Anforderungen an sein Handeln abzuleiten (vgl. Klafki 1996). Wird Bildung nicht mit der Schulbildung, der Höhe des Schulabschlusses oder dem Erwerb von Kompetenzen gleichgesetzt, wie bei manchen Bildungspolitikern, dann besteht ihr besonderer Wert heute darin, den Menschen unter den Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft mittels kritisch-distanzierender Reflexion gegenüber Abhängigkeiten, Mainstreamdenken und Fremdbestimmung resilient zu machen (Wiater 2013: 13-25, 86-109). In der Erziehungswissenschaft gilt Kultur als Humanitätsentwurf, als historisch-geografisch-gesellschaftliche Interpretation von Menschlichkeit (relational zu den jeweiligen ökonomischen, sozialen, religiösen und politischen Lebensbedingungen), als spezifische Sinnbestimmtheit des Menschen (Ruhloff 1982). Sie ist das Fundament der gemeinsamen Kulturalität von Menschen, die einer bestimmten Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft angehören (↗ Art. 1). Mit der Kulturalität ist so etwas wie eine „kollektive Programmierung des Geistes“ dieser Menschen gemeint, die durch die frühkindliche Sozialisation und durch die Sprachgemeinschaft, in die sie hineingeboren wurden, bewirkt wird (Hofstede & Hofstede 2006: 4 ff.). Sie erleben so, was als normal, selbstverständlich, typisch und verbindlich anzusehen ist, und lernen, fremdes Verhalten auf der Grundlage der erworbenen Kulturstandards (↗ Art. 33, 34) zu beurteilen (Thomas 2005: 25). 2. Problemaufriss Seit mehr als einem halben Jahrhundert entwickeln sich die europäischen Nationalstaaten mehr und mehr zu multikulturellen Gesellschaften (↗ Art. 2, 3). In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich diese Entwicklung durch Kriege, Flucht, Vertreibung, Armut und Berufsmobilität deutlich verstärkt. Daraus ergeben sich zahlreiche Probleme, die auch in erzieherischer und bildender Hinsicht relevant sind: 1. Die multikulturelle Gesellschaft führt zur Multilingualität in den Nationalstaaten. Auch bei grundsätzlicher Wertschätzung aller Immigrantensprachen kommt der Nationalstaat nicht umhin, von allen Bürgern zum Zwecke einer alle verbindenden Kommunikation die Sprache des Immigrationslandes verpflichtend abzu- <?page no="106"?> 97 16. ErziehungswissenschaftlichePerspektivenaufMehrkulturalität verlangen. Erziehungswissenschaftlich betrachtet gehen aber Bildungspotenziale der Mehrsprachigkeit verloren, wenn die Erst- oder Muttersprachen der Kinder und Jugendlichen gesellschaftlich ohne Belang sind (↗ Art. 52). 2. Die multikulturelle Gesellschaft bringt kulturell bedingte Diversifikationen bei der Sozialisation, der Lebenspraxis und den Wertvorstellungen ihrer Mitglieder mit sich. Diese Unterschiede bestehen nicht in jedem Falle konfliktfrei nebeneinander und entsprechen auch nicht immer dem demokratischen Ethos der Staaten Europas (↗ Art. 9, 11). Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht ist bei den Betroffenen eine Verhaltensentwicklung anzuregen, die in den gesellschaftlichen Einrichtungen (vor allem in den Schulen) zielorientiert betrieben werden muss. 3. Die multikulturelle Gesellschaft steht vor dem Problem des Verstehens von kulturell Fremdem und damit zusammenhängend des Miteinander-Verstehens. Pädagogisches Verstehen muss um die kulturellen Zusammenhänge wissen. Offene Dialoge und gegenseitiger Austausch der differenten Sichtweisen sind dafür unabdingbar (Wiater & Manschke 2012). 4. Die multikulturelle Gesellschaft birgt die Gefahr in sich, alles Denken, Fühlen und Verhalten von Menschen mit Migrationshintergrund ausschließlich aus der Kulturperspektive zu erklären und sie kollektiv national oder ethnisch zuzuschreiben. Die Erziehungswissenschaft stellt demgegenüber das Individuum - ganz gleich, aus welcher Herkunftskultur - in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung und bemüht sich um dessen Entwicklung zu Mündigkeit und Selbstbestimmung. 3. Forschungsstand Die Erziehungswissenschaft hat sich seit der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer für den deutschen Arbeitsmarkt in den 1960er Jahren verstärkt mit der Migrantenthematik befasst. Ihr Fokus galt zuerst der Beschulung von ausländischen Kindern und Jugendlichen, deren Muttersprache und Herkunftskultur im Gastland Deutschland mitgefördert werden sollten, damit sie bei Rückkehr ihrer Eltern in die Heimat dort keine Nachteile haben würden (Ausländerpädagogik). Als die Rückkehr ausblieb, formulierte die Erziehungswissenschaft eine Pädagogik der Vielfalt aus, die im Miteinander von Kindern und Jugendlichen verschiedener Kulturen einen Mehrwert für beide Seiten sah (↗ Art. 32). Konsequenterweise führte diese pädagogische Umorientierung zur Integrationspädagogik und zum interkulturellen Lernen, das bei Wertschätzung der fremden Sprachen und Kulturen und durch die Begegnung von Einheimischen und Zugewanderten im gemeinsamen Schulunterricht wechselseitig befruchtende Effekte erwartet. Belastbare empirische Befunde liegen dazu bisher nicht vor. Anders bei der Enkulturationsfunktion der Schule, einer Erwartung der Gesellschaft an ihre pädagogischen Institutionen (Kindergarten, Schule, pädagogische/ sonderpädagogische Einrichtungen). Hier ist der Forschungsstand besser elaboriert. Der pädagogische Begriff „Enkulturation“ (↗ Art. 4) richtet den Blick auf die „Einbindung“, auf das funktionale, aber auch das intentionale „Hereinwachsen“ der Kinder und Jugendlichen in die kulturellen Lebensformen des Raumes, in dem sie ansässig werden wollen (Weber 1999: 82 ff.). In der multikulturellen Gesellschaft umfasst die Enkulturation auch die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Enkultu- <?page no="107"?> 98 WernerWiater ration steht in enger Verbindung mit „Akkulturation“, einem terminus technicus der Soziologie und der Psychologie. Die Akkulturation richtet den Blick vorwiegend auf die Angehörigen einer Minderheitenkultur und deren Verhalten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Kopp & Schäfers: 9 ff.), das seit W. Berrys Modell (1990: 232 ff.) den Strategien Assimilation, Integration, Segregation und Marginalisierung folgen kann. Im Vordergrund stehen heute im Anschluss an Berry bidimensionale und mehrebenenanalytische Modelle, mit deren Hilfe kulturelle und psychologische Veränderungen auf Grund von Interaktionen zwischen kulturell unterschiedlichen Gruppen in unterschiedlicher Intensität feststellbar werden. Aus soziologischer Perspektive lassen sich Inklusion und Exklusion der Angehörigen einer Minderheitenkultur, d. h. deren soziale Integration (↗ Art. 38), in folgenden Formen beobachten: Kulturation durch Erwerb zusätzlicher Wissensbestände, Kompetenzen und instrumentellen Fertigkeiten der Aufnahmegesellschaft, Strukturelle Platzierung durch Bildung, Beschäftigung und Verfügen über ökonomische Ressourcen in der Aufnahmegesellschaft, Soziale Interaktion durch Bildung persönlicher Netzwerke, Heiraten und Verwandtschaftsbeziehungen in der Aufnahmegesellschaft sowie Emotionale Identifikation in der Form, dass die Werte der Aufnahmegesellschaft übernommen werden und eine Solidarisierung mit dieser geschieht (Nauck 2008: 113 f.). Der Akkulturationsforschung entnimmt die erziehungswissenschaftliche Enkulturationstheorie wichtige Impulse. Erziehung und Bildung zielen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Heranwachsenden und implizieren Versuche der Einstellungs- und Verhaltensänderung , wenn das Handeln und Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit den gesellschaftlich akzeptierten Normen, Werten und Rechtsvorschriften kollidiert. In der Erziehungswissenschaft wird jeder Versuch, durch Erziehungs- und Bildungsbemühungen Einfluss auf das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln eines Menschen zu nehmen, als Lernprozess gesehen, bei dem durch Beratung, durch Gruppentherapie, durch Konditionierungen und durch kognitive Strategien ein Prozess des Umlernens in Gang gesetzt werden soll (Mazur 2006: 101 ff.). Bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die in einem anderen Kulturraum aufgewachsen sind, muss mit angeborenen Verhaltensmustern und Habituationen gerechnet werden, die durch den Spracherwerb und die Sozialisation bedingt sind (Franceschini 2002: 54 ff.). Die Erziehungswissenschaft greift hierzu auf die neurowissenschaftlichen Studien zur vor- und nachgeburtlichen Plastizität des Gehirns zurück (Merlin 1991; Neville & Bavelier 2002). Das Ergebnis dieser Forschungen lässt sich mit den Worten Merlins wie folgt zusammenfassen: „The brains of many individuals in a particular culture are broadly programmed in a specific way, while in other cultures they may develop differently.” (1991: 13) Diese neuronale Kulturspezifizität bezieht sich nachgewiesenermaßen auf die raumzeitliche Wahrnehmung, die Vorstellungsbilder, die Weltsichten und Wertsetzungen, das (logische) Denken und die Problemlösungen, das Verstehen, die verbale und nonverbale Kommunikation (↗ Art. 33, 103), das Fühlen, die Formen sozialer Beziehung, die Bräuche und Riten, Normen und Tabus und natürlich die Sprache (Maletzke 1996: 42). Es erfolgt dadurch eine kulturelle Prägung, an deren Zustandekommen und Verfestigung die erfahrene kulturelle Sozialisation (↗ Art. 4) entscheidenden Anteil hat, die das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln des Einzelnen <?page no="108"?> 99 16. ErziehungswissenschaftlichePerspektivenaufMehrkulturalität in den Kontext eines Gemeinschaftsdenkens, -fühlens,wollens und -handelns stellt, was ihm in seiner Kultur eine soziale Identität verleiht. Allerdings geschieht die Sozialisation, d. h. der Austausch zwischen den Generationen, immer auch als Ko-Konstruktion des Individuums, das seine Persönlichkeit auf Grund der sozialen und kulturellen Lebenskontexte durchaus auch mitgestaltet, so dass die Prägung nicht bei allen Individuen immer gleich ausgebildet ist. In der Erziehungswissenschaft führen diese Forschungsergebnisse zur Forderung nach einer kulturellen Sensibilisierung pädagogischer Institutionen. Im Sinne eines sozialen oder pragmatischen Konstruktivismus, der die Erziehungswissenschaft seit zwei Jahrzehnten theoretisch fundiert, geschieht das Verändern von Einstellungen und Verhaltensweisen auch bei Kindern und Jugendlichen mit fremdkulturellen Prägungen als ein subjektiv-biographischer Lernprozess, der Elemente der selbsttätigen Bedeutungskonstruktion im neuen kulturellen Raum ebenso enthält wie solche der Rekonstruktion von Sinn, der in diesem vorherrscht, und solche der Dekonstruktion bisheriger Überzeugungen und Gewissheiten (vgl. Reich 2010). 4. Praxisrelevanz Die Enkulturation in der Schule (↗ Art. 4) soll Kindern und Jugendlichen, die im Staat ansässig sind, Inländern wie Zugewanderten, helfen, sich die kulturellen Traditionen und Gegebenheiten anzueignen und gemeinschaftlich weiterzuentwickeln, die ihnen das Einleben, Überleben und „gute“ Leben miteinander ermöglichen. Dadurch wird die Gesellschaft als Gemeinschaft stabilisiert, werden kulturelle Rückschritte mit ggf. verhängnisvollen Folgen verhindert und in dynamischen, multikulturellen Gesellschaften werden die Kulturentwicklung und die Kulturerneuerung gefördert. Die Enkulturation erfolgt über Lernprozesse im Schulunterricht und im gestalteten gemeinsamen Schulleben. Dazu veranlasst die Schule Kinder und Jugendliche - erstens - zentrale Inhalte der Traditionskultur des Landes anzueignen und zu resubjektivieren wie die Sprache, die akzeptierten Kommunikations- und Interaktionsformen, die Normen und Werte, die Moral und das geltende Recht. Diese notwendige Kulturaneignung kommt bei aller gebotenen Toleranz nicht ohne Anpassung aus (↗ Art. 37). Zweitens hält sie sie zu kulturellen Tätigkeiten an, bei deren Gestaltung sie größtmögliche Freiheit haben sollen, sich kulturbestimmt zu verhalten, ihr Selbst auszudrücken, zu präsentieren und zu verwirklichen (z. B. in Projekten, Festen, Feiern, Theater- und Musikaufführungen, Kunst-Ausstellungen, Aktionen, Bewegung, Riten und Ritualen, Spielen usw.). Schließlich macht die Schule bei der Enkulturationsfunktion Kultur auch selbst zum Lerngegenstand und behandelt mit allen Schülerinnen und Schülern kulturbedingte Unterschiede bei Mentalitäten und Handlungsweisen selbstkritisch und ideologiekritisch (vgl. beispielsweise Themen wie Gerechtigkeit und Gleichheit, Individuum und Gemeinschaft, Macht und Herrschaft, Freiheit und Zwang, System und Selbst). Gerade diese Aufklärung von kulturspezifischen Identitätsmustern führt bei allen Beteiligten zu einem distanzierenden Blick auf ihre Handlungsmuster und zu einer interkulturellen Kritikfähigkeit. Sie hat ohne Zweifel erziehende und bildende Effekte. Überhaupt gelingt die Enkulturation umso besser, je mehr man die (vermeintlich) nationalkulturelle Perspektive verlässt und stattdessen das Kind und den Jugendlichen mit fremdkultu- <?page no="109"?> 100 WernerWiater rellem Hintergrund in seiner Rolle als Schüler oder Schülerin innerhalb der Lerngruppe oder Klasse betrachtet und Erziehung ohne Kulturalisierung betreibt (Hamburger 1990; Mecheril 2004). Sprache (mündlich/ schriftlich, verbal/ nonverbal), Religion oder Weltanschauung, Weltansicht, Normen, Werte, Geschmacksurteile, Gefühle und Erlebnisformen, kultur- und zivilisationsadäquates Verhalten - all das sind Bausteine der Identität des Menschen (↗ Art. 1). Die kollektive Gebundenheit führt zu seiner sozialen Identität, in die die persönliche Identität, bestehend aus individuellen Erfahrungen, das Selbst des Menschen, eingebettet ist. Angesichts großer Zahlen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund stehen Erziehung und Bildung hier vor einer großen Herausforderung. Einerseits müssen sie der Grundsorge des Menschen nach Identität durch das ihm Vertraute, durch seine Sprache und sein kulturelles Gedächtnis Rechnung tragen, andererseits müssen sie um des gelingenden Lebens in einem anderen Kulturraum willen nationale, ethnische oder volksgruppenspezifische kulturelle Fixierungen aufbrechen. Mobilitäts- und Migrationserfahrungen müssen aufgearbeitet und es muss den Betroffenen zu einer neuen Identitätskonstruktion verholfen werden. Die Soziologie der modernen Gesellschaften hat zur Vorstellung von mehreren Bereichsidentitäten beim Menschen geführt, zur Vielfalt möglicher Identitäten in unterschiedlichen privaten und gesellschaftlichen Kontexten. In ihnen ist das ehemals homogene Eigene mit Fremdem verflochten und von Fremdem durchdrungen, es ist sozusagen eine „transkulturelle Collage“ aus Altem und Neuem, Eigenem und Fremdem nötig (Welsch 1995: 42 f.; Kostalova 2003: 242). Auf diese Weise kann in multikulturellen Gesellschaften durch Erziehung und Bildung eine neue, postnationale Identität entstehen, die transnational, multilingual und multikulturell konturiert ist (↗ Art. 41). Interkulturelle Kompetenz (↗ Art. 43, 49) bei Kindern und Jugendlichen ist ein weiteres Anliegen der Pädagogik multikultureller Gesellschaften. Mit Interkultureller Kompetenz ist die Fähigkeit gemeint, auf der Basis eines geklärten Eigenkulturbewusstseins fremde Kultur und fremde Lebensformen als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Lebensentwürfe zu akzeptieren und darüber in einen Dialog zu treten. Wer interkulturell kompetent ist, überwindet den Ethnozentrismus und bemüht sich um eine „doppelte Optik“, d. h. darum, die Wirklichkeit auch mit den Augen eines Fremden zu sehen, und ist offen dafür, dadurch zu einem neuen, vertiefteren Selbstverstehen zu gelangen. Denken in Polaritäten, Stereotypen und Klischees (↗ Art. 34) verbietet sich hier, einerseits aus dem Willen um Verständigung und andererseits aus einem Bildungsinteresse, das W. v. Humboldt mit der Formel ausgedrückt hat, der Mensch solle zum Zwecke der Menschenbildung „soviel Welt, als möglich ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich verbinden“ (v. Humboldt 1793/ 1963) (vgl. auch Essinger & Kula 1987; Wierlacher & Stötzel 1996). 5. Perspektiven Die Internetkultur der Gegenwart, bei der im Sinnkonstitutionsprozess à la Wikipedia Menschen unterschiedlicher Bildung und Kultur gemeinschaftlich ein Wissen für jeden Anlass produzieren, das global vertrieben wird und von jedem auf der ganzen Welt zu jeder Zeit abgerufen werden kann, wird in den nächsten Jahren zu einer „programmierten Kultur“ (Spengler 2018) führen, die den Einzelnen <?page no="110"?> 101 16. ErziehungswissenschaftlichePerspektivenaufMehrkulturalität vernetzt, normiert, individualisiert und zum Sinn-Konsum veranlasst (↗ Art. 47, 102). Hier stellen sich für die Erziehungswissenschaft neue Fragen, wie sie unter diesen Bedingungen an der Mündigkeit und der Kritikfähigkeit des Individuums, den Zielen von Erziehung und Bildung, festhalten kann. Literatur Berry, J. W. (1990): Psychology of Acculturation. Understanding Individuals Moving between Cultures. In: R. Bristin (Hrsg.): Applied Cross-Cultural Psychology . Newbury Park, 232-253. Essinger, H. & Kula, O. B. (1987): Pädagogik als interkultureller Prozeß . Felsberg. Franceschini, R. (2002): Das Gehirn als Kulturinskription. In: J. Müller-Lancé & C. M. Riehl (Hrsg.): Ein Kopf - viele Sprachen . Aachen, 45-62. Hamburger, F. (1990): Der Kulturkonflikt und seine pädagogische Kompensation. In: E. Dittrich & F.-O. Radtke (Hrsg.): Ethnizität. Wissenschaft und Minderheiten . Opladen, 311-325. Hofstede, G. & Hofstede, G. J. 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Dies gilt besonders für den deutschen Sprachraum, in dem sich unter dem Einfluss der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts eine eigene kulturalistische Tradition etablierte, die sich - so Hüllen (ebd.: 50 f.) - deutlich von den stärker utilitaristischen Diskursen in England oder Frankreich abhob. Während im 19. und 20. Jahrhundert hierzulande die Leitkonzepte der Kultur- und Landeskunde (↗ Art. 35) die fremdsprachendidaktischen Diskurse bestimmten (vgl. Raddatz 1996), setzten sich seit den 1990er-Jahren die Konzepte der Interkulturalität und des interkulturellen Lernens durch (↗ Art. 32). Man könnte geradezu von einem Boom einschlägiger Schriften sprechen, der nicht zuletzt dem Gießener Graduiertenkolleg „Didaktik des Fremdverstehens“ um Lothar Bredella und Herbert Christ zu verdanken ist (↗ Art. 36). Wie das Präfix „inter“ bereits erkennen lässt, sind die Zielsetzungen des interkulturellen Lernens bzw. später der interkulturellen Kompetenz von der Vorstellung einer Dichotomie bzw. einer Bipolarität geprägt. Zwischen der eigenen Sprache und der Zielsprache und über diese vermittelt zwischen der „eigenen“ und der „fremden Kultur“ Brücken zu bauen, war und ist das Anliegen einer interkulturellen Pädagogik und Didaktik. In anglophoner Forschung artikulierten sich demgegenüber schon früh Stimmen, die fremdsprachliches Lernen und Lehren in einen übergreifenden Rahmen stellten, so z. B. Michael Byram (1989) mit seinem Konzept der „tertiary socialisation“ und vor allem Claire Kramsch (1995) mit ihren Vorstellungen eines dritten Orts. Es ist zum einen der zunehmenden Globalisierung unserer Lebensverhältnisse mit den aus ihr resultierenden Vermischungen und Hybridisierungen zuzuschreiben, dass in aktueller fremdsprachendidaktischer Forschung eine auf Kulturkontrastivität angelegte Ausrichtung auch im deutschen Sprachraum als nicht mehr zeitgemäß betrachtet wird. Zum anderen manifestiert sich hier aber zugleich (und vermutlich vor allem) der Einfluss poststrukturalistischen Denkens, welches das Strukturprinzip binärer Oppositionen radikal ablehnt (↗ Art. 40, 41). 2. Begrifflichkeit ‚Pluri-‘ und ‚Multikulturalität‘ lassen sich gleichermaßen auch als ‚Viel-‘ oder ‚Mehrkulturalität‘ bezeichnen. In den Alltagswortschatz hat allerdings nur der Begriff Multikulturalität Eingang gefunden. Er bezieht sich auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer migrationsbedingten sprachlichen und ethnischkulturellen Heterogenität der Bevölkerung. Der aus französischsprachiger Forschung übernommene Begriff Plurikulturalität hingegen ist auf der individuellen Ebene einer von unterschiedlichen sozio- und ethnischkulturellen Einflüssen geprägten Persönlich- <?page no="112"?> 103 17. Pluri-undMultikulturalitätimfremdsprachendidaktischenDiskurs keitsstruktur angesiedelt. Problematisch ist in beiden Fällen jedoch der Begriffsteil „-kultur-“. Die noch von Herder stammende Vorstellung von Kulturen als nationalstaatlich abgrenzbaren und in sich geschlossenen Gebilden lässt sich angesichts gesellschaftlicher, nicht zuletzt aber auch theoretisch-konzeptueller Entwicklungen nicht mehr halten. Eine wissenschaftlich fundierte, allgemein geteilte und zugleich operable Definition dessen, was ‚Kultur‘ im Rahmen von Selbst- und Fremdzuschreibungen sprachlicher und sozialer Identität ausmachen könnte, ist derzeit indes nicht zu finden - zu unterschiedlich und diffus sind die Füllungen des Begriffs in alltagsweltlichen und in wissenschaftlichen Diskursen. Gleichwohl wird der Begriff weiterverwendet, wenngleich mit all seiner terminologischen Unschärfe. Wie nicht anders zu erwarten, ist ferner der Begriff - Daniel Coste (2012: 57) spricht sogar von einem Paradigma - der Pluralität selbst von einer Vielfalt von Bedeutungszuschreibungen und Kontextualisierungen gekennzeichnet (vgl. hierzu ebd.: 57-61). 3. Forschungsstand Aus Platzgründen kann der Forschungsstand zu den beiden im Titel genannten Leitkonzepten im Folgenden lediglich überblicksartig skizziert werden, und dies auch nur in einer weitgehenden Beschränkung auf den deutschsprachigen Raum. Einblicke in die internationale, zumeist englisch- oder französischsprachige Forschungslandschaft geben andere Handbücher bzw. Sammelbände (vgl. u. a. Benet-Martinez & Hong 2014 sowie Zarate, Levy & Kramsch 2008). In den meisten Veröffentlichungen zum vorliegenden Themenkomplex erscheint der Verweis auf die Kulturalität (↗ Art. 1) nachgeordnet als Implikation des Sprachenaspekts. Dies ist vielfach bereits an den Titeln erkennbar ist, so z. B. im Falle von „Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität“ bei Aguado & Hu (2000) sowie gleichlautend bei Christ (2015). Daher ist es nicht immer einfach, in Forschungsbeiträgen oder Anregungen für unterrichtliche Praxis gesondert den Kulturaspekt herauszustellen, zumal verschiedentlich zwar von multikulturellen Klassen (↗ Art. 110) oder plurikulturellen Kontexten die Rede ist, die betreffenden Beiträge jedoch allein auf den Sprachenaspekt abheben (so z. B. in Narcy- Combes & Narcy-Combes 2014). Selten wird zudem der Kulturbegriff selbst näher definiert oder gar kritisch hinterfragt. Zum Konzept der Multikulturalität bzw. gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit lassen sich im Wesentlichen zwei unterschiedliche Fokussierungen erkennen: In der ersten erscheint kulturelle Diversität vorrangig als Rahmenbedingung fremdsprachlichen Lernens, in der zweiten primär als dessen Ziel. In beiden Fällen rücken gesellschafts-, sprachenund/ oder bildungspolitische Fragestellungen in den Blick, zu denen durchgängig eine Haltung der Wertschätzung von Vielfalt vertreten wird. Im erstgenannten Fall steht die migrationsbedingte sprachlich-kulturelle Heterogenität des fremdsprachlichen Klassenzimmers (u. a. auch mit ihren Implikationen für den Herkunftssprachenunterricht) (↗ Art. 100, 106), im zweiten die Öffnung gegenüber kultureller und sprachlicher Vielfalt im grenzüberschreitenden globalen bzw. europäischen Maßstab im Vordergrund (vgl. u. a. Pfeiffer 2015). Letzteres ist zudem ein zentrales bildungs- und sprachenpolitisches Ziel, das der Europarat (2001) im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) und in dessen aktualisierter Erweiterung („Companion volume“, Council of Europe 2018) vertritt (↗ Art. 18, 19). <?page no="113"?> 104 LutzKüster Eine besondere Bedeutung erhält aktuell der oben angesprochene attitudinale Aspekt im Kontext der pädagogischen und didaktischen Diskurse zur inklusiven Schule. Gegen eine Verengung des Begriffs Inklusion auf die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne sonderpädagogischem/ n Förderungsbedarf wird in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit verwiesen, gerade auch die sprachliche und ethnisch-kulturelle Heterogenität der Schülerschaft in der pädagogischen und didaktisch-methodischen Gestaltung von Unterricht (↗ Art. 110) zu berücksichtigen (vgl. u. a. Dreyer 2013). Wie eingangs angeführt, stellt Plurikulturalität gewissermaßen die personale Seite der Multikulturalität dar. Herbert Christ (2015: 116) betont zu Recht, dass sowohl Mehrkulturalität als auch Mehrsprachigkeit soziale Praxen sind und sich in Interaktion mit anderen entwickeln. Deswegen nehme eine Didaktik der Mehrkulturalität (wie ebenfalls der Mehrsprachigkeit) ihren Ausgangspunkt stets bei den Lernenden, wohingegen die Zielvorstellungen sozialer Natur seien (vgl. ebd.: 117). Plurilingualität und Plurikulturalität verweisen somit wechselweise aufeinander. Vor diesem Hintergrund und in Weiterführung des GeR verfolgt der „Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen“ (RePA) (Candelier et al. 2009) die Absicht, Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität als Ausbildungsziele integrativ zu verankern (↗ Art. 20). Die Autorinnen und Autoren verwenden verschiedentlich den Begriff einer „plurikulturellen Kompetenz“, ohne diesen allerdings genau zu definieren. Etwas vage heißt es, es handele sich um „eine einzige integrative mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenz“, die „letztlich auf die Sprachen und (inter)kulturellen Erfahrungen zurück[gehe], die einem Menschen zur Verfügung stehen“ (ebd.: 7). Problematisch erscheint dabei, dass die Verfasser - wie auf S. 45 deutlich wird - eine Gleichsetzung von Sprache und Kultur vornehmen und somit implizit ein homogenisierendes Kulturverständnis vertreten. Zum engeren Feld der Multi- und Plurikulturalität ist nur wenig empirische Forschung zu verzeichnen. Zumeist steht in fremdsprachendidaktischer Perspektive - verständlicherweise - die Sprache im Mittelpunkt (Art. 1). Zu erwähnen ist gleichwohl die Studie von Blell, Dannecker & Ruhm (2010) zum multimedialen und multikulturellen Erzählen im Fremdsprachenunterricht, eine qualitative Untersuchung zu real-life-narratives von Lernenden unterschiedlicher kultureller Herkunft. Die in diesem Projekt gewählte Fokussierung auf eine Pluralität medialer, sprachlicher und kultureller Zugänge entspricht zudem weitestgehend den Leitgedanken der Multiliteralität, in denen stets die Kulturgebundenheit mehrsprachiger und multimedialer Kommunikation eine vorrangige Beachtung finden (vgl. Küster 2014: 4 f.). Ein der Plurikulturalität wie der Multiliteralität benachbartes Konzept ist ferner das Globale Lernen (↗ Art. 37). Obwohl stärker an Themen als am Spracherwerb orientiert, bietet es insofern Anknüpfungspunkte an die vorgenannten, als es darauf gerichtet ist, die Fixierung auf enge Sprach- und Kulturräume zu überwinden und die globale Vernetzung unserer Lebenszusammenhänge ins Bewusstsein zu heben (vgl. z. B. Hammer 2012). Schließlich sei auf die Bedeutung der Studien zur Konstruktion sprachlicher Identitäten verwiesen (vgl. hierzu Burwitz-Melzer, Königs & Riemer 2013 sowie Abendroth-Timmer & Hennig 2014) (↗ Art. 8). In ihnen laufen die gesellschaftlichen Aspekte der Multikulturalität und die individuellen Aspekte der Plurikulturalität zusammen. Denn in sprachlichen Biographien, die in Arbeiten der Identi- <?page no="114"?> 105 17. Pluri-undMultikulturalitätimfremdsprachendidaktischenDiskurs tätsforschung rekonstruiert werden, kommen zumeist nicht nur die individuellen Sprachlernerfahrungen zum Ausdruck, oft werden vielmehr zugleich auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen reflektiert, in denen sich fremdsprachliche Sprecher zu behaupten haben. Vor allem in Migrationskontexten verlaufen sprachlich-kulturelle Identitätskonstruktionen daher häufig konfliktiv, nicht von ungefähr bezeichnet Bonny Norton (2000: 127 f.) in einem vielzitierten Diktum Identität als „complex site of struggle“. 4. Praxisrelevanz Fremdsprachenunterricht kann einen Beitrag dazu leisten, dass Multi- und Plurikulturalität als Reichtum begriffen werden. In einschlägigen Zeitschriften sind viele Praxisbeispiele und Unterrichtsideen zu finden, die in unterschiedlichen Akzentuierungen die kognitive, die kognitiv-affektive bzw. attitudinale und die konative Dimension betreffen (↗ Art. 44, 45). Als Beispiele seien Unterrichtskonzepte genannt, in denen Lernende Einblicke in die multikulturelle Gesellschaftsstruktur eines Zielsprachenlandes gewinnen und diese reflektieren sollen (vgl. u. a. Dreßler & Schmidt 2011; Overmann 2017). Der Handlungsaspekt wiederum kommt besonders in dramapädagogischen Ansätzen zur Geltung (vgl. u. a. Davenport 2006). 5. Perspektiven Die hehren Ziele einer Überwindung nationalstaatlicher Horizontverengungen und einer Öffnung hin auf ethnisch-, sozio- und sprachlich-kulturelle Vielfalt stoßen in den politischen Diskursen Europas und Nordamerikas derzeit zunehmend auf Widerstände. Mit Normvorstellungen kultureller Homogenität vertreten erstarkte nationalistische Bewegungen Haltungen, die wenig mit jenen gemein haben, die im Geiste einer europäischen Einigungsbestrebung und weitergehend einer globalen Verständigung proklamiert wurden und werden. Dies hat wesentlich mit der Tatsache zu tun, dass der wachsenden Zahl von Migranten ebenso wie ihren Sprachen ein geringer sozialer Status zugeschrieben wird. Auffälligerweise geht die Idealisierung einer als „eigen“ bezeichneten Orientierungseinheit (Region, Staat, Staatengemeinschaft) durchaus mit einer positiven Bewertung des Englischen als lingua franca einher (↗ Art. 13, 97, 98). Da diese als quasi „entkulturalisiert“ erscheint, stellt sie aus Sicht sog. identitärer Bewegungen offenbar keine Bedrohung dar. Aufgabe und Chance einer auf Multi- und Plurikulturalität ausgerichteten Fremdsprachendidaktik kann daher nur sein, diesen Kräften offensiv entgegenzutreten und einer auf Bedeutungsaushandlung beruhenden Sprach- und Kulturvernetzung den Weg zu ebnen. Literatur Abendroth-Timmer, D. & Hennig, E.-M. (2014): Plurilingualism and Multiliteracies. International Research on Identity Construction in Language Education. Frankfurt a. M. Aguado, K. & Hu, A. (Hrsg.) (2000): Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität . Berlin. Benet-Martinez, V. & Hong, Y. (Hrsg.) (2014): The Oxford Handbook of Multicultural Identity. Oxford. Blell, G., Dannecker, W. & Ruhm, H. (2010): My music, my story, my world: Multimediales und multikulturelles Erzählen im (Fremd-) Sprachenunterricht. In: G. Blell & R. Kupetz, (Hrsg.): Der Einsatz von Musik und die Ent- <?page no="115"?> 106 LutzKüster wicklung von Audio Literacy im Fremdsprachenunterricht. Frankfurt a. M., 203-222. Burwitz-Melzer, E., Königs, F. G. & Riemer, C. (Hrsg.) (2013): Identität und Fremdsprachenlernen. Anmerkungen zu einer komplexen Beziehung. Tübingen. Byram, M. (1989) Cultural Studies in Foreign Language Education. Clevedon. Candelier, M., Camilleri Grima, A., Castellotti, V. et al. (2009): RePA. Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen. Graz. Christ, H. (2015): Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität - eine Perspektive für europäische Bürgerinnen und Bürger. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 44/ 2, 117-129. Coste, D. (2012): Pluralité, évaluation, altérité: trois paradigmes en tension. In: C. Fäcke, H. Martinez & F.-J. Meißner (Hrsg.): Mehrsprachigkeit. Bildung - Kommunikation - Standards. Stuttgart, Leipzig, 57-73. Council of Europe (Hrsg.) (2018): Companion Volume with New Descriptors-/ Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs. [www.coe.int/ lang-cefr]. Davenport, P. (2006): Approaching Multiculturalism Playfully. In: Englisch betrifft uns 4, 12-16. Dreßler, C. & Schmidt, T. (2011): Multiculturalism in Canada: Das Thema im Unterricht. In: Praxis Englisch 5/ 6, 40-43. Dreyer, E. (2013): Alike and different: Inklusive Unterrichtsprojekte als Antwort auf die Vielfalt aller Kinder. In: Praxis Englisch 7, 9-12. Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen. Lernen, lehren, beurteilen . Berlin, München. Hammer, J. (2012): Die Auswirkungen der Globalisierung auf den modernen Fremdsprachenunterricht: Globale Herausforderungen als Lernziele und Inhalte des fortgeschrittenen Englischunterrichts. Are We Facing the Future? Heidelberg. Hüllen, W. (1997): Interkultur als alter und neuer Inhalt des Fremdsprachenunterrichts. In: M. Wendt & W. Zydatiß (Hrsg.): Fremdsprachliches Handeln im Spannungsfeld von Prozeß und Inhalt. Bochum. Kramsch, C. (1995): Andere Worte - andere Werte: Zum Verhältnis von Sprache und Kultur. In: L. Bredella (Hrsg.): Verstehen und Verständigung durch Sprachenlernen? Bochum, 51-66. Küster, L. (Koord.) (2014) Themenschwerpunkt Multiliteralität. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 43/ 2, 3-106. Narcy-Combes, J.-P. & Narcy-Combes, M.-F. (2014): Formations hybrides en milieu pluriculturel: comment concilier théories, pratiques et contraintes. In: Abendroth-Timmer & Hennig (Hrsg.), 211-226. Norton, Bonny (2000): Identity and Language Learning. Gender, Ethnicity and Educational Change . Harlow. Overmann, M. (2017): La France ‚après Charlie’: Pour un enseignement de la laïcité et des faits religieux dans une société multiculturelle. In: Französisch heute 48/ 1, 24-30. Pfeiffer, W. (2015): Multilingualität und Multikulturalität als Säulen einer modernen Fremdsprachenpädagogik. In: K. Ehlich & M. Foschi Albert (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache als transkultureller Erfahrungsraum: Zur Konzeptentwicklung eines Faches. Münster, 11-29. Raddatz, V. (1996): Fremdsprachenunterricht zwischen Landeskunde und Interkulturalität. In: Fremdsprachenunterricht 40/ 49/ 4, 242-252. Zarate, G., Levy, D. & Kramsch, C. (Hrsg.) (2008): Précis du plurilinguisme et du pluriculturalisme . Paris. Lutz Küster <?page no="116"?> 18. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (2001) und der Begleitband (Companion) (2018) 1. Begriff und Geschichte Der Common European Framework of Reference for Languages: Teaching, Learning, Assessment (CEFR)-/ Cadre européen commun de référence pour les langues-: apprendre, enseigner, évaluer (CECR) wurde 2001 vom Europarat auf Englisch und Französisch vorgelegt und im gleichen Jahr vom Goethe-Institut und der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK), der Schweizerischen Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) und dem Österreichischen Sprachdiplom (ÖSD, BM: BWK = Österreichisches Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur) in einer deutschen Fassung unter dem Titel Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lehren, lernen, beurteilen (GeR) veröffentlicht. Im Jahr 2018 ergänzte der Europarat ihn durch einen Begleitband mit neuen Deskriptoren- / Companion Volume With New Descriptors- / Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs . Für die Erstellung von Curricula, Lehrwerken und internationalen Testsystemen ist der GeR heute weltweit ein unverzichtbares Handwerkzeug, ebenso für Institutionen und Administrationen, die Sprachenangebote planen. 2. Ziele 2.1. Förderung von Mehrsprachigkeit Schon seit den 1960er Jahren verfolgt der Europarat eine Politik, die auf die Förderung der weniger häufig gesprochenen europäischen Sprachen abzielt (↗ Art. 9, 12). Dabei wurde mit dem GeR vor allem ein Konzept populär gemacht, das zwischen Mehr- und Vielsprachigkeit trennt: „[individuelle] Mehrsprachigkeit unterscheidet sich von [gesellschaftlicher] Vielsprachigkeit , [und] betont die Tatsache, dass sich die Spracherfahrung eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert. […] Diese Sprachen und Kulturen […] bilden […] gemeinsam eine kommunika- D Kompetenzprofile für Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität <?page no="117"?> 108 JürgenQuetz tive Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren“ (Europarat 2001: 17). Sprachenpolitisch will man dabei sowohl den europäischen Minderheiten- und Nachbarsprachen als auch den Herkunftssprachen von Migranten gerecht werden. 2.2. Referenzniveaus Diejenige Komponente des GeR, die im sprachdidaktischen Handlungsfeld die nachhaltigste Wirkung zeigt, sind die Referenzniveaustufen A1 bis C2. Die Skalen mit KANN-Beschreibungen wurden in einem Schweizer Projekt (vgl. Schneider & North 2000; North 2000) entwickelt. Ein wichtiger Bezugspunkt waren dabei die Vorarbeiten zum Konzept von „Referenzniveaus“ der ALTE (= Association of Language Testers in Europe , www.alte.org), auf das die Prüfungen aller ihrer Mitgliedsinstitutionen „geeicht“ wurden, um eine Vergleichbarkeit konkurrierender und komplementärer Testangebote in Europa zu sichern. Die CAN DO-statements der ALTE sind wiederum durch die jahrelange akribische statistische Auswertung von Prüfungen in aller Welt und in vielen Sprachen erprobt und validiert. Die Buchstaben A, B und C stehen im GeR für die Stufen beginners (Grundstufe, elementare Sprachverwendung), intermediate (Mittelstufe, selbstständige Sprachverwendung) und advanced (Oberstufe, kompetente Sprachverwendung). Diese drei Stufen sind noch einmal unterteilt, sodass sich das folgende System ergibt: Wie die Beschreibung solcher Stufen im Detail aussieht, zeigt die Globalskala, von der alle anderen Skalen abgeleitet sind (hier in stark gekürzter Form wiedergegeben): A Elementare Sprachverwendung B Selbständige Sprachverwendung / \ / A 1 A 2 B 1 A Elementare Sprachverwendung B Selbständige Sprachverwendung C Kompetente Sprachverwendung / \ / \ / A 1 A 2 B 1 B 2 C 1 A Elementare rachverwendung B Selbständige Sprachverwendung C Kompetente Sprachverwendung \ / \ / \ A 2 B 1 B 2 C 1 C 2 <?page no="118"?> 109 18. Der GeR (2001)undder Begleitband (Companion) (2018) Kompetente Sprachverwendung C2 Kannpraktischalles,waser-/ sieliestoderhört,mühelosverstehen. Kannsichspontan,sehrflüssigundgenauausdrückenundauchbeikomplexeren SachverhaltenfeinereBedeutungsnuancendeutlichmachen. C1 KanneinbreitesSpektrumanspruchsvoller,längererTexteverstehenundauch impliziteBedeutungenerfassen. Kannsichklar,strukturiertundausführlichzukomplexenSachverhaltenäußern. Selbstständige Sprachverwendung B2 Kannsichsospontanundfließendverständigen,dasseinnormalesGesprächmit MuttersprachlernohnegrössereAnstrengungaufbeidenSeitengutmöglichist. B1 KanndieHauptpunkteverstehen,wennklareStandardspracheverwendetwird undwennesumvertrauteDingeausArbeit,Schule,Freizeitusw.geht. KanndiemeistenSituationenbewältigen,denenmanaufReisenimSprachgebiet begegnet. Elementare Sprachverwendung A2 KannSätzeundhäufiggebrauchteAusdrückeverstehen,diemitBereichenvon ganzunmittelbarerBedeutungzusammenhängen(z.B.InformationenzurPerson undzurFamilie,Einkaufen,Arbeit,nähereUmgebung). Kannsichineinfachen,routinemäßigenSituationenverständigen,indenenesum eineneinfachenunddirektenAustauschvonInformationenübervertrauteund geläufigeDingegeht. A1 Kannvertraute,alltäglicheAusdrückeundganzeinfacheSätzeverstehenundverwenden,dieaufdieBefriedigungkonkreterBedürfnissezielen. KannsichaufeinfacheArtverständigen,wenndieGesprächspartnerinnenoder Gesprächspartnerlangsamunddeutlichsprechenundbereitsindzuhelfen. GemeinsameKompetenzniveaustufen: Globalskala(Europarat2001: 35) Der Begleitband zum GeR von 2018 (↗ Art. 19) enthält zusätzlich die Stufe „vor A1“ („pre-A1“), die nicht nur die Beschreibung einer Basiskompetenz beim Erwerb einer Fremdsprache darstellen soll, sondern auch ein Profil für junge Lernerinnen und Lerner (z. B. in der Grundschule) ist. Weitere Skalen zu den sprachlichen Mitteln, die bei der Sprachverwendung eingesetzt werden (Wortschatz, Grammatik usw.), zu pragmatischen Kompetenzen wie Flexibilität, Sprecherwechsel, Themenentwicklung und Kohärenz sowie zu funktionalen Kompetenzen wie Flüssigkeit und Genauigkeit runden die Möglichkeiten zur Beschreibung differenzierter Kompetenzen ab. Im Begleitband werden diese Skalen zum einen ausführlicher dargestellt und zum anderen durch neue Skalen zur Mediation, Online-Kommunikation und solche zu plurilingualen und plurikulturellen Kompetenzen ergänzt (↗ Art. 43). 3. Forschungsstand Über die komplexen Forschungsmethoden bei der Entwicklung des GeR und des Begleitbandes geben diese Dokumente selbst ausführliche Auskunft (Europarat 2001: Anhang A; Council of Europe 2018: Anhang 5). Die Skalen und Deskriptoren sind zwar sehr sorgfältig entwickelt, validiert und kalibriert worden, aber über Empirie in Bezug auf Lernerperformanzen ist nur wenig bekannt. Das heißt, dass man nicht genau sagen kann, ob durch diese Deskriptoren wirklich beschrieben wird, was Lernende im Alltag verstehen und sagen können . Darüber geben bestenfalls die standardisierten Tests der großen internationalen Testanbieter Auskunft, deren Bezüge zum GeR aber eher genereller Art sind (vgl. Quetz & Vogt 2009). <?page no="119"?> 110 JürgenQuetz 4. Praxisrelevanz Der GeR ist kein Curriculum; er ist geschaffen, um Curricula, Lehrwerke, Tests u. v. a. miteinander zu vergleichen. Folglich heißt es im GeR immer wieder: „Die Benutzer des Referenzrahmens sollten bedenken und, soweit sinnvoll, angeben, […] “. Der GeR ist also nur eine Art Messlatte, mit der man Niveaus bestimmen und miteinander vergleichen kann. Er ist außerdem ein Versuch, die relevante Fachterminologie der Fremdsprachendidaktik, der Angewandten Linguistik und der Sprachlehrforschung in systematischen Zusammenhängen darzustellen, um solche Vergleiche in der Praxis zu erleichtern. Das System der Referenzniveaus hat mittlerweile eine erhebliche Dynamik entfaltet. Alle in der ALTE zusammengeschlossenen großen Testanbieter in Europa haben inzwischen ihre Tests mit Hilfe des GeR kalibriert. Am konsequentesten aber nutzt das Europäische Sprachenportfolio (vgl. Burwitz-Melzer 2016) die Möglichkeiten des GeR, vor allem in Hinblick auf eine Didaktik der Mehrsprachigkeit / Mehrkulturalität (↗ Art. 23). Es besteht aus drei Teilen: 1. dem Sprachenpass, in dem alle formellen Qualifikationen bescheinigt sind; 2. der Sprachlernbiographie, verbunden mit einer Selbsteinschätzung mithilfe der Skalen des GeR, die alle Sprachen umfassen kann, die man in Bildungseinrichtungen oder auf andere Weise erworben hat, z. B. durch Migration oder Auslandsaufenthalte; 3. dem Dossier, in dem man Arbeitsproben sammeln kann, die die Selbst- und Fremdbeurteilung veranschaulichen. Die neuen Skalen für Mediation und Plurilingualität / Plurikulturalität im Begleitband sind noch nicht in der Praxis angekommen (↗ Art. 19). Wie stark der GeR in die Praxis des Fremdsprachenunterrichts in alle Bereiche des Bildungswesens in aller Welt hineinwirkt, zeigt sich an Bildungsstandards, Abschlussprüfungen und Lehrmaterialien für Schulen, aber auch für die Erwachsenenbildung (↗ Art. 21, 50). 5. Weitere Entwicklung Der Begleitband zum GeR enthält eine Reihe von Neuerungen, die den Grundgedanken, nämlich die Förderung von Mehrsprachigkeit (Plurilingualtät) und Plurikulturalität, betreffen. So wird dem neu konzipierten Begriff von „Mediation“ (im GeR 2001 noch „Sprachmittlung“) eine Vielzahl von Funktionen zugeordnet (↗ Art. 6), die teils kognitiv zugeschnitten sind (wie z. B. „Spezifische Informationen mündlich / schriftlich weitergeben“), teils aber auch auf einer Beziehungsebene angesiedelt sind („Einen plurikulturellen Raum schaffen“, „Kommunikation in heiklen Situationen und bei Meinungsverschiedenheiten erleichtern“ u. a.). Während herkömmlich eher auf eine angemessene Wiedergabe des Inhalts oder des Sinns einer Äußerung abgezielt wurde, bei der Sprachmittelnde sich mit eigenen Meinungen zurückhalten mussten, kommen jetzt andere Dimensionen hinzu: zum einen eine interkulturelle und zum anderen sogar eine sozialpsychologische. Mit der Forderung, dass bei Mediationsprozessen gleichsam ein „dritter Ort“ geschaffen wird ( creating pluricultural space ), rückt diese Kompetenz in die Nähe der interkulturellen kommunikativen Kompetenz (↗ Art. 43). Der Begriff des „dritten Orts“ als Begegnungsraum gewinnt im Zusammenhang mit der Mediation an Gewicht: sprach- <?page no="120"?> 111 lich und kulturell verschiedene Gesprächspartner können dort ihr Anderssein verstehen und thematisieren, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen und bei ihrer Kommunikation zu berücksichtigen. Das ist etwas ganz anderes als traditionelles Dolmetschen und Übersetzen, weil es bei dieser Art von Mediation auch darum geht, Vertrauen zu erwecken, um ein tieferes Verstehen zwischen den Partnern zu schaffen und ihnen dabei zu helfen, Schwierigkeiten zu umgehen, die aus unterschiedlichen kulturellen Blickwinkeln entstehen könnten. Diese theoretische Erweiterung des Bereichs ist bemerkenswert und richtungsweisend. Da der Begleitband 15 Jahre nach dem GeR erschienen ist, stellt er auch den aktuellsten Stand der perspektivischen Dimension dar. 6. Offene Fragen Die fast schon inflationäre Nutzung der Skalen vor allem zu kommerziellen Zwecken ist oft kritisiert worden. Die Konsistenz der Skalen ist seit der Veröffentlichung 2001 immer wieder infrage gestellt worden (Alderson et al. 2004; Bausch et al. 2002). Auch im Begleitband finden sich wieder viele Deskriptoren, die Zweifel an der theoretischen Fundierung gerade auch im Bereich Plurikulturalität / Plurilingualität bzw. Mediation aufkommen lassen. Welcher Niveaustufe z. B. der Deskriptor „Kann im Allgemeinen gemäß den Konventionen der Körperhaltung, des Blickkontakts und des Abstands zu anderen handeln“ zuzuordnen ist, kann kaum mit wissenschaftlichen Kriterien beantwortet werden (Skala „Auf einem plurikulturellem Repertoire aufbauen“, B1). Nach wie vor ist die oft erratische Beschaffenheit der Deskriptoren ein Problem bei der Gestaltung von Tests und Prüfungen (↗ Art. 48, 49), wobei sich auch die Frage stellt, ob man Kompetenzen in den neuen Skalen überhaupt beurteilen und bewerten kann und sollte (Vogt 2017). Literatur Alderson, J. C., Figueras, N., Kuijper, H. et al. (2004): The Development of Specifications for Item Development and Classification within the Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment. Reading and listening. Final Report of the Dutch Construct Project . [http: / / eprints. lancs.ac.uk/ 44/ 1/ final_report.pdf]. Bausch, K.-R., Christ, H., Königs, F. G. & Krumm, H.-J. (Hrsg.) (2002): Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen . Arbeitspapiere der 22. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen. Burwitz-Melzer, E. (2016): Sprachenportfolios. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Aufl. Tübingen, 416-420. Council of Europe (Hrsg.) (2001): A Common European Framework of Reference: Learning, Teaching, Assessment . Strasbourg. Council of Europe (Hrsg.) (2018): Companion Volume with New Descriptors / Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs. [www. coe.int/ lang-cefr]. Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen . München, Berlin. [www. goethe.de/ referenzrahmen]. North, B. (2000): The Development of a Common Reference Scale of Language Proficiency . New York. Quetz, J. & Vogt, K. (2009): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache: Sprachenpolitik auf unsicherer Basis. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 20/ 1, 63-89. 18. Der GeR (2001)undder Begleitband (Companion) (2018) <?page no="121"?> 112 JürgenQuetz Schneider, G. & North, B. (2000): Fremdsprachen können - was heisst das ? Skalen zur Beschreibung, Beurteilung und Selbsteinschätzung der fremdsprachlichen Kommunikationsfähigkeit . Zürich. Vogt, K. (2016): Zur Beurteilung interkultureller Kompetenz im Fremdsprachenunterricht oder: Testing the Untestable? In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 27/ 1, 77-98. Jürgen Quetz 19. Plurilinguale und plurikulturelle Kompetenz im CEFR Companion Volume (2018) 1. Begrifflichkeit Um den Wandel der Begriffe Plurikulturalität und Plurilingualität vom Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR, Europarat 2001) (↗ Art. 18) zum CEFR Companion Volume with New Descriptors (Council of Europe 2018) zu verstehen, ist ein kurzer Blick in das erste Dokument wichtig, denn beide Konzepte sind bereits im GeR angelegt. Plurilingualität wird im GeR deutlich von Vielsprachigkeit (Multilingualität) unterschieden, u. a. um europäischen Minderheiten-, Nachbar- und den Herkunftssprachen Rechnung zu tragen (Europarat 2001: 17). Im CEFR Companion Volume with New Descriptors spielt der Begriff der Vielsprachigkeit keine Rolle mehr. Stattdessen wird Plurilingualität in Verbindung mit pragmalinguistischen Kompetenzen genauer ausgearbeitet. Plurikulturalität ist im GeR nicht ausdifferenziert. Sie wird kaum von der interkulturellen Kompetenz (↗ Art. 43) unterschieden, was in vielen bildungspolitischen Dokumenten in Deutschland und anderen Ländern eine große Rolle spielt. Auch Plurikulturalität basiert vor allem auf interkultureller kommunikativer Kompetenz (vgl. Byram 1997; Burwitz-Melzer 2003: 66-72). Im CEFR Companion Volume nehmen plurilinguale und plurikulturelle Kompetenz eine insgesamt wichtigere Rolle ein. Sie sind nun zentrale Konzepte, stärker ausdifferenziert als im GeR (Europarat 2001) und zum ersten Mal durch insgesamt sechs Skalen operationalisiert: The focus in that project was to update the CEFR illustrative descriptors by: highlighting certain innovative areas of the CEFR for which no descriptor scales had been provided in the 2001 set of descriptors, but which have become increasingly relevant over the past twenty years, especially mediation and plurilingual/ pluricultural competence; … (Council of Europe 2018: 23). Es werden zwei wichtige Gründe für die Ausdifferenzierung der beiden Konzepte genannt: Dies sei erstens ein neues, dynamisches Verständnis der sprachlich Handelnden in ihren Kommunikations- und Lernprozessen (vgl. ebd.: 26). Zweitens liege ein weiterer Grund im innovativen Charakter der beiden Konzepte: Seit Erscheinen des GeR 2001 seien diese durch psychologische und neurologische Forschung ausdifferenziert und untermauert worden (ebd.: 28), so dass erst heute der Zugewinn an Plurikulturalität und Plurilingualität durch das Erlernen zusätzlicher Sprachen für junge und ältere Fremdsprachenlerner tatsächlich nachgewiesen werden könne. Tatsächlich erhalten die plurilinguale und die plurikulturelle Kompetenz sogar ein eigenes Kapitel. Beide Kompetenzen werden oft - außer in den Skalen - in einem Atemzug genannt, doch wird <?page no="122"?> 113 19. PlurilingualeundplurikulturelleKompetenzim CEFR Companion Volume (2018) die plurikulturelle Kompetenz als die stärkere bezeichnet (ebd.: 28). 2. Makrostruktur der Skalen zu Plurikulturalität und Plurilingualität Insgesamt bietet das CEFR Companion Volume sechs Skalen zu den beiden Kompetenzen Plurilingualität und Plurikulturalität an, wobei drei dieser Skalen im Kapitel Mediation im Unterkapitel Mediating Communication stehen, während drei weitere ein unabhängiges eigenes Kapitel am Ende des Dokuments ausmachen (↗ Art. 6). Das Unterkapitel Mediating Communication umfasst die drei Skalen • Facilitating pluricultural space • Acting as intermediary in informal situations (with friends and colleagues) • Facilitating communication in delicate situations and disagreement (Council of Europe 2018: 122-125). Das innerhalb der kommunikativen Kompetenzen unter Pragmatik ausgeführte Kapitel Plurilingual and Pluricultural Competence umfasst die Skalen • Building on pluricultural repertoire • Plurilingual comprehension • Building on plurilingual repertoire (ebd.: 157-161). Die Kapitel Facilitating pluricultural space und Building on pluricultural space werden jeweils unterschiedlich als erste Skala aufgeführt und gehören inhaltlich eng zusammen. Die nur schwer nachvollziehbare Begründung für diese Trennung lautet, dass die erste Skala eine aktivere Rolle des Sprechers als kulturellem Mediator behandele (ebd.: 158). Tatsächlich aber kann dieser Grund weder Curriculumsplaner und Lehrwerkersteller noch Wissenschaftler überzeugen: Indem die plurikulturelle Basisskala in das Kapitel der mündlichen Sprachmittlung integriert wird, suggerieren die Autoren, dass besonders bei dieser fremdsprachlichen Interaktion ein plurikultureller Raum geschaffen werden müsste. Tatsächlich muss aber auch bei schriftlicher Mediation ein plurikultureller Raum genau und differenziert beachtet werden - ebenso wie bei allen anderen kommunikativen Handlungen, betreffen sie nun das Hörverstehen, das Schreiben oder das Lesen. Die Nutzenden einer Fremdsprache kommen bei keiner der kommunikativen Kompetenzen umhin, sich im plurikulturellen Raum zu orientieren, ihn zu beachten, Perspektiven zu wechseln und rücksichtsvoll zu agieren bzw. detailliert und auf interkulturellem Hintergrund Botschaften von anderen kulturellen Gemeinschaften zu denotieren. Die Platzierung der zwei Skalen zur plurikulturellen Kompetenz zeigt also bereits eine konzeptionelle Schieflage des Konstrukts Plurikulturalität, das nicht in allen kommunikativen Kompetenzen gleichermaßen verortet, sondern auseinandergerissen und nur an zwei verschiedenen Orten der Kompetenzskalen angesiedelt wird. Die im Pragmatik-Kapitel eingestellten drei Skalen wirken durch die Trennung der beiden Plurikulturalitätsskalen ebenfalls inkonsistent. Neben der zweiten Skala finden sich zwei aufeinander aufbauende Skalen zur Plurilingualität, Plurilingual comprehension und Building on plurilingual repertoire . Es drängt sich der Eindruck auf, dass durch die große Bedeutung, die der CEFR Companion der Sprachmittlung zuerkennt, die Systematik in anderen Bereichen, vor allem aber in der Darstellung des zentralen Bereichs der Plurikulturalität, gelitten hat. <?page no="123"?> 114 EvaBurwitz-Melzer 3. Mikrostruktur der Skalen Ein genauerer Blick auf die sechs Skalen und ihre Inhalte soll diesen kurzen Einblick in die Konzepte zur Plurikulturalität und Plurilingualität im CEFR Companion vervollständigen . Die Skala Facilitating pluricultural space befasst sich mit drei Schlüsselkonzepten: mit vorwiegend mündlichen sprachmittelnden Äußerungen, die ein Verständnis für kulturelle Normen und kulturell geprägte Perspektiven befördern sollen, mit Einstellungen wie Verständnis und Respekt gegenüber unterschiedlichen kulturellen und soziolinguistischen Normen und mit Missverständnissen, die aufgrund soziokultureller und soziolinguistischer Normen entstehen. Ausgehend von den mittleren Niveaustufen B1 und B2 wird die Skala nach oben bzw. unten erweitert. Dabei wird auf der Stufe C2 von einer effektiven und natürlichen Vermittlung zwischen den verschiedenen Diskursgemeinschaften gesprochen, die auch eine Leitungsfunktion bei der Sprachmittlung umfassen kann; während auf dem Niveau A1 lediglich rudimentäre Äußerungen wie ein einfaches „Willkommen“ oder auch nonverbale Signale vom Sprachennutzenden erwartet werden. Geht man davon aus, dass den Konzepten der Plurikulturalität nach Byram (1997) oder dem RePA (Candelier et al. 2009) (↗ Art. 20) die kompetenzbildenden Ressourcen aus kulturellem und interkulturellem Wissen ( knowledge ) in Kombination mit jenen der Wissensdomänen Einstellungen ( attitudes, Volitionalität ) und kommunikativer Handlungsfähigkeit ( skills ) zugrunde liegen (vgl. Council of Europe 2018: 158), auf die der Begleittext zu den Skalen auch explizit Bezug nimmt, so lässt sich im Wortlaut der Deskriptoren zwar eine deutlich auszumachende Steigerung der linguistischen und soziolinguistischen Kompetenz und der damit verbundenen kommunikativen Handlungsfähigkeit ausmachen, Einstellungen jedoch erscheinen nur in einer spärlichen Modellierung (z. B. Niveaustufe B1+) und auf Aspekte des kulturellen bzw. sozio- und interkulturellen Wissens wird insgesamt explizit nur einmal verwiesen (Niveau B2+). Gerade diese Wissensressourcen sind aber entscheidend für plurikulturelles Handeln, denn nur wer Gemeinsamkeiten und Unterschiede in interkulturellen Begegnungen aufgrund seines plurikulturellen Wissens auszuloten weiß, kann auch die nötigen Strategien zur Schaffung eines wirksamen plurikulturellen Raums und zur Vermeidung von Missverständnissen (↗ Art. 33, 104) entwickeln. Curricula und Leistungsmessungen sind auf dieser allzu vagen und nicht befriedigend ausmodellierten Grundlage nicht zu erstellen (↗ Art. 48, 49). Die zweite Skala Acting as intermediary in informal situations (with friends and colleagues) bezieht sich auf Gesprächssituationen, die informell sein können (↗ Art.103); aber auch auf Arbeitssituationen und auf die Wiederholung von Reden und Präsentationen. Es erschließt sich nicht, wo hier die Grenze zur ersten Skala wirklich verläuft und warum gerade informelle Situationen im Titel genannt werden, wenn es auch um berufliche Kommunikation geht (↗ Art. 24). Wieder stehen die soziolinguistische Kompetenz und die plurikulturelle Handlungsfähigkeit im Mittelpunkt der Deskriptoren. Die Aspekte des Wissens sind nur implizit durch den Anspruch der zu mittelnden Textsorten wahrnehmbar, die Modellierung von Einstellungen entfällt hier ganz. In der dritten Skala zur Plurikulturalität im Unterkapitel Mediating Concepts findet sich eine sehr ähnliche Konzentration auf das Schlüsselkonzept Handlungsfähigkeit in heiklen Situationen, das von einem taktvollen und <?page no="124"?> 115 respektvollen Umgang miteinander (Niveau C2) bis zu einem einfachen Erkennen unterschiedlicher Meinungen (Niveau A1) reicht. Wieder wird deutlich, dass es bei der Modellierung eigentlich vor allem um mündliche Mediation geht, bei der Konflikte vermieden werden sollen. Weder wird ausreichend transparent, welche Einstellungen auf den unterschiedlichen Niveaustufen entscheidend sind für einen erfolgreichen Umgang miteinander, noch welche soziokulturellen und -linguistischen Wissensaspekte jeweils im Mittelpunkt stehen. Gerade die Skalierung von Strategien, die heikle Situationen auflösen sollen, kann nicht überzeugen, denn das Vermittlungsverhalten bei critical incidents (↗ Art. 104) scheint kaum operationalisierbar zu sein. Zusammen betrachtet, erscheinen die drei Skalen sehr inkonsistent, die Thematiken der zwei letzteren sehr willkürlich gewählt und die Modellierung der Skalen allenfalls bzgl. der kommunikativen Handlung konsequent. Als Grundlage für die Erstellung eines Curriculums oder einer begründeten Leistungsmessung reichen sie keinesfalls aus (↗ Art. 48, 49). Den Skalen vorgeschaltet wird gleichsam als salvatorische Klausel die Bemerkung, dass die spezifische Zuordnung eines Deskriptors zu einer Niveaustufe nicht verpflichtend oder zwingend sei. Die erste der drei Skalen Building on pluricultural repertoire versammelt in sich zahlreiche bereits bekannte fachdidaktische interkulturelle Konzepte. Als Schlüsselkonzepte werden genannt: kulturelle, soziopragmatische und soziolinguistische Konventionen erkennen und dementsprechend handeln, Ähnlichkeiten und Unterschiede in Perspektiven und Praktiken bei interkulturellen Begegnungen erkennen und interpretieren, neutral und kritisch evaluieren. Abgesehen davon, dass nicht klar wird, was genau kritisch evaluiert werden soll - die Situation, die involvierten Personen, die Gespräche oder Texte, einzelne Gesprächsbeiträge, die eigenen Gesprächsbeiträge? - wird deutlich, dass auch hier wieder Wissensbestände, Handlungsvermögen und Einstellungen in der Skala versammelt sind (↗ Art. 49). Die einzelnen Deskriptoren sind sehr umfangreich und in ihren Handlungsbeschreibungen bzw. Kompetenzen bunt gemischt. Sie reichen vom Erkennen verschiedener Arten des Zählens und der Zeitangaben (Niveau A1) bis zu sensiblen, kontextadäquaten Handlungen und Ausdrucksformen, die Missverständnisse vermeiden helfen sollen. Rezeptive und produktive Kompetenzen sind oft in einem Deskriptor ebenso vereint wie Bezüge auf lebensweltliche Situationen und fiktionale Kontexte wie die Rezeption von Filmen und Literatur; so z. B. in einem der Deskriptoren auf dem Niveau C1: „ Can sensitively explain the background to, interpret and discuss aspects of cultural values and practices drawing on intercultural encounters, reading, film, etc .“ (ebd.: 159). Insgesamt entsteht der Eindruck, dass der Versuch gemacht wurde, alle fremdsprachlichen Handlungen - egal ob mündlich, schriftlich, rezeptiv oder produktiv - in einer Skala darzustellen. Es ist nicht vorstellbar, wie dies Curriculumsplanern oder Lehrkräften helfen soll, ein differenziertes Curriculum für bestimmte Jahrgangs- oder Leistungsgruppen zu erstellen und die erbrachten Leistungen zu bewerten. Wie in der ersten plurikulturellen Skala sind auch hier einige wenige Adverbien in einzelnen Deskriptoren zu finden, die Einstellungen skizzieren. Die Zusammenhänge zwischen Wissen, Erkennen von kultureller Differenz und achtsamem Handeln werden aber nicht detailliert und konsequent auf allen Niveaustufen modelliert. Die Deskriptoren unterliegen nicht immer denselben Qualitäts- 19. PlurilingualeundplurikulturelleKompetenzim CEFR Companion Volume (2018) <?page no="125"?> 116 EvaBurwitz-Melzer merkmalen: Manchmal sind sie anschaulich und konkret formuliert, daneben gibt es in der Skala auch sehr offene und abstrakte Deskriptoren, die mit den unterschiedlichsten Handlungen konnotiert werden können: “Can generally interpret cultural cues appropriately in the culture concerned“ (ebd.: 145). Dieser Deskriptor könnte sich auf ein lebensweltliches Gespräch beziehen, auf die Analyse eines Films, eines Weblogs oder auf die Interpretationen von Gesichtszügen eines Gegenübers - für Curriculumsplaner eher ein problematisches Beispiel für einen Deskriptor. Die zwei weiteren Skalen dieses Kapitels sind plurilingualen Handlungen zugeordnet: einmal Deskriptoren zum plurilingualen Verstehen, also vorwiegend rezeptiven Kompetenzen, dann dem Aufbau eines plurilingualen Repertoires (ebd.: 160 ff.), schließlich einer Skala, die rezeptive und produktive Kompetenzen mischt. Es erscheint wegweisend, dass die plurilinguale Kompetenz dargestellt wird, indem die Deskriptoren jeweils die Floskel „ different languages “ als Platzhalter in den Deskriptor einfügen. So z. B. in einem Deskriptor auf der Niveaustufe A2: “Can use simple warnings, instructions and product information given in parallel in different languages to find relevant information“ (ebd.: 160). 4. Perspektiven Das CEFR Companion Volume von 2018 versucht die starke Beachtung, die der plurikulturellen und der plurilingualen Kompetenz in der Fachliteratur geschenkt worden ist, aufzugreifen. Die Untersuchung der sechs Skalen zeigt allerdings, dass dies nicht immer gut gelingt: Während die Skalen zur plurilingualen Kompetenz eher Stringenz zeigen, auch wenn sie verschiedene Kompetenzbereiche in einzelnen Deskriptoren direkt nebeneinanderstellen, gelingt eine konsequente Modellierung der plurikulturellen Kompetenz nicht. Weder werden die drei bestimmenden Ressourcendomänen (Wissen, Einstellungen und Handlungsfähigkeit) durchgehend beachtet, noch wird die plurikulturelle Leistung immer sinnvoll mit Einzelkompetenzen verbunden. Der Zweck des Dokuments, das eine Hilfe für Curriculumsplaner und Lehrwerkersteller darstellen möchte, wird damit verfehlt. Literatur Burwitz-Melzer, E. (2003): Allmähliche Annäherungen. Fiktionale Texte im interkulturellen Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I. Tübingen. Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence . Clevedon. Candelier, M., Camilleri-Grima, A., Castellotti, V. et al. (2009): RePA. Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen . Graz, Straßburg. [http: / / archive.ecml.at/ mtp2/ publications/ C4_RePA_090724_IDT. pdf]. Council of Europe (Hrsg.) (2018): Companion Volume with New Descriptors / Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs. [www.coe.int/ lang-cefr].. European Centre for Modern Languages of the Council of Europe (Hrsg) (2012): CARAP - REPA - A Framework of Reference for Pluralistic Approaches. [https: / / www.ecml.at/ tabid/ 277/ PublicationID/ Default/ aspx]. Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen . München, Berlin. Eva Burwitz-Melzer <?page no="126"?> 117 20. Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen 20. Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen 1. Vorstellung des RePA Der RePA (frz. CARAP), dessen erklärtes Ziel in der Förderung der mehrsprachigen Erziehung in einem vielsprachigen und vielkulturellen Europa besteht, ist ein von Michel Candelier pilotiertes Projekt des Europäischen Fremdsprachenzentrums Graz (Österreich), das gewisse Defizienzen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR) (Europarat 2001) auszugleichen versucht (↗ Art. 18). Diese betreffen zuvorderst die Operationalisierung von Mehrsprachigkeit (vgl. Candelier & de Pietro 2011: 262: „[der GeR] reste essentiellement centré sur les approches qui envisagent les langues comme indépendantes les unes des autres, comme cloisonnées“) sowie den Kompetenzbegriff. Anders als für die funktional-kommunikativen Kompetenzen und die Sprachmittlung liefert der GeR für diese Bereiche keine Skalierung und bleibt generell in seinen Erläuterungen zurückhaltend. Die Pluralen Ansätze versuchen, die Mängel zu kompensieren. Betroffen sind: • die Mehrsprachigkeit: hier die Definition des GeR nach Candelier & de Pietro, ebd.: „la compétence à communiquer langagièrement et à interagir culturellement d’un acteur social qui possède, à des degrés divers, la maîtrise de plusieurs langues et l’expérience de plusieurs cultures“ (↗ Art. 7), • die Interkomprehension zwischen nahverwandten Sprachen (doch darf dies nicht so verstanden werden, als ob Interkomprehension nur zwischen muttersprachlichen Sprechern derselben Sprachfamilie möglich sei) (↗ Art. 56), • die Sprachenbewusstheit ( Eveil aux langues ) (↗ Art. 22), • das interkulturelle Lernen (↗ Art. 32), • das sprachen- und fächerübergreifende Lernen bzw. die integrative Didaktik: Didactique intégrée ist ein Sammelbegriff und liegt nicht auf der gleichen Ebene wie das interkulturelle Lernen, die Interkomprehension oder Sprachenbewusstheit. Die integrative Didaktik führt zahlreiche, auch hier ungenannte, Kompetenzen und deren Förderung zugunsten der Mehrsprachigkeit zusammen (Beacco et al. 2010). 2. Wie entstand der RePA? Seine Erstellung erfolgte in folgenden Schritten: 1.) Rückgriff, Auswahl und Interpretation vorhandener einschlägiger Publikationen zur Fremdsprachen- und interkulturellen Kompetenz, vorzugsweise aus dem EU-Raum, 2.) Findung der Kompetenzbeschreibungen und Erstellung der Deskriptoren, 3.) Bildung eines gestuften (Kompetenzen - Mikrokompetenzen/ Ressourcen) und aus unterschiedlichen Domänen (Wissen/ knowledge -Können/ Skills -Volitionalität/ attitudes ) gebildeten Kompetenzmodells und 4.) Erstellung einer Systematik ( systématique synthétique ) zwischen den Kompetenzen und deren Bausteinen. Die Systematik umfasst einerseits eine Hierarchisierung. Hierzu ein Beispiel: a) die formale Oberfläche eines vorgetragenen Textes detailliert hörverstehen können (G1), b) die inhaltlich relevanten Lexeme erkennen oder erschließen (G1.1), c) die typische Satzeuphonik erkennen (G1.2), d) syntaktische Merkmale identifizieren (G1.3) usw. Kommunikative <?page no="127"?> 118 KarimSiebeneicher-Brito Aufgaben sind an Situationen gebunden, deren Lösung die Selektion und Mobilisierung bestimmter Ressourcen verlangt (Le Boterf 1994; Perrenoud 1999). Andererseits macht der Rückgriff auf das zu jeder Mobilisierung von Kompetenzen notwendige Zusammenspiel der Domänen ‚Wissen - Volitionalität - Handeln‘ auch ein horizontales bzw. prädikatives Zusammenspiel der Ressourcen erforderlich. Dieses verbindet das handelnde Subjekt (Lerner) mit dem anvisierten Verhaltensziel und dessen Ergebnis vermittels eines Prädikats (X erkennt die morpho-semantische Ähnlichkeit von z. B. engl. education und frz. éducation ). 3. Der RePA in der Praxis Der RePA will ein Werkzeug für die didaktische Reflexion sein (Candelier & de Pietro, ebd.). Dies erfordert letztlich auch einen engen Bezug zu den Praxen des gesamten sprachlichen Lernfeldes. Hierzu ergänzt er die grundlegende Beschreibung, welche detailliert Ziele und Methode der Erstellung der Deskriptoren erörtert (Candelier et al. 2009), sowie die Deskriptorenliste selbst um weitere didaktische Materialien. Zahlreiche Lehrerfortbildungen haben in mehr oder weniger engem Anschluss an das Grazer Zentrum international und mit unterschiedlichen Partnern die Beschreibungen des RePA weitergetragen. Im Projekt Certilingua dienten die Deskriptoren im Rahmen einer internationalen Zertifizierung von Schülerleistungen zu Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität (Meißner 2012b). Die Erweiterungen und Handreichungen reagierten auch auf Weiterentwicklungen in den einzelnen Staaten. In Deutschland betraf dies die Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (↗ Art. 21) in Gestalt z. B. der Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (Kultusministerkonferenz 2012). Hier standen der RePA und seine Deskriptoren bei der Einführung des Begriffs der Sprachlernkompetenz Pate (passim Tesch et al. 2017). Es war der Wunsch der an den Fortbildungsveranstaltungen teilnehmenden Lehrerinnen und Lehrer, die umfangreichen theoretischen Erläuterungen des RePA auf das für die Praxis notwendige Maß zu reduzieren, den Kompetenzbegriff stärker zu beleuchten und für die Deskriptoren (als mögliche Lehrziele) Aufgaben zu erarbeiten. Eine spezielle Handreichung kam dem nach (Meißner 2012a). Weitere Publikationen sind - auch im deutschsprachigen Raum - gefolgt (z. B. Melo-Pfeiffer & Reimann 2018). Auch außerhalb Europas begegnet der Wunsch. So in Brasilien: Auch hier ist die einzelzielsprachliche Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts ohne Berücksichtigung des lernrelevanten linguistischen Vorwissens der Lerner und ihrer Selbststeuerungskompetenz üblich. Dabei erscheinen Sprachlernbewusstheit und Sprachlernkompetenz als wichtige Lernziele (↗ Art. 22). Dies erklärt die portugiesische Kurzfassung der Handreichungen (Siebeneicher-Brito & Meißner 2018). Sie soll Lehrerinnen und Lehrer unterstützen, das lernerseitige Vorwissen in den Unterricht zu integrieren, um die Mehrsprachigkeit der Lerner zu befördern. Zudem können auch Studierende des Lehramts ihre eigene Mehrsprachigkeit reflektieren (Monteiro 2011). Da leider das Studium die Unterrichtspraxis und die didaktische Ausbildung unterbewertet, sind der RePA wie die Handreichung Schritte in die richtige Richtung. <?page no="128"?> 119 Literatur Beacco, J.-C., Byram, M., Cavalli, M. et al. (2010): Guide pour le développement et la mise en œuvre de curriculums pour une éducation plurilingue et interculturelle. Strasbourg . [https: / / www.coe.int/ en/ web/ language-policy/ guide-for-the-development-and-implementation-of-curricula-for-plurilingual-and-intercultural-education]. Candelier, M., Camilleri-Grima, A., Castellotti, V. et al. (2009): RePA. Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen . Graz, Straßburg. [http: / / archive.ecml.at/ mtp2/ publications/ C4_RePA_090724_IDT. pdf]. Candelier, M. & De Pietro, F. (2011): Les approches plurielles: cadre conceptuel et méthodologie d’élaboration du Cadre de référence pour les approches plurielles. In: P. Blanchet & P. Chardenet (Hrsg.): Guide pour la recherche en didactique des langues et des cultures: approches contextualisées. Paris, 259-273. [http: / www.projetpluri-l.org/ publis/ Candelier & De Pietro - Le CARAP.pdf]. Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen . Berlin. KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (2012): Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch / Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012). [https: / / www. kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_10_18-Bildungsstandards-Fortgef-FS-Abi.pdf] Le Boterf, G. (1994): De la compétence-: essai sur un attracteur étrange . Paris. Meißner, F.-J. (2012a): Die REPA-Deskriptoren der ‚weichen Kompetenzen‘ - eine praktische Handreichung für den kompetenzorientierten Unterricht zur Förderung von Sprachlernkompetenz, interkulturellem Lernen und der Mehrsprachigkeit . In: Giessener Fremdsprachendidaktik: online 2. [http: / / nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: hebis: 26-opus-93728]. Meißner, F.-J. (2012b ): Standard Setting in Intercultural Education by Means of the Framework of Reference for Pluralistic Approaches (FREPA). Key-note ; 6th International Annual Certilingua-Conference, Helsinki 8-9-2012. [http: / / www.certilingua.net/ wp-content/ uploads/ meisner_frepa_certilingua-keynote. pdf]. Melo-Pfeiffer, S. & Reimann, D. (Hrsg.) (2018): Plurale Ansätze im Fremdsprachenunterricht in Deutschland. Tübingen. Monteiro, M. (2011): Interkulturelles Lernen in der Ausbildung von DaF-Lehrern in Brasilien. In: B. Schmenk & N. Würffel (Hrsg.): Drei Schritte vor und manchmal auch sechs zurück - Internationale Perspektiven auf Entwicklungslinien im Bereich Deutsch als Fremdsprache. Tübingen, 181-190. Perrenoud, P. (1999): D’une métaphore à l’autre : transférer ou mobiliser ses connaissances? In J. Dolz & E. Ollagnier (Hrsg.): L'énigme de la compétence en éducation . Bruxelles, 45-60. Siebeneicher-Brito, K. & Meißner, F.-J. (2018): Os descritos dos ‘soft skillsʼ no Quadro de Referência para a Abordagem Plural de Línguas e Culturas (QuRAPLeC/ CARAP) - Um handout prático para o ensino baseado em competências focalizando a promoç-o da aprendizagem de línguas, intercultural e plurilíngue. In: Giessener Fremdsprachendidaktik: online 12. [http: / / geb.uni-giessen.de/ geb/ volltexte/ 2018/ 13773/ pdf/ GiFon_12.pdf]. Tesch, B., von Hammerstein, X., Stanat, P. & Rossa, H. (Hrsg.) (2017): Bildungsstandards aktuell: Englisch/ Französisch in der Sekundarstufe II . Braunschweig. Karim Siebeneicher-Brito 20. Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen <?page no="129"?> 120 UrsulaBehr 21. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in deutschen Richtlinien des Fremdsprachenunterrichts 1. Begrifflichkeit Die mit den Schulgesetzen der Bundesländer vorgegebenen Bildungsziele werden konkretisiert durch Lehrpläne, Rahmenlehrpläne, Bildungspläne, Kerncurricula, Richtlinien oder Rahmenrichtlinien, für die das Kultusministerium des jeweiligen Landes zuständig ist. „Die Begriffe weisen auf unterschiedliche Perspektiven und Verbindlichkeiten hin, werden allerdings oft synonym verwendet.“ (Christ 2016: 57). Im Folgenden wird - mit Bezug auf die Lehrplan-Datenbank der Kultusministerkonferenz der Begriff Lehrplan verwendet, wobei die Inhalts- und Funktionsbeschreibung auch auf die anderen o. g. curricularen Vorgaben zutrifft. Ein Lehrplan ist ein zentrales Steuerungsinstrument mit hoher Verbindlichkeit, das von staatlicherseits berufenen Kommissionen erarbeitet und von der staatlichen Schulaufsicht in Kraft gesetzt wird. Der Lehrplan beschreibt die verbindlichen Ziele und Inhalte des (Fach-) Unterrichts, ordnet diese in übergeordnete schulartspezifische und/ oder fächerübergreifende Zusammenhänge ein und ermöglicht Schlussfolgerungen für die didaktisch-methodische Gestaltung des fachbezogenen und fächerübergreifenden Unterrichts. Somit haben Lehrpläne einerseits eine Legitimationsfunktion, im Sinne eines staatlich erlassenen Programms für Bildung und Erziehung in der Schule. Anderseits haben Lehrpläne eine Orientierungsfunktion, im Sinne von Arbeitsinstrumenten und Planungshilfen für die einzelne Lehrkraft und als Koordinationsinstrument für das Kollegium einer Schule. Die Konzeption von Lehrplänen ist stets zu betrachten im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen, bildungspolitischer Vorgaben und aktueller Entwicklungen im Bereich pädagogischer, schulentwicklerischer, fachdidaktischer und fachwissenschaftlicher Theorien. Die Wirksamkeit von Lehrplänen hängt ganz entscheidend davon ab, inwieweit sie geeignet sind, Lehrkräfte anzuregen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sie als Orientierungsgrundlage für die Gestaltung der eigenen pädagogischen und fachlichen Arbeit zu akzeptieren und auch als spezifisches Instrument von Schulentwicklung zu betrachten. Die Lehrplan-Datenbank der KMK (www. bildungsserver.de/ Allgemeinbildende-Schulen-400-de.html) ermöglicht Recherchen nach Land, Schulart/ Schulstufe, Fach/ Sachgebiet, Jahrgangsstufe und Einführungsjahr. 2. Problemaufriss und aktuelle Situation Spätestens seit der Forderung des Europarates, dass jeder europäische Bürger beim Verlassen der Schule neben der Muttersprache über Kenntnisse in mindestes zwei weiteren Gemeinschaftssprachen verfügen sollte, geraten die Begriffe Mehrsprachigkeit und Multikulturalität ins Zentrum bildungs- und sprachenpolitischer Absichtserklärungen (↗ Art. 9, 12). Die Kultusministerkonferenz fasst Beschlüsse zur Stärkung der Fremdsprachenkompetenz (2011), stellt in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (↗ Art. 18) heraus, beschreibt interkulturelle Bildung und Erziehung (↗ Art. 32) als Querschnittsaufga- <?page no="130"?> 121 21. MehrsprachigkeitundMehrkulturalitätin Fremdsprachenlehrplänen be (2013), verlangt die Förderung mehrsprachiger Kompetenz, fordert in den Nationalen Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (2003), Schülerinnen und Schüler auf ein Handeln in mehrsprachigen Situationen vorzubereiten und führt mit den Standards für die Allgemeine Hochschulreife (2012) Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) als verbindliche Kompetenzbereiche ein. Diese programmatischen Verlautbarungen erfahren aber nur bedingt eine verbindliche curriculare länderspezifische Verankerung (↗ Art. 72). So vermittelt ein Blick in die Lehrpläne der Bundesländer für den Fremdsprachenunterricht am Gymnasium folgendes Bild: • Curriculare Vorgaben sind auf den Einzelsprachenunterricht fokussiert. Sprachenübergreifende Ziele der Kompetenzentwicklung werden - mit Ausnahme der Sprachenlehrpläne in Thüringen - nicht formuliert. • Ausführungen zur Mehrsprachigkeit haben eher grundsätzlichen Charakter, d. h. sind vornehmlich Bestandteil von (allgemeinen) Darlegungen zu Zielen und Aufgaben des Faches - im Sinne von Leitgedanken oder Leitbildern für den Unterricht bzw. einer Wertschätzung unterschiedlicher Herkunftssprachen. • Die Entwicklung interkultureller Kompetenzen (↗ Art. 43) wird mehrheitlich an den Vergleich von Ausgangs- und Zielsprachenkultur - im Sinne einer Bikulturalität - gebunden. • Die Lehrpläne integrieren Ziele sprachenübergreifenden Lernens mehrheitlich nicht konsequent oder nur punktuell in das kompetenz- und standardorientierte Unterrichtskonzept (↗ Art. 14). • Sprachenvergleichende Aspekte sind primär eingebettet in den Lernbereich Sprachenbewusstheit/ Sprachreflexion, wobei nicht in allen Lehrplänen gleichermaßen die Muttersprache Deutsch, die Herkunftssprache (↗ Art. 106), die erste Fremdsprache Englisch oder andere schulische Fremdsprachen als Kontrastfolie benannt sind oder die Rolle als Brückensprache herausgestellt wird. • Die Fremdsprachenlehrpläne sind nicht konsequent abgestimmt. Es wird der Eindruck erweckt, dass Mehrsprachigkeit und die damit verbundenen Synergieeffekte eher von Bedeutung für die zweiten oder dritten Fremdsprachen (↗ Art. 86) sind. Die Lehrplankonzeption in Thüringen (2011) (www.schulportal-thueringen.de/ web/ guest/ lehrplaene/ gymnasium) unterscheidet sich deutlich von der der anderen Bundesländer. So werden für alle Fächer des sprachlichen Aufgabenfeldes, d. h. Muttersprache Deutsch, sämtliche moderne Fremdsprachen sowie Latein und Griechisch, sprachenübergreifende Kompetenzen als gemeinsame Zielsetzung jeglichen Sprachunterrichts ausgewiesen. Dabei erfolgt die Art der Darstellung sprachenübergreifender Kompetenzen in allen Sprachen als integrativer Bestandteil des Einzelfachlehrplans. Mit der Einführung eines eigenständigen Lernbereichs „Über Sprache, Sprachverwendung und Sprachenlernen reflektieren“ (Sprachlernkompetenz) erfahren sprachenübergreifendes Lernen und die Entwicklung von Sprach- und Sprachlernbewusstheit (↗ Art. 22) eine Verbindlichkeit in allen Sprachfächern der Sekundarstufe I und II. Die Zuordnung von sprachenübergreifenden Zielen zu bestimmten Klassenstufen und die damit verbundene Progression der Kompetenzentwicklung erfolgt durch: <?page no="131"?> 122 UrsulaBehr • die Verwendung unterschiedlicher Operatoren, • einen unterschiedlichen Grad an erwarteter Selbstständigkeit, • die Bindung an die jeweiligen niveauspezifischen sprachlichen Mittel sowie Rezeptions- und Produktionsstrategien, • die Ausweisung unterschiedlicher Gegenstände für den Sprachenbzw. Kulturvergleich. 3. Fazit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität sind in den deutschen Richtlinien für den Fremdsprachenunterricht angekommen, ohne jedoch konsequent und durchgängig curricular verortet zu sein. Der von Bausch & Helbig-Reuter vor 15 Jahren bereits geforderte „neue Lehrplantypus“ (2003: 199) ist somit noch nicht Realität. Empfehlungen zur Lehrplanentwicklung, wie: • bei der Erstellung einzelsprachlicher Curricula sprachenübergreifende Aspekte von Beginn an zu berücksichtigen (Meißner 1995: 175), • in ein integratives Mehrsprachigkeitskonzept das Lehren und Lernen von Deutsch (als Muttersprache) explizit mit einzuschließen (Bausch & Helbig-Reuter 2003: 196), • die Curricula zwischen den Sprachfächern abzustimmen (Meißner et al. 2008: 167), • ein Gesamtsprachencurriculum als planerischen Rahmen zu schaffen (Hufeisen 2005: 13) (↗ Art. 14) haben an Aktualität nicht verloren. Lehrpläne sind ein maßgeblicher Transmissionsriemen für die Implementierung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in den Unterricht. Sie können und müssen den verbindlichen Rahmen setzen für die Formulierung (gemeinsamer) sprachenübergreifender Ziele, Inhalte und mehrsprachigkeitsdidaktischer Prinzipien in allen Sprachfächern und die Beschreibung einer Progression sprachenübergreifender Kompetenzentwicklung. Letzteres erfordert die Nutzung ausdifferenzierter Deskriptoren. Hierfür liegt mit dem „Referenzrahmen für Plurale Ansätze“ (Candelier et al. 2009) ein Instrument vor (↗ Art. 20), das zweifellos Impulse für Zielbeschreibungen in Lehrplänen enthält, aber für diese Spezifik noch einer empirischen Fundierung bedarf (Schädlich 2013: 36). Literatur Bausch, K.-R. & Helbig-Reuter, B. (2003): Überlegungen zu einem integrativen Mehrsprachigkeitskonzept: 14 Thesen zum schulischen Fremdsprachenlernen . In: Neusprachliche Mitteilungen 56/ 4, 194-201. 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Kongresses für Fremdsprachendidaktik der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung, Gießen 4.- 6.10.1993 . Bochum, 173-187. Meißner, F.-J., Beckmann, C. & Schröder- Sura, A. (2008): Mehrsprachigkeit fördern. Vielfalt und Reichtum Europas in der Schule nutzen (MES) . Tübingen. [http: / / www1.uni-giessen.de/ rom-didaktik/ Multilingualism/ html/ facette1/ de/ index.htm] Schädlich, B. (2013): Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität im Unterricht der romanischen Sprachen: begriffliche, empirische und unterrichtspraktische Perspektiven . In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 24/ 1, 29-50. Ursula Behr 22. Sprachlernkompetenz und Mehrsprachigkeit 1. Begrifflichkeit und Problemaufriss Der Begriff „Sprachlernkompetenz“ ist ein Neologismus, der sich aus den drei Elementen „Sprachen“, „Lernen“ und „Kompetenz“ zusammensetzt und im Rahmen der Diskussion um die Bildungsstandards für die Sekundarstufe II (KMK 2012) entstanden ist (↗ Art. 43). Sprachlernkompetenz bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Fremdsprachenlernen zielgerichtet zu steuern, d. h. den eigenen Fremdsprachenlernprozess selbstständig zu gestalten und zu kontrollieren. Es handelt sich um eine prozessbezogene Kompetenz - im Gegensatz zu inhaltsbezogenen Kompetenzen wie die funktional kommunikativen oder sachfachlichen Kompetenzen (vgl. Königs & Martinez 2019). Die Förderung von Sprachlernkompetenz hat jedoch nicht erst mit der Einführung der Bildungsstandards für die Sekundarstufe II begonnen, sondern geht auf die Lernerautonomie-Diskussion Ende der 1970er Jahre zurück (Holec 1979; Martinez 2008). Durch die mit der Einführung der Bildungsstandards verbundene Kompetenzorientierung gewinnt Lernfähigkeit allerdings eine neue Dimension. Sie wird zu einer ‚Kompetenz‘, die es neben allen anderen Kompetenzen gleichermaßen und verbindlich zu fördern gilt. Ihr transversaler Charakter macht darüber hinaus deutlich, dass Sprachlernkompetenz - gemeinsam mit Sprach(en)bewusstheit - für die Ausbildung aller weiteren Kompetenzen unerlässlich ist. In den Bildungsstandards (KMK 2012) wird Sprachlernkompetenz folgendermaßen konkretisiert: „Sprachlernkompetenz beinhaltet die Fähigkeit und die Bereitschaft, das eigene Sprachenlernen selbstständig zu analysieren und bewusst zu gestalten, wobei die Schülerinnen und Schüler auf ihr mehrsprachiges Wissen und auf individuelle Lernerfahrungen zurückgreifen.“ (KMK 2012: 25) Der erste Teil der Standardbeschreibung benennt dabei Sprachlernkompetenz als eine bewusste Steuerung und Regulierung des Sprachlernprozesses, was mit der Annahme einhergeht, dass Kognition und Kognitivierung eine lernförderliche Funktion beim Sprachenerwerb haben. Der zweite Teil berücksichtigt die Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe bereits mehrere Sprachen erworben bzw. gelernt haben und betont ihre Fähigkeit, ihr mehrsprachiges Vorwissen und ihre Sprachlernerfahrungen als Ressourcen und Strategien für den (selbstständigen) Erwerb weiterer Fremdsprachen einzusetzen. <?page no="133"?> 124 HélèneMartinez Letzteres ist ganz im Sinne des Europarats (↗ Art. 12), wonach „sich die Spracherfahrung eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert, von der Sprache im Elternhaus, über die Sprache der Gesellschaft bis zu den Sprachen anderer Völker (…). Diese Sprachen (…) bilden gemeinsam eine kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen“ (Europarat 2001: 17). Anders als die frühere Modellierung von Methodenkompetenz (vgl. KMK 2003) bezieht sich Sprachlernkompetenz explizit auf den Erwerb sprachlicher und interkultureller Kompetenzen und gründet auf der Fähigkeit der Lerner, ihr sprachliches Repertoire (Muttersprache, Zweitsprache, Fremdsprachen) und ihre Sprachlernerfahrungen für das Erlernen weiterer Fremdsprachen nutzbar zu machen. 2. Forschungsstand Die Wechselbeziehung zwischen Mehrsprachigkeit bzw. Mehrsprachigkeitskompetenz und Sprachlernkompetenz wurde in der Vergangenheit mehrfach und aus unterschiedlichen Perspektiven erforscht und diskutiert (↗ Art. 85). Die konzeptuelle Nähe zwischen Sprachlernkompetenz und Mehrsprachigkeit ist bereits dem Konzept der sprachenteiligen Gesellschaft inhärent , welches besagt, dass in einer Gesellschaft viele Menschen möglichst viele Sprachen verstehen und sprechen können sollen (vgl. die ‚Homburger Empfehlungen’; Christ et al. 1980). Den einzelnen Sprachen wurden unterschiedliche pädagogische Funktionen für den Aufbau einer breiten und diversifizierten individuellen Mehrsprachigkeit (↗ Art. 6, 7) zugewiesen, und zwar von der Primarstufe bis hin zur Sekundarstufe II. Die Sprachlernkompetenz lag dabei diesen Überlegungen bereits zugrunde - ohne dass sie explizit genannt wurde (vgl. Martinez & Meißner 2017: 220). Die Interkomprehensionsforschung hat mehrfach empirisch belegt und hervorgehoben, dass die (inferentielle) Interkomprehensionsmethode (↗ Art. 70) zur Autonomisierung der Lernenden beiträgt (u. a. Doyé & Meißner 2010). Die Prozesse bei der Inferierung romanischer Texte ähneln den der Sprachlernkompetenz zugrundeliegenden Prozessen und Strategien. Die Erstellung einer Hypothesengrammatik (im Moment der verstehenden Begegnung mit der Zielsprache oder kurz danach), ihre Überprüfung sowie das Monitoring bezüglich der eigenen Interkomprehensionshandlung setzen Sprachaufmerksamkeit, Sprachbzw. Sprachlernbewusstheit und Reflexion voraus. Meißner (2015: 238) unterstreicht Interkomprehension als „eine sehr wirksame Strategie des lernaufmerksamen Lernens und Lehrens“. Das Inferieren bzw. der positive Transfer (↗ Art. 64) beruhen auf der Fähigkeit, geeignete sprachliche, didaktische und kulturelle Ressourcen zu aktivieren (vgl. Martinez 2017). Dabei entwickeln Lerner Strategien (des Vergleichens), metakognitive/ selbstgesteuerte Strategien und Lernressourcen sowie motivationale und volitionale Strategien. Selbstgesteuerte Strategien sind z. B. selektive Aufmerksamkeit, die Aktivierung schon bekannten Wissens - nicht nur Sprachwissen, auch Weltwissen/ kulturelles Wissen - oder die Regulierung von Strategien (dies bezieht sich auf die Fähigkeit, sich an Strategien, die in ähnlichen Situationen effektiv waren, zu erinnern, sie zu nutzen und bewusst anzuwenden) etc. (vgl. auch Bär 2009: 78 ff.). Die Wahrnehmung eigener Erfolgserlebnisse fördert die intrinsische Motivation und er- <?page no="134"?> 125 22. SprachlernkompetenzundMehrsprachigkeit möglicht die Erfahrung von Selbstwirksamkeit (vgl. auch Morkötter 2016). Die mehrsprachigkeitsdidaktische Forschung hat gezeigt, wie Mehrsprachenunterricht eine „Strategie zur Beförderung von Metakognition ( language and learning awareness raising strategy )“ (Meißner 2010: 194) sein kann. Die Interaktion und Kooperation zwischen Lernenden und Lehrenden fördert die reflexive Vergegenwärtigung der ablaufenden Prozesse und die Entwicklung von multi language (learning) awareness . Die Parallelen zwischen einer Pädagogik für Autonomie und der Interkomprehensionsdidaktik (↗ Art. 56) bzw. Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) sind nicht zu übersehen: Beide ermutigen zur Übernahme der Verantwortung, zur Wahl von Lernzielen und deren flexibler Kontrolle. Der unstrukturierte Input erlaubt z. B. den Lernenden, Hypothesen aufzustellen, zu verifizieren, die Sinngenerierung zu kontrollieren. Beide Ansätze schaffen Gelegenheiten zum selbstgesteuerten Lernen und zur Selbstkontrolle, denn über das Vergleichen von sprachlichen Phänomenen gewinnen die Lernenden Einsicht in die eigenen Lernprozesse und Lösungswege; Übungen wie Laut-Denk-Protokolle oder Übersetzungen, die den Lernprozess ‚online‘ durch Verbalisierung begleiten, fördern das Monitoring. Sowohl eine Pädagogik für Lernerautonomie als auch die Mehrsprachigkeitsdidaktik erfordern und fördern eine positive Einstellung gegenüber dem fremdsprachlichen und interkulturellen Lernen (↗ Art. 32), den Willen, Risiken einzugehen, intellektuelle Neugier, Vertrauen in die eigene Kompetenz und die Kompetenz zur Selbstmotivation (vgl. Jiménez Raya et al. 2007: 33 ff.; vgl. auch Martinez 2008: 293; Martinez 2010: 155 f.). In einer empirischen Studie schlussfolgert Martinez (2008), dass bestimmte Lernende zwar mehrsprachig sind, aber nicht autonom lernen. Es scheint einen Unterschied zu geben zwischen den Lernenden, die von dem Erlernen mehrerer Sprachen profitieren können, und denjenigen, die die Sprachen lediglich additiv erlernen, ohne Bezüge zwischen ihnen herzustellen. Mehrsprachige Lerner scheinen dann autonom zu sein, wenn sie zwischensprachlichen Transfer (↗ Art. 64) als (Lern-) Strategie beherrschen und bewusst oder intuitiv einsetzen. Autonome mehrsprachige Lerner sind diejenigen, die aus dem mehrsprachigen Repertoire eine Kompetenz erzeugen. Definiert man Kompetenz als „Mobilisierungskompetenz von Ressourcen“, so sind die autonomen Lerner fähig, ihre (mehrsprachigen) Ressourcen adäquat und zielgerichtet zu mobilisieren. Autonome mehrsprachige Lerner kontrollieren zwischensprachlichen und didaktischen Transfer und setzen diesen bei Bedarf ein. Dabei greifen sie auf ein reiches und anscheinend gut organisiertes (deklaratives und prozedurales) Wissen zurück, das sie im Laufe ihrer Sprachlerngeschichte erworben haben und bei jedem Zugriff (re-) aktualisieren. Diese „mehrsprachige Aneignungskompetenz“ erlaubt es ihnen, sich eine neue Zielsprache zu erschließen und zu erlernen (ebd.: 281 ff.). Die Erkenntnisse gehen mit Studien zur Tertiärsprachenforschung einher (↗ Art. 51). Im Dynamic Model of Multilingualism (Herdina & Jessner 2002) wird angenommen, dass mehrsprachige Menschen über einen erweiterten mehrsprachigen Monitor sowie ein erhöhtes multilinguales Bewusstsein verfügen. Diese Fähigkeiten und Eigenschaften werden als „multilingual factor“ bezeichnet, eine Kompetenz, die in der Interaktion unterschiedlicher Sprachen entsteht. Untersuchungen belegen, dass Lernende, die bereits eine Fremdsprache oder Fremdsprachen gelernt hatten, über eine <?page no="135"?> 126 HélèneMartinez nachweislich höhere Sprach(lern)bewusstheit verfügen sowie höhere und schnellere Leistungen erzielen (Hufeisen 2003: 97). Sprachen und Sprachlernerfahrungen wurden dementsprechend in den letzten Jahren insbesondere in der Mehrsprachigkeits- und Tertiärsprachenforschung als wesentliche fremdsprachenspezifische Einflussfaktoren für das Erlernen von Fremdsprachen erkannt (vgl. Faktorenmodell von Gibson & Hufeisen 2003: 18). Der Begriff „mehrsprachige Kompetenz“, den der GeR (↗ Art. 18) geprägt hat, unterstreicht diese Dimension. Mehrsprachigkeit bedeutet nicht mehr lediglich die „Beherrschung“ mehrerer isoliert gelernter Sprachen, sondern sie umfasst auch die Kompetenz, mit bereits gemachten Spracherfahrungen umzugehen und sie auf das Lernen weiterer Sprachen zu transferieren (Christ 2006: 50). 3. Praxisrelevanz Wie Behr (2015: 12) am Beispiel des Russischen zurecht erörtert, erfordert die Entwicklung von Sprachlernkompetenz und Sprachenbewusstheit sprachenübergreifende Lehr- und Lernarrangements im Einzelsprachenunterricht, die Lernende anregen: • sprachliche Phänomene bewusst, d. h. mit erhöhter Aufmerksamkeit, wahrzunehmen; • Einzelphänomene aus komplexen Zusammenhängen zu isolieren, mit vorhandenen Sprachbeständen in der deutschen Sprache, ggf. in ihrer Herkunftssprache, und der/ den anderen erlernten Fremdsprache/ n sowie anderen verwandten Sprachen zu vergleichen, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu suchen; • sinnvoll Vergleichbares zu erkennen; • Erklärungshypothesen auf der Grundlage von Vorwissen zu entwerfen; • Hypothesen zu überprüfen; • ihre Vorgehensweise und Ergebnisse zu dokumentieren, zu präsentieren und darüber zu reflektieren. (ebd.) Diese Ausführungen machen deutlich, dass sich Sprachlernkompetenz auf der Basis von language learning awareness entwickelt. Sie umfasst nach Sinclair (2000) im Idealfall die drei folgenden Bereiche, welche bei der Förderung von Sprachlernkompetenz systematisch berücksichtigt werden sollten: • learner awareness bzw. Lernerbewusstheit • subject matter awareness bzw. Sprachenbewusstheit • learning process awareness bzw. Lernprozessbewusstheit (vgl. auch Martinez 2015). Learner awareness (Who and why? ) attitudes beliefs cultural context expectations learning approach learning style motivation needs political context preferred environment experiences with languages etc. Subject matter awareness (What? ) language systems language varieties similarities and differences between first and target languages social appropriacy <?page no="136"?> 127 22. SprachlernkompetenzundMehrsprachigkeit cultural appropriacy pragmatics etc. Learning process awareness (How? ) activity evaluation strategy evaluation self-assessment goal-setting learning monitoring monitoring progress organizing (time, resources, environment) awareness and exploitation of available resources etc. (In Anlehnung an Sinclair 2000: 9) Lernerbewusstheit bezieht sich auf den Lerner als Individuum und die individuellen Faktoren, die seinen Fremdsprachlernprozess wesentlich beeinflussen. Lernerbewusstheit umfasst den Bereich der Volitionalität bzw. des savoir-être (attitudes) , speziell die Bereitschaft und Fähigkeit des Lerners, über seine Motivation, seine Einstellungen, seine (Lerner-) Rolle im Lehr- und Lernprozess (und bei der Bearbeitung von Aufgaben) sowie über seine persönlichen und favorisierten Lernwege und Lernerstrategien wie auch Lernstile und Sprach(en)lernerfahrungen zu reflektieren. Sprachenbewusstheit umfasst die „Sensibilität für und das Nachdenken über Sprache und sprachlich vermittelte Kommunikation“ und ermöglicht, dass Schüler, „ihre Einsichten in Struktur und Gebrauch der Zielsprache und anderer Sprachen nutzen, um mündliche und schriftliche Kommunikationsprozesse sicher zu bewältigen“ (KMK 2012: 24). Im weitesten Sinne bedeutet Sprachenbewusstheit, dass Lerner „Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Beziehungen zwischen Sprachen erkennen und reflektieren [können]“ (ebd.: 24). In der Praxis heißt dies, dass im Rahmen von sprachenübergreifenden Ansätzen (Spanisch als 3. Fremdsprache nach Französisch oder Französisch / Spanisch als 2. Fremdsprache nach Englisch) Lernende angeregt werden sollten, Gemeinsamkeiten zwischen Sprachen zu erkennen und zu reflektieren und dieses Wissen und Können als gezielte Lese-, Lern- oder Kommunikationsstrategie zu verwenden (↗ Art. 86). Hier werden auch „Verbindungen zur Pragmalinguistik und zur intrawie interkulturellen Differenzierung deutlich“ (Burwitz-Melzer 2012: 29). Das Vergleichen als grundlegendes Merkmal mehrsprachigkeitsdidaktischen Lernens erklärt, weshalb dieser Ansatz auch eine wirksame fehlerprophylaktische Strategie ist. Lernprozessbewusstheit bezieht sich auf den Prozess des Fremdsprachenlernens und bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft des Lerners, den fremdsprachlichen Lernprozess metakognitiv zu steuern und zu regulieren. Von besonderer Bedeutung erscheint mir in diesem Zusammenhang die „activity evaluation“ (Sinclair 2000) bzw. die Aufgabenevaluation zu sein. Sie geht mit der Fähigkeit der Lernenden einher, den eigenen Aufgabenlösungsprozess (Planung, Durchführung und Evaluation) zu reflektieren und zu regulieren. Darüber hinaus erlaubt sie den Lernenden, über die Relevanz der jeweiligen Aufgaben für den individuellen Lernprozess nachzudenken und an der Gestaltung des eigenen Lernprozesses mitzuwirken (Martinez 2017). Empirische Untersuchungen legen den Schluss nahe, wonach „Teaching goal setting and task classification can suddenly change a classroom from one where the students are disinterested and poor performers to one where everyone is involved in completing a task - a teacher’s dream. The studies show that students found that teaching Goal Setting and TA [Task Analysis] provides an amazing classroom trans- <?page no="137"?> 128 HélèneMartinez formation (…)“ (Rubin 2015: 78; auch Beckmann 2016). Die Thüringer Lehrpläne (↗ Art. 21) für den Unterricht in Deutsch und in den Fremdsprachen (2011) greifen systematisch und konsequent die Entwicklung von Sprachlernkompetenz und Mehrsprachigkeit auf mit der Einführung eines verbindlichen Lernbereichs „über Sprache, Sprachverwendung und Sprachenlernen reflektieren“. Damit stehen sie exemplarisch für die konsequente Förderung von Sprachlernkompetenz und Mehrsprachigkeit in der Sekundarstufe I (vgl. für Hessen Strathmann 2016). 4. Perspektiven Die Fokussierung auf den Einzelnen als reflexiver Mehrsprachenverwender und Lerner verweist auf eine neue Dimension im Mehrsprachigkeitsdiskurs. Wie Blell & Doff (2014: 2) betonen, „[markiert] diese veränderte Zielsetzung die Wendung von einer standardbasierten Defizitorientierung von Mehrsprachigkeit hin zum Sprecher als einem sprachlich und kulturell geprägten Individuum“. Diese Wende ist verbunden mit einer „Demokratisierung“ des Konzepts (Coste 2013: 38) und stellt herrschende Praktiken und Vorstellungen in Frage. Die Implikationen der Mehrsprachigkeitsförderung für den schulischen (Fremdsprachen)Unterricht liegen auf der Hand: Das Ziel kann nicht länger in der isolierten Vermittlung von zwei, drei oder mehr Fremdsprachen bestehen (↗ Art. 14). Vielmehr gilt es, eine mehrsprachige Kompetenz bzw. ein sprachliches Repertoire zu entwickeln, in dem allen sprachlichen Ressourcen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler eine besondere Funktion zukommt (vgl. Europarat 2001: 17). Die Gestaltung eines solchen sprachenübergreifenden (Fremdsprachen)Unterrichts, der sowohl Schulfremdsprachen als potenziell auch migratorische Sprachen einschließt und diese als Ressource betrachtet, stellt einen Paradigmenwechsel im Fremdsprachenunterricht dar, von dem der Europarat anmerkt, dass „er noch genauer herausgearbeitet und in praktisches Handeln übertragen werden [muss]“ (ebd.). Bei diesem Prozess sollten die Sprachlernkompetenz und ihre Förderung eine Schlüsselfunktion einnehmen. Literatur Bär, M. (2009): Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10 . Tübingen. Beckmann, C. (2016): Lernziele im Fremdsprachenunterricht. Eine quantitative Analyse der Einstellungen von Schülern und Studierenden. Tübingen. Behr, U. (2015): Sprach(en)bewusstheit und Sprachlernkompetenz. Ihre Bedeutung für das Sprachenlernen. In: Praxis Fremdsprachenunterricht 4, 11-13. Blell, G. & Doff. S. (Hrsg.) 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Portfolios können in einem Lernbereich und für eine kurze Phase oder über einen längeren Zeitraum und verschiedene Lernbereiche hinweg, auch sprachenübergreifend, eingesetzt werden. Neben der pädagogischen Funktion, mit der Lernprozesse unterstützt und lebenslanges Lernen angelegt werden sollen, dienen sie in der Dokumentationsfunktion auch der Sichtbarmachung nach außen, zum Beispiel bei einem Schulwechsel. Relevant für den Fremdsprachenunterricht sind vor allem das Europäische Sprachenportfolio (ESP) (Europarat o. J.), offene Portfolioformen sowie Portfolios in der Aus- und Weiterbildung von Lehrenden, z. B. das European Portfolio for Student Teachers of Languages (EPOSTL) (vgl. Newby et al. 2007) und das Lehramtsportfolio für Fremdsprachenlehrkräfte (vgl. Burwitz-Melzer 2004). Die verbreitetste Portfolioform ist das ESP, das ein Instrument der Europäischen Sprachenpolitik (↗ Art. 12) ist und sich am Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen der Sprachen (GeR) orientiert (↗ Art. 18). Die Idee eines ESP wurde 1991 im Zuge der Präsentation des GeR auf dem Rüschlikon-Symposium vorgestellt und das erste Portfoliomodell 2001 veröffentlicht. In den darauffolgenden Jahren wurden 118 Modelle für unterschiedliche Länder und Zielgruppen akkreditiert. Das ESP enthält 1. einen Sprachenpass, in dem Lernende einen jeweils aktuellen Überblick über ihr sprachliches Profil darstellen, 2. eine Sprachenbiografie, in der sie u. a. ihren Sprachstand anhand von Deskriptoren des GeR selbst einschätzen sowie <?page no="140"?> 131 23. PortfolioimKontextvonMehrsprachigkeit 3. ein Dossier, in dem Beispielarbeiten gesammelt werden, die den Sprachstand und kulturelle Lernerfahrungen der Lernenden dokumentieren. Das ESP wurde als Instrument zur Förderung der Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7) und des lebenslangen Fremdsprachenlernens sowie zur Stärkung einer europäischen Identität der europäischen Bürgerinnen und Bürger entwickelt (vgl. Europarat online o. J.). Es ist so angelegt, dass darin mehrere Sprachen aus dem individuellen Repertoire der Lernenden abgebildet werden können. Bei dem zugrundeliegenden Verständnis von Mehrsprachigkeit ist auffällig, dass die Kompetenzbeschreibungen von einzelsprachlichen Fähigkeiten ausgehen und sich dabei vor allem auf autochthone europäische Sprachen (↗ Art. 117) beziehen (vgl. Little im Druck). Ein Verständnis von Mehrsprachigkeit als integriertes Sprachensystem hat sich hier (noch) nicht niedergeschlagen. Außerdem werden Herkunftssprachen und die Zielgruppe der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit bislang kaum einbezogen (vgl. Langner im Druck). Im Vergleich zu offenen Portfolioformen, die in der Regel ohne Vordrucke auskommen, weist das ESP durch die vorgegebene Aufteilung, umfangreiche Vordrucke und die Orientierung an den Deskriptoren des GeR eine höhere Standardisierung auf (↗ Art. 18). Allerdings sind für alle Portfolioformen ein flexibler Einsatz sowie eine spezifische Ausgestaltung je nach Unterrichtskontext, Zielgruppe und Zielsetzung vorgesehen. 2. Verbreitung und Verwendung Zunächst fanden Portfolios in den 1980er Jahren in den USA als writing portfolios Eingang in den Unterricht. Die Arbeitsweise knüpft an kognitivistische, konstruktivistische und interaktionistische Lerntheorien an, indem Bewusstmachung und Reflexion eine zentrale Rolle einnehmen, individuelle Lernprozesse betont und von der Lehrperson unterstützend begleitet werden und der Austausch mit Mitlernenden und mit der Lehrperson ein wichtiges Element darstellt, beispielsweise in Portfoliogesprächen oder in Peer-Feedback-Szenarien. Offene Portfolioformen, wie beispielsweise Projekt-, Schreib- oder auch Leseportfolios, spielen im Fremdsprachenunterricht gegenüber dem ESP eine untergeordnete Rolle. Dieses fand nach seiner Einführung relativ schnell Eingang vor allem in den schulischen Fremdsprachenunterricht und schlug sich auch in den gängigen Lehrwerken nieder, die zur Portfolioarbeit anregen und die jeweils zugeordneten Deskriptoren in Checklisten anbieten. Während der GeR in Europa und darüber hinaus weiterhin an Bedeutung gewinnt, konnte sich das ESP nicht in der erwarteten Form durchsetzen. Hierfür werden verschiedene mögliche Gründe diskutiert, z. B. die Vernachlässigung der pädagogischen Funktion zugunsten der Dokumentationsaufgabe (vgl. Ballweg / Stork 2008), Schwierigkeiten, die spezifische Arbeitsweise des ESP mit bestehenden Curricula in Einklang zu bringen, sowie unzureichende Unterstützung von Lehrenden und Institutionen bei der Einführung (vgl. Little im Druck). 3. Forschungsstand Empirische Studien zeigen, dass Portfolioarbeit die Reflexionsfähigkeit von Fremdsprachenlernenden unterstützen und ihr Strategienrepertoire (↗ Art. 44) erweitern kann <?page no="141"?> 132 SandraBallweg (vgl. z. B. Häcker 2007; Kolb 2007). Die Arbeit mit dem Instrument wird von Lernenden und Lehrenden grundsätzlich als autonomiefördernd wahrgenommen, wobei sie das Portfolio und seine Möglichkeiten jeweils vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erwartungen und Vorstellungen unterschiedlich interpretieren und ausgestalten (vgl. z. B. Ballweg 2015; Kolb 2007). Lernende nehmen Portfolioarbeit auch als aufwändig und fremd wahr und beurteilen sie v. a. dann positiv, wenn der vorgeschlagene Umgang mit dem Instrument den eigenen Zielen und Erwartungen, den persönlichen Eigenschaften, der individuell bevorzugten Arbeitsweise sowie den institutionell wie auch kulturell geprägten Lerngewohnheiten der Lernenden entgegenkommt. Für die didaktische Ausgestaltung bedeutet dies, dass Lehrende gefordert sind, ein auf die Zielgruppe angepasstes Konzept der Portfolioarbeit zu entwickeln und gleichzeitig ausreichend Offenheit und Wahlfreiheiten zu schaffen, um den Lernenden eine individuelle Ausgestaltung zu ermöglichen (vgl. Ballweg 2015). 4. Praxisrelevanz Während Portfolios auch im Kontext alternativer Leistungsfeststellungsverfahren (↗ Art. 50) und in Hinblick auf die Dokumentationsfunktion diskutiert werden, liegt das größte Potenzial in der pädagogischen Funktion und damit in der Förderung von Mehrsprachigkeit, Autonomie und Reflexionsfähigkeit. In Einklang mit aktuellen Tendenzen im Fremdsprachenunterricht sind für diese Arbeitsweise kooperative Lernformen sowie die zeitliche, methodische und inhaltliche Öffnung des Unterrichts kennzeichnend. Portfolioarbeit kann in Bezug auf die Sichtbarmachung und Förderung der Mehrsprachigkeit der Lernenden einen wichtigen Beitrag leisten, wobei dies auch der Kooperation der Lehrenden und der Heranführung der Lernenden an eine sprachenübergreifende Sichtweise bedarf. Eine Voraussetzung für den Einsatz von Portfolios sind die Möglichkeit und die Fähigkeit der Lehrperson, das Instrument an die Rahmenbedingungen sowie an die individuellen Bedürfnisse anzupassen. Dabei bietet es sich an, nicht top down komplexe Konzepte in den Unterricht zu integrieren, sondern vielmehr gewünschte portfolionahe Arbeitsweisen und Funktionen im Unterricht zu stärken oder sie neu einzuführen und diese in einem Portfolio zu bündeln. 5. Perspektiven Während das ESP nach seiner Einführung zunächst auf großes Interesse stieß, hat dies in den vergangenen Jahren wieder nachgelassen, wozu die Komplexität des Instruments für Lehrende und Lernende, die Schwierigkeiten bei der Integration in den Unterricht und bei der Vereinbarkeit von Portfoliogedanken und curricularen Gegebenheiten sowie bestehenden Lernkulturen beigetragen haben (vgl. Little im Druck). Mit der Einführung des Companion Volumes (Council of Europe 2018) sind einige Chancen, aber auch Herausforderungen für das ESP verbunden (↗ Art. 19): Durch ein Verständnis von Mehrsprachigkeit, das weniger additiv und an einer monolingualen Norm orientiert ist, kann auch in Portfolios den vielfältigen Formen von Mehrsprachigkeit der Lernender besser entsprochen werden, nicht zuletzt durch den Einbezug von Erst- und Herkunftssprachen (↗ Art. 100, 106). Allerdings würde das eine grundsätzliche Überarbeitung der bereits akkreditierten Portfoliomodelle sowie neue Überlegungen zu einer sprachen- <?page no="142"?> 133 24. Mehrsprachigkeitin WirtschaftundBeruf übergreifenden Arbeitsweise für die Praxis voraussetzen. In dieser Umbruchphase besteht außerdem die Chance, die pädagogische Funktion gegenüber der dokumentarischen zu stärken und das Instrument zu reduzieren oder zu entzerren, wobei offene Portfolioformen beispielgebend sein können. Darüber hinaus ist weiterführende Forschung dringend notwendig: Von empirisch untermauerten Deskriptoren des GeR könnten auch die darauf beruhenden Selbsteinschätzungsvorlagen profitieren. Weitere relevante Forschungsbereiche sind beispielsweise die Perspektive und Arbeitsweisen der Lehrenden und die Möglichkeiten einer sprachenübergreifenden Arbeitsweise. Literatur Ballweg, S. (2015): Portfolioarbeit im Fremdsprachenunterricht. Eine empirische Studie zu Schreibportfolios im DaF-Unterricht . Tübingen. Ballweg, S. & Kühn, B. (Hrsg.) (im Druck): Portfolioarbeit im Kontext von Sprachenunterricht . Göttingen. Ballweg, S. & Stork, A. (2008): DaF-Lehrende und das Europäische Sprachenportfolio. In: InfoDaF- 4, 390-400. Burwitz-Melzer, E. (2004): Das Lehramtsportfolio für Fremdsprachenlehrkräfte (LAPF): auf dem Weg zum ‚reflective practitioner‘. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 15/ 1, 143-157. Council of Europe (2018): Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment. Companion Volume with New Descriptors. [https: / / rm.coe.int./ cefr-comanion-volume-with-new-descriptors-2018/ 1680787989]. Europarat (Hrsg.) (o. J.): European Language Portfolio (ELP). [https: / / www.coe.int/ en/ web/ portfolio]. Häcker, T. (2007): Portfolio: Ein Entwicklungsinstrument für selbstbestimmtes Lernen. Eine explorative Studie zur Arbeit mit Portfolios in der Sekundarstufe I . 2. Aufl. Baltmannsweiler. Kolb, A. (2007): Portfolioarbeit. Wie Grundschulkinder ihr Sprachenlernen reflektieren . Tübingen. Langner, M. (im Druck): Portfolio und Mehrsprachigkeitsförderung. In: Ballweg & Kühn (Hrsg.). Little, D. (im Druck): The European Language Portfolio: Past Success, Present Reality, Future Prospects. In: Ballweg & Kühn (Hrsg.). Newby, D., Allan, R., Fenner A.-B. et al. (2007): EPOSA. Europäisches Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung . Graz. [http: / / archive. ecml.at/ mtp2/ publications/ c3_epostl_d_internet.pdf]. Paulson, F., Paulson, P. & Meyer, C. (1991): What Makes a Portfolio a Portfolio? Eight Thoughtful Guidelines Will Help Educators Encourage Self-Directed Learning. In: Educational Leadership 5, 60-63. Sandra Ballweg 24. Mehrsprachigkeit in Wirtschaft und Beruf Eine erste Episode soll eingangs illustrieren, dass auch scheinbar von fast allen geteilte Überzeugungen nicht als gegeben angenommen werden sollten. Als vor mehr als 15 Jahren ein großer südwestdeutscher Energieversorger mit einem französischen Großkonzern und Quasimonopolisten im Energiebereich fusionierte, wurde Englisch (↗ Art. 13, 98), nicht Deutsch oder Französisch als Konzernsprache festgelegt. Man folgte dem Beispiel vieler internationaler Unternehmen wie Siemens, VW <?page no="143"?> 134 HermannFunk u. a. Die Zahl der Englischkurse stieg in dem südwestdeutschen Unternehmen drastisch an. In der praktischen Kooperation zeigte sich aber bald, dass entgegen der Annahmen und ursprünglichen gegenseitigen Versicherungen („Wir sprechen Englisch“) der kooperierenden Managementebenen weder auf deutscher, noch auf französischer Seite die Englischkompetenzen für exakte Vereinbarungen und reibungslosen Kommunikationsfluss im Alltagsgeschäft ausreichten. In der Folge stieg zuerst der Bedarf an Übersetzern und Dolmetschern und schließlich auf deutscher Seite auch die Nachfrage nach firmeninternen Französischkursen, nicht immer mit dem Ziel berufsspezifische Kommunikation, sondern eher mit der Intention der Teilnehmenden, in direkten Kommunikationssituationen nicht sprachlos zu sein (↗ Art. 103). Die zweite Episode etwa aus der gleichen Zeit zum Thema „Mehrsprachigkeit“ stammt nicht aus der Managementebene, sondern aus der Produktion. Ein deutscher Automobilkonzern fertigte in seinem Werk in der Nähe von Lissabon zwei Modelle, deren Motoren aus einem norddeutschen Zulieferwerk kamen. Es gab Probleme mit der Passung und die Direktive des Managements, getreu der Devise „unsere Konzernsprache ist Englisch“, dieses Problem auf Englisch zu lösen. Auch hier stellte sich rasch heraus, dass dies nicht durchführbar war. Weder in der norddeutschen Produktionsstätte noch bei den portugiesischen Kollegen war die Kompetenz vorhanden, ein technisches Problem auf Englisch zu beschreiben, bzw. zu verstehen. Im vorliegenden Fall war die kostengünstigste Lösung, die portugiesischen Kollegen soweit zu schulen, dass sie in der Lage waren, eine begrenzte Anzahl an Fehlern auf Deutsch zu beschreiben. Beide Episoden illustrieren Entwicklungen in den Bereichen der berufsbezogenen Sprachkompetenz im Kontext mit der Weiterentwicklung der industriellen Produktionsformen anschaulich. Starre Vorgaben zum Sprachgebrauch und einer vermeintlichen lingua franca werden komplexen und international diversifizierten Produktionsvorgängen und Kommunikationsanforderungen nicht mehr gerecht. Notwendig sind stattdessen konkrete, fallspezifische Bedarfsanalysen und passgenaue Lösungen. Die Internationalisierung der Industrie hat die regional-komplementäre Produktion, wie sie in der Episode 2 zu besichtigen ist, zum Regelfall gemacht. Das gilt ausweislich der Unternehmensstrukturen besonders in Westeuropa. Die Produktionsform löst damit das traditionelle Export / Import-Modell ab, das in der Regel durch eine Konzentration auf Sprachexpertinnen und Sprachexperten („Fremdsprachenkorrespondentin“) und auf bi-nationale, vor allem schriftliche Kontakte gekennzeichnet ist. In den großen Export-orientierten Nationalökonomien ist dieses Modell vor allem noch bei KMUs (Kleine und mittlere Unternehmen) verbreitet. Die Globalisierung hat in der Konsequenz zu einer horizontalen (mehr Themen), vertikalen (Sprachbedarf auf allen Unternehmensebenen) und qualitativen (interkulturelle Kompetenz in direkten Kontaktsituationen) Ausweitung der sprachlichen Kompetenzanforderungen geführt (Deutscher Volkshochschulverband & Goethe Institut 1995: 14 ff.). Dabei ist die lingua franca Englisch (↗ Art. 13, 98) zwar vor allem in den höheren Hierarchie-Ebenen der Unternehmen von Bedeutung. Sie deckt aber nur einen kleinen Teil unternehmensinterner und -externer Kommunikationsbedarfe ab. Die wachsende Arbeitsmigration innerhalb Europas - in der Regel von Süd nach Nord und von Ost nach West - hat zudem insbesondere in Europa, aber nicht nur dort, sowohl in <?page no="144"?> 135 24. Mehrsprachigkeitin WirtschaftundBeruf KMUs als auch in großen Firmen zu mehrsprachigen Belegschaften geführt, ohne dass diese Potenziale firmenintern systematisch gepflegt oder gar gefördert würden. Auch hier ist die Reichweite einer lingua franca sehr begrenzt, die Sprache des Produktionsstandortes dagegen ist das wichtigste firmeninterne Kommunikationsmittel sowohl in Bezug auf fachlich-berufliche Kommunikation als auch in Bezug auf die zunehmend wichtige Arbeit in internationalen Teams und zur Etablierung und Aufrechterhaltung kollegial-sozialer Kommunikation. In einer nicht-publizierten, internen Erhebung der ERFA-Wirtschaft- Sprache (www.erfa-wirtschaft-sprache.de) in Deutschland im Jahre 2016 spiegelt sich diese Entwicklung in der Stagnation der Anzahl der Englischkurse (auf hohem Niveau), vor allem aber im Anstieg der Kurse anderer Sprachen mit der stärksten Steigerung für Chinesisch. Die erste und bisher weltweit einzige große Studie zur Lage der beruflichen Mehrsprachigkeit, die ELAN-Studie (CILT 2006), wurde durch das inzwischen aufgelöste EU-Kommissariat für Mehrsprachigkeit (↗ Art. 12) in Auftrag gegeben. Sie bestand u. a. aus einer Befragung mit bis zu 100 KMU aus jedem Land und 30 großen Unternehmen in europäischen Ländern. Im Anschluss daran erfolgte eine Befragung einflussreicher Persönlichkeiten, wie z. B. Leiter von Industrie- und Handelskammern. Die Erhebung erfolgte mittels Fragebogen und telefonischen Interviews. Die Ergebnisse belegen trotz forschungsmethodischer Mängel - die Auswahlkriterien der Interviewpartner bleiben unklar und die Rückmeldungen aus dem deutschsprachigen Raum blieben z. B. spärlich - die beschriebenen Entwicklungen anschaulich und zeigen Strategien zur Optimierung auf. Das wichtigste Ergebnis der Studie ist, dass europäische Firmen nach eigener Einschätzung durch mangelnde Sprachkenntnisse Umsatzverluste in vielfacher Millionenhöhe durch fehlende Kompetenzen verzeichnen. So gaben 11 % der 2000 befragten Unternehmen an, Aufträge wegen mangelnder Sprachkenntnisse verloren zu haben. 10 Unternehmen gaben eine Auftragssumme von über einer Million an. Dabei waren fehlende Englischkompetenzen in Wort und Schrift aus Sicht der Firmen nur in weniger als 20 % der Verlust-Fälle ursächlich. Vor allem mangelnde Französisch-, Spanisch-, Russischbzw. Chinesisch-Kenntnisse waren in den restlichen 80 % der Fälle Gründe gewesen (vgl. CILT 2006: 22). Die Studie lässt auf ein differenzierteres Bild des Sprachbedarfs in Europa schließen, in dem einer lingua franca nur eine begrenzte Funktion zukommt. In der Außenkommunikation von Unternehmen spielt neben der Umgebungssprache die Sprache (und Kultur) der Kunden eine wesentliche Rolle, sowie im höheren Management vor allem das Englische. Dabei ist ggf. die regionale Mehrsprachigkeit ein wesentlicher Faktor der Personalentwicklung und der Kundenansprache. Auch die Binnenkommunikation in größeren Unternehmen ergibt ein differenzierteres Bild. Die durch Migration geprägten Belegschaften sind mehrsprachig und die Kommunikation am Arbeitsplatz erfolgt nicht immer in der Standortsprache des Unternehmens, deren Kenntnis allerdings unabdingbar ist, besonders im fachsprachlichen Kontext und als Sprache der Qualifikation (Berufsabschlüsse, Weiterqualifikation). Internationale Produktionsstandorte und Vertriebsstrukturen führen zu höherer Mobilität und damit Expat / Impat-Bewegungen mit erhöhtem Sprachenbedarf. Diese Entwicklung kann als funktional ausdifferenzierte Mehrsprachigkeit bezeichnet werden. Die ökonomische Bedeutung von Mehrsprachigkeit in Europa ist besonders sichtbar in <?page no="145"?> 136 HermannFunk den Grenzregionen, den „EUREGIOs“ (↗ Art. 101). Die 1995 gegründete Region Saar-Lor- Lux verzeichnet beispielsweise aktuell über 200.000 grenzüberschreitende Pendler pro Tag, deren Wohnort-Sprache sich von der Sprache am Arbeitsplatz unterscheidet (Wille 2015). Die Pflicht zur europaweiten Ausschreibung von öffentlichen Aufträgen hat zudem den Sprachbedarf bei Klein- und mittleren Unternehmen steigen lassen. Der Mangel an Auszubildenden in Deutschland und die zumeist vergeblichen Versuche der Werbung um Nachwuchs in benachbarten Grenzregionen verdeutlichen auch, dass allgemeine und berufsschulische Konzepte mit den ökonomischen Entwicklungen nicht Schritt gehalten haben. Im deutsch-niederländischen Konzeptpapier der EUREGIO wird die Voraussetzung grenzüberschreitender Kooperation so formuliert: “ …dass Kompetenzen für den interkulturellen Dialog vorhanden sind, wozu neben der Beherrschung der lingua franca Englisch die Kenntnis der Nachbarsprache, das Wissen über das Nachbarland und interkulturelle Kompetenzen gehören“. Die Forderung nach bilingualen Kindergärten, Netzwerken und Informationsportalen, grenzüberschreitenden Schulpartnerschaften und schulischer Kooperation (gemeinsame Klassenfahrten) haben Fortschritte gebracht, die allerdings in manchen Grenzregionen weiter vorangeschritten sind als in anderen (zur deutsch-tschechischen Grenz- und Schulsituation: vgl. Spaniel-Weise 2018). Besonders in den ökonomischen Fortschritten und Strukturproblemen in den Euregios wird sichtbar, dass die schulischen Konzepte - trotzt aller ermutigenden Einzelbeispiele in Europaschulen und Grenzregionen- und die Konzepte in der Ausbildung von Lehrkräften mit diesen Entwicklungen nicht Schritt gehalten haben. Nicht nur in den Berufsschulen, aber dort besonders, fehlen Lehrkräfte mit einer mehrsprachigen fremd- und zweitsprachendidaktischen Ausbildung, die auf die Erfordernisse des mehrsprachigen Berufslebens in Europa angemessen vorbereitet werden (Funk & Kuhn 2010). Auf einer vom damaligen EU-Mehrsprachigkeitskommissariat im September 2007 veranstalteten Konferenz zur beruflichen Mehrsprachigkeit in Europa war eine der beiden Leitfragen „Sind die nationalen Erziehungs- und Ausbildungssysteme in der Lage, dynamische Unternehmen mit einer ausreichenden Anzahl von Menschen mit den benötigten Kompetenzen zu versorgen? “ Diese Frage muss auch 10 Jahre später noch verneint werden. Literatur CILT (Hrsg.) (2006): ELAN: Auswirkungen mangelnder Fremdsprachenkenntnisse in den Unternehmen auf die europäische Wirtschaft . London. [http: / / ec.europa.eu/ assets/ eac/ languages/ policy/ strategic-framework/ documents/ elan_de.pdf]. Davignon, E., Albrink, W., Dyremose, H. et al. (2008): Languages Mean Business. Recommendations from the Business Forum for Multilingualism Established by the European Commission . Brussels. [http: / / ec.europa.eu/ dgs/ education_culture/ repository/ languages/ library/ documents/ davignon_en.pdf]. Deutscher Volkshochschulverband e. V. & Goethe Institut (Hrsg.) (1995): Das Zertifikat Deutsch für den Beruf . München. Euregio2020 (Hrsg.) (2012): Unsere Strategie für morgen. Onze strategie voor morgen . [https: / / www.euregio.eu/ sites/ default/ files/ downloads/ EUREGIO2020_de.pdf]. Funk, H. & Kuhn, C. (2010): Berufsorientierter Fremdsprachenunterricht. In: W. Hallet & F. G. Königs (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik . Seelze, 316-321. <?page no="146"?> 137 24. Mehrsprachigkeitin WirtschaftundBeruf Spaniel-Weise, D. (2018): Europäische Mehrsprachigkeit, bilinguales Lernen und Deutsch als Fremdsprache. Längsschnittstudien zum Nachbarsprachenlernen im ostsächsischen Grenzraum . Berlin. Wille, C. (2015): Lebenswirklichkeiten und politische Konstruktionen in Grenzregionen. Das Beispiel der Großregion SaarLorLux: Wirtschaft - Politik - Alltag - Kultur . Bielefeld. Hermann Funk <?page no="148"?> 25. Lehrkompetenz und Förderung von Mehrsprachigkeit Die Entscheidung zur Förderung von Mehrsprachigkeit kann nicht folgenlos bleiben. Sie zieht zwangsläufig Konsequenzen nach sich, die den Fremdsprachenunterricht auf mehreren Ebenen betreffen (müssen). Im Folgenden soll es um die Auswirkungen gehen, die sich aus dem Votum für Mehrsprachigkeit für die Lehrperspektive ergeben können oder ergeben sollten. Sie betreffen zum einen die Tätigkeit der Lehrkraft selbst und damit die Frage, welche Aufgaben auf sie zukommen, wenn sie bei der Förderung von Mehrsprachigkeit erfolgreich sein will (vgl. 1). Zum Zweiten resultiert daraus aber auch die Frage, wie eine angemessene Ausbildung fremdsprachlicher Lehrkräfte vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen um eine veränderte Lehrerbildung konturiert sein könnte (vgl. 2). Abschließend soll ein Fazit aufzeigen, wie ein möglicher Neuansatz aussehen könnte (vgl. 3). 1. Die Sache mit der Lehrkompetenz Die fremdsprachendidaktische Diskussion der letzten Jahre wurde u. a. von der Kompetenzfrage mitgeprägt. Der Ansatz der Kompetenzorientierung (↗ Art. 43) bemüht sich darum, Unterricht vom Ergebnis her zu betrachten, also von dem, was bei den Lernenden ankommt und verfügbar ist und nicht vom lehrerseitigen Input her. Ein Wesensmerkmal dieser Diskussion ist u. a., dass nunmehr der Kompetenzbegriff als stets im Raum stehend eine terminologische Dominanz entfaltet: Hörverstehens-, Schreib- oder Lesekompetenz werden dabei ebenso häufig angeführt wie Textsorten-, soziale oder interaktionale Kompetenz, um nur wenige Beispiele zu nennen. In der Zwischenzeit ist darauf verwiesen worden, dass die bis dato propagierte Lernerorientierung möglicherweise mit dafür verantwortlich ist, dass Person und Rolle der fremdsprachlichen Lehrkräfte aus dem Blick der Forschung geraten sind (vgl. z. B. Königs 2014; 2016). Das ändert sich übrigens nicht zuletzt durch Publikationen der fächerübergreifenden Schulpädagogik (↗ Art. 16) und die von ihr ausgelöste und mitgeprägte Profes- E Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität lehren <?page no="149"?> 140 FrankG.Königs sionalisierungsdebatte (vgl. z. B. Hericks 2006; Roters 2012; Horn 2016) und führt auch in der Fremdsprachendidaktik (↗ Art. 17) zu einem geänderten Blick auf das Forschungsfeld (vgl. z. B. Burwitz-Melzer, Riemer & Schmelter 2018). Nun kann man mit guten Gründen bedauern, dass diese Debatte trotz gegenteiliger Bemühungen um terminologische Differenzierung zumindest unausgesprochen den Schluss nahelegt, dass die zuvor ausgebildeten und tätigen Lehrpersonen eben „unprofessionell“ sind bzw. weniger Professionalität in ihrer Ausbildung angetroffen haben. Das entbindet aber nicht von der Verpflichtung darüber nachzudenken, welche Voraussetzungen Lehrkräfte erfüllen müssen, wollen sie in einem auf Mehrsprachigkeit ausgelegten Fremdsprachenunterricht erfolgreich lehren (↗ Art. 27). Worin besteht also Lehrkompetenz bzw. worin könnte sie bestehen? Wenn Mehrsprachigkeit (↗ Art. 6, 7) dem Fremdsprachenunterricht eine neue Qualität verschaffen soll, muss gefragt werden, welche veränderten Aufgaben damit für die Fremdsprachenlehrkraft verbunden sind. Aus dieser Frage kann zunächst abgeleitet werden, dass die Kompetenzorientierung die aktive und methodisch abgesicherte Gestaltung des Unterrichts nicht in die Hand der Lernenden legt, sondern die Verantwortung dafür beim Lehrenden belässt. Begründen lässt sich dies nicht zuletzt mit seinem Wissen über das Funktionieren von Sprachenlernen und über die (möglichen) Beziehungen zwischen den beteiligten Sprachen. Dabei stellt sich für den Lehrenden eine Vielzahl von Aufgaben, denen er versuchen sollte, möglichst ausgewogen und umfassend gerecht zu werden. Zu diesen Aufgaben zählt u. a. • die Beziehungen zwischen den Sprachen sichtbar machen, • auf die Beziehungen zwischen den Sprachen neugierig machen, • für unterschiedliche Zugangsweisen unterschiedlicher Lerner sensibilisieren, • Transparenz für diese Unterschiede schaffen, • Hilfestellungen beim Aktivieren vorhandener (sprachlicher und sprachlernbezogener) Wissensbestände schaffen, • variantenreich vorgehen, • eigene Erfahrungen transparent machen, • Flexibilität in Bezug auf das Vorgehen, das Interpretieren von Vorwissen und ein ausgewogenes Verhältnis von Fördern und Fordern. In der unterrichtspraktischen Umsetzung muss dies u. a. führen zu: • abwechslungsreichen Aufgaben, • Offenheit für lernerseitige Lösungswege (nicht die Lösungen dürfen offen sein, wohl aber die Wege des Einzelnen, um zu dieser Lösung zu gelangen, • Freiraum für Lernerfahrungen und den systematischen Austausch darüber, • Thematisierung der Reflexivität und Selbständigkeit der Lernenden und ebenso beständige wie systematische Einforderung dieser Haltung, • Kontakt zu einer für die Adressaten authentischen und realistischen mehrsprachigen Interaktionskultur. Dabei gilt, dass dieser Aufgabenkatalog mit zunehmender Zahl der beteiligten Sprachen und sprachlichen Vorwissensbestände immer komplexer wird. Erfüllen können wird man ihn vor allem dann, wenn die Ausbildung die zukünftigen fremdsprachlichen Lehrkräfte angemessen darauf vorbereitet. Damit sind wir bei der grundsätzlichen Frage der Fremdsprachenlehrer(aus)bildung. <?page no="150"?> 141 25. LehrkompetenzundFörderungvonMehrsprachigkeit 2. Ausbildung von Fremdsprachenlehrkräften Hier gilt es zunächst, einige Bemerkungen zum aktuellen Stand der Diskussion um Lehrerbildung zu machen (2.1). Im Anschluss daran ist zu fragen, in welche Richtung die fremdsprachliche Lehrerausbildung verändert werden müsste, um dazu beizutragen, Mehrsprachigkeit zu fördern (2.2). 2.1. Aktuelle Tendenzen in der Lehrerbildung - einige Anmerkungen Es wäre übertrieben, würde man behaupten, dass Fragen der Lehrerbildung die staatliche Schul- und Bildungspolitik dauerhaft zu innovativen Konzepten und Anregungen führen. Zutreffender scheint die Interpretation, dass aktuelle, zumeist quantitative Befunde eher zu hektisch anmutendem Aktionismus führen. Aktuelles Beispiel im Sommer 2018 ist die eigentlich nicht überraschende Feststellung, dass in der Bundesrepublik eine so große Zahl an schulischen Lehrkräften fehle, dass der Bildungsnotstand drohe. Dies führt den amtierenden KMK-Vorsitzenden zu der Idee, auf die Trennung nach Schularten in der Lehrerbildung zu verzichten - eine Idee, die seitens anderer Bildungsorganisationen wie dem Philologenverband mit guten Argumenten rundherum abgelehnt wird. Immerhin räumt die Politik jetzt ein, dass sie eine Entwicklung völlig „verschlafen“ habe. Inhalte spielen bei dieser Position eine geringere Rolle, es geht vielmehr um strukturellen Aktionismus. Das Beispiel macht deutlich, dass Lehrerbildung seitens politischer Entscheidungsträger nicht konsequent inhaltlich, sondern allenfalls sporadisch-quantitativ behandelt wird. Dieser Missstand wird durch die Bildungshoheit der einzelnen Bundesländer eher gefördert als gehemmt. So verwundert das Fehlen eines einheitlichen inhaltlichen Konzepts für Lehrerbildung nicht. Jedes Bundesland verfolgt seine eigenen Vorstellungen (↗ Art. 21) und jeder Ausbildungsstandort - ob 1. oder 2. Phase - interpretiert diese Vorstellungen vor dem Hintergrund der eigenen Konzepte und Ressourcen. Für die konkrete Ausbildung in der universitären Phase bedeutet dies z. B. das Aussortieren von Fachwissenschaften, Fachdidaktiken und Erziehungswissenschaften, nicht jedoch unbedingt eine inhaltliche Festlegung dieser Disziplinen auf obligatorische Ausbildungsprofile. Wir haben es also aktuell bundesweit gesehen mit einer Art Gemischtwarenladen zu tun - sicherlich kein Ruhmesblatt für die deutsche Bildungs- und Schulpolitik. Wenn man vor diesem Hintergrund über einen die Mehrsprachigkeit fördernden Fremdsprachenunterricht nachdenkt, muss gleichzeitig mitbedacht werden, was dies strukturell-konzeptionell und inhaltlich für eine zeitgemäße und angemessene Ausbildung von Fremdsprachenlehrkräften bedeuten könnte. 2.2. Fremdsprachenlehrerausbildung für einen auf Mehrsprachigkeit zielenden Fremdsprachenunterricht Ein auf Mehrsprachigkeitsförderung gerichteter Fremdsprachenunterricht erfordert eine Verständigung über das, was wir mit ‚Mehrsprachigkeit‘ meinen: Denken wir an die Beherrschung zweier oder mehr schulischer Fremdsprachen oder haben wir auch und vielleicht vor allem eine ausgangskulturell geprägte Mehrsprachigkeit im Auge? Aktuelle schuldemographische Entwicklungen lassen es geraten erscheinen, beide Formen bei unseren curricularen Überlegungen zu bedenken (↗ Art. 110). Dies sollte in der Summe zu <?page no="151"?> 142 FrankG.Königs Konzepten für die Ausbildung fremdsprachlicher Lehrkräfte führen, in der die folgenden Aspekte einen integrativen Bestandteil darstellen sollten, die hier allerdings nur schlagwortartig benannt werden können. Angehende Fremdsprachenlehrkräfte sollten • eine Einheit über Grundsätze des Fremdsprachenlernens absolvieren, • eigene Lernerfahrungen bei der Aneignung einer für sie neuen Fremdsprache systematisch reflektieren lernen (vgl. dazu schon Meißner et al. 2001), • forschendes Lehren und Lernen für Mehrsprachigkeit theoretisch durchdringen und praktisch umsetzen, • sich mit Fragen der Alphabetisierung und ihren Folgen für das Fremdsprachenlernen beschäftigen, • einen Überblick über kulturspezifische Elemente des Lernens erhalten, • damit vertraut gemacht werden, die (sprachlichen) Primärerfahrungen von Schülern und Schülerinnen zu ermitteln und in den unterrichtlichen Lehr- und Lernprozess zu integrieren, • lernen, bei den Schülerinnen und Schülern Offenheit, Selbständigkeit und Eigentätigkeit lernerangemessen zu fördern (vorzugsweise in Kooperationsveranstaltungen mit Pädagogen und Psychologen), • in Kooperation mit Sprachwissenschaftlern und Fremdsprachendidaktikern erfahren und reflektieren, welche Beschreibungsmöglichkeiten es für vergleichbare sprachliche Erscheinungen in unterschiedlichen Sprachen gibt. Selbstverständlich muss darüber hinaus eine so orientierte Lehrerausbildung literatur- und landeskundliches Grundlagenwissen (↗ Art. 35, 42) in seiner Bedeutung für die Förderung von Mehrsprachigkeit enthalten. Die curriculare Gewichtung aller genannten inhaltlichen Themen wäre noch detailliert zu entwickeln. Die Benennung dieser Themen sollte lediglich die Richtung andeuten, in die bei der konzeptionellen Entwicklung zu denken ist. Es sollte dabei deutlich geworden sein, dass die unterrichtliche Fokussierung auf Mehrsprachigkeit zu einem anderen Fremdsprachenunterricht führt; deren Sicherstellung sollte auf einer systematischen und wissenschaftlich abgesicherten Grundlage und unter möglichst großer Berücksichtigung von in der ersten Ausbildungsphase verankerten Anteilen eigenen unterrichtlichen und forschenden Handelns durch die angehenden Fremdsprachenlehrkräfte erfolgen. Der Vorschlag abstrahiert bewusst von Aussagen über die Dauer der Ausbildung nicht zuletzt angesichts eines ständig sich steigernden Anforderungskatalogs für Schule und Unterricht. 3. Fazit: Was folgt daraus für eine Neuorientierung der Fremdsprachenlehrerausbildung? Förderung von Mehrsprachigkeit durch Fremdsprachenunterricht ist nicht zum Nulltarif zu haben! Sie macht nicht nur einen veränderten Unterricht, sondern eine veränderte Ausbildung erforderlich, wie die vorangehenden Ausführungen - hoffentlich - gezeigt haben. Es würde allerdings für eine Art Betriebsblindheit sprechen, würde man curriculare Neuansätze ausschließlich bezogen auf Mehrsprachigkeit hin denken. Andere Fokussierungen sind möglich und haben ebenfalls denkbare Begründungen für ihre Realisierung auf ihrer Seite: Bilinguales Lernen (↗ Art. 111, 116), Digitalisierung, Inklusion oder auch Informationstechnologie (↗ Art. 102) sind nur wenige Stichworte, die als Grundlage der Neuorientierung von Schule, Unterricht im <?page no="152"?> 143 26. Lehr-undlernseitigeEinstellungenzusprachenübergreifendenAnsätzen Allgemeinen, Fremdsprachenunterricht im Speziellen und Lehrerbildung genügen mögen. Dabei liegt beinahe auf der Hand, dass ein einziger Ausbildungsgang schwerlich in der Lage sein dürfte, all diese gesellschaftlich berechtigten Anforderungen gleichermaßen zu erfüllen, schon gar nicht im bisher üblichen Zeitrahmen. Vielleicht benötigen wir vielmehr Lehrer, die sich in der Ausbildung ein spezifisches Profil erworben haben. Was spricht gegen Lehrerbildungskonzepte, die zu unterschiedlichen Profilen führen und dem angehenden Lehrenden diese spezielle Profilbildung anbieten, mit ihm umsetzen und zertifizieren? In der Konsequenz bedeutet dies allerdings auch eine klare Absage an den Einheitslehrer, wie er offenbar dem aktuellen KMK-Vorsitzenden vorschwebt. Stattdessen folgt daraus vielmehr die Notwendigkeit, qualitative Aspekte einer Lehrerbildungsreform den rein quantitativ-instrumentellen Überlegungen überzuordnen. Auch und gerade die Förderung von Mehrsprachigkeit sollte uns das aber Wert sein! Auch und gerade um den Preis einer Konsolidierung und vielleicht auch Verlängerung der Ausbildung! Literatur Burwitz-Melzer, E., Riemer, C. & Schmelter, L. (Hrsg.) (2018): Rolle und Professionalität von Fremdsprachenlehrpersonen. Arbeitspapiere der 38. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen. Hericks, U. (2006): Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe. Rekonstruktionen zur Berufseingangsphase von Lehrerinnen und Lehrern. Wiesbaden. Horn, K.-P. (2016): Profession, Professionalisierung, Professionalität, Professionalismus. Historische und systematische Anmerkungen am Beispiel der deutschen Lehrerbildung. In: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 68/ 2, 153-164. Königs, F. G. (2014): War die Lernerorientierung ein Irrtum? Der Fremdsprachenlehrer im Kontext der Sprachlehrforschung. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 43/ 1, 66- 80. Königs, F. G. (2016): Der Fremdsprachenlehrer: Das unbekannte Wesen? - Was wir trotz Lehrerorientierung über Fremdsprachenlehrkräfte wissen könnten (und vielleicht auch wissen sollten). In: F. Klippel (Hrsg.): Teaching Languages - Sprachenlehren . Münster, 59-73. Meißner, F.-J., Königs, F. G., Leupold, E. et al. (Red.) (2001): Zur Ausbildung von Lehrenden moderner Fremdsprachen. In: F. G. Königs (Hrsg.): Impulse aus der Sprachlehrforschung - Marburger Vorträge zur Ausbildung von Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern. Tübingen, 159-181. Roters, B. (2012): Professionalisierung durch Reflexion in der Lehrerbildung. Eine empirische Studie an einer deutschen und einer US-amerikanischen Universität . Münster. Frank G. Königs 26. Lehr- und lernseitige Einstellungen zu sprachenübergreifenden Ansätzen 1. Aufriss Der Begriff „sprachenübergreifende Ansätze“ impliziert, dass diese mehr als eine Sprache umfassen. Sprachübergreifende Ansätze sind eng verknüpft mit dem Konzept der Mehr- <?page no="153"?> 144 ChristineBeckmann sprachigkeit (↗ Art. 6, 7). Von Mehrsprachigkeit wird in der Regel gesprochen, wenn dritte oder weitere Sprachen im Spiel sind. Was Mehrsprachigkeit im Kontext des Fremdsprachenerwerbs heißt und vernüftigerweise heißen sollte, definierte 1989 ein Expertengremium so: daß unter Mehrsprachigkeit nicht zu verstehen ist, man müsse mehrere Sprachen gleichermaßen beherrschen. Als mehrsprachig darf schon der bezeichnet werden, der auf der Basis der Kenntnis seiner Muttersprache eingeschränkte Kenntnisse in wenigstens zwei weiteren Sprachen entweder in gleichen oder verschiedenen Diskursbereichen hat (um z. B. soziale Kontakte in gesprochener oder geschriebener Sprache aufzunehmen oder Texte lesen oder Fachgespräche führen zu können). (Bertrand & Christ 1990: 208) Die Definition nimmt Abschied von der naiven und ohne empirische Evidenz herrschenden Vorstellung, Mehrsprachige könnten alle ihre Sprachen in gleicher Weise zu denselben Themen, mit demselben Kompetenzniveau beherrschen. Sprachenübergreifende Ansätze gehen den Mehrsprachenerwerb lernökonomisch an. Sie verfolgen das Ziel, lernerseitig vorhandene Sprachkenntnisse und Sprachlernstrategien für das Erlernen weiterer Fremdsprachen fruchtbar zu machen. Es handelt sich um ein vernetzendes Lernen (↗ Art. 56). Mehrsprachigkeit ist jedoch nicht nur Ziel des Fremdsprachenunterrichts, sie ist zugleich auch eine Voraussetzung, auf die der Fremdsprachenunterricht an deutschen Schulen aufbauen kann. Dies meint die den Lernenden schon bekannten Sprachen und Varietäten: die in der Gesellschaft mehrheitlich gesprochene Sprache (z. B. Deutsch in Deutschland), die autochthonen Sprachen (↗ Art. 117), die Dialekte (↗ Art. 126) und die Herkunftssprachen (↗ Art. 106), die in Zahl und Art die Schulen vor besondere Probleme stellen. Angestrebt wird ein Fremdsprachenunterricht, der die Zielvorstellung eines allenfalls additiven Verständnisses des Mehrsprachenerwerbs durch ein integriertes Konzept ersetzt (Krumm 2004). Vor diesem Hintergrund entstand der Begriff der Sprachlernkompetenz. Es handelt sich um einen Handlungsbegriff, der Sprachenbewusstheit und Sprachlernbewusstheit (↗ Art. 22) voraussetzt. Ihm zufolge ist ein kompetenter Fremsprachenlerner in der Lage, Sprachen reflexiv zu lernen. Hierbei greift das Individuum auf Wissensressourcen zurück, die es im Umgang mit Sprachen, ihrem Erwerb und mit Kommunikation in ihnen erworben hat. In der sog. Wissensgesellschaft kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass einmal in Schule und Ausbildung erworbenes Wissen ausreicht, um den Anforderungen der Arbeitswelt zu genügen (Europäische Kommission 1996). Die Wissengesellschaft ist eine Lerngesellschaft. Dass unter den Bedingungen der Globalisierung und des Europäischen Zusammenschlusses gerade kommunikative Kompetenzen in mehreren Sprachen vielseitige Anschlussfähigkeit gegenüber fremden Kulturen und Wirtschaftsräumen (↗ Art. 24) herstellen, ist augenfällig. 2. Lehrseitige Einstellungen zu sprachübergreifenden Ansätzen Und dennoch: Immer noch ist die Auffassung anzutreffen, dass die Schüler durch das Erlernen einer einzigen Fremdsprache bereits maximal belastet würden; sie „würde[n] von weitergehenden Hinweisen auf andere Spachen verwirrt und überfordert“, konstatiert <?page no="154"?> 145 26. Lehr-undlernseitigeEinstellungenzusprachenübergreifendenAnsätzen eine Lehrerin in einer Untersuchung zur Einstellung von Lehrenden zur Mehrsprachigkeit (Méron-Minuth 2016: 40). Dabei sind die Einstellungen der Lehrerinnen und Lehrer, die sie ja im Unterricht an die Schüler weitergeben, mitentscheidend für deren Haltung gegenüber dem Erlernen von Sprachen und der Mehrsprachigkeit. Weitere wichtige, in empirischen Arbeiten wiederholt genannte Faktoren betreffen das Unterrichtserlebnis; den Wunsch, die Fremdsprache für Studium und Beruf zu nutzen; den Wunsch, mit den Menschen der Zielkultur zu kommunizieren - um nur die wichtigsten Argumente zu nennen (Meißner, Beckmann & Schröder-Sura 2008: 70 f., 87 f.), Beckmann 2016: 296, 235 ff.). Beispielhaft für das Unterrichtserlebnis ist der Indikator des von den Lernenden angestrebten Kompetenzprofils im Vergleich zu den Prioritäten, wie sie in der Wahrnehmung der Lerner im Unterricht gesetzt werden. Hier besteht eine deutliche Diskrepanz (Beckmann 2016: 242, 299). Sprachenübergreifende Ansätze setzen lehr- und lernseitig eine hohe Kompetenz voraus. Zunächst müssen die Lernenden auf sprachlicher Ebene hinreichend Transferbasen (und Interferenzen) aus den wesentlichen Bereichen der sprachlichen Architekturen erkennen, um disambiguierende Sprachvergleiche vornehmen und solche in ihre Lehre aufnehmen zu können. Und lehrseitig heißt das Korollar der Sprachlernbewusstheit Sprachlehrbewusstheit. Hieraus ergibt sich die Forderung an die für die Ausbildung der Fremdsprachenlehrkräfte verantwortlichen Institutionen, Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 27) in die fremdsprachlichen Lehramtsstudiengänge zu integrieren (Kleppin 2004: 92). Außerdem müssen sie nicht nur für den eigenen Unterricht Verantwortung übernehmen, sondern die Grenzen des eigenen Raumes für die anderen Sprachen und Kollegen/ Kolleginnen öffnen. Sie übernehmen Verantwortung nicht nur für das Sprachenlernen der Lerner in „ihrer“ Fremdsprache, sondern für den Erwerb von Mehrsprachigkeit und die Ausbildung kompetenter Fremdsprachenlerner, nicht „nur“ kompetenter Englisch-, Französisch-, Spanisch- und Polnischlerner. 3. Lernseitige Einstellungen zu sprachübergreifenden Ansätzen Es wurde erwähnt, dass unterschiedliche Faktoren die Einstellung der Schüler zu Sprachen und Sprachenlernen beeinflussen. Hierzu gehört auch die Sprachenfolge. So wies Düwell bereits (1979) nach, dass die Motivation, Französisch in zweiter Position zu lernen, durch vorausgehenden Englischunterricht geschmälert wird. Düwell spricht von „negativer motivationaler Interferenz“. In heutiger Betrachtung stellt sich die Frage, ob ein auf den Französisch- (oder Italienischunterricht) ‚vorbereitender‘ Englischunterricht die Motivation für Mehrsprachigkeit verbessern könnte. Des Weiteren, ob die in 2. Position unterrichteten Sprachen es verstehen, die Vorarbeit des Englischunterrichts zu nutzen (↗ Art. 14). Zu fragen ist auch, ob ein Gespräch über Mehrsprachigkeit und Sprachlernkompetenz und deren Bedeutung für die Zukunft der Schülerinnen und Schüler überhaupt geführt wird. In den letzten Jahrzehnten wurden mehrere qualitative und quantitative Studien zu den Kompetenzniveaustufen der Schüler vorgelegt - darunter DESI (Schröder, Harsch & Nold 2006) und TOSCA (Köller et al. 2003). Beide Studien betreffen nur das Englische. Der Grund ist, dass die anderen Fremdsprachen (sieht man von wenigen Schulen ab) in Breite und Dauer nicht hinreichend unter- <?page no="155"?> 146 ChristineBeckmann richtet werden, um Leistungsstudien sinnvoll erscheinen zu lassen. Im deutschsprachigen Raum liegen kaum statistische Arbeiten zu Attitüden bzw. Einstellungen, Motivation und Erfahrungen und dem Unterrichtserlebnis von Schülern mit Fremdsprachenunterricht vor. Die Studie von Beckmann (2016: 317f., 325f.) deutet darauf hin, dass die befragten Schüler und Studierenden über eine geringe Sprachlernkompetenz verfügen. Es konnte exemplarisch nur gezeigt werden, dass sie weder selbst über Zielsetzungskompetenz verfügen noch die Lehrziele im Unterricht wahrnehmen. Letzeres ist selbstverständlich ein Indikator, der von zwei Komponenten beeinflusst wird: einerseits von der klaren Darstellung der Ziele im Fremdsprachenunterricht und andererseits von der Fähigkeit, diese Lehrziele wahrzunehmen, zu verstehen und im eignen Lernhandeln umzusetzen. In der Wahrnehmung der Studierenden waren Methoden und das selbstständige Sprachenlernen nicht Gegenstand des Unterrichts (ebd.: 298). Morkötter (2005: 254) beschreibt das Interesse der Lerner in Jgst. 10, sich mit dem eigenen Sprachenlernen auseinanderzusetzen. Darüber hinaus betont sie, dass die grundlegende Bereitschaft zum interlingualen Vergleich eine explizite Auseinandersetzung mit dem Thema im Unterricht voraussetzt (Morkötter 2005: 290f.). Die MES-Studie (Meißner et al. 2008) und die schon erwähnte Untersuchung von Beckmann zeigen deutlich, dass die Lerner großes Interesse am Erwerb mehrerer Sprachen haben. So äußerten sich die Befragten in beiden Studien und über alle Altersstufen (in der MES-Studie wurden Schüler der Jgst. 5 und 9 befragt, Beckmann (2016) befragte Schüler der Jgst. 12/ 13 und Studierende verschiedener Hochschulen) hinweg sehr positiv gegenüber ihrem zukünftigen Fremdsprachenerwerb. Zwar nahm die Bereitschaft, mehr als eine weitere Sprache zu erlernen, mit steigendem Alter ab, gleichzeitig verfügten die Befragten jeder Alterstufe über Kenntnisse in zumindest einer weiteren Fremdsprache. Diese Bereitschaft, weitere Fremdsprachen auch über den schulischen Kontext hinaus zu erlernen, macht einen sprachübergreifenden Ansatz und die damit einhergehende Förderung der language awareness und des Sprachlernbewusstseins (↗ Art. 22) zu einer zentralen Anforderung an den modernen Fremdsprachenunterricht. Literatur Bausch, K.-R., Königs, F. G. & Krumm, H.-J. (Hrsg.) (2004): Mehrsprachigkeit im Fokus. Arbeitspapiere der 24. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen Beckmann, C. (2016): Lernziele im Fremdsprachenunterricht. Eine quantitative Analyse der Einstellungen von Schülern und Studierenden. Tübingen. Bertrand, Y. & Christ, H. (Koord.) (1990): Vorschläge für einen erweiterten Fremdsprachenunterricht. In: Neusprachliche Mitteilungen 43, 208-212. Düwell, H. (1979): Fremdsprachenunterricht im Schülerurteil. Untersuchungen zu Motivation, Einstellungen und Interessen von Schülern im Fremdsprachenunterricht, Schwerpunkt Französisch. Tübingen. Europäische Kommission (Hrsg.) (1996): Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft . Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung. [http: / / europa.eu/ documents/ comm/ white_papers/ pdf/ com95_590_ de.pdf]. Kleppin, K. (2004): Mehrsprachigkeitsdidaktik = Tertiärsprachendidaktik? Zur Verantwortung jeglichen (Fremd-) Sprachenunterrichts für ein Konzept von Mehrspra- <?page no="156"?> 147 27. MehrsprachigkeitsdidaktikalsGegenstandderLehrerbildung chigkeit. In: Bausch, K.-R., Königs, F. G. & Krumm, H.-J. (Hrsg.), 88-95. Köller, O., Waterman, R., Trautwein, U. & Lüdtke, O. (2003): TOSCA-- Eine Untersuchung zu allgemeinbildenden und beruflichen Gymnasien. Opladen. Krumm, H.-J. (2004): Von der additiven zur curricularen Mehrsprachigkeit. In: Bausch, K.-R., Königs, F. G. & Krumm, H.-J. (Hrsg.), 105-112. Meißner, F.-J., Beckmann, C. & Schröder-Sura, A. (2008): Mehrsprachigkeit fördern. Vielfalt und Reichtum Europas in der Schule nutzen (MES); zwei deutsche Stichproben einer internationalen Studie in den Klassen 5 und 9 zu Sprachen und Fremdsprachenunterricht. Tübingen. [http: / / www1-uni-giessen.de/ rom-didaktik/ Multilingualism/ ]. Méron-Minuth, S. (2016): Fremdsprachenlehrkräfte und ihre Einstellungen zu der Frage der Mehrsprachigkeit im Unterricht. In: französisch heute 47/ 3, 36-41. Morkötter, S. (2005): Language Awareness und Mehrsprachigkeit. Eine Studie zu Sprachbewusstheit und Mehrsprachigkeit aus der Sicht von Fremdsprachenlernern und Fremdsprachenlehrern. Frankfurt a. M. Schröder, K., Harsch, C. & Nold, G. (2006): DESI - Die sprachpraktischen Kompetenzen unserer Schülerinnen und Schüler im Bereich Englisch. Zentrale Befunde. In: Neusprachliche Mitteilungen 59/ 3, 11-32. Christine Beckmann 27. Mehrsprachigkeitsdidaktik als Gegenstand der Lehrerbildung 1. Aufriss Als eine Fächer- und Sprachen übergreifende - transversale - Didaktik teilt die Didaktik der Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7) und, in ihrem Kern, die der Interkomprehension die Erkenntnisse der einschlägigen Professionsforschung (z. B. Schocker-v. Dithfurt & Legutke 2006) und die hieraus folgenden Ansprüche an die Qualität von Fremdsprachenunterricht sowie an die Lehreraus- und -fortbildung. Dies betont u. a. das reflexive Lehren und Lernen ( Task Based Learning, Scaffolding, learner as a researcher u. a. m.). Alle diese Ansätze stehen in engem Bezug zum Konzept des autonomen Lernens (Holec 1979). Sie geben Antworten auf die Desiderata der Wissensgesellschaft in einer globalisierten Welt, in der weltweite Kommunikation und der Umgang mit Vielsprachigkeit eine Alltagserfahrung von immer mehr Menschen sind (Kommission 1996). Die Entwicklung löst eine Phase ab, in der das den Fremdsprachenunterricht und die Lehrerausbildung der 1. und 2. Phase tragende öffentliche Schulwesen nahezu ausschließlich nationalstaatlich orientiert war. Der Unterricht entsprach weniger dem Wunsch nach Kommunikationsfähigkeit in der Zielsprache als einer Ideologie der formalen, national geprägten Bildung. Diese Situation ist heutzutage zunehmend obsolet. Solange weder die Lernpsychologie noch die Spracherwerbsforschung existierten, fußte die Theorie des Unterrichts auf praktischen Erfahrungen. Entsprechend war die Lehrerbildung. Mit der Entwicklung der Unterrichtstechnologie, der zunehmenden plurilokalen <?page no="157"?> 148 Franz-JosephMeißner Lebenspraxis, der angewachsenen Auslandserfahrung und der Rückbindung des Unterrichts an wissenschaftliche Paradigmen wie Behaviorismus und Strukturalismus sowie an die sich weiterentwickelnde Sprachwissenschaft gewann die kommunikative Fremdsprachendidaktik Auftrieb. Allerdings blieb sie naiv an der Fiktion des ‚nativen Sprechers‘ orientiert, ohne auf die begrenzten Möglichkeiten des Fremdsprachenerwerbs außerhalb des zielsprachlichen Raums zu blicken. Das Dogma der ‚strengen Einsprachigkeit‘ tat ein Übriges, und die sog. „Systemtheorie“ betonte die Rolle des formalen Fehlers infolge von Interferenz oder negativem Transfer. Mehrsprachigkeit war kein explizites Lernziel; strenge, zielsprachliche Einsprachigkeit hingegen ein Ziel der Lehrerbildung. Die Voraussetzung für eine Weiterentwicklung wurde vor allem durch die „Entdeckung“ der Interlanguage gelegt. Im Kontext der Schulfremdsprachen tauchte Mehrsprachigkeit explizit nicht auf, gedacht allenfalls additiv. Die zunehmenden Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften mit dem Gebot des vernetzenden Lernens blieben ebenso lange Zeit unberücksichtigt wie die Ergebnisse der Forschungen zur (fremdsprachlichen) interkulturellen Kommunikation (↗ Art. 33). Die Richtlinien der fremdsprachendidaktischen Lehrerbildung zeigen auch heutzutage noch Mängel. 2. Methodische Eckpunkte der Mehrsprachigkeitsdidaktik “The most important single factor in influencing learning is what the learner already knows." Der Satz des amerikanischen Psychologen David Ausubel (1968 : vi) benennt eine der wichtigsten Grundlagen der Mehrsprachigkeitsdidaktik. Er gilt für alle unter dem Lemma „Mehrsprachigkeitsdidaktik“ begegnenden Ansätze des übergreifenden und vernetzenden Sprachenlernens: Interkomprehension und lebensweltliche Mehrsprachigkeit (↗ Art. 100) mit ihren Perspektiven auf Mehrheits-, Herkunfts- und sog. autochthonen Sprachen (↗ Art. 117). 2.1. Der interkomprehensive Ansatz Es geht im Kern darum, das lernerseitig vorhandene lernrelevante Wissen, verfügbar zu machen und es mit neuem Wissen zu verknüpfen. Beide Domänen begegnen beim Vergleichen von Strukturen, Bedeutungen und Funktionen korrespondierender Elemente aus verschiedenen Sprachen einerseits und der Aufmerksamkeit für die eigenen Lernhandlungen andererseits. Dies betrifft das Abklären lernersprachlicher Hypothesen zur Zielsprache im Kontrast zu der/ den Brückensprache(n) und der Zielsprache bzw. die Disambiguierung von Strukturen des mehrsprachigen mentalen Lexikons (↗ Art. 62) und dessen partielle Neuformierung. Hier liegt der Grund, weshalb interkomprehensive Verfahren die Sprachlernkompetenz in starker Weise fördern, wie vielfach gezeigt wurde. - Allerdings: Die traditionelle Fixierung auf den Erwerb nur einer einzigen Zielsprache fördert die Strategie des Sprachvergleichs nur inzidentell. Ihr Beitrag zur Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) ist daher gering. Als eine transversale Didaktik ist das sprachenübergreifende und vernetzende Lernen unterschiedlich einsetzbar: als Kurs zum Erwerb mehrsprachiger Lesekompetenz innerhalb einer Sprachfamilie, als Einführungsphase in eine zweite Sprache einer selben Familie (↗ Art. 91, 97), auf der Mikroebene der methodischen Steuerung als Strategienrepertoire zur Disambiguierung sprachlicher <?page no="158"?> 149 27. MehrsprachigkeitsdidaktikalsGegenstandderLehrerbildung Strukturen. Es entspricht der Transversalität des Ansatzes, wenn angehende Lehrerinnen und Lehrer nicht nur fremder Sprachen die entsprechenden inhaltlichen Qualifikationen erwerben, um auf die vorhandene Mehrsprachigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler eingehen zu können. Hierzu zählt zentral die Mehrsprachigkeit des Lehrpersonals selbst. 2.2. Lebensweltliche Vielsprachigkeit Lerner „mit Migrationshintergrund“ machen einen Großteil der deutschen Schülerschaft aus - 38,1 Prozent ist ihr Anteil an den unter Fünfjährigen (Bundeszentrale 2017: 5). Die Sprachen der Immigration - weit über Hundert - genießen ein höchst unterschiedliches Prestige in der Mehrheitsgesellschaft: Hunderten von bilingualen Schulen mit Englisch oder Französisch stehen nur wenige für die exotischen Sprachen der Immigration gegenüber. Lebensweltliche Vielsprachigkeit bzw. in der Perspektive der Individuen Zwei- oder Mehrsprachigkeit unterscheidet sich von den sprachenübergreifenden Lehransätzen u. a. dadurch, dass sie sich mit tieferen Dimensionen des Menschseins verbindet (↗ Art. 1, 28). Es begegnet das Spannungsfeld unterschiedlicher Identitätsangebote zwischen der Herkunfts- und der Aufnahmekultur. Integration kann konfliktiv oder integrativ und bereichernd erlebt werden, als Bruch oder als Kontinuum. Dies ist nicht ohne Folge für das Erlernen der Sprache der Mehrheitsgesellschaft oder die Pflege der Herkunftssprachen (Sprachloyalität) in der zweiten oder gar dritten Generation von Migranten. Dass, deren Bleibewille vorausgesetzt, die Sprache des aufnehmenden Landes auf nativem Niveau erworben werden muss, verbindet sich eng mit dem Ziel eines gelingenden Lebens in der Zielgesellschaft, vor allem in Ausbildung, Beruf und darüber hinaus. Bzgl. der Herkunftssprachen nimmt der 10. Jahresbericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration den Wunsch des Beirates der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration auf, bleibt jedoch hinsichtlich der Umsetzung vergleichsweise vage: Neben dem Erwerb der deutschen Sprache solle auch die Herkunftssprache der Eltern gewürdigt werden, da ihr Erlernen für die interkulturelle Identitätsentwicklung der Kinder unabdingbar und Mehrsprachigkeit zudem Bestandteil einer weltoffenen Gesellschaft sei. (Bundesregierung 2016: 312) Demgemäß versucht das Schulwesen angesichts der Vielzahl der ganz unterschiedlichen Sprachen und den begrenzten Kapazitäten der Schulen, die dilemmatische Situation zu lindern. Faktisch wird die Pflege der Herkunftssprachen (↗ Art. 107; 108) weitgehend dem in den Bundesländern sehr unterschiedlich dimensionierten herkunftssprachlichen Unterricht (durch herkunftssprachige Lehrkräfte), den Migrantenorganisationen und vor allem den eingewanderten Familien überlassen. Die äußerst heterogene Gemengelage erklärt, weshalb praktische Ansätze zur lebensweltlichen Mehrsprachigkeit nahezu einseitig auf Einstellungen und Haltungen (Offenheit, Empathie, plurikulturelle Sensibilität u. a. m.) abzielen. Besonders betrifft dies die frühe Begegnung mit der Viel- und der Mehrsprachigkeit (Kita, nur wenigen Sprachen vorbehaltener herkunftssprachlicher Unterricht; Apeltauer 2009). Die Vielsprachigkeit qua Migration erklärt, weshalb auch keine oder kaum konkrete Sprachcurricula oder Methoden für den Erwerb und die Pflege der Herkunftssprachen vorliegen (Ausnahme: Doyé 2009; Doyé et al. 2011). Dabei wird wissen- <?page no="159"?> 150 Franz-JosephMeißner schaftlich davon ausgegangen, dass sich die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Kinder mit Vorteilen für das Sprachenlernen und das Lernen überhaupt verbindet - bzw. deren Nichtbeachtung durch die Schule mit deutlichen Nachteilen (Baur 2001). Begriffe wie Migrationsbevölkerung fassen überdies Gruppen mit erheblicher ethnischer, sprachlicher, kultureller oder religiöser Differenz und voneinander abweichenden Interessen. Auch dies erklärt die Schwierigkeit der Bereitstellung angemessener herkunftssprachlicher und herkunftskultureller Lernangebote. 2.3. Autochthone Zwei- oder Mehrsprachigkeit Die Territorien der europäischen Nationalstaaten sind keine einheitlichen Sprachgebiete und die Grenzen zwischen Sprachen und Dialekten sind nicht trennscharf. In Deutschland und den meisten EU-Ländern genießen die seit jeher angesiedelten Sprachen Minderheitenschutz, wie es zuletzt die European Charter for Regional or Minority Languages betont, unterzeichnet von Europarat am 5. November 1992. Allerdings schützt die Charta weder die Migrantensprachen noch die Dialekte, selbst wenn deren Sprecher deutlich die Zahl der Teilhaber autochthoner Sprachen übersteigt. In den deutschen Gebieten haben die betroffenen Sprachen - Sorbisch, Friesisch, Dänisch, Romanes - oft eigene Institutionen, die sich der Weitergabe der Sprache an die nächste Generation widmen (↗ Art. 121-125). Die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte, die i. d. R. der entsprechenden Sprachgemeinschaft angehören, ist nicht einheitlich geregelt. 3. Prinzipien der mehrsprachigkeitsdidaktischen Lehre Die Anforderungen an die Lehrerausbildung stehen und fallen mit den anerkannten Lernzielen und der entsprechenden Qualifikation der Lehrerinnen oder Lehrer. 3.1. Anforderungen an die Lehrerausbildung als Bedingungen für die Förderung sprachenübergreifenden Lernens und der Sprachlernkompetenz Sprachenübergreifende Spracharbeit verlangt von den Lehrkräften im Prinzip, dass sie möglichst eindeutig die Sprachlernprozesse ihrer Schülerinnen und Schüler erkennen, analysieren und dem Unterricht zuführen (können). Es kommt also nicht nur darauf an, formale Fehler zu benennen (zur Disambiguierung offener Sprachfragen erfüllt dies durchaus seinen Zweck), sondern deren Entstehung mit Blick auf die mentalen Prozesse de Lerner nachzuvollziehen. Hierzu ist die Fähigkeit erforderlich, entsprechende Strategien und Formate zielführend einzusetzen: Laut-Denk-Protokoll, Analysen zur Erschließung zielsprachlicher Strukturen bzw. zum intelligent guessing , Erstellung und Überprüfung der lernersprachlichen Hypothesengrammatik(en), diagnostisches Schreiben u. a. m. (↗ Art. 71, 84, 85) sowie Mehrsprachigkeit zu testen (↗ Art. 83). Was die sprachlichen Schemata (Transferbasen) angeht, so werden diese von den lernerseitig vorhandenen Sprachenkenntnissen gestellt: deutsche Mutter- oder Zweitsprache, Englisch, oft Französisch oder Latein und weitere sowie den schon vorhandenen Kenntnissen der Zielsprache. Eine Öffnung zu den Migrantensprachen ist erwünscht. Dem von der Europäischen Union definierten mehrsprachigen Minimum kann lehrseitig <?page no="160"?> 151 27. MehrsprachigkeitsdidaktikalsGegenstandderLehrerbildung zumindest tendenziell entsprochen werden, wenn neben der deutschen Sprache die gängigen Schulfremdsprachen den Lehrkräften in ihren Grundzügen bekannt sind, so dass sie Transferbasen aus den voraus gelehrten Sprachen erkennen und nutzen können. (Natürlich ist eine weiter gehende Sprachenkenntnis wünschbar.) Dies verlangt die Integration zumindest eines entsprechenden Moduls in die Ausbildung der Ersten Phase bzw. ein verstärktes Angebot einschlägiger Fortbildungen für Lehrende der deutschen Mutter- oder Zweitsprache und der Fremdsprachen. Hilfreich hierbei sind neben den EuroCom-Konzepten (↗ Art. 67; 68) ein Gesamtsprachencurriculum (↗ Art. 14), das die einzelzielsprachlichen nicht ersetzt, sondern im Sinne der Mehrsprachigkeit ergänzt. 3.2. Lebensweltliche Viel- und Mehrsprachigkeit sowie autochthone Sprachen Vorab: Dass Lehrerinnen und Lehrer selbstredend der schülerseitigen Mehrsprachigkeit Wertschätzung entgegenbringen, sollte eine Selbstverständlichkeit sein, die hier nicht eigens ausgebreitet werden muss. Der didaktische Zugriff auf die lebensweltliche Vielsprachigkeit greift weit über die konkrete Spracherwerbsarbeit und den Sprachunterricht hinaus. Es handelt sich um eine Transversalaufgabe des Bildungswesens, an der eine Vielzahl von Schulfächern beteiligt sind. Dies ändert sich, wenn die gesellschaftliche Vielsprachigkeit auf individuelle Mehrsprachigkeit ‚reduziert‘ wird und damit konkrete Zielsprachen benannt werden. In diesen Fällen greift die fremdsprachendidaktische Methodik mit ihren sehr unterschiedlich weit geöffneten Angeboten. Lehrziele wie interkulturelle Kompetenz in Abstufung nach Altersstufen und Lerngruppen (Empathie, Offenheit gegenüber fremden Sprachen und Kulturen, Bereitschaft zur Revision des eigenen Standpunktes, Kritikfähigkeit gegenüber eigen- und fremdkulturellen Positionen, Hineinnahme und Aufwertung von Themen aus der einen oder anderen Herkunftskultur in den Klassenraumdiskurs) legen keine zielsprachlichen Progressionsmuster nahe. Nützen können Deskriptoren wie die des RePA (Candelier et al. 2009) (↗ Art. 20). - Gleiches lässt sich auch von der Lehrbarkeit der autochthonen Sprachen sagen. Hinzuzufügen ist: Bezüglich der interkulturellen Kompetenz umgreift diese nicht nur die Kommunikation in einer Fremdsprache, sondern auch die in der Mutter- oder Zweitsprache im Umgang mit fremdsprachigen Partnern. Kommunikative Strategien (↗ Art. 44) sind hier an einer Partnerhypothese im Sinne Bühlers (1934) auszurichten. Das Zusammenwirken von Lehrkräften der unterschiedlichen Schularten und -stufen ist ein dringendes Desiderat. Das Netzwerken in gemeinsamen Fortbildungen ist vor diesem Hintergrund zu fördern. 4. Aktuelle Forschungsdesiderata Für den schulischen Fremdsprachenunterricht fehlen belastbare Erhebungen zur realen Unterrichtsführung, die verlässliche Grundlagen für eine (dynamische) Auditierung liefern könnten. Außerhalb der Schule wurde immerhin von der Stiftung Warentest (2007) „under cover“ Englisch- und Spanischunterricht beobachtet, nach definierten Qualitätsstandards bewertet und in der gleichnamigen Zeitschrift publiziert. Auch die Forschungsmethodik ist in Teilen zu bemängeln: Es irritiert, wenn - wie mehrfach nachweisbar - innerhalb der Subjektiven Theorien-Forschung Fragestellungen ( beliefs ) <?page no="161"?> 152 Franz-JosephMeißner aufgeworfen werden, ohne dass die den Probanden vermittelten Unterrichtserlebnisse als deren Voraussetzungen deutlich gemacht und als „irrig“ gekennzeichnet wurden. So macht es keinen Sinn, im Zusammenhang mit spät erlernten Fremdsprachen nach „Interferenzerfahrungen“ zu fragen - ohne dass geklärt wurde, ob und wie im Unterricht solchen Fehlern entgegengewirkt wurde. Solche Forschungen tragen oft zur Festigung falscher Vorstellungen bei. Die Folge sind dann, wie im Fall mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze immer wieder zu beobachten ist, Simplifizierungen, die dem Mehrsprachenerwerb und den Erkenntnissen der Spracherwerbsforschung entgegenwirken. Auf diese Weise kolportiert und festigt die Forschung selbst falsche „beliefs“. Forschungsdesigns sind daher insbesonders unter dem Gesichtspunkt ihrer methodischen Validität zu überprüfen. Dies zeigt, warum die Lehrerbildung auch die Kompetenz, empirische Forschung zu beurteilen, vermitteln muss. Literatur Apeltauer, E. (2009): Begutachtet, gefördert, sprachlich top? Sprachstandserhebungen und Sprachförderung im Vorschulalter. In: Friedrich Jahresheft Schüler: Migration , 60-63. Baur, R. S. (2001): Mehrsprachigkeit durch Spracherhalt bei Migrantenkindern. In: D. Abendroth-Timmer & G. Bach (Hrsg.): Mehrsprachiges Europa. Festschrift für Michael Wendt zum 60. Geburtstag . Tübingen, 15-25. Bühler, K. (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz. Stuttgart, New York (1982). Bundesregierung (2016): 10. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Teilhabe, Chancengleichheit und Rechtsentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland . [https: / / www. google.de/ url? sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&ved=2ahU- KEwjgg47mtqHfAhULUlAKHW08BmIQFjAAegQIBRAC&url=https%3A%2F%2Fwww. bundesregierung.de%2FContent%2FInfomaterial%2FBPA%2FIB%2F10_Auslaenderbericht_2015.html&usg=AOvVaw0Nhbe- E7IAIV7KsnUVhKE5q]. Bundeszentrale für politische Bildung (2017): Länderprofil Deutschland . [http: / / www.bpb.de/ gesellschaft/ migration/ laenderprofile/ 208594/ deutschland]. Candelier, M., Camilleri-Grima, A., Castellotti, V. et al. (2009): RePA. Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen . Graz, Straßburg. [http: / / archive.ecml.at/ mtp2/ publications/ C4_RePA_090724_IDT. pdf]. Doyé, P. (2009): Didaktik der bilingualen Vorschulerziehung. Dargestellt am Beispiel der vorschulischen Einrichtungen in Berlin und Wolfsburg . Tübingen. Doyé, P., Manazza, A. & Posillico, F. (2011): Vivere due lingue . Hildesheim. (Für Französisch, Spanisch, Türkisch, Portugiesisch, Russisch, Polnisch liegen entsprechende Materialien vor.) Europäische Kommission (1996): Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft. Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung . [http: / / europa.eu/ documents/ comm/ white_papers/ pdf/ com95_590_ de.pdf]. Holec, H. (1979): Autonomie et apprentissage des langues étrangères . Nancy. Newby, D., Allan, R. & Fenner, A.-B. et al. (2008): Europäisches Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung. Ein Instrument zur Reflexion . [https: / / www.ecml.at/ Portals/ 1/ documents/ ECML-resources/ EPOSTL-GE.pd f ? ver=2018-03-22-164313-560]. <?page no="162"?> 153 28. MehrkulturalitätsdidaktikalsGegenstandder Lehrerbildung Schocker-v. Dithfurt, M. & Legutke, M. (2006): Teacher Preparation: Second Language. In: K. Brown (Hrsg.): Encyclopedia of Language and Linguistics 12, 512-521. Stiftung Warentest (2007): Sprachen lernen. Englisch-& Spanisch. Die besten Kurse. Test spezial Weiterbildung . Franz-Joseph Meißner 28. Mehrkulturalitätsdidaktik als Gegenstand der Lehrerbildung 1. Einleitung Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität sind als individueller Ausdruck von Vielsprachigkeit und Vielkulturalität gesellschaftliche Realität und damit auch in Lehr-/ Lernsituationen relevant. Dies gilt für die Auseinandersetzung mit diesen Themen ebenso wie für die heterogene Zusammensetzung der Lerngruppen. Eine entsprechende Sensibilität für bzw. fachkompetenter Umgang mit ihnen sind jedoch keine Selbstverständlichkeit und müssen daher in der Ausbildung angehender Lehrkräfte thematisiert werden, die nicht per se über interkulturelle Kompetenzen verfügen (vgl. Auernheimer 2010). Somit bilden die Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik (↗ Art. 7, 8) einen wichtigen Gegenstand in der Lehrerbildung. 2. Problemaufriss Verschiedene Facetten der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität werden in erziehungswissenschaftlichen und fremdsprachendidaktischen Diskursen seit den 1990er Jahren diskutiert (↗ Art. 16, 17). Diese Debatten haben, wie die Beiträge in diesem Handbuch zusammenfassend sichtbar machen, zu einer differenzierten und umfangreichen Auseinandersetzung mit der Thematik geführt, die nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen sichtbar wird, sondern auch in Lehr- und Lernmaterialien (↗ Art. 46) oder in curricularen Texten aufgegriffen wurde und darüber hinaus Einfluss auf die Lehrerbildung ausgeübt hat. Dabei gibt es Unterschiede zwischen einzelnen Sprachdidaktiken, auch in Bezug auf verschiedene Zielgruppen oder Schulformen. Während die Englischdidaktik Fragestellungen der Mehrsprachigkeit weitgehend ignoriert und nur vereinzelt entsprechende Bezüge erkennbar macht, werden national und international Mehrsprachigkeit und Interkomprehension sehr stark vor allem in der Didaktik der romanischen Sprachen diskutiert. Gerade für die Tertiärsprachen (↗ Art. 86) ist der Blick auf vorher gelernte Sprachen konstitutiv. In Deutsch als Fremd- und Zweitsprache stehen seltener Bezüge zwischen den germanischen Sprachen zur Diskussion (↗ Art. 68, 81) und weit häufiger die Mehrsprachigkeit der Lernenden selbst. Die Didaktik der slawischen Sprachen hat zwar Mehrsprachigkeit und Interkomprehension im Blick, spielt jedoch abgesehen vom Russischen infolge der eher selten gelernten Sprachen im deutschsprachigen Raum eine geringere Rolle (↗ Art. 82). Fragen der Mehrkulturalität hingegen umfassen eine ganzheitliche, vernetzende Perspektive und betreffen das Lehren und Lernen von Sprachen auf grundsätzlicher Ebene. Ein <?page no="163"?> 154 ChristianeFäcke Ausblenden mehrkultureller Perspektiven ist faktisch in keiner der Einzelsprachdidaktiken möglich. Hier zeigen sich Unterschiede hinsichtlich der ins Auge gefassten Zielkulturen und ihre Nähe bzw. Distanz zur eigenen Kultur. In Lehr-/ Lernsituationen sind darüber hinaus Unterschiede je nach Alter der Lernenden und der damit einhergehenden Besonderheiten relevant. 3. Mehrkulturalitätsdidaktik in der Aus- und Weiterbildung von Fremdsprachenlehrkräften In vielkulturellen gesellschaftlichen Kontexten erweist sich die Didaktik der Mehrkulturalität für das Lehren und Lernen von Sprachen aus mehreren Gründen relevant. So beeinflussen monokulturelle, pluri- oder multikulturelle Prägungen oder die ein- oder mehrsprachige Sozialisation Lehrender ihre Einstellungen zum Sprachenlehren und -lernen sowie zu ethnischen und kulturellen Fremdheiten (↗ Art. 26). Die Einstellungen stehen in einem Wechselverhältnis zum Sprachlehrverhalten (↗ Art. 25), wobei natürlich auch andere Faktoren, wie z. B. die Mehrsprachenkompetenz der Lehrenden oder ihre subjektiven Theorien eine Rolle spielen. Eine Lehrerin, die eine Zeit im Zielsprachenland verbracht hat, wird ihre Auslandserfahrungen authentisch in ihren Unterricht einfließen lassen können. Auch beeinflussen Fächerkombinationen (fachliche Kompetenzen) die Art und Weise, wie Lehrkräfte fremder Sprachen z. B. gesellschaftliche oder literarische Themen angehen und behandeln. Eine Lehrerin mit kritischen Positionen gegenüber bestimmten Kulturen und Traditionen, könnte diesbezügliche Themen eher distanziert unterrichten als ein Kollege, der mit Empathie genau diesen Traditionen gegenübersteht. In diesem Zusammenhang spielen auch Fragen der Identität (↗ Art. 1) eine Rolle (Caspari 2003; De Florio-Hansen & Hu 2003). Das Ziel der Lehrerbildung muss darin bestehen, zu einem (selbst)kritischen, reflektierten, offenen und sensiblen Handeln anzuleiten, um einen pädagogisch-konstruktiven Umgang mit den Lernenden zu pflegen. Für die fremdsprachlichen Fächer spiegelt die Lehreraus- und -weiterbildung des 20. Jahrhunderts die jeweils in den einzelnen Jahrzehnten vorherrschenden lerntheoretischen Modelle und fremdsprachendidaktischen Methoden wider. Spätestens seit den 1970er Jahren wird mit dem kommunikativen Ansatz explizit das Vorbild des native speaker angestrebt, seit den 1990er Jahren gilt hingegen zunehmend der intercultural speaker als Ziel im Fremdsprachenunterricht (↗ Art. 30). Hiermit ist ein sprachlich wie kulturell sensibler mehrsprachiger Sprecher gemeint (vgl. Wilkinson 2012), der nicht zwingend über eine muttersprachennahe Beherrschung der Fremdsprache(n) verfügt und der neben zielkulturellen Kenntnissen über solche zur interkulturellen Kommunikation verfügt. Sprachliche Fehler z. B. in der Grammatik gelten als weniger relevant für erfolgreiche Verständigung als kulturspezifische und vor allem pragmatische Fehler, z. B. ein unangemessener Höflichkeitsgrad in der Kommunikation (vgl. Watts et al. 1993). Interkulturalität, d. h. der Bezug auf mindestens zwei Kulturen, wird somit seit den 1990er Jahren zu einem wichtigen Paradigma in der fremdsprachlichen Lehrerbildung. Mehrkulturalität mit explizitem Bezug auf mehr als zwei Kulturen spielt hingegen weniger eine Rolle. Diskurse zu interkulturellem Lernen (↗ Art. 32) werden in den Fremdsprachendidaktiken etwa seit dieser Zeit in <?page no="164"?> 155 28. MehrkulturalitätsdidaktikalsGegenstandder Lehrerbildung Diskursen zu interkulturellen Kompetenzen weiterentwickelt. 4. Curriculare Verankerungen Die nach dem Erscheinen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (Europarat 2001) um sich greifende Kompetenzorientierung hat den Fokus auf Kommunikation und Mehrkulturalität weiter verstärkt (↗ Art. 18, 43). Diesen Überlegungen trägt die Kultusministerkonferenz (2004) in einem Beschluss über Standards für die Lehrerbildung Rechnung. Für die theoretischen Ausbildungsabschnitte ist u. a. benannt, dass die Absolventinnen und Absolventen „interkulturelle Dimensionen bei der Gestaltung von Bildungs- und Erziehungsprozessen“ kennen (ebd.: 9). Als Standards für die praktischen Ausbildungsabschnitte sollen sie „die kulturelle und soziale Vielfalt in der jeweiligen Lerngruppe“ (ebd.) beachten. Die Berücksichtigung soziokultureller Vielfalt und von Mehrsprachigkeit wird in der KMK-Richtlinie zu interkultureller Bildung und Erziehung in der Schule (2013) weiter bekräftigt. In der 1. Phase der Lehrerbildung bilden Mehrkulturalität und interkulturelles Lernen nunmehr zentrale Gegenstände im Studium, was sich konkret in der Berücksichtigung in universitären Curricula sowie in Modulprüfungen der Bachelor- und Masterstudiengänge oder im Staatsexamen in Form von prüfungsrelevanten Themen niederschlägt. In Modulbeschreibungen wird beispielsweise erwähnt, dass Studierende lernen sollen, interkulturelle Lernprozesse anzuleiten und zu fördern. Es geht darum, dass angehende Lehrkräfte verschiedene Dimensionen der Kulturalität kennenlernen und sich damit auseinandersetzen, d. h. z. B. mit der eigenen lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Lerngruppe und deren Bedeutung für das Miteinander der Lernenden sowie mit Fragen von Identität und mehrsprachiger bzw. mehrkultureller Sozialisation (vgl. De Florio-Hansen & Hu 2003). In der Europäischen Union und angesichts plurilokaler Lebenspraxen ist auch die Frage zu stellen, inwieweit die Vielsprachigkeit und Vielkulturalität innerhalb derselben die Qualität einer „lebensweltlichen“ Vielsprachigkeit hat, was nicht zuletzt durch die medial vermittelte ubiquitäre Erreichbarkeit zielkultureller Kommunikation der Fall ist. Ziel ist, dass Studierende sensible, reflexive und offene Einstellungen gegenüber ethnischer, kultureller, sprachlicher und anderen Formen der Diversität entwickeln (vgl. z. B. Modulbeschreibungen für Französisch, Justus-Liebig-Universität Gießen 2017). Dazu gehört auch die Kenntnis verschiedener interkultureller Ansätze und Argumentationen, d. h. z. B. universalistischer und partikularistischer, herrschaftskritischer oder transkultureller Positionen (vgl. Art. 36, 37, 38, 41), sowie ihrer Argumentationslogik, um die eigene Position identifizieren, bewerten, verorten und in konfliktiven Situationen sensibel handeln zu können. Dies umfasst auch Wertefragen (vgl. Fäcke 2018: 22 ff.), die bei differierenden Wertesystemen in schulischen Kontexten und in der internationalen Jugendarbeit heikle Entscheidungen berühren, nicht nur in Bezug auf Jugendliche mit Migrationshintergrund. Wirksam sind Loyalitäten gegenüber der eigenen und der Zielgesellschaft bzw. der aufnehmenden und/ oder der Herkunftsgesellschaft. Die Fokussierung auf die lebensweltliche Viel- oder Mehrsprachigkeit und Viel- oder Mehrkulturalität verlangt eine interkulturell sensible Auseinandersetzung mit den Kulturen und ein Bewusstsein über die Wirkung dieser Auseinandersetzung auf das Selbst der <?page no="165"?> 156 ChristianeFäcke Schülerinnen und Schüler. Den Hintergrund bildet die Weiterentwicklung von einer rein landeskundlichen Vermittlung von zielkulturellem Sachwissen (Realienkunde) hin zur Befähigung zur interkulturellen Kommunikation (↗ Art. 33, 35). Orte der interkulturellen Begegnung sind sowohl die eigene Gesellschaft, die Zielkulturen des Fremdsprachenunterrichts sowie die medial vermittelte Vielkulturalität/ Vielsprachigkeit (Internet, TV, internationale Lerntandems). Die Kompetenzorientierung hat zu einer differenzierten Modellierung von Fertigkeiten (Kompetenzen) geführt. Konstitutiv ist das Zusammenwirken von drei bzw. vier Domänen, darunter die Ausdifferenzierung interkultureller Kompetenzen in savoirs, savoir-faire und savoir-être (Byram 1997). In der Lehrerbildung gilt es zu vermitteln, wie sich interkulturelle Kompetenzen aufbauen und wie sie wirken, d. h. wie sie uns verändern, uns und den Anderen zu Revision alter Positionierungen führen und welche Rolle die notwendige Reflexivität hierbei spielt. Die dann erfolgenden Zielsetzungen betreffen die Auswahl und die Behandlung von möglichen Inhalten. Die curriculare Berücksichtigung dieser Themenfelder spiegelt sich auch in den Abschlussprüfungen der Bundesländer. In Bayern gibt es noch das zentralisierte Staatsexamen mit genauen Vorgaben für einzelne Prüfungsthemen. In den Fremdsprachendidaktiken, d. h. jeweils parallel für die Schulfächer Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch, werden u. a. Theorien und Ziele des interkulturellen Lernens und deren Umsetzung im Unterricht sowie Ziele und Verfahren der Textarbeit im Hinblick auf interkulturelle, literarische und sprachliche Bildungsziele geprüft (Bayrische Staatskanzlei 2008). Mehrkulturalitätsdidaktik mit ihrer Bezugnahme auf mindestens drei Kulturen kommt jedoch nur bedingt vor. In der Hamburger Lehrerbildung wird der sprachlich-kulturellen Vielfalt der Metropole besonders Rechnung getragen. Zu den Teilzielen des Hamburger Integrationskonzepts 2017 gehören u. a. die „Erhöhung des Anteils qualifizierten pädagogischen Personals mit Migrationshintergrund“ sowie die „Steigerung des Anteils interkulturell qualifizierten Personals in Schulen und schulischen Unterstützungs- und Aufsichtssystemen“ (Freie und Hansestadt Hamburg 2017: 46; vgl. auch Hassan 2016). Die kulturell heterogene Zusammensetzung der Lerngruppen ist natürlich in allen Schulfächern relevant. Mehrkulturalitätsdidaktik und interkulturelles Lernen bilden daher auch ein Thema in den Erziehungswissenschaften (↗ Art. 16) und in anderen Fachdidaktiken (vgl. z. B. Prediger 2001). Neben der Ausbildung in den Lehrberufen spielt Mehrkulturalität auch in außerschulischen Kontexten eine Rolle, d. h. in der Ausbildung zur Lehrkraft für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache (↗ Art. 110). Bezeichnend sind hier auch die Angebote der international agierenden Firmen (↗ Art. 24). Auch in der Lehrerfort- und -weiterbildung wird Mehrkulturalität berücksichtigt. So sind die Kultusbehörden an der Sensibilisierung der Lehrkräfte für Themen einer interkulturellen Erziehung und Bildung interessiert und stellen dazu neben Weiterbildungsmaßnahmen auch Handreichungen zur Verfügung (z. B. Niedersächsisches Kultusministerium 2000). Am Europäischen Fremdsprachenzentrum (EFSZ) des Europarats in Graz gibt es ebenfalls Initiativen, die die Ausbildung angehender Fremdsprachenlehrkräfte im Blick haben. Dazu gehört u. a. das dort entwickelte Portfo- <?page no="166"?> 157 28. MehrkulturalitätsdidaktikalsGegenstandder Lehrerbildung lio für Sprachlehrende in Ausbildung (Newby et al. 2008), das als Selbstreflexionsinstrument Anregungen zur Selbsteinschätzung Studierender anbietet. Es umfasst verschiedene Kompetenzbeschreibungen, u. a. auch zu kulturspezifischen Themen, wie die folgenden Beispiele zeigen: „Ich weiß den Mehrwert zu schätzen, den Schüler verschiedener kultureller Herkunft in den Klassenverband einbringen, und kann daraus einen Nutzen ziehen.“ (ebd.: 17) oder „Ich kann die Fähigkeit der Schülerinnen beurteilen, sich bei Begegnungen mit der Kultur der Zielsprache angemessen zu verhalten.“ (ebd.: 58). 5. Ausblick Die Ausbildung von Lehrkräften ist immer im Fluss und erfordert parallel zu den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen seit den Zeiten des Deutschen Bildungsrats in den 1960er Jahren ständige Anpassung (Robinsohn 1971). Der Überblick hat gezeigt, inwieweit Fragen und Themen der Mehrkulturalitätsdidaktik in allen Phasen der Lehrerbildung heute Berücksichtigung finden. Angesichts sprachlicher und kultureller Heterogenität und Diversität in den Schulen und außerschulischen Institutionen werden diese Fragen auch in Zukunft für die Ausbildung einer mehrkulturellen Sensibilität von Lehrerinnen und Lehrern (↗ Art. 26) unverzichtbar sein. Literatur Auernheimer, G. (Hrsg.) (2010): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität . 3. Aufl. Wiesbaden. Bayrische Staatskanzlei (2008): Ordnung der Ersten Prüfung für ein Lehramt an öffentlichen Schulen . (Lehramtsprüfungsordnung I - LPO I). Vom 13. März 2008 (GVBl. S. 180) BayRS 2038-3-4-1-1-K. [http: / / www. gesetze-bayern.de/ Content/ Document/ BayL- PO_I]. Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence . Clevedon. Caspari, D. (2003): Fremdsprachenlehrerinnen und Fremdsprachenlehrer. 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Christiane Fäcke 29. Geschichte mehrsprachiger Ansätze 1. Die Anfänge des europäischen Fremdsprachenunterrichts und das Erscheinen mehrsprachiger Unterrichtsmaterialien Seit dem frühen Mittelalter wurde Lateinunterricht vor allem an kirchlichen Kloster- und Domschulen sowie an städtischen Gelehrtenschulen in kleineren Klassen, in selteneren Fällen auch im Einzelunterricht erteilt. Oft verband sich hiermit das Lesen- und Schreibenlernen. In den ersten Unterrichtsjahren wurde i. d. R. eine meist in gereimten Versen abgefasste Lateingrammatik von den Schülern auswendig gelernt. Nur der Lehrer verfügte über ein Manuskript und diktierte (da Wandtafeln erst ab dem 17. Jh. belegt sind, vgl. Comenius 1658/ 1978: 198) den Schülern daraus Auszüge, welche diese auf Wachs- oder Schiefertafeln mitschrieben. Etwa ab 1200 kann die Ausweitung des Fremdsprachenunterrichts auf neuere Sprachen nachgewiesen werden. Dieser Fremdsprachenunterricht bildete sich zuerst in England aus, wo das Normannische als Gerichtssprache eingeführt wurde, als es bereits als Erst- oder Zweitsprache aus manchen Alltagsdomänen zu verschwinden begann (Kibbee 1991: 15, 31, 45). In Flandern und Brabant, wo viele Kaufleute Geschäfte mit Frankophonen machten, und in einigen oberitalienischen und oberdeutschen Handelsstädten etablierten sich Sprachmeister (Glück 2002: 88, 249, 418 f.; Pellandra 2007: 31 f.). Unter den ersten handschriftlichen Unterrichtsmedien überwiegen Vokabularien, Musterbriefe und Dialoge (Hüllen 1989: 118 ff.; Kibbee 1991: 74, <?page no="168"?> 159 29. Geschichtemehr sprachigerAnsätze 78). Dialoge wurden oft in die Erstsprache der Lernenden übersetzt, auswendig gelernt und aufgesagt. Grammatische Erläuterungen blieben anfangs oft auf ein Minimum (z. B. auf Verbformen) beschränkt. Mit der Erfindung des Buchdrucks erhielt der Unterricht in den neueren Sprachen einen Schub. Die Ausweitung des Fernhandels trug genauso zu einer Vielzahl von mehrsprachigen Grammatiken, Glossaren, Lehrbüchern und Nachschlagewerken bei wie das aufkommende Interesse an Sprachverwandtschaften, das sich im Rahmen von Humanismus und Renaissance ausgebildet hatte. Einen guten Überblick über wichtige mehrsprachige Werke aus der Frühzeit des europäischen Fremdsprachenunterrichts bietet die bibliographische Zusammenstellung von Meißner (2010: 137 ff.). Sie erfasst sowohl gelehrte als auch populäre Publikationsformen. 2. Prototypische Erscheinungsformen mehrsprachiger Werke (16. und 17.-Jh.) Zu den gelehrten Nachschlagewerken gehören die großen und dicken Bände des italienischen Lexikographen Ambrogio Calepinus (1570). Es handelt sich um das berühmt gewordene Latein-Wörterbuch eines Humanisten mit zahlreichen kurzen Zitaten antiker Autoren. Das Lexikon enthält auch Namen bekannter Personen aus der griechisch-römischen Kultur und Beschreibungen von Realien, d. h. vor allem geographische und historische Erläuterungen. Die (je nach Ausgabe) sieben bis elf modernen Sprachen, aus denen Äquivalente zu den lateinischen Lemmata aufgeführt werden, sollen wohl eine genauere Semantisierung (durch Anwendung von Kenntnissen in gut beherrschten Sprachen) und eine interlinguale Vernetzung von Ausdrücken ermöglichen, aber auch auf Neolatinismen hinweisen. Ein völliges Gegenstück zu den Folianten des Calepinus stellt das Taschenbüchlein Colloquia et dictionariolum Noël de Berlaimonts dar (etwa 100 Ausgaben im 16. und 17. Jh., s. z. B. Berlaimont & Hoyoux 1589). Die ursprünglich zweisprachige Version wurde zu vier-, sechs-, sieben- und achtsprachigen Ausgaben erweitert (Hüllen 2005: 56). Die unter Handelsreisenden weitverbreitete Broschüre besteht aus zwei Teilen: der erste enthält Gespräche, der zweite ein kurzes alphabetisches Wörterbuch (ebd.: 55). Die Dialoge geben typische Reisesituationen wieder oder auch kaufmännische Gespräche (Aubert 1993: 18). Das Büchlein, dessen Doppelseiten im Querformat gedruckt sind, teilt jeder Sprache eine einzelne Spalte zu. Dabei erfolgt die Spaltenaufteilung im 16. Jh. wohl noch überwiegend nach der vermuteten Wichtigkeit der Sprachen. In der siebensprachigen Neuausgabe von 1610 stehen das Flämische, Englische und Hochdeutsche, also die germanischen Sprachen, in Spalten auf den linken Seiten, während das Lateinische und das Französische, Spanische und Italienische auf den rechten Seiten abgedruckt werden. Durch die neue Anordnung wird der interlinguale Vergleich innerhalb der germanischen und romanischen Sprachfamilien erleichtert; die Benutzer des Büchleins können, ausgehend von einer Formulierung in einer einzelnen Sprache, auf der jeweiligen Zeile in den Nachbarspalten überprüfen, ob dort ähnliche oder erheblich differierende sprachliche Formen vermerkt sind. Die Aufgliederung in enge Spalten erleichtert das rasche optische Erfassen einzelsprachlicher Spezifika. Eine weitere Variante innerhalb der mehrsprachigen Gesprächsbücher sind vorbereiten- <?page no="169"?> 160 MarcusReinfried de Werke zur „Kavalierstour“, einer vor allem von Adelssprösslingen durchgeführten längeren Bildungsreise, die i. d. R. nach Frankreich, oft auch nach Italien und seltener nach Spanien führte. Ein Beispiel dafür liefert das von Philippe Garnier abgefasste Buch mit Dialogen aus dem Leben junger adliger Männer, die gemeinsam eine Reise nach Straßburg unternehmen. Dort erkundigen sie sich dann über die Reisemöglichkeiten nach Paris. In einem Gespräch geht es um die Wohnmöglichkeiten und Alltagsbräuche in Paris, in einem weiteren Gespräch um das jeu de paume und Aktivitäten der Pariser jeunesse dorée (vgl. Garnier et al. 1656; Garnier & Fabri 1659). Die inhaltliche Auswahl verrät Einiges über die sich damals ausbildende Prädominanz der französischen Kultur in großen Teilen Europas. Obwohl die italienische und spanische Sprache (die im deutschen Lernkontext des 17. Jhs. die zweit- und drittwichtigsten neueren Fremdsprachen darstellten, s. u. Kap. 5) in das vorliegende Mehrsprachigkeitskonzept einbezogen wurden, fehlen entsprechende landeskundliche oder interkulturelle Inhalte in der Gesprächssammlung. Eine andere plurilinguale Textsorte wird von den mehrsprachigen Grammatiken repräsentiert. Dabei kann die Mehrsprachigkeit bei Grammatiken primär durch die Koexistenz von mehreren, d. h. von mindestens zwei Zielsprachen in einem Buch bedingt sein. Dies ist beispielsweise der Fall bei der Grammatica quadrilinguis von J. Smith (1674). In ihr werden Französisch, Italienisch, Spanisch und Englisch hintereinander in der traditionellen Reihenfolge der lateinischen Wortarten ( partes orationis ) erläutert. Für die ersten drei Sprachen bedient sich der Autor dabei des Englischen als Metasprache (die wohl auch die Muttersprache der meisten Benutzer war), zur Erklärung der englischen Zielsprache bedient er sich des Lateinischen. Das Lehrbuch war so konzipiert, dass in der Regel jede Zielsprache separat für sich - und nicht im häufigeren interlingualen Vergleich grammatischer Strukturen untereinander - gelernt wurde. Sofern die im Buch angelegte Mehrsprachigkeit überhaupt genutzt wurde, handelte es sich um eine additive Mehrsprachigkeit. Eine andere Form von Mehrsprachigkeit weist die Grammaire pour apprendre les langves italienne, francais [sic] et espagnole Antoine Fabres ( 2 1646) auf, obwohl sie dieselben romanischen Zielsprachen wie die Grammatica quadrilinguis von J. Smith (1674) enthält. Die auf die Morphologie hin orientierte Grammatik Fabres enthält nur eine kleinere Anzahl von Regeln, die immer zweisprachig, italienisch und französisch, präsentiert werden. Den bei weitem größten Anteil an den Lektionen haben französische, italienische und spanische Artikel, Substantive, Pronomen, konjugierte Verben, Partizipien und Adverbien. Alle diese Sprachbeispiele befinden sich auf dreispaltigen Seiten oder in dreispaltigen Abschnitten, die den häufigen Vergleich von grammatischen Formen und Strukturen in den drei romanischen Hauptsprachen nahelegen. Das Layout der Grammatik Fabres begünstigt eher als die von Smith eine integrative, auf Sprachvergleich abhebende Mehrsprachigkeitsdidaktik, die sich sowohl interlinguale Ähnlichkeiten als mnemotechnische Hilfen zunutze macht als auch auf interlinguale Differenzen zur Fehlerprävention hinweist. 3. Erscheinungshäufigkeit und Erscheinungsorte mehrsprachiger Lehrbücher in der frühen Neuzeit Um den Anteil der mehrsprachigen Lehrbücher an der Gesamtheit der damaligen Fremdsprachenlehrbücher einschätzen zu können, <?page no="170"?> 161 29. Geschichtemehr sprachigerAnsätze wurde das Chronologische Verzeichnis französischer Grammatiken von Stengel (1976) herangezogen. Es erfasst nicht nur Grammatiken, sondern gelegentlich auch andere Lehrbücher. Die Auswahl dürfte den größten Anteil an gedruckten Medien des Fremdsprachenunterrichts der frühen Neuzeit abdecken. Für das 16. Jh. enthält die nachgedruckte Bibliographie Stengels zusammen mit Niederehes Ergänzungen 137 Titel, wobei (bei meiner Zählweise) vollkommen neu bearbeitete Titel separat zählen, bei korrigierten und verbesserten Neuauflagen aber nicht. Das Corpus von 137 Werken enthält 17 (12,4 %) mehrsprachige Lehrbücher. Von diesen wurden sieben in London verlegt sowie drei in Antwerpen, eines in Brüssel, eines in Amsterdam, eines in Rotterdam. Damit wird klar ersichtlich, dass die mittelalterlichen Pionierregionen des modernen Fremdsprachenunterrichts (vor allem England, Flandern und Brabant) auch noch im 16. Jh. im mehrsprachigen Unterricht und vermutlich auch bei den Anteilen mehrsprachiger Lernender europaweit führend waren. Auf Frankreich hingegen entfielen im 16. Jh. nur drei mehrsprachige Lehrbücher (zwei mit dem Druckort Paris, eines mit Rouen). In Deutschland ist damals nur ein mehrsprachiges Lehrbuch erschienen (in Köln), ein weiteres Lehrbuch in Genf. Im Laufe des 17. Jhs. hat sich die Anzahl der von Stengel angegebenen Lehrbücher auf 388 Titel erhöht; d. i. im Vergleich zum 16. Jh. nahezu eine Verdreifachung der erschienenen Fremdsprachenlehrbücher. 39 Lehrbücher, das sind 10,0 % der auf das 17. Jh. insgesamt entfallenden verzeichneten Titel, sind mehrsprachig. Aber die Verlagsorte, die sich in diesem speziellen Bereich hervortun, sind nicht mehr die gleichen wie im 16. Jh. Zwar gehören die Niederlande und das wallonische Territorium mit insgesamt zehn mehrsprachigen Titeln genauso wie England noch immer zu den führenden mehrsprachigen Territorien in Europa. Aber Deutschland tritt nun ebenfalls mit zwölf mehrsprachigen Lehrbüchern in Erscheinung. Vier mehrsprachige Lehrbücher gehen in Paris in den Druck, jeweils zwei in Italien und weitere zwei in der Schweiz. Auch Dänemark und Russland treten mit vereinzelten mehrsprachigen Lehrbüchern in Erscheinung. Die meisten Druckorte sind mitteleuropäisch gelegen und befinden sich eher im protestantischen Norden Europas. Für das 18. Jh. zählt Stengel 567 Titel; die bereits im Laufe des 17. Jhs. erreichte Zahl der Lehrbücher nimmt um 46 % zu. Aber die Zahl der mehrsprachigen Lehrbücher im 18. Jh. reduzierte sich dennoch auf bloß sechs neue Titel (1,1 %). Die mehrsprachigen Lehrwerke verschwanden in der ersten Hälfte des 18. Jhs. Abgesehen von zwei Lehrwerken zur Erlernung des Portugiesischen auf der Grundlage französischer Fremdsprachenkenntnisse wurden mehrsprachige Lehrwerke nur noch in Deutschland publiziert. 4. Frühe didaktisch-methodische Überlegungen zur Mehrsprachigkeit Caravolas (2009: 25) hat darauf hingewiesen, dass einige fremdsprachendidaktische Überlegungen von Comenius bereits als Anfänge einer Mehrsprachigkeitsdidaktik erklärt werden können. Der tschechische Reformpädagoge befasst sich in seiner Didactica magna mit der Sprachauswahl und der Lernreihenfolge der in den Schulen zu vermittelnden Sprachen. Er empfiehlt die Muttersprache auch als schulische Erstsprache, worauf eine oder zwei neuere Fremdsprachen folgen sollen. Seines Erachtens eignen sich dafür vor allem Nachbarsprachen mit größerer Verbreitung, deren <?page no="171"?> 162 MarcusReinfried Kenntnis aus ökonomischen oder politischen Gründen nützlich sei. Für spätere Studien empfiehlt er das Erlernen des Lateinischen und eventuell einer weiteren „gelehrten Sprache“ (Griechisch, Hebräisch oder Arabisch) als reiner Lesesprache (Comenius 1657/ 1957: 128). Comenius’ Programm darf schon als diversifiziert und wohl auch abgestuft mehrsprachig bezeichnet werden. Jede dieser Sprachen soll „eher durch ihren Gebrauch als durch Regeln erlernt werden. […] Jedoch sollen auch Regeln den Gebrauch unterstützen und festigen“ (ebd.: 129). Auch diese Aussage kommt der Interkomprehensionsdidaktik (↗ Art. 58) entgegen. Außerdem gehört zu den von Comenius empfohlenen Prinzipien der „Polyglottie“, dass die Sprachen „immer nacheinander erlernt“ werden sollen, sonst könne „die eine die andere verwirren“ (ebd.: 128), womit wohl avant la lettre die Interferenzen gemeint sind. Wenn jedoch eine Fremdsprache „durch die Übung bereits sitzt“, können ihre Formen oder Regeln „unter Einsatz von Wörterbüchern, Grammatiken und weiteren Unterrichtsmitteln mit anderen Fremdsprachen nutzbringend verglichen werden“ (ebd.). Möglicherweise hat Comenius sogar schon eine Vorläuferin der Kontrastivhypothese Robert Lados (1957: VII) in nuce vertreten, weil ein weiterer seiner polyglossischen Grundsätze lautet: „Die Richtlinie für die Abfassung von Regeln für eine neue Sprache soll die früher erlernte Sprache geben, sodass nur der Unterschied nachgewiesen werde, der zwischen dieser und jener besteht. Denn das mehreren Sprachen Gemeinsame [in den Grammatikregeln] zu wiederholen ist nicht bloß unnütz, sondern schädlich“, weil es gegen den Grundsatz der Lernökonomie verstoße und dadurch für die Lernenden demotivierend wirke (ebd.: 129). Javier Suso López (2009: 33 f.) hat darauf hingewiesen, dass diese Vorwegnahme der Kontrastivhypothese durch Comenius ihrerseits von dem spanischen Grammatiker Antonio del Corro (1586) antizipiert worden ist. Dieser hat bereits gegen Ende des 16. Jhs. die Idee geäußert, dass die Muttersprache die Richtschnur für das strukturelle Erlernen einer Fremdsprache darstellen müsse. Ob und unter welchen Bedingungen aber auch Einwirkungen von einer vorgelernten und gut beherrschten Fremdsprache auf eine Zielsprache ausgehen können, wird von del Corro nicht angesprochen, und selbst bei Comenius wird nicht ganz klar, ob er die Erstsprache und die besonders gefestigte Zweitsprache als gleichwertige Einflussfaktoren einschätzt (↗ Art. 51). 5. Weshalb waren frühe Formen von Mehrsprachigkeitsdidaktik nicht nachhaltig? Die deutliche Verringerung mehrsprachiger Lehrbücher in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. könnte gemäß einer ersten, sprachenpolitischen Hypothese auf eine verstärkte Ausbreitung der französischen Sprache zurückgeführt werden. Die Einbuße an schulisch erworbener Mehrsprachigkeit würde in diesem Fall durch die reduzierten Lerneranteile bei den zweit- und drittwichtigsten neueren Fremdsprachen erklärt. Zu einer Überprüfung dieser Hypothese benötigt man eigentlich die Lernerzahlen, aber diese wurden im deutschsprachigen Raum vor dem 19. Jh. noch nicht erfasst. Die Datenlücke kann meines Erachtens mithilfe der Sachregister in den Linguarum Recentium Annales (Schröder 1980; 1985) zumindest teilweise kompensiert werden. Die Zahl der Einträge, die auf eine Fremdsprache in einer bestimmten Epoche entfallen, darf als grober Indikator für ihre jeweilige Relevanz im <?page no="172"?> 163 29. Geschichtemehr sprachigerAnsätze deutschsprachigen Raum genommen werden. Für den Zeitraum von 1500 bis 1700 entfallen 443 Einträge auf das Französische, 154 auf das Italienische, nur 57 auf das Spanische. Zwischen 1771 und 1800 sind es 810 Einträge für das Französische, 446 für das Englische und 307 für das Italienische. Die Situation hat sich also nicht grundlegend verändert, wenn man einmal von der vermutlich erheblich angestiegenen Zahl der Lernenden absieht: Französisch ist zu Beginn der frühen Neuzeit als Fremdsprache noch genauso führend wie an deren Ende, aber es hat im Laufe der Zeit auch keine völlige Monopolstellung gewonnen. Die Gründe für die Verringerung der mehrsprachigen Lehrbücher können daher nicht aus einem veränderten Fremdsprachenangebot oder einer veränderten Sprachenwahl resultieren. Wahrscheinlich war es vor allem die Einführung der staatlichen Schulaufsicht in Verbindung mit dem (in Deutschland besonders stark ausgeprägten) neuhumanistischen Zeitgeist, der zur Abkehr von mehrsprachigen Lehrbüchern erheblich beigetragen hat. Der Neuhumanismus ging im letzten Viertel des 18. Jhs. vor allem von einigen Universitäten aus. Schon in diesem Zeitraum wurde auch der Französischunterricht an einer wachsenden Zahl der preußischen Gelehrtenschulen eingeführt. Es kam dabei zu einer Verlagerung von privat tätigen Sprachmeistern auf angestellte Lehrer (Kuhfuß 2015: 164), die zwischen 1775 und 1800 42 % (n = 419) ausmachen. Der überproportionale Zuwachs bei den schulischen Französischlehrern führte bereits damals (und nicht, wie oft in der Sekundärliteratur behauptet wird, erst im Laufe des 19. Jhs.) zu einer Bevorzugung deutscher Sprachlehrer gegenüber französischstämmigen Sprachmeistern. Nach Kuhfuß (ebd.: 165) waren bereits im letzten Viertel des 18. Jhs. 63 % der Französischlehrer deutschstämmig. Sie wurden in der Regel an den Gelehrtenschulen deshalb stärker geschätzt, weil sie einen akademischen Abschluss vorweisen konnten und der allgemeinbildenden Zielrichtung der Neuhumanisten, bei der die grammatische Analyse einen hohen Stellenwert hatte, eher als französische Mitbewerber entsprachen (vgl. Giesler 2018: 80, 84). Dem Lehramtsstudium mit neusprachlichem Schwerpunkt, das erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jhs. absolviert werden konnte, ging ein Studium von lateinischen Texten voraus. Eine grammatikorientierte Vorgehensweise wurde in Verbindung mit vielen Übersetzungen oft auf den Unterricht in den neueren Sprachen übertragen (vgl. Christ 2005). Auch in anderen europäischen Ländern fiel die Aufnahme der französischen oder einer anderen neueren Fremdsprache in die staatlichen Lateinschulen in eine methodengeschichtliche Phase, in der das grammatische Analysieren und Kategorisieren dominierten und es gelegentlich auch zu interlingualen Vergleichen kommen konnte (vgl. Minerva & Reinfried 2012: 18). Neuere Sprachen wurden allerdings nur selten untereinander verglichen; falls es überhaupt dazu kam, so betraf dies das Französisch und Italienisch, wie es bei zwei Grammatiken Friedrich Gottlieb Deutschs aus den 1870er Jahren der Fall ist (vgl. Fäcke 2018: 29-37). Häufiger dürfte es im separierten Französisch- oder Italienischunterricht bei altphilologisch orientierten Lehrern zu lexikalischen Ableitungen aus dem Lateinischen gekommen sein. Von den (im 2. Kap. beschriebenen) fünf Prototypen mehrsprachiger Lehrbücher kam in diesem neuhumanistischen Kontext nur noch der 4. Prototyp, der am Beispiel der Grammatica quadrilinguis von J. Smith (1674) präsentiert wurde, für den Anfangsunterricht in Frage. <?page no="173"?> 164 MarcusReinfried Am häufigsten finden wir die Grammatik-Übersetzungs-Methode an den altsprachlichen Gymnasien, wo Französisch in Preußen ab 1837 obligatorisches Nebenfach wurde. Die imitative Gegenströmung, die als Lese-Übersetzungs-Methode bezeichnet werden kann und die mit zielsprachlichen Texten oder verschriftlichten Dialogen begann (vgl. Reinfried 2016: 621), war bis in die 1880er Jahre i. d. R. auf Bürger- und Realschulen beschränkt. Sie setzte sich (teilweise in Verbindung mit der direkten bzw. der Anschauungsmethode) als die Methode der neusprachlichen Reformbewegung durch. Am Anfang des 19. Jhs. betrug das quantitative Verhältnis zwischen den (neusprachlich orientierten) Realschülern und den klassischen Gymnasiasten in Preußen etwa 1: 2, am Ende des 19. Jhs. noch etwa 4: 6 (vgl. Lundgreen 1980: 79). Um 1900 dürfte deshalb immer noch eine gewisse Abhängigkeit von der altsprachlichen Unterrichtsmethodik bestanden haben. Sie wurde erst in den 1920er Jahren überwunden, in denen der Gesamtumfang des neusprachlichen Unterrichts den Umfang des altsprachlichen Unterrichts überholt hat. Allerdings tendierte auch die direkte Methode gegen interlinguale Vergleiche (Reinfried 1992: 70-76, 153-159). Nachdem das Einsprachigkeitsprinzip vorübergehend wieder an Einfluss verloren hatte, lebte es in den 1960er Jahren erneut wieder auf: Sprachvergleiche wurden vorwiegend im Zusammenhang mit der Gefahr einer drohenden lexikalischen oder syntaktischen Interferenz betrachtet, hervorgerufen durch eine assoziative Verklumpung interlingualer Ähnlichkeiten (vgl. Reinfried 1998: 25). Erst durch den Nachweis einer reduzierten einsprachigen Semantisierbarkeit und entsprechenden Nachteilen auch für das lexikalische Behalten kam es zu einer „aufgeklärten Einsprachigkeit“ (Butzkamm 1978: 113-129, 153-163). 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Fachgeschichtlich und konzeptionell stehen Kommunikativer Fremdsprachenunterricht (engl: Communicative Language Teaching , CLT) und Mehrsprachigkeit in einer spannungsreichen Beziehung zueinander. Kommunikativer Fremdsprachenunterricht steht in einer Abfolge von Konzeptionen des Fremdsprachenlehrens- und -lernens, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit einer grundlegenden Auseinandersetzung um Status und Stellenwert moderner Fremdsprachen in der Schulbildung entwickelt wurden. In dieser ging es - vereinfacht - um divergierende Zielsetzungen des Fremdsprachenunterrichts, und zwar zum einen Sprachenlernen mit dem Ziel klassisch-formaler Bildung und zum anderen Sprachenlernen mit dem Ziel, diese in Interaktionssituationen aktiv verwenden zu können. Im Kontext der letztgenannten Linie entstand kommunikativer Fremdsprachenunterricht in der Weiterentwicklung früherer Makrokonzeptionen, die sich ebenfalls dem Ziel verpflichtet sahen, Lernende zur aktiven Sprachverwendung zu befähigen z. B. der Direkten Methode oder dem Audiolingualen/ Audiovisuellen Ansatz (vgl. Howatt 2009: 467-468). War vor allem der zuletzt <?page no="176"?> 167 30. KommunikativerFremdsprachenunterrichtundMehrsprachigkeit genannte Ansatz noch einem strukturalistischen Sprachverständnis verpflichtet, so stellte kommunikativer Fremdsprachenunterricht ein Verständnis von Sprache als soziales Werkzeug in den Vordergrund. „The focus of CLT changed the emphasis from almost exclusive attention to grammatical competence by identifying other competences which are crucial in communicating through speech. In this sense, the most outstanding by-product of CLT has been a change in the ‘object’ that is taught and learnt“ (Byram & Méndez García 2009: 491). 2. Problemaufriss Aufgrund seines Entstehungskontextes ist kommunikativer Fremdsprachenunterricht/ CLT nicht auf Mehrsprachigkeit angelegt, sondern betont die Bedeutung von Kommunikation in der Fremdsprache (Byram & Méndez García 2009: 510). Hierfür führen Byram & Méndez García zwei Gründe an: Erstens sei CLT mit der Programmatik angetreten, den Fokus der Sprachbetrachtung vom Satz als bedeutungstragende Einheit auf den Text bzw. den Diskurs zu verschieben. Zweitens spiele die unterliegende kognitiv-konstruktivistische Spracherwerbs- und Lerntheorie eine Rolle. Zum einen modellierten diese Theorien Fremdsprachenlernen in Analogie zum Erstsprachenerwerb und unterstreichen zum anderen das eigenaktive sprachliche Handeln als wesentliche Grundlage für Lernprozesse (ebd.: 496). Dass Lernende in aller Regel bereits nicht nur über eine, sondern mehrere weitere Sprachen verfügten und diese für den Lernprozess nutzbar gemacht werden können oder der Unterricht selbst mehrsprachig sein könnte, spielte in der Debatte um Ziele und Methoden des CLT keine entscheidende Rolle. Mit der Einzelsprache als Referenzpunkt im Rahmen von CLT konnte auch Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) kaum entwickelt werden. Im deutschen Sprachraum hat Butzkamm (1973) allerdings früh eine kritische Diskussion um das methodische Prinzip der Einsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht angestoßen und die Rolle der vorgelernten Sprache(n) für das Lehren und Lernen weiterer (Fremd-)Sprachen hervorgehoben. Einen in der europäischen Fremdsprachendidaktik wirksamen Impuls, das Thema Mehrsprachigkeit aufzugreifen, hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften (1995) mit der Formulierung des Ziels gesetzt, dass alle Bürgerinnen und Bürger (die hier im Übrigen monolingual gedacht werden) neben der Sprache, mit der sie aufwachsen (L1), zumindest zwei weitere (Fremd-)Sprachen (L1+2) lernen sollen (↗ Art. 12). Schulische Fremdsprachenangebote, die sich nur auf eine Fremdsprache (insbes. das Englische) beschränken, aber auch ein Englischunterricht, der das Englische nicht im Kontext einer mehrsprachigen Lebenswelt sieht, geraten hierdurch unter einigen Legitimationsdruck (Breidbach 2003). Die Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts an lebensweltlichen Verwendungskontexten ist darüber hinaus durch die Veröffentlichung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Europarat 2001) vorangetrieben worden (↗ Art. 18). Vorschläge und Rahmensetzungen, wie die genannten, sind nur schwer ohne die grundlegenden Umorientierungen des Fremdsprachenunterrichts in Richtung Kommunikation und Kommunikativität vorstellbar. <?page no="177"?> 168 StephanBreidbach 3. Forschungsstand Die Verbindung von Kommunikativem Fremdsprachenunterricht und Mehrsprachigkeit ergibt sich aus den Verständnissen kommunikativer Kompetenz bzw. kommunikativen Handelns in einer vielsprachigen und globalisierten Welt und heutigen Gesellschaften. In der Fremdsprachendidaktik wurden insbesondere zwei Grundverständnisse von kommunikativer Kompetenz wirksam. Die soziobzw. pragmalinguistische Sicht geht auf Hymes (1972) zurück. Dieser grenzt sich von einer bloß formal-strukturalen und generativen Betrachtung von Sprache ab, wie sie etwa von Chomsky vertreten wurde. Kommunikative Kompetenz umfasst demnach auch die Fähigkeit, in spezifischen Situationen pragmatisch und sozio-kulturell angemessen sprachlich zu handeln. Daneben steht die sozialphilosophische Sicht auf sprachliches Handeln, wie sie von Habermas (1971) als Grundlage einer Theorie herrschaftsfreier Kommunikation entwickelt wurde. Kommunikative Kompetenz bezeichnet hier eine Art Ethos, das in der Fähigkeit zur gleichberechtigten Teilnahme an gesellschaftlichen Diskursen ebenso zum Ausdruck kommt wie auch darin, anderen eine solche Teilnahme zu ermöglichen bzw. durch eigenes sprachliches Handeln die Bedingungen hierfür zu wahren (s. Schmenk 2005: 64). Während die sozio-/ pragmalinguistische Lesart ihre Konzeption und Verbreitung vor allem im anglophonen Raum findet, hat die sozialphilosophische zuerst im deutschsprachigen Raum konzeptionsbildend gewirkt. Allerdings stellt Hüllen (2005: 144) fest, dass methodische Umsetzungen auch hier schon bald vorrangig im Sinne der pragmalinguistischen Vorstellungen kommunikativen Handelns erfolgten. Die sich aus den beiden grundlagentheoretischen Modellen ergebende Differenz ist für die fachdidaktische Theorie- und Konzeptionsentwicklung gleichwohl bedeutsam geblieben, denn beide Ansätze haben zwei - in der fachlichen Debatte allerdings nur lose verbundene - Themenfelder hervorgebracht oder diese doch zumindest erheblich beeinflusst: 1.) das Feld des kompetenzorientierten Fremdsprachenunterrichts sowie 2.) das Feld des interkulturellen Lernens (↗ Art. 32). Durch dieses Auseinandergehen ist der ursprünglich vorhandene Stachel der Differenz der beiden strukturgebenden Modelle kommunikativer Kompetenz zwar oberflächlich unsichtbar geworden, er ist aber an den Schwierigkeiten, die jeweiligen didaktischen und pädagogischen Anliegen des einen an diejenigen des jeweils anderen Feldes anzuschließen, erkennbar geblieben. In der Konzeption kommunikativen Fremdsprachenunterrichts bildet das Sprachhandeln den Ausgangspunkt und das Zentrum didaktischer Überlegungen. Bach/ Timm (1989) versuchen die soziolinguistische wie auch sozialphilosophische Lesart kommunikativer Kompetenz im Begriff des Handlungsorientierten Fremdsprachenunterrichts zu verbinden (vgl. Hüllen 2005: 144). Sie bezeichnen in Übereinstimmung mit der Hymes’schen Auffassung sprachliche Handlungsfähigkeit als die Fähigkeit der „situations- und partneradäquaten“ Verwendung einer (Fremd-) Sprache, wobei zugleich gilt, „dass Äußerungen Konsequenzen haben, die gegebenenfalls verantwortet werden müssen“ (Bach & Timm 1989: 11). Die historisch neue Qualität, die kommunikativer Fremdsprachenunterricht theoretisch eröffnet, liegt darin, Lernende als aktiv (sprachlich) Handelnde zu sehen. <?page no="178"?> 169 30. KommunikativerFremdsprachenunterrichtundMehrsprachigkeit 3.1. Theorie des Subjekts Mit der Verschiebung der Sichtweise auf Lernende als sprachlich Handelnde verändert sich auch deren Subjektposition in der fachdidaktischen Theoriebildung. Sie werden nunmehr im politisch-philosophischen wie im praktischen Sinn als emanzipierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer an kulturellen Praktiken gesehen. Daher werden die sozialen und individuellen Sinnerfahrungen, die sie im und durch den Gebrauch der Fremdsprache machen, zu einer unmittelbar bedeutsamen Größe. Lernenden wird damit - vielleicht erstmals - zugestanden, durch eigene Sprachhandlungen aktiv Einfluss auf die Herstellung und Gestaltung sozialer Wirklichkeiten zu nehmen. Billigt man Lernenden so weitreichende Handlungsräume und -potenziale zu, lag es nahe, kommunikative Kompetenz nicht alleine als „Mitmachenkönnen“, also als Einsozialisierung in eine (fremde) Sprachbzw. Sprechergemeinschaft zu sehen, nicht zuletzt deswegen, weil Lernende den Status des non-native speaker so gut wie niemals vollständig würden überwinden können. Als Ziel trat nun auch die emanzipierte Beteiligung an sozialen (Aus-)Handlungsprozessen hinzu. 3.2. Sprache und Sprachlernen Eine solchermaßen veränderte Sicht auf die Lernenden sowie die Veränderungen der Ziele des Fremdsprachenunterrichts gingen einher mit der Veränderung des in der fremdsprachendidaktischen Diskussion umstrittenen Kulturbegriffs (s. Hu 1999) und später mit der Hinwendung zum Diskursbegriff (s. Plikat 2017). Essenzialistisch-herkunftbezogene Kulturverständnisse stießen auf erhebliche Kritik, während „narrativ-konstruktivistische Konzept[e]“ im Anschluss an die kulturwissenschaftliche Theoriebildung (↗ Art. 1) als angemessener wahrgenommen wurden (Hu 1999: 297). Zunehmend konnte sich daneben auch der Diskursbegriff etablieren, der die Art und Weise des Gebrauchs von Sprache in den Mittelpunkt stellt. Sprache wird im Anschluss an Foucault als ein Mittel zur Herstellung symbolischer Ordnungen verstanden. Diskurs ist das Geschehen, in dem - meist in machtförmig geprägten Strukturen - solche Ordnungen erzeugt und sozial wie individuell wirksam werden (↗ Art. 40). Ein diskursives Sprachverständnis wiederum ermöglicht es, die Konzeptionen des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts und von Mehrsprachigkeit einander anzunähern. Mit dem Diskursbegriff wurde sprachliches Handeln in einem deutlich erweiterten Sinn als eine allgemeine Kompetenz sozialen Handelns in symbolisch strukturierten, vielfach geschichteten, situativ und historisch dynamischen Kontexten gefasst. Die Betrachtung unterschiedlicher Einzelsprachen trat hinter die Betrachtung sprachlich-interaktionaler Funktionen zurück. Mehrsprachigkeit wird in diesem Zuge zur - über Einzelsprachen hinausgreifenden - Fähigkeit, in verschiedenen symbolisch-sozialen Kontexten (Diskursen) handeln zu können. Programmatisch fasst dies Gogolin (1994: 75): Eine vernunftgemäße Perspektive allgemeiner sprachlicher Bildung müßte (sic! ) (…) am Leitbild des mehrsprachigen, metasprachliche Kompetenz in diesem Sinne innehabenden Menschen mit ‚pluralem sprachlichen Habitus‘ orientiert sein, denn nur dieser wäre in der Lage, seine kommunikative Praxis auf eine noch unbekannte Zukunft in sprachlicher Pluralität hin auszurichten. Betrachtet man Lernende als die für ihren Lernprozess letztlich Zuständigen und Ver- <?page no="179"?> 170 StephanBreidbach antwortlichen und zugleich Lernen als einen aktiven Prozess der engagierten Auseinandersetzung mit Welt und Sprache(n), sind für den Fremdsprachenunterricht Bedingungen notwendig, unter denen Lernende sich auf ein derart intensives Engagement überhaupt einlassen können und wollen. Aus diesem Grund rücken nun verstärkt Aspekte wie Interessen, Sprachlernvoraussetzungen und Sprachlernerfahrungen und -motivation ins Zentrum der Aufmerksamkeit sowie die Frage, ob und wie Lernende substanziell an der Gestaltung von Unterrichtsprozessen zu beteiligen sein könnten. In diesem Zusammenhang spricht Breen von „learner contributions to language learning“ (2001). Er stellt einen Reflexionsrahmen zur Verfügung, der in vier Schichten darlegt, dass Lernende durch Haltungen, Vorannahmen und Affekte (Schicht 1), Handlungsmöglichkeiten und Spielräume (Schicht 2), tatsächliche Beteiligung am Kommunikationsgeschehen (Schicht 3) sowie vergangene, gegenwärtige und zukünftig angestrebte Zugehörigkeiten zu (Sprecher-)Gemeinschaften (Schicht 4) (Breen 2001, zusammenfassend Block 2003: 12) in den Sprachlernprozess eingebunden sind. Kommunikativer Fremdsprachenunterricht kommt daher ohne Lernerzentrierung in diesem Sinne notwendigerweise nicht aus. Im Zuge dessen, was Block (2003) als social turn in der Spracherwerbsforschung rekonstruiert, werden eine Reihe der in Schicht 1 thematisierten Lernerattribute - z. B. Geschlecht, Alter, Lernneigung ( aptitude ) u. a. -, bis hin zu Kategorien wie Identität (Schicht 4) nicht mehr als statische Größen verhandelt, sondern als soziale Konstrukte, die in diskursiven Prozessen entstehen und veränderbar sind (↗ Art. 1). Auch die Modellierung und Erforschung von Sprachlernmotivation hat in ähnlicher Weise eine sozialkonstruktivistische Wende erfahren. So wird Motivation nicht mehr (alleine) als eine intrapsychische Disposition verstanden. Das inzwischen viel zitierte Modell des L2 Motivational Self System (Dörnyei 2009) versteht Sprachlernmotivation explizit in Bezug zu den Dimensionen sozialer und sprachlicher Identität von Lernenden. Daran anknüpfend hat Henry (2017) eine modifizierte Fassung dieses Modells vorgelegt, die dem Gedanken Rechnung trägt, dass beim Lernen von weiteren Sprachen individuelle und differenzierte Identitätsbezüge zwischen den zuvor gelernten und den aktuell gelernten bzw. zukünftig zu lernenden Sprachen entstehen. 3.3. Kultur Eine ähnliche Transformation hat der Begriff der Kultur (↗ Art. 1) in den vergangenen ca. 30 Jahren durchlaufen. Nicht zuletzt im Anschluss an kulturwissenschaftliche Diskurse hat Kramsch vielfach argumentiert (zuletzt 2018: 18), dass die Formel ‚eine Sprache = eine Kultur‘ weder auf der gesellschaftlichen noch auf der Ebene der Schülerschaft empirisch noch tragfähig sei (so sie es denn jemals gewesen sein sollte). Mit der Konzeption eines ‚dritten Orts‘ ( third place ), einer an Homi K. Bhaba angelehnten Wortschöpfung, legte Kramsch (1993) eine ausdrücklich nicht dichotom strukturierte Ziel- (besser: Möglichkeits-)Formulierung für das Lernen von Fremdsprachen vor. Kramsch argumentiert, dass Sprachenlernen weder im Erlernen eines sprachlich-sozialen Repertoires noch in der (kritischen) Thematisierung von Eigenem oder Fremdem aufgehe. Das Erlernen von Sprachen bedeute darüber hinaus immer Begegnung mit Welt in einem unbekannten Idiom und mit unbekannten (d. h. unvertrauten) sozialen Praktiken, die sich als widerständig und als eine destabilisierende Heraus- <?page no="180"?> 171 30. KommunikativerFremdsprachenunterrichtundMehrsprachigkeit forderung an das eigene Selbst herausstellen können: „(L)earning a language is learning to exercise both a social and personal voice, it is both a process of socialization into a given speech community and the acquisition of literacy as a means of expressing personal meanings that may put in question those of the speech community.“ (Kramsch 1993: 231) Für Kramsch ist der dritte Ort ein ambiges, in Qualität, Struktur und Bedeutsamkeit fluides, nicht-statisches Moment der Weltdeutung von unbestimmter Dauer, das sich je individuell aus der freien, fortgesetzten persönlichen Bearbeitung von Fremdheitserfahrungen (evtl. auch von Erfahrungen des Be- und Entfremden) ergibt. Idealiter vollzieht sich dieses im dialogischen Austausch mit Menschen mit einem ähnlichen Erfahrungsstand (Kramsch 1993: 257). Weder die genaue Gestalt des Erlebens eines dritten Orts noch der Zeitpunkt seines Auftretens sind dabei genau im Voraus zu bestimmen. Auch geht das Erlebnis eines Dritten-Orts nicht synthesehaft aus der Begegnung von „Eigenem“ und „Fremdem“ hervor, sodass die Vorstellung vom dritten Ort nicht klassisch-dialektisch strukturiert ist. Kramsch hat den Begriff des third place schrittweise mit einem Konzept mehrsprachiger Kompetenz ( symbolic competence ) unterlegt. Symbolic competence umfasst dabei eine Verstehensebene, die sich auf das Verständnis von symbolischen (hier: sprachlichen) Ausdrucksformen bezieht, eine kreative, die sich auf die Nutzung sprachlich-symbolischer Bedeutungsvielfalt für das Auffinden einer eigenen Subjektposition bezieht sowie eine kritisch-analytische Ebene, auf der eine Auseinandersetzung mit den Anfechtungen der Integrität und Autonomie von Subjekten durch diskursiv vermittelte Vereinnahmungsprozesse ermöglicht wird (Kramsch 2009: 200- 201). 4. Praxisrelevanz Als eine demografische Rahmenbedingung für Fremdsprachenunterricht ist Mehrsprachigkeit im Zentrum der fremdsprachendidaktischen Diskussion inzwischen angekommen. Auch als Ziel von Fremdsprachenunterricht kann Mehrsprachigkeit inzwischen allgemein akzeptiert gelten. Insofern ist es sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, dass sich aus der Entwicklung einer Reihe wesentlicher grundlagentheoretischer Bezüge, auf denen die Konzeption kommunikativen Fremdsprachenunterrichts fußt, sich auch für diese gewissermaßen von innen heraus eine Öffnung zur Mehrsprachigkeit ableiten und begründen lässt. Aus einer CLT-Perspektive, die sich sowohl aus einer soziolinguistischen als auch gesellschaftsphilosophischen Linie speist, rekurriert Mehrsprachigkeit demnach auf die Möglichkeit, ebenso wie auf die Notwendigkeit, eine Vielzahl von Sprachen und Diskursen sowie eine Vielzahl tatsächlicher und potenzieller Sprecherpositionen innerhalb von Diskursen ( identity experiences , Henry 2017) zu berücksichtigen. Darum ist kommunikativer Fremdsprachenunterricht gegenwärtig auch nicht mehr überzeugend als Unterricht mit dem Ziel von „multiple monolingualisms“ zu denken (Kramsch 2018: 22). 5. Perspektiven Perspektivisch bedeutsam dürfte für die Theorie und Praxis kommunikativen Fremdsprachenunterrichts eine Verbindung mit den zuletzt stärker in den Vordergrund getretenen Gegenständen der Multiliteralität (Küster 2014) sowie der multilingual education sein. Stärkere Berücksichtigung dürften demnach Ansätze finden, die sich explizit einer ganz- <?page no="181"?> 172 StephanBreidbach heitlichen Sicht auf individuelle Sprachrepertoires zuwenden, wie z. B. das ‚Focus on Multilingualism‘ Modell (Cenoz & Gorter 2011). Abzuwarten bleibt, ob eine Diskussion um die Kommunikativität des Fremdsprachenunterrichts wieder stärker in einer gesellschaftspolitischen Perspektivierung geführt wird. Kramsch (2018) beobachtet zwei argumentative Strömungen, mit denen es sich auseinanderzusetzen lohne: zum einen stellt sie das Diskursphänomen der „Erfindung von Mehrsprachigkeit“ (ebd.: 21 f.) fest. Hierunter subsumiert sie Positionen, die in mehrsprachigen Praktiken insbesondere von gesellschaftlich marginalisierten Personen und Gruppen einen sozialpolitisch emanzipativen Gewinn erkennen. Zum anderen konstatiert sie die „Neu-Erfindung von Einsprachigkeit“ (ebd.: 23). Diese hänge zum einen mit neonationalistischen Reaktionen auf das Entstehen sprachlich heterogener Migrationsgesellschaften und zum anderen mit einer neo-liberalen Tendenz zur globalen Vermarktung von Produkten mittels sprachlicher und kultureller Stereotypen zusammen. Es ist zurzeit noch offen, welches Gewicht solche Konzeptionen des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts haben, die in kritischer Reaktion auf diese und ähnliche sozialen und politischen Prozesse formulierten worden sind, wozu die von Kramsch (2009) beschriebene symbolic competence oder das von Plikat (2016) vorgelegte Konzept der fremdsprachlichen Diskursbewusstheit zu zählen sind (↗ Art. 41). Den beiden letztgenannten unterliegt ein breites Verständnis von Mehrsprachigkeit und ein gesellschaftspolitisch-emanzipatorischer Grundimpuls, auf den die Diskussion um kommunikativen Fremdsprachenunterricht lange hat verzichten müssen. Literatur Bach, G. & Timm, J.-P. (1996): Handlungsorientierung als Ziel und Methode. In: G. 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Deutsch), im bilingualen Sachfachunterricht (CLIL) (↗ Art. 111) oder im deutschsprachigen Fachunterricht - kann ein Einsatz von Texten aus verschiedenen Sprachen und Kulturen unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen und folglich unterschiedliche Ausprägungen aufweisen. <?page no="183"?> 174 MaikBöing Im Sprachunterricht kann mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit im Sinne der Interkomprehensionsdidaktik (↗ Art. 70) „einen Beitrag zur Erhöhung von Sprachlernbewusstheit ( multi-language and learning awareness ) und Selbststeuerungskompetenz bzw. Lernerautonomisierung leisten. Sie ermöglicht die deutliche Verbesserung des ‚Durchschauens‘ sprachlicher Strukturen (…), trägt bei zur effizienten und raschen Erzeugung mehrsprachiger Lesekompetenz innerhalb bestimmter Sprachfamilien“ (Meißner 2007: 215). In diesem Sinne eingesetzt, kann mehrsprachige Textarbeit den Tertiärsprachenerwerb (↗ Art. 86) beschleunigen und eine Erweiterung von Lese-, Sprech- und Schreibkompetenz herbeiführen. Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen schärft diesbezüglich maßgebliche Kompetenzen und Ressourcen aus (vgl. Candelier et al. 2012) (↗ Art. 20). Im bilingualen Sachfachunterricht (↗ Art. 111, 114) reicht eine vorwiegend linguistische Betrachtung im Sinne der skizzierten Vorgehensweise der Interkomprehension zur Förderung von Sprachlernbewusstheit sowie Sprachlernkompetenz allein nicht aus. Hier muss der Erwerb von Sachfachkompetenz und interkultureller Kompetenz im Fokus stehen. D.h., der Einsatz von Texten aus verschiedenen Sprachen und Kulturen muss einen Mehrwert auf der Ebene von Konzept- und Inhaltslernen generieren, z. B. durch die Thematisierung kultureller Skripte (vgl. Albrecht & Böing 2012). Gleiches gilt für den Einsatz von Texten aus verschiedenen Sprachen im deutschsprachigen Fachunterricht. Es sollte ein wissens-, prozess- oder fertigkeitsbezogener Erkenntnisgewinn intendiert werden (d. h. Schüler erwerben Kenntnis über im L1-Fachkontext nicht vorhandene Konzepte und Fachbegriffe bzw. Fachmethoden, z. B. die im französischen Geographieunterricht (↗ Art. 113) verbreitete croquis -Technik einschließlich ihrer spezifischen Symbol- und Zeichensprache). Dies schließt im Sinne eines sprach(en)sensiblen Fachunterrichts auch durchaus den punktuellen Einsatz von Materialien aus den Herkunftsländern der Schülerinnen und Schüler mit ein, sofern diese einen sachfachlichen Erkenntnisgewinn generieren können. Auf Techniken der Interkomprehension (↗ Art. 70) kann auch im bilingualen und deutschsprachigen Fachunterricht auf dem Weg zum Erwerb von Sachfachkompetenz und interkultureller Kompetenz zurückgegriffen werden, eine systematische Aneignung kann hier hingegen nicht erfolgen und sollte in den Sprachunterricht ausgelagert werden. 2. Mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit mit dem Fokus Interkomprehension Bereits seit vielen Jahren liegen positive Erfahrungen mit dem Einsatz von Interkomprehension im schulischen Kontext vor. Zunächst vorwiegend in Form von Modulen durchgeführt (vgl. Böing 2004; Bär 2006), greift zunehmend auch der reguläre Tertiärsprachenunterricht der romanischen Schulsprachen auf Verfahren der Interkomprehension zurück (↗ Art. 67). Gemein ist beiden Organisationsformen die abgestimmte Nutzung von Wort- und Spracherschließungsstrategien. Durch eine Kombination folgender Lehr- und Lernstrategien kann mehrsprachige Textarbeit methodisch-didaktisch umgesetzt werden (für Details Böing 2004): • Interlinearübersetzungen zur Visualisierung von Transferbasen und zur Erleichterung der Hypothesenbildung, <?page no="184"?> 175 31. MehrsprachigeundmehrkulturelleTextarbeit • der Rückgriff auf eine individuelle Hypothesenbzw. Spontangrammatik, • Laut-Denk-Protokolle zur Reflexion von Worterschließungsstrategien, • Paralleltexte zur Förderung des „Zwischen-Sprachen-Lernens“, • die Sensibilisierung für Eurokomposita durch Wortschatz-Vergleiche, • das Erkennen zwischensprachlicher Regularitäten in lexikalischen Serien, • ein persönliches Lerntagebuch und eine persönliche Sprachlernbiografie als Begleitinstrumente. Die Auswahl der Texte innerhalb eines auf Interkomprehension ausgerichteten Kurses oder Lehrgangs muss in ihrer Abfolge eine progressive Anwendung der Lern- und Arbeitstechniken ermöglichen. 3. Mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit mit dem Fokus interkulturelle Kompetenz Die enge Verbindung zwischen Sprache und Kultur wird vor allem dann deutlich, wenn mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit mit dem Fokus der Förderung der interkulturellen Kompetenz angelegt wird. Dies betrifft gleichermaßen den bilingualen Sachfachwie den (fortgeschrittenen) Fremdsprachenunterricht, wenn es darum geht, dass Lernende Sachverhalte in L 1, L 2 etc. mehrperspektivisch dekonstruieren. Indem die Schülerinnen und Schüler Phänomene, Diskurse, (Fach-) Begriffe und (Fach-)Konzepte aus verschiedenen Sprachen beleuchten und mittels der reflexiven Didaktik (vgl. Breidbach 2007) besprechen, können sie den Mehrwert mehrsprachiger und mehrkultureller Textarbeit unmittelbar erfahren. In diesem Zusammenhang besitzen in den Texten thematisierte sog. kulturelle Skripte eine besondere Bedeutung. Damit können Begriffe bezeichnet werden, „die über ihre rein denotative Funktion zur Bezeichnung eines Sachverhalts hinaus bestimmte „kulturspezifische“ konnotative Merkmale transportieren, d. h. kulturelle Spezifika, Konzepte, Wissensstrukturen, Repräsentationen sowie Bedeutungsnuancen“ (Albrecht & Böing 2010: 64). Für die didaktische Erschließung einer mehrsprachigen und mehrkulturellen Textarbeit bietet sich ein Rückgriff auf das Integrated Dynamic Model nach Diehr (2016) an. Das Modell thematisiert gezielt vergleichende Betrachtungen von Alltags- und Fachsprache in Verbindung mit den hinter den Begriffen stehenden Konzepten in L 1 und L 2. Im Zentrum der kontrastiven Wortschatz- und Textarbeit in zwei oder mehreren Sprachen stehen die jeweiligen Äquivalenzgrade der durch die Begriffe bezeichneten Konzepte, d. h. fehlende Äquivalenz (Lakunen), Nichtäquivalenz, partielle Äquivalenz, vollständige Äquivalenz. Ursprünglich von der Autorin zur Ausbildung einer doppelten Fachliteralität im bilingualen Sachfachunterricht vorgeschlagen, bietet es ebenfalls einen Ansatzpunkt für mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit im fortgeschrittenen Fremdsprachenunterricht, wenn dort stärker inhaltsbezogen gearbeitet wird. Einen weiteren methodischen Zugriff bietet das Textbasis-Satelliten-Arrangement (Meißner 1999). Es gruppiert um einen Text in der unterrichteten Sprache (z. B. Englisch im fortgeschrittenen Englischunterricht) i. d. R. kürzere Referenztexte in anderen, den Schülern verständlichen Sprachen. Dies können sowohl die Schulfremdsprachen (z. B. Französisch, Latein, Spanisch, Russisch) und/ oder die reguläre Sprache des Unterrichts sein (Deutsch) und/ oder die eine oder andere Herkunftssprache <?page no="185"?> 176 MaikBöing der Schüler. Das Text-Arrangement entspricht in historischer Hinsicht der mehrsprachigen europäischen res publica litterarum , in globaler Hinsicht der Präsenz heutiger Themen in ganz verschiedenen Ländern und Kontinenten. Ein Beispiel: Der englische Basistext greift das Diktum amerikanischer Dollarnoten Ex pluribus unum auf. Gemeint ist natürlich die Bildung der Union (der Vereinigten Staaten); kurze Referenztexte von nur wenigen Zeilen können in französischer Sprache die auf Montesquieu zurückgehende Gewaltenteilung ( séparation des pouvoirs ) oder das in der Präambel des Estatuto de autonomía de Cataluña 1913 festgelegte Ziel betreffen que los hombres y mujeres de Cataluña quieren proseguir con el fin de hacer posible la construcción de una sociedad democrática y avanzada, de bienestar y progreso, solidaria con el conjunto de España e incardinada en Europa. (Parlament de Catalunya 2013: 19) Weitere Bezüge nicht nur zum deutschen Föderalismus oder anderen Ländern sind möglich. Sie sollten nicht zuletzt auch nach den in den Klassen vertretenen Schülern mit einem engen oder weiter fassenden Migrationshintergrund gewählt werden. Das Beispiel aus dem Geschichts- oder Politikunterricht lässt sich selbstverständlich auf alle möglichen Kontexte anwenden. Die Unterrichtssprache ist konsequent die reguläre Zielsprache, hier also Englisch. Als Themen für eine derartige mehrperspektivische Textarbeit eignen sich im Allgemeinen aktuelle geographisch-gesellschaftswissenschaftliche Themen (z. B. urbane Herausforderungen im europäischen Vergleich) oder auch historisch-politische Themen (z. B. die Erweiterung des Themas Occupation et Résistance in einem Französisch-Leistungskurs um ein Beispiel aus Italien in italienischer Sprache). Auf diese Weise kann eine auf den Erwerb von Sachkompetenz im Verbund mit interkultureller Kompetenz ausgerichtete mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit auch Wegbereiter eines stärker inhaltsbezogenen Fremdsprachenunterrichts sein. In methodischer Hinsicht bieten etablierte Methoden zur Förderung von Mehrperspektivität und interkultureller Kompetenz (vgl. Böing 2011), wie Mehrperspektivitätswürfel, lexikalische Zuweisungen, Denkhüte, abwechslungsreiche Verfahren für eine lebendige Versprachlichung der Erkenntnisse. 4. Fazit und Ausblick Mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit bietet im schulischen Kontext vielfältige Einsatzmöglichkeiten im Sprachenwie im Fachunterricht. Sie kann Erkenntnisse generieren, die unter Rückgriff auf Texte in nur einer Sprache nicht möglich wären. Je nach curricularen Anforderungen (↗ Art. 21), Interessen und Bedürfnissen der Lernenden sowie spezifischem Schulkontext sind unterschiedliche Verfahren zwischen dem oben skizzierten „Fokus Interkomprehension“ bzw. dem „Fokus Interkulturelle Kompetenz“ sinnvoll, auch Mischformen sind selbstverständlich denkbar, da Kultur und Sprache immer als Verbindung zu sehen sind. Mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit sollte wie Textarbeit allgemein durch geeignete pre , while und post reading activities sowie ein abgestimmtes Scaffolding flankiert werden (↗ Art. 115). Auch im Kontext von europäischer Sprachenpolitik - möglichst viele Europäerinnen und Europäer sollten mindestens zwei Fremdsprachen neben ihrer eigenen Sprache lernen (↗ Art. 6, 12) - , aber auch im Zuge der <?page no="186"?> 177 31. MehrsprachigeundmehrkulturelleTextarbeit Herausforderungen multilingualer Klassenzimmer in einer lebensweltlich ausgerichteten sprachensensiblen Schule (vgl. Oleschko 2017) gewinnt mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit zunehmend an Bedeutung. Durch sie kann eine diversifizierte und abgestimmte Mehrsprachigkeit erreicht werden. In organisatorischer Hinsicht bietet die in manchen Bundesländern mögliche Einrichtung von Projektkursen (in Nordrhein-Westfalen z. B. ein dreistündiger Grundkurs über ein Schulhalbjahr mit Anbindung an ein Leitfach) vielfältige Chancen, Mehrsprachenunterricht und kulturelle Begegnungen in neuen Formaten auch vor Ort durchzuführen. In einem Europa der Nationen und der Sprachen sollte mehrsprachiges- und mehrkulturelles Arbeiten viel stärker das Unterrichtserlebnis bestimmen. Es ist eine Strategie zur Förderung der Bildung einer europäischen Identität. Literatur Albrecht, V. & Böing, M. (2010): Wider die gängige monolinguale Praxis? ! - Mehrperspektivität und kulturelle Skripte als Wegbereiter der Zweisprachigkeit im bilingualen Geographieunterricht. In: S. Doff (Hrsg.): Bilingualer Unterricht in der Sekundarstufe - eine Einführung . Tübingen, 58-71. Bär, M. (2006): Italienisch interkomprehensiv: Erfahrungen mit einem Eingangsmodul an der Schule. In: H. Martinez, M. Reinfried & M. Bär (Hrsg.): Mehrsprachigkeitsdidaktik gestern, heute und morgen. Festschrift für Franz-Joseph Meißner zum 60. Geburtstag . 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Definition Ausgehend von Interkulturalität, d. h. einer durch Globalisierung und Migration bestehenden ethnischen und kulturellen Vielfalt, zielt interkulturelles Lernen auf die Förderung der Kompetenz, mit Menschen aus verschiedenen Kulturen umzugehen. Im Kontext des hiesigen Fremdsprachenunterrichts bezieht sich dies auf die Kulturen der beteiligten Personen - Lehrende, Lernende und soziales Umfeld - sowie auf die Lerngegenstände - Sprachen, Kulturen, Literaturen, interkulturelle Kommunikation etc. Damit in Zusammenhang stehende Zielsetzungen, Lernwege und Lernprozesse, umfassen hermeneutische Verstehensprozesse, Auseinandersetzungen mit Fremdheiten, Partikularismen und kulturkontrastiven Argumentationen, Ausrichtungen auf interkulturelle Gemeinsamkeiten und Universalismen sowie schließlich Aufbrechungen und Infragestellungen z. B. von Wahrnehmungen, Einstellungen und Stereotypen. Zugleich erscheint die Abgrenzung zwischen den Kulturen schlechthin in vielen Fällen in Frage gestellt (↗ Art. 17). Insgesamt wird interkulturelles Lernen in der Regel auf zwei Kulturen bezogen. Es entspricht jedoch der Offenheit des Kulturbegriffs und dem vielkulturellen Wesen Europas sowie der Mehrkulturalität (↗ Art. 8) der Lerngruppen, wenn bikulturelles Lernen auf mehrkulturelles Lernen ausgeweitet wird. Zudem unterstützt das Prinzip der Exemplarizität durchaus mehrkulturell relevante Lernziele. 2. Entwicklungen im historischen Rückblick Frühe Vorläufer des interkulturellen Lernens im fremdsprachendidaktischen Diskurs sind verschiedene Etappen der Landeskunde (↗ Art. 35), d. h. die Realienkunde seit der Zeit der Neusprachlichen Reformbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Berücksichtigung realer Gegenstände aus dem Zielsprachenland, die Kulturkunde der 1920er F Didaktik der Mehrkulturalität <?page no="189"?> 180 ChristianeFäcke Jahre mit dem Fokus auf die Erfassung zielsprachlicher Mentalitäten und des Charakters einer Nation und ihrer Bewohner, die menschenverachtende Rassenkunde in der Zeit des Nationalsozialismus und schließlich die politisch orientierte Landeskunde der 1960er und 1970er Jahre (Picht 1974), die mit ihrem gesellschaftspolitischen und -kritischen Blick schließlich in die Stuttgarter Thesen (Robert Bosch Stiftung/ Deutsch-französisches Institut 1982) mündet. In der DaF-Didaktik sind vergleichbare Entwicklungen festzustellen: vom faktischen Ansatz einer auf Wissen orientierten Landeskunde über einen handlungsbezogenen, integrierten Ansatz in den 1970er Jahren bis hin zu der Sensibilisierung für Fremdes und dem D-A-CH(L)-Prinzip, das die Vielfalt der deutschsprachigen Länder - Deutschland, Österreich, die Schweiz und Liechtenstein - bewusst berücksichtigt (Rösch 2011: 131 ff.). In den 1990er Jahren werden verschiedene Ansätze vertreten: Argumentationen, die die interkulturelle Kommunikation (↗ Art. 33) fördern wollen, setzen auf das Verständnis von Kulturstandards, d. h. als typisch angesehene Denk- und Verhaltensweisen in einer als in sich homogen wahrgenommenen Kultur, und auf die daraus resultierende erfolgreiche interkulturelle Kommunikation (Thomas 1996). Dabei geht es zentral um die Auseinandersetzung mit Klischees und Stereotypen (↗ Art. 34, 104). Der Anspruch dieses Zugangs liegt darin, interkulturelle Missverständnisse vermeiden zu helfen und zum Gelingen interkultureller Kommunikation beizutragen. Kritische Positionen werfen diesen Argumentationen statische, deterministische Sichtweisen, die fälschliche Homogenisierung einer Kultur sowie die Zementierung von Klischees und Stereotypen vor. In der Fremdsprachendidaktik hat vor allem das Gießener Graduiertenkolleg „Didaktik des Fremdverstehens“ (Bredella & Christ 1995) eine Rolle gespielt, dessen Verdienst darin liegt, interkulturelles Lernen als wesentliches Element des Fremdsprachenlehrens und -lernens in die fremdsprachendidaktische Diskussion gebracht zu haben (↗ Art. 36). Dieser hermeneutisch argumentierende Ansatz geht aus von der binären Dichotomie des Eigenen und des Fremden und erachtet Empathie und Perspektivenwechsel als Möglichkeit zum Verstehen des Fremden. Bemerkenswert ist die reziproke Wirkung von Fremdverstehen, das prinzipiell zu einer Neuverortung des eigenen Ich führen kann. Fremdverstehen wird als realisierbar vorgestellt. Kritikpunkte beziehen sich darauf, dass dieser Ansatz eher unpolitisch und verharmlosend sei: Für Hunfeld zielt Fremdverstehen auf die Zerstörung des Fremden. Zugleich wird der Didaktik des Fremdverstehens vorgeworfen, dass gerade dieses Verstehen nicht immer und nicht vollständig möglich sei (so im hermeneutischen Skeptizismus, Hunfeld 2004). Weitere Kritikpunkte beziehen sich auf fehlende Aufbrechungen und Differenzierungen innerhalb der als in sich homogen vorgestellten Kulturen und Nationen. Neben diesen partikularistisch argumentierenden Positionen werden Ansätze aus der Tradition des Universalismus vertreten, die gerade die Gemeinsamkeiten zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft betonen (↗ Art. 37). Dies geschieht u. a. in Argumentationen im Sinne einer Global Education , in denen gerade auch die Bezugnahme auf Kulturen und Nationen außerhalb Europas erfolgt (Lütge 2015). Im Fokus stehen u. a. Nachfolgestaaten ehemaliger Kolonien Englands, Frankreichs oder Spaniens. Dies bedeutet z. B. für den Englischunterricht die Berücksichtigung Ugandas (Schaidt 2017), für den Französischunterricht die Bezugnahme auf frankophone <?page no="190"?> 181 32. InterkulturalitätundinterkulturellesLernen Literatur oder für den Spanischunterricht die Auseinandersetzung mit Hispanoamerika. Die Stärke universalistischer Argumentationen besteht gerade in der Hervorhebung dieser Gemeinsamkeiten, doch stellt dies gleichzeitig auch ihre Schwäche dar, insofern als die erwähnten Gemeinsamkeiten oft mit dem Postulat einer vermeintlichen Gleichheit einhergehen, die in der Realität keineswegs eingelöst ist. Diese letztgenannte Perspektive greifen insbesondere dezidiert antirassistische Positionen auf. Diese kritisieren rassistische und andere Diskriminierungen und Gewaltausübung der verschiedensten Art in verschiedenster Form (↗ Art. 38). Ganz im Sinne der Friedensforschung (Galtung 1998) werden Abstufungen des Rassismus erkannt und kritisiert: die direkte physische, die latente strukturelle und die kaum merklich und durch kommunikative Alltagspraxis verbreitete und omnipräsente kulturelle Gewalt (↗ Art. 39). Galtung (1998: 343) definiert Gewalt als „vermeidbare Verletzungen grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens , die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzen, was potentiell möglich ist“. Im Fremdsprachenunterricht zeigt sich dies in der Thematisierung bestimmter politischer, sozialer, wirtschaftlicher oder historischer Inhalte, u. a. Kolonialismus, Imperialismus und Sklaverei (Poenicke 1995). Die Stärke dieser Argumentationen liegt darin, gerade diese Diskriminierungen und ihre rassistischen, antisemitistischen, sexistischen und anderen Begründungen sichtbar zu machen. Ihre Schwäche liegt in der Verabsolutierung des Rassismus als allumfassendes und unüberwindbares Prinzip aller Gesellschaften aller Zeiten. Mit einem solchen Schwarz-Weiß-Denken ist es nicht mehr möglich, nicht rassistisch zu sein. Jede Denk- und Verhaltensweise wird damit als rassistisch wahrgenommen, ein politisch korrektes Verhalten ist nicht möglich. Gegen Ende der 1990er Jahre begegnen mehr und mehr Positionen in der Tradition der Postmoderne, die den Begriff der Transkulturalität (↗ Art. 41) in den Mittelpunkt stellen (Welsch 1992; Eckerth & Wendt 2003). Ausgehend von der Überlegung, dass Kulturen in der modernen Welt nicht mehr eindeutig als voneinander unterscheidbar und abgrenzbar vorgestellt werden können, stehen Überlappungen, Ambivalenzen von Kulturen und die Aufhebung des Kulturbegriffs im Vordergrund, wie wir ihn aus der Epoche der Nationalismen kennen. Der dekonstruktivistische Blick der Postmoderne zielt auf die Überwindung der o. g. Sichtweisen und visiert ein Überschreiten von Abgrenzungen sowie die Dekonstruktion des Kulturbegriffs an sich an (↗ Art. 40). Stärken dieser Argumentation bestehen in der Berücksichtigung ambivalenter, vielfältiger und offener Sichtweisen auf Kultur(en) in einer von Migration und Globalisierung geprägten modernen Welt. Schwächen des Ansatzes bestehen in der Verwischung nach wie vor bestehender Abgrenzungen und Hierarchisierungen, Ausgrenzungen und Diskriminierungen. Mit der Veröffentlichung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Europarat 2001) und der Bildungsstandards (2003; 2012) verlagert sich die Diskussion in den Fremdsprachendidaktiken von interkulturellem Lernen auf interkulturelle Kompetenzen, die die zu erreichenden Qualifikationen der Lernenden in den Blick nehmen (↗ Art. 18, 43). Dabei werden die folgenden Dimensionen unterschieden: Kenntnisse ( savoirs ), Handlungskompetenz ( savoir-faire ), Einstellungen ( savoir-être ), Fähigkeit des Verstehens einer anderen Kultur ( savoir-comprendre/ sa- <?page no="191"?> 182 ChristianeFäcke voir-apprendre ) und kritisches interkulturelles Bewusstsein ( savoir-s’engager ) (Byram 1997). Neben Fragen danach, wie diese Kompetenzen vermittelt und gefördert werden können, geht es auch um Fragen der Evaluation interkultureller Kompetenzen (Fäcke 2012). Lösungsvorschläge (↗ Art. 48, 49) reichen von einem Plädoyer für die Selbstevaluation bis zu einer Stufung interkultureller Kompetenzen, z. B. werden im Developmental Model of Intercultural Sensitivity (Bennett 1993) sechs Stufen zwischen ethnozentrischen und ethnorelativierenden Sichtweisen unterschieden. Hier werden verschiedene Etappen auf dem Weg zu einer interkulturellen Kompetenz entwickelt, die man individuell durchläuft. Einstufungen erfolgen über die Einschätzung von critical incidents (↗ Art. 104). Dabei ergeben sich Schwierigkeiten der Zuordnung von Einstellungen und Verhaltensweisen zu den jeweiligen Etappen, Probleme der Abgrenzung der einzelnen Stufen oder auch die grundlegende Frage, ob interkulturelle Entwicklungsprozesse zwingend den jeweiligen Stufen und Abfolgen entsprechen müssen. 3. Forschungsstand und Praxisrelevanz Neben hermeneutischen Überlegungen zu interkulturellem Lernen gibt es quantitativ und qualitativ angelegte empirische Forschungen, von denen einige hier exemplarisch angeführt werden. Ein erstes Forschungsfeld in der Tradition der Pädagogischen Psychologie umfasst Studien zur Bedeutung von Interkulturalität für Lernende (und Lehrende). Dabei geht es um Lernvoraussetzungen und Lernbedingungen, um die Berücksichtigung von Multiethnizität und Fragen zur Integration im Klassenzimmer oder auch um die Bedeutung verschiedener Erstsprachen und Mehrsprachigkeit, um Sprachenbiografien und Identitäten (z. B. Krumm & Jenkins 2001). Die Ergebnisse machen die Komplexität interkultureller Dimensionen für die Identitäten der Jugendlichen, für das Miteinander im Klassenraum oder für den schulischen Erfolg sichtbar. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Untersuchungen zu Interkulturalität und interkulturellem Lernen in Unterrichtsmaterialien und Lehrwerken (z. B. Vali 2015). Hier wird deutlich, dass Interkulturalität als Charakteristikum der Zielsprachenkulturen in der Gestaltung von Lehrwerken seit den 1990er Jahren berücksichtigt und abgebildet wird (↗ Art. 46). In aktuellen Unterrichtsmaterialien werden interkulturelle Themen in unterschiedlichem Ausmaß und mit verschiedenen Schwerpunkten zum Gegenstand gemacht, wobei gerade partikularistische Argumentationen mit Fokus auf Besonderheiten der Zielsprachenkulturen wiederholt die Gestaltung prägen. In der empirischen Unterrichtsforschung geht es um die Relevanz des Themas für die Gestaltung des Sprachunterrichts wie z. B. um Fragen nach der Qualität eines interkulturellen Unterrichts, um die Analyse interkultureller Kompetenzstufen der Lernenden mit Hilfe der Analyse von critical incidents (z. B. Göbel 2007) oder auch um Fragen nach der Evaluation und Berücksichtigung interkultureller Kompetenzen in Klassenarbeiten. Weitere Forschungsbereiche mit Praxisrelevanz betreffen die Umsetzung interkulturellen Lernens außerhalb des Fremdsprachenunterrichts, wobei Felder wie Schüleraustausch, Tandemlernen (↗ Art. 45) oder Partnerschaftsprojekte in ihrer Qualität und Wirksamkeit untersucht werden (z. B. Fellmann 2015). Die Studien machen die Komplexität <?page no="192"?> 183 32. InterkulturalitätundinterkulturellesLernen und die Bedeutsamkeit interkulturellen Lernens immer wieder deutlich, wobei gerade auch Ambivalenzen und Brüche in möglichen Lösungen erkennbar werden, die letztlich unvermeidlich, unabgeschlossen und unlösbar bleiben. Interkulturalität in all ihren Facetten prägt den Sprachunterricht, endgültige und eindeutig positive Lösungen zum vollständigen und abschließenden Erreichen interkultureller Kompetenzen liegen nicht vor und sind nicht realisierbar. 4. Ausblick Aktuelle Entwicklungen in Forschungsdiskursen führen die genannten Schwerpunkte weiter. Dabei stellen sich derzeit offene Fragen, so z. B. inwieweit der hermeneutische Ansatz der Transkulturalität (↗ Art. 41) tragfähig ist, ob und wie die Evaluation interkultureller Kompetenzen (↗ Art. 48) sinnvoll umgesetzt werden könnte (oder sollte), wie gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen und wissenschaftliche Diskurse einander beeinflussen oder auch wie deterministisch anmutende Zusammenhänge zwischen ethnischer und sozialer Herkunft einerseits und Bildungserfolg andererseits aufgebrochen und gesellschaftliche Diskriminierungen ins Positive entwickelt werden können. In der Diskussion wird sicher auch die Weiterentwicklung des GeR im Companion Volume (Council of Europe 2018) und die darin angelegte Ausdifferenzierung plurikultureller Kompetenzen eine Rolle spielen (↗ Art. 19). Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Rassismen prägen Gesellschaft und Bildungswesen nach wie vor. Eine sinnvolle und sensible Weiterentwicklung interkultureller Diskurse wird sich daran messen lassen müssen, inwieweit sie zu einer Aufbrechung und Öffnung dieser Denk- und Verhaltensweisen beitragen kann. Literatur Bennett, M. J. (1993): Towards Ethnorelativism: A Developmental Model of Intercultural Sensitivity. In: R.-M. Paige (Hrsg.): Education for the Intercultural Experience . Yarmouth, MN, 21-71. Bredella, L. & Christ, H. (Hrsg.) (1995): Didaktik des Fremdverstehens . Tübingen. Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence . Clevedon u. a. Council of Europe (Hrsg.) (2018): Companion Volume with New Descriptors / Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs . [www.coe.int/ lang-cefr]. Eckerth, J. & Wendt, M. (Hrsg.) (2003): Interkulturelles und transkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht . Frankfurt a. M. u. a. Europarat (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen . München, Berlin. 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Diese Prägung äußerte sich für Hall in Verhaltensnormen, die sich in der Kommunikation u. a. als spezifischer Umgang mit Zeit (monochron vs. polychron), Raum (Nähe vs. Distanz) und Kontext ( low context vs. high context ) auswirken (Hall 1959). In einer Zeit, in <?page no="194"?> 185 33. Interkulturelle Kommunikation der zunehmende politische und ökonomische Verflechtungen auf internationaler Ebene sowie Migrationsbewegungen in allen Teilen der Welt die kulturellen Probleme der Kommunikation zwischen Menschen verschiedener Herkunft deutlich zu Tage treten ließen und die Erkenntnis förderten, dass Kommunikation aus mehr als Sprache besteht, erwies sich Halls These als hochaktuell. Sie wurde von zahlreichen wissenschaftlichen Fachdisziplinen aufgegriffen (Literaturwissenschaft, Linguistik, Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Ethnologie, Wirtschaftswissenschaft), und in kürzester Zeit konnte sich interkulturelle Kommunikation zu einem zentralen interdisziplinären Forschungsthema entwickeln (Lüsebrink 2004). Dieser Entwicklung schloss sich auch die Fremdsprachendidaktik (↗ Art. 17) an, die, in dem Bewusstsein, dass der Beherrschung von Fremdsprachen in der globalisierten Welt eine zentrale Rolle zufällt, dem interkulturellen Aspekt der Kommunikation seit Mitte der 1980er Jahre besondere Aufmerksamkeit widmete und den intercultural speaker zum neuen Leitbild erklärte (Kramsch 1998). Federführend wurde dabei das Gießener Graduiertenkolleg „Didaktik des Fremdverstehens“ (1991-2001) (↗ Art. 36). 2. Interkulturelle Kommunikation im Fremdsprachenunterricht Die Verbindung von Sprache und Kultur ist vielschichtig (↗ Art.1). Jede sprachliche Äußerung enthält gleichzeitig kognitive, affektive und handlungsorientierte Aspekte, die eng miteinander verknüpft sind und die kulturelle Prägung der Sprache transportieren: • Inhaltsaussagen, mit denen auf den Gesprächsgegenstand verwiesen wird, • Beziehungsbotschaften, mit denen die persönliche Ebene der Interaktion etabliert wird, • Selbstdarstellungen, die auf die Einstellungen, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des Sprechers hinweisen, • Appelle, die Handlungserwartungen an den Gesprächspartner enthalten. Dieses Beziehungsgeflecht weist in den verschiedenen Kulturen und gesellschaftlichen Gruppen deutliche Differenzen auf (Erll & Gymnich 2007: 91), die sich in der Sprache als unterschiedliche Kommunikationsstile und Diskurskonventionen niederschlagen. Hinzu kommen situative Faktoren (Personenkonstellation, Machtverhältnisse, Gesprächsthemen) sowie personenbezogene Faktoren (Persönlichkeitsmerkmale, Soziales Rollenverständnis), die Einfluss darauf haben, welche Ebene die Kommunikation in einem Gespräch dominiert. Zu unterscheiden ist zwischen • Gesprächsstilen: direkte oder indirekte Gesprächsführung, Dominanz des Sachbezugs oder des Personenbezugs, Einsatz von Gestik und Mimik • Gesprächsstrategien: hohe oder niedrige Kontextualisierung, Vorrang der Sprecher- oder Adressatenorientierung, Reparaturstrategien • Gesprächssequenzen: Formen der Gesprächseröffnung und -beendigung, Verwendung von Routineformeln, Einsatz von Gliederungssignalen • Gesprächsablauf: Sprecherwechsel, Rezipientenverhalten (Schumann 2010: 18 f.). In interkulturellen Kommunikationssituationen können diese Differenzen in der Gesprächsführung zu Fehldeutungen und Missverständnissen führen, insbesondere wenn unterschiedliche Normerwartungen und Höf- <?page no="195"?> 186 AdelheidSchumann lichkeitskonzepte aufeinander treffen (↗ Art. 104). Deshalb muss beim Erlernen einer Fremdsprache ein Bewusstsein für die Zusammenhänge zwischen Sprache und Kultur geschaffen werden. Im Fremdsprachenunterricht findet interkulturelle Kommunikation vorwiegend in mediatisierter Form als Arbeit mit Texten, Filmen oder Bildern der fremdsprachlichen Kultur bzw. zum Zweck des Spracherwerbs konstruierten Dialogen und Texten statt und nicht als interpersonale Interaktion. Um zu gewährleisten, dass diese Form der medialen Kommunikation zur Sensibilisierung für kulturelle Differenzen sowie zur Reflexion über eigene Denk- und Wahrnehmungsmuster führt, müssen Verfahren des interkulturellen Lernens angewandt und plurikulturelle Themen und Situationen behandelt werden (↗ Art. 44). Es können auch erfahrungsbasierte Verfahren, wie z. B. die Arbeit mit Missverständnissen, so genannten critical incidents, bei denen die Darstellung von authentischen interkulturellen Kommunikationsproblemen gedeutet und adäquate Handlungsstrategien erarbeitet werden, zum Einsatz kommen (↗ Art. 104). Zur Verwirklichung direkter interpersonaler Kommunikation im Rahmen des Fremdsprachenerwerbs bedarf es der Organisation von Begegnungssituationen, z. B. in Form von Schüleraustausch oder internationalen Workshops. Solche Begegnungen bieten den Lernern die Möglichkeit, persönliche Erfahrungen in der interkulturellen Kommunikation zu erwerben und über das Erleben eigener Betroffenheit ihr kulturelles Wissen zu erweitern und zu differenzieren sowie adäquate Interaktionsstrategien zu entwickeln (↗ Art. 45). Zur Unterstützung dieser Art von direkten Begegnungen kommen zunehmend als Vor- oder Nachbereitung des Austausches digitale Kontakte (E-Mail, Video-Konferenz, Facebook) zum Einsatz (↗ Art. 102). Zuweilen ersetzen diese sogar die persönliche Begegnung. Auch wenn der digitale Kontakt keine face-to-face -Kommunikation (↗ Art. 103) darstellt, so ist er doch auch als interpersonale Kommunikation zu werten, denn die Lerner kommunizieren in schriftlicher Form direkt miteinander und können dabei die gleichen interkulturellen Erfahrungen machen wie bei der direkten Begegnung. 3. Lernziel interkulturelle Kommunikative Kompetenz Ziel des Fremdsprachenunterrichts ist es, die Lerner in die Lage zu versetzen, sich in interkulturellen Begegnungssituationen erfolgreich zu verständigen. Für dieses Lernziel wurde von Michael Byram der Begriff der interkulturellen Kommunikativen Kompetenz geprägt (Byram 1997), der in den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (GeR) (↗ Art. 18) einging und zu einem Schlüsselbegriff der aktuellen Fremdsprachendidaktik wurde. Byram bezeichnet interkulturelle Kommunikative Kompetenz als das Zusammenspiel verschiedener Wissensbereiche: savoir, savoir être, savoir comprendre, savoir faire, savoir s’engager. Gemeint sind damit die Fähigkeiten, sich soziokulturelles Wissen anzueignen und gegenüber kultureller Fremdheit Neugier und Offenheit zu entwickeln, sich auf den Gesprächspartner einzustellen und Empathie zu zeigen, die eigenen Einstellungen und Deutungsmuster zu reflektieren sowie mithilfe von Aushandlungsstrategien den gegenseitigen Erwartungshorizont zu relativieren und sich auf Deutungsmöglichkeiten zu verständigen. Wie eine solche komplexe Kompetenz im Fremdsprachenunterricht erworben werden kann, wird in der Fremdsprachendidaktik <?page no="196"?> 187 33. Interkulturelle Kommunikation seit den 1990er Jahren intensiv diskutiert und in Form von didaktischen Modellen erprobt (↗ Art. 17, 32). Die Modelle gehen in der Regel von der Entwicklung verschiedener Bewusstseinsstufen von interkultureller Ignoranz über kulturelle Bewusstwerdung bis zur Integration interkultureller Konstrukte in das eigene Alltagshandeln aus (Witte 2009: 55 ff.) oder sehen den Erwerb interkultureller Kommunikativer Kompetenz als eine Lernspirale, bei der affektive, kognitive und pragmatisch-kommunikative Aspekte ineinander greifen und einen dynamischen, lebenslangen Lernprozess in Gang setzen, der den Grad der kulturellen Bewusstheit auf der Grundlage von immer neuen interkulturellen Erfahrungen, dem Erwerb neuen kulturellen Wissens und der Erprobung von Handlungsstrategien in der Interaktion immer größer werden lässt (Deardorff 2006). Für den Fremdsprachenunterricht wurden in den letzten Jahren eine Fülle von didaktischen Verfahren der kulturellen Bewusstseinsentwicklung, wie z. B. Übungen zur Sensibilisierung und Wahrnehmungsschulung, zur Selbstreflexion und Empathieentwicklung sowie interkulturelle Interaktionstrainings entwickelt (↗ Art. 44). Für den außerschulischen Bereich, insbesondere den wirtschaftsorientierten Bedarf, entwickelte man interkulturelle Trainingsprogramme, in denen, entsprechend der affektiven, kognitiven und handlungsorientierten Dimension interkultureller Kommunikation, informationsbasierte, erfahrungsbasierte oder interaktionsorientierte Verfahren miteinander verbunden werden. 4. Interkulturelle Kommunikation in der globalisierten Welt In der globalisierten Welt gehören Erfahrungen interkultureller Kommunikation in der personalen und medialen Interaktion zum Alltag, und interkulturelle Kommunikative Kompetenz gilt als eine Schlüsselqualifikation, die zur Bewältigung sprachlicher und kultureller Pluralität erforderlich ist. Doch die Globalisierung führt auch zu kulturellen Hybridisierungsprozessen und der Modifizierung traditioneller Kulturvorstellungen und verändert damit das Konzept der interkulturellen Kommunikation, das in seinen Ursprüngen bipolar gedacht war, als kommunikative Austauschsituation zweier, meist national definierter Gesprächspartner. Wolfgang Welsch setzte 1999 dem Begriff der Interkulturalität das Konzept der Transkulturalität gegenüber (Welsch 1999) und lenkte die Aufmerksamkeit darauf, dass Kulturen niemals homogen sind, sondern sich gegenseitig durchdringen und mischen und dass Individuen komplexe multiple Identitäten ausbilden, die sehr verschiedene kulturelle und soziale Einflüsse in sich vereinen können (↗ Art. 41). Die Hybridisierungsprozesse betreffen sowohl die kulturellen Wirklichkeiten in den verschiedenen Ländern, als auch die einzelnen Individuen und ihre spezifischen Identitätskonstruktionen. Globale Einflüsse verbinden sich überall mit lokalen Traditionen (Glokalisierung), und die lebensweltliche Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität (↗ Art. 100) einer zunehmenden Zahl von Individuen führt dazu, dass Kommunikationssituationen häufig plurikulturellen Charakter haben. Der Begriff der interkulturellen Kommunikation hat in diesem Sinne in den letzten Jahren eine Erweiterung und Öffnung erfahren, die auch bei der Förderung interkultureller Kommunikativer <?page no="197"?> 188 AdelheidSchumann Kompetenz im Fremdsprachenunterricht zu berücksichtigen ist. Grundlegende empirische Forschungen zum Einfluss der Globalisierung (↗ Art. 37) auf die interkulturelle Kommunikation und das kommunikative Verhalten von Interaktionspartnern in plurikulturellen Interaktionssituationen gibt es bislang kaum. Doch es sind auf diesem Gebiet in den letzten Jahren vermehrt Einzeluntersuchungen zu verzeichnen, in denen auf die Zusammenhänge zwischen lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität der Lerner und ihren Identitätskonstruktionen sowie ihrer Disposition zu kultureller Öffnung und Selbstreflexion eingegangen wird (u. a. Hennig-Klein 2018). Es ist zu erwarten, dass künftige empirische Untersuchungen zur interkulturellen Kommunikation unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität neue Erkenntnisse über die plurikulturellen Aspekte interkultureller Austauschprozesse zu Tage fördern. Literatur Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence. Clevedon . Deardorff, D. K. (2006): Policy Paper zur Interkulturellen Kompetenz. In: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz - Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts? Gütersloh, 13-35. Erll, A. & Gymnich, M. (2007): Interkulturelle Kompetenzen. 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Als soziale Konstruktionen sind Stereotype eng mit Selbstbildern verknüpft, da die Abgrenzung von einem „Anderen“ (Alterität) für eigene Identitätskonstruktionen konstitutiv ist. Als mentale Schemata dienen sie der Komplexitätsreduktion und erfüllen über die Verallgemeinerung und Kategorisierung eine Orientierungsfunktion (Heringer 2004). Als kollektive Vorstellungen und Einstellungen gegenüber Anderen sind sie Teil von Fremdwahrnehmungsprozessen (↗ Art. 104); für ihre Entstehung spielen einerseits historische oder aktuelle Erfahrungen eine Rolle, andererseits tragen Medien und die durch sie vermittelten Bilder zu ihrer Genese bei. Unterschieden werden können Autostereotype (Bilder über die eigene Gruppe/ Kultur), Heterostereotype (Bilder über die andere Gruppe/ Kultur) sowie Metastereotype, d. h. Annahmen über Stereotype von Anderen über die eigene Gruppe/ Kultur. Für den Begriff Stereotyp existiert eine Vielzahl von verwandten Bezeichnungen, die häufig auch synonym verwandt werden, insbesondere Klischee, Vorurteil und Image. Unter Klischees können sehr weit verbreitete und als leicht erkennbare Fremdbilder verstanden werden, die sich als Stereotyp quasi selbst entlarven wie z. B. der Franzose mit Baskenmütze und Baguette oder auch der Spanier als Torero. Der Begriff des Vorurteils wird dagegen in der Regel für negativ besetzte, häufig emotional aufgeladene Fremdbilder benutzt, bei denen die Abgrenzungsfunktion im Vordergrund steht und die letztlich auch zu Diskriminierungen führen können ( Jonas & Schmid Mast 2007; Otten 2006). Images, die häufig medial vermittelt werden, stellen komplexere Fremdwahrnehmungsmuster dar, die als nationale Images bspw. in Tourismus und Werbung zu finden sind (Lüsebrink 2016). 2. Historische Entwicklungen und Forschungskontexte Ursprünglich als Bezeichnung für unbewegliche Lettern aus dem Druckereiwesen stammend wurde Stereotyp erstmals von Walter Lippmann (1922) im Sinne von „pictures in our heads“ im sozialwissenschaftlichen Kontext verwendet. Als soziales Phänomen sind Stereotype dagegen als historische Konstante zu sehen, die insbesondere zur Abgrenzung zwischen verschiedenen Gruppen dient. In historischer Perspektive wurden Stereotype über andere Völker im Zuge der Aufklärung ab dem 18. Jahrhundert systematisiert, z. B. in Form sog. „Völkertafeln“, auf denen Vertreter verschiedener Länder und Volksgruppen in charakteristischer Tracht abgebildet und mit ‚typischen Charaktereigenschaften‘ bezeichnet wurden (Stanzel 1999), und dienten dann v. a. in nationalistischen Diskursen ab dem 19. Jahrhundert zu Identitätskonstruktionen in expliziter Abgrenzung von anderen Kulturen, insbesondere auch im deutsch-französischen Kontext. Als „imaginärer Volkscharakter“ (Müller 2004) wirken diese Zuschreibungen auch bis heute fort und können reaktiviert werden, z. B. im Fußball. Grundlegend sind die Studien des Sozialpsychologen Henri Tajfel (1969) zu Entstehung und Funktion von Stereotypen. Demnach spielen die kognitiven Prozesse der Kategorisierung, Generalisierung und Akzentuierung eine zentrale Rolle: Während Kategorisierung als Unterscheidung von Gegenständen oder Menschen nach gemeinsamen Merkmalen zur Komplexitätsreduktion dient, <?page no="199"?> 190 ChristophVatter erweitert der Prozess der Generalisierung diese Merkmale auf eine ganze Gruppe. Akzentuierung beschreibt schließlich die Betonung von Ähnlichkeiten innerhalb einer Gruppe, während Unterschiede innerhalb dieser Gruppe minimiert werden und so der Kontrast zu einer anderen Gruppe als bedeutender wahrgenommen wird (Tajfel 1969; Jonas & Schmid Mast 2007). Im Kontext der Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner 1979) folgt daraus, dass Autostereotype dominant positiv konstruiert werden, während Heterostereotype dagegen eher negativ sind. In der Fremdsprachendidaktik ist das Thema der Stereotype und Klischees eng mit der Entwicklung der Landeskunde (↗ Art. 35) als Grundorientierung des Fremdsprachenlernens von der auf enzyklopädisches Wissen abzielenden Realienkunde im 19. Jahrhundert über die Kulturkunde und Landeskunde in den 1970er und 1980er Jahren bis zur interkulturellen Kommunikation verknüpft. Nachdem man Stereotype lange v. a. als Hürde für die interkulturelle Verständigung angesehen hatte und ihre Bekämpfung zu einem zentralen Ziel des Fremdsprachenunterrichts geworden war, bemühte sich die Landeskundedidaktik v. a. ab den 1980er Jahren um einen reflektierten und bewussten Umgang mit Fremdbildern, v. a. durch die Einbeziehung kulturwissenschaftlicher Ansätze (Schumann 2007). Neben der Vermittlung von theoretischem Wissen über Fremdwahrnehmungsprozesse beinhaltet dies die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse über die eigene und die Zielkultur sowie eine Analyse von Medien und ihrem Gebrauch von Stereotypen (ebd.). 3. Funktionen und Konsequenzen von Stereotypen Ausgehend von Lippmanns „Bildern im Kopf “ und den sozialpsychologischen Grundlagenstudien, insb. zu Gruppenprozessen, konnte eine Reihe von kognitiven, affektiven und sozialen Funktionen von Stereotypen herausgearbeitet werden (Bausinger 1988; Lüsebrink 2016): Sie dienen der Verallgemeinerung und tragen zur Komplexitätsreduktion und Orientierung bei. Im Spannungsfeld zwischen Identität und Alterität (↗ Art. 1) kommen weiterhin die Funktionen der Abgrenzung, der Selbstdarstellung sowie der Rechtfertigung eigener Verhaltensweisen zum Tragen, wie z. B. an nationalistischen Diskursen beobachtet werden kann. Aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive wurde aufgezeigt, dass sich Stereotype zu komplexeren Fremdwahrnehmungsmustern verdichten können, in denen Faszination (z. B. im Exotismus oder Tourismus) oder Abgrenzung, aber auch Neugierde oder transkulturelle Perspektiven (↗ Art. 41) einer Vermischung der Kulturen zum Ausdruck kommen können (Lüsebrink 2016). Die Wirkung von Stereotypen und die Bedingungen für ihren Abbau sind für die Begegnung zwischen Gruppen von besonderer Relevanz. Die sog. Kontakthypothese (Allport 1954), d. h. die Vorstellung, dass durch den bloßen Kontakt zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen Stereotype und Vorurteile abgebaut werden, gilt inzwischen als weitgehend überholt. Zwar stellen interkulturelle Interaktion und Kommunikation (↗ Art. 17, 32) eine wichtige Voraussetzung dafür dar, jedoch sind für das Gelingen weitere Faktoren notwendig, insbesondere eine gemeinsame Aufgabe, die aufgrund ungleicher Ressourcenverteilung nur kooperativ bewältigt wer- <?page no="200"?> 191 34. Klischeesund Stereotype den kann, ein gleicher Status beider Gruppen sowie die Unterstützung durch Autoritätspersonen (Auernheimer 2003). 4. Praxisrelevanz Beim Fremdsprachenlernen und -lehren spielen Stereotype eine paradoxe Rolle: einerseits sind sie im Zuge der didaktischen Reduktion sowie der Faszination und Attraktivität der Zielsprache ein unumgängliches Mittel; andererseits stellt das Hinterfragen und der Abbau von Stereotypen ein wichtiges Ziel des Fremdsprachenunterrichts dar, v. a. im Kontext des interkulturellen Lernens (↗ Art. 32). Als Teil des Vorwissens der Lerner sind sie unvermeidbarer Bestandteil des Fremdsprachenunterrichts und wirken auf die Selbstwie Fremdwahrnehmung, die Lernmotivation und auch die Interaktion mit Vertretern der Zielkultur (Caspari 2012). Der Fremdsprachenunterricht partizipiert gleichermaßen an der Konstruktion und Dekonstruktion von Stereotypen und Klischees. Da Leistungen im Fremdsprachenunterricht mit den Einstellungen zur Zielkultur korrelieren (Hermann-Brennecke 1991) und Stereotype in Krisenzeiten ins Negative kippen können, ist von großer Relevanz, ein Bewusstsein für Fremdbilder zu entwickeln, diese zu erkennen und zu reflektieren (Schumann 2007). Stereotype sind vor allem mit den Kompetenzbereichen des interkulturellen Lernens, mit der kulturwissenschaftlichen Landeskunde, der Sprach- und Kulturmittlung sowie mit Medien verknüpft. Geeignete Gegenstände im Unterricht dazu sind z. B. Literatur, Musik, Film und andere kulturelle Medien wie z. B. Werbung. Ebenso spielen sie in der Begegnungs- und Austauschdidaktik (↗ Art. 45) eine wichtige Rolle (Vatter 2015). 5. Ausblick Eine besondere Herausforderung stellen Klischees und Stereotype in einem mehrsprachigen und mehrkulturellen Umfeld dar, da sie tendenziell zu einer binären Gegenüberstellung von Eigenem und Fremdem (↗ Art. 36) beitragen. Im Rahmen einer Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik gilt es daher, die multikulturelle Konstellation im Unterricht dazu zu nutzen, vielfältige Perspektiven auf die Zielkulturen zu entwickeln, diese aktiv aufzugreifen, Wechselwirkungen und Divergenzen der Stereotype aufzuzeigen und zur Entwicklung eines differenzierten Verständnisses vom Anderen zu nutzen. Literatur Allport, G. W. (1954): The Nature of Prejudice . Cambridge, MA. Auernheimer, G. (2003): Einführung in die interkulturelle Pädagogik . Darmstadt. Caspari, D. (2012): Stereotype, Klischees, Vorurteile. In: Praxis Fremdsprachenunterricht 3/ 2012, 15-16. Heringer, H.-J. 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Landeskunde im Kontext von Mehrkulturalität und Globalisierung 1. Begriff und Entwicklung der Landeskunde Als der aus der Geographie stammende Begriff der Landeskunde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von neuphilologischen Reformern mit den Zielen des Fremdsprachenlernens in Verbindung gebracht wurde, ging es darum, den neusprachlichen Fremdsprachenunterricht, der bis dahin humanistischen Bildungsidealen verpflichtet war, anwendungsorientiert zu gestalten und das Erlernen einer Fremdsprache im Hinblick auf potentielle Sprachkontakte mit dem Erwerb von Kenntnissen über Land und Leute zu verknüpfen (↗ Art. 29). In der Folge übernahm die Landeskunde zunehmend die inhaltliche Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts, wobei die Frage nach der Auswahl adäquater Inhalte immer wieder kontrovers diskutiert wurde und die Vorstellungen von landeskundlichen Themen, die den Spracherwerb fördern und auf fremdsprachliche Kontakte vorbereiten, mehrfach wechselten. Auf die zunächst kognitive Ausrichtung der Landeskunde (Realienkunde) folgten unter dem Einfluss nationalstaatlichen Denkens in den 1920/ 30er Jahren kulturkundliche Ansätze, bei denen die Erfassung nationaler Wesensarten im Zentrum stand, und nach dem zweiten Weltkrieg setzte sich ein kommunikativ-pragmatischer Ansatz durch, der Landeskunde als handlungsbezogenes Kontextwissen begriff, das auf sozial adäquates sprachliches Handeln im fremdsprachlichen Alltag und auf kommunikative Partizipation vorbereiteten sollte. Auf der Grundlage neuer kulturanthropologischer Erkenntnisse <?page no="202"?> 193 35. LandeskundeimKontextvonMehrkulturalitätundGlobalisierung erfuhr die Landeskunde ab den 1980er Jahren schließlich eine umfassende Kulturalisierung und entwickelte sich unter Einbeziehung lernerorientierter Zugänge zur interkulturellen Landeskunde (Müller-Jacquier 2001: 1230 ff.). Dabei rückte der Begriff der Kultur (↗ Art. 1) als individueller und kollektiver Erfahrungsraum in den Mittelpunkt und das interkulturelle In-Beziehung-Setzen der eigenen kulturellen Erfahrungen mit denen des fremdkulturellen Lebens wurde zu einer zentralen Kategorie, die sich als das Lernziel der „interkulturellen Kommunikativen Kompetenz“ im Fremdsprachenunterricht durchsetzen konnte (Schumann 2010: 187). 2. Öffnung und Entgrenzung der Landeskunde Die inhaltlichen Gewissheiten der Landeskunde in Form eines eindeutigen Bezuges zu nationalstaatlich definierten Ländern bzw. sprachlich definierbaren Kultur- und Kommunikationsräumen sind unter dem Einfluss der Globalisierung in den vergangenen Jahrzehnten ins Wanken geraten. Postmoderne Gesellschaften (↗ Art. 40) sind von kultureller Heterogenität und Diversität geprägt, und in der fremdsprachendidaktischen Diskussion begegnet man der Kategorie „Land“ zunehmend mit Skepsis, weil sie in ihrer Eigenschaft als Bezeichnung eines national definierten Raumes der Pluralität kultureller Wirklichkeiten nicht mehr zu entsprechen scheint. Die Räume haben sich wirtschaftlich, politisch und kulturell geöffnet, die fortschreitende Digitalisierung sorgt für raumübergreifende Vernetzungen, weltweite Migrationsbewegungen führen zur Vermischung der Weltbevölkerung und zur kulturellen Hybridisierung von Individuen. Es gibt deshalb Vorschläge, den Begriff der Landeskunde durch Begriffe wie „interkulturelles Lernen“, „Kulturstudien“ oder „Kulturdidaktik“ zu ersetzen bzw. ihn mit Hilfe von Zusätzen zu öffnen und zu entgrenzen (u. a. Altmayer 2006; Koreik 2010). In der Praxis findet eine solche Entgrenzung schon seit Langem statt. Die räumliche und kulturelle Öffnung landeskundlicher Themenbereiche begann auf deklarativer Ebene bereits in den 1980er Jahren, als man sich im Zuge der Regionalbewegungen innerstaatlicher Mehrkulturalität bewusst wurde und die Sprach- und Kulturräume, auf die im Fremdsprachenunterricht Bezug genommen wird, über die Mutterländer hinaus ausdehnte und die anglophonen, frankophonen, hispanophonen und deutschsprachigen Länder sowie ihre kolonialen Vergangenheiten als Lerngegenstände in den Blick nahm. Gleichzeitig mit der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte entwickelte sich die Migration zu einem wichtigen Thema des Fremdsprachenunterrichts und, eng damit verknüpft, auch die kulturelle und ethnische Pluralisierung europäischer und außereuropäischer Gesellschaften. Die entscheidende Öffnung erfolgte aber in Form eines grundlegenden Perspektivenwechsels auf der didaktisch-methodischen und prozessuralen Ebene. Indem die potentiell mehrsprachigen und mehrkulturellen Lebenskontexte der Lerner wahrgenommen und deren spezifische Erfahrungen und Wahrnehmungsmuster als Ausgangpunkt fremdsprachlicher Lernprozesse ernst genommen wurden, erfuhren auch die inhaltlichen Aspekte des Fremdsprachenunterrichts eine entscheidende Veränderung (↗ Art. 100, 110). Die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit ein Konstrukt ist, das von jedem Lerner auf der Grundlage seiner sozialen und kulturellen Erfahrungen sowie den in der Sozialisation erworbenen Deutungsmustern wahrgenom- <?page no="203"?> 194 AdelheidSchumann men und interpretiert wird (Altmayer 2006: 50 f.), weist der Wahrnehmungsperspektive eine zentrale Rolle zu. Die Beschäftigung mit fremden Kulturen im Fremdsprachenunterricht hat aus dieser Sicht das Ziel, Einsichten in die Konstruktivität und Relativität der eigenen Wahrnehmung zu gewinnen und zur Selbstreflexion anzuregen. Dem Fremdsprachenunterricht fällt dabei die Aufgabe zu, mit Hilfe von komplexen landeskundlichen und interkulturellen Themen und lernerorientierten Aufgabenstellungen sowie einem die Vielfalt der Kultur widerspiegelnden Angebot an verschiedenen Texten (Literatur, Presse, Film, Bilder, Internet etc.) Lerngelegenheiten für die Entwicklung plurikultureller Kompetenzen zu schaffen. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen (↗ Art. 18) prägte für dieses Lernziel die Begriffe des savoir, savoir-faire, savoir-être und savoir-apprendre . Gemeint sind damit die Fähigkeiten, Wissen über die soziokulturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft zu erlangen, interkulturelle Kommunikationsfertigkeiten (↗ Art. 103) zu entwickeln, die eigene Lernerpersönlichkeit mit ihren Wahrnehmungs- und Deutungsmustern zu reflektieren sowie neues Wissen in vorhandenes Wissen zu integrieren und ein offenes Sprach- und Kommunikationsbewusstsein zu entwickeln. 3. Entwicklungen in den verschiedenen fremdsprachendidaktischen Fachdisziplinen Die Frage, ob man den Begriff der Landeskunde durch Begriffe wie „interkulturelles Lernen“ (↗ Art. 17, 32) oder „Kulturdidaktik“ ersetzen sollte, wird in den verschiedenen fremdsprachlichen Fachdisziplinen aufgrund differenter Forschungstraditionen unterschiedlich beantwortet. In der Englischdidaktik wurde der Begriff der Landeskunde bereits frühzeitig kritisiert und weitgehend vermieden, stattdessen sprach man von Cultural Studies (Kramer 1987). Vorbild waren die im Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham in den 1960er Jahren entwickelten gesellschaftskritischen Kulturstudien, die sich zentralen sozialen Differenzen wie class, gender, race, generation widmeten und einen breiten Kulturbegriff unter Einbeziehung populärer kultureller Praktiken (z. B. Pop, Comics) und alltäglicher Lebensgewohnheiten vertraten. Heute wird in der Anglistik vorzugsweise von Kulturdidaktik gesprochen (Hallet 2010). In der Romanistik entstand in den 1970/ 80er Jahren unter Führung des Deutsch-Französischen Institutes in Ludwigsburg eine sozialwissenschaftlich orientierte Landeskundeforschung und -didaktik, die in den Stuttgarter Thesen zur Rolle der Landeskunde im Französischunterricht (Robert Bosch Stiftung 1982) zur Diskussion gestellt wurde. Darin wurden transnationale und transkulturelle Kommunikationsfähigkeiten als Lernziel für den Französischunterricht propagiert. Dieser Konzeption lag ebenfalls ein breiter Kulturbegriff zugrunde, der Alltagspraktiken einschloss und im Verlauf der 1990er Jahre die neueren Entwicklungen in den Kulturwissenschaften integrierte. Gleichzeitig wurde die Landeskundeforschung in Form von interdisziplinären Kulturraumstudien vorangetrieben (Lüsebrink 1998). Im Fach Deutsch als Fremdsprache sind in der Landeskundediskussion vergleichbare Entwicklungen von einer Integrierten Landeskunde mit enger Verknüpfung sprachlicher und landeskundlicher Lernziele zu einer kulturwissenschaftlichen Landeskunde (Altmayer 2006: 54) festzustellen. Im Zuge der intensiven Zuwanderung von Migranten nach Deutschland, sieht sich das Fach Deutsch als Fremdsprache aber auch mit <?page no="204"?> 195 36. Didaktikdes Fremdverstehens der Aufgabe konfrontiert, Integrationskurse zu entwickeln, die ganz im Sinne der traditionellen Integrativen Landeskunde die Entwicklung eines Orientierungswissen fördert, das konkret auf das gesellschaftliche Leben in Deutschland ausgerichtet ist und die Lerner auf sprachliche und gesellschaftliche Partizipation vorbereitet (↗ Art. 105). 4. Perspektiven der Landeskunde Trotz dieser fachspezifischen Differenzen im Umgang mit dem Begriff der Landeskunde besteht über alle Fächergrenzen hinweg Einigkeit darin, dass die inhaltliche Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts interkulturelle Wahrnehmungsprozesse fördern sollte und nur eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Landeskunde der Pluralität und Diversität moderner Gesellschaften Rechnung tragen kann. Dabei spielen landeskundliche Themen bei der Entwicklung komplexer Lernsettings nach wie vor eine wichtige Rolle, wie ein Blick in die aktuellen Lehrwerke (↗ Art. 46) aller schulischen Fremdsprachen zeigt. Literatur Altmayer, C. (2006): Kulturelle Deutungsmuster als Lerngegenstand. Zur kulturwissenschaftlichen Transformation der Landeskunde. In: Fremdsprachen lehren und lernen 35, 44-59. Hallet, W. (2010): Kulturdidaktik. In: C. Surkamp (Hrsg.): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik . Stuttgart, 152-156. Koreik, U. (2010): Landeskunde, Cultural Studies und Kulturdidaktik. In: W. Hallet & F. G. Königs (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . Seelze-Velber, 133-136. Kramer, J. (1997): British Cultural Studies . München. Lüsebrink, H.-J. (1998): Landeskunde versus Kulturwissenschaft? Überlegungen zur Neuentwicklung in der Romanistik. In: Frankreich-Jahrbuch 1998. Opladen, 215-223. Müller-Jacquier, B. (2001): Interkulturelle Landeskunde. In: G. Helbig, L. Götze, G. Henrici & H.-J. Krumm (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch . Berlin, New York, 1230-1234. Robert Bosch Stiftung (Hrsg.) (1982): Fremdsprachenunterricht und internationale Beziehungen. Stuttgarter Thesen zur Rolle der Landeskunde im Französischunterricht. Stuttgart. Schumann, A. (2010): Landeskunde. In: C. Surkamp (Hrsg.): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik . Stuttgart, 152-160. Adelheid Schumann 36. Didaktik des Fremdverstehens 1. Definition Die ‚Didaktik des Fremdverstehens‘ wurde hauptsächlich in den 1990er Jahren im gleichnamigen Gießener Graduiertenkolleg entwickelt und versucht als ein auch die Migration inkludierender Ansatz des interkulturellen Lernens im Fremdsprachenunterricht der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen (Eberhardt 2013: 19 f.). Zugleich war mit der Didaktik des Fremdverstehens eine Aufwertung der kulturellen Dimension fremdsprachlichen Lehrens und Lernens im Vergleich zu den bis dato existierenden landeskundlichen Ansätzen verbunden (↗ Art. 35). Laut Bredel- <?page no="205"?> 196 Jan-OliverEberhardt la & Christ (1995: 10) sollte die Kulturspezifik verbaler und non-verbaler Ausdrücke nicht länger ignoriert und die Kommunikation in einer fremden Sprache nicht trivialisiert werden: „Die Trivialisierung ergibt sich daraus, dass man meint, dass diejenigen, die dieselbe Sprache sprechen, sich problemlos verstehen. Verstehen wird dann als ein regelgeleitetes Dekodieren aufgefasst, und es wird unterschlagen, dass alles Verstehen auch ein kreativer Akt ist (…) [und] neben der Kenntnis der Sprache unser weltliches Wissen und unsere volle Aufmerksamkeit für die jeweilige Situation erfordert“. ‚Fremdverstehen‘ beinhaltet nicht nur ein übergreifendes Ziel interkulturellen Lernens, sondern bezieht sich auch auf konkrete interkulturelle Lernaktivitäten. Eine prägnante Arbeitsdefinition von Fremdverstehen liefert Christ (1997: 8): „Von Fremdverstehen sprechen wir dann, wenn zwei Partner, die einander verstehen wollen, unterschiedliche, kulturell bedingte Referenzrahmen haben. Das ist z. B. immer dann (aber nicht nur dann) der Fall, wenn sie verschiedene Sprachen als Muttersprachen sprechen und sich folglich in einer ihnen fremden Sprache verständigen müssen“. Demzufolge zielt Fremdverstehen darauf ab, dass sämtliche relevanten Phänomene einer fremden Kultur, insbesondere Äußerungen und Verhaltensweisen der heterokulturellen Sprachpartnerinnen und -partner, in deren Bezugsrahmen gesehen werden. Das Einnehmen der Perspektive des Fremden stellt eine komplexe Herausforderung für jeden Menschen dar, weil dieser stets die Dinge zunächst von außen mit seinen eigenen Augen sieht, mit seinen eigenen Wahrnehmungskategorien und Einstellungen (Bredella 2010: 302 f.). Demzufolge erfordert Fremdverstehen in erster Linie die Bereitschaft und Fähigkeit zum Wechsel von Außen- und Innenperspektive, wodurch letztlich auch eine Relativierung der eigenen Sichtweise sowie eine Transformation des eigenen Selbst- und Weltverständnisses bewirkt werden. Dabei meint eine Relativierung gewohnter Vorstellungen weder eine unkritische Übernahme fremdkultureller Sichtweisen, noch das Verhaftet-Bleiben in den Sichtweisen und Maßstäben der eigenen Kultur. An dieser Stelle werden letztlich auch konzeptuelle Parallelen zu den Ausführungen von Hanvey (1979) sichtbar, welcher vier Stufen des interkulturellen Verstehens voneinander unterscheidet: während die erste Stufe durch die Wahrnehmung oberflächlicher kultureller Merkmale gekennzeichnet ist, zeichnet sich die vierte Stufe durch ein Bewusstsein dafür aus, wie sich fremde Kulturen aus der Perspektive der heterokulturellen Sprachpartner anfühlen. Die Frage nach der Ausprägung von Fremdverstehen warf immer schon die Frage auf, inwiefern Fremdverstehen überhaupt möglich ist: Aber dieser Auffassung, dass sich der Fremdsprachenunterricht um interkulturelles Verstehen bemühen müsse, steht die Auffassung gegenüber, dass wir andere gar nicht verstehen können, weil wir, vereinfacht gesagt, jeweils in unserer Kultur und unserer Sprache gefangen seien und Verstehen nichts Anderes als Projektion sei. (Bredella 1994: 21) Hunfeld (1998) mahnt in diesem Zusammenhang die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Eigenen und dem Fremden an, welche es in einem hermeneutisch orientierten Fremdsprachenunterricht anzuerkennen gelte. Vor dem Hintergrund der multikulturellen Gesellschaft sei der Kontakt mit Fremdem zudem eine Selbstverständlichkeit, erst die Wahrnehmung des Fremden als Normalität schaffe die Bedingungen für einen interkulturellen Dialog. In seiner Kritik an der west- <?page no="206"?> 197 36. Didaktikdes Fremdverstehens lichen Ethnologie bezeichnet Said (1978) die okzidentalische Intention, das orientalische Fremde zu verstehen, gar als Wille zur Macht, als Vereinnahmung des Anderen. Die wichtigsten Vertreter der Didaktik des Fremdverstehens betonen dagegen, dass das Verstehen des Anderen stets begrenzt und unvollständig sei und immer auch ein Nicht-Verstehen impliziere (Bredella 1994: 26). Interkulturelles Verstehen könne deshalb nur gelingen, wenn sowohl den Differenzen als auch den Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen Rechnung getragen werde (Bredella 1994: 28). Im Hinblick auf die fremdsprachenunterrichtliche Praxis ist von Relevanz, dass ein Fremdverstehen in realen und virtuellen Kommunikations- und Kontaktsituationen (↗ Art. 102, 103), aber auch bei der Lektüre von Texten, beim Betrachten von Bildern, beim Hören von Musik oder beim Schauen von Filmen zum Tragen kommt (↗ Art. 42). 2. Landeskunde versus Didaktik des Fremdverstehens Ungeachtet der Bedeutung des ‚Fremdverstehens‘ darf die Didaktik des Fremdverstehens nicht auf diese Begrifflichkeit reduziert werden. Die Didaktik des Fremdverstehens orientiert sich weder am lange Zeit richtungsweisenden native speaker , noch am Touristen, sondern - in Anlehnung an nordamerikanische und britische sprachwissenschaftliche und sprachdidaktische Diskurse zu interkulturellem Fremdsprachenunterricht (Byram 2009) - am sogenannten intercultural speaker . Jenes Leitbild trägt sowohl der gesellschaftlichen sprachlich-kulturellen Diversität als auch der spezifischen kulturellen Identität von Menschen Rechnung, wodurch konzeptuelle Parallelen zu den Entstehungsbedingungen der Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) sichtbar werden (Manno et al. 2016). Ausgehend vom Leitbild des intercultural speaker grenzt sich die Didaktik des Fremdverstehens in vielerlei Hinsicht deutlich von landeskundlichen Ansätzen (↗ Art. 35) ab. Folglich soll interkulturelles Lernen (↗ Art. 32) im Sinne der Didaktik des Fremdverstehens nicht beschränkt werden auf ein wissensorientiertes Lernen, auf eine Gegenüberstellung von Ausgangs- und Zielkultur, auf eine Betonung kultureller Unterschiede sowie auf zukünftige interkulturelle Begegnungssituationen. Stattdessen soll die eigene multikulturelle Lebensumgebung, besonders der jeweilige Klassen- und Schulkontext, genutzt werden, um interkulturelle Lernprozesse auf kognitiver, affektiver und handlungsbezogener Ebene zu initiieren. Fremdverstehensprozesse sollen, wie oben gesagt, zudem auch kulturelle Gemeinsamkeiten berücksichtigen und zu einem reflektierten Umgang mit Auto- und Heterostereotypen sowie Vorurteilen (↗ Art. 34) führen, um der Diversität von Kulturen gerecht zu werden. Somit verfolgt die Didaktik des Fremdverstehens auch allgemeine Erziehungsziele wie Persönlichkeitsbildung, Identitätsstärkung und kritisches Beurteilungsvermögen. Einhergehend damit sind im Kontext der Didaktik des Fremdverstehens Kulturkonzeptionen vorherrschend, welche ‚Kultur‘ als flexibel, dynamisch und nationenungebunden erachten und die individuellen und kollektiven Identitäten von Menschen berücksichtigen. Trotz der Abkehr von einem bikulturellen Lernen und von einem statischen Verständnis von Kulturen sahen sich die Vertreter der Didaktik des Fremdverstehens mit der Kritik konfrontiert, dass die Polarisierung zwischen ‚Fremdem‘ und ‚Eigenem‘ eine künstliche Dichotomie darstelle und andere Menschen <?page no="207"?> 198 Jan-OliverEberhardt dadurch fremd gemacht würden. ‚Fremdheit‘ könne zudem nicht als objektives Verhältnis zweier Personen oder Gruppen abgesehen werden, sondern stelle eine Zuschreibung dar (Hu 1997: 36). Vor dem Hintergrund der Mehrkulturalität unserer Gesellschaft weist auch Bredella (1995: 25) darauf hin, dass oft vergessen werde, „dass viele von uns sich ständig zwischen den Kulturen bewegen, so dass gar nicht mehr so eindeutig bestimmbar ist, was das Eigene und was das Fremde ist“. 3. Didaktik des Fremdverstehens und Kompetenzorientierung Die konzeptuellen Ausführungen fremdsprachendidaktischer Diskurse interkulturellen Lernens wurden seit Beginn der 2000er Jahre mit der Veröffentlichung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (↗ Art. 18) und den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache sowie der damit verbundenen Outputorientierung des Fremdsprachenunterrichts konfrontiert, im Rahmen derer ‚interkulturelle Kompetenz‘ einen Schlüsselbegriff darstellt. Zahlreiche Vertreter der Didaktik des Fremdverstehens - auch Lothar Bredella und Herbert Christ, die Väter des Gießener Graduiertenkollegs - standen der Kompetenzorientierung in diesem Sinne kritisch gegenüber. Im Zentrum der daraus hervorgegangenen fremdsprachendidaktischen Diskurse stand die grundlegende Frage nach der Eignung interkultureller Lernziele für einen kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht (↗ Art. 43). In der Wahrnehmung von Hu (2008: 15) kam es in diesem Zusammenhang zu einem Aufeinanderprallen zweier Diskurse, die sich in ihren Anliegen, Prämissen und methodischen Zugängen deutlich voneinander unterscheiden und letztlich eine gewisse Unvereinbarkeit nahelegen. Ginge es innerhalb der Didaktik des Fremdverstehens vor allem um Themen wie „Identität“, „kultureller Komplexität“, „Mehrsprachigkeit“, „Hybridität“, „Verstehen“, „Deutungsmuster“, „Vielfalt“, „Überlappung“, „Intertextualität“, „Bedeutung“ und „Sinn“, so zeichne sich die Kompetenzorientierung durch Schlüsselbegriffe aus wie „Qualität“, „Kompetenz“, „Standardisierung“, „Strategie“, „Bildungsmonitoring“, „Wettbewerb“, „Tests“, „Leistungsfähigkeit“, „Rankings“, „Evaluation“, „Effizienzorientierung“, „Wissensmanagement“, „Kontrolle“, „Verwertbarkeit“, „Exzellenz“, „Internationalisierung“ und „Akkreditierung“. Weniger auf der Ebene der Widersprüchlichkeit von Grundbegriffen und Paradigmen, sondern eher auf konzeptueller Ebene des Konstrukts interkultureller Kompetenz sind standardkritische Positionen gelagert, die insbesondere affektiv-motivationale interkulturelle Lernziele - wie beispielsweise die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel oder zum Verstehen fremdkultureller Wertvorstellungen - per se als unvereinbar mit der Kompetenzorientierung und als schwer operationalisier- und messbar einstufen (Eberhardt 2013). Unabhängig von der nach wie vor kontrovers geführten Debatte um die Vereinbarkeit interkulturellen Lernens mit einem standardorientierten Fremdsprachenunterricht hat sich das Aufeinandertreffen der Didaktik des Fremdverstehens und der Kompetenzorientierung letztlich folgendermaßen auf den heutigen fachdidaktischen Diskurs ausgewirkt: • Der Begriff des Fremdverstehens sowie die Lernziele der Didaktik des Fremdverstehens sind auf konzeptueller Ebene umfassend diskutiert. Stattdessen dominiert das Konzept der interkulturellen oder transkulturellen Kompetenz (↗ Art. 41) sämtliche forschungsbasierten und <?page no="208"?> 199 36. Didaktikdes Fremdverstehens unterrichtspraktischen Diskurse um interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht. • Dennoch existiert eine große Bandbreite an Fremdsprachenlehrmitteln und Lernmaterialien (↗ Art. 46), welche die Schülerinnen und Schüler explizit zum Perspektivenwechsel und zur Relativierung eigenkultureller Sichtweisen auffordern (Eberhardt 2013: 191 f.). Zugleich sind heutzutage in zahlreichen nationalen und regionalen Fremdsprachencurricula wie auch in fachdidaktischen Modellen interkultureller Kompetenz zahlreiche Teilkompetenzen und Teilaspekte aufgeführt, welche Begrifflichkeiten der Didaktik des Fremdverstehens widerspiegeln, wie beispielsweise ‚Perspektivwechsel‘, ‚Perspektivenübernahme‘, ‚Hineinversetzen‘, ‚Empathiefähigkeit‘, ‚Relativierung eigener Weltwahrnehmungen und Wertvorstellungen‘ oder ‚kritische Bewertung des Eigenen und des Fremden‘. Ein sehr prominentes Instrument zur Beschreibung interkultureller und mehrsprachiger Kompetenzen stellt der am Europäischen Fremdsprachenzentrum im Jahr 2007 herausgegebene Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen dar (Candelier et al. 2007) (↗ Art. 20), welcher sowohl der Erstellung von Curricula, als auch der konkreten Unterrichtsgestaltung dienlich sein kann. • Aus der immer noch andauernden Debatte um die Operationalisierbarkeit und Standardisierung interkultureller Lernziele sind zahlreiche empirische Studien hervorgegangen, welche sich der Förderung und Messung interkultureller Teilkompetenzen und Teilaspekte widmen. Angesichts der Komplexität interkultureller Kompetenz nehmen die weiter oben beschriebenen Lernziele der Didaktik des Fremdverstehens dabei nur eine marginale Rolle ein. Literatur Bredella, L. (1994): Interkulturelles Verstehen zwischen Objektivismus und Relativismus. In: K.-R. Bausch, H. Christ & H.-J. Krumm (Hrsg.): Interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht. Arbeitspapiere der 14. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts . Tübingen, 21-30. Bredella, L. (1995): Verstehen und Verständigung als Grundbegriffe und Zielvorstellungen des Fremdsprachenlehrens und -lernens? In: L. Bredella (Hrsg.): Verstehen und Verständigung durch Sprachenlernen? Dokumentation des 15. Kongresses für Fremdsprachendidaktik der DGFF in Gießen . Bochum, 1-34. Bredella, L. (2010): Fremdverstehen und interkulturelles Verstehen. In: W. Hallet & F. G. Königs (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik . Seelze-Velber, 302-307. Bredella, L. & Christ, H. (1995): Didaktik des Fremdverstehens im Rahmen einer Theorie des Lehrens und Lernens fremder Sprachen. In: L. Bredella & H. Christ (Hrsg.): Didaktik des Fremdverstehens . Tübingen, 8-19. Byram, M. (2009): Intercultural Competence in Foreign Languages. The Intercultural Speaker and the Pedagogy of Foreign Language Education. In: D. K. 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(1997): Warum ‚ Fremd verstehen‘? Anmerkungen zu einem leitenden Konzept innerhalb eines interkulturell verstandenen Sprachunterrichts. In: L. Bredella, H. Christ, & M. K. Legutke (Hrsg.): Thema Fremdverstehen. Arbeiten aus dem Graduiertenkolleg „Didaktik des Fremdverstehens“ . Tübingen, 34-54. Hu, A. (2008): Interkulturelle Kompetenz. Ansätze zur Dimensionierung und Evaluation einer Schlüsselkompetenz fremdsprachlichen Lernens. In: V. Frederking (Hrsg.): Schwer messbare Kompetenzen. Herausforderungen für die empirische Fachdidaktik . Baltmannsweiler, 11-35. Hunfeld, H. (1998): Die Normalität des Fremden. 24 Briefe an eine Fremdsprachenlehrerin . Waldsteinberg. Manno, G., Egli Cuenat, M., Le Pape Racine, C. & Brühwiler, C. (2016): Schulischer Mehrsprachenerwerb am Übergang zwischen Primarstufe und Sekundarstufe I - Forschungsdesign und erste Erkenntnisse einer empirischen Studie. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 27/ 2, 255-282. Said, E. W. (1978): Orientalism . New York. Jan-Oliver Eberhardt 37. Von der Egalitätshypothese zur Global Education 1. Definition und Rahmung Im Kontext der interkulturellen Bildung steht das Verhältnis zwischen dem „Anderen“ und dem „Eigenen“ immer wieder im Zentrum vielfältiger Diskurse. Die Auseinandersetzung mit Differenz, Interkulturalität und Diversität hat Implikationen für Bildungsprozesse und eine Reihe unterschiedlicher Ansätze in der Fremdsprachendidaktik hervorgebracht. Unter den verschiedenen Paradigmen und Stadien der Thematisierung kultureller Differenz unterscheidet Allemann-Ghionda (2013) die Defizithypothese, die Differenzhypothese, die Diversitätshypothese und die Egalitätshypothese, die jeweils dem Phänomen der kulturellen Differenz einen unterschiedlichen Stellenwert einräumen (↗ Art. 16). Die Egalitätshypothese wird einem Paradigma zugeschrieben, bei dem die Diskriminierung des Individuums oder auch von Gruppen auf sozioökonomische Gründe und allgemeine Machtdisparitäten zurückzuführen ist (Allemann-Ghionda 2013: 51) und weniger auf kulturelle Differenz. Sie wird daher gemeinhin mit einer Kritik am Multikulturalismus assoziiert, weil Kulturzugehörigkeit als weniger relevant für Differenzerfahrungen gesehen wird als die sozioökonomische Dimension der Lebenswelt. Eine übergreifende interkulturelle Perspektive auf das Fremdsprachenlernen wird u. a. dafür kritisiert, solche Parameter weniger zu berücksichtigen und eine Reduktion der Lerner auf ihre nationale Herkunft zu verstärken (Altmayer 2016: 18). Aus der kritischen Auseinandersetzung mit der Gewichtung von Differenzkategorien haben sich kulturwissenschaftliche Zugänge entwickelt, <?page no="210"?> 201 37. VonderEgalitätshypothesezur Global Education die neue Ansätze kulturellen Lernens, z. B. Global Education oder citizenship education (Byram 2008; Lütge 2015) für die Fremdsprachendidaktik rezipieren. 2. Entwicklungen im historischen Rückblick Die vergleichende Beschäftigung mit Kultur geht einerseits auf die amerikanische Kulturanthropologie zurück und ist hier insbesondere mit dem Namen Edward T. Hall (vgl. Hall 1959) verbunden, der unterschiedliche Dimensionen von Interkulturalität wie kulturdifferente Positionierungen im Raum, unterschiedliche Umgangsweisen mit Zeit und den Unterschied zwischen kontextabhängigen und kontextunabhängigen Kulturen diskutiert (vgl. Altmayer 2016: 16). Auch über das in den 1960er Jahren entstandene Forschungsfeld der interkulturellen Kommunikation (↗ Art. 33) wurden diese Ansätze rezipiert (vgl. Haas 2009). Als zweite Quelle des Interkulturalitätsparadigmas benennt Altmayer die Erfahrung der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit und die Diskussion um eine interkulturelle Pädagogik, die sich von einer paternalistischen „Ausländerpädagogik“ absetzte (Altmayer 2016: 16) und die Notwendigkeit betonte, die spezifischen kulturellen Identitäten von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (↗ Art. 100) in den Dialog um interkulturelles Verstehen zu integrieren (dazu auch Auernheimer 2003: 22). Es ist wenig verwunderlich, dass interkulturelle Erziehung, die sich als pädagogische Antwort auf internationale Migrationsflüsse versteht, kulturelle Differenz dabei zunächst noch stark mit Aspekten der Ethnizität verband, während heute zunehmend eine Bildungsidee postuliert wird, die alle Formen der Pluralität und der Diversität integriert. Für die Fremdsprachendidaktik wurde die Diskussion über Interkulturalität einerseits aus dem Fach Deutsch als Fremdsprache vorangetrieben und seit Mitte der 1980er Jahre umfassend weiterentwickelt (↗ Art. 105, 106). Dabei stand hier und in den anderen Fremdsprachendidaktiken der aus der Pädagogik entlehnte Begriff des interkulturellen Lernens im Vordergrund (Altmayer 2016: 16; Bausch et al. 1994). Der Fremdsprachenunterricht habe sich demnach auch an Lernzielen wie dem „Aushalten von Verschiedenheit“ und der „Sensibilisierung für andere Sprach- und Verhaltensformen“ auszurichten (Altmayer 2016: 16). Mit der Entwicklung des hermeneutischen Konzepts des Fremdverstehens in den 1990er Jahren (↗ Art. 36), bei dem die Vermittlung zwischen einer Innen- und einer Außenperspektive (Bredella 2010) zentral in den Fokus rückte, wurde auch die kritische Reflexion der eigenen Perspektive als wichtiges didaktisches Prinzip neu eingeführt. Seit der Jahrtausendwende ist mit dem Begriff der interkulturellen Kompetenz das Modell von Michael Byram (1997) in den Blick gerückt, bei dem es um das Miteinander kognitiver, affektiver, handlungsbezogener Teilfähigkeiten und um kritische Kulturbewusstheit geht. Weiterentwicklungen dieses Diskurses hin zu einem umfassenderen Anspruch kulturellen Lernens im Rahmen pluraler Bildung und eines Konzeptes von global citizenship scheinen geeignet zu sein, auf nationale und ethnische Parameter verengte Modellierungen von Differenz zu erweitern. In den letzten Jahrzehnten haben sich die bildungstheoretischen Vorstellungen über Bildung und Erziehung im Kontext kultureller Differenz also erheblich gewandelt, aber hier handelt es sich keineswegs um einen gleichförmig verlaufenden und quasi linearen Prozess, der einzelne Phasen chronologisch abbildet. Allemann-Ghi- <?page no="211"?> 202 ChristianeLütge onda (2013: 52) unterscheidet verschiedene Schwerpunkte der Diskurse über die Thematisierung von Differenz und identifiziert verschiedene Paradigmen, die sich teilweise auch zyklisch wiederholen. Gemäß der Defizithypothese, die in den 1960er und frühen 1970er Jahren eine wichtige Rolle spielte, wird das Erleben von Differenz als defizitär und somit veränderungsnotwendig betrachtet und - etwa im Rahmen einer als prä-interkulturell beschriebenen Ära der „Ausländerpädagogik“ - mit dem Ziel der Assimilation betrieben. Die Differenzhypothese (ab ca. Mitte der 1970er Jahre) sieht soziokulturelle und sprachliche Differenz hingegen als positiv und steht im Kontext eines multikulturellen Paradigmas. Ziel dieser Bemühungen um interkulturelle Bildung ist dabei die Integration des oder der Anderen. Ein weiteres Stadium wird in der Diversitätshypothese modelliert, die ab Beginn der 1990er Jahre an Bedeutung gewann. Demnach werden neben kultureller Differenz auch andere Dimensionen der Diversität betrachtet, z. B. sprachliche, religiöse, sozio-ökonomische oder geschlechtsspezifische. Erziehung zur Pluralität im Kontext einer Pädagogik der Vielfalt steht hier im Blickpunkt. Ein viertes Paradigma findet sich in der Egalitätshypothese, die mit einer Kritik am Multikulturalismus Hand in Hand geht und bei der das Primat des Sozioökonomischen stark dominiert. Eine interkulturelle Pädagogik wird demnach als wenig wirksam gesehen. Ziel sei vielmehr eine Pädagogik der Gleichbehandlung, die nur erreicht werden könne, wenn die Ursachen der Diskriminierung strukturell bekämpft würden. Letzterer Ansatz hat gemäß Allemann-Ghionda zyklisch immer wieder Konjunktur (Allemann-Ghionda 2013: 51). Ein eher universalistisch geprägtes Verständnis von Differenz, wie es in der Egalitätshypothese zum Ausdruck kommt, kann dafür kritisiert werden, wiederum im Namen der Gleichbehandlung bestimmte Faktoren wie ethnisch und kulturell bedingte Differenz zu vernachlässigen. Universalistisch geprägte Ansätze, die die Gemeinsamkeiten stärker als die Differenzen fokussieren, sind konzeptionell - ansatzweise - erkennbar in Modellierungen des global citizen und in übergreifenden Konzepten globalen Lernens, das verbindende, kulturell übergreifende Themen und Fragestellungen berührt. 3. Aktuelle Entwicklungen im internationalen Vergleich Im angloamerikanischen Kontext und in französischsprachigen Diskursen haben sich die Begriffe citizenship education/ éducation à la citoyenneté bereits weitgehend etabliert und interkulturelle Bildung bzw. multikulturelle Bildung ersetzt. Global Education als allgemeiner Oberbegriff stellt eine pädagogische Antwort auf Internationalisierung und Globalisierung dar. Dabei werden Aspekte wie Friedenserziehung (↗ Art. 39), Umweltbildung und entwicklungspolitische Bildung im Kontext globaler Zusammenhänge aufgegriffen (vgl. De Florio-Hansen 2002; Cates 2000). Cates definiert vier Zielbereiche für Global Education : (1) Wissen: über Länder und Kulturen, globale Probleme, ihre Ursachen und mögliche Lösungen, (2) Fertigkeiten: kritisches Denken, kooperatives Problemlösen, Konfliktbewältigung, Perspektivenwechsel, (3) Einstellungen: global awareness , kulturelle Würdigung, Anerkennung von Diversität, Empathie, (4) lokale Handlungsfähigkeit: „The final aim of global learning is to have students think globally and act locally.“ (Cates 2000: 241) Michael Byram hat ältere Konzeptionen interkulturellen Lernens (Byram 1997) <?page no="212"?> 203 um globale Themen erweitert und Education for Intercultural Citizenship als wichtige Aufgabe auch für den Fremdsprachenunterricht perspektiviert (Byram 2008). Im Kontext der UNESCO-Ziele für Nachhaltige Entwicklung stehen auch globale Bildungsziele wie Global Citizenship Education im Zentrum, die in verschiedenen Programmen (UNESCO 2018) mit dem Anspruch internationaler Kompatibilität verfasst wurden. Eine Reihe verschiedener citizenship -Konzeptionen haben sich in der Folge etabliert ( world citizenship, planetary citizenship, environmental citizenship ) und greifen dabei dezidiert nicht national-kulturelle, sondern eher universalistische Tendenzen auf. Das Konzept „Globale Kompetenz“ wird im OECD PISA Global Competence Framework (OECD 2018) als die Kombination von vier Dimensionen beschrieben ( examining issues, understanding perspectives, interacting, and acting ), die sich dabei auch an vorhergehende Modelle anlehnen und die Komponenten wie „ knowledge, skills, attitudes, values “ mit einbeziehen. Hier werden zudem erstmalig auch Ansätze zur Evaluation globaler Kompetenzen entwickelt. 4. Perspektiven und Ausblick Die Weiterentwicklung von Konzepten globalen Lernens mündet einerseits in Bemühungen, Themen wie Nachhaltigkeit zu stärken (z. B. Bildung für nachhaltige Entwicklung, Lernbereich Globale Entwicklung, KMK 2015), andererseits aber auch werteorientierte Konzepte zu stärken, insbesondere Demokratielernen (↗ Art. 9), und thematisch in das Fremdsprachenlernen zu integrieren. Das Paradigma der Interkulturalität (↗ Art. 17, 32) dagegen steht momentan unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck (vgl. Altmayer 2016: 18), da hier immer noch v. a. auf nationalkultureller Ebene argumentierende Ansätze zunehmend in die Kritik geraten. Der alternative kulturtheoretische Diskurs, der mit Begriffen wie Hybridität, Third Space und Transkulturalität (↗ Art. 41) der Komplexität der globalisierten Welt stärker gerecht zu werden versucht, betont mehr Gemeinsamkeiten beim kulturellen Lernen und bezieht dabei begrifflich Inklusion und Diversität mit ein. Bildung unter pluralen Bedingungen mag durchaus als eine Herausforderung und wichtige Aufgabe für die Demokratie gesehen werden und dabei einen ethnozentrischen und exkludierenden Habitus zu überwinden versuchen. Ob das Ziel, Menschen auf eine komplexe “ world citizenship ” (Nussbaum 1998: 295) vorzubereiten, in der pädagogischen Rahmung immer befriedigend gelingen kann, mag durchaus noch zu diskutieren sein. In jüngster Zeit werden Erweiterungen des globalen Lernens und des Citizen -Konzepts sichtbar, die die Auswirkungen der Digitalisierung auf Bildungsprozesse aufgreifen und hier insbesondere Digital Global Citizenship als neue Konzeption modellieren, die fächerübergreifend, aber auch mit Blick auf die Didaktik der modernen Fremdsprachen immer stärkere Bedeutung erlangt (Ribble 2015; Watanabe & Churches 2017; McCosker, Vivienne & Johns 2016). Literatur Allemann-Ghionda, C. (2009): From Intercultural Education to the Inclusion of Diversity: Theories and Policies in Europe. In: J. A. Banks (Hrsg.): The Routledge International Companion to Multicultural Education . Oxford u. a.,134-145. Allemann-Ghionda, C. (2013): Bildung für alle. Diversität und Inklusion. Internationale Perspektiven . Paderborn u. a. 37. VonderEgalitätshypothesezur Global Education <?page no="213"?> 204 ChristianeLütge Altmayer, C. (2016): Interkulturalität. In: E. Burwitz-Melzer, G. Melhhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Aufl. Tübingen, 15-20. Auernheimer (2003): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. Darmstadt. Bausch, K.-R., Christ, H. & Krumm, H.-J. (Hrsg.) (1994): Interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht . Tübingen. Bredella, L. (2010): Das Verstehen des Anderen: kulturwissenschaftliche und literaturdidaktische Studien. Tübingen . Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence. Cleveton u. a. Byram, M. (2008): From Foreign Language Education to Education for Intercultural Citizenship: Essays and Reflections . Clevedon u. a. Cates, K. A. (2000): Global Education. In: M. Byram (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Language Teaching and Learning . London, 241-243. De Florio-Hansen, I. (2002): Von der Friedenserziehung zur Global Education . Fremdsprachenunterricht in Zeiten der Internationalisierung und Globalisierung. In: französisch heute 33/ 3, 326-342. Hall, E. T. (1959): The Silent Language. Garden City. Haas, H. (2009): Das Interkulturelle Paradigma . Passau. KMK (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (2015). Orientierungsrahmen für den Lernbereich. Globale Entwicklung . [https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2015/ 2015_06_00-Orientierungsrahmen-Globale-Entwicklung.pdf]. Lütge, C. (2015): Global Education. Perspectives for English Language Teaching . Münster. McCosker, A., Vivienne, S. & Johns, A. 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Definition Diskriminierung im Sinne von Zurücksetzung, Beleidigung, Benachteiligung, Ausgrenzung oder Herabsetzung von Einzelnen oder Gruppen spielt im Kontext von Mehrkulturalität ebenso eine Rolle wie dahinterstehende Einstellungen, Werte, Klischees und Stereotype (↗ Art. 34). Diskriminierung in verschiedenen Ausprägungen betrifft das Miteinander zwischen Lehrenden und Lernenden oder auch die Inhalte von Unterricht und insbesondere auch eines Sprachunterrichts, in dem kulturspezifische Themen und Inhalte berücksichtigt werden. <?page no="214"?> 205 38. DiskriminierungundAusgrenzungimKontextvonMehrkulturalität Diskriminierung erfolgt entlang von sozialen Strukturkategorien wie Ethnie, Schicht, Geschlecht (im Englischen: race, class, gender ) oder auch entlang von Religion, Behinderung, politischer Überzeugung, sexueller Orientierung, Alter oder Sprache. Sie kann auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene, auf struktureller und institutioneller Ebene oder auch symbolisch und sprachlich erfolgen. In den Erziehungswissenschaften (↗ Art. 16) und in den Fremdsprachendidaktiken (↗ Art. 17) werden seit den 1990er Jahren universalistische, partikularistische oder auch dekonstruktivistische Positionen in Diskursen zu interkulturellem Lernen vertreten (vgl. z. B. Allemann-Ghionda 1997). Darüber hinaus gibt es Argumentationen, die rassistische Denk- und Handlungsweisen oder auch systemische Diskriminierung anprangern und explizit eine antirassistische Pädagogik vertreten (z. B. Kalpaka & Räthzel 1990; Dirim & Mecheril 2018). Auch in den Sprachdidaktiken werden individuelle wie strukturelle Diskriminierungen zum Gegenstand gemacht, so z. B. bei Fragen der Bildungsgerechtigkeit (Rösch 2017: 133 ff.), und Ansätze einer Aufbrechung verfolgt. 2. Forschungsdiskurse im historischen Rückblick Kritik an der normativ angelegten Defizit-Hypothese (↗ Art. 37), die Minderheitenangehörige am Maßstab der Mehrheit maß und ihre sprachlichen wie kulturellen Defizite durch Assimilation aufheben wollte, und an der Differenz-Hypothese (↗ Art. 32), die ethnische und kulturelle Unterschiede vor allem in folkloristischen Bereichen wie Musik, Tanz, Kleidung und Esskultur verhandelte, führte in den 1980er Jahren in den Erziehungswissenschaften zu antirassistischen Argumentationen, in denen die Stigmatisierung der Fremden als Fremde, die Vernachlässigung gesellschaftspolitischer und sozioökonomischer Dimensionen, die Exotisierung des Fremden und eben auch die mangelnde Berücksichtigung rassistischer Diskriminierungen kritisiert wurden (z. B. Kalpaka & Räthzel 1990). Eine interkulturelle Pädagogik (↗ Art. 16), die auf die Integration von Minderheiten durch den Konsum exotischer Gerichte oder folkloristischer Musik auf Schulfesten ziele, vernachlässige politische und ökonomische Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung und verfehle damit das Wesentliche. Der antirassistischen Pädagogik geht es insgesamt um die Demontage rassistischer Denkstrukturen und Handlungsweisen. Kritisiert werden offen diskriminierende Handlungsweisen wie physische und verbale Gewalt ebenso wie versteckter und unbewusster Rassismus mit seiner selbstverständlichen und unhinterfragten Abwertung der Fremden. Dazu gehört auch paternalistischer Rassismus z. B. in Gestalt der wohlmeinenden Hilfe gegenüber als hilflos und minderwertig erachteten Minderheiten, da damit erneut eine hierarchische Struktur und die Unterlegenheit der Anderen bestätigt werde. Wenn dieser kritische Blick auf Schwarz- Weiß-Denken und das Aufzeigen rassistischer Strukturen zwar sinnvoll und notwendig sind, so beinhalten sie dennoch eine grundlegende Schwäche. Die Dichotomisierung der eigenen und fremden Kulturen (↗ Art. 36) sowie die Einstufung jeglicher Denk- und Verhaltensweisen als rassistisch führen zu einer kontraproduktiven Stagnation. Wenn jegliches Verhalten als rassistisch eingestuft wird, dann ist eine „richtige“ und politisch korrekte Handlungsweise per se ausgeschlossen. Diese Position kann in ihrem Absolutheitsanspruch <?page no="215"?> 206 ChristianeFäcke dann als dogmatisch kritisiert werden und führte zur Krise des Antirassismus (Taguieff 1991). Aus dieser Kritik an der Eindimensionalität des Antirassismus erfolgt eine Öffnung der Positionen in den folgenden Jahren und eine Pädagogik der soziokulturellen Vielfalt setzt sich durch. Diversität entwickelt sich zu einem Paradigma, mit dem die Interdependenz verschiedener sozialer Strukturkategorien gefasst werden kann. Damit wird Differenz nicht nur kulturell oder ethnisch begründet, sondern weitere Diskriminierungskategorien wie Geschlecht, Religion, Sprache, sexuelle Orientierung oder Behinderung werden in ihrer Verflechtung miteinander berücksichtigt. Die Zugehörigkeit eines Menschen zur Mehrheit oder Minderheit ist damit abhängig je nach Kontext der Betrachtung. Zielsetzungen bestehen in der Förderung einer Sensibilität für Diversität (Allemann-Ghionda 1997: 6). Eine Form struktureller und institutioneller Diskriminierung im Schulsystem wird in den Erziehungswissenschaften in den 1990er Jahren besonders massiv kritisiert: Es handelt sich um den monolingualen Habitus im Schulsystem Deutschlands (Gogolin 1993), d. h. eine Form der Diskriminierung durch Sprache. Das deutsche Schulsystem, das sich ausschließlich der deutschen Sprache bedient, diskriminiere Schülerinnen und Schüler mit anderen Erstsprachen (und häufig mit Migrationshintergrund), die aufgrund geringerer Deutschkenntnisse benachteiligt würden (↗ Art. 105). Gleichzeitig seien die Herkunftssprachen infolge ihres faktisch geringen Sprachprestiges im Schulsystem nicht gewürdigt, Sprachkenntnisse in Türkisch oder Serbisch würden nicht in gleicher Weise als schulische Leistung anerkannt wie Sprachkenntnisse in Englisch oder Französisch. Insgesamt gibt es in der Pädagogik bis heute einen umfangreichen Forschungsdiskurs über Diskriminierungsmechanismen im Schulsystem im Allgemeinen (z. B. Fereidooni 2016; Scherr et al. 2017) sowie über Diskriminierung von Minderheitenangehörigen und Migranten im Besonderen (z. B. Mecheril 2004; Dirim & Mecheril 2018) und die Einforderung bewusster Auseinandersetzung mit dem Thema sowie besonderer Förderung als Gegenmaßnahme. Auch in den Fremdsprachendidaktiken werden Positionen vertreten, in denen Diskriminierung und Ausgrenzung eine Rolle spielen. Ein Schwerpunkt in den 1990er Jahren liegt in der Analyse von Unterrichtsmaterialien (↗ Art. 46) und den darin vorhandenen und nicht bewusst gemachten Rassismen, die insbesondere auf die Darstellung von Minderheitenangehörigen (Fäcke 1998) oder von Ländern der damals so genannten „Dritten Welt“ bezogen wurden (Poenicke 1995). Auch die in den 1990er Jahren dominierende Didaktik des Fremdverstehens (↗ Art. 36) wird etlicher Kritik ausgesetzt, in der die Logik von Diskriminierung eine Rolle spielt. Hans Hunfeld (2004), der einen hermeneutischen Skeptizismus vertritt, sieht in dem Postulat, das Fremde zu verstehen, eine Form der Aneignung des Fremden und damit eine Form der Gewaltausübung gegenüber dem Fremden. Das Fremde werde als Fremdes diskriminiert, weit sinnvoller sei es, das Fremde als fremd anzuerkennen. Auch aus der Sicht von Positionen im Sinne der Transkulturalität (↗ Art. 41) wird die postulierte Heterogenität und die Dichotomie des Eigenen und des Fremden mit Formen der Diskriminierung in Zusammenhang gebracht. Fremdverstehen wird als Anmaßung kritisiert: Wer hat das Recht, wen als fremd zu definieren? (vgl. Eckerth & Wendt 2003) <?page no="216"?> 207 38. DiskriminierungundAusgrenzungimKontextvonMehrkulturalität 3. Praxisrelevanz Diskriminierung im Kontext von Mehrkulturalität spiegelt gesellschaftliche Realitäten und ereignet sich vielfach in vielen Kontexten. Sie stellt eine immer wiederkehrende Möglichkeit menschlichen Miteinanders und Gegeneinanders dar, so dass eine Gesellschaft ohne jegliche Formen der Diskriminierung leider kaum vorstellbar ist. Pädagogische Zielsetzungen können realistisch daher auf Sensibilisierung für Diskriminierungsmechanismen, auf Aufbrechung diskriminierender Denk- und Handlungsweisen oder auf schrittweisen Abbau von Diskriminierung fördernder Strukturen zielen. In Lehr-/ Lernsituationen kann dies z. B. durch die Berücksichtigung interkultureller Kompetenzen angebahnt werden, in denen nicht nur deklaratives und prozedurales Wissen vermittelt und erworben wird, sondern vor allem auch Dimensionen von savoir être (Byram 1997) eine Rolle spielen sowie Werte und Einstellungen konsequent zum Gegenstand gemacht werden. Der Umgang mit vielfältigen und einander auch wiedersprechenden Wertesystemen und Einstellungen beinhaltet besonders aus der Perspektive der Lehrenden jedoch ein Dilemma. Die Setzung eigener Werte als Maßstab für das Miteinander impliziert bei kulturrelativistischer Betrachtung eine Normierung, die zum Konflikt mit Andersdenkenden führen kann. Diese Logik führt, konsequent ans Ende gedacht, zu postmoderner Beliebigkeit und Austauschbarkeit aller Werte und Maßstäbe, was letztlich auch zu einer den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdenden Orientierungslosigkeit führen kann. Letztlich kann die Vorgabe bestimmter Maßstäbe nur durch Verabsolutierung bestimmter Denkweisen als universalistisch gültig begründet werden. Bestimmte als universal erachtete Denkweisen und Werte können im Kontext von Mehrkulturalität jedoch zu Konflikten mit denen führen, die die genannten universalen Denkweisen als westliche Sichtweisen einstufen und dabei eine Kollision mit eigenen Wertesystemen feststellen. Eine Sanktionierung von Andersdenkenden, man denke nur an den Ehrbegriff in bestimmten muslimisch geprägten Kulturen, impliziert zwangsläufig eine Diskriminierung. Letztlich können konfliktreiche Diskurse über Wertesysteme und ihre universelle oder eben nur partikulare Gültigkeit nicht anders als kontrovers geführt werden. Damit stellt sich die Frage danach, welche Werte und Verhaltensweisen für menschliches Miteinander als unhintergehbar oder als verhandelbar gelten. Ein Beispiel für nicht zur Disposition stehende Werte liefern die Vereinten Nationen: Staaten, die Mitglied der UN werden wollen, müssen die Geltung der Menschenrechte zuvor anerkennen (↗ Einleitung). Analog gilt diese Frage auch für die im Unterricht thematisierten Inhalte, damit verbundene Zielsetzungen und anvisierte Kompetenzen oder auch die vermittelten Wertesysteme. Sie gehen zwangsläufig mit der Frage nach möglicherweise ungewollten Diskriminierungen einher. Während Werte und Verhaltensmaßstäbe wie das Tötungsverbot kulturübergreifend Gültigkeit beanspruchen, können andere Bereiche wie Kleidungsvorschriften hingegen als verhandelbar diskutiert werden. In Frankreich führte die Frage der Kleidungsvorschriften in der Schule zu der affaire du voile islamique und in diesem Zusammenhang zu dem gesetzlichen Verbot im Jahr 2004, in der laizistischen republikanischen Schule religiöse Symbole zu tragen, d. h. eben auch ein muslimisches Kopftuch (Hijab), sowie einige Jahre später zu einem weiteren Gesetz ( la loi du 11 octobre 2010 ), das das Verbergen des Gesichts im öffentlichen Raum verbietet, d. h. <?page no="217"?> 208 ChristianeFäcke u. a. eben auch den Gesichtsschleier (Burka). In den Diskussionen standen sich Vertreter einer kulturrelativistischen Sichtweise und ihre Gegner unvereinbar gegenüber. Für die eine Seite bedeutet das Verbot eine kulturbezogene Diskriminierung der betroffenen Schülerinnen und Frauen sowie des Prinzips der Religionsfreiheit, für die andere Seite steht die Verteidigung als universell gültig erachteter Werte der laizistischen Schule sowie des Neutralitätsgebots im Vordergrund. In dieser Sichtweise besteht die Vermeidung von Diskriminierung gerade darin, religiöse Symbole zu verbannen und Unterscheidungen zwischen Menschen dadurch Vorschub zu leisten (Koussens 2015). Weitere Positionen in diesem Kontext bestehen in der Einforderung des Schleierverbots gerade durch muslimische Frauen, die darin ein Instrument der Unterdrückung von Frauen im Islam sehen, in der Kritik aus feministischen Kreisen, die einen muslimisch-westlichen Kulturkampf auf dem Rücken der Frauen anprangern und die Wahlfreiheit der einzelnen Frau einfordern, oder auch in nationalistischen Argumentationen, die über die Logik des Gesetzes noch hinausgehen. Dieser Konflikt ist bis heute nicht gelöst und als Dilemma eben auch nicht lösbar. 4. Ausblick Diskriminierung steht nicht in einem völlig freien Raum, sondern ist im Zusammenhang mit Macht, Herrschaft und Hierarchien zu sehen. Die Vision einer Gesellschaft ohne jegliche Form der Diskriminierung kann nur als utopisch gelten, doch gleichzeitig kann und darf eine solche Einschätzung nicht zu einer fatalistischen Haltung für Schule und Unterricht führen. Zielsetzung aller pädagogischer Bemühung sollte immer auch in einem Beitrag zur Sensibilisierung für die genannten Zusammenhänge sowie zu dem Bestreben nach Aufbrechung diskriminierender Denk- und Handlungsweisen führen. Trotz oder gerade auch wegen aller Erfahrungen. Literatur Allemann-Ghionda, C. (1997): Mehrsprachige Bildung in Europa. In BMW AG, München (Hrsg.): LIFE. Ideen und Materialien für interkulturelles Lernen . Lichtenau, 1-10. Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence . Clevedon u. a. Dirim, İ. & Mecheril, P. u. a. (2018): Heterogenität, Sprache(n), Bildung. Eine differenz- und diskriminierungstheoretische Einführung. Bad Heilbrunn. Eckerth, J. & Wendt, M. (Hrsg.) (2003): Interkulturelles und transkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht . Frankfurt a. M. u. a. Fäcke, C. (1998): Les Français et les immigrés. Analyse eines Dossiers aus einem Französischlehrwerk . In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 45/ 4, 388-398. Fereidooni, K. (2016): Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen im Schulwesen. Eine Studie zu Ungleichheitspraktiken im Berufskontext . Wiesbaden. Gogolin, I. (1993): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster. Hunfeld, H. (2004): Fremdheit als Lernimpuls . Meran. Kalpaka, A. & Räthzel, N. (Hrsg.) (1990): Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein . 2. Aufl. Leer. Koussens, D. (2015): L’épreuve de la neutralité. La laïcité française entre droits et discours . Bruxelles. Mecheril, P. (2004): Einführung in die Migrationspädagogik . Weinheim. Poenicke, A. (1995): Die Darstellung Afrikas in europäischen Schulbüchern für Franzö- <?page no="218"?> 209 39. FriedenserziehunginderPerspektivevonMehrsprachigkeit sisch am Beispiel Englands, Frankreichs und Deutschlands . Frankfurt a. M. u. a. Rösch, H. (2017): Deutschunterricht in der Migrationsgesellschaft. Eine Einführung . Stuttgart. Scherr, A., Mafaalani, A. & Yüksel, E. (Hrsg.) (2017): Handbuch Diskriminierung . Wiesbaden. Taguieff, P.-A. (1991): Die ideologischen Metamorphosen des Rassismus und die Krise des Antirassismus. In: Bielefeld, U. (Hrsg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? Hamburg, 221-268. (Hamburger Institut für Sozialforschung). Christiane Fäcke 39. Friedenserziehung in der Perspektive von Mehrsprachigkeit 1. Was will Friedenserziehung? Friedenserziehung als pädagogische Praxis (bzw. Friedenspädagogik als ihre Theorie) beschränkt sich nicht darauf, Lernende zu einem friedlichen sozialen Verhalten zu befähigen, sondern sie hat eine weiter reichende, gesellschaftskritische bzw. transformierende Zielsetzung, nämlich den Abbau von Gewalt und die Entwicklung einer Kultur des Friedens (Grasse et al. 2008). Friedenserziehung, verstanden als eigener Teilbereich politischer Bildung wie auch als fächerübergreifendes Prinzip, realisiert sich heute auch als Global Citizenship Education (Wintersteiner et al. 2014). (Nicht nur) in diesem Zusammenhang rückt sprachliche Gewalt in ihren Fokus. 2. Mehrsprachigkeit als Baustein der Friedenserziehung Sprachenfragen sind politische Fragen (↗ Art. 10). Dadurch haben auch Mehrsprachigkeits- und Friedenspädagogik etliche Gemeinsamkeiten, die allerdings bislang kaum systematisch exploriert wurden. In friedenstheoretischen oder -pädagogischen Publikationen zu Sprache und Gewalt/ Frieden bzw. in der sprachkritischen politischen Didaktik wird kaum ein Bezug zur Mehrsprachigkeit hergestellt (Pasierbsky 1983; Raasch 1993; Schäffner & Wenden 1995; Gomes de Matos 2014 oder das Forschungsprojekt Language and Violence 2014-2019, https: / / language. univie.ac.at/ about/ ). In der (interkulturellen) Pädagogik (↗ Art. 16) sowie in Sprachwissenschaft und -didaktik wird hingegen Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7) thematisiert, jedoch kaum aus friedenspädagogischer Perspektive (vgl. hingegen Schröder 1995; Wintersteiner 2001, 2009; Fill 2007; Wintersteiner et al. 2008; Meier 2010). Manchmal wird Mehrsprachigkeit friedenspädagogisch ausschließlich als Voraussetzung interkultureller Kommunikation argumentiert (Berliner Komitee 2016). Das ist zwar zutreffend, aber viel zu kurz gegriffen. Der entscheidende Konnex der beiden Felder besteht nämlich im Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Macht (↗ Art. 9). Entsprechend einem teilweise bis heute dominierenden Verständnis von Nation als sprachlich und kulturell homogener Einheit werden Vielsprachigkeit und Multikulturalität als Bedrohung gesehen und (meist vergeblich) zu bekämpfen versucht. Immer kommt es dabei zu Hierarchisierungen zwischen den Sprachen. Je nach Status der jeweiligen Sprache gibt es prestigeträchtige und weniger hochbewertete Formen der Zweibzw. Mehrsprachigkeit. Dies betrifft autochthone ebenso wie „neue“ <?page no="219"?> 210 WernerWintersteiner durch Migration entstandene „Minderheiten“, aber auch den Gebrauch internationaler Verkehrssprachen (↗ Art. 13, 98, 117). Hinzu kommt noch eine Form epistemischer Gewalt in Form der lange Zeit vorherrschenden „wissenschaftlich begründeten“ Abwertung und Diffamierung der Mehrsprachigkeit durch Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik. Ein klassisches Beispiel ist die Position des Germanisten Leo Weisgerber noch im Jahre 1966: „Für die große Mehrheit behält es Geltung, dass der Mensch im Grunde einsprachig ist. […] Vor allem aber gehen corruption du langage und corruption des mœurs Hand in Hand“ (Weisgerber 1966: 73). Friedenspädagogik setzt sich kritisch mit dem Postulat der Homogenität, der Abwehr von Mehrsprachigkeit und der Hierarchisierung der Sprachen auseinander und deckt den damit verbundenen Gewaltaspekt auf. Aus dieser Perspektive ist die Unterdrückung oder gar Auslöschung von Sprachen, ein nach wie vor ein häufig eingesetztes Mittel zur Aufrechterhaltung von Dominanz, strukturelle und kulturelle Gewalt. Die dänische Linguistin Tove Skutnabb-Kangas fordert daher, dass elementare Sprachenrechte als Menschenrechte verankert werden, als linguistic human rights (Skutnabb-Kangas & Phillipson 1994). Ihre Argumentation für das Recht auf linguodiversity ist friedenspädagogisch relevant: Diese sei ebenso wie mehrsprachige und multikulturelle awareness auf globaler Ebene Voraussetzung, um in einer Weltgesellschaft demokratisch handlungsfähig zu bleiben (vgl. Skutnabb-Kangas 1995: 17-18). In diesem Zusammenhang sind auch die Aktivitäten von Linguapax, einer internationalen NGO mit UNESCO-Beobachterstatus, zu nennen (www. linguapax.org/ english). Häufig werden aber gerade jene sprachlichen Bildungsrechte verweigert, die elementar für die Reproduktion sprachlicher Minderheiten sind. Der oben angesprochene linguicism , eine Spielart des Rassismus, sieht in „Minderheitensprachen“ keinen positiven Wert, sondern ein Handicap, das die Lernenden hindere, das einzig Wertvolle, nämlich die Mehrheitssprache, zu erwerben (Skutnabb-Kangas & Phillipson 1996). Er trachtet danach, „Minderheitensprachen“ öffentlich unsichtbar zu machen, und wendet sich gegen alle Formen von symbolischer Mehrsprachigkeit. Ein monolingualer Habitus (Gogolin 1994) in Gesellschaft und im Bildungssystem bestärkt diesen linguicism und lässt ihn als natürlich und vernünftig erscheinen. Ein weiteres friedenspädagogisches Argument ist das Potential von Mehrsprachigkeit und Multikulturalität, die eigenen Standpunkte in ihrer Relativität erkennen und infrage stellen zu lassen und somit eine Basis für ein friedliches Miteinander, sei es zwischen Einheimischen und Zugewanderten, sei es im internationalen Maßstab, zu schaffen (↗ Art. 32). Studien zeigen, dass die Verweigerung von Sprachenrechten zu Konflikten und Kriegen führen kann, während es keine Evidenz dafür gibt, dass Monolingualismus vor Konflikten schütze (Centre UNESCO de Catalunya-Unescocat 2010). 3. Die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung um Mehrsprachigkeit If neoliberalism and linguistic neoimperialism are determining factors, there are challenges in maintaining the vitality of languages, and organizing school and university education so as to educate critical multilingual citizens. (Phillipson 2018: 14) <?page no="220"?> 211 39. FriedenserziehunginderPerspektivevonMehrsprachigkeit Mehrsprachigkeit und Schutz der Sprachenrechte sind heute somit dringender denn je. Es geht um drei Bereiche: autochthone Minderheiten (↗ Art. 117); „neue Minderheiten“, durch massive Migration entstanden, die scheinbar monolinguale Länder in multikulturelle Einwanderergesellschaften verwandelt haben (↗ Art. 100, 110). Schließlich erhalten durch die Globalisierung internationale Verkehrssprachen ein bislang unbekanntes Gewicht, vor allem das Englische (↗ Art. 13, 97, 98). Damit werden bisher voll funktionierende Sprachen ins Abseits gedrängt. Neokolonialismus und neoliberale Marktmechanismen (auch im Bereich der Kulturindustrie) sowie die allgegenwärtige Präsenz moderner Massenmedien bedrohen die Existenz kleiner Sprachen. Man schätzt, dass im Laufe dieses Jahrhunderts von den rund 6500 weltweit gesprochenen Sprachen mindestens ein Drittel bis die Hälfte „aussterben“ wird (Centre UNESCO de Catalunya-Unescocat 2010). Für den Erhalt einer lebendigen Mehrsprachigkeit ist die Schulsprachenpolitik entscheidend. Im deutschsprachigen Raum wurde in den letzten Jahrzehnten der Wert der autochthonen Sprachen und der Sprachen der Zugewanderten von der Forschung immer mehr anerkannt, Mehrsprachigkeit wurde zumindest im Prinzip als Bildungsziel festgelegt, der Herkunftssprachenunterricht etabliert und Pionierprojekte zur zweisprachigen Alphabetisierung wurden durchgeführt (↗ Art. 21). Heute ist der positive Umgang mit Mehrsprachigkeit in manchen Lehrplänen und teilweise auch in der Lehrerausbildung für den Deutschunterricht verankert (vgl. für Österreich Krumm & Reich 2013 oder Herzog- Punzenberger 2017). Im Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung (KMK 2016: 137) werden Sprachkonflikte als Thema von Friedenserziehung genannt. Dennoch sind diese Fortschritte noch keineswegs ausreichend und werden auch immer wieder infrage gestellt. Denn seit dem langen Sommer der Migration von 2015 sind in Europa wieder restriktive Sprachenpolitiken auf dem Vormarsch. Integration wird auf den Erwerb der deutschen Sprache reduziert, die Herkunftssprachen (↗ Art. 106) werden abgewertet. So findet sich der Begriff Mehrsprachigkeit weder im Koalitionsvertrag der deutschen (19. Regierungsperiode) noch im Regierungsprogramm der österreichischen Bundesregierung (2017- 2022). Damit ignoriert diese Politik den Geist der Sustainable Development Goals (SDGs), mit denen sich die UN-Mitgliedsstaaten zu weitreichenden auch bildungspolitischen Reformen (wozu u. a. muttersprachlicher Unterricht zählt) verpflichten. In Target 4.7 wird als Grundlage von Bildung zu nachhaltiger Entwicklung und Global Citizenship auf „appreciation of cultural diversity“ und damit auch sprachlicher Diversität hingewiesen (https: / / sustainabledevelopment.un.org/ sdg4). Die UNESCO wiederum nennt in diesem Zusammenhang Mehrsprachigkeit und sprachliche Vielfalt explizit als Basis für nachhaltige Entwicklung und Frieden (http: / / ccic-unesco.org/ les-comptes-rendus/ diversite-linguistique-etmultilinguisme-pour-construire-la-paix/ ). 4. Perspektiven Friedenserziehung muss aktuelle gesellschaftliche Konfliktfelder thematisieren, denn nur diese sind die eigentlichen Lernfelder. Mehrsprachigkeit bzw. Mehrsprachigkeitspolitik ist so ein Feld. Die Forschungsproblematik, wie Alwin Fill sie formuliert, nämlich die Frage nach den konkreten Gründen für einen Zu- <?page no="221"?> 212 WernerWintersteiner sammenhang von sprachlicher Vielfalt und (sprachlichem) Konflikt, gerade unter den Bedingungen der Globalisierung, ist auch für die Friedenserziehung elementar (Fill 2009: 197 f.). Die Orientierung an den SDGs mit ihrer Betonung von Global Citizenship Education als globaler Friedenserziehung bietet einen neuen und attraktiven Hintergrund für diesbezügliche Forschung und Lehre. Literatur Berliner Komitee für UNESCO-Arbeit (2016): UNESCO-Arbeit in Berlin: Friedenserziehung. Berlin. Centre UNESCO de Catalunya-Unescocat (2010): The Management of Linguistic Diversity and Peace Processes . Barcelona. [http: / / www.linguapax.org/ wp-content/ uploads/ 2015/ 03/ Book_ManagementLanguage- Diversity.pdf]. Fill, A. (2009): Language Contact, Culture and Ecology. In: M. Hellinger & A. 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Diese vor allem von der französischen Philosophie, Semiotik und Soziologie verstärkt seit den 1970er Jahren (Barthes, Derrida, Foucault) entwickelte Perspektive ist insofern als postmodern zu begreifen, als sie bisher akzeptierte oder als natürlich (‚naturalisiert‘) begriffene Gewissheiten, Normen und Verstehenskategorien radikal in Frage stellt. Die tradierten grands récits (Lyotard) bzw. soziokulturell sinnstiftenden Narrative und deren emplotment -Strategien werden einer Hermeneutik der Skepsis und dem Verdacht ausgesetzt, ‚Herrschaftsdiskurse‘ - also soziokulturelle Asymmetrien und Hierarchien - zu stützen. Im Sinne des linguistic turn und basierend auf poststrukturalistischen Einsichten - vgl. Derridas zentralen Begriff der différance als Markierung der nie festlegbaren linguistischen Bedeutungsfixierung der sich in Endlosketten aufeinander beziehenden Signifier ( endless deferral of meaning ) - reflektiert die Diskursanalyse postmoderne Bedenken gegenüber ontologischen und epistemologischen Sicherheiten. Die ‚entlarvende‘ Perspektive der Diskursanalyse kommt insbesondere in kritischen Studien zum Tragen, in denen sie darauf abzielt, verdeckte oder offene sprachliche oder semiotische (z. B. visuelle) Mechanismen aufzudecken und im Detail zu sezieren, wie als ‚natürlich‘ dahingenommene sprachliche, soziokulturelle und ökonomische Praktiken kreiert, disseminiert oder perpetuiert werden (beispielhaft ist die bahnbrechende Studie des französischen Soziologen und Semiotikers Roland Barthes, Mythologies , 1957). 2. Fremdsprachendidaktisch relevante Anwendungsfelder der Diskursanalyse Die Diskursanalyse als wissenschaftliche Herangehensweise schlägt sich in einer Vielzahl von theoretisch-konzeptuellen Ansätzen, Untersuchungsperspektiven und -instrumentarien nieder (vgl. Mills 1997; Gerhard et al. 2013; Volkmann 2016). <?page no="223"?> 214 LaurenzVolkmann (1) Mündliche Diskurse und die soziokulturelle wie linguistische Prägung von Redezusammenhängen stehen im Fokus der pragmatischen Diskursanalyse, auch Gesprächs- oder Konversationsanalyse bzw. (im Englischsprachigen oftmals einfach) discourse analysis genannt. Sie deckt im Wesentlichen auf, nach welchen sprachlichen und sozialen Konventionen Äußerungen und Gespräche ablaufen und eruiert Implikationen sowie auch das nicht Geäußerte oder Verschwiegene (Fairclough 1989). In der didaktischen Forschung richtet sich das Augenmerk auf Sprachkonventionen und deren soziokulturelle Signifikanz sowie bei der Auswertung von Interviews und Gesprächen auf diskursive Bedeutungszuweisungen. (2) In der Tradition Foucaults wird die Diskursanalyse auch als weit gefasste Denkrichtung begriffen, die die diskursiven Praktiken von Bedeutungszuweisung im Bereich von Macht, Dominanz, Subjektkonstitution und Alteritätszuweisung behandelt. Hier stehen die diskursiven Praktiken in bestimmten Wissensbereichen, Institutionen und Dokumenten im Vordergrund, etwa in wissenschaftlichen Spezialdiskursen, deren diskursive Praktiken ausgeleuchtet werden. Wissensdiskurse (etwa Curricula, bildungspolitische Dokumente, fachdidaktische Diskurse zu bestimmten Themen) könnten demnach mit einer Foucault’schen Perspektive untersucht werden mit Bezug auf Fragestellungen, wie „deren Grenzen durch Regulierung dessen, was sagbar ist, was gesagt werden muss und was nicht gesagt werden kann, gebildet ist“ (Gerhard et al. 2013: 142). (3) Diskursanalytische Akzentuierungen bzw. teilweise eklektische Kombinationen von Theorieelementen der Diskursanalyse und postmoderne, alte Sicherheiten aufbrechende Perspektiven finden sich in zahlreichen Theoriefeldern, welche sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet haben. Forschungen im Bereich von Gender (speziell in der feministischen und GLBT+-orientierten Forschung, vgl. v. a. den Einfluss der Theorien Judith Butlers zur ‚Heteronormativität‘), Alterität und Fremderfahrung, Othering und Postkolonialität (Edward Said, Homi Bhabha), Stereotypen (↗ Art. 34), Rassismus und Diskriminierung (↗ Art. 38); weiterhin auch in der Ökokritik ( ecocriticism und die an sie angelehnte ecopedagogy ), zu animal rights und zum Posthumanismus sowie in Forschungen zu jeglicher Form von bias (also soziokulturell bestimmten Vorannahmen, z. B. zu Diversität, Identität, Geschlecht, Alter, Herkunft). Diskurskritische Ansätze bestimmen darüber hinaus Theorien der Dialogizität (Bachtin), der Hermeneutik (Gadamer), Rezeptionsästhetik (Eco), Semiotik (Barthes, Eco), Psychoanalyse (Lacan) und Inter- und Transkulturalität (Todorov, Welsch), der kritischen (Befreiungs-) Pädagogik (Freire) sowie der Pädagogik der Vielfalt (Prengel) und der Philosophie zum Anderen und Fremden (Levinas). 3. Diskursanalytische und dekonstruierende Praktiken Eine diskursanalytisch orientierte Forschung bemüht sich als kritischer hermeneutischer Ansatz - anders als empirische Vorgehensweisen - nicht um die Trennung oder Setzung von falschen und richtigen, wahrscheinlichen oder unwahrscheinlichen Aussagen, Hypothesen oder Annahmen. Sie untersucht vielmehr, mit welchen diskursiven Mitteln (Sprachverwendung, Argumentation, Präsentation) und/ oder semiotischen Bedeutungsaufladungen (d. h. durch Zeichen, z. B. visueller Art) bestimmte Aussagen (im Englischen utterances , <?page no="224"?> 215 40. DiskursanalyseundDekonstruktion: postmoderneDiskurse Foucault spricht von énoncés ) oder Annahmen als ‚richtig‘ (d. h. ‚naturgegeben‘, authentisch, sinngebend) oder ‚falsch‘ (als nicht akzeptabel, nicht haltbar, immer schon als nicht naturgegeben gesetzt) repräsentiert werden. Es geht also nicht darum, empirisch oder argumentativ gesicherte Aussagen zu treffen, sondern darum, aufzudecken - entsprechend zu ‚dekonstruieren‘ -, wie diskursiv Präsentationen von ‚Wahrheiten‘, ‚Realitäten‘ oder ‚Authentizität‘, kurzum: oftmals unhinterfragte normative Setzungen geschaffen werden. Dabei leiten entsprechende kritische Fragestellungen die Untersuchung: Wer konstruiert mit welchen diskursiven Mitteln welche Aussagen zu welchem Zweck? Was bewirken in einem bestimmten Kontext bzw. in einer bestimmten Rezipientengruppe bestimmte Konstruktionen von Diskursen? Mit welchen Mitteln schaffen Diskurse Inklusion und Exklusion von Meinungen und Partizipierenden? Wie der bedeutende französische Philosoph und Diskursanalytiker Foucault betont, gilt es dabei besonders, linguistisch-rhetorische und semantische ‚Exklusionsmechanismen‘ der Diskurse zu entdecken, mit deren Hilfe sich oftmals erst in verdeckten binären Oppositionen (Mann-Frau, eigene vs. fremde Kultur) Sinnzusammenhänge erstellen. Dabei werden die soziokulturellen Folgen solcher Vor-Annahmen aufgedeckt und kritisch beleuchtet, oft verbunden mit dem explizit geäußerten Anspruch, im Sinne der philosophischen Aufklärung oder sozialer, feministischer, postkolonialer und politisch emanzipatorischer Forderungen gezielt soziokulturelle Veränderungen anzustoßen. 4. Anwendungsgebiete für die Fremdsprachenforschung Als kritisch-reflexiver Ansatz mit emanzipatorischem und aufklärerischem Impetus verstärkt die Diskursanalyse anti-autoritative und sozialkritische Denkrichtungen der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, besonders der 1968er Studentenrevolte. Sie verbindet sich mit bildungspolitischen Forderungen, Lernende im kritischen, gängige Autoritäten und Normen ‚hinterfragenden‘ Denken zu fördern. Allerdings stehen die Radikalität und das theoretische Abgehobensein vieler Ansätze einem direkten, konkreten Einwirken auf den unterrichtlichen Alltag entgegen, so dass diskurskritische und dekonstruierende Herangehensweisen z. B. an literarische oder filmische Texte (↗ Art. 42) eher bei einzelnen Teilaspekten Verwendung finden. Zu nennen wären hier beispielhaft Frage- und Aufgabenstellungen zu den Bereichen race, class-& gender oder auch die Sensibilisierung für sprachliche Formen (z. B. im Bereich der political correctness ). Generell haben postmodere Theorien mit ihrer Betonung des soziokulturellen Konstruktcharakters der Diskurse auch jene Richtungen der Pädagogik und Didaktik beeinflusst, die Inklusion, Diversität, Heterogenität und Individualität wertschätzen (↗ Art. 41). In der Fremdsprachenforschung kommen diskursanalytisch akzentuierte Herangehensweisen vor allem in literatur-, kultur- und mediendidaktisch sowie bildungspolitisch orientierten Richtungen zum Zuge, aber auch bei Gesprächs- und Quellenanalysen sowie in der Pragmalinguistik und bei (empirischen) Untersuchungen der Lehr-Lernforschung mit kritischem Ansatz (wie in der Grounded Theory). Um drei typische, explizit diskursanalytisch akzentuierte Beispiele zu nennen: <?page no="225"?> 216 LaurenzVolkmann Diskursanalytische Verfahren gelangen in einer Studie zu dem didaktischen Kernbegriff der ‚Authentizität‘ zum Tragen, wenn dieses Konzept in seiner historischen Genese und gegenwärtigen höchst heterogenen Konzeptualisierung erörtert wird (Will 2017); es liegt weiterhin die Skizze eines vor allem auf Foucaults Theorien zur Diskursanalyse basierenden Modells der kritischen Lehrwerkanalyse vor (Volkmann 1999); diskursiv-dekonstruierende Analysepraktiken zeichnen eine bahnbrechende Untersuchung zu fachdidaktischen Publikationsgepflogenheiten mit Bezug auf Gender-Verständnisse aus (Schmenk 2009). Insgesamt gesehen finden sich diskursanalytische Ansätze weniger in speziellen Einzelstudien wieder, sondern sind vielmehr in der Breite in kritisch-reflexiven Forschungspraktiken und Forschungsinstrumentarien wiederzufinden. Literatur Barthes, R. (1957): Mythologies. Paris. Butler, J. (1990): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York, London. Derrida, J. (1967): L’écriture et la différence. Paris. Fairclough, N. (1989): Language and Power. London, New York. Foucault, M. (1971): L’ordre du discours . Paris. Gerhard, U., Link, J. & R. Parr, R. (2013): Diskurs und Diskurstheorien. In: A. Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie . 5. Aufl. Stuttgart, 141-144. Lyotard, J.-F. (1979): La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris. Mills, S. (1997): Discourse. London, New York. Schmenk, B. (2009): Geschlechterspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion geschlechtstypischer Lerner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung . 2. Aufl. Tübingen. Volkmann, L. (1999): Kriterien und Normen bei der Evaluation von Lehrwerken: Grundzüge eines diskursanalytischen Modells. In: W. Börner & K. Vogel. (Hrsg.): Lehrwerke im Fremdsprachenunterricht. Lernbezogene, interkulturelle und mediale Aspekte. Bochum, 117-144. Volkmann, L. (2016): Hermeneutische Verfahren. In: D. Caspari, F. Klippel, M. Legutke & K. Schramm (Hrsg.): Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik. Ein Handbuch. Tübingen, 229-242. Will, L. (2017): Authentizität im Fremdsprachenunterricht — erste Schritte zu einer historischen Diskursanalyse. In: J. Appel, S. Jeuk & J. Mertens (Hrsg.): Sprachen Lehren. 26. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung in Ludwigsburg. 30. September 2015 - 3. Oktober 2015. Kongressband. Hohengehren, 105-120. Laurenz Volkmann 41. Transkulturalität und transkulturelles Lernen 1. Begrifflichkeit Der Begriff Transkulturalität steht für ein Verständnis von Kulturen als hybride, dynamische, vernetzte und sich dabei gegenseitig beeinflussende Gebilde. Es steht in deutlichem Kontrast zu Kulturverständnissen, welche von der Homogenität, Unveränderlichkeit und bisweilen auch Reinheit von Kulturen ausgehen. Die Hybridität und Dynamik von Kulturen und somit ihr transkultureller Charakter nehmen durch aktuelle Phänomene, die unter <?page no="226"?> 217 41. TranskulturalitätundtranskulturellesLernen den Stichworten Globalisierung und Digitalisierung zusammengefasst werden können, stark zu. Dennoch wird Transkulturalität in historischer Perspektive nicht als neues Phänomen aufgefasst, wie das Beispiel etruskischer und griechischer Einflüsse im alten Rom verdeutlicht. Die lateinische Vorsilbe trans- („über, darüber hinaus, jenseits“) soll die Eigenart von kulturellen Phänomenen unterstreichen, Grenzen zu überschreiten - die ohnehin als fiktiv oder zumindest instabil aufgefasst werden. Transkulturalität wird häufig in expliziter Abgrenzung von Interkulturalität (↗ Art. 17, 32) verwendet. Dabei lautet die Kritik, dass die lateinische Vorsilbe inter- („zwischen“) die Vorstellung von einem Ort begünstige, der sich zwischen Kulturen befindet, und somit auch jene von deren Abgrenzbarkeit (Kultur A vs. Kultur B). Eben diese Vorstellung gelte es jedoch zu überwinden. Neben der Makroebene von Gruppen (Kulturen bzw. Subkulturen) bezieht sich der Begriff Transkulturalität auch auf die Mikroebene der Individuen. Er steht hier für die Vorstellung, dass jeder Mensch nicht nur von einem, sondern von vielen kulturellen Einflüssen geprägt ist. Auch auf der individuellen Ebene stehen die Begriffe Hybridität und Dynamik im Mittelpunkt, und auch hier handelt es sich dabei um Phänomene, die in jüngerer Zeit stark zugenommen haben, historisch aber nicht neu sind. Entsprechend meint transkulturelles Lernen die Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen, wenn dabei deren Hybridität und Dynamik in den Blick genommen wird. Es soll bei Lernenden die Fähigkeit und die Bereitschaft fördern, transkulturelle Phänomene sowohl auf der Makroals auch auf der Mikroebene zu reflektieren und sich auf diese Weise für neue Einflüsse zu öffnen. Es steht im Gegensatz zu einem herkömmlichen Verständnis von kulturellem Lernen, welches auf das Kennenlernen von Nationalkulturen abzielt. Dieses dominierte die Kultur- und Landeskunde der 1920erbis 1970er-Jahre (↗ Art. 35), ist aber auch in zahlreichen Beiträgen zum interkulturellen Lernen zu finden. 2. Problemaufriss Ursprünglich von dem kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz geprägt, wird der Begriff Transkulturalität in den 1990er-Jahren von dem Philosophen Wolfgang Welsch in die deutschsprachige Diskussion eingeführt. Ausgangspunkt von Welschs Überlegungen sind die damals seiner Einschätzung nach weit verbreiteten essentialistischen und dichotomischen Kulturkonzepte, die er auf Johann Gottfried Herder zurückführt (Kugelmodell). Diese seien aber, so Welsch (1999: 48), „[…] nicht nur deskriptiv falsch, sondern auch normativ gefährlich und unhaltbar.“ Welsch hält die seit dem Ende des 20. Jahrhunderts bis heute sehr verbreiteten Begriffe ‚Interkulturalität‘ und ‚Multikulturalität‘ ebenfalls für problematisch. Sie seien weiterhin auf eben jenes Kulturverständnis angewiesen, das es zu überwinden gelte (↗ Art. 1). Bei der ‚Interkulturalität‘ gehe es zwar darum, interkulturelle Probleme durch Dialog zu lösen. Solange man aber begrifflich an der „Primärthese“ (ebd.: 50) von klar unterscheidbaren Kulturen festhalte, trage man kontinuierlich zur Reproduktion eben dieser Probleme bei. Ähnliches gelte für den Ansatz der ‚Multikulturalität‘, nur dass die Konflikte nun nicht mehr zwischen, sondern innerhalb von Gesellschaften ausgetragen würden. Welsch (ebd.: 49) befürchtet sogar, dass das Multi- <?page no="227"?> 218 JochenPlikat kulturalismuskonzept zum Gegenteil der gesteckten Ziele führen kann: „Es leistet regressiven Tendenzen Vorschub, die unter Berufung auf kulturelle Identität (ein Konstrukt, das man meist aus den Imaginationen eines Vorgestern gewinnt) zu Ghettoisierung und Kulturfundamentalismus führen“. 3. Forschungsstand In der deutschsprachigen fremdsprachendidaktischen Diskussion erscheint der Begriff Transkulturalität erstmals prominent im Titel eines von Eckerth und Wendt (2003) herausgegebenen Sammelbandes. Er wird in dieser und in späteren Veröffentlichungen (vgl. z. B. Antor 2007) verschiedentlich als vielversprechendes Konzept für die bereits von Welsch angemahnte Überwindung der Vorstellung von abgrenzbaren Nationalkulturen vorgeschlagen. Reimann (2014: 46) sieht gar „[…] die Notwendigkeit, Transkulturalität als zentrale Denkfigur des Fremdsprachenlernens zu begreifen […]“. Er entwickelt ein gestuftes Modell, welches drei Dimensionen der Lernprogression integriert: die Progression des Sprachenlernens, die Progression des kulturellen Lernens (von der Landeskunde über die interkulturelle kommunikative Kompetenz zur Transkulturellen kommunikativen Kompetenz ) sowie den Grad der Vertiefung des kulturellen Lernens (vgl. ebd.: 67). In der Anwendung der theoretischen Überlegungen zur Transkulturalität dominieren Vorschläge zur Literatur- und Filmdidaktik (vgl. z. B. Schumann 2008) (↗ Art. 42). Weiterhin können Beiträge zum transkulturellen Lernen häufig der Mehrsprachigkeitsdidaktik zugeordnet werden (vgl. Reimann 2014: 613- 657). Empirische Studien, die auf dem Konzept fußen, sind dagegen bislang nur vereinzelt zu finden (vgl. Fäcke 2006). Dabei dürfte eine Rolle spielen, dass sich der empirische Zugriff auf kulturelle Lernprozesse allgemein als äußerst schwierig zeigt. Vereinzelt wurde auch grundsätzliche Kritik an der Transkulturalität formuliert, so z. B. von Bredella (2012). Der von ihm angeführte zentrale Kritikpunkt, es gehe bei der Transkulturalität um die „Auflösung und Abschaffung“ (ebd.: 53) von Kulturen, ist allerdings nicht haltbar. Welsch selbst betont, dass Kulturen durchaus weiter existieren und existieren sollten - aber eben als manchmal dicht, manchmal weniger dicht geknüpfte und miteinander auf vielfältige Weise verbundene Bedeutungsnetze, nicht als klar abgrenzbare Kugeln (vgl. Welsch 1999: 58 f.). Gegen Welschs Position lässt sich allerdings einwenden, dass möglicherweise dennoch langfristig der Rückgang kultureller Vielfalt und eine zunehmende weltweite kulturelle Vereinheitlichung zu verzeichnen sein werden. Sollte dies eintreten, wird es aber weitgehend außerhalb der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung liegende Gründe haben - Bredellas heftige Kritik an Welsch trifft somit lediglich den Überbringer der schlechten Nachricht (↗ Art. 36). Ferner ist Bredellas Einwand zu nennen, dass die Auflösung kultureller Grenzen die Auflösung von Gemeinschaften und einen „extremen Individualismus“ (Bredella 2012: 46) vorantreiben könnte. Hierdurch könnten Individuen zu ungeschützten Spielbällen globaler Marktkräfte werden. Nicht nur in Bezug auf diese möglichen Entwicklungen sind machtbezogene Fragen in der Diskussion um Transkulturalität bislang zweifellos unterrepräsentiert. Auch hier gilt jedoch, dass die Transkulturalität eher einen beschreibenden als einen gestaltenden Charakter hat. Kritik <?page no="228"?> 219 41. TranskulturalitätundtranskulturellesLernen sollte sich daher eher an Akteure richten, die diese Entwicklungen vorantreiben - nicht an jene, die sie zu beschreiben versuchen. 4. Praxisrelevanz und Perspektiven Transkulturalität und transkulturelles Lernen sind in hohem Maße praxisrelevant, da Beiträge zum interkulturellen Lernen weiterhin häufig auf jene Kulturverständnisse zurückgreifen, welche es seit langem zu überwinden gilt. Eine neue Begrifflichkeit hat das Potential, hier gegenzusteuern. Auch wenn Praxisbeiträge zum transkulturellen Fremdsprachenlernen weiterhin häufig der Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) oder der Arbeit mit Literatur, Film oder Musik zuzuordnen sind, so ist doch inzwischen auch eine Ausweitung des Themenspektrums zu beobachten. Exemplarisch sei hierfür ein Sammelband von Matz, Rogge & Siepmann (2014) genannt. Transkulturelles Lernen wird dort als „ umbrella term “ (ebd.: 7) für Ansätze verstanden, welche „der Versuch [verbindet], der Vielstimmigkeit im Klassenraum Gehör zu schenken und der gestiegenen kulturellen Komplexität einer globalisierten Welt gerecht zu werden“ (ebd.). Dieses Anliegen verfolgen auch Ansätze, welche angesichts der Gefahr kulturalistischer Zuschreibungen sogar einen vollständigen Verzicht auf den Kulturbegriff vorschlagen - zumindest vorläufig und für didaktische Zwecke (vgl. Plikat 2017). Unabhängig von der gewählten Begrifflichkeit verbindet alle genannten Ansätze, dass sie sich mit derselben grundlegenden Schwierigkeit auseinandersetzen müssen: Sie laufen den „komplexitätsreduzierenden Reflexen des Menschen zuwider“ (Antor 2007: 125). Diese Reflexe sind bei jüngeren Lernenden aus entwicklungspsychologischen Gründen stärker ausgeprägt, und sie zu überwinden stellt hohe kognitive Anforderungen. Eine für die Bedingungen des schulischen Fremdsprachenunterrichts wichtige und weiterhin offene Frage lautet, wie kulturelles Lernen auf einer angemessenen Komplexitätsstufe bereits in einem Alter gelingen kann, in dem die Sprachkompetenz und das Abstraktionsvermögen in aller Regel noch stark eingeschränkt sind. Literatur Antor, H. (2007): Inter-, multi- und transkulturelle Kompetenz: Bildungsfaktor im Zeitalter der Globalisierung. In: H. Antor (Hrsg.): Fremde Kulturen verstehen - fremde Kulturen lehren: Theorie und Praxis der Vermittlung interkultureller Kompetenz. Heidelberg, 111- 126. Bredella, L. (2012): Transkulturalität als Herausforderung für das interkulturelle Verstehen. In: C. Fäcke, H. Martinez & F.-J. Meißner (Hrsg.): Mehrsprachigkeit: Bildung - Kommunikation - Standards. Stuttgart, 39-56. Eckerth, J. & Wendt, M. (Hrsg.) (2003): Interkulturelles und transkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht. Frankfurt a. M. Fäcke, C. (2006): Transkulturalität und fremdsprachliche Literatur: eine empirische Studie zu mentalen Prozessen von primär mono- oder bikulturell sozialisierten Jugendlichen. Frankfurt a. M. Matz, F., Rogge, M. & Siepmann, P. (Hrsg.) (2014): Transkulturelles Lernen-im Fremdsprachenunterricht. Theorie und Praxis. Frankfurt a. M. Plikat, J. 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Begriffsbestimmung Aus Sicht der fremdsprachlichen Literaturdidaktik sind Aspekte von Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit auf unterschiedlichen Ebenen für die Planung, Gestaltung und Erforschung von Lehr-Lern-Prozessen im Literaturunterricht relevant: (1) Zum einen geht es um die inhaltliche Ebene der literarischen Lerngegenstände: Fremdsprachliche Literatur eröffnet Lernenden den Zugang zu anderen kulturellen Lebenswelten. (2) Zum anderen lässt sich der Begriff der Mehrkulturalität mit dem Ziel der Ausbildung inter- und transkultureller Handlungsfähigkeit bzw. interkultureller kommunikativer Kompetenz in Verbindung bringen, die sowohl im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (↗ Art. 18) als auch in den Bildungsstandards als zentrale Zielsetzungen des Fremdsprachenunterrichts definiert werden. (3) Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit werden außerdem insofern relevant, als die biographischen Hintergründe der Lernenden zunehmend mehrkulturell bzw. mehrsprachig geprägt sind und daher davon auszugehen ist, dass sie die Lehr- und Lernprozesse im Literaturunterricht beeinflussen und bei der Planung und Gestaltung des Unterrichts berücksichtigt werden sollten (↗ Art. 110). 2. Interkulturalität und Transkulturalität in der Literaturdidaktik In den 1990er Jahren erhielt die fremdsprachige Literaturdidaktik u. a. Impulse durch das Gießener Graduiertenkolleg „Didaktik des Fremdverstehens“, das sich mit der Frage nach der Möglichkeit des ‚Fremdverstehens‘ und nach geeigneten didaktischen Zugängen auseinandersetzte (↗ Art. 36). Die zentrale Prämisse, dass Perspektivenwechsel und eine nicht unkritische Perspektivenübernahme grundlegende Voraussetzungen für das Fremdverstehen darstellen, hat sich nicht nur für Ansätze des interkulturellen Lernens (↗ Art. 32) generell als relevant erwiesen, sondern wurde insbesondere auch in der Literaturdidaktik aufgegriffen: Weil Literatur dem Leser Zugang zu anderen fiktionalen, kulturellen Lebenswelten ermöglicht und ihn anregt, die Welt mit anderen Augen zu sehen, wurde der besondere Wert literarischer Texte für das interkulturelle Verstehen und die Entwicklung interkultureller Kompetenzen herausgestellt (Bredella 2002). Die Multiperspektivität literarischer Texte ermöglicht es dem Leser, unterschiedliche Perspektiven zu differenzieren, sie während des Rezeptions- <?page no="230"?> 221 42. MehrkulturalitätundMehrsprachigkeitim Literaturunterricht prozesses probeweise einzunehmen und sie zueinander in Beziehung zu setzen. Indem Leser diese Rezeptionsleistungen der Perspektivendifferenzierung, Perspektivenübernahme und Perspektivenkoordinierung erbringen, entwickeln sie zentrale Fähigkeiten und Fertigkeiten, die auch für das interkulturelle Verstehen zentral sind (Nünning 2007). Im Kontext des Graduiertenkollegs wurden aus dieser Erkenntnis heraus zudem Empfehlungen für die Textauswahl zur Förderung von Fremdverstehen formuliert, geeignete Methoden für den fremdsprachlichen Literaturunterricht entwickelt und im Unterricht erprobt (Burwitz-Melzer 2003). In den 2000er Jahren wurde zunehmend das Konzept der Transkulturalität (↗ Art. 41) in der Fremdsprachendidaktik diskutiert, das auch in der Literaturdidaktik zur Weiterentwicklung didaktischer Ansätze genutzt wurde. In seinem Ansatz greift Hallet (2002) das postkoloniale Konzept des third space (Bhabha 1994; vgl. auch Kramsch 1995) auf und entwickelt die Vorstellung vom Fremdsprachenunterricht als einem vielstimmigen und ‚hybriden‘ Diskursraum, in dem Texte aus den unterschiedlichen Kulturen, aber auch Stimmen und Äußerungen der Lehrenden und Lernenden aufeinandertreffen und miteinander verhandelt werden, so dass (trans)kulturelle Aushandlungsprozesse ebenso wie Prozesse der Identitätsbildung (↗ Art. 1) bei den Lernenden angestoßen werden können. Literarische Texte nehmen in dem von Hallet modellierten „Spiel der Texte und Kulturen“ eine besondere Rolle ein, weil sie selbst zentrale kulturelle Fragen und gesellschaftliche Diskurse aufgreifen und in fiktionalen Kontexten weiterverarbeiten, so dass im Unterricht eine Reflexion über die literarisch inszenierte Modellierung der anderskulturellen Wirklichkeit möglich wird (vgl. Hallet 2007: 40). Diese Weiterentwicklungen im Kontext von Transkulturalität als neuem literatur- und kulturdidaktischen Konzept führten zu einer kritischen Reflexion des Kulturbegriffes in der Fremdsprachendidaktik und zu einer kontroversen Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern inter- und transkulturelle Ansätze miteinander vereinbar sind (Delanoy 2006; Bredella 2012). Während in Bezug auf die Definition der theoretischen Konzepte und die Frage nach der Vereinbarkeit von Inter- und Transkulturalität keine Einigkeit besteht, lässt sich für die fremdsprachliche Literaturdidaktik festhalten, dass sowohl interals auch transkulturelle Ansätze Literatur in den Blick nehmen, in der kulturelle Vielfalt bzw. Diversität und mehrkulturelle Identitätsentwürfe erfahrbar werden: Interkulturelle Ansätze heben vor allem die Auseinandersetzung mit kultureller Fremdheit und die Möglichkeit zum Perspektivenwechsel bzw. zur Perspektivenübernahme hervor. Transkulturelle Ansätze fokussieren hingegen stärker die Auseinandersetzung mit kultureller Vielstimmigkeit bzw. Multiperspektivität mit kulturellen Brüche, Durchdringungen, Hybridisierungen und Überlappungen (↗ Art. 17). In der Deutschdidaktik argumentieren Dawidowski & Wrobel (2006: 1) für die „Ausweitung des Literaturunterrichts auf interkulturelle Kontexte“, die dazu führt, dass die Ausrichtung des Deutschunterrichts an primär monokulturellen Inhalten aufgegeben wird. Dabei wird u. a. die Bedeutung von Schule als Ort der Sozialisation hervorgehoben, der Heranwachsenden Entwürfe anbieten muss, um kulturelle Diversität erfahrbar zu machen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Zudem wird auf die Bildungsrelevanz von Literatur verwiesen, die Alteritätserfahrungen ermöglicht, Perspektivenwechsel inszeniert und damit den Aufbau empathischer Haltungen und <?page no="231"?> 222 BrittaFreitag-Hild einen neuen Blick auf die Welt unterstützen kann. Den Autoren geht es dabei um „Interkulturalität als eine Leseperspektive neben anderen“ (ebd.: 5), die sich nicht auf Literatur mit interkultureller Thematik beschränkt. Wintersteiner (2006) hingegen plädiert mit seinem Konzept für einen Paradigmenwechsel von der nationalen zur transkulturellen literarischen Bildung, die eine Erweiterung des Literaturkanons in Richtung einer Literatur mit interkultureller Thematik, postkolonialer Literatur und Weltliteratur beinhaltet und die zu „weltoffener politischer Bildung und globalem Lernen“ (ebd.: 10) beitragen soll. 3. Praxisrelevanz Aus den theoretischen Überlegungen zur Interkulturalität und Transkulturalität im Literaturunterricht lassen sich Implikationen für die Unterrichtspraxis ableiten, die u. a. die Zielsetzungen, Fragen der Textauswahl und -kombination, didaktische Prinzipien zur Gestaltung des Unterrichts sowie methodische Ansätze und Aufgabenformate betreffen (Freitag-Hild 2010; Alter 2015): Im Kontext von Migration und Globalisierung erscheinen für den Fremdsprachenunterricht vor allem koloniale und postkoloniale literarische Texte als auch Exil-, Diaspora- und Migrantenliteraturen interessant, in denen es u. a. um interkulturelle Begegnungen, um Fragen der kulturellen Identität und Zugehörigkeit, um Ausgrenzung bzw. gesellschaftliche Teilhabe und um Prozesse des kulturellen Wandels geht (↗ Art. 40). Weil diese Texte Kulturkontakte und kulturelle Vielstimmigkeit inszenieren, wird Mehrkulturalität während der Rezeption für Lernende erfahr- und reflektierbar (Fäcke 2006). Um kulturelle Diversität und Vielstimmigkeit angemessen im Unterricht zu repräsentieren, wird zudem auf die Notwendigkeit von Textvielfalt bzw. Intertextualität und die Einbindung literarischer Texte in ihre kulturellen Kontexte verwiesen (Hallet 2007). Mit Blick auf geeignete methodische Ansätze und Aufgabenformate werden zwei unterschiedliche, aber sich ergänzende Lesarten vorgeschlagen (Schumann 2008): Während beim empathischen Lesen die Auseinandersetzung mit einzelnen Figuren und Ziele wie Perspektivenwechsel und -übernahme im Mittelpunkt stehen, geht es beim kulturellen Lesen um das Herstellen von Bezügen zwischen dem literarischen Text und seinen kulturellen Kontexten und um das Verstehen, welche besondere Sichtweise der Text auf seine Kontexte wirft. Als geeignete Methoden und Aufgabenformate werden u. a. Rezeptionsgespräche, handlungs- und produktionsorientierte Verfahren, Aufgaben zur Textinterpretation und -analyse sowie zur Reflexion und Aushandlung vorgeschlagen. 4. Perspektiven Obwohl Interkulturalität und Transkulturalität in der Literaturdidaktik viel Aufmerksamkeit erfahren hat, sind viele Fragen sowohl in der Theorie als auch in Bezug auf die Unterrichtspraxis noch offen. Nachdem mit den RePA-Deskriptoren (↗ Art. 20) ein Vorschlag zur Operationalisierung interkultureller Kompetenzen vorliegt (Meißner 2013), ist z. B. in der Literaturdidaktik zu überprüfen, ob dieses Kompetenzmodell auch als Grundlage für den Kompetenzerwerb im inter- und transkulturellen Literaturunterricht unterschiedlicher Jahrgangsstufen genutzt werden kann. Auch die Frage, welche Herausforderungen sich für die Lehrkraft stellen und welche Kompetenzen Fremdsprachenlehrende selbst für den <?page no="232"?> 223 42. MehrkulturalitätundMehrsprachigkeitim Literaturunterricht Literaturunterricht mit multi- und transkulturellen Texten benötigen, ist bislang nicht systematisch angegangen worden. Gerade mit Blick auf Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7, 8) wird allerdings deutlich, dass sich die Forschung zum fremdsprachlichen Literaturunterricht weitgehend auf den Aspekt der Mehrkulturalität fokussiert hat und die Frage nach der Einbindung von Mehrsprachigkeit häufig ausgeblendet wird: Mit Ausnahme der Arbeiten zu mehrsprachiger Migrationsliteratur in der Deutschdidaktik (vgl. z. B. Rösch 2017) besteht nach wie vor ein Forschungsdesiderat in der Erforschung der Frage, welche (mehrsprachige) Literatur sich für den Fremdsprachenunterricht eignet und wie dadurch Mehrsprachigkeit im Literaturunterricht gefördert werden kann. Anregungen für eine ‚mehrsprachige Literaturdidaktik‘ - z. B. durch die Auseinandersetzung mit Chicano-Literatur - liefert Delanoy (2014). Literatur Alter, G. (2015): Interand Transcultural Learning in the Context of Canadian Young Adult Fiction . Münster. Bhabha, H. (1994): Die Verortung der Kultur. 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Dem von den Bundesländern Ende 2004 gegründeten Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) wurde die Aufgabe übertragen, die Bildungsstandards weiterzuentwickeln und Aufgaben zur Überprüfung des Erreichens der Standards zu generieren. Die für die erste Fremdsprache Französisch eingerichtete Arbeitsgruppe am IQB setzte sich darüber hinaus u. a. mit der Kompetenzorientierung im Französischunterricht im Allgemeinen auseinander und entwickelte Lernaufgaben für die schwerpunktmäßige Förderung einzelner Kompetenzbereiche (Tesch et al. 2008). Für den Englischunterricht wurden Lernaufgaben entwickelt, die gleichzeitig verschiedene Kompetenzbereiche (weiter) fördern. Diese wurden während der Erprobung videographiert und ermöglichen so nicht nur Einblicke in die unterrichtliche Praxis, sondern geben gleichfalls Hinweise <?page no="234"?> 225 43. Kompetenzorientierung,MehrkulturalitätundMehrsprachigkeit auf bewährte Lehrstrategien für Kompetenz entwickelnde Lernaufgaben (Müller-Hartmann et al. 2013). Im November 2012 erschienen die Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012), die ebenfalls Grundlage für die entsprechenden Lehrpläne der Bundesländer wurden. Darüber hinaus ersetzten sie die ländergemeinsamen Einheitlichen Prüfungsanforderungen für die Abiturprüfung (EPA). Auch für diese Standards wurden in länderübergreifenden Arbeitsgruppen Lern- und Prüfungsaufgaben entwickelt, und in der Publikation von Tesch et al. (2017) die Standards im Rückgriff auf fachdidaktische Modelle erläutert. Obwohl sich die Bildungsstandards auf die Schulfächer Englisch und Französisch beziehen, wurden sie in vielen Bundesländern ebenfalls auf die anderen, i. d. R. als zweite und dritte Fremdsprachen unterrichteten Fächer bezogen. Damit kommt ihnen eine prägende Rolle für die Konzeption von und die Diskussion über Fremdsprachenunterricht in Deutschland insgesamt zu (↗ Art. 21). Es verwundert daher nicht, dass gerade die zuerst erstellten Bildungsstandards (KMK 2003) eine bis heute nicht abgeschlossene Diskussion in Fachdidaktik und Schulpraxis auslösten (vgl. z. B. Bausch et al. 2005). Zentrale Kritikpunkte waren neben dem Paradigmenwechsel von der Inputzur Outputorientierung der als zu eng empfundene Kompetenzbegriff und die damit einhergehende Vorstellung, alle Erträge von Fremdsprachenunterricht ließen sich valide messen, sowie der empfundene Verlust des Bildungsauftrags. Diese Kritik wurde vor allem am weitgehenden Fehlen und der Indienstnahme von literarischen Texten sowie an der Modellierung des Domänenbereiches „interkulturelle Kompetenzen“ exemplifiziert. Dagegen wurde an den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) außer am Fehlen eines eigenen Bereiches für literarisches Lernen (vgl. Grünewald et al. 2013) kaum Kritik geäußert. Es erscheint daher sinnvoll, die Konzeption der Bereiche Mehrkulturalität bzw. Interkulturalität (↗ Art. 32) und Mehrsprachigkeit in beiden Bildungsstandards vergleichend zu erläutern. Dazu werden auch die genannten Anschlusspublikationen, die mit Unterstützung des IQB herausgegeben wurden, mit herangezogen. 2. Die Bereiche „interkulturelle Kompetenzen“ (KMK 2003) und „interkulturelle kommunikative Kompetenzen“ (KMK 2012) In den Bildungsstandards, die sich auf die Schulfächer Englisch und Französisch beziehen, wird nicht von Mehr-, sondern von Interkulturalität gesprochen. Sie bezieht sich auf das Verstehen und Handeln im Umgang mit fremdsprachigen Kommunikationspartnern und -partnerinnen (auch als lingua franca ) sowie auf Diskurse und Texte aus den jeweiligen Zielsprachenländern. In den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (KMK 2003) stellen die interkulturellen Kompetenzen neben den funktionalen Kommunikativen Kompetenzen und den methodischen Kompetenzen einen der drei Kompetenzbereiche dar. Dies sowie ein langer Absatz im einführenden Kapitel (vgl. KMK 2003: 6) betonen die Bedeutung dieses Kompetenzbereiches für den Fremdsprachenunterricht. Die Darstellung des Kompetenzbereiches selbst (KMK 2003: 16-17) besteht aus zwei kurzen Abschnitten zur Charakteristik interkultureller Kompetenzen, aus sieben „Kenntnisse[n] und Fertigkeiten“ (KMK 2003: <?page no="235"?> 226 DanielaCaspari 16), die nur teilweise als „Can-do-Standards“ formuliert sind, und vier Wissensbereichen, auf die sich die Kenntnisse und Fertigkeiten beziehen sollen. Als die drei wichtigsten Teilkompetenzen werden in der graphischen Darstellung der Bildungsstandards soziokulturelles Orientierungswissen, verständnisvoller Umgang mit kultureller Differenz und praktische Bewältigung interkultureller Begegnungssituationen ausgewiesen (vgl. KMK 2003: 8 sowie die Erläuterungen auf S. 10). Anders als für die funktionalen kommunikativen Kompetenzen gibt es in dem Dokument für die interkulturellen wie auch für die methodischen Kompetenzen keine Aufgabenbeispiele. Insgesamt erscheint die Konzeption des Bereiches interkulturelle Kompetenzen nur teilweise gelungen. So attestieren Hu & Leupold (2008: 68) ihm „eine gewisse Allgemeinheit, Abstraktheit und zum Teil sicherlich unrealistische Überzogenheit“ und verweisen zur alternativen Modellierung auf das integrative Modell interkultureller Kompetenz von Byram (1997). Auch Caspari (2008: 22-26) kritisiert die Tatsache, dass den Ausführungen offensichtlich eine additive Auffassung interkultureller Kompetenz zugrunde liegt, die zudem die Dimension der Fremdsprachlichkeit weitgehend unbeachtet lässt. Stattdessen wird in dem Dokument dem Erwerb von „Orientierungswissen zu exemplarischen Themen und Inhalten“ (KMK 2003: 16-17) mit vier Unterpunkten im Vergleich zu den sieben „Kenntnisse[n] und Fertigkeiten“ eine hohe Bedeutung zugemessen. Da das Verhältnis dieses Wissens zu den Standards zudem vage bleibt, besteht die Gefahr, es als eigenen Bereich zu betrachten, der systematisch aufgebaut und überprüft werden kann. In der Publikation des Aufgaben-Entwicklungsprojektes für Französisch ist eine Reihe von Lernaufgaben enthalten, die interkulturelle Kompetenzen ins Zentrum setzen (vgl. die Auflistung in Hu & Leupold 2008: 70). Noch stärker wird dieser Kompetenzbereich im Aufgabenentwicklungsprojekt für Englisch berücksichtigt (vgl. Müller-Hartmann et al. 2013: 110-143). Sie verwenden das auf der Basis von Byram (1997) entwickelte Modell von Caspari & Schinschke (2007) mit seiner systematischen Einbeziehung der fremdsprachlichen Dimension und greifen für die Umsetzung insbesondere auf literarische Texte mit ihrem Angebot zum Perspektivenwechsel zurück. Die Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife stellen nach Auffassung von Freitag-Hild (2016: 138-139) „insofern eine Weiterentwicklung der Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss dar, als interkulturelle Kompetenz hier als interkulturelle kommunikative Kompetenz neu definiert und positioniert wird [vgl. KMK 2012: 12-13]“. Sie umfasst nun die Bereiche Verstehen und Handeln, die sich in die drei Ebenen Wissen, Einstellungen und Bewusstheit auffächern, wobei das Wissen deutlich weiter gefasst (soziokulturelles, kommunikatives und strategisches Wissen) und sein Anwendungsbezug betont wird. In den Standards wird die sprachliche Dimension durchgängig berücksichtigt und es werden auch die Grenzen interkulturellen Kompetenzerwerbs sowie der produktive Umgang mit ihnen thematisiert: „[Strategisches Wissen] ermöglicht Schülerinnen und Schülern, mit eigenen und fremdem sprachlichem und kulturellem Nichtverstehen und mit der Begrenztheit ihrer Lernersprache in Kommunikationssituationen umzugehen“ (KMK 2012: 19). Die Standardformulierungen erfolgen durchgehend als Can-do-Standards und erscheinen insbesondere im Bereich der Einstellungen realistischer: Statt Neugier, Aufgeschlossenheit und Akzeptanz kultureller <?page no="236"?> 227 43. Kompetenzorientierung,MehrkulturalitätundMehrsprachigkeit Vielfalt (vgl. KMK 2003: 16, zweiter Aufzählungspunkt), wird nun die „Bereitschaft und Fähigkeit anderen respektvoll zu begegnen [und] sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen“ (KMK 2012: 19) angestrebt. Kritische Toleranz ist denn auch der anspruchsvollste Standard der Standards für die Allgemeine Hochschulreife: „[Die Schülerinnen und Schüler können] auch in für sie interkulturell herausfordernden Situationen reflektiert agieren, indem sie sprachlich und kulturell Fremdes auf den jeweiligen Hintergrund beziehen und sich konstruktiv-kritisch damit auseinandersetzen.“ (KMK 2012: 20) Um zu zeigen, wie auf dieses anspruchsvolle Ziel hingearbeitet werden kann, wurden sowohl Lernaufgaben entwickelt, in denen die fokussierte, progressionsorientierte Förderung interkultureller kommunikativer Kompetenz (IKK) im Mittelpunkt steht, als auch Aufgaben, in denen neben anderen Kompetenzen IKK gefördert wird, z. B. indem sie die Erarbeitung unterschiedlicher inhaltlicher Positionen zu einem Thema oder einen bewussten Perspektivenwechsel verlangen (eine Übersicht über die Aufgaben in Caspari & Burwitz-Melzer 2017: 36-55, dort auch weitere Prinzipien für Aufgaben zur Förderung IKK). Für die Überprüfung der IKK wurden auf der Basis der Standardformulierungen Kriterien entwickelt (vgl. die Beispiele für Prüfungsaufgaben in KMK 2012: 30 ff.), eine Testung erscheint nur für isolierte Aspekte oder die rezeptive Dimension sinnvoll, nicht jedoch für produktive Aufgaben (vgl. Caspari & Burwitz-Melzer 2017: 53). Insgesamt werden die Modellierung und die Vorschläge zur unterrichtlichen Realisierung der IKK in einem kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht als gelungen betrachtet. So kommt Freitag-Hild (2016: 139) zu dem Schluss, dass „das bildungspolitische Dokument die lange geforderte Veranschaulichung der definierten Anforderungen ein[löst], indem sowohl exemplarische Prüfungsaufgaben als auch Lernaufgaben vorgestellt werden, die komplexe Prozesse anstoßen sollen, und komplexe Kompetenzen bei der Überprüfung nicht auf Teilfertigkeiten reduziert werden.“ 3. Mehrsprachigkeit in den Bildungsstandards Wie für die interkulturelle kommunikative Kompetenz ist auch für „Mehrsprachigkeit“ (↗ Art. 7) eine deutliche Entwicklung von den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (KMK 2003) zu denen für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) feststellbar. Analog zur interkulturellen Kompetenz wird auch dieses Konstrukt in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife für kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht modelliert und konkretisiert und es erlangt durch die Aufnahme in die Bildungsstandards eine völlig neue Bedeutung für den schulischen Fremdsprachenunterricht in Deutschland. In den Standards für den Mittleren Schulabschluss (KMK 2003) taucht der Begriff „Mehrsprachigkeit“ bzw. „mehrsprachig“ lediglich dreimal auf: als Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit („Mehrsprachigkeit stellt für nicht wenige Teilbereiche unserer Gesellschaft eine Realität dar“ [KMK 2003: 7]), als Zielsetzung für den Fremdsprachenunterricht (das „Handeln in mehrsprachigen Situationen am Ende der Sekundarstufe I“ [KMK 2003: 7]) und als Begründung für die Notwendigkeit des Erwerbs soziokulturellen Orientierungswissens hinsichtlich der Zielsprachenländer „für fremdsprachliches kommunikatives Handeln in mehrsprachigen Situationen“ (KMK <?page no="237"?> 228 DanielaCaspari 2003: 10). Letzteres legt nahe, dass das Ziel individuelle Mehrsprachigkeit in diesem Dokument als Zweisprachigkeit verstanden wird: Muttersprache plus Schulfremdsprache. Eine solche begrenzte und additive Auffassung von Mehrsprachigkeit mag mit einer bestimmten Rezeptionsweise des GeR (Europarat 2001) zusammenhängen, der anders als der als Ergänzung erstellte „Referenzrahmen für plurale Ansätze“ (RePA) (Candelier et al. 2009) den Blick vor allem auf den Erwerb einzelner Fremdsprachen und weniger auf die Fähigkeit zu sprachenvernetzendem Lernen richtet (↗ Art. 18, 20). Die Anschlusspublikation für Französisch widmet dem Thema jedoch ein eigenes Kapitel (vgl. Meißner 2008: 35-43) und weist damit auf das fast völlige Fehlen dieses Bereiches hin - lediglich einzelne Standards im Bereich der methodischen Kompetenzen enthalten einzelne Hinweise -, zudem liefert sie Ansatzpunkte für dessen Konkretisierung. Diese wird in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) vorgelegt. Zwar wird der Begriff in der Fachpräambel und im Kapitel zu Standards ebenfalls nur selten, hier: viermal, verwendet, allerdings wird direkt im ersten Satz seine Bedeutung betont: „Mit Blick auf Europa als Kultur- und Wirtschaftsraum und die zunehmende Globalisierung gewinnt das Fremdsprachenlernen mit dem Ziel individueller Mehrsprachigkeit weiter an Bedeutung“ (KMK 2012: 11). Außerdem wird unterstrichen, dass dem Fremdsprachenunterricht „eine besondere Bedeutung für die Entwicklung von Mehrsprachigkeit im Hinblick auf lebensbegleitendes Sprachenlernen“ (KMK 2012: 11) zukommt. Neu ist ferner, dass Mehrsprachigkeit nun im Zusammenhang mit allen bereits vorhandenen sprachlichen Kompetenzen des Individuums betrachtet wird: „Dazu gehören vor allem die Erstsprache sowie Erfahrungen mit der ersten Fremdsprache und mit weiteren Fremdsprachen, die in der Schule oder auch außerschulisch gelernt werden.“ (KMK 2012: 11) Ebenfalls neu sind die beiden lateralen Kompetenzbereiche Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22), die sich nicht nur auf die zu erlernende Schulfremdsprache, sondern auch auf andere Sprachen beziehen. Sie liefern somit den bedeutendsten Beitrag zum Erwerb von Mehrsprachigkeit in einem kompetenzorientierten Unterricht. Sprachenbewusstheit, das Nachdenken über Sprache und Sprachen, und Sprachlernkompetenz, die Fähigkeit zunehmend eigenständig den Sprachlernprozess zu steuern, sind komplexe Kompetenzen, die kognitive, affektive, soziale und performative Aspekte enthalten und neben reflexiven auch attitudinale, volitionale und sensorische Fähigkeiten verlangen und fördern (vgl. Vollmer et al. 2017: 201). Beide Kompetenzbereiche sind eng miteinander verknüpft und können drei Ziele unterstützen: 1. den Erwerb und den Gebrauch einzelner Zielsprachen 2. den Erwerb sprachenübergreifenden Wissens und Könnens, auch als individuelles Bildungsziel 3. die Förderung individueller Mehrsprachigkeit. Diese zeigt sich insbesondere in einer größeren Bewusstheit über die in jeder Sprache bereits erreichten Kompetenzen und Teilkompetenzen sowie in der Fähigkeit und der Bereitschaft, auch das in anderen Sprachen bereits erworbene sprachliche und prozedurale Wissen und Können für weiteres Sprachenlernen und für die Kommunikation zu nutzen. Vollmer (2017: 202 f.) formuliert dies wie folgt: „Sprachenbewusstheit, so die [empirisch noch weiter zu belegende] Grundannahme, führt <?page no="238"?> 229 43. Kompetenzorientierung,MehrkulturalitätundMehrsprachigkeit zu einer Verbesserung der Kenntnis von und über Sprache und Sprachen, zu erhöhter Sprachhandlungsfähigkeit und zur Überwindung von akuten Äußerungsschwierigkeiten. Langfristig dürfte sie die Fähigkeit erhöhen, den Zusammenhang zwischen vorhandenen und gelernten Sprachkompetenzen (egal welcher Herkunft und welcher Ausprägung) sowie zwischen Sprachen und damit zwischen den in einem mehrsprachigen Individuum aktivierbaren Sprachelementen bzw. Sprachrepertoires herzustellen.“ Um den letzteren Aspekt zu betonen, wird oft der Begriff „Sprachenbewusstheit“ benutzt (vgl. auch Vollmer 2017: 206). Die Aufgaben bzw. Teilaufgaben, die illustrieren, wie diese Kompetenzbereiche gefördert werden können, regen jedoch nur in einem Fall explizit zum Einbezug anderer Sprachen an. Insgesamt könnte auch bei den Standardformulierungen für Sprachenbewusstheit und für Sprachlernkompetenz der Aspekt der Mehrsprachigkeit deutlicher betont werden: In beiden Kompetenzbereichen ist dies lediglich in folgenden beiden Standards der Fall, wobei der jeweils zweite Standard dem erhöhten Niveau zugeordnet ist: Sprachenbewusstheit: „[Die Schülerinnen und Schüler können] Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Beziehungen zwischen Sprachen erkennen und reflektieren“ und „[sie] können Varietäten des Sprachgebrauchs sprachvergleichend einordnen“ (KMK 2012: 8). „Sprachlernkompetenz“: „[Die Schülerinnen und Schüler können] durch Erproben sprachlicher Mittel die eigene sprachliche Kompetenz festigen und erweitern und in diesem Zusammenhang die an anderen Sprachen erworbenen Kompetenzen nutzen“ und [sie können] „durch planvolles Erproben sprachlicher Mittel und kommunikativer sowie interkultureller Strategien die eigene Sprach- und Sprachhandlungskompetenz festigen und erweitern und in diesem Zusammenhang die an anderen Sprachen erworbenen Kompetenzen nutzen“. (KMK 2012: 22) Auch wenn die Standardformulierungen in diesen beiden Kompetenzbereichen so formuliert sind, dass der Erwerb und der Gebrauch der zu erlernenden Einzelsprache unterstützt wird, stellen sie bereits einen wichtigen, wenn nicht sogar den zentralen Beitrag des Fremdsprachenunterrichts zur durchgängigen Sprachbildung dar (vgl. Caspari 2017). 4. Fazit und Ausblick Die Bildungsstandards leisten einen wichtigen Beitrag zur Modellierung, Konkretisierung und Verbreitung der beiden Zielsetzungen Erwerb von interkultureller kommunikativer Kompetenz und Förderung von Mehrsprachigkeit durch den Erwerb von Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz im schulischen Fremdsprachenunterricht. Es handelt sich in allen Fällen um komplexe Kompetenzen, die kognitive, affektive, soziale und handlungsbezogene Aspekte enthalten und entweder fokussiert oder integriert gefördert werden können. Sie entsprechen einer weiten Auffassung von Kompetenzen und können im Zusammenhang mit rezeptiven und produktiven sprachlich-funktionalen Kompetenzen zwar überprüft, aber vermutlich nicht oder zumindest nicht sinnvoll getestet werden (↗ Art. 48, 49, 50). Aufgrund ihrer Zielsetzungen, der für ihren Erwerb notwendigen Reflexivität und ihrer systematischen Verknüpfung mit anderen Kompetenzbereichen leisten sie nicht nur einen Beitrag zum Fremdsprachenerwerb, sondern gleichfalls einen Beitrag zur Bildung der Schülerinnen und Schüler. Die anfangs genannte Kritik an einem kompetenzorientierten Fremd- <?page no="239"?> 230 DanielaCaspari sprachenunterricht, so wie er in den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (KMK 2003) modelliert wurde, trifft somit auf die hier dargestellten Kompetenzbereiche nicht zu. Für eine Weiterentwicklung wäre eine präzisere Analyse und Überprüfung der möglichen Synergieeffekte der einzelnen Teilkompetenzen für das Erlernen der Zielsprache wie für den Erwerb sprachenübergreifender Kompetenzen wünschenswert, ebenfalls eine didaktische Modellierung hinsichtlich unterschiedlicher Schwerpunkte je nach Erwerbsbeginn und gelernter Fremdsprache. Detailliert untersucht werden sollte ebenfalls das herausragende Potenzial zur Förderung aller drei Kompetenzbereiche durch den Kompetenzbereich Sprachmittlung (vgl. Caspari & Schinschke 2017). Literatur Bausch, K.-R., Burwitz-Melzer, E., Königs, F. G. & Krumm, H.-J. (Hrsg.) (2005): Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht auf dem Prüfstand . Arbeitspapiere der 25. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen. Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence . Clevedon. Candelier, M., Camilleri-Grima, A., Castellotti, V. et al. (2009): RePA. 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(2017): Sprachbewusstheit. In: B. Tesch, X. von Hammerstein, P. Stanat & H. Rossa (Hrsg.): Bildungsstandards aktuell: Englisch / Französisch in der Sekundarstufe II . Braunschweig, 201-219. Daniela Caspari 44. Strategien und ihre Förderung im Rahmen interkultureller Ansätze 1. Ausgangslage Für die Fremdsprachendidaktik zentrale Modelle weisen strategische Kompetenz als feste Bestandteile der Kommunikationsfähigkeit aus. Canale & Swain (1980) beispielsweise verstehen die strategische Kompetenz vorrangig als Umsetzung von Kompensationsbzw. Kommunikationsstrategien, z. B. um Defizite in der Zielsprache auszugleichen. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen (↗ Art. 18) betont, dass „auch Muttersprachler regelmäßig kommunikative Strategien aller Art [einsetzen], die der jeweiligen Situation angemessen sind.“ Dabei wird verdeutlicht, dass Strategien Sprechern dazu dienen, die eigenen Ressourcen zu mobilisieren und ausgewogen zu nutzen, Fertigkeiten und Prozesse zu aktivieren, um die Anforderungen der Kommunikation in einem Kontext zu erfüllen und die jeweilige Aufgabe erfolgreich und möglichst ökonomisch der eigenen Absicht entsprechend zu bewältigen. (Europarat 2001: 63 f.) Es besteht Konsens darüber, dass Lerner strategische Kompetenz auch zur Bewältigung (inter)kultureller kommunikativer Anforderungen entwickeln sollen (Europarat 2001: 104). Gleichwohl war die Frage nach den für die interkulturelle Kommunikation (↗ Art. 33) relevanten Strategien und ihrer Vermittlung bisher kaum Schwerpunkt fremdsprachendidaktischer Debatten. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass der Fokus der Forschung vorrangig auf der Modellierung und Operationalisierung der interkulturellen kommunikativen Kompetenz lag (u. a. Hu & Byram 2009). <?page no="241"?> 232 HélèneMartinez Der vorliegende Beitrag diskutiert den Forschungsstand hinsichtlich der Rolle von Strategien im Rahmen interkultureller Ansätze (↗ Art. 32) und skizziert Desiderata sowie Entwicklungsperspektiven für diesen Bereich. 2. Begrifflichkeit Obwohl der Begriff der „Strategie“ im Rahmen der Lernerorientierung bereits in den 1970er Jahren eingeführt wurde, gibt es bis heute keine einheitliche Definition von Sprachlernstrategien. In Anlehnung an Schramm (2014: 97) wird hier auf den weitreichenden Definitionsversuch von Gu (2005) verwiesen, nach dem „der prototypische Kern einer Strategie als Abfolge von Problemlösungsschritten [bestimmt wird], die zielgerichtet, selbst-initiiert, bewusst und automatisiert ist und die weiterhin (metakognitiv) kontrolliert und bewertet wird“ (auch Oxford 2017: 48). Verschiedene Klassifizierungsversuche zielen auf eine prinzipielle Unterscheidung zwischen kognitiven und metakognitiven Strategien, Kommunikationsbzw. Sprachgebrauchsstrategien sowie affektiven und sozialen Strategien (u. a. Kasper 1982; O’Malley & Chamot 1990; Oxford 1990). Daneben sind Spracherwerbs- und Sprachlernstrategien zu nennen. Metakognitive Strategien dienen der Steuerung und Regulation des Lernprozesses. Ihnen wird eine herausragende Funktion für die Entwicklung fremdsprachlicher Kompetenzen zugesprochen (O’Malley & Chamot 1990: 8). Kommunikative Strategien werden meistens in Abgrenzung zu Lernstrategien definiert. Allerdings ist eine strikte Trennung zwischen Lernstrategien und Kommunikationsstrategien nicht sinnvoll, da Kommunikationsstrategien durchaus auch als Lernstrategien fungieren können. Oxford (2017: 154) plädiert zu Recht dafür, von einem Kontinuum zwischen fremdsprachlichem Lernen und Anwenden zu sprechen. Kommunikationsstrategien sind in der einschlägigen Strategietypologie Oxfords (1990) integriert, etwa in der Kategorie der Kompensationsstrategien bei direkten Strategien (wie z. B. einen nicht verfügbaren Ausdruck umschreiben) und in der Kategorie der sozialen Strategien (wie z. B. bei Unsicherheiten den Kommunikationspartner um Korrektur bitten) als indirekte Strategie. Kulturspezifische Strategien bilden keine „eigene“ Kategorie an sich und werden - wenn überhaupt - der Kategorie der sozialen Strategien zugeordnet (die eigene Empathiefähigkeit durch Kenntnisse über die Kultur einer anderen Nation erweitern). Mit dem Akronym CRITERIA hat zuletzt Oxford (2017: 201 f.) „elements of Sociocultural Competence and Related Strategies” herausgearbeitet. CRITE- RIA steht für „cooperation, respect, integrity, tolerance of ambiguity, exploration, reflection, intercultural empathy, and acceptance of complexity“. Die Ausführungen stehen nicht ohne Bezug zu dem für die Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) zentralen Diskurs um den Begriff des Transfers (↗ Art. 64). Auch dort behandeln zahlreiche Arbeiten Anleitungen zur Einleitung von Transferprozessen (z. B. Haastrup 1985). Sie betreffen sowohl inter- und intralingualen als auch didaktischen Transfer (für eine Auflistung der entsprechenden Strategien s. z. B. Bär 2009: 78 f.). 3. Forschungsstand Ansätze zur Konzeptualisierung und Förderung (inter)kultureller Strategien finden sich vorwiegend in Publikationen zur interkulturellen Kommunikation. Sie knüpfen an Modellierungen von „Kommunikationsstra- <?page no="242"?> 233 44. Strategienundihre FörderungimRahmeninterkulturellerAnsätze tegien“ an, welche allgemein „als Verfahren definiert [werden], die ein Lerner zielgerichtet anwendet, um kurzfristige Diskrepanzen zwischen kommunikativen Anforderungen und seinen lernersprachlichen Möglichkeiten aufzulösen“ (Knapp & Knapp-Potthoff 1982: 140). Dabei können Diskrepanzen sowohl bei der Produktion als auch der Rezeption auftreten. Im deutschen Sprachraum legen Knapp & Knapp-Potthoff bereits 1982 eine Klassifizierung produktionsbezogener Kommunikationsstrategien vor und unterscheiden zwischen Reduktionsstrategien, lernersprachbezogenen Strategien und Kompensationsstrategien. Diese (eigen)produktionsbezogenen Strategien werden in der weiterentwickelten Klassifizierung von Dörnyei & Scott (1997) um Strategien ergänzt, die sich auf Probleme mit der fremdsprachlichen Performanz des Sprachpartners beziehen. Letztere Klassifizierung, die alle bisher existierenden Taxonomien subsumiert, unterscheidet zwischen direkten, indirekten und interaktionalen Strategien (vgl. auch Hoschii & Schramm 2017). In einer einschlägigen Publikation zu Strategien beim Erwerb fremder Sprachen setzt sich Vollmer (1997) mit den Merkmalen und Besonderheiten der interkulturellen Kommunikation aus der Perspektive des Hörers als non-native speaker auseinander und arbeitet die Strategien der Verständnis- und Verstehenssicherung im Rahmen interkultureller Begegnungssituationen heraus. Er identifiziert dabei drei große Bereiche, denen er unterschiedliche Strategien zuordnet: (a) formale Strategien der Rückkopplung/ Rückversicherung durch Hörersignale, (b) metakognitive Strategien der Aufklärung von Verständnisschwierigkeiten und der Überwindung von Nicht-Verstehen, (c) inhaltliche Strategien der Verstehenssicherung durch den Hörer als sekundären Sprecher (ebd.: 242 ff.). Darüber hinaus hat vor allem Knapp-Potthoff die Diskussion um Strategien im Rahmen des Diskurses zur „interkulturellen Kommunikation“ immer wieder thematisiert und den Strategien sowie ihrer Vermittlung einen besonderen Stellenwert zugesprochen. Ihr erstes Strategienmodell (Knapp-Potthoff 1987) differenziert nach rezeptiven und produktiven Strategien und fokussiert überwiegend auf die pragmatisch-kommunikativen Aspekte interkultureller Kommunikation. Dazu zählen Strategien der Verständniskontrolle, der metakommunikativen Kontrolle, der Mehrfachinterpretation, Produktionsstrategien etc. In ihrer späteren Konzeptualisierung einer dynamischen und prozesshaften interkulturellen Kommunikationsfähigkeit werden Strategien des Umgangs mit kultureller Andersartigkeit modelliert. Dabei wird unterschieden zwischen Strategien, die auf den erfolgreichen Verlauf einer Interaktion gerichtet sind, und denjenigen, die als „Lern- und rudimentäre Forschungsstrategien“ auf die Erweiterung und Differenzierung von fremdkulturellem Wissen zielen (vgl. Knapp & Knapp-Potthoff 1990). Die Interaktionsstrategien setzen Empathiefähigkeit und Toleranz sowie kulturspezifisches Wissen und allgemeines Wissen über Kultur (↗ Art. 1) und Kommunikation/ interkulturelle Kommunikationsbewusstheit voraus und umfassen u. a.: • das Bemühen, die Kommunikationsbereitschaft der Partnerin/ des Partners zu erhalten, indem Tabuverletzungen vermieden werden; • das Signalisieren von Annäherungsbereitschaft an die andere Kultur (z. B. durch den Versuch der zumindest partiellen Verwendung der Muttersprache des Interaktionspartners, durch partielle Anpassung an die vermuteten Konventionen des Kommunizierens in seiner <?page no="243"?> 234 HélèneMartinez Kultur, durch die Suche nach common grounds ); • die Suche nach Gemeinsamkeiten für die Interaktion, (z. B. die Suche nach der besten gemeinsamen Sprache, nach gemeinsamem Erfahrungshintergrund aufgrund ähnlicher sozialer Rollen, nach vermuteten Gemeinsamkeiten der beteiligten Kulturen); • das Achten auf Indizien für Missverstehen in der Interaktion auf der Basis der Erwartung, dass eigene Äußerungen missverstanden worden sein könnten; • das Nutzen spezifischen Wissens über die fremde Kommunikationsgemeinschaft sowie allgemeinen Wissens über Unterschiede zwischen verschiedenen Gemeinschaften für die Hypothesen über die vom jeweiligen Kommunikationspartner intendierte Bedeutung (vgl. Knapp-Potthoff 1997: 202 f.). Zu den „Lern- und rudimentären Forschungsstrategien“ gehören Strategien der systematischen Beobachtung und gezielten Befragung, sowie das probeweise Verletzen angenommener Konventionen zu weiterem Wissenserwerb über fremde Kulturen. Eine weitere Erwähnung verdient die Typologie von Strategien zur Bewältigung von Problemen interkultureller Kommunikation (Erll & Gymnich 2007: 142 ff.). Über rhetorische und explizite metakommunikative Strategien hinaus wird reflexiven und affektiven bzw. volitionalen Dimensionen von Strategien (Lernmonitoring, Sprachen- und Lernaufmerksamkeit, Reduktion von Unsicherheit) eine besondere Rolle zugesprochen. Strategien stehen im Kern der Konzeptualisierung interkultureller Kommunikationsfähigkeit: „Es geht hier im Wesentlichen um einen Komplex von analytisch-strategischen Fähigkeiten, die das Interpretations- und Handlungsspektrum des betreffenden Individuums in interpersonaler Interaktion mit Mitgliedern anderer Kulturen erweitern. In diese analytisch-strategischen Fähigkeiten sind Wissen über andere Kulturen generell, die Veränderung von Einstellungen und eine Sensibilität ( awareness ) gegenüber kulturbedingter Andersartigkeit integriert“ (Knapp & Knapp-Potthoff 1990: 83). Eng damit verbunden sind Überlegungen aus der Awareness - Diskussion. Dabei wird meistens zwischen Kommunikationsstrategien, Strategien der Körpersprache, Diskursstrategien und Dominanzstrategien (Rampillon 1997: 177 ff.) unterschieden. „Alle diese Strategien erfordern die Sensibilität und Bewußtheit [sic] der Lernenden für die Prozesse, die bei der Benutzung der Sprache stattfinden und für die Wirkungsweisen, die durch sie ausgelöst werden. Über diese Sensibilität können sie Erfahrungen darin sammeln, wie Sprache funktioniert und welche Strategien sie in der Kommunikation einsetzen können.“ (ebd.: 177) Die Anbahnung einer (inter)cultural awareness wird als ein wesentliches Moment im interkulturellen Lernprozess gesehen (vgl. Byram 1991; vgl. hierzu ethnographisch orientierte Ansätze [Roberts et al. 2001] und/ oder „autobiographie des rencontres interculturelles“ [Byram et al. 2009]). In der Auseinandersetzung mit interkulturellen Begegnungen (Byram et al. 2009) werden die Lernenden angeleitet, reflexive Strategien bzw. metakognitive Strategien zu aktivieren, allerdings ohne eine explizite Strategievermittlung (↗ Art. 45, 48). Strategien im Bereich der Interkulturalität korrelieren mit den Erkenntnissen der Didaktik des Fremdverstehens (Bredella 2012); etwa zu Perspektivenwechsel, Aussetzen von Vorurteilen, Bereitschaft zur Veränderung des eigenen Standpunktes, kritische Beurteilung <?page no="244"?> 235 44. Strategienundihre FörderungimRahmeninterkulturellerAnsätze des Fremden und des Eigenen (↗ Art. 34, 36). Derlei weitgreifende, die Dimensionen von Attitüden und Volitionalität erfassende Prinzipien des Fremdverstehens betreffen die Voraussetzungen für die in einer kommunikativen Situation anwendbaren Strategien. Wenn auch der Lerner mit seiner individuellen Lernbiographie ins Zentrum der didaktischen Überlegungen gerückt ist (Christ 1997) und er zum „Mittler zwischen Kulturen“ (Byram 2008) erzogen werden soll, bleiben viele interkulturelle Ansätze einem einzelsprachlichen Paradigma verhaftet, welches das Erlernen einer Zielsprache auf der Grundlage einer einzelnen Ausgangssprache bzw. einer einzelnen Ausgangskultur suggeriert (zur Problematik von Ausgangs- und Zielsprache vgl. Christ 2002: 31). Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (RePA) (Candelier et al. 2009; ↗ Art. 20) bricht mit diesem Ansatz und beschreibt die Kompetenzen und Ressourcen, die im Kontext mehrsprachiger und mehrkultureller Kommunikationssituationen aktiviert werden (können) mit dem Ziel, diese pädagogisch fassbar zu machen (vgl. Meißner & Morkötter 2009). Gemäß der Definition von Mehrsprachigkeitskompetenz beschreibt der RePA zwei allgemeine Kompetenzbereiche, „deren Entwicklung durch die Anwendung von pluralen Ansätzen besonders begünstigt erscheint“: die „Kompetenz, sprachlich und kulturell im Kontext von Alterität angemessen zu kommunizieren“ sowie „die Kompetenz zum Aufbau und zur Ausweitung eines mehrsprachigen und plurikulturellen Repertoires“ von Strategien (Candelier 2009: 20). Dabei listet der RePA in Form von Deskriptoren systematisch die betroffenen Kompetenzen und Ressourcen auf, bezogen auf die interagierenden Domänen savoir, savoir-faire und savoirêtre und nicht zuletzt savoir-apprendre . Der RePA ermöglicht damit eine Konkretisierung der Ressourcen, die in einer mehrkulturellen Kommunikationssituation mobilisiert werden können und liefert eine wichtige Grundlage für die Modellierung entsprechender Strategien. Besonders hilfreich sind m. E. die Ressourcen bezogen auf savoir-être , da sie einhergehen mit der Mobilisierung volitionaler und attitüdinaler Strategien. An der Dimensionierung des RePA orientieren sich Caspari & Schinschke (2009), die eine Aufgabentypologie zur Überprüfung interkultureller Kompetenz vorschlagen (↗ Art. 43). Strategien werden dabei explizit den Bereichen der interkulturellen kommunikativen Kompetenz zugeordnet und als Dimensionen von „Wissen“ ( savoir ), „Können/ Verhalten“ ( savoir-faire ) und „Einstellungen“ ( savoir-être ) definiert: • Unter „strategischem Wissen“ verstehen die Autorinnen „Kenntnisse über Prozesse, die für interkulturelle Kontakte relevant sind, z. B. Wissen über die kulturelle Geprägtheit des menschlichen Verhaltens, der menschlichen Wahrnehmung und Wertung und über die Notwendigkeit, das Wissen über fremde Kulturen/ Kontexte beim Versuch der Perspektivenübernahme anwenden zu müssen“. • „Strategien im Bereich von ‚Verhalten/ Können‘ umfassen Strategien zum Perspektivenwechsel […], zum Umgang mit nicht-Verstehen und Missverständnissen oder zur Bewältigung von Konfliktsituationen.“ • Unter „Einstellungen“ wird die „Bereitschaft, die o. g. Strategien anzuwenden“ verstanden. (vgl. Caspari & Schinschke 2009: 277) Die Integration von Strategien als Bestandteil von Aufgaben ist ein wesentliches Merkmal <?page no="245"?> 236 HélèneMartinez der Aufgabentypologie zur Überprüfung der interkulturellen kommunikativen Kompetenz, ließe sich allerdings um mehrsprachige und mehrkulturelle Dimensionen weiter ausdifferenzieren (↗ Art. 22, 70). 4. Fazit und Ausblick Dieser Forschungsüberblick weist auf eine Entwicklung von Kommunikationsstrategien zu ‚kulturbezogenen‘ Strategien bzw. Strategien zum Umgang mit Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit hin (↗ Art. 7, 8). Zugleich wird deutlich, dass bislang keine umfassende Konzeptbildung stattgefunden hat. Affektive, soziale und metakognitive Strategien, die zur Regulierung und zur Reflexion der Kommunikations- und Lernprozesse sowie kultureller Aushandlungsprozesse und für den Aufbau einer reflexiven interkulturellen Kompetenz unerlässlich sind, sind in der deutschsprachigen Diskussion nicht systematisch berücksichtigt. Der oben erwähnte RePA (Candelier et al. 2009) listet systematisch Deskriptoren der Kompetenzdomänen savoir , savoir-faire , savoir-être und nicht zuletzt savoir-apprendre in der Perspektive auf sog. Plurale Ansätze (integrierte Fremdsprachendidaktik, Interkomprehension, interkulturelles Lernen, Sprachenbewusstheit) auf und könnte zur Konkretisierung - insbesondere - der affektiven und volitionalen Strategien ( savoir-être ) einen besonderen Beitrag leisten (↗ Art. 20). Weiterhin betonen jüngste Publikationen erneut (z. B. Oxford 2017) die affektive, motivationale sowie soziokulturelle Dimension von Lernprozessen und scheinen für eine Weiterentwicklung der für die interkulturelle Kompetenz relevanten Strategien hilfreich zu sein. Damit einher geht eine Differenzierung und Erweiterung von Strategietypen. Sogenannte Metastrategien „metastrategies as executive functions“ (ebd.: 155) werden als Ergänzung zu reinen meta-‚kognitiven‘ Strategien auf alle weiteren Komponenten des Lernprozesses erweitert. Oxford (ebd.) spricht von „metamotivational strategies“, „metasocial strategies“ und „meta-affective strategies“, welche der Regulation der motivationalen, sozialen und affektiven Dimension im Lernprozess dienen. Die Berücksichtigung der sozialen und metasozialen Strategien (Reflexion und Steuerung von sozialen Strategien) erscheint umso wichtiger, als neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass Sprecherinnen oder Sprecher in der kommunikativen Interaktion miteinander kollaborieren - und nicht jeweils einzeln an der Überwindung ihrer L2-Sprachdefizite arbeiten (Hoschii & Schramm 2017). Daran anknüpfend sind weitere Forschungsaktivitäten im Hinblick auf Strategien, die im Bereich mehrsprachiger und mehrkultureller Kontexte entfaltet werden, erforderlich (dazu Nied Curcio & Cortés Velásquez 2018). Literatur Bär, M. (2009): Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10 . Tübingen. Bredella, L. 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Die Tandempartner finden sich über eine Vermittlungsstelle vor Ort oder eine Online-Tandempartner-Börse, erhalten methodische Hinweise zum Tandemlernen, entscheiden dann aber gemeinsam und selbstgesteuert, wo, wann, wie lange sie sich treffen und auf welche Weise sie sich worüber und mit welchem Ziel unterhalten. Von Präsenztandem spricht man, wenn beide Tandempartner gleichzeitig am selben Ort anwesend sind; der Austausch erfolgt hierbei von Angesicht zu Angesicht, zeitlich synchron und mündlich (↗ Art. 103). Ein Distanztandem liegt vor, wenn beide Tandempartner räumlich voneinander getrennt mit Hilfe elektronischer Medien kommunizieren. Bei E-Mail-Tandems findet die Kommunikation zeitlich asynchron und schriftlich statt (↗ Art. 102). Soll das Prinzip des partnerschaftlichen Lernens auf Gegenseitigkeit für die Förderung einer „echten“ Mehrsprachigkeit (vgl. Bausch 2016: 285) und Mehrkulturalität genutzt werden, d. h. dem Erlernen von mindestens zwei Fremdsprachen neben der Muttersprache, so sind zwei Möglichkeiten denkbar (↗ Art. 7, 8). Zum einen das Arbeiten in mehreren, voneinander unabhängigen Einzeltandems, neben- oder nacheinander, wobei die beiden <?page no="248"?> 239 45. FormenpartnerschaftlichenLernensaufGegenseitigkeit Fremdsprachen (auf meist unterschiedlichem Kompetenzniveau) mit jeweils anderen muttersprachlichen Tandempartnern gelernt werden. Eine andere, bislang jedoch wenig praktizierte Möglichkeit ist die eines mehrsprachigen Tridems. Hierbei lernen alle drei Tridempartner die Sprache der anderen, wobei die Muttersprache des einen in diesem Fall die Zielsprache der beiden anderen ist (z. B. Deutsch-Französisch-Spanisch). 2. Problemaufriss Das auf den Prinzipien der Gegenseitigkeit und der Lernerautonomie beruhende Tandemlernen stellt hinsichtlich der Aneignungsform eine Mischform aus ungesteuertem Spracherwerb und gesteuertem Sprachenlernen (Herfurth 1993) dar, da es einerseits durch den Kontakt mit einem Muttersprachler Möglichkeiten des authentischen, spontanen Austauschs eröffnet, so wie man es außerhalb von Unterricht im Zielsprachenland antrifft. Andererseits findet die Kommunikation in einem Lehr-Lern-Kontext statt, in dem die Tandempartner durch eine (explizite oder implizite) „didaktische Vereinbarung“ wechselseitig die Rolle des Lernenden der Fremdsprache und die des Lehrenden für die eigene Muttersprache einnehmen. In der Lernerrolle wendet der Tandempartner die Fremdsprache an, bittet um Hilfe bei Formulierungsschwierigkeiten oder fragt nach bei Verständnisproblemen. In der Rolle des Muttersprachlers ist der Tandempartner „Lehrperson“ in dem Sinn, dass er zum einen den Tandempartner hinsichtlich vereinbarter Fehleraspekte korrigiert und auf sprachliche Formulierungsalternativen hinweist. Zum anderen dient er durch eigene muttersprachliche Beiträge als sprachliches Vorbild und hilft bei Verständnisschwierigkeiten. Zu dieser Rolle gehört beim Tandemlernen dagegen nicht, Lernziele und Lernwege für das Gegenüber festzulegen. Dem Prinzip der Lernerautonomie folgend, ist es der Tandempartner in der Lernerrolle, der festlegt, wozu, was und wie er lernen möchte (vgl. Schmelter 2004). Bei mündlicher Kommunikation wird empfohlen, dass beide Tandempartner die Hälfte der zur Verfügung stehenden Zeit in der einen Sprache, die andere Hälfte in der anderen Sprache miteinander kommunizieren. Durch einander abwechselnde, einsprachige Phasen soll sichergestellt werden, dass beide Tandempartner in gleichem Maße die Gelegenheit bekommen, auf ihrem jeweiligen Niveau in der Fremdsprache zu sprechen und das Gegenüber in seiner Muttersprache sprechen zu hören. Bei schriftlicher Kommunikation über E-Mail wird geraten, den ersten Teil der E-Mail in der eigenen Muttersprache zu verfassen, den zweiten Teil in der Fremdsprache. Diese Vereinbarung zur Sprachenwahl ist auch für ein mehrsprachiges Tridem geeignet, wenn das Ziel verfolgt wird, gleichzeitig die rezeptiven und produktiven Fertigkeiten in einer der Fremdsprachen zu trainieren. Voraussetzung ist, dass die Tridempartner bei ihrem Treffen für einen vorher vereinbarten Zeitraum gleichzeitig nur in einer der drei Sprachen sprechen und nacheinander alle drei Sprachen gleichberechtigt zum Zuge kommen. Das Tridem kann auch dazu genutzt werden, das in einigen Ansätzen der Mehrsprachigkeitsdidaktik verfolgte Ziel der rezeptiven Mehrsprachigkeit (↗ Art. 9) zu fördern. Dafür müssen die Tridempartner vereinbaren, dass alle in ihrer Muttersprache sprechen und somit die beiden jeweiligen Fremdsprachen lediglich rezeptiv verstanden, nicht aber gesprochen werden müssen. <?page no="249"?> 240 MarkBechtel Neben dem fremdsprachlichen Lernen kann das Tandemlernen auch zum interkulturellen Lernen genutzt werden (vgl. Bechtel 2003). Dabei erleichtern der Lehr-Lern-Kontext und die Beidseitigkeit des Lerninteresses den Tandempartnern, sich wechselseitig kulturelles Wissen anzueignen, eigene Wirklichkeitserfahrungen mit denen des Gegenübers in Beziehung zu setzen, die eigene Perspektive darzustellen und den Versuch zu unternehmen, die Perspektive des Gegenübers zu verstehen (↗ Art. 32). Für das Tandemlernen bieten sich insbesondere Themen und Aufgabenstellungen an, die auf den unmittelbaren Erfahrungsbereich der Tandempartner abzielen, über den sie kompetent berichten können (Familie, Freunde, Schule/ Arbeitswelt, Freizeit). Als Anregung können eigens für das partnerschaftliche Lernen auf Gegenseitigkeit entwickelte Arbeitsblätter mit Fragen dienen, durch die der Austausch auf bestimmte Aspekte des Themas gelenkt wird (z. B. OFAJ/ DFJW 2012). 3. Forschungsstand Im Fokus der Forschung stehen das sprachliche und das interkulturelle Lernen im Tandem sowie die Tandem-Lernberatung. Empirische Untersuchungen zu mehrsprachigen Tridems liegen nicht vor. Im ersten Bereich wurde in konversationsanalytischen Untersuchungen nachgewiesen, dass beim Sprachenlernen im Tandem sowohl Kommunikationsstrategien anzutreffen sind, wie sie in „natürlicher“ Muttersprachler-Nichtmuttersprachler-Kommunikation beobachtet werden können (Dausendschön-Gay 1987), als auch ein spezielles Sprachlehr- und -lernverhalten, das beide Tandempartner anwenden, um die Fremdsprache zu lernen und den Tandempartner beim Sprachenlernen zu unterstützen (Rost-Roth 1995). Im zweiten Bereich kommt Herfurth (1993) zu dem Ergebnis, dass Kommunikationsschwierigkeiten, die sich aus begrenzten Sprachkenntnissen und unzureichenden Kenntnissen über den kulturellen Hintergrund des Gegenübers ergeben, im Tandem zur Antriebskraft für die weitere Kommunikation werden können, wodurch auch Probleme interkultureller Art leichter, schneller und offener thematisiert würden. Bechtel (2003) zeigt, wie Tandempartner bei der Darstellung und Übernahme von Perspektiven vorgehen und wie sie dabei ihre Rolle als Mittler zwischen unterschiedlichen Perspektiven ausfüllen. Der dritte Forschungsbereich beschäftigt sich mit der Frage der Lernberatung von Einzeltandems. Aus der Rekonstruktion der Art und Weise, wie Tandempartner das selbstgesteuerte Fremdsprachenlernen im Tandem aus ihrer Sicht gestalten und wie Beratende dies einschätzen, werden Vorschläge zur Verbesserung der Beratungspraxis entwickelt (Hahn & Reinecke 2013). 4. Praxisrelevanz Das partnerschaftliche Lernen auf Gegenseitigkeit hat überall dort praktische Relevanz, wo es zu direkten oder virtuellen Begegnungen von Lernenden mit beidseitigem Sprachlerninteresse kommt (↗ Art. 102, 103). Im Präsenzbzw. Distanzmodus erlaubt es Fremdsprachenlernenden im Kontakt mit Muttersprachlern, ihre Kenntnisse außerunterrichtlich selbstgesteuert anzuwenden, meist in Ergänzung zu einem Sprachkurs oder als Alternative, wenn aus finanziellen Gründen und unpassenden zeitlichen und curricularen Vorgaben ein Sprachkurs nicht in Frage kommt. Eine Reihe von Online-Tandemporta- <?page no="250"?> 241 45. FormenpartnerschaftlichenLernensaufGegenseitigkeit len für Erwachsene hat mittlerweile die Suche von Tandempartnern vor Ort vereinfacht, die im Präsenzmodus miteinander lernen wollen. Ein weiteres Praxisfeld sind Austauschprogramme im Präsenz- oder Distanzmodus, an denen zwei Lerngruppen mit beidseitigem Sprachlerninteresse beteiligt sind. Das Mit- und Voneinander-Lernen im Tandem ist eine erprobte Methode, solche Begegnungsprogramme effektiv didaktisch-methodisch auszugestalten, sei es in der allgemeinen Erwachsenenbildung, der beruflichen Weiterbildung, im universitären, schulischen oder außerschulischen Bereich. 5. Perspektiven Die Online-Tandembörsen konzentrieren sich vor allem auf die datenbankgesteuerte Vermittlung von Präsenztandems. Wünschenswert wäre eine Ausweitung ihrer Aktivitäten auf die Vermittlung von Distanztandems. Bei Hinweisen, wie Tandems im Präsenzmodus bzw. Distanzmodus effizient zum Sprachenlernen genutzt werden können, sollte auf fachdidaktisch fundierte wie die von Brammerts & Kleppin (2001) zurückgegriffen werden. Tandembörsen sollten neben der Vermittlung auch eine professionelle Tandemlernberatung anbieten, um die Tandems vor Ort bei Bedarf zu unterstützen. Insbesondere im schulischen Bereich wurde bislang zu wenig das Potential gesehen, wie Schüler ihre Briefbzw. E-Mail-Freundschaften im Tandem gezielt zum wechselseitigen Sprachenlernen nutzen können. Diese unterschiedlichen Kontexte des partnerschaftlichen Lernens auf Gegenseitigkeit bedürfen weiterhin der begleitenden Erforschung. Literatur Bausch, K.-R. (2016): Formen von Zwei- und Mehrsprachigkeit. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Aufl. Tübingen, 285-290. Bechtel, M. (2003): Interkulturelles Lernen beim Sprachenlernen im Tandem. Eine diskursanalytische Untersuchung . Tübingen. Brammerts, H. & Kleppin, K. (Hrsg.) (2001): Selbstgesteuertes Lernen im Tandem. Ein Handbuch . Tübingen. Dausendschön-Gay, U. (1987): Lehren und Lernen in Kontaktsituationen. In: J. Geringhausen & P. C. Seel (Hrsg.): Aspekte einer interkulturellen Didaktik . Dokumentation eines Werkstattgesprächs des Goethe-Instituts München vom 16.-17. Juni 1986. München, 60-81. Hahn, N. & Reinecke, K. (Hrsg.) (2013): Erfahrungen mit Sprachlerntandems: Beratung, Begleitung und Reflexion . Beiträge der Freiburger Tandem-Tagung 2012. Freiburg. Herfurth, H.-E. (1993): Möglichkeiten und Grenzen des Fremdsprachenerwerbs in Begegnungssituationen. Zu einer Didaktik des Fremdsprachenlernens im Tandem . München. OFAJ / DFJW (2012): Tête à tête. Anregungen für das Sprachenlernen im Tandem . Paris, Berlin. [http: / / www.dfjw.org/ sites/ default/ files/ tete-a-tete-travail-arbeitsblaetter_0.pdf]. Rost-Roth, M. (1995): Sprachenlernen im direkten Kontakt. Autonomes Tandem in Südtirol. Eine Fallstudie . Meran. Schmelter, L. (2004): Selbstgesteuertes oder potenziell expansives Fremdsprachenlernen im Tandem . Tübingen. Mark Bechtel <?page no="251"?> 242 DanielaAnton 46. Mehrkulturalität in Lehrmaterialien 1. Lehrmaterialien als Grundlage mehrkulturellen Fremdsprachenunterrichts Die Forderung nach Mehrkulturalität als eine Zielbestimmung von Fremdsprachenunterricht bedingt die Notwendigkeit ihrer Reflexion in den zu Grunde gelegten Lehrmaterialien, allen voran den Lehrwerken, die auch heute noch insbesondere in der Sekundarstufe I die Basis des Fremdsprachenlernens darstellen (Baer 2010: 80). Schülerbücher und die sie ergänzenden Materialien präsentieren fremdsprachliche und fremdkulturelle Lebenswelten und erheben den Anspruch, realweltliche Gegebenheiten abzubilden. Da die durch Fremdsprachenunterricht initiierte Begegnung mit anderen Kulturen diese zum ersten Mal in den Blick der Kinder und Jugendlichen rückt, tragen Lehrmaterialien maßgeblich zum Bild der Lerner von der Zielkultur bei (↗ Art. 35). Dabei bildet das Lehrwerk ein zentrales Element der Unterrichtssteuerung, eine wichtige Informationsquelle und ein Werkzeug zur Auswahl, Progression und Präsentation der Inhalte (Vogel & Börner 1999: V). Durch diese Einflussnahme auf das Bild der Lerner vom Zielland stellen Lehrwerke Orte eines ideologischen Diskurses dar, der junge Menschen an spezifische historische, kulturelle und sozioökonomische Ordnungssysteme heranführt (Foster & Crawford 2006: 20; Anton 2017: 16). Ein Fremdsprachenunterricht, der mehrkulturelle Zielsetzungen verfolgt, benötigt mehrkulturelle Bezüge der präsentierten Themen und Inhalte, was insbesondere die dargestellte Lebenswirklichkeit der Mittlerfiguren betrifft, die in den Lehrwerken der Sekundarstufe I maßgeblich den Prozess des Lehrens und Lernens von Sprachen prägen (Renges 2005: 227). Entsprechend bedarf es in Lehrwerken als Mediatoren mehrkulturellen Lernens einer Darstellung der pluralen, teilweise auch multikulturellen Gesellschaft sowie der Integration und Beschäftigung mit unterschiedlichen kulturellen Schauplätzen, Mehr- und Minderheiten und mehrkulturellen Individuen. 2. Entwicklungen im historischen Kontext Lehrwerke bilden implizit und explizit die Gesellschaft ab, die diese produziert (vgl. Gorini 1997), weshalb z. B. in Deutschland produzierte Fremdsprachenlehrwerke immer auch ein Spiegel der deutschen Kultur darstellen und deren Sichtweisen auf die Zielgesellschaft(en) und Fragestellungen reflektieren, wie sie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung gesellschaftlich und didaktisch relevant sind (Graves 2001: 1 f.). Entsprechend spiegeln sich in Lehrwerken für die ersten Lernjahre Entwicklungen im Bereich der Mehrkulturalität (↗ Art. 8) auch in der Zusammensetzung der dargestellten peer group , also der Gruppe der Lehrwerkpersonen, wobei für die gängigen Fremdsprachen ähnliche Tendenzen festzustellen sind. Allerdings ist hier ebenfalls häufig zu beobachten, dass Lehrwerke hinter der entsprechenden Realität des Ziellandes zurückbleiben und das Heteroklischee (↗ Art. 34) der Produktionskultur spiegeln (vgl. Gorini 1997). Bis in die 1970er Jahre gestaltete sich die Zusammensetzung der Gruppe der Lehrwerkpersonen weitgehend monokulturell, wobei die Französischlehrwerke beispielsweise einseitig auf Frankreich und die Englischlehrwerke <?page no="252"?> 243 46. Mehrkulturalitätin Lehrmaterialien auf Großbritannien und die USA ausgerichtet waren. In den 1970er Jahren erfolgte die Fokussierung des Fremdsprachenunterrichts auf die Ausbildung von kommunikativer Kompetenz, auf Handlungsorientierung und auf landeskundliches Wissen, das insbesondere Alltagssituationen fokussierte (Leupold 2007: 129). Der Fokus lag entsprechend auf typischen, aus der Sozialgeografie entwickelten Daseinsgrundfunktionen als thematisch-inhaltliches Ordnungsprinzip, sodass unmittelbare Erfahrungsbereiche der Lerner mit der dargestellten Realität verglichen werden konnten (Anton 2017: 17). In den Lehrwerken der 1980er Jahre kann weiterhin eine monokulturelle und eurozentrische Perspektive der Sprachvermittlung ohne Berücksichtigung der Mehrkulturalität der Gesellschaft oder, im Falle der Französischlehrwerke, der Frankophonie festgestellt werden (Fäcke 1999: 101). Allerdings traten in den Lehrwerken im Rahmen von Fotografien oder Zeichnungen zum ersten Mal Personen unterschiedlicher Minderheiten auf (z. B. die Fotografie eines Schwarzen in Etudes Françaises- - Echanges Bd. 2 [1989]), wobei diese zunächst nicht dem Kreis der eigentlichen Lehrwerkpersonen zugehörig waren. Dies änderte sich in den Lehrwerkausgaben der 1990er Jahre, die Mehrkulturalität sowohl in der Darstellung einer multiethnischen Gesellschaft als auch in der Zusammensetzung der Gruppe der Lehrwerkpersonen abbildeten. In die Englischlehrwerke fanden zunächst Immigrantenfamilien aus Indien Einzug (z. B. English G 2000 [1997]). In Französischlehrwerken wurden Minderheiten aus dem Maghreb integriert (z. B. die Familie Saïd in Découvertes Bd. 1 [1994]), später solche aus Zentralafrika (z. B. im Lehrwerk Tous Ensemble Bd. 1 [2004]). Dabei wurden zunächst einige, von Fäcke (1999: 129 ff.) als „Alibiausländer“ bezeichnete Personen in die Bände eingebracht, wobei ein eingeschränkter, oft defizitorientierter Blickwinkel auf Unterlegenheit und Hilfsbedürftigkeit vorherrschend war (↗ Art. 38), ohne dass eine entsprechende Dekonstruktion vorgenommen wurde (ebd.: 143). Ethnische Vielfalt war in den Bänden der 1990er Jahre jedoch meist kein leitendes Prinzip; Vorteile von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität wurden nur eingeschränkt herausgestellt. Die Lehrwerke, die nach dem Jahr 2000 entstanden und die einem interkulturellen Ansatz (↗ Art. 32) verpflichtet waren, zeigen mehr kulturelle und ethnische Vielfalt, die teilweise bereits über ein repräsentatives Maß hinausgeht (Anton 2017: 105). In der Zusammensetzung der peer group spiegelt sich dabei die Kolonialgeschichte des jeweiligen Ziellandes wider; neben Immigranten aus Indien, Pakistan oder Bangladesch treten in Englischlehrwerken beispielsweise auch Personen aus dem Westkaribischen Raum auf (z. B. Bd. 1 und 2 von Green Line [2006] oder Camden Town [2005]). Es wird eine breite Fächerung ethnischer Hintergründe angeboten, sodass ein Bewusstsein für Multiethniziät fokussiert wird. Außerdem begegnet auch individuelle Mehrkulturalität in Gestalt von Personen, die zwischen unterschiedlichen Kulturen aufwachsen; eine Tendenz, die sich in aktuell an deutschen Schulen eingesetzten Lehrwerken fortsetzt. Allerdings werden weiterhin meist weder Schwierigkeiten in der Kommunikation noch critical incidents (↗ Art. 104) thematisiert (Anton 2017: 106). Während die Lehrwerkreihen unterschiedlicher Verlage für die Fremdsprachen an deutschen Schulen grundsätzlich eine ähnliche Entwicklung vollziehen, liegt der Fokus der Lehrwerke für Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache vorrangig auf der mehrkulturell und mehrsprachig zusammengesetzten Lern- <?page no="253"?> 244 DanielaAnton gruppe. Besonders herauszustellen sind die in den 1980er Jahren entwickelten Lehrwerke Sprachbrücke sowie Sichtwechsel , die explizit einem interkulturellen Prinzip verpflichtet sind. Sprachbrücke geht hier einen besonderen Weg, indem es ein fiktives Lilaland einführt, das die kritische Reflexion von Perspektiven und die Auseinandersetzung mit Stereotypen und Vorurteilen auf der Grundlage eigener und dargestellter Werte und Einstellungen erlaubt, ohne vorgefertigte Bilder weiterer angenommener Herkunftsländer vorzustellen. 3. Aktuelle Tendenzen und Perspektiven im Bereich der Lehrwerkentwicklung Lehrwerkgenerationen sind auf der Grundlage von Bildungsplänen erstellt, die heutzutage interkulturelles bzw. transkulturelles Lernen (↗ Art. 17, 41) als Zielvorstellung fokussieren und die folglich neben kognitiven auch affektive und pragmatische Kompetenzen anvisieren (Anton 1017: 17). Mehrkulturalität tritt dabei in der Zusammensetzung der präsentierten peer group und der dargestellten multikulturellen Lehrwerkwirklichkeit auf; zusätzlich werden mehrkulturelle Individuen eingebunden, die im Sinne transkultureller Vermischungen zwischen unterschiedlichen Kulturen aufwachsen und das Potential einer Auseinandersetzung mit kulturellen Übergängen sowie Mehrsprachigkeit bieten (z. B. in Band. 1 und 2 von Lighthouse [2012; 2013]). Allerdings wirkt die mehrkulturelle Zusammensetzung der Personengruppe eher implizit; eine explizite Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit, Mehrethnizität und Mehrkulturalität wird, wie dies Renges (2005: 272) bereits bemängelte, weiterhin nicht angestrebt und die Diversität der Schülerpopulation entsprechend ausgeblendet. Hier wie auch im Bereich der Beschäftigung mit kulturellen Vermischungstendenzen und ihren Einflüssen auf Gesellschaften und Individuen ist weiterhin Forschungs- und Entwicklungsbedarf zu beobachten. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Notwendigkeit der didaktischen Reduktion immer nur einen eingeschränkten Blick auf tatsächliche Realitäten zulässt und Lehrwerke nie tagesaktuelle gesellschaftliche Wirklichkeiten abbilden können. Literatur Anton, D. (2017): Inter- und transkulturelles Lernen im Englischunterricht. Eine didaktische Analyse einschlägiger Lehrbücher. Heidelberg. Baer, A. (2010): Der Schulbuchmarkt. In: E. Fuchs, J. Kahlert & U. Sandfuchs (Hrsg.): Schulbuch konkret. Bad Heilbrunn, 68-82. Fäcke, C. (1999): Egalität - Differenz - Dekonstruktion. Eine inhaltskritische Analyse deutscher Französisch-Lehrwerke. Hamburg. Foster, S. & Crawford, K. (2006): The Critical Importance of History Textbook Research. In: S. Foster & K. Crawford (Hrsg.): What Shall We Tell the Children? International Perspective on School History Textbooks . Greenwich, Conn., 1-24. Gorini, U. (1997): Storia dei manuali per l'apprendimiento dell'italiano in Germania (1500- 1950). Un'analisi linguistica e socioculturale . Frankfurt a. M. Graves, N. (2001): School Textbook Research. The Case of Geography 1800-2000 . London. Lehmann, C. (2010): Mediating London. Die britische Hauptstadt als landeskundliche Themeneinheit in Lehrbüchern für den Englischunterricht in der Sekundarstufe I. Ein methodisch-didaktischer Beitrag zur Lehrwerkkritik . Heidelberg. <?page no="254"?> 245 47. Mehrsprachigkeitunddigitalgestütztes LernenundLehrenfremderSprachen Leupold, E. (2007): Landeskundliches Curriculum. In: K.-R. Bausch, H. Christ, H.-J. Krumm et al. (Hrsg.) Handbuch Fremdsprachenunterricht . Tübingen, 127-133, Renges, B. (2005): Interkulturelles Lernen und methodisch-didaktische Aspekte in aktuellen Englischlehrbüchern und Unterrichtsmaterialien der Sekundarstufe II. Aachen. Vogel, K. & Börner, W. (1999): Vorwort. In: W. Börner & K. Vogel (Hrsg.): Lehrwerke im Fremdsprachenunterricht. Lernbezogene, interkulturelle und mediale Aspekte. Bochum, V-XVI. Daniela Anton 47. Mehrsprachigkeit und digital gestütztes Lernen und Lehren fremder Sprachen Wenn man in der Datenbank des Informationszentrums für Fremdsprachenforschung das Suchwort 'Mehrsprachigkeit' eingibt, erhält man - Stand: 3.9.2018 - 1928 Treffer, bei 'digitalen Medien' 3288. Wenn man 'Mehrsprachigkeit' und 'digitale Medien' kombiniert, erhält man nur 66 Treffer. Die beiden Themen scheinen in der Forschung nicht intensiv zusammengedacht zu werden. Wie wenig digitale Medien und Mehrsprachigkeit zusammengedacht werden, zeigt unfreiwillig Kepser (2018), ein umfassender Überblick über die Digitalisierung im Deutschunterricht. Weder im historischen noch im systematischen Teil behandelt wird das Potential, das die digitalen Medien für die Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler an deutschen Schulen haben. Und wenn man die in diesem Handbuch zugrunde gelegten Vorstellungen von Mehrsprachigkeitsdidaktik und Mehrkulturalitätsdidaktik (↗ Art. 7, 8) strikt anwenden würde, müsste die Zahl der als thematisch einschlägig klassifizierten Beiträge noch einmal reduziert werden. Dennoch lässt sich auf der Basis vorhandener Arbeiten ein Versuch unternehmen, die verschiedenen Arten des Zusammenspiels von Mehrsprachigkeitsdidaktik und digitalen Medien zu beschreiben. Die Arbeit mit digitalen Medien im Fremdsprachenunterricht bezieht sich zum einen auf digitales Lehrmaterial, alleinstehend oder in Verbindung mit Printmaterialien, und zum anderen auf im Internet nicht für didaktische Zwecke verfasste Texte im weitesten Sinne sowie auf die dort vorhandenen Kooperations- und Kommunikationsmöglichkeiten (vgl. als Kurzüberblick Rösler 2012: 52-63). 1. Umgang mit der sprachlichen Vielfalt im Internet Zur Anzahl von Internetseiten in verschiedenen Sprachen gibt es unterschiedliche Statistiken (vgl. z. B. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 2961/ umfrage/ anteil-der-verbreitetsten-sprachen-im-internet-seit-2006/ : September 2018). Einig sind sie sich darin, dass der Anteil der auf Englisch verfassten Seiten den der in anderen Sprachen verfassten weit überragt, dass ungefähr die Hälfte oder mehr auf Englisch verfasst wurden und keine der anderen Sprachen auch nur in die Nähe dieser Zahl kommt (↗ Art. 102). In Küsters Befragung studentischer Fremdsprachenlerner zeigt sich jedoch, dass Englisch sich keinesfalls als „killer-language“ erweise. Das Englische habe bei den Befragten zwar eine dominante Stellung, verdränge aber „keineswegs andere Sprachen, <?page no="255"?> 246 DietmarRösler wie die […] große Breite und Diversität der dokumentierten individuellen Mehrsprachigkeit offenbart“ (Küster 2014: 82). Unter landeskundlichen Gesichtspunkten spielt die Qualität der über Wikipedia transportierten Informationen über die Zielkultur(en) eine wichtige Rolle. Nach Selbstauskunft gibt es Wikipedia in 295 Sprachversionen, wobei beträchtliche Unterschiede bestehen. Insgesamt gibt es fünf Wikipedias mit über 2.000.000 Artikeln, darunter Deutsch, aber auch kleinere Wikipedias, z. B. 31 mit 10.000 bis 24.999 Artikeln, darunter Alemannisch (Stand 1.10.2018. Quelle: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Wikipedia: Sprachen). Außerdem gibt es Sprachversionen, bei denen „ein großer Anteil an automatisiert oder teilautomatisiert erstellten Artikeln mit geringem Informationsgehalt“ vorhanden ist, und Sprachversionen, die „durchschnittlich einen geringeren Artikelbestand, dafür aber insgesamt wesentlich umfangreichere Informationen aufweisen können“ (https: / / de.wikipedia. org/ wiki/ Wikipedia: Sprachen). Für die Multikulturalitätsdidaktik (↗ Art. 8) von Bedeutung ist, dass man nicht davon ausgehen kann, dass sich alle Lernende des Unterschieds in den Produktionsweisen von Wikipediaseiten bewusst sind. So zeigt die Analyse von Küster (2014) sowohl einen reflektierten Umgang mit unterschiedlichen Quellen als auch eine gewisse Ahnungslosigkeit im Hinblick auf den Status von Seiten im Netz: Einzelne Probanden suchten […] speziell nach Seiten, bei denen sie divergierende politisch-kulturell geprägte Tendenzen vermuteten, um sich in deren Kontrastierung ein möglichst objektives Bild zu verschaffen […]. In dieser Hinsicht zeigen sich die Untersuchungsteilnehmer/ innen in unterschiedlichem Maße sensibilisiert: Während B5 aus dem genannten Grund bewusst Wikipedia-Seiten in verschiedenen Sprachen heranzieht, wird B7 erst im Zuge des Interviews darauf aufmerksam, dass Wikipedia-Artikel nach sprachlich-räumlicher Provenienz in je eigener Weise tendenziös sein können. (Küster 2014: 88) 2. Vorteile digitaler Distribution Oft erleichtern digitale Medien die Distribution von und den Zugriff auf Materialien und helfen bei der Außendarstellung, selbst wenn ein Projekt auch ohne digitale Medien stattfinden könnte. Für Kubanek & Edelenbos (2007) hat sich die Entscheidung, mit einer zweisprachigen - deutsch und niederländisch - Homepage zu arbeiten, als sinnvoll erwiesen. Der Vorteil einer internetgestützten Projektbegleitung liege „in der Aktualisierbarkeit und der Möglichkeit, im Vergleich zu traditionellen Lehrbüchern neue Materialien und Impulse ohne großen Aufwand integrieren zu können“ (ibd.: 109), sie erleichtere „das Projektmanagement, da alle Projektteilnehmer ihre Informationen aus einer Quelle beziehen und Aktualisierungen schnell weitergeben können“ (ibd.). 3. Arbeit mit digitalen Ressourcen Für die Mehrsprachigkeitsdidaktik interessant sind sowohl digitale Angebote, die speziell für didaktische Zwecke produziert wurden, als auch die Verwendung vorhandener nicht-didaktischer Ressourcen. In der in Alloatti, Bovet & Somenzi-Käppeli (2015) beschriebenen Fremdsprachenwerkstatt werden Materialien zur Sprachreflexion so aufgearbeitet, dass sie in einem Blended Learning Konzept in den Unterricht übernommen werden können. Angeboten werden zum <?page no="256"?> 247 47. Mehrsprachigkeitunddigitalgestütztes LernenundLehrenfremderSprachen Beispiel Aufgaben, die sich mit Analogien zwischen Sprachen befassen, bei denen die Lernenden unter anderem Korrespondenzregeln formulieren müssen. Für den rezeptiven Bereich gedacht ist ein Lernprogramm von Gross (2016), das einen Schwerpunkt auf lexikalische und grammatische Ähnlichkeiten des Rätoromanischen mit verwandten Sprachen legt. Rückl (2017) stellt elf Aufgaben für Französischlerner als Sprachentdecker vor. Die Aufgaben beziehen sich u. a. auf sprachvergleichende Lernstrategien, die Arbeit mit der Sprachausgabe von WhatsApp, die Produktion eines eigenen WhatsApp Eintrags oder die Systematisierung englischer Transferbasen (↗ Art. 77). Zu den Synergien, die zwischen digitalen Medien und Mehrsprachigkeit existieren, gehört für Ascherl & Ballis (2017), dass das Internet neue Formen des Sprachkontakts gewährt: Einige Menschen haben Gewohnheiten ausgebildet, online Übersetzungsprogramme zu verwenden; einige Menschen ziehen Tutorials auf YouTube heran, um Sprachen zu lehren und zu lernen; einige Menschen integrieren ihre Sprachkenntnisse im Sinne einer Selbstinszenierung in ihr Facebook-Profil. Betrachtet man beispielsweise Kommentarfunktionen auf Flickr oder YouTube, so ist es durchaus üblich, dass in verschiedenen Sprachen und Dialekten kommuniziert wird (ibd.: 6). Bei der Arbeit mit nicht-didaktischen Ressourcen ist es wichtig, auf deren Qualität zu achten, z. B. darauf, dass bei der maschinellen Übersetzung die Qualität der Sprachenpaare unterschiedlich sein kann: „English to German, for instance, has a lower quality than English to Spanish.“ (Fink-Hooijer 2017: 271) Auch ist von Übersetzungsprogrammen nicht zu erwarten, dass sie über einzelne Sprachenpaare hinausgehen: „Currently, the majority of Artificial Intelligence systems interacting with Natural Languages lack sufficient semantic resources which are (1) genuinely multilingual and multicultural and (2) interoperable“ (Massion 2017: 290). 4. Fokus rezeptive Mehrsprachigkeit: Adaptive Kinderbücher Adaptive Kinderbücher liefern mehrsprachigen Kindern „eine Oberfläche für Textproduktion und -rezeption, die an individuelle Bedürfnisse in Bezug auf Textinhalt und -länge, Sprache, Layout und mediale Zu- und Umgangsweisen angepasst werden kann.“ (Hauck-Thum 2017: 10) Die Autorin berichtet über eine mit Aufgaben versehene digitale Bibliothek der Texte der Gebrüder Grimm. Das in Lohe (2018) beschriebene Projekt enthält sechs „für Grundschulkinder angemessene Geschichten auf Englisch, Deutsch, Russisch, Spanisch und Türkisch zur Förderung von Mehrsprachigkeit in Bezug auf Einstellungen und Wissen über Sprachen“ (ibd.: 71 f.). Hier ermöglicht die Digitalisierung schnelle rezeptive Sprachwechsel (↗ Art. 76). Beide Projekte liefern interessante Anregungen für nun technisch mögliche Zugriffe auf Texte in verschiedenen Sprachen, beide gehen nicht auf für sie relevante vorhandene fremdsprachendidaktische Diskussionen und Projekte ein, auf die Diskussion über das Für und Wider der Arbeit mit adaptierten kinderliterarischen Texten (vgl. als Zusammenfassung der Diskussion O’Sullivan & Rösler 2013: 59-70) oder das Projekt European Picture Book Collection , das Kinder anhand von Bilderbüchern aus verschiedenen Ländern der EU aufgabengeleitet an die Reflexion fremder Sprachen und Kulturen heranführt (vgl. O’Sullivan 2002). <?page no="257"?> 248 DietmarRösler 5. Klassiker der Mehrsprachigkeitsdidaktik: Galanet und EuroCom Zu den etablierten webbasierten Angeboten der Mehrsprachigkeitsdidaktik gehört Galanet, eine Lernplattform für die panromanische Interkomprehension (↗ Art. 70), zu der eine Reihe von Publikationen vorliegen. Ziel einer Zusammenkunft auf Galanet in einer Studie von Prokopowicz (2011) ist beispielsweise „die gemeinsame Erstellung einer mehrsprachigen Webseite, auf deren Inhalte sich die Projektteilnehmer zuvor durch Forums- und Chatdiskussionen einigen“ (ibd.: 119). In diesem Artikel werden das Zugehörigkeitsgefühl der deutschen Teilnehmer zur romanophonen Gruppe und die Herausbildung von plurikultureller Bewusstheit beschrieben. Interaktionen im Chat mit Galanet werden auch in den Beiträgen von Melo-Pfeifer (2017) und Melo-Pfeifer & de Araújo e Sá (2010) analysiert. Geblickt wird dort u. a. auf die Entwicklung der mehrsprachigen und interkulturellen Kompetenz und der Sprachenbewusstheit (↗ Art. 22) durch Lernaufgaben und auf die Herausbildung und Aushandlung der Vorstellungen zur Mehrsprachigkeit. Ebenfalls zu den etablierten Trägern der Mehrsprachigkeitsdidaktik gehört EuroCom (↗ Art. 67). Bei der Auswertung von Befragungsdaten aus einem Seminar zu Euro- Com-Modulen zum Einsatz in Blended Learning Unterricht stellte Strathmann (2009) fest, dass die Vermittlung über E-Learning Module zielgruppengerecht sei, da die Studierenden diese Lernform akzeptieren und sie eine sinnvolle Ergänzung des Lehrbuchs darstellen (vgl. ibd.: 44). Zum Einsatz im schulischen Kontext vgl. Strathmann (2012). Interessant ist, dass neben den vielen Arbeiten zum Einfluss des bereits gelernten Englisch auf den Deutscherwerb es im Euro- Com-Kontext auch den Blick auf die Rolle des Englischen nach dem Deutschen gibt, der sich also mit der klassischen Situation an einer deutschen Schule befasst (↗ Art. 87, 88). Dass dies auffällt und überhaupt erwähnenswert ist, ist nur verständlich vor dem Hintergrund des lang dominierenden Dogmas der Einsprachigkeit in der deutschen Englischdidaktik. In ihrer empirischen Studie zum Einsatz von Materialien aus EuroCom zum Englischlernen auf der Basis des Deutschen stellte Marx fest, dass, obwohl die Studierenden im Schnitt nur 25 Stunden investierten, sich ihre Lesefähigkeit im Englischen signifikant verbesserte. Auch eine nur kurze zeitliche Investition „in the learning of interlingual inferencing appears to make a difference in students’ ability to read texts in a new foreign language“ (Marx 2010: 233). Wie problematisch das Dogma der Einsprachigkeit für das Lernen mit digitalen Medien ist, zeigt auch der Beitrag von Kulavuz-Onal & Vásquez (2018). 6. Code-Switching beim gesteuerten Englischlernen: Abkehr von der dogmatischen Einsprachigkeit Kulavuz-Onal & Vásquez (2018) befassen sich mit Code Switching (↗ Art. 5) in einer Facebook-Gruppe, in der ägyptische und argentinische Englischlerner miteinander kommunizieren, wobei von den Lehrenden Englisch zunächst als verpflichtende Sprache eingeführt wurde. Interessant ist in einem gesteuerten Lernkontext, in dem die Vorgabe monolinguale Kommunikation lautet, die Analyse der Verwendung der anderen Sprachen. Es gab unterschiedliche Situationen, in denen die Verwendung der Erstsprache Spanisch bzw. Arabisch von den Lehrkräften nicht negativ bewertet wurde: <?page no="258"?> 249 47. Mehrsprachigkeitunddigitalgestütztes LernenundLehrenfremderSprachen Although such L1 uses of Spanish and Arabic were clearly contrary to the teachers’ goal for practicing English, and thus received reminders and sanctions from the teachers, there were other instances of L1 use that did not receive any. In these cases, L1 use appeared as an accepted practice among the teachers as long as participants used it for the following reasons: pedagogic managing functions, pairing L1 use with English translations, providing metalinguistic explanations, and teaching L1 language and culture. (ibd.: 247 f.) Analysiert wurden auch die Vorkommen der Verwendung der Erstsprache des kommunikativen Gegenübers: Such uses usually appeared within mostly English posts, often in the form of formulaic language expressing common speech acts (e.g., thanking, greeting, sending good wishes). Contrary to L1 use, L3 use was often followed by compliments and encouragement from the teachers, even though it still was against their goal with this telecollaboration—namely, practicing English. (ibd.: 250) Die Autoren wenden sich in ihren Schlussfolgerungen gegen einen monolingualen Englischunterricht, der im Kontext stärkerer individueller Kooperationen in sozialen Netzwerken nicht mehr sinnvoll sei: As illustrated throughout our examples, the affordances of SNSs (including multimodality, oneto-many communication, increased negotiation of meaning, and instant or delayed interaction) open up possibilities for a range of translingual communicative practices among language learners and teachers. In this telecollaboration, we observed how teachers’ goals eventually shifted from English language practice to the socialization of their students into becoming global citizens. When language teachers transform social media into pedagogical spaces (especially when learners are located in different geographical contexts), efforts to establish strictly monolingual practices (e.g., enforcing an English-only rule) may be unrealistic, and may in fact stand in opposition to the multilingual affordances of the internet. (ibd.: 253) Zu beobachten war hier also eine Bewegung weg von der herrschenden Unterrichtsmethodik hin zu einem Fremdsprachenlernen, das Elemente natürlicher mehrsprachiger Interaktion aufnimmt, in der Sprachwechsel etc. Alltag sind (vgl. Androutsopoulos 2006 zu Sprachwahl, Sprachwechsel und Sprachmischung und Androutsopoulos 2015 zur Rolle von Genres und kommunikativen Routinen in digitaler Kommunikation in Migrationskontexten). Literatur Alloatti, S., Bovet, A. C. & Somenzi-Käppeli, B. (2015): Online-Unterrichtseinheiten zur Entwicklung von Language Awareness. In: Babylonia 2, 48-50. Androutsopoulos, J. 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Um diese beiden Bedeutungen auseinander zu halten, wird hier das Wort ‚Evaluation‘ für die zweite Bedeutung benutzt und das Wort ‚Assessment‘ für die erste, was zum Teil nicht dem gängigen Gebrauch entspricht, aber eine höhere Genauigkeit erlaubt. Der Begriff ‚Assessment‘ muss zudem genauer definiert werden, denn Assessment als Beobachtung / Beschreibung / Messung wird häufig mit Testen gleichgesetzt, obwohl das Testen nur eine Form des Assessments darstellt. In diesem Text geht es um alle Formen des Assessments, einschließlich des Selbstassessments. Allerdings unterscheidet sich die Zielsetzung des Selbstassessments in der Regel von der des Fremdassessments. Die Ziele des Assessments sind vielfältig: • Beschreibung des Lernfortschritts • Feststellung der Stärken und Schwächen des Lernens zur angemessenen Planung zukünftigen Lernens • Festlegung des anvisierten Lern- und Leistungsniveaus am Ende eines Kurses • als Beitrag zur Beurteilung der Evaluation (besonderer) Lehrformen oder Lehrprogramme. Ein einziges Assessment kann für mehrere Ziele greifen, je nachdem ob es sich um Selbst- oder Fremdassessment handelt. Beispielsweise können qua Selbstassessment individuelle Schwächen eines Lerners identifiziert werden, die das Ergebnis mangelhaften Lernens oder Lehrens sein können. In beiden Fällen müssen Lernende oder Lehrende umdisponieren, um die Mängel zu beheben (↗ Art. 50). Das Assessment interkultureller Kompetenz umfasst weitere Dimensionen. Wenn die Definition interkultureller Kompetenz beispielsweise affektive Zuschreibungen beinhaltet, z. B. die Fähigkeit ‚Ambiguität zu tolerieren‘ oder ‚die Bereitschaft, die Zweifel ‚aufzuschieben‘, dann stellen sich ethische Fragen und Probleme beim Assessment. Sollte es eine Bewertung dieser Eigenschaften (nach bestimmten Kriterien oder Standards) geben? Sollte das Messen dieser Eigenschaften in Prüfungen (und Beurteilungen) einfließen, die darüber entscheiden, ob Individuen Zugang zu weiteren Chancen im Bildungssystem oder im Beruf erhalten? Oder sollten die Deskriptoren solcher Zuschreibungen auf das Selbstassessment beschränkt bleiben? In der Tat lässt sich wegen dieser oder anderer Schwierigkeiten argumentieren, dass interkulturelle Kompetenz überhaupt nicht beurteilt werden sollte (Borghetti 2017). 2. Kompetenzmodelle und Assessment Das Konzept der Kompetenz ist im Bildungswesen und darüber hinaus weit verbreitet. Unter Sprachlehrerinnen und -lehrern wurde es vor allem durch die von Chomsky und an- <?page no="261"?> 252 MichaelByram deren Linguisten vorgenommene Unterscheidung zwischen ‚Kompetenz‘ und ‚Performanz‘ bekannt. Diese Dichotomie ist jedoch für die Analyse von Assessment nicht relevant. Der Begriff Kompetenz, wie er in Bildungssystemen verwendet wird, hat die Formulierung von Lernzielen im Sinne (einer Liste) zu erlernenden Wissens überlagert. Kompetenz (↗ Art. 43) bezieht sich auf die Volitionalität und auf die Fähigkeit, sich in bestimmter Weise zu verhalten oder zu handeln. Oft meint Kompetenz das, was ein Lerner tun kann ( can do ). Interkulturelle Kompetenz wird also hier als die Fähigkeit definiert, relevante Einstellungen, Fertigkeiten, Wissen und kritisches Verständnis zu nutzen, um angemessen auf Herausforderungen und Gelegenheiten in der Interaktion mit Vertretern einer anderen kulturellen Gruppe zu reagieren, sofern deren Gruppenidentität salient ist. Die Salienz einer Gruppenidentität meint z. B. den Fall, dass ein Lehrer mit einem Rechtsanwalt über eine Rechtsangelegenheit des Bildungsbereichs kommuniziert und ein jeder den anderen durch dessen hervorstehende Identität als ‚Lehrer‘ oder ‚Rechtsanwalt‘ sieht und jeder seine Überzeugungen, Werte und Verhaltensweisen - d. h. die jeweilige Kultur von ‚Lehrern‘ oder ‚Rechtsanwälten‘ - in die Situation einbringt. Beide müssen ihre interkulturelle Kompetenz nutzen, um über kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe der ‚Lehrer‘ und der ‚Rechtsanwälte‘ hinweg zu kommunizieren. Dagegen können dieselben Personen in einer anderen Situation gute Freunde sein, die sich in Bezug auf ihre persönlichen Identitäten wahrnehmen - und nicht in Bezug auf die gesellschaftlichen oder kulturellen Identitäten ihres Berufsstandes - und daher ganz anders miteinander kommunizieren. Das Assessment interkultureller Kompetenz ist daher eine Frage des Beschreibens - und manchmal des Messens - dessen, was eine Person in Situationen ‘tun kann’, in denen gesellschaftliche oder kulturelle Identitäten salient sind, und es gibt viele Analysen und ‘Modelle’ interkultureller Kompetenz, die aus den Beobachtungen von Sozialwissenschaftlern über das menschliche Verhalten in interkulturellen Interaktionen entwickelt wurden (Spitzberg & Changnon 2009). Verschiedene Wissenschaftler achten je nach Disziplin auf unterschiedliche Elemente der Kompetenz. Einige Modelle wurden von Sozialpsychologen entwickelt, die z. B. die für das Leben und Arbeiten in einem anderen Land relevanten Kompetenzen feststellen. Diese Modelle dienen als Grundlage von Einschätzungen dazu, ob der Einzelne ‘bereit’ ist und in einem anderen Land erfolgreich sein wird, und es gibt viele Unternehmen und Internetseiten, die dies kommerziell anbieten. Häufig wird den sprachlichen Kompetenzen in diesen Modellen und Assessment- Verfahren wenig Aufmerksamkeit beigemessen, vielleicht weil es unrealistisch ist zu erwarten, dass jemand vor dem Umzug in ein anderes Land eine neue Sprache in kurzer Zeit erlernt. Es könnte auch daran liegen, wie Abbe, Gulick & Herman (2007: 16) in ihrem Forschungsüberblick formulieren, dass ‚kulturelle Sensibilität‘ für einen Beruf, in dem interkulturelle Kompetenz gefragt ist, besser den Erfolg voraussagt als fremdsprachliche Kompetenz oder das Ausmaß vorausgegangener internationaler Erfahrungen. Für Sprachlehrerinnen und -lehrer ist es hilfreich, sich klar zu machen, dass weder Sprachkompetenzen noch die bloße Erfahrung in einem anderen Land den Erfolg in internationaler Kommunikation und Interaktion garantieren können. <?page no="262"?> 253 48. Evaluation/ AssessmentundSelbstevaluation/ AssessmentinterkulturellerKompetenzen Jedoch hat interkulturelle Kompetenz in Bildungssystemen durch die Verbindung zum Fremdsprachenunterricht an Bedeutung gewonnen (↗ Art. 21). Dies bedeutet, dass Modelle ohne Berücksichtigung sprachlicher Kompetenzen eher nicht genutzt werden, außer wenn interkulturelle Kompetenz auch ein Bildungsziel anderer Fächer ist. In Europa mag diese Entwicklung in der Tat eine Konsequenz der Einführung des Reference Framework of Competences for Democratic Culture (RFCDC) (Council of Europe 2018) sein. Sowohl demokratische als auch interkulturelle Kompetenz können und sollten also Anliegen aller Fächer sein. Dieses neue Framework ermöglicht es, Übereinstimmung darüber herzustellen, welche Aspekte interkultureller Kompetenz am besten im Fremdsprachenunterricht entwickelt werden und welche Aspekte im Mittelpunkt des Lernens in anderen Fächern stehen. Ein weiterer Zugang ist die Erstellung eines Modells interkultureller Kompetenz für den Sprachunterricht. Sein Ziel besteht darin, aufbauend auf dem kommunikativen Ansatz diejenigen interkulturellen Kompetenzen hinzuzufügen, die im Fremdsprachenunterricht vermittelt werden können. Andere sollten außerhalb dieses Rahmens ausgelassen werden. Das von Byram (1997) entwickelte Modell ist ein Beispiel hierfür. In Deutschland wird es oft in curricularen Dokumenten und in Lehrwerken zitiert. Wie alle Modelle hat es Stärken und Schwächen, die beachtet werden sollten (Risager 2007; Belz 2007; Boye 2016), doch erlaubt es eine systematische und detaillierte Analyse des Lehrens und Assessments interkultureller Kompetenz. 3. Assessment in der Praxis In Bildungssystemen, deren Lehrpläne Wissensziele definieren, ist es möglich, den Anteil dessen, was ein Einzelner vom Gesamt gelernt hat, zu messen und dies z. B. in Prozenten auszudrücken. Die Beurteilung des Wissens über ein Land (Landeskunde), die über weit mehr als ein Jahrhundert wichtiger Teil des Fremdsprachenunterrichts war, kann auf dieser Grundlage umgesetzt werden (↗ Art. 35). Es ist möglich, vermittels eines Tests zu messen, wie viel ein Einzelner im Lauf seines Sprachkurses über ein Land gelernt hat. Im Gegensatz dazu ist ein solcher Zugang in einem kompetenzorientierten Unterricht in dieser Form nicht umsetzbar. Was Lernende ‚tun können‘, muss auf der Grundlage von Beschreibungen unterschiedlicher Elemente interkultureller Kompetenzen auf der Ebene des Verhaltens festgemacht werden. Solche Beschreibungen können auch zur Planung eines Lernprogramms genutzt werden: Lehrerinnen und Lehrer können definieren, was ihre Lernenden am Ende einer Stunde, einer Unterrichtseinheit oder eines ganzen Sprachstudiums tun können (sollen). Dies ermöglicht ihnen, Assessment explizit mit dem Lehren zu verbinden und zu überprüfen, was ihre Schülerinnen und Schüler tatsächlich als Ergebnis ihres Lernprozesses tun können, was somit ihr Lernergebnis ist. Dies lässt sich vermittels etlicher Verfahren umsetzen, inklusive durch critical incidents , die Borghetti (2017) alle analysiert hat (↗ Art. 104). Dieser Ansatz des Lehrens und Beurteilens von Sprachkompetenzen ist dank des Common European Framework of Reference for Languages (Council of Europe 2001) in Europa und (↗ Art. 18) dank der Proficiency Guidelines des American Council on the Teaching of Foreign Languages (ACTFL 2012) in <?page no="263"?> 254 MichaelByram Nordamerika gut etabliert. Er wurde auch auf anderen Kontinenten übernommen (Byram & Parmenter 2012). Die Deskriptoren wurden für verschiedene Kompetenzstufen definiert (↗ Art. 49). Im CEFR gibt es sechs Stufen und in den Proficiency Guidelines des ACTFL fünf. Dies betrifft jedoch nicht die interkulturelle Kompetenz, obwohl einige Modelle, z. B. Byram (1997), vergleichbare detaillierte Beschreibungen unterschiedlicher Dimensionen interkultureller Kompetenz anbieten. Durch die gegenwärtige Betonung von Vergleichen und Tabellen in Bildungssystemen besteht die Erwartung, dass Leistung in Form von Niveaustufen präzisiert werden sollte und dies gilt auch für interkulturelle Kompetenz. Neuere Veröffentlichungen befassen sich mit dieser Erwartung. Der Companion Volume with New Descriptors des Europarats (2018) (↗ Art. 19) definiert ein Konzept mit Bezug zu interkultureller Kompetenz, ohne jedoch damit identisch zu sein - wie z. B. von Byram (1997) oder Deardorff (2006) definiert - nämlich die ‚plurikulturelle Kompetenz‘. Sie ist Teil einer ‚plurilingualen und plurikulturellen Kompetenz‘. Kriterien werden auf sechs Niveaustufen erstens zum ‚Aufbau einer plurikulturellen Kompetenz‘ angeboten, und, zweitens, zur ‚Förderung eines plurikulturellen Raumes‘ als Teil einer Mediationskompetenz. Parallel dazu hat der National Council of State Supervisors for Languages and the American Council on the Teaching of Foreign Languages in den USA Deskriptoren für ‚interkulturelle Kommunikation‘ (↗ Art. 33) auf fünf Niveaustufen entwickelt (NCSSFL- ACTFL 2018). In beiden Dokumenten sind die Niveaustufen als can do -Beschreibungen formuliert, was bedeutet, dass Lehrerinnen und Lehrer diese Deskriptoren als Teil ihrer Unterrichtsplanung nutzen können und damit sicherstellen, dass die von den Lernenden erworbenen Kompetenzen im Mittelpunkt des Assessments stehen. Eine solche Beurteilung kann in Gestalt eines Tests durchgeführt werden. Er könnte die Form einer Aufgabe haben, die mit Aufgaben im Unterricht vergleichbar ist. Die Lernenden könnten ihre eigene Kompetenzstufe beurteilen, indem sie die can-do -Beschreibungen nutzen und damit ihren Lernfortschritt in einem dem europäischen Sprachenportfolio vergleichbaren Portfolio protokollieren (↗ Art. 23). Prüfungen können nach dem gleichen Prinzip gestaltet werden, auch wenn der Rückgriff auf Kriterien zur Beschreibung der Niveaustufen in ‚objektiven‘ Prüfungen Probleme der Reliabilität mit sich bringt, was weitere (Forschungs)arbeit erfordert. 4. Ausblick Neueste Entwicklungen eröffnen eine Grundlage für gute Beurteilungsverfahren. Dazu müssen Fragen der Validität und Reliabilität angegangen werden und Lehrkräfte benötigen eine Ausbildung für den Umgang mit den Kriterien und Niveaustufen. Das Erscheinen des RFCDC ist von vergleichbarer Relevanz, weil es nahelegt, dass alle Lehrerinnen und Lehrer mit dem Lehren interkultureller (und demokratischer) Kompetenzen befasst sein sollten. Sprachlehrkräfte können das neue Framework gut dazu nutzen, die Kompetenzen ausfindig zu machen, die am besten im Fokus ihrer Unterrichtsplanung und Evaluation stehen (↗ Art. 50). Die Definition von drei Niveaustufen für jede Kompetenz kann das Assessment erleichtern, ebenso wie die sechs Niveaustufen des CEFR (↗ Art. 18) und die fünf Niveaustufen der Proficiency Guidelines des ACTFL. <?page no="264"?> 255 48. Evaluation/ AssessmentundSelbstevaluation/ AssessmentinterkulturellerKompetenzen Eine zweite Konsequenz des RFCDC besteht darin, dass Sprachlehrkräfte eine enge Zusammenarbeit mit Lehrerinnen und Lehrern anderer Fächer aufnehmen können, so mit jenen des gesellschaftlichen Aufgabenfeldes (Porto 2014) oder der Mathematik (Cardetti, Wagner & Byram 2019). Eine solche Kooperation ermöglicht den Sprachlehrkräften vor allem auch, kritisches Denken oder die Reflexion einer critical cultural awareness (Byram 1997) in ihre Lehrziele aufzunehmen. Das Assessment dieser Zielsetzungen wird durch die Deskriptoren des RFCDC ermöglicht, auch wenn weitere Forschung zu einer Umsetzung nötig ist, die Sprachlehrkräfte in ihrem gängigen Lehren und Assessment nutzen können. Literatur Abbe, A., Gulick, L. M. V. & Herman, J. L. (2007): Cross-Cultural Competence in Army Leaders: A Conceptual and Empirical Foundation. Arlington. American Council on the Teaching of Foreign Languages (ACTFL) (2012): Proficiency Guidelines. [https: / / www.actfl.org/ publications/ guidelines-and-manuals/ actfl-proficiency-guidelines-2012]. Belz, J. A. (2007): The Development of Intercultural Communicative Competence in Telecollaborative Partnerships. In: R. O’Dowd (Hrsg.): Online Intercultural Exchange. Clevedon, 127-166. Borghetti, C. (2017): Is there really a Need for Assessing Intercultural Competence? Some Ethical Issues. In: Journal of Intercultural Communication 44. [https: / / immi.se/ intercultural/ nr44/ borghetti.html]. Byram, M. 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Die vertikalen Stufen werden durch unterschiedlich ausgeprägte Fertigkeits- und Kompetenzmerkmale oder durch unterschiedlich komplexe Anforderungen an Kommunikationssituationen beschreiben. Die Stufenbeschreibungen, auch Deskriptoren genannt, sollten idealerweise empirisch kalibriert, d. h. datengestützt den verschiedenen Stufen zugeordnet werden. Die Darstellung von Stufenmodellen kann in Form von Kompetenzskalen erfolgen, die aus ansteigenden Niveaus oder Stufen bestehen, wie etwa die Skalen im CEFR Companion Volume (Council of Europe 2018) (↗ Art. 19). Die vertikalen Stufen werden durch Deskriptoren beschrieben, die wiederum in ein qualitatives, horizontales Komponentenmodell eingeordnet sein sollten. Dadurch können unterschiedliche Ausprägungen und Abstufungen transparent beschrieben werden, um Kompetenzentwicklung entlang verschiedener Dimensionen nachvollziehbar zu machen, oder um unterschiedliche Kompetenzstände abzubilden. Kompetenzskalen kommen bei Beurteilung und Bewertung, Selbstevaluation (etwa in einem Portfolio), oder bei der Setzung von Bildungsstandards zum Einsatz. Eine weitere Möglichkeit der Darstellung von Stufenmodellen sind Progressionsmodelle (z. B. Witte 2009), in welchen relevante Elemente nach didaktischen Prinzipien, oft zyklisch ansteigend, angeordnet werden. Diese Modelle dienen der Planung und Strukturierung von Unterricht. 2. Entwicklung von Stufenmodellen - Kalibrierung Bei der Erstellung von Stufenmodellen sind zwei grundlegende Fragen zu klären: 1. Welche Komponenten und Kategorien sollen horizontal unterschieden werden? In welchem Zusammenhang stehen diese Aspekte zueinander? Dabei stellt sich <?page no="266"?> 257 49. StufenmodelleinterkulturellerKompetenzen die Herausforderung, die Komplexität des Konstrukts interkultureller Kompetenzen so weit zu vereinfachen, dass das Modell handhabbar wird. Hierzu kann man angemessene Komponenten- und Kausalmodelle als Ausgangspunkt benutzen. Alternativ oder komplementär dazu kann man relevante Kommunikationsdaten analysieren, um sie in entsprechende horizontale Dimensionen zu kategorisieren. 2. Wie kommt man zu den vertikalen Abstufungen? Hier sieht z. B. Hesse (2009) für den interkulturellen Bereich (↗ Art. 32) die Herausforderungen, dass nicht bekannt ist, ob alle Personen dieselben Entwicklungsstufen durchlaufen, oder ob Veranlagungen und individuelle Erfahrungen eine überlagernde Rolle spielen. Ebenso sieht Hesse als bislang ungeklärt, ob solche Abstufungen abhängig von Inhalten und Kommunikationssituationen sind, oder ob sie auf alle Inhalte und Situationen gleichermaßen übertragbar sind. Grundsätzlich gibt es drei Wege, Stufenmodelle zu erstellen, welche auch kombiniert werden können (z. B. Europarat 2001: 202 ff.): Man kann dabei empiriegestützt von Leistungen oder Kommunikationsdaten ausgehen, theoriegeleitet von bereits existenten Modellen und Deskriptoren, oder man lässt die Deskriptoren intuitiv durch Experten erstellt und abstufen. Letztlich muss man zu konstruktvaliden Beschreibungen relevanter Dimensionen und Merkmale kommen, welche dann vertikal auf ansteigende Stufen oder Kompetenzniveaus eingeordnet werden. Diese vertikale Kalibrierung erfolgt i. d. R. durch Experteneinschätzung der Deskriptoren oder Leistungen (Kommunikationsdaten) in ihren Anforderungen, welche dann mittels qualitativer und quantitativer Verfahren den Stufen zugeordnet werden. Die Skalen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GeR, Europarat 2001) und des CEFR Companion Volume etwa wurden auf Basis existenter Deskriptoren entwickelt, welche durch Experten in ihren Anforderungen eingeschätzt wurden (↗ Art. 18, 19). Diese Einschätzungen wurden mittels eines statistischen Verfahrens empirisch kalibriert, wodurch die Deskriptoren den Kompetenzniveaus zugewiesen wurden: Ein Deskriptor etwa, der von den Experten als hoch in seinen Anforderungen eingeschätzt wurde, wurde einem höheren Kompetenzniveaustufen zugeordnet als einer, der mehrheitlich als einfach eingeschätzt wurde. 3. Ausgesuchte Stufenmodelle und ihre Praxisrelevanz Während es eine Vielzahl an horizontalen Modellen zur Beschreibung der Komponenten interkultureller Kompetenzen gibt, sind nur wenige Stufenmodelle publiziert, denen es zudem oft an empirischer Fundierung mangelt (Hesse 2009). Hier werden, ausgehend von relevanten horizontalen Modellen, die bedeutendsten Stufenmodelle interkultureller Kompetenzen (↗ Art. 43) vorgestellt. Das bekannteste horizontale Modell interkultureller Kompetenzen im Fremdsprachenbereich ist das Modell der fünf Savoirs von Byram (1997). Im Modell werden neben kommunikativen Kompetenzen verschiedene interkulturelle Fertigkeiten, Wissensbestände, Einstellungen und Bildungseinflüsse beschrieben. Im Hinblick auf mögliche vertikale Abstufungen schlug Byram (2008) statt quantitativer Stufen eine qualitative, zyklische Progression vor. Er begründete dies mit dem Hinweis, dass <?page no="267"?> 258 ClaudiaHarsch Lernende zu unterschiedlichen Entwicklungsmomenten unterschiedliche Arten von Einsichten zeigten, welche sich nur schwer in einer festen Stufenfolge abbilden ließen. In der Praxis lässt sich sein Modell in Profile und Portfolios umsetzen, die bei der (Selbst-)Beurteilung eingesetzt werden können. Um Byram’s Modell vertikal abzustufen, schlugen Campos et al. (1988: 81) in Anlehnung an die Kompetenzniveaus des Europarats die Niveaus threshold - beyond threshold - university level vor, allerdings ohne diese Einteilung empirisch zu untermauern. Eine ähnliche Dreistufigkeit klingt im Kompetenzmodell des INCA Projekts (Prechtl & Davidson Lund 2007) an. Hier wurden sechs horizontale Komponenten u. a. von Byram’s (1997) Modell abgeleitet, welche auf den drei vertikalen Kompetenzniveaus basic - intermediate - full (Prechtl & Davidson Lund 2007: 473 f.) beschrieben wurden. Allerdings bleibt unklar, wie die entsprechenden Deskriptoren ihren Niveaustufen zugewiesen wurden. So fehlt auch hier eine empirische Absicherung und Kalibrierung der postulierten Stufen. Byrams Modell der Savoirs diente auch den interkulturellen Konzeptionen im RePA und im GeR als Vorlage. Der RePA bietet ausführliche Listen zu Komponenten, Fertigkeiten, Wissensbeständen und Einstellungen im Bereich der inter- und plurikulturellen Kompetenzen, doch erhebt er nicht den Anspruch, diese in einem Stufen-, Progressions- oder Entwicklungsmodell darstellen zu wollen. Während der GeR zwar interkulturelle Kompetenzen thematisiert, finden sich im Dokument von 2001 keine Beispielskalen zu diesem Bereich, da sie sich damals als nicht skalierbar herausstellten. Im 2018 erschienenen CEFR Companion Volume (Council of Europe 2018) gibt es nun zumindest vier für den inter- und plurikulturellen Kompetenzbereich relevante Beispielskalen, die sich auf pluricultural space (ebd.: 123), pluricultural resp. plurilingual repertoire (ebd.: 159, 162) und plurilingual comprehension (ebd.: 160) beziehen. Diese Skalen wurden empirisch kalibriert, doch wird nicht transparent, welchem horizontalen Modell sie zuzuordnen sind. Es war jedoch nicht das Ziel des Companion , inter-/ plurikulturelle Kompetenzen zu modellieren, sondern der Fokus lag auf dem Bereich der Mediation (↗ Art. 6). Dennoch stellen diese vier Skalen eine gute Ergänzung zum RePA dar, wenn es etwa darum geht, interkulturelle Kompetenzen zu beurteilen oder Standards für diesen Bereich zu entwickeln. Eines der einflussreichsten interkulturellen Stufenmodelle aus der Psychologie ist Bennetts (1993) Developmental Model of Intercultural Sensitivity . Bennett postulierte für den relativ eng gefassten Bereich der intercultural sensitivity sechs Entwicklungsstufen, entlang derer er anwachsendes Bewusstsein und steigende Akzeptanz in Bezug auf kulturelle Differenzen beschrieb. Die Stufenfolge ist allerdings nicht hinreichend empirisch belegt. Unklar bleibt desweitern die Beziehung zwischen intercultural sensitivity und kommunikativen Kompetenzen, so dass der Bezug zum Fremdsprachenlernen nicht gegeben ist. Doch zeigte sich in der DESI-Studie (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen International), dass das Modell in Teilen für den deutschen Schulkontext relevant sein könnte (z. B. Hesse 2009). DESI untersuchte u. a. interkulturelle Kompetenzen von Neuntklässlern im Fach Englisch. Ein Ergebnis war, dass deutsche Schülerinnen und Schüler verschiedenen interkulturellen Typen zugeordnet werden können, wenn Bennetts Stufen als nominale Typen angesetzt werden. Benetts postulierte Stufenabfolge als vertikale Entwicklungsfolge konnte allerdings nicht nachgewiesen werden (ibid.). <?page no="268"?> 259 49. StufenmodelleinterkulturellerKompetenzen Als letztes Beispiel eines Stufenmodells sei hier Witte’s (2009) neunstufiges Progressionsmodell interkultureller Kompetenzen angeführt. Die „Stufen“ werden dort als zyklische Anordnung mit fließenden Übergängen verstanden. Das auf rein theoretischen Reflexionen basierende Modell greift zurück auf Konzepte aus Byrams Modell und Bennetts Abstufungen und ist auf den Fremdsprachenunterricht ausgerichtet. Allerdings fehlt auch diesem Modell die empirische Kalibrierung. Zudem müsste erforscht werden, ob und wie sich das Modell im Unterricht umsetzen lässt. 4. Ausblick Derzeit gibt es zwar einige theoretisch-konzeptionell fundierte Stufen- und Entwicklungsmodelle interkultureller Kompetenzen, doch sind die Abstufungen dieser Modelle meist nicht hinreichend empirisch validiert. Das dürfte zum einen an der Komplexität der Komponenten und ihrer Relation zueinander liegen, zum anderen an den interindividuellen Unterschieden der Fähigkeiten, Einstellungen, Fertigkeiten, Wissensbeständen und Erfahrungen, die sich zu verschiedenen Entwicklungszeitpunkten in unterschiedlichen Ausprägungen zeigen können. Dazu kommt die dynamische, interaktive und ko-konstruktive Natur interkultureller Kommunikationssituationen (↗ Art. 33), in welchen mindestens zwei Kommunikationspartner miteinander agieren, wobei die Situationen und die Partner sehr unterschiedliche Ansprüche stellen können. Solch situations-/ personenabhängige Anforderungen und individuell geprägte Entwicklungen lassen sich derzeit nur schwer in einem linear abgestuften Kompetenzmodell abbilden. Bis vertikale Kompetenzmodelle entwickelt werden können, die diesen individuellen, situativen und konstruktiven Komplexitäten gerecht werden, sind Profile und Portfolios hilfreich, die individuell und auf bestimmte Kontexte und Situationen hin ausgelegt und adaptiert werden können, und der Inter-Subjektivität des Konstrukts Rechnung tragen. Literatur Bennett, M. J. (1993): Towards Ethnorelativism: A Developmental Model of Intercultural Sensitivity. In: M. R. Paige (Hrsg.): Education for the Intercultural Experience. Yarmouth, 21-71. Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence . Clevedon. Byram, M. (2008): Researching Residence and Study Abroad. In: S. Ehrenreich, G. Woodman & M. Perrefort (Hrsg.): Auslandsaufenthalte in Schule und Studium. Bestandsaufnahme aus Forschung und Praxis . Münster, 19-28. Campos, C., Higman, F., Mendelson, D. & Nagy, G. (1988): L’enseignement de la civilisation française dans les universités de l’Europe . Paris. 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So lassen sich einerseits Rückschlüsse auf die Effizienz der im Unterricht geförderten Lernprozesse ziehen. Andererseits erhalten die Lerner (idealerweise) selbst eine Rückmeldung über die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Wissens- und Handlungskompetenzen, die dem Lösen vorgegebener Probleme und Aufgaben dienen. Nicht zuletzt sind Klassenarbeiten auch eine Rückmeldung an die Eltern und Erziehungsberechtigten über den Leistungsstand ihres Kindes (ebd.). Neben Klassenarbeiten haben sich weitere Formate als Feedback- und Diagnoseinstrumente etabliert. Hierzu zählen bspw. lern- und schülerseitig bearbeitete Kompetenzraster (in Anlehnung an den GeR und/ oder den RePA) (↗ Art. 18, 20), Facharbeiten und Portfolios. 2. Sprachlernkompetenz und Mehrsprachigkeit Die Vorzüge eines interkomprehensiv basierten Unterrichts (↗ Art. 70) liegen in dessen Potenzial, auf mehreren Ebenen Mehrsprachigkeit und die Sprachlernkompetenz der <?page no="270"?> 261 50. Mehrsprachigkeitin KlassenarbeitenundTests Lerner zu fördern (KMK 2012: 11). Das übergeordnete curriculare Ziel umfasst den reflexiven Umgang mit sprachlichen Strukturen. Da das mentale Lexikon der Lerner mehrsprachig ist (↗ Art. 62), betreffen Prozesse der Disambiguierung solche Strukturen, d. h. alle Sprachen, die im Kopf der Sprachverarbeiter miteinander interagieren. Ein interkomprehensiv orientierter Unterricht sucht selbstverständlich das Gespräch mit den Schülern über deren Lernen. Klassenarbeiten und kleinere Tests fungieren daher nicht nur als Echo auf einen konkreten Lernstand in der Zielsprache, sondern zeigen auch eine Reflexion über Aufgaben und die Wege, diese zu lösen. 3. Prüfungs- und Testformate Solche Formate lassen sich nach einer Skala ordnen, die von geschlossenen Aufgaben (die nur eine einzelne kurze Antwort erfordern) zu offenen Aufgaben reichen (Meißner 2001). Diese beschreiben sowohl Lösungen als auch Lösungswege (↗ Art. 83). 1. Serielle Lückentexte: Sie bestehen aus lexikalischen Bedeutungsadäquanzen aus den Lernern bekannten Sprachen. Aufgabe ist, die Lücke zu füllen. Es ist möglich, mehrere Serien in einem Aufgaben-Ensemble zusammenzufassen und die Auswahl so zu legen, dass sich phonologisch-orthographische Korrespondenzregeln aufstellen lassen. Beispiel hier: der aufzufindende Lückentext Portugiesisch (in Klammern als blank): toaccompany accompagner (acompanhar) accompgnare acompañar begleiten todesign dessiner (desenhar) dissegnare diseñar zeichnen (design) Teilaufgaben: a. verlangen die Nennung der portugiesischen Verben b. verlangen die Identifikation orthographischer Entsprechungen, z. B. von frz. -gn-/ -n- ~ it. -gn- ~ pt. -nh- ~ sp. -ñ-, dt./ engl. -gn-. 2. Wortpuzzle: Aus einem Wortpuzzle, bestehend aus den Lernern bekannten Sprachen, Korrespondenzpaare herausfinden („Welche Wortpaare gehören zusammen? “). Ein solches Puzzle sollte aus mindestens 26 Wörtern bestehen. 3. Interlinearübersetzungen (↗ Art. 6): Sie umfassen einen schon komplexen Ausschnitt der zielsprachlichen Architektur. Die Interlinearversionen können zwei-, drei- oder mehrsprachig in Übereinstimmung mit den individuellen Mehrsprachigkeitsprofilen der Lerner sein. An diese Aufgabe kann sich sehr gut eine Darstellung der zielsprachlichen Hypothesengrammatik oder die der Hypothesen- oder mehrsprachigen Korrespondenzgrammatik anschließen (sie umfasst Phänomene, die mehreren Sprachen gemeinsam sind). Interlinearübersetzungen zeigen, welche Elemente in mehreren Sprachen miteinander korrespondieren: Lafilledelaquellenousavonstrouvélaclef, habiterueDominique. Lachicadelacualhemoshalladolallave, habitaenlacalleDominique. 4. Übersetzung: z. B. eines zielsprachlichen Textes in eine nahverwandte Sprache, <?page no="271"?> 262 JochenStrathmann in das Englische, das Deutsche oder in eine andere Sprache. Der Zieltext kann in einer Interlinearversion (welche die korrespondierenden Transferbasen und Transferziele zeigt) oder in einer Äquivalenzübersetzung bestehen. 5. Nennung von interlingualen Korrespondenzregeln: z. B. zwischen dem Lautstand verschiedener Sprachen / von Kognaten / evtl. von falschen Freunden / von morphologischen oder von syntaktischen Entsprechungen. 6. Sensibilisierung: Für falsche Freunde durch Übersetzen sensibilisieren, z. B. zum Kontrast Französisch / Spanisch. Aufgabe: Übersetze folgende französische Wörter ins Spanische/ ggf. spanische Wörter in Französische: le sort (destino), le timbre (sello), la carte (tarjeta), oser (atreverse) / / sp . timbre ( sonnette/ timbre ), constipado (enrhumé und nicht constipé ), pipas (graines, auch pipe [Pfeife]; kläre die Bedeutungen: atender/ attendre, burro/ beurre, comprar/ comparer ; finde die Wortform: Karotte → frz.? , → sp.? , u. a. m.; erkläre die minimalen Abweichungen: el minuto/ la minute… 7. Diagnostisches Schreiben in der noch unbekannten Zielsprache zur Identifikation der eigenen Lernersprache (↗ Art. 84). Der Zieltext zeigt deutlich vorhandene, aber auch fehlende Transferbasen. Das diagnostische Schreiben erlaubt in besonderer Weise die Herstellung eines Lernplans im Sinne des übergeordneten Lernziels, weil es sichtbar macht, was ein Lerner schon weiß und was er noch an sprachlichen Strukturen und Funktionen erlernen muss. 8. Hypothesengrammatik: Ausfüllen eines Rasters zur Hypothesengrammatik auf der Grundlage eines Textes in einer unbekannten Sprache, deren Elemente jenen entsprechen, die Teil des Unterrichts waren. 9. Sprachlernverhalten: Offene Fragen zum eigenen Sprachlernverhalten in der Begegnung mit interkomprehensiv erschlossenen Texten. 10. Note-taking (Denk-Protokoll): unmittelbar im Anschluss an die interkomprehensive Begegnung mit der Zielsprache. 11. Erraten: „Eurodeutsch“ oder Erraten von Fremdwörtern (Sprachenbrücken): Eingriff → Operation, Unterordnung → Subordination) Säugling → Baby, Mehrdeutigkeit → Ambivalenz, Polyvalenz, selbstversorgend → autark, Selbstständigkeitstag → Independence Day, beglaubigen → (ak)kreditieren, Klavier-- Piano usw. 12. Komplexe Höraufgabe: Interkomprehension betrifft zwar zumeist das Lesen, kann jedoch auch das Hörverstehen betreffen (↗ Art. 75, 76). Analysen zeigen, dass Hörverstehen in unbekannten Fremdsprachen dazu führt, vor allem lexikalische Transferbasen zu identifizieren (↗ Art. 64). Nicht möglich ist das detaillierte, auf Merkmale der sprachlichen Oberfläche bezogene Hörverstehen (Aussprachen, idiolektale Sonderheiten, Auslassen von Morphemen und notwendige ‚Reparaturen‘.) Weil Hörverstehen zu simultan analytischen Prozessen keine Zeit lässt, eignet sich das interkomprehensive Hören durchaus auch für eine erste Begegnung mit einer ‚neuen‘ Sprache. Dies ist z. B. bei der Zielsprache Rumänisch der Fall. <?page no="272"?> 263 50. Mehrsprachigkeitin KlassenarbeitenundTests 4. Kriterien zur Leistungsbeurteilung Bei den engführenden Übungs- und Kontrollformaten liefert die Zahl der richtigen Lösungen im Verhältnis zu der der Aufgaben - erwartungsgemäß - das Maß für die Leistungsbeurteilung. Betroffen sind die Aufgabentypen: 1, 2, 5, 6, 8 und 11. Das diagnostische Schreiben (7) hat eine ausschließlich formative Funktion: Ein Ergebnis ist umso besser, je konkreter Grundlagen für die weitere Lernhandlungsplanung erkannt werden (↗ Art. 84). Solche können in der konkreten Nennung von ‚Lücken‘ (Defizienzen) und der ihnen entgegenwirkenden Strategien bestehen. Die Erstellung einer Interlinearübersetzung (3) verfolgt die Absicht, lexikalische, morphologische und syntaktische Bezüge zwischen zwei oder mehr Sprachen sichtbar zu machen. Je mehr erkannt wird, desto besser. Die Antworten zum Sprachlernverhalten (9, 10) gruppieren sich um Fragen des Vergleichens der mehrsprachigen Strukturen, um Strategien der Memorisierung und um Verbesserung der Resilienz. Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) beinhaltet auch die Fähigkeit, Hilfsmittel optimal zu benutzen - beginnend bei ihrer angemessenen Auswahl (Benutzung von Wörterbüchern und elektronischer Glossare und des Internets, selbstständige Materialbeschaffung, Benutzung von Konsultationsgrammatiken u. a. m.). Eine besondere Schwierigkeit verlangt die Beurteilung der Hörverstehensleistung bzgl. eines Textes in einer ‚unbekannten‘ Fremdsprache. Fragen zum Feinverstehen sprachlicher Oberflächen sind nicht angezeigt, da sie die Reichweite des echotischen Gedächtnisses überschreiten. Andererseits reichen große stichwortartige Angaben zum Inhalt der Mitteilung nicht aus. Es hat sich als operabel erwiesen, die sog. Argumente eines Textes identifizieren zu lassen und diese zu bewerten (argumentatives Hörverstehen) (Meißner 2010). Hierbei werden diejenigen inhaltlichen Textteile genannt, die zusammengenommen einen jeweils plausiblen Sinn ergeben (und die natürlich der Vorlage entsprechen). Inzwischen sind zahlreiche unterstützende Lehrmaterialen und Vorlagen verfügbar (Dorn et al. 2012, Klein & Stahlhofen 2005, Preker-Franke & Preker 2011, Rieder 2001, Rückl et al. 2012 u. 2013, Strathmann 2007, Schöberle et al. 2015). Literatur Dorn, R., Navarro Gonzalez, J. & Strathmann, J. (2012): ¡Gramática! De la lengua española. Mit Vergleichen zur englischen und französischen Grammatik. Stuttgart, Leipzig. Klein, H. G. & Stahlhofen, T. (2005): Spanisch interkomprehensiv. Spanisch sofort lesen können . Aachen. 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Unterrichtsvorschläge für den Fremdsprachenunterricht ab Klasse 8 . Stuttgart. Wiater, W. (2006): Didaktik der Mehrsprachigkeit. Theoriegrundlagen und Praxismodelle . München. Jochen Strathmann <?page no="274"?> 51. Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb in der Forschung 1. Begrifflichkeit Spracherwerb im Kontext von Mehrsprachigkeit umfasst Sprachaneignungsprozesse in zwei oder mehr Sprachen unter unterschiedlichen Erwerbsbedingungen. Die Unterscheidung zwischen den Formen des Sprachenerwerbs ist selten trennscharf, wie etwa zwischen dem (zumeist gesteuerten) Erlernen einer Fremdsprache und dem (eher ungesteuerten) Erwerb einer Zweitsprache oder auch zwischen dem Erwerb einer zweiten Erstsprache (simultaner Spracherwerb) und dem einer frühen Zweitsprache (sukzessiver Spracherwerb) (s. u.). Auch Tertiärsprachen, d. h. spät erworbene 2., 3. oder 4. Fremdsprachen unterliegen eigenen Erwerbsbedingungen (↗ Art. 86), v. a. bezüglich Vorerfahrung der Lernenden mit dem Sprachenlernen. Auch wenn nicht immer jede zu erwerbende Sprache eindeutig als Erst-, Zweit-, Fremd- oder Tertiärsprache klassifiziert werden kann, zumal sich die Rolle im individuellen Sprachenrepertoire eines Menschen im Laufe der Zeit ändern kann, ist ein Bewusstsein für die Existenz unterschiedlicher Rollen besonders für didaktische Überlegungen förderlich. 2. Forschungsansätze Die Ansätze der Mehrsprachenerwerbsforschung sind vielfältig. Die Erforschung des bilingualen Erstsprachenerwerbs wird verstärkt seit dem frühen 20. Jahrhundert betrieben, wobei vor allem in den ersten Jahrzehnten hauptsächlich Einzelfallstudien in Familien auf der Basis von Tagebüchern durchgeführt wurden (z. B. Ronjat 1913; Leopold 1949). Inzwischen ist das Spektrum der Fragestellungen sowie der methodischen Zugänge deutlich vielfältiger. Weitere Forschungsfelder stellen die Zweitsowie die Fremdsprachenerwerbsforschung, die ein breites Spektrum an Fragestellungen zu ungesteuerten und gesteuerten Erwerbsprozessen einschließen. Das Feld des multiplen Spracherwerbs ist ein junges Forschungsgebiet, in dem in den letzten G Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb <?page no="275"?> 266 SandraBallweg Jahrzehnten umfangreiche Forschungstätigkeiten zur Entwicklung von Erklärungsansätzen für einzelne Aspekte beigetragen haben. Allerdings ist es aufgrund der fehlenden zeitlichen Distanz vergleichsweise schwierig, die Relevanz der einzelnen Erklärungsansätze zu beurteilen. Festzuhalten ist, dass durch die Abkehr vom Ideal des „Muttersprachlers“ ( native speaker ) als Ziel des Spracherwerbs neue Impulse für die Spracherwerbsforschung entstanden sind. Hier setzte sich die Vorstellung durch, dass zwei- oder mehrsprachige Menschen nicht an einem monolingualen Ideal gemessen werden können, „that the bilingual is NOT the sum of two complete or incomplete monolinguals“ (Grosjean 1989: 3), sondern die Gesamtheit seiner Sprachen das individuelle Repertoire eines Menschen darstellen (vgl. zum mehrsprachigen Repertoire eines Individuums aus soziolinguistischer Perspektive bereits Fishman 1967). Besondere Berücksichtigung erfährt bei diesem Verständnis die Tatsache, dass Sprachkenntnisse in verschiedenen Lebens- und Diskursbereichen unterschiedlich sein können, da mehrsprachige Menschen ihre Sprachen für unterschiedliche Zwecke sowie in unterschiedlichen Domänen und Umgebungen erwerben und auch anwenden, ein Phänomen, das Grosjean (1997) als complementarity principle bezeichnet (↗ Art. 2, 3, 5, 100). Die Spracherwerbsforschung ist sich darin einig, dass Erwerbsprozesse hochgradig individuell verlaufen (vgl. dazu z. B. die Einzelgänger-Hypothese, Riemer 1999) und in ein komplexes System aus sprachlichen, individuellen und sozialen Variablen eingebettet sind. Je mehr Sprachen hinzukommen, umso vielfältiger werden Sprachenkonstellationen, Einflüsse der Sprachen aufeinander und Lernerfahrungen, so dass Erwerbsverläufe noch diverser werden. Auch Faktoren wie Sprachenprestige und individuelle (Lern) Biografien sind als Einflussfaktoren nicht zu vernachlässigen. Durch die gegebene Komplexität und Vielfalt allerdings können Hypothesen und Modelle jeweils nur Erklärungen für einzelne Aspekte des Spracherwerbs liefern. Die im Folgenden dargestellten Forschungsergebnisse, Modelle und Erklärungsansätze stellen daher nur eine Auswahl aus einem breiten Forschungsfeld dar. 3. Forschungsstand Die am breitesten erforschte Form des zwei- und mehrsprachigen Spracherwerbs betrifft vermutlich den bilingualen Erstsprachenerwerb (↗ Art. 52). Hier werden häufig Vergleiche zu monolingualen Erstsprachenerwerbsverläufen gezogen, obwohl einige Forschungsströmungen einen solchen Vergleich kritisieren. Festzuhalten ist aus diesem Ansatz, dass mehrsprachige Erwerbsverläufe monolingualen im generellen Ablauf stark ähneln und mindestens eine der Sprachen auf einem dem Alter eines monolingualen Kindes entsprechenden Niveau entwickelt ist (vgl. De Houwer 2005: 41). Es gibt eine Tendenz zur Annahme, dass sich die schwächere der beiden Sprachen ähnlich wie eine früh erworbene Zweitsprache entwickelt. In einzelnen Bereichen des Spracherwerbs, beispielsweise im Wortschatzerwerb oder in der Lautdiskriminierung, liegen widersprüchliche Ergebnisse vor, die auf eine Abhängigkeit von sprachtypologischen Besonderheiten sowie auf die Individualität von Erwerbsverläufen hindeuten. Ähnliches gilt für die Auswirkungen von Mehrsprachigkeit auf kognitive Fähigkeiten. Hier ist festzuhalten, dass in einzelnen Bereichen und unter spezifischen <?page no="276"?> 267 51. Erst-,Zweit-undMehrsprachenerwerbinderForschung Bedingungen mehrsprachige Kinder Vorteile in der metalinguistischen Sprachenbewusstheit aufweisen und tendenziell ihre Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, stärker ausgeprägt ist. Allgemeine Aussagen größerer Reichweite lassen sich allerdings nach dem derzeitigen Stand der empirischen Ergebnisse schwer treffen (für einen Überblick vgl. Bialystok 2004). Ein weiterer strittiger Punkt war lange Zeit die Frage, ob Kinder gemeinsame oder getrennte sprachliche Systeme ausbilden, und der damit verbundene Einflussfaktor des Inputs bzw. des Sprachkontakts (↗ Art. 62). Während zunächst davon ausgegangen wurde, dass Kinder ein gemeinsames System ihrer beiden Sprachen erwerben, das sie später trennen (vgl. Leopold 1949; Volterra & Taeschner 1978), ist mittlerweile Konsens, dass zweisprachige Kinder früh zwischen ihren Sprachen unterscheiden können (Deuchar & Quay 2000). Mit der 1990 aufgestellten separate development hypothesis betont De Houwer (2005) die Rolle des Inputs für die Entwicklung zweier getrennter morphosyntaktischer Systeme bei bilingual aufwachsenden Kindern. Inzwischen beschäftigt sich die Forschung differenzierter mit der Frage, wie sich der Kontakt zwischen den sprachlichen Systemen eines Menschen ausgestaltet (vgl. z. B. die Bootstrapping -Hypothese [Gawlitzek-Maiwald & Tracy 1996], in der die verstärkende Wirkung von Kenntnissen aus der einen auf die andere Sprache und eine temporäre gemeinsame Nutzung von sprachlichen Ressourcen angenommen wird, oder die crosslinguistic influence hypothesis [Hulk & Müller 2000]). Als Einflussfaktoren auf die getrennte Entwicklung der Sprachsysteme werden beispielsweise Quantität, Qualität und Vielfalt des Inputs und Einstellungen zu Sprachen, deren Sprecherinnen und Sprechern sowie zu Mehrsprachigkeit allgemein herausgearbeitet. Aus soziolinguistischer Perspektive ist außerdem bedeutsam, dass nicht nur Input und Interaktion Einfluss nehmen, sondern die sprachliche Sozialisation der Lernenden in ihrer Umgebung ausschlaggebend ist.Der im Kontext des Fremd- und Zweitsprachenerwerbs weit diskutierte Faktor ‚Alter‘ auf Erwerbsprozesse ist auch beim Erwerb mehrerer Sprachen relevant. Das Alter dient als Unterscheidungsmerkmal zwischen bilingualem Erstsprachenerwerb und frühem Erwerb einer Zweitsprache, wobei die Grenze in der Literatur zwischen der Geburt und dem Alter von drei Jahren als Kontaktbeginn mit der Sprache variiert. Insgesamt ist festzuhalten, dass der simultane und der sukzessive Spracherwerb im frühen Kindesalter (↗ Art. 4, 52) zahlreiche Gemeinsamkeiten im Verlauf aufweisen und sich vom Zweitsprachenerwerb zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem der Erstsprachenerwerb weitgehend abgeschlossen ist, deutlich unterscheiden. Insgesamt wird nicht mehr die Pubertät als kritische Phase beschrieben, wie es noch Lenneberg (1967) in seiner critical period hypothesis in Bezug auf die Lateralisierung des Gehirns annahm, sondern es wird eher vermutet, dass insgesamt altersbezogene Unterschiede im Erwerbsprozess bestehen. Besonders in Bezug auf den Umgang mit mehr als zwei Sprachen wird deutlich, dass das individuelle Sprachenrepertoire eines Individuums dynamisch ist und sich im Laufe des Lebens entsprechend der sprachlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten sowie der sozialen und persönlichen Lebensumstände verändert Der spätere Zweitsprachenerwerb, ab der späteren Kindheit einsetzend, gestaltet sich anders als der (multiple) kindliche L1-Erwerb, denn den Lernenden stehen bereits sprachliche Konzepte in der Erstsprache zur <?page no="277"?> 268 SandraBallweg Verfügung und sie können auf das mit den Erstsprachen erworbene Weltwissen, auf kulturelles Wissen sowie auf stabile Bedeutungen zurückgreifen, wobei zahlreiche individuelle und soziale Faktoren auf den Verlauf des Erwerbs und das letztendlich erreichte Sprachniveau wirken (vgl. z. B. die Rolle der sozialen Integration und des Zugangs zu zielsprachlicher Interaktion [Norton 2000]). Hier liefern u. a. eine Vielzahl von behavioristischen, nativistischen, kognitivistischen, soziokulturellen und interaktionistischen Erwerbshypothesen, die sich teilweise ergänzen und teilweise widersprechen, Erklärungsansätze für den Zweitsprachenerwerb (für einen Überblick vgl. Riemer 2002). Die Erforschung von mehr als zwei Sprachen setzt teilweise auf diesen Ansätzen auf, um mehrsprachigkeitsspezifische Fragestellungen zu diskutieren (↗ Art. 85). Eine wesentliche Erkenntnis liegt in der gegenseitigen Beeinflussung der Sprachen eines Individuums ( crosslinguistic influences ). Während lange Zeit der Einfluss der Erstsprache auf weitere Sprachen im Fokus stand, wird inzwischen berücksichtigt, dass potenziell alle Sprachen eines Menschen miteinander interagieren und sich gegenseitig beeinflussen. Grosjeans Konzept des Sprachenmodus ( language mode ) (1997) geht davon aus, dass die Sprachen eines Menschen jeweils zu unterschiedlichen Graden aktiviert sind, wobei an einem Ende eines Kontinuums alle Sprachen gleichzeitig aktiv sind und am anderen Ende, in einem monolingualen Modus, alle außer einer unterdrückt werden. Green (1998) nimmt im inhibitory control model an, dass die Aufgabe eines mehrsprachigen Sprechers nicht in der Aktivierung einer Sprache besteht, sondern in der Unterdrückung aller anderen (vgl. hierzu auch das multilingual processing model von de Bot (2004) in Bezug auf die Verarbeitung von Lexemen im multilingualen mentalen Lexikon) (↗ Art. 62). Das Verhältnis aller Sprachen eines Individuums zueinander beleuchten bspw. das dominant language constellation model von Aronin (2016) sowie das dynamic model of multilingualism (Herdina & Jessner 2002), die beide Erst-, Zweit- und Fremdsprachen gleichermaßen einbeziehen. Aronin unterscheidet zwischen zentralen und peripheren Sprachen und bündelt diese. Herdina & Jessner verdeutlichen in ihrem Modell, dass Mehrsprachigkeit auch über Charakteristika verfügt, die nicht den Einzelsprachen zuzuordnen sind, sondern weit darüber hinaus gehen, und dass sich Sprachsysteme durch die Nicht-Linearität des Spracherwerbs, durch Reversibilität, durch die Stabilität eines Sprachsystems sowie durch Komplexität und die Interdependenz mit früheren und folgenden Systemen auszeichnen. Um die Rolle zuvor gelernter Sprachen beim Tertiärsprachenerwerb (↗ Art. 86) geht es bspw. im language switches model von Williams & Hammarberg (1998), das sich damit befasst, welche Sprache im Kontext des Tertiärsprachenerwerbs zur Hilfssprache ( supplier language ) wird. Einflussfaktoren sind die typologische Verwandtschaft, die Präsenz einer Sprache sowie der Kompetenz der Lernenden. Darüber hinaus ist es wahrscheinlicher, dass beim Lernen einer Fremdsprache eine andere Fremdsprache zur wichtigsten supplier language wird. Diese unterstützende Funktion einer zuvor gelernten Sprache findet sich auch im Konzept der Interkomprehension (↗ Art. 65, 63) und im Mehrsprachenverarbeitungsmodell (Meißner 2007), bei der in multilingualen Rezeptionsvorgängen von der Bildung einer Spontangrammatik oder Hypothesengrammatik unter Einbezug einer oder mehrerer Brückensprachen ausgegangen wird, sowie <?page no="278"?> 269 51. Erst-,Zweit-undMehrsprachenerwerbinderForschung im Faktorenmodell von Hufeisen (z. B. mit Gibson 2003). Letzteres zeigt auf, dass neben den Faktoren, die auf den Erwerb einer Erstsprache und einer ersten Fremdsprache wirken, bei weiteren Sprachen auch fremdsprachenspezifische Faktoren wie die individuelle Lernerfahrung, Lernstrategien und die Interimssprachen in den verschiedenen Fremdsprachen Auswirkungen auf das Lernen der neuen Sprache haben. Ein großer Teil dieser Forschung stammt aus westlichen Ländern mit einer eher monolingualen Tradition, was sich auch im starken Interesse an Bildungsmehrsprachigkeit spiegelt. Publikationen, die die Perspektive in traditionell mehrsprachigen Gesellschaften in den Blick nehmen, zumeist aus soziolinguistischer Perspektive, zeigen auf, wie dort Spracherwerb und Sprachverwendung weniger stark getrennt verlaufen, sondern Sprachverwendungssituationen zu Erwerb führen und Sprachen fluid sind (vgl. z. B. Canagarah & Wurr 2011). 4. Perspektiven Zum Mehrsprachenerwerb liegen zahlreiche Forschungsergebnisse vor. Zugleich besteht Bedarf an weiterer Forschung, wobei hier nur einige Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen genannt werden können. Zunächst sollte der Erwerb verschiedener Kompetenzen genauer in den Blick genommen werden, z. B. der Aussprache oder der von mehrsprachigen Textrezeption in mehreren Sprachen. Darüber hinaus werfen sich wandelnde gesellschaftliche und mediale Bedingungen auch neue Fragestellungen auf. Zum frühkindlichen Spracherwerb könnte das Aufwachsen mit zwei oder mehr Sprachen in Familien zählen, bei denen nicht alle Familienmitglieder im selben Land leben, für verschiedene Altersgruppen der Spracherwerb unter den Bedingungen von Migration oder Flucht mit diskontinuierlichen Bildungsbiografien und Spracherwerbsverläufen, für Fremdsprachenlernende Spracherwerbsverläufe in unterschiedlichen Lebensphasen und unter unterschiedlichen sozialen und medialen Bedingungen sowie für alle Formen von Mehrsprachigkeit die Interaktion der Sprachen miteinander ( crosslinguistic influence ). Aus soziolinguistischer Perspektive wird die Forderung formuliert, individuelle Erwerbsprozesse über private und öffentliche Domänen hinweg, auch unter Einbezug analoger und digitaler Medien, zu betrachten (vgl. the Douglas Fir Group 2016: 20). Gewinnbringend wäre es, psycholinguistische und soziolinguistische Forschungsansätze noch stärker als bisher zu verbinden. Auch die Schnittstelle zu den Didaktiken darf nicht vernachlässigt werden. Hier stellen sich Fragen der Förderung verschiedener Einzelsprachen sowie der gezielten Förderung von Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitskompetenz (↗ Art. 6, 7), aber beispielsweise auch der Frage der Leistungsbewertung im Kontext von Mehrsprachigkeit (↗ Art. 50). Literatur Aronin, L. (2016): Multi-competence and Dominant Language Constellation. In: V. Cook & W. Li (Hrsg.): The Cambridge Handbook of Linguistic Multi-Competence . Cambridge, 125-141. Bialystok, E. (2004): The Impact of Bilingualism on Language und Literacy Development. In: T. Bhatia & W. Ritschie (Hrsg.): The Handbook of Bilingualism . Oxford, 577-601. Canagarjah, S. & Wurr, A. (2011): Multilingual Communication and Language Acquisition: <?page no="279"?> 270 SandraBallweg New Research Directions. 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In der Praxis sind unterschiedliche Familien zu beobachten, die ihren Kindern eine zweisprachige Erziehung, bestehend aus der jeweiligen Herkunftssprache bzw. der Sprache des Vaters oder der Mutter oder aber einer Fremdsprache und Deutsch, ermöglichen möchten: a) Eltern mit verschiedenen Muttersprachen Bei binationalen Paaren ist oft eine zweisprachige Erziehung zu beobachten. Sie gelingt umso eher, desto mehr Sprachpartner sich dem Kind für beide Sprachen in entsprechender Breite anbieten. Sie bestimmen zusammen mit der Art der verbalen Interaktivitäten das Sprachbzw. Sprachenerlebnis. b) Familien, Partnerschaften, Personen, die an mehrsprachiger Erziehung interessiert sind Oft sind Eltern an einer zweisprachigen Erziehung ihres Kindes interessiert und holen die Zielsprache in die häusliche Umgebung. Dies kann geschehen, indem sie sich selbst mit ihrem Kind dieser Sprache bedienen (elternseitig ist eine entsprechende Kompetenz vor allem der nähesprachlichen Register vorausgesetzt) und ihrem Kind intensive und anhaltende Kontakte mit der Zielsprache ermöglichen (Au-pair, bilinguale Spielgruppe, Kita usw.). c) Zuwandererfamilien und Familien mit Fluchtgeschichte Das Kind spricht in diesen Fällen überwiegend die Herkunftssprache. Es lernt die Zweit- oder Umgebungssprache erst in der Kita, meistens also im dritten oder vierten Lebensjahr, kennen; manchmal auch erst zum Zeitpunkt der Einschulung (↗ Art. 53, 54). Generell lässt sich sagen: Eine zweisprachige Kindererziehung gelingt in dem Maße, wie beide Sprachen zur Erhöhung des psychischen Einkommens des Kindes beitragen. Dies unterstreicht die Rolle des Sprach- und Spielerlebnisses mit authentischen Sprachpartnern in beiden Sprachen, vorzugsweise wiederum Kinder. Oftmals sind Eltern, die ihre Kinder zweisprachig erziehen möchten, ratlos, wie sie mit den Sprachen umgehen sollen. Es begegnen immer wieder folgende Fragen: • „Wer spricht mit dem Kind in welcher Sprache? “ • „Welche Sprache soll ich selbst mit meinem Kind sprechen? “ • „Wie lernt mein Kind am schnellsten die Sprache der Mehrheitsgesellschaft (Deutsch), damit ein guter Schulstart ermöglicht werden kann? “ • „Ich spreche nur meine Muttersprache. Mein Mann spricht aber besser Deutsch als ich. Wie sollen wir mit der deutschen Sprache, wie mit unserer Herkunftssprache umgehen, damit unser Kind ‚unsere‘ Sprache nicht vergisst und doch zugleich angemessen Deutsch lernt? “ • „Kann mein Kind in einer mehrsprachigen Umgebung auch mehrere Sprachen lernen? “ Später tauchen dann Fragen auf wie: <?page no="281"?> 272 YükselEkinci • „Warum antwortet mein Kind in Deutsch, obwohl ich immer in meiner Muttersprache mit ihm rede? “ • „Mein Kind mischt die Sprachen. Sollten wir lieber nur eine Sprache sprechen? “ Die Unsicherheit der Eltern im Umgang mit den in den Familien und der Umwelt gesprochenen Sprachen verlangt Wissen über den frühkindlichen Spracherwerb. Immer wieder ist die Befürchtung zu hören, dass Zweisprachigkeit die Kinder überfordere. Sie würden die Sprachen durcheinanderbringen (↗ Art. 4, 5), schließlich habe Deutsch Vorrang. Die Verunsicherung äußert sich in fragwürdigen Handlungsmaximen wie „Zuhause wird nur noch Deutsch gesprochen! “ Es herrschen oft falsche Vorstellungen. Dabei ist die Spracherwerbsforschung mehrheitlich der Ansicht, dass frühe Zweisprachigkeit die kognitive Entwicklung der Kinder nicht beeinträchtigt (u. a. Nitsch 2007). Entscheidend sind die personalen, sozialen und kulturellen Faktoren, die den Sprachenerwerb begleiten. Zweisprachig aufwachsende Kinder verfügen früher und breiter über Sprachenbewusstheit, sie verfügen über mehr sprachliche Schemata, die für das Lernen fremder Sprachen von Nutzen sind, und wenden daher mehr Strategien auf mehr sprachliche Muster an. (↗ Art. 22). Weltweit ist Mehrsprachigkeit der Normalfall, es können problemlos mehrere Sprachen parallel erworben werden. Selten wird indes untersucht, was dies für die Literalität bedeutet und wie sich die Korrelation zwischen dem Prestige einer Sprache in einer gegebenen Gesellschaft und unterschiedlichen Formen der Mehrsprachigkeit darstellt. 2. Begrifflichkeiten und Forschung im Erst- Zweit- oder Mehrspracherwerb Bei kindlichem Spracherwerb kann es sich, wie angedeutet, um die Mutter- oder Erstsprache, um eine Zweitsprache (z. B. Umgebungssprache und/ oder offizielle Sprache) oder um eine Fremdsprache handeln (↗ Art. 51). 2.1. Der simultane Erwerb zweier oder mehrerer Sprachen Der Erwerb von Sprachen kann bei Kindern wie Erwachsenen sowohl ‚gesteuert‘ als auch ungesteuert (durch nicht-lehrintentionale Kommunikation) stattfinden. Im Alltag lernt das Kind die Sprachen beim Spiel, in Interaktion mit anderen Kindern und Erwachsenen, im Kindergarten oder in der Schule in verbaler Kommunikation. Die kindbezogene Spracherwerbsforschung unterscheidet zwischen simultan erworbener Zweisprachigkeit (zwei Erstsprachen) und sukzessiv erworbener Zwei- oder Mehrsprachigkeit. Im Folgenden werden die Begriffe erläutert. Bei simultanem bilingualem Spracherwerb lernen Kinder innerhalb der ersten Lebensjahre oder spätestens bis zum dritten Lebensjahr (vgl. Meisel 2007; Bickes & Pauli 2009) gleichzeitig zwei Sprachen nebeneinander. Dies setzt voraus, dass ihnen zu dieser Zeit mindestens jeweils ein Partner pro Sprache zur Verfügung steht. Im fünften Lebensjahr erreicht das Kind i. d. R. in beiden Sprachen ein Kompetenzniveau, auf dem es hinreichend verstehen und sich ausdrücken kann. <?page no="282"?> 273 52. KindlicherSpracherwerbinmehrsprachigerUmgebung 2.2. Der sukzessive Erwerb von Sprachen Hier geht es um den zeitversetzten Erwerb zweier Sprachen (oder mehr). Der Erwerb einer zweiten Sprache beginnt laut Rothweiler (2007: 106) erst dann, wenn das Kind bereits über ein alterstypisches Kompetenzmuster in seiner ersten Sprache verfügt. Viele Studien betonen, dass sich ein Kind vor dem sechsten Lebensjahr die Erstsprache noch nicht soweit erschlossen und diese gefestigt hat, dass eine zweite Sprache nicht ähnlich wie beim Erstsprachenerwerb erworben werden könnte. Der unmittelbare Zugriff von Welt auf Sprache und Sprache auf Welt unterscheidet beide kindlichen Erwerbstypen von späteren, in denen die dann Lernenden bereits über ein ausgeprägtes erstsprachliches Begriffs- und Sprachsystem verfügen. Dies bedeutet, dass der Zugriff auf die Zielsprache und die zu versprachlichende Welt stärker über Umschreibungen als über ‚festgefügte‘ Begriffe erfolgt Daher unterscheidet die Literatur zwischen frühkindlichem Zweitspracherwerb (0.-6. Lebensjahr), kindlichem Zweitspracherwerb (Zweitspracherwerb 6.-12. Lebensjahr), dem Zweit- und dem Fremdspracherwerb Erwachsener. Rehbein & Grießhaber (1996: 71) sprechen von einem frühen sukzessiven Bilingualismus (3.-12. Lebensjahr), wenn das Kind nach dem dritten Lebensjahr in Kontakt mit einer zweiten Sprache kommt. Die Erwerbsbedingungen sind wichtige Faktoren für den erfolgreichen Erwerb von Sprachen. Betroffen sind: das Prestige der Sprache, Input, Sprachgebrauch, Alter des Kindes beim Erwerbsbeginn der jeweiligen Sprache, Sprachpartner und Sprachkontakt ( exposure to the language ). Nach Chilla et al. (2013) unterscheidet sich der Wortschatzerwerb von sukzessiv zwei- oder gar mehrsprachigen Kindern von dem von Kindern im Erstsprachenerwerb (↗ Art. 62). Im Vergleich zu einsprachig aufwachsenden Kindern, deren Sprachenbewusstheit spätestens mit dem Erwerb der Schriftlichkeit beginnt, bilden zweisprachig aufwachsende deutlich früher Sprachenbewusstheit aus, denn sie vergleichen Schemata aus Sprache 1 mit jenen aus Sprache 2. Zudem benutzen sie mit unterschiedlichen Personen unterschiedliche Sprachen. Einiges spricht dafür, dass sie so auf das Erlernen fremder Sprachen besser vorbereitet werden. Ein hinreichend umfangreicher und bedeutungshaltiger Sprachinput ist eine der wichtigen Voraussetzungen für den Spracherwerb. Bruner (1987) misst der Interaktion im Spracherwerb eine bedeutsame Rolle bei. Entsprechende Lernarrangements entstehen durch Interaktionen, in die sich Lernende und Lehrende einbeziehen: nachfragen, eventuell vorformulieren, immer: zusammen etwas tun, dieses dialogisch versprachlichen, Möglichkeiten zur Wiederholung bieten. Vor allem: Einbezug von Handeln in beiden Sprachen. Es geht immer um das Zusammenschalten von Sprache und Welt. Ein Beispiel für kindliche Mehrsprachigkeit findet sich u. a. in Luxemburg, unter den zumeist aus Portugal zugewanderten Kindern (Portugiesisch [mündlich], Letzeburgisch [mündlich], Deutsch [mündlich und schriftlich], Französisch [mündlich, später schriftlich], Englisch als Fremdsprache [folgend]). Allerdings steht die Gruppe in dem Ruf des sog. „under-achievement“, was die Schriftlichkeit in den Landessprachen angeht. <?page no="283"?> 274 YükselEkinci 3. Einflussfaktoren beim Spracherwerb in einer mehrsprachigen Umgebung: Gegen den Verlust der Herkunftssprache Viele Kinder haben in den letzten Jahren durch die anhaltende Zuwanderung mehr Kontakt zu mehr Sprachen, in manchen Quartieren werden sie in einer vielsprachigen Umgebung groß. Anders als bisher werden Kinder verstärkt mit visueller Mehrsprachigkeit konfrontiert (↗ Art. 102). Abhängig vom Stadtteil sind viele Hinweise mehrsprachig. In der U-Bahn sind viele Hinweise in verschiedenen Sprachen zu sehen. Auch sind in anderen öffentlichen Räumen wie zum Beispiel in städtischen Behörden viele Beschriftungen, Flyer oder Hinweise mehrsprachig. Meistens ist zu beobachten, dass auch die Werbung in diesem Wohnumfeld gleich mehrsprachig vorbereitet wird. Im Wortschatzprojekt der TU Dortmund stellten Hoffman & Ekinci (2013) bei Kindern, die in einer mehrsprachigen und -kulturellen Umgebung wohnten, fest, dass die Kinder vor ihrer Einschulung über andere Symbole, Zeichen oder Logos, etwa die der Wohnumgebung, verfügen als ihre monolingualen Freunde in der Kita. Bei der Einschulung erkannten diese Kinder wegen ihres Wohnumfelds auf mehrsprachigen Werbeplakaten andere Logos, Zeichen oder Symbole als ihre Mitschüler und Mitschülerinnen. Diese Kinder kommen also nicht mit Defiziten in die Schule, sondern sie kennen einfach andere Symbole, Zeichen oder Logos. Solche Potentiale der Kinder werden aber von der Schule nicht aufgegriffen. Diese Lebensrealität sollte jedoch beim Schulstart berücksichtigt werden, wenn im ersten Schuljahr an den Vorerfahrungen mit Schriftzeichen angeknüpft werden soll. Allzu oft übersehen Lehrkräfte die Ressourcen aus dem Umfeld sowie der Erstsprache und vergessen, dass man diese Potentiale auch positiv nutzen kann. Wie für alle Lernkontexte ist der Einfluss der digitalen und analogen Medien für den Spracherwerb nicht zu unterschätzen. Oft laufen zu Hause Fernsehsender in der Herkunftssprache mit einer ganz anderen Werbung als die, welche sich an Konsumenten mit Deutsch als Erstsprache richtet. Meistens ist diese Werbung zweisprachig, dabei werden auch Sprachmischungen aufgenommen. Die Kinderserien und Werbung richten sich gezielt an eine zweisprachige Adressatengruppe. Seit den 1990er Jahren ist der Einfluss der „Daily Soaps“ gewachsen. Manche Redewendungen werden aus diesen Sendungen auch ins Deutsche entlehnt. Dabei stellt sich die Frage, ob und welche Sendungen speziell an Kinder zum Zweck der Unterstützung der herkunftssprachlichen Kompetenz gerichtet sind. Dies betrifft natürlich auf Forschungsaspekte. In dem Projekt „Deutsch und mehr Sprachen lernen - mit digitalen Medien“ der FH Bielefeld zusammen mit der Hellingkampschule und der Stadtbibliothek konnte nachgewiesen werden, dass die Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Schriftlichkeit stärker ausgebaut werden kann, wenn die Kinder selbstständig digitale Medien nutzen. Das Erstellen von Büchern am Tablet ermöglichte es Kindern, eigene Geschichten zu erzählen (vgl. Ekinci & Marci-Boehncke 2017) und hiermit ihre Sprachkenntnisse auszubauen. Entsprechende empirische Forschungen, in denen auf der Grundlage von Symbolketten eine Zielsprache generiert wird, liegen in Frankreich seit den 1990er Jahren vor (Cohen 1992). <?page no="284"?> 275 52. KindlicherSpracherwerbinmehrsprachigerUmgebung 4. Perspektiven zur Förderung der kindlichen Mehrsprachigkeit Es zeigt sich, dass die Pädagogen und Pädagoginnen, Erzieher und Erzieherinnen Wissen über die Potentiale der Kinder ihrer mehrsprachigen Gruppe und ihre Spracherwerbsbiografien besitzen sollten (↗ Art. 26). Prinzipiell wünschenswert wäre eine entsprechende Förderung aller Sprachen der Kinder in der Herkunftssprache und in der Zweit- und evtl. einer Fremdsprache. Die Erstsprache ist wertvoll und fördernswert; es ist wichtig, sie nach Möglichkeit so gut zu beherrschen wie das Deutsche (↗ Art. 105, 106). Im Wortschatzprojekt der TU Dortmund konnte festgestellt werden, dass eine entsprechende Förderung durch die Bildungsinstitutionen von Bedeutung ist. Wird z. B. die Herkunftssprache des Kindes in der Schule unterrichtet, dann kann sie auch weiterhin ausgebaut werden. Die Förderung der Mehrsprachigkeit der Kinder sollte sich dabei auch in der Schriftlichkeit niederschlagen. Beispielsweise kann in den Schulen auch die Schreibkompetenz der Kinder in mehreren Sprachen unterstützt werden, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben wird, den Herkunftssprachenunterricht zu besuchen und diesen entsprechend auszustatten. Bei einer Doppelalphabetisierung in der Erst- und Zweitsprache kann den Kindern eine große Hilfestellung gegeben werden, schnell lesen und schreiben zu lernen. Die digitalen Medien geben den Kindern eine zusätzliche Möglichkeit, am Unterrichtsgeschehen zu partizipieren und dieses mitzugestalten. Es ist zu erwarten, dass die Digitalisierung die Sprachen der Kinder weiter unterstützt, und zwar bzgl. der Mündlichkeit als auch der Schriftlichkeit. Gegenstand der Forschung muss sein zu untersuchen, inwieweit die Mehrsprachigkeit der Kinder auch in institutionalisierten Kontexten optimal gefördert werden kann. Literatur Bickes, H. & Pauli, U. (2009): Erst- und Zweitspracherwerb . Paderborn. Bruner, J. S. (1987): Wie das Kind die Sprache lernt . Bern. 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Mehrsprachigkeitsansätze in vorschulischen Bildungseinrichtungen 1. Begrifflichkeit In vorschulischen Bildungseinrichtungen werden die Begriffe ‚Mehrsprachigkeit‘ oder ‚Multilingualismus‘ vor allem in Bezug auf Kinder mit einem ‚Migrationshintergrund‘ verwendet, die oftmals in zwei oder gar mehreren Sprachen aufwachsen (↗ Art. 52); zumeist mit ihrer Herkunftssprache (die sie als Erstsprache/ n, L1, lernen) und mit Deutsch als Umgebungssprache (vgl. Steinlen & Piske 2016). Dies betraf im Jahr 2017 etwa 38 % aller Kinder unter 10 Jahren (Statistisches Bundesamt 2018). In der Fremdsprachenerwerbsforschung werden die vorhandenen Sprachkenntnisse der Lernenden als wichtige Ressource anerkannt (↗ Art. 51). Wie die Zweisprachigkeit von Kindern in Kindertageseinrichtungen in Deutschland heutzutage gefördert wird, sei anhand von zwei Ansätzen illustriert (siehe Schmidt 2018): Dazu zählen zum einen einsprachige Kitas, in denen bspw. Kinder mit einer minoritären Sprache (z. B. Russisch) die Umgebungssprache lernen, die dann ihre Zweitsprache (L2) darstellt. In zweisprachigen Kitas werden dagegen parallel zwei Sprachen angeboten, z. B. Deutsch und Englisch. Einsprachig in Deutsch aufwachsende Kinder kommen hier schon früh mit einer zweiten Sprache in Kontakt; Kinder, die zuhause keine der beiden angebotenen Sprachen sprechen, lernen gleichzeitig eine Zweitsprache (Deutsch) und eine dritte Sprache (L3, Englisch). Eine dritte Variante betrifft mehrsprachig ausgerichtete Kitas, in denen die Erstsprachen der Kinder nach Möglichkeit einbezogen werden. Diese stellen jedoch bisher eher die Ausnahme dar (z. B. das BMBF-Projekt „Effekte einer aktiven Integration von Mehrsprachigkeit in Kindertageseinrichtungen“, 2014-2018) und wurden kaum evaluiert, weshalb im Folgenden der Fokus auf ein- und zweisprachige Kitas liegen wird. 2. Problemaufriss Laut Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018) besitzen 20 % der unter 3 bzw. 30 % aller über 3 Jahre alten Kita-Kinder einen Migrationshintergrund (mindestens ein Elternteil ist zugewandert). In durchschnittlich 2,7% (in Berlin sogar in 8,3%) aller Kitas in Deutschland sprechen mehr als 75 % der Kinder in der Familie nicht Deutsch (Ländermonitor 2017). In diesem Zusammenhang wird immer wieder kritisch darauf hingewiesen, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder mit Migrationshintergrund schon vor Schulbeginn oftmals sprachlich schwächere <?page no="286"?> 277 53. Mehrsprachigkeits ansätzeinvorschulischenBildungseinrichtungen Leistungen im Deutschen zeigen als einsprachig deutsch aufwachsende und dass sich dies nachteilig auf deren späteren Bildungserfolg auswirkt (z. B. Lisker 2011). Mehrsprachigkeitsansätze in der Kita können also nur dann als sinnvoll gelten, wenn über die Mehrsprachigkeit hinaus der Erwerb der Umgebungssprache Deutsch altersgemäß gefördert wird (↗ Art. 106). 3. Forschungsstand 3.1. Einsprachige Kitas: Sprachförderung von mehrsprachigen Kindern In allen Bundesländern wird der Sprachstand von Kindern erhoben. Dabei kommen entweder standardisierte Tests (z. B. KISTE: Kindersprachtest für das Vorschulalter), Screening (z. B. SSV: Sprachscreening im Vorschulalter) oder Beobachtungsverfahren (SISMIK: Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern im Kindergarten) zum Einsatz, auf deren Grundlage Entscheidungen für spezifische (ebenfalls bundeslandabhängige) Sprachförderangebote geschaffen werden. Der Anteil der betroffenen Kinder, also zumeist Kinder mit Deutsch als Zweitsprache oder mit besonderem Sprachförderbedarf, liegt bundeslandabhängig zwischen 15 % und 57 % (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). Sprachförderungskonzepte, die in den Bundesländern von unterschiedlichen Trägern im Elementarbereich eingesetzt werden (↗ Art. 21), umfassen fast ausschließlich Programme für die deutsche Sprache (Lisker 2011). Bei sprachstrukturellen Programmen zur additiven Sprachförderung werden, einem festgelegten zeitlichen Ablaufplan mit vorgegebenem Material folgend, einzelne oder mehrere Sprachausschnitte des Deutschen (z. B. Wortschatz, Grammatik, phonologische Bewusstheit) gezielt ein- oder mehrmals pro Woche in kleinen Gruppen gefördert. Bisher wurden jedoch nur wenige additive Sprachförderprogramme evaluiert. Es konnten keine starken Effekte auf die sprachliche Entwicklung direkt nach der Förderung, also im Jahr vor der Einschulung, nachgewiesen werden. Zum jetzigen Zeitpunkt stehen noch wissenschaftliche Evaluationen zum Erfolg von integrativen (alltagsintegrierenden, ganzheitlichen) Sprachförderungsansätzen aus: Dazu zählt z. B. das vom BMBF finanzierte Programm „Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“ (2011-2015), an dem rund 4.000 Kitas teilnahmen. Bisherige Ergebnisse zeigen zwar die Akzeptanz des Programms sowie der Fortbildungsaktivitäten auf, sagen jedoch nichts zum Sprachstand der beteiligten Kinder (BMBF 2015). 3.2. Zweisprachige Kitas: Fremdsprachenvermittlung Ein weiterer Ansatz, Mehrsprachigkeit im Kita-Kontext zu fördern, bezieht sich auf die frühe Fremdsprachenbegegnung für Kinder unter drei Jahren (↗ Art. 4). Der Anteil solch bilingual arbeitender Kitas beträgt bundesweit ca. 2 % (über 1.035 Einrichtungen, FMKS 2014). Der Erwerb der neuen Sprache soll nicht zu Lasten der Muttersprache (Deutsch) gehen. Besonders bewährt haben sich Kitas, die den Ansatz der Immersion mit zwei Sprachen verfolgen, denn hier wird die neue Sprache als Alltags- und Kommunikationsmittel eingesetzt und nicht im Rahmen eines Kurses. Gearbeitet wird nach dem Prinzip „eine Person - eine Sprache“, d. h. in jeder Kita-Gruppe gibt es zumeist zwei Erzieherinnen bzw. Erzieher, von denen die/ der eine Deutsch und die/ <?page no="287"?> 278 AnjaK.Steinlen-&ThorstenPiske der andere ausschließlich die Zielsprache (z. B. Englisch oder Französisch) spricht. Solange die Kinder über keine oder nur über begrenzte Kenntnisse in ihrer L2 verfügen, wird in der Kommunikation stark auf extraverbale und visuelle Mittel zurückgegriffen (Gestik, Mimik, Bilder und Realia). Die enge Verzahnung zwischen Sprache und dargestelltem Handeln wird jedoch mit steigender Sprachkompetenz der Kinder zurückgenommen. Insgesamt hat sich der Ansatz der frühen Immersion als das weltweit erfolgreichste und am gründlichsten erforschte Sprachlehr- und -lernverfahren erwiesen (z. B. Wesche 2002). Die Ergebnisse des EU-geförderten ELIAS- Projekts ( Early Language and Intercultural Acquisition Studies , Kersten et al. 2010) zeigten in den Sprachstandserhebungen zur Zielsprache Englisch insgesamt einen deutlichen Zuwachs des Hörverstehens, unabhängig davon ob die L1 der Kinder Deutsch, Französisch oder Schwedisch war. Insgesamt sind die rezeptiven Kenntnisse den produktiven voraus und das Hörverstehen im Englischen entwickelte sich besser, je länger und intensiver der Kontakt mit der neuen Sprache war. Gleiches ist bei gleichen Voraussetzungen prinzipiell auch für andere Zielsprachen anzunehmen. In Bezug auf zweisprachige Kinder mit Migrationshintergrund (↗ Art. 51, 100) sind die Ergebnisse des ELIAS-Projekts besonders ermutigend: Zum einen unterschieden sich diese Kinder nicht von einsprachig aufwachsenden Kindern in der Entwicklung des Hörverstehens im Englischen. Zum anderen differierten die Deutschleistungen von solchen Kindern nicht signifikant von denen ihrer einsprachig aufwachsenden Altersgenossen. Allerdings ist einschränkend zu sagen, dass die getestete Gruppe relativ klein und deshalb nicht repräsentativ war. Dennoch scheinen bilinguale Kitas einen guten Lernort darzustellen, der es Kindern ermöglicht, zusätzlich zu ihren mitgebrachten Sprachen ihre Umgebungssprache Deutsch und eine Fremdsprache zu erwerben. 4. Praxisrelevanz Welche Bedingungen tragen also zum erfolgreichen Zweitbzw. Fremdsprachenerwerb in der Kita bei? Bewährt hat sich eine Kombination aus frühem, intensivem und kontinuierlichem Kontakt mit der neuen Sprache, mit reichem und authentischem Input in relevanten Kontexten. Sodann scheint der produktive Umgang mit der Zielsprache bei den Kindern positive Effekte zu zeitigen (z. B. Doyé 2009; Steinlen & Piske 2016). Darüber hinausgehend plädiert Schmidt (2018) dafür, nicht nur sprachfördernde Aktivitäten ergänzend zur alltagsintegrierten Sprachförderung anzubieten, sondern auch die Erstsprachen der Kinder im Alltag der Kita hörbar und sichtbar zu machen (z. B. durch Wörter, Begrüßungsrituale, Lieder oder Redewendungen in den verschiedenen Erstsprachen, der Umgebungssprache und der Fremdsprache); die Sprachen untereinander bewusst in Beziehung zu setzen (z. B. durch Sprachenvergleich); die gegebene Mehrsprachigkeit der Familien auch in der pädagogischen Raumgestaltung und der Materialauswahl stärker zu berücksichtigen und, was das Deutsche betrifft, schließlich auf Unterschiede zwischen der Alltags- und der erzählenden Sprache einzugehen (z. B. durch das Vorlesen von Märchen oder Sachgeschichten). <?page no="288"?> 279 53. Mehrsprachigkeits ansätzeinvorschulischenBildungseinrichtungen 5. Perspektiven Um Mehrsprachigkeitsansätze (↗ Art. 7) erfolgreich in vorschulischen Bildungseinrichtungen zu etablieren, ist es unerlässlich, Eltern einzubinden: Die Pflege der Familiensprachen liegt weiterhin in ihren Händen. Gemeinsame Gespräche, die Pflege der Herkunftssprache mit dem Kind, gemeinsame Aktivitäten sowie das Vorlesen stärken die Erstsprachenkompetenz des Kindes (Steinlen & Piske 2016). Zur Umsetzung bedarf es pädagogischer Kräfte, die willens und in der Lage sind, die Vermittlung der Sprachen sensibel zu gestalten. Dazu gehört eine gewisse Offenheit und ein Wissen über Mehrsprachigkeit, das spracherwerbliche Kenntnisse und Vermittlungsstrategien einschließt, um Mehrsprachigkeit sinnvoll in das pädagogische Alltagsgeschehen zu integrieren. Das bedeutet auch, dass das Thema Mehrsprachigkeit in der Aus- und Fortbildung von pädagogischen Kräften im Elementarbereich stärker als bisher in den Vordergrund treten muss (↗ Art. 27). Da die Bildungspläne der Bundesländer die Förderungswürdigkeit der Mehrsprachigkeit betonen, sollte deren Potenzial weiter ausgeschöpft werden. Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018): Bildung in Deutschland 2018 . Bielefeld. BMBF (2015): Ergebnisse der Evaluation des Bundesprogramms „Schwerpunkt-Kitas Sprache-& Integration“. [https: / / sprach-kitas.fruehe-chancen.de/ fileadmin/ PDF/ Sprach-Kitas/ Evaluation_SPK.pdf]. Doyé, P. (2009): Didaktik der bilingualen Vorschulerziehung . Tübingen. FMKS, Verein für frühe Mehrsprachigkeit an Kitas und Schulen (2014): Bilinguale Kitas in Deutschland . [https: / / www.goethe.de/ resources/ files/ pdf92/ fmks_bilinguale-kitas-studie2014.pdf]. Kersten, K., Rohde, A., Schelletter, C. & Steinlen, A. K. (Hrsg.) (2010): Bilingual Preschools. Vol. I: Learning and Development. Vol. II: Best Practices . Trier. Ländermonitor (2017): KiTas nach ihrem Anteil an Kindern mit nicht-deutscher Familiensprache . 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Andere Kinder haben in den ersten Lebensjahren zunächst Kontakt mit ihrer/ ihren Herkunftssprache(n) und erwerben erst später, z. B. im Kindergarten, die Umgebungssprache Deutsch, wozu in der Grundschule die erste Fremdsprache als dritte Sprache (L3) hinzukommt. Für einsprachig Deutsch aufwachsende Kinder stellt die in der Grundschule gelernte Fremdsprache dagegen die L2 dar. 2. Problemaufriss In Deutschland wird häufig von (vermeintlich) schwächeren Leistungen berichtet, die zwei- oder mehrsprachig aufwachsende Kinder mit Migrationshintergrund im Vergleich zu einsprachig Deutsch aufwachsenden erbringen. Dabei scheint ein Migrationshintergrund in Verbindung mit der in der häuslichen Lernumwelt vorherrschenden Familiensprache einen Risikofaktor für den hinreichenden Erwerb der deutschen Sprache und damit gleichzeitig für den Bildungserfolg darzustellen (z. B. OECD 2016). Der Faktor Migrationshintergrund korreliert allerdings mit einer Reihe von Faktoren, die die Leistung von Schülerinnen und Schülern deutlich beeinflussen können: So zeichnen sich Familien mit Migrationshintergrund in Deutschland oftmals durch einen vergleichsweise niedrigeren sozioökonomischen Status und ein geringeres Bildungsniveau aus (z. B. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). Insofern muss immer wieder kritisch überprüft werden, ob die von Kindern mit Migrationshintergrund gezeigten Leistungen tatsächlich von ihren sprachlichen und kulturellen Hintergründen abhängen oder vornehmlich durch Faktoren wie Bildungsnähe und sozioökonomischen Status bedingt sind (↗ Art. 38). 3. Forschungsstand In mehreren Vergleichsstudien zu Deutschleistungen in der Grundschule erzielten zwei- oder mehrsprachig aufwachsende Kinder oftmals schlechtere Ergebnisse als vergleichbare einsprachige (z. B. Bos & Pietsch 2006; Schwippert et al. 2012). Uneinheitliche Ergebnisse liegen dagegen für Leistungen im Fremdsprachenunterricht vor: In einigen Studien erbrachten zwei- oder mehrsprachig aufwachsende Grundschulkinder gleich gute oder bessere Leistungen als einsprachig Deutsch aufwachsende (z. B. Keßler & Paulick 2010), in anderen Studien schlechtere Leistungen (z. B. May 2006). In einer der Untersuchungen, in denen mehrsprachige Grundschüler schlechtere Leistungen erzielten als einsprachige, zog Elsner (2007: 245 f.) die Schlussfolgerung, dass „die sprachlichen Kompetenzen vieler zwei- oder <?page no="290"?> 281 54. Mehrsprachigkeitals HerausforderungundChanceinderGrundschule mehrsprachiger Kinder in ihrer Muttersprache und ihrer Zweitsprache nicht auszureichen scheinen, um im schulischen Fremdsprachenunterricht (wie er derzeit konzipiert ist) hinreichende Lernerfolge erzielen zu können“. Anders konzipiert sind z. B. bilinguale Fremdsprachenkonzepte wie der Ansatz der frühen Immersion, bei denen mehrere Fächer (also mehr als 50 % der Unterrichtszeit) in einer bestimmten Fremdsprache unterrichtet werden. In solchen Kontexten zeigten Sprachstandserhebungen bisher kaum Unterschiede zwischen mehrsprachigen und einsprachig Deutsch aufwachsenden Grundschulkindern auf, und zwar weder in Bezug auf ihre Deutschleistungen noch auf ihre sprachlichen Leistungen in der Fremdsprache (z. B. Steinlen & Piske 2013; Steinlen 2016; 2018). Verschiedene Gründe können dazu beitragen, dass mehrsprachige Grundschüler eventuell zwar schlechtere Deutschleistungen, aber ebenso gute Leistungen in einer Fremdsprache erbringen wie einsprachig Deutsch aufwachsende Kinder (z. B. Piske 2018): So profitieren Mehrsprachige im Fremdsprachenunterricht unter Umständen davon, dass die Fremdsprache für alle Schüler neu ist und sie daher mit einsprachig aufwachsenden Schülern eher „in einem Boot sitzen“ als im Fach Deutsch und den in deutscher Sprache unterrichteten Fächern. Des Weiteren ist es möglich, dass mehrsprachig aufwachsende Schüler besonders von der Anschaulichkeit bzw. dem hohen Maß an Kontextualisierung (also dem Einbezug von Mimik und Gestik) von Sprache profitieren, durch den sich nicht nur der Anfangsunterricht in einer Fremdsprache, sondern z. B. auch bilinguale Angebote wie die Immersion auszeichnen, d. h. von der engen Verflechtung von Sprache und Handlung im Unterricht. Darüber hinaus entwickeln mehrsprachig aufwachsende Schülerinnen und Schüler durch den kontinuierlichen Umgang mit mehreren Sprachen schon früh ein höheres Maß an Sprachenbewusstheit (↗ Art. 22), das ihnen das Erschließen weiterer Sprachen in der Schule erleichtert, weil sie den Wortschatz, die Grammatik und die Aussprache dieser Sprachen zu bereits gelernten Sprachen in Beziehung setzen können. 4. Praxisrelevanz Vor dem Hintergrund der vorliegenden Forschungsergebnisse wird immer wieder für eine ‚integrative Sprachenpädagogik‘ an Grundschulen plädiert. Mehrsprachigkeit und Multikulturalität (↗ Art. 7, 8) sollen also in den Unterricht integriert und dessen Fokus damit nicht nur auf die Förderung einer einzigen Sprache, etwa Deutsch im Deutschunterricht oder Englisch im Englischunterricht, gelegt werden (z. B. Elsner 2007; Hu 2018). Wie das in einer Grundschulklasse vorhandene mehrsprachige und multikulturelle Potenzial genutzt werden kann, haben z. B. schon Hélot & Young (2006) im Zusammenhang mit dem so genannten projet Didenheim beschrieben. Um bei den Kindern einer Grundschule im Elsass das Bewusstsein für andere Sprachen und Kulturen zu fördern, wurden alle von den Kindern der Grundschule gesprochenen Herkunftssprachen in Zusammenarbeit mit den Eltern und im Rahmen mündlicher und schriftlicher ‚bewusstmachender‘ Aktivitäten (bei denen die Aufmerksamkeit der Lernenden auf eine bestimmte sprachliche Struktur gelenkt wird) an der Schule vorgestellt (↗ Art. 101). Als Vorteile eines solchen Ansatzes werden u. a. genannt, dass die Schülerinnen und Schüler ein hohes Maß an Sprachenbewusstheit entwickeln, alle Herkunftssprachen Anerkennung erhalten, die Lehrkräfte Kenntnisse über die <?page no="291"?> 282 ThorstenPiske-&AnjaK.Steinlen Sprachen ihrer Schüler erwerben und zur Reflexion ihrer eigenen Sprachlernerfahrungen angeregt werden. Um mehrsprachige Kompetenz effizient fördern zu können, sollten im Deutschunterricht sowie im Fremdsprachenunterricht Anregungen geschaffen werden, die strukturellen Merkmale der in der Schule präsenten Sprachen mit ihren bisher gelernten Sprachen in Beziehung zu setzen, Parallelen und Unterschiede zu erkennen und so die strukturellen Besonderheiten aller von ihnen gelernten Sprachen immer stärker zu durchdringen (↗ Art. 106). 5. Perspektiven Inwieweit solche bewusstmachenden Aktivitäten und auch sprachkontrastives Arbeiten das Erlernen des Deutschen oder einer Fremdsprache an Grundschulen etwa im Bereich des Wortschatzes, der Grammatik und der Aussprache konkret unterstützen, ist bisher nur relativ wenig empirisch untersucht worden. Nur auf der Grundlage solcher Untersuchungen wird sich aber entscheiden lassen, welche Mehrsprachigkeit integrierenden Materialien und bewusstmachenden Verfahren wirklich dazu geeignet sind, das Erlernen von Sprachen wirksam an Grundschulen zu begleiten. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Grundschulkinder nur durch positive Einstellungen gegenüber Mehrsprachigkeit und Multikulturalität gleichsam automatisch in mehreren Sprachen eine hohe Kompetenz aufbauen können. Vermutlich wird ein Kind beim Aufbau einer mehrsprachigen Kompetenz vielmehr von solchen Unterrichtsmaterialien (und -verfahren) profitieren, die seinen spezifischen sprachlichen Hintergrund in angemessener Weise berücksichtigen. So sind z. B. Übungen zur Aussprache der im Englischen vorkommenden stimmlosen und stimmhaften dentalen Frikative <th> für Deutschsprachige sinnvoller als für diejenigen, die z. B. mit Griechisch oder Arabisch (↗ Art. 107) aufgewachsen sind, weil dentale Frikative im deutschen Lautinventar nicht vorkommen, jedoch den Lautsystemen der anderen beiden Sprachen angehören. Mit solchen Übungen können auch schon Grundschulkinder in Bezug auf die Herkunftssprachen in ihrer Klasse, deren Lautinventare und damit auf sprachübergreifende Lautunterschiede sensibilisiert werden, wenn die Lehrkraft diese Übungen in den Mehrsprachigkeitskontext entsprechend einbettet. Natürlich können sich Lehrkräfte nicht im Detail mit allen von ihren Schülerinnen und Schülern gesprochenen Herkunftssprachen vertraut machen (siehe jedoch Krifka 2014 für Informationen über häufige Sprachen, die im mehrsprachigen Klassenzimmer anzutreffen sind), aber schon ein hohes Maß an Verständnis für den Spracherwerb kennzeichnende Phänomene und Prozesse sowie für einige grundsätzliche strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die es zwischen Sprachen geben kann, wird es ihnen erleichtern, ihre Schülerinnen und Schüler gezielter in ihrer mehrsprachigen Entwicklung zu fördern (↗ Art. 25, 26). Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018): Bildung in Deutschland 2018 . Bielefeld. Bos, W. & Pietsch, M. (2006): KESS 4: Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern am Ende der Jahrgangsstufe 4 in Hamburger Grundschulen . Münster. <?page no="292"?> 283 55. ÜbergangsdidaktikvonderPrimar-zur Sekundarstufe Elsner, D. (2007): Hörverstehen im Englischunterricht der Grundschule. Ein Leistungsvergleich zwischen Kindern mit Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Zweitsprache . Frankfurt a. M. Hélot, C. & Young, A. (2006): Imagining Multilingual Education in France: A Language and Cultural Awareness Project at Primary Level. In: O. García, T. Skutnabb-Kangas & M. E. Torres-Guzmán (Hrsg.): Imagining Multilingual Schools-- Languages in Education and Glocalization . Clevedon, 69-90. Hu, A. (2018): Plurilinguale Identitäten? Entwicklungen in der Theoriebildung und empirische Forschungsergebnisse zur Mehrsprachigkeit an Schulen. In: Language Education and Multilingualism 1/ 2018, 66-84. [https: / / edoc.hu-berlin.de/ handle/ 18452/ 19777]. 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In: ZAA - Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 61/ 3, 215-244. Thorsten Piske-& Anja K. Steinlen 55. Übergangsdidaktik von der Primar- zur Sekundarstufe 1. Begrifflichkeit Unter Didaktik des Übergangs (Mertens 2000) versteht man Maßnahmen, Prinzipien und Haltungen, die dazu beitragen, das Erlernen einer Fremdsprache ab der Grundschule in der Sekundarstufe bruchlos fortzusetzen. Der Be- <?page no="293"?> 284 JürgenMertens griff steht neben einer Reihe anderer Benennungen (z. B. Nahtstellen-, Weiterführungs-, Übergangsproblematik); diese akzentuieren verstärkt die veränderte Ausgangslage für die Sekundarstufe. Eine Didaktik des Übergangs verbindet die Schularten in zeitlicher Hinsicht, indem sie sich auf die Spanne von Klasse 3 bis 6 bezieht; umfasst eine inhaltliche Schnittmenge, die zum gemeinsamen Unterrichtsgegenstand wird und greift auf ein gemeinsames Methodenrepertoire zurück, das altersentsprechend weiterentwickelt wird (vgl. Mertens 2003: 161). Die Didaktik des Übergangs greift sprachenpolitische Entwicklungen auf und thematisiert die damit einhergehenden Konsequenzen hinsichtlich der Erwartungen an die Lehrkompetenz von Primar- und Sekundarstufenlehrkräften unter administrativer, didaktischer, methodischer und ausbildungstheoretischer Perspektive (↗ Art. 25, 26, 27, 28). Die administrative Komponente bezieht sich auf schulorganisatorische Maßnahmen, die die Kontinuität des Lernens im Bildungsgang sicherstellen. Dies kann z. B. geschehen, indem die in der Primarstufe begonnenen Sprachlernprozesse (↗ Art. 54) ohne Unterbrechung angeboten (d. h. Fortführung der Grundschulfremdsprache in der Sekundarstufe), zu erreichende Inhalte und Kompetenzen in den Bildungsplänen der jeweiligen Schulart formuliert sowie ein Minimalkonsens als Ausgangsbasis für die Sekundarstufe definiert (z. B. Saarland, Baden-Württemberg), der Lernprozess in Form eines Abschlussprofils dokumentiert und die Ziel- und Kompetenzorientierung des frühen Fremdsprachlernens nachgewiesen werden (z. B. Saarland). Im Rahmen einer Didaktik des Übergangs ist die didaktische Abstimmung von Ziel- und Kompetenzerwartung zwischen den beiden Schularten zu leisten. Dies bedeutet, dass Zonen der Überlappung (Mertens 2003: 166) geschaffen werden, die sich aus der Schnittmenge von erreichten Zielen und Erwartungen der Sekundarstufe ergeben. Ein solcher Konsens könnte sein: die Beschränkung auf ausgewählte produktiv beherrschte Redemittel, die Fokussierung auf bestimmte Fertigkeiten (z. B. Hörverstehen, Sprechen), die Berücksichtigung prozessualer Kompetenzen (z. B. Sprachlernkompetenz, Kommunikations- und Lernstrategien). In methodischer Hinsicht bedeutet Didaktik des Übergangs die Übernahme und altersgemäße Weiterentwicklung von aus der Grundschule bekannten Prinzipien und Verfahrensweisen in der weiterführenden Schulart. Dazu zählen die Prinzipien der Anschaulichkeit, der Wiederholung, der Kindgemäßheit, des integrativen Arbeitens sowie der Spiel- und Handlungsorientierung, spezifische Unterrichtsformen (z. B. Stuhlkreis, Lernzirkel, Freiarbeit) und Rituale (z. B. Begrüßung / Verabschiedung, Hausaufgaben, Klassendienste, Aufstuhlen, etc.). Im Rahmen einer Didaktik des Übergangs kommt der Lehrkompetenz der beteiligten Lehrkräfte eine zentrale Bedeutung zu (↗ Art. 25). Um den Brückenschlag zwischen den Schularten zu leisten, verfügen sie über diagnostische Kompetenzen, um einerseits Lernleistungen zu dokumentieren und andererseits „Anschlusspunkte für Neues [zu] entdecken und diese als Planungsimpulse für den weiteren Unterricht zu begreifen“ (Legutke 2002: 102). Sie haben soziale Kompetenzen, die im Rahmen von Hospitationen, Lehreraustausch und gemeinsam verantworteten Arbeitskreisen zum Erfahrungsaustausch etc. zum Tragen kommen. Eine Selbstreflexionskompetenz ermöglicht ihnen die Auseinandersetzung mit und die Fortentwicklung von ihren individuellen lern- und berufsbiographischen Grundein- <?page no="294"?> 285 55. ÜbergangsdidaktikvonderPrimar-zur Sekundarstufe stellungen. Eine souveräne alltagssprachliche Zielsprachenkompetenz schafft in der Primarstufe ein immersives und holistisch geprägtes Sprachlernklima und ist andererseits die Basis dafür, dass die Sekundarstufenlehrkräfte die Voraussetzungen schaffen, „um Können [zu] entdecken und nicht Defizite auf[zu]decken“ (ebd.). 2. Problemaufriss Fremdsprachen wurden traditionellerweise erst in der weiterführenden Schule gelehrt (↗ Art. 29, 30). Das muttersprachliche System sollte ausreichend aufgebaut und die kognitive Reife der Schüler und Schülerinnen vorhanden sein, um eine andere Sprache lernen zu können. Diverse Schulversuche zeigten jedoch, dass auch jüngere Kinder unter institutionellen Bedingungen dazu fähig sind (vgl. z. B. Jaffke 1994; Pelz 1999; Sauer 2004). Die Zielsetzungen im Lernbereich Fremdsprache an der Grundschule waren indes sehr breit gefächert, so dass bspw. aufgrund des sog. Burstall-Berichts (1974) die Effektivität des frühen Fremdsprachenlernens in Frage gestellt wurde und French in the Primary School in Großbritannien zum Erliegen kam. Unter dem Stichwort Konzeptionenstreit wurde in den 1990er Jahren innerhalb der deutschen Fremdsprachendidaktik darüber gestritten, ob der frühe Fremdsprachenunterricht mehr das Ziel Sensibilisierung für Sprache/ n oder das des Fremdspracherwerbs verfolgen solle. Die in dieser Auseinandersetzung einander gegenübergestellten Begriffe ‚Erlebnisund. Ergebnisorientierung‘ umschreiben schlagwortartig die unterschiedlichen Positionen in dieser Frage (vgl. Mertens 2001; 2018). Unter dem Einfluss der europäischen Sprachenpolitik (↗ Art. 12) wurde seit der Jahrtausendwende europaweit der Fremdsprachenunterricht sukzessive in den Primarbereich vorverlegt, weshalb man hier von einem Wendepunkt in der Geschichte des Fremdsprachenlernens sprechen kann (Mertens 2001). Nur wenige deutsche Bundesländer entschieden sich (meist ab Klasse 3, z.T. ab Klasse 1) im Sinne eines mehrsprachig ausgerichteten Sprachenangebots in der Grundschule für andere Fremdsprachen als Englisch (↗ Art. 21). In der Regel handelte es sich dabei um Französisch, das aus regionalen und historischen Gründen (Saarland, in der Rheinschiene Baden-Württembergs) angeboten wurde. Vereinzelt wurde der Kanon auch um Italienisch oder Tschechisch (z. B. Sachsen oder Thüringen) erweitert. Mehrheitlich ist daher Englisch die in der Grundschule angebotene Fremdsprache, was vor allem im Hinblick auf die Kontinuität des Fremdsprachenlernens und die durch seine globale Verwendung begründete besondere Bedeutung des Englischen begründet wird. 3. Forschungsstand Mit der Formel ‚Anknüpfung statt Weiterführung‘ (Mertens 2000) wird der Fokus auf die gemeinsame Verantwortung der abgebenden wie auch der aufnehmenden Schulart(en) für den Fremdsprachenerwerb gelegt. Zugleich impliziert Anknüpfung einen Perspektivwechsel: weg von einer durch die Sekundarstufen geprägten Erwartungshaltung hin zu einer Haltung, die sich an den Rahmenbedingungen der Primarstufe und am Lerner, insbesondere seinen individuellen psycho-kognitiven Lernmöglichkeiten orientiert und diese Voraussetzungen zum Ausgangspunkt des Fremdsprachenunterrichts ab der Sekundarstufe macht. Vorwissen und Vorerfahrungen der Grundschulkinder (vgl. Mertens 2000: 149) definieren einen Anfangs- <?page no="295"?> 286 JürgenMertens unterricht unter neuen Bedingungen und bilden die Grundlage für die Didaktik des Übergangs. Die föderale Struktur Deutschlands und regionale Sonderwege (z. B. Baden-Württemberg mit 2 regional unterschiedlichen Grundschulfremdsprachen) bedingen eine Vielzahl an unterschiedlichen Möglichkeiten, um die Grundschulfremdsprache fortzuführen. In der Regel wird die Fremdsprache der Grundschule ab Klasse 5 als sog. fortgeführte Fremdsprache angeboten. Da es sich mehrheitlich um Englisch handelt, stellt dies für die Schulorganisation keine Herausforderung dar. In den Landesteilen mit Französisch als Grundschulfremdsprache ist die Praxis der Fortführung - verschärft durch die Parallelität von G8 und G9 im Gymnasialbereich - weitaus komplexer und heterogener; verkürzt kann man sagen, dass unter dem Einfluss des Elternwillens Sprachenfolgen möglich geworden sind, die für das Französische eher ungünstig sind (z. B. starker Rückgang von Französisch als 1. Fremdsprache). Idealerweise wird Französisch fortgeführt und Englisch als 2. Fremdsprache ab Klasse 6, selten parallel ab Klasse 5 angeboten, um das Potenzial von Französisch für das Erlernen weiterer romanischer Sprachen ausschöpfen zu können. Ermöglicht wird bspw. auch ein Neubeginn mit Englisch ab Klasse 5 und die Wahl von Latein ab Klasse 6, ohne Französisch fortzuführen. Im mittleren Schulwesen (Real-/ Regel-/ Gemeinschaftsschulen) ist die 1. Fremdsprache mit Englisch i. d. R. gesetzt, so dass mit sog. Brückenkursen Kenntnisse aus einer anderen Grundschulfremdsprache lebendig gehalten werden sollen, ehe sie als 2. Fremdsprache ab Kl. 6 bzw. 7 wiedereinsetzt. Zahlreiche Forschungsarbeiten haben in den letzten zwei Jahrzehnten dazu beigetragen, die Leistungen des frühen Fremdsprachenlernens aufzuzeigen und seine Rolle zu legitimieren. Ausgewählte Kompetenzbereiche (Sprechen, Lesen, Schreiben) standen dabei besonders im Fokus (z. B. Diehr & Rymarczyk 2015; Sambanis 2007). Komplementär dazu steht der den Pluralen Ansätzen zuzuordnende Eveil aux langues (Candelier 2003), der einem Mehrsprachigkeitsansatz nahesteht und über die exemplarische Beschäftigung mit Sprache/ n in verschiedenen Sprachen nutzbare Kompetenzen zum Ziel hat (vgl. Mertens 2018). Gerade im Hinblick auf die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit innerhalb von Lerngruppen kommt der Frage der Sprachenbewusstheit ( language awareness ) eine zentrale Rolle zu: „ Not to include some comparative/ contrastive dimensions where pupils already have experience in learning a second language is to ignore a very valuable resource “ (McCarthy 1994: 7). Cummins (2012) sieht in sprachsensibilisierenden Ansätzen, wie Eveil aux langues, ein geeignetes Instrument dafür, Lerner handlungsfähig zu machen, indem ihr mitgebrachtes kulturelles Kapital gewürdigt, ihnen der Zugang zu Kulturinhalten eröffnet und ihr Interesse an Sprache und ein bewusster Umgang mit ihr ermöglicht wird (vgl. ebd.: 53). Eine Didaktik des Übergangs ist insofern nicht allein auf die einzelne Fremdsprache zu beziehen, sondern hat Ressourcen sowohl aus den Herkunftssprachen wie auch aus der Umgebungssprache der Lerner mit zu berücksichtigen, als Lernimpulse wie auch als Lernziele im Hinblick auf eine mehrkulturell und mehrsprachig geprägte Bildung. 4. Praxisrelevanz Für die Akzeptanz der Leistungen des Fremdsprachenfrühbeginns wie auch der des einzelnen Lerners ist das Gelingen des Übergangs von großer Relevanz. „Der Übergang von ei- <?page no="296"?> 287 55. ÜbergangsdidaktikvonderPrimar-zur Sekundarstufe ner Schulart in die andere ist für die Entwicklung des jungen Menschen von so weittragender Bedeutung, dass er mit aller Behutsamkeit und Sorgfalt vorbereitet und vollzogen werden muss“ (KMK 1966, zit. nach KMK 2006: 5). Vielfach wurden daher Vorkehrungen getroffen (Bildungspläne / -standards, fortgeführte Fremdsprache, Lehrerfortbildung), um die beiden Schularten miteinander zu verknüpfen. Lernmaterialien wurden entwickelt, die das Augenmerk der aufnehmenden Schularten auf die Diagnose, Wiederholung und den Ausbau von in der Grundschule erworbenen Kompetenzen und Sprachwissen legten und den Lehrkräften „eine andere Sichtweise von fremdsprachlichen Lernleistungen abverlangten“ (Mertens 2006: 8) - jenseits des quantifizierbaren und direkt Wahrnehmbaren - als sie dies landläufig gewöhnt waren. 5. Perspektiven Der Fremdsprachenfrühbeginn ist ein etablierter Bestandteil des fremdsprachlichen Curriculums (↗ Art. 54). Es bleibt abzuwarten, ob die damit verbundene Hoffnung auf eine individuelle Mehrsprachigkeit erhöht werden kann. Der Anteil von Englisch mit ca. 95 % beim Frühbeginn verdrängt das Erlernen weiterer Sprachen in die Pubertät, wo die Fremdsprachen nicht nur untereinander, sondern auch mit anderen Fächern und Lernbereichen in Konkurrenz stehen. Die geringe Diversifizierung von Fremdsprachenangebot und Sprachenfolgen beschränkt die Möglichkeiten, optimale Lernwege und Sprachenfolgen zur Erreichung des mehrsprachigen Minimums zu erforschen (Meißner et al. 2008: 160 ff.). Die Forschungen zum Frühbeginn haben eine Bandbreite an Ergebnissen erbracht, so dass die Geberseite Einiges vorweisen kann. Dem stehen nur wenige Untersuchungen zu Beginn der Sekundarstufe gegenüber (z. B. Manno 2017). Die Beforschung des Lehrerhandelns im Rahmen einer Didaktik des Übergangs stellt gegenwärtig, von Ausnahmen abgesehen (z. B. Kolb & Legutke 2019), ein Desiderat dar, wäre jedoch eine notwendige Informationsquelle für Maßnahmen zur Förderung mehrsprachiger Kompetenz in unseren modernen Gesellschaften. Literatur Burstall, C. (1974): Primary French in the Balance. Windsor. Candelier, Michel (dir.) (2003): L’éveil aux langues à l’école primaire. Evlang: Bilan d’une innovation européenne. Louvain-la-Neuve. Cummins, J. (2012): Language Awareness and Academic Achievement among Migrant Students. In: C. Balsiger, D. Bétrix Köhler, J.-F. de Pietro & C. Perregaux (dir.): Eveil aux langues et approches plurielles. De la formation des enseignants aux pratiques de classe. Paris. Diehr, B. & Rymarczyk, J. (Hrsg.) (2015): Researching Literacy in a Foreign Language among Primary School Learners. Forschung zum Schrifterwerb in der Fremdsprache bei Grundschülern. Frankfurt a. M. u. a. Jaffke, C. (1994): Fremdsprachenunterricht auf der Primarstufe: seine Begründung und Praxis in der Waldorfpädagogik. Weinheim. 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Aufriss und Verortung Vorbehalte gegenüber sprachenübergreifenden Ansätzen wie der Interkomprehension (hinfort I.) sind vor allem in wenig realistischen und überzogenen Ansprüchen an die zu erwerbende Sprachkompetenz begründet (↗ Art. 26). Dagegen weisen empirische Untersuchungen zu interkomprehensiv basierten Unterricht deutlich positive Ergebnisse aus (u. a. Bär 2009). Dies verdichtet sich in der verbreiteten Vorstellung: Mehrere Sprachen sprechen heißt keine richtig sprechen. Die Aussage definiert weder „richtig“ (Akzent und Aussprache, Satzeuphonik, Morphologie, Syntax, Wortschatz, Situationsadäquanz; so schon Möhle & Raupach 1993) noch differenziert sie nach den Teilfertigkeiten (Hörverstehen, Sprechen und Lesen und Schreiben) noch ist sie daran gemessen, was in einem mehrjährigen normalen Fremdsprachenunterricht überhaupt erreichbar ist. Auch die Orientierung am Ideal des native speaker ist wenig hilfreich. Schließlich trägt das dogmatische Festhalten am Gebot der Einsprachigkeit (Butzkamm 1973) und das explizite Verbot des Rückgriffs auf die Muttersprache oder auf bereits gelernte Fremdsprachen zur Verbreitung des Irrtums bei, zeigten doch Studien zum mehrsprachigen mentalen Lexikon (↗ Art. 62) zudem, dass sprachliche Schemata nicht getrennt voneinander gelernt und gespeichert werden, sondern oft miteinander interagieren (u. a. Meißner 2018: 108). Die Interaktion kann als Interferenz zwar zu falschen Freunden führen, doch übersteigt die Zahl der echten Freunde bei weitem die der falschen (↗ Art. 64). Sprachvergleichende, zur Identifikation von falschen und echten Freunden führende Verfahren sind daher auch eine Strategie der Fehlerprophylaxe - etwa wird die semantische Gleichsetzung von engl. gift (Gabe, Geschenk) mit dt. Gift nicht dadurch vermieden, dass sie nicht bewusst gemacht wird. Wenn Schüler eine zweite Fremdsprache zu lernen beginnen, verfügen sie neben ihrer Mutter- und gegebenenfalls Herkunftssprache sowohl bereits über mehrsprachige Kenntnisse als auch über Erfahrungen mit dem Lernen von Sprachen. Das sich hier andeutende H Mehrsprachigkeit und Interkomprehension <?page no="299"?> 290 SteffiMorkötter Vernetzungspotential sollte zweifach genutzt werden: zum einen prospektiv durch z. B. entsprechende Impulse in der ersten Fremdsprache, zum anderen durch Aufnahme der lingualen und in Sprachlernerfahrungen begründeten didaktischen Transferbasen, die aus den Lernerlebnissen des bereits genossenen Fremdsprachenunterrichts stammen. Die Hypothese ist plausibel und offenkundig zutreffend, dass durch derlei Vergleiche eine Vertiefung und Erweiterung des mehrsprachigen mentalen Lexikons geschieht. Darauf deuten Untersuchungen zur Lernersprache (vgl. De Angelis & Selinker 2001). Der Aspekt der mehrsprachigen Vernetzung bzw. der Berücksichtigung des mehrsprachigen lernersprachlichen Lexikons führt zur Frage der optimalen Grundlegung der Mehrsprachigkeit oder eines Mehrsprachigkeitstypus durch schulische Sprachenfolgen (↗ Art. 69). Linguistisch gesehen gilt hier der Grundsatz: „eine zur Muttersprache einigermaßen distante Sprache als erste Fremdsprache oder Englisch“ sollte die erste fremde Sprache sein, die ein Kind erlernt. Neben diesen beiden Fremdsprachen sollte mindestens eine weitere Fremdsprache im Schulsprachenangebot gehalten werden, so dass sich für deutschsprachige Lerner der Typus einer umfassenden europäischen Mehrsprachigkeit, bestehend aus z. B. Deutsch, Französisch, Englisch und Russisch oder Polnisch, oder einer westeuropäischen Mehrsprachigkeit mit Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch bzw. eine osteuropäische mit Russisch und Tschechisch ergeben kann. Freilich hat Englisch als erste Fremdsprache in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Kritik auf sich gezogen. Neuere Forschungen betonen jedoch zwei Aspekte: Zum einen gelingt es dem Englischen, das Motivationsniveau für das Fremdsprachenlernen hoch zu halten (Morkötter et al. 2010), zum anderen weist der romanische Kernwortschatz in erheblichem Umfang Transferbasen mit dem Englischen auf, und zwar zu 55 Prozent (Meißner 2018: 42) (↗ Art. 98). Eine linguale Transferbasis umfasst deklaratives und/ oder prozedurales Wissen über Lexeme und grammatische Regularitäten (↗ Art. 60). Deren Nutzung erleichtert den Erwerb einer weiteren (Fremd-)Sprache, insbesondere wenn diese derselben Familie wie die schon bekannte Sprache angehört. Der interlinguale Identifikationstransfer spielt für das Sprachenwachstum, nach Ausweis zahlreicher empirischer Arbeiten, eine große Rolle. Wenn ein Schüler im Anfangsunterricht Französisch bspw. einen Text liest, in dem sich eine Französin vorstellt ( Je m‘appelle Marie. J’aime les films de science-fiction… ), so fällt die Aktivierung einer Reihe von hilfreichen Wissensquellen leicht: die Kenntnis der Wörter Marie, Film (dt.) oder film bzw. science-fiction (engl.). Auch die Grammatik ist betroffen: der Plural wird mit „-s“ gebildet, les könnte ein Artikel sein. Um solche Beobachtungen festzuhalten, hat die Interkomprehensionsdidaktik entsprechende Aufgaben- und Übungsformate wie etwa das mehrsprachige persönliche Wörterbuch oder das Konzept der Hypothesengrammatik entwickelt (↗ Art. 70). Neben der Strukturierung von sprachlichem Wissen geht es auch immer um den Einsatz von Strategien (Meißner & Morkötter 2009; Art. 42). Zu (mehrsprachiger bzw. erfahrungsbasierter) Lesekompetenz (↗ Art. 76) gehört darüber hinaus auch das Wissen, den Kotext und den Kontext analysieren zu können, so dass die Bedeutung der Satzanfänge Je m’appelle und J’aime (der Eigenname Marie und les films de science-fiction ) eingegrenzt und verstanden werden kann. Auch Textsortenwissen (wenn man sich vorstellt, gibt man an, wie man heißt, usw.) unterstützt die I. Das <?page no="300"?> 291 56. InterkomprehensionundSprachenwachstum im Vergleich mit dem Hörverstehen größere Zeitfenster beim Leseverstehen und Schreiben (↗ Art. 85) erlaubt andere Möglichkeiten der (Selbst-)Steuerung. 2. Forschungsstand Im deutschsprachigen Kontext ist die lernerseitige Fähigkeit zur Aktivierung von Transferbasen und sprachlernbezogenen Fähigkeiten bislang insbesondere mit Fokus auf romanischer und germanischer I. untersucht worden, wobei zumindest im erst genannten Fall die Probanden in der Regel auch über Englischkenntnisse verfügten. Für germanische I. sind vor allem die Ansätze English after German (EaG) (Marx 2010) und Deutsch als Fremdsprache nach Englisch (DaFnE) (Hufeisen 2006) zu nennen (↗ Art. 87, 88). Für romanische I. durch Germanophone konnte gezeigt werden, dass diese über die - mehr oder weniger bewusste - Bildung von Hypothesen verläuft und dass die hierbei verwendete Brückensprache in der Regel eine andere romanische Sprache ist, insofern die Probanden über entsprechende Kenntnisse verfügen. Doch auch bei keinen oder nicht ausreichenden Kenntnissen in einer romanischen Sprache kann I. durch eine Aktivierung des deutschen Bildungswortschatzes und/ oder von Englischkenntnissen (ebd.) gelingen. Darüber hinaus ist zu betonen, dass eine (Weiter-)Entwicklung von Sprachlernkompetenz, wie oben angedeutet, immer auch ein Ziel von I. ist. Eine Studie zur Förderung von Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) mit sowohl germanischen als auch romanischen Zielsprachen konnte zeigen, dass auch junge Lernende der Sekundarstufe I in der Lage sein können, eine Vielzahl unterschiedlicher Strategien zu verwenden und Transferoperationen durchzuführen (Morkötter 2016). 3. Praxisrelevanz und Perspektiven Die Praxisrelevanz des interkomprehensiven Ansatzes wird, abgesehen von einer bemerkenswerten Progression in den Zielsprachen auch in der Sprachlernkompetenz deutlich. Dies erklärt ihr didaktisches Potential für den herkömmlichen Fremdsprachenunterricht. Dabei versteht sich die Interkomprehensionsdidaktik als Ansatz, der den herkömmlichen Unterricht (↗ Art. 30) ergänzen, nicht ersetzen will (Meißner 2018: 116). Ein Thema, das in diesem Zusammenhang diskutiert wird und weiterer Erforschung bedarf, ist der Aufbau von produktiven Kompetenzen auf der Grundlage von (mehrsprachiger) Lesekompetenz (↗ Art. 76). Auch interkomprehensiv basiertes Hörverstehen (↗ Art. 75) ist bei Disponibilität einer starken Brückensprache möglich (vgl. Meißner & Burk 2001). Bei der Umsetzung rezeptiver in produktive Kompetenzen spielt die Diagnostik des mehrsprachigen Kompetenzniveaus eine Rolle. Das sog. mehrsprachige diagnostische Schreiben (↗ Art. 84) macht den Lernern nicht nur ihre Transferbasen und -prozesse transparent, sondern gibt ihnen auch über den Stand ihrer Lernersprache Auskunft (↗ Art. 85). Daneben gilt es Verfahren zu entwickeln und zu evaluieren, die aus dem Förderungsrepertoire der einzelnen Kompetenzen stammen und mit interkomprehensionsdidaktischen Verfahren in Einklang zu bringen sind. Auch zum Einsatz dieser neuen Übungs- und Aufgabenformate sind weitere anwendungsbezogene Forschungen ein Desiderat. <?page no="301"?> 292 SteffiMorkötter Literatur Bär, M. (2009): Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10 . Tübingen. Butzkamm, W. (1973): Aufgeklärte Einsprachigkeit. Zur Entdogmatisierung der Methode im Fremdsprachenunterricht . Heidelberg. De Angelis, G. & Selinker, L. (2001): Interlanguage Transfer and Competing Systems in the Multilingual Mind. In: J. Cenoz, B. Hufeisen & U. Jessner (Hrsg.): Cross-linguistic Influence in Third Language Acquisition: Psycholinguistic Perspectives . Clevedon, 42-58. Hufeisen, B. (2006): DaFnE, EuroComGerm, EaG Forschungsbeiträge für die Entwicklung eines allgemeinen und doch (noch) idealtypischen Gesamtsprachencurriculums. In: H. Martinez, M. Reinfried & M. Bär (Hrsg.): Mehrsprachigkeitsdidaktik gestern, heute und morgen . Festschrift für Franz-Joseph Meißner. Tübingen, 111-123. Marx, N. (2010): EaG and Multilingualism Pedagogy. An Empirical Study of Students' Learning Processes on the Internet Platform English after German. In: P. Doyé & F.-J. Meißner (Hrsg.): Lernerautonomie durch Interkomprehension: Projekte und Perspektiven / L’autonomisation de l’apprenant par l’intercompréhension: projets et perspectives / Promoting Learner Autonomy through Intercomprehension: Projects and Perspectives. Tübingen, 225-236. Meißner, F.-J. & Burk, H. (2001): Hörverstehen in einer unbekannten romanischen Fremdsprache und methodische Implikationen für den Tertiärsprachenerwerb. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 12/ 1: 63-102. Meißner, F.-J. & Morkötter, S. (2009): Förderung von metasprachlicher und metakognitiver Kompetenz durch Interkomprehension. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 38, 51-69. Meißner, F.-J. (2018): Die Vermessung des Kernwortschatzes der romanischen Mehrsprachigkeit. Eine didaktische Analyse zur interlingualen Transparenz- und Frequenzforschung . In: Giessener Fremdsprachendidaktik: online 11. [http: / / geb.uni-giessen.de/ geb/ volltexte/ 2018/ 13589/ pdf/ GiFon_11.pdf]. Möhle, D. & Raupach, M. (1993): Ausdrucksschwierigkeiten als Merkmal von Lernersprache. Sprachproduktion fortgeschrittener Lerner im Französischen. In: G. Henrici & E. Zöfgen (Koord.): Fehleranalyse und Fehlerkorrektur . Tübingen, 109-128. Morkötter, S., Meißner, F.-J. & Schröder-Sura, A. (2010): Wie sehen Schüler in Deutschland Englischunterricht? Erfahrungen und Erwartungen in einer repräsentativen Untersuchung. In: Die Neueren Sprachen (neue Folge) 1, 27-40. Morkötter, S. (2016): Förderung von Sprachlernkompetenz zu Beginn der Sekundarstufe. Untersuchungen zu früher Interkomprehension. Tübingen. Steffi Morkötter 57. Interkommunikation 1. Begrifflichkeit - allgemein Im Bereich der Mehrsprachigkeitsstudien wird der Begriff „Interkommunikation“ oft verwendet, um die gegenseitige Verständigung zwischen Menschen mit verschiedenen Sprachen bzw. Kulturen zu bezeichnen. Dabei kann es sich um verwandte und interkomprehensible Sprachen handeln oder nicht. Interkommunikation kann verschiedene Formen annehmen. Castagne (2016) erwähnt als Interkommunikationsmodi die Verwendung einer lingua franca , die Sprachmittlung (i.e. meistens die Übersetzung durch eine Mit- <?page no="302"?> 293 57. Interkommunikation telsperson) - die interkulturelle Mediation könnte hinzugefügt werden - und im Falle interkomprehensibler Sprachen die rezeptive Mehrsprachigkeit (↗ Art. 6). Mit dieser Bedeutung wird der Begriff von Klein und Stegmann (2000: 179) genutzt, wenn sie festhalten, dass der Zerfall des römischen Reiches zuerst zu einer „eingeschränkte[n] Interkommunikation“ und später zur Ausgliederung der romanischen Sprachen geführt hat. In diesem Sinne ist Interkommunikation weitgehend Synonym zu „interaktionaler Interkomprehension“ und bezeichnet eine „Kommunikationsform, bei der sich mindestens zwei Kommunikationspartner unter Verwendung unterschiedlicher Produktionssprachen verständigen“ (Ollivier & Strasser 2013: 44). 2. Begrifflichkeit - Interkommunikation in den Interkomprehensionsstudien Mit einem Artikel von Balboni (2007) wurde der Begriff „Interkommunikation“ in der Interkomprehensionsforschung (↗ Art. 85) näher definiert und vor allem der Bezug zur „Interkomprehension“ präzisiert. Balboni verwendet den Begriff wie oben erwähnt im Sinne einer interaktionalen Interkomprehension. Interkommunikation besteht demnach in Balbonis Modell aus Interkomprehension (für den rezeptiven Teil) und Interproduktion (für den produktiven Teil). Diese unterteilt Balboni in mündliche ( inter-parlare ) und schriftliche ( inter-scrivere ) Interproduktion. 3. Forschung und Perspektiven Somit rückt Balboni auch die damals weitgehend unbeachtete produktive Seite der Interkomprehension (↗ Art. 56, 64, 65) ins Licht. Die Interproduktion eröffnet nämlich neue Perspektiven für die Interkomprehensionsforschung und -didaktik (Capucho 2017; Ollivier 2017). Balboni plädiert für Studien, die sich mit den „caratteristiche di testi orali, scritti e multimediali che siano più facilmente comprensibili a parlanti di altre lingue romanze“ (ebd.) befassen. Aus diesen Studien könnten didaktische Vorschläge für das Erlernen der Interproduktion herauswachsen. 4. Interkommunikation oder Interkomprehension? - Diskussion Fragen kann man sich, warum sich die Interkomprehensionsforschung für diese Bezeichnung nicht erwärmen konnte, obwohl sie den großen Vorteil mit sich bringt, das Feld der Interkomprehension zu strukturieren und eine klare Unterscheidung zwischen „interaktionaler Interkomprehension“ (Interkommunikation) und „rezeptiver Interkomprehension“ (Interkomprehension in Balbonis Modell) zu ermöglichen. Tost Planet (2009: 28) vermutet, dass sich die Interkomprehensionsforschung nicht traut, sich von der ursprünglichen identitätsgründenden Bezeichnung ihres Forschungsfeldes zu lösen: „chacun y va donc de sa proposition sans trop oser se dégager de la dénomination première“. Wir glauben, dass sich das Festhalten an der Bezeichnung „Interkomprehension“ mit der Pertinenz des Begriffs erklären lässt. Einerseits ist gegenseitige Verständigung das oberste Ziel der Kommunikation, anderseits ist jede Produktion auch Rezeption. Der Sprachphilosoph <?page no="303"?> 294 ChristianOllivier F. Jacques (2000: 63) betont die Untrennbarkeit der Produktions- und Rezeptionsprozesse und die besondere Bedeutung letzterer: „Ce sont mes oreilles qui te parlent parce que je signifie pour autant que je te comprends. C’est ma voix qui t’écoute parce qu’au fur et à mesure que je parle, j’écoute ou plutôt je parle l’écoute que je te prête de ma propre parole“. Literatur Balboni, P. (2007): Dall’intercomprensione all’intercomunicazione romanza. In: F. Capucho, A. Martins, P. Alves et al. (Hrsg.): Diálogos em intercompreens-o . Lisboa, 447-459. Capucho, F. (2017): Interactions professionnelles plurilingues: entre intercompréhension et interproduction. In: Repères DoRiF 12. [http: / / www.dorif.it/ ezine/ ezine_articles. php? art_id=335]. Castagne, É. (2016): L’intercompréhension des langues romanes comme vecteur de développement géopolitique. In: Hermès, La Revue 75, 131-138. Jacques, F. (2000): Écrits anthropologiques: Philosophie de l’esprit et cognition . Paris. Klein, H. G. & Stegmann, T. D. (2000): Euro- ComRom - Die sieben Siebe: Romanische Sprachen sofort lesen können . 3. Aufl. Aachen. Ollivier, C. (2017): L’interproduction: entre foreigner talk et spécificité en intercompréhension. In: C. Degache & S. Garbarino (Hrsg.): Itinéraires pédagogiques de l’alternance des langues: l’intercompréhension . Grenoble, 337-352. Ollivier, C. & Strasser, M. (2013): Interkomprehension in Theorie und Praxis . Wien. Tost Planet, M. (2009): Introduction. In: M. H. Araújo e Sá, R. Hidalgo Downing, S. Melo-Pfeifer et al. (Hrsg.): A intercompreens-o em línguas românicas: conceitos, práticas, formaç-o . Aveiro, 19-29. Christian Ollivier 58. Europäische Mehrsprachigkeit und Interkomprehension in historischer Sicht 1. Begriffliches: Mehrsprachigkeit und Interkomprehension Die Komposita Mehrsprachigkeit ( plurilingalism, plurilinguisme …) und Interkomprehension ( intercomprehension, intercompréhension ) sind ebenso wie ihre Nachbarbegriffe Zweisprachigkeit , Dreisprachigkeit usw. ( bilingualism, bilinguisme …) und ihre Antonyme Einsprachigkeit ( monolingualism, monolinguisme ) Prägungen jüngeren Datums, z.T. Neologismen. Der Blick auf deren Geschichte macht folgende Vorabklärung erforderlich: Im Definiendum Mehrsprachigkeit begegnet als eindeutiges Kernelement sprach bzw. Sprache . Materiell ist hierunter der gesamte Bestand der Kommunikation ermöglichenden Elemente eines sprachlichen Systems zu verstehen. (Ein System ist ein interagierendes und unabhängiges Ensemble von Einheiten, die ein Ganzes bilden. „La langue est un système qui ne connaît que son ordre propre“, Saussure [1915] 1986: 30). In Bezug auf menschliche Sprachen ist syn- oder diachronische verbale Kommunikation gemeint und in face to face -Situationen kann die Kommunikation von extraverbalen Zeichen begleitet werden ( face work , Kleidung, Gestik usw.). Sprachen umfassen größere oder kleinere Sprechergruppen (Sprachgemeinschaften). Mit zunehmender oder abnehmender kommunikativer Intensität neigen Sprachen zur morphosemantischen Differenzierung. Dies produziert Stabilität oder Dynamik. Sprachen sind Dia- <?page no="304"?> 295 58. EuropäischeMehrsprachig keitundInterkomprehensioninhistorischerSicht systeme, die mehrere Subsysteme, Register oder Varietäten - vor allem Dialekte oder Soziolekte - umgreifen. Sprache und Dialekt (Regiolekt) sind gegeneinander nicht trennscharf: „A shprakh iz a dialekt mit an armey un flot“, bemerkt 1945 Max Weinreich (In: YIVO-Bleter 1945, 25,1, 13) zu ihrer Unterscheidung. Vielfach wurde auch die Interkomprehensibilität zwischen Dialekten einer selben Sprache als Merkmal für die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Sprache angeführt. Dies macht auch deren Eigenschaft als Dachsprache für ein Dialektkontinuum aus. Als weiteres Kriterium wird genannt, dass Sprachen, anders als Dialekte, regelmäßig eine orthographische Norm und eine Schriftsprache aufweisen. Historisch entsteht eine Sprache zumeist aus einer ihrer Varietäten (die sächsische Kanzleisprache der Lutherbibel, gebildet aus mehreren Varietäten des Deutschen; die als ‚bon usage‘ durch die 1635 gegründete Französische Akademie definierte Varietät von Paris in der Färbung von la cour et la ville usf.). Zumeist verbindet sich diese Entwicklung mit der jeweiligen politischen Dominanz, die sich dieser Varietät/ Sprache bedient und sie vorschreibt. Und natürlich verlangt die Emanzipation eines Dialekts zu einer Sprache eine Norm in Gestalt einer kodifizierten Grammatik. Allerdings bedeutet die Existenz einer grammatikographisch festgelegten Norm keineswegs, dass ‚alle‘ Subjekte des Staates, der eine Varietät als Staatssprache definiert, auch diese Sprache hinreichend verstehen und sprechen können. Sprachgemeinschaft und Staatsvolk sind nicht notwendigerweise identisch (↗ Art. 10). So waren die Sprachen unserer nationalen europäischen Staaten bzw. Staatsvölker soziolinguistisch davon gekennzeichnet, dass ihre Sprecher im Vergleich zur Überzahl der Dialektophonen eine immense Minderzahl waren. Als historischer Beleg hierfür wird oft die wohl erste Zählung von Sprachteilhabern eines nationalen Idioms genannt. Wie der Rapport sur la nécessité d‘anéantir les patois et d’universaliser l’usage de la langue française betont , den der Abbé Henri-Baptiste Grégoire dem Pariser Comité de l’Instruction Publique am 30. Juli 1993 vorlegte, beherrschten nur 3 der 26 Mio. Bürgerinnen und Bürger der 1. Französischen Republik deren Sprache. Allerdings stand der Bericht statistisch auf tönernen Füßen. Die Demokratisierung des Französischen in seiner modernen Gestalt kam erst mit der allgemeinen Schulpflicht (Alphabetisierung), der Entwicklung eines breiten Pressewesens, dem nationalen Militärdienst, der Entstehung neuer Berufsgruppen wie der Angestellten, der Industrialisierung, der Urbanisierung und noch im 20. Jahrhundert der Verbreitung des Rundfunks einher. Ähnliche Faktoren lassen sich für die diastratische Verbreitung des nationalen Idioms in anderen Sprachräumen anführen. Nun erst waren die nationalen Sprachen im Sinne ihrer Norm zu Sprachen der (nationalen) Völker geworden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, wird man für ein Sprachgebiet weniger von dessen Interkomprehensibilität sprechen, wohl aber die Komprehensibilität seiner Varietäten voraussetzen und diese auch von den Bürgern verlangen. Der Rückgang der Dialekte in unserer Zeit setzt diese Entwicklung fort (↗ Art. 29, 126). Gilles (2017: 112) findet das Wort intercompréhension erstmalig bei Ronjat (1913). Der Neologismus beschreibt ein Phänomen, das sich innerhalb eines Kontinuums von Dialekten feststellen lässt. Interkomprehension meint also im Kern Komprehension über Sprach- oder Dialektgrenzen hinweg. Interkomprehensible face to face -Kommunikation (↗ Art. 103) ist daher exolingual (wenn jeder Kommunikant seine Sprache spricht und verstanden wird). Eine <?page no="305"?> 296 Franz-JosephMeißner Sprache interkomprehensiv verstehen, heißt, sie zu verstehen, ohne sie in ihrer natürlichen Umgebung erworben oder sie formal erlernt zu haben. Die Interkomprehensibilität zweier oder mehrerer Sprachen ist linguistisch-materiell in ihrem Anteil an erkennbar-gemeinsamen morphosemantischen, syntaktischen, funktionalen und aspektuellen Strukturen (Korrespondenzen, Transferbasen) begründet. Weitere Bedingungsfaktoren liegen in der mentalen Ausstattung der rezipierenden Person. Zusammengefasst lässt sich zu Mehrsprachigkeit und Interkomprehension (↗ Art. 6, 7) feststellen: 1. Interkomprehension erlaubt hochgradige rezeptive Mehrsprachigkeit zwischen Sprachen derselben Familie (oder Nachbarsprachen, mit denen Menschen in intensivem Kontakt leben) 2. … zwischen Dialekten derselben Sprache 3. … zwischen einer Sprache und einem Dialekt 4. … eingeschränkt zwischen Sprachfamilien 5. (Komprehension, Dialoganten sprechen dieselbe Sprache mit hoher Verständnis-Kompetenz). Bei der Beurteilung der verschiedenen Formen von Interkomprehension ist zu berücksichtigen, dass Interkomprehensionskompetenz ein Kontinuum darstellt, gemessen an der Zahl der in einem Text liegenden morphosemantischen Elemente. In diesem Sinne ist die Interkomprehensibilität zwischen einer Brücken- und Zielsprache durchaus messbar. Es wurde bereits sichtbar, dass alle Formen von Sprachlichkeit den Begriff der Sprachkompetenz unterlegen. Allerdings sind die Unter- und Nebenbegriffe z.T. ideologisch fixiert („Muttersprache“ vs. „Erstsprache“) oder sie okkultieren, dass Sprachkompetenz immer eine dynamische Größe ist (wie dies in den Eckbegriffen Interlanguage und Sprachverlust [Attrition] deutlich wird). Dies relativiert grundsätzlich die Trennschärfe von Nachbarbegriffen wie Erst-, Zweit- und Fremdsprache (natürlich kann sich ein Fremdsprachler zu einem Erst- oder Zweitsprachensprecher entwickeln). Besonders deutlich belegen dies die Sprachbiographien von Einwanderern und Auswanderern sowie ihrer Familien. Während z. B. die nach Preußen einwandernden Hugenotten französischsprachig waren, haben ihre Nachfahren das Französische längst verloren (oder es als Fremdsprache eben neu erlernt). Ähnliches lässt sich von Deutschsprachigen sagen, die US-Amerikaner wurden. 2. Historische Skizzierung der mehrsprachigen Kommunikation in Europa zwischen Mündlichkeit, Schriftlichkeit …und Grammatikographie Eine Dachsprache ist dadurch gekennzeichnet, dass sie als eine grundlegende Norm für ihre Varietäten fungiert. Ein Indiz für die Normierung der modernen Sprachen unseres Kontinents ist das Erscheinungsjahr der einschlägigen Grammatiken (↗ Art. 61) (Eckdaten: 1492: Gramática de la lengua castellana des Antonio de Nebrija; 1755 die maßgebliche russische Grammatik des Michail Wassiljewitsch Lomonossow; 1578 die Grammatica Germanicae linguae… des Johannes Claius im Zusammenhang mit der Verbreitung des Lutherdeutsch usw.). Natürlich sind derlei Indizien, wie oben angedeutet, noch kein Hinweis auf die Verbreitung der ‚genormten‘ Varietät bzw. Sprache innerhalb der Bevölkerung eines Staates oder gar der eines weltumgreifenden Imperiums. Schon hier sei gesagt: Auch innerhalb eines <?page no="306"?> 297 58. EuropäischeMehrsprachig keitundInterkomprehensioninhistorischerSicht Sprachgebietes war Kommunikation überwiegend interkomprehensiv, solange die nationalen Idiome weder grammatikographiert waren noch das Volk wirklich erreicht hatten. Eine besondere Erwähnung verdient mit Blick auf Europa Latein nicht nur wegen seiner Rolle als Sprache des Römischen Imperiums, der christlichen Religion oder als historische lingua franca des Abendlandes und Sprache der auctoritates . In den Jahrhunderten, in denen das relevante Schrifttum noch gar nicht oder nur zu einem (sehr) geringen Teil in einer Volkssprache vorlag, erfüllte es europaweit die Funktion eines gelehrten Adstrats. Es war die klassische Sprache des Lesens, und als Sprache der Gelehrsamkeit hat es auch zahlreiche Hellenismen in die modernen Sprachen gebracht. Dies galt umso mehr, solange die Volkssprachen ihre Register noch nicht zur Schriftfähigkeit ausgebaut hatten (Ausbausprache). Der Ausgang der Questione della lingua im frühen 16. Jh. setzte auch hier ein Datum. Hüllen (1989) hebt in diesem Zusammenhang die frühmittelalterlichen Glossare und volkssprachlichen Notizen hervor, die dem besseren Verstehen des lateinischen Schrifttums dienten. Hüllen notiert: „Am Beginn der englischen (und auch der deutschen) Kultur des Mittelalters steht der Fremdsprachenunterricht. Die theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse der Zeit mußten [sic] aus lateinischen Texten rezipiert und entweder lateinisch oder in der eigenen Sprache vermittelt werden“ (ebd. 112). Außerhalb der Wissenschaften und der res publica litterarum überhaupt fand Interkomprehension selbstredend stets in dem Maße ihren Platz, wie Menschen unterschiedlicher Sprachen miteinander kommunizierten. Dies geschah offenkundig z. B. entlang der großen Handelsstraßen, der Pilgerwege, im Umfeld der Universitäten, der Klöster, der Städte (Frijhoff 2010) und in den Häfen nicht nur des Mittelmeerraumes. Auch die Sprachakademien wirkten zugunsten der Volkssprachen (Eckdaten: Accademia della Crusca 1583, Académie Française 1635, Real Academia Española 1713, Russische Akademie der Wissenschaften 1724). Daneben lassen sich plurilokale Lebenspraxen nachweisen, die zur Mischung mehrerer Sprachen führten (Blanche-Benveniste 1997). Interkomprehensive face to face -Kommunikation war - wie zu vermuten ist - oft mischsprachig, stark situationsabhängig, eng auf die jeweilige Sprechsituation und bestimmte Mitteilungsabsichten bezogen (Loonen 1991). Mehrsprachigkeit begegnete auch regelmäßig im Rahmen von Wanderungsbewegungen, in deren Verlauf ganze Völkerschaften verschiedener Sprachen aufeinandertrafen. Die europäische Geschichte kennt massenhaft Kriege, Eroberungen, Vertreibungen, Versklavungen, Flucht, Umsiedlungen, Aus- und Einwanderungen. Oft verband sich hiermit ein Sprachwechsel, bei dem sich die Bildung von Sub-, Ad- und Superstraten beobachten lässt. Ein eindrucksvolles Zeugnis für sprachliche Mischung und Sprachenkontakt bietet zwischen 711 und 1492 das romanisch basierte Mozarabische bzw. Al-Andalus mit den Distanzsprachen Latein, klassisches Hebräisch und Arabisch (Neumann-Holzschuh 2012: 20). Aber was meint in Gesellschaften nahezu ausschließlicher Mündlichkeit Sprache? Wie wenig differenziert noch zu Zeiten Dantes (1265-1321) die Vorstellungen selbst für die bekannten romanischen Varietäten waren, verrät die Benennung „ydioma tripharium“ mit der weiteren Klassifizierung nach den Bejahungspartikeln oil, oc und si in der Schrift De vulgari eloquentia. Hierneben standen seit Alter Zeit die Bezeichnungen für die nicht-ro- <?page no="307"?> 298 Franz-JosephMeißner manischen Sprachen (z. B. mhdt. diut-, lingua tiodisca , it. tedesco ). Anders als für das Griechische bestand lange Zeit für die detaillierte grammatikalische Beschreibung dieser Sprachen kein hinreichendes Motiv. So blieben die Bilder, die sich die Zeitgenossen von solchen Sprachen machten, eher diffus, was sich schon in gebräuchlichen generalisierenden Formeln wie Germanorum lingua usw. ausdrückt. Hinter solchen Benennungen standen faktisch Dialektkontinua. Es ist dann eine offene Frage, ob sich die interdialektale Kommunikation als interkomprehensiv bzw. ein- oder mehrsprachig bezeichnen lässt. Frühe konkrete Sprachbeispiele für (fiktive) Vielsprachigkeit liefert der Retrato de la loçana andaluza des Francisco Delicado (1528), der in den Vierteln der römischen Unterwelt spielt, wo sich ein Sprengel der aus Spanien 1492 vertriebenen jüdischen Gemeinde angesiedelt hatte. In den Dialogen treffen verschiedene Sprachvarietäten / Sprachen aufeinander: Dem Latino maccheronico , Genuesischen, Katalanischen, Italienischen, Arabischen und Kastilischen zugeordnete Sprachbeispiele belegen, was sich Zeitgenossen unter diesen Etiketten vorstellten. Kurz: Es fehlte - abgesehen vom Lateinischen und von einzelnen Menschen, die mit zwei oder mehreren Sprachen aufgewachsen waren - i. d. R. nicht nur die gemeinsame Sprache etwa des Käufers oder des Verkäufers. Es fehlten vor allem Sprachlehren, die das Erlernen der einen oder anderen Sprache kolossal erleichtert hätten. Denn eine Grammatik ließ sich erst dann für eine Sprache erstellen, wenn eine feste und einigermaßen detaillierte Vorstellung von der zu beschreibenden Varietät vorhanden war. Damit war auch eine Bedingung für die Komposition von Lehrwerken erfüllt. 3. Mehrsprachigkeit nach Erfindung des Buchdrucks und der Demokratisierung der Volkssprachen Die Situation änderte sich völlig mit der Erfindung des Buchdrucks 1492, der in den folgenden Jahrhunderten platzgreifenden Verbreiterung der lesenden Schichten, der Entdeckung der Neuen Welt, schließlich der eingangs erwähnten Verbreitung der nationalen Sprachen in den Bevölkerungen der entsprechenden europäischen Nationen und Staaten (Demokratisierung) sowie in den überseeischen Gebieten Europas und Sibiriens das Eindringen der Sprachen der Kolonisatoren. Natürlich entstanden in den Kolonien anhaltende Perioden der Zwei- und Mehrsprachigkeiten, die (z.T.) in Verbindung mit europäischen Idiomen zur Entstehung von Kreolsprachen führten. Seit dem Beginn des 16. Jhs. gibt es eine große Zahl von Grammatiken, Wörterbüchern unterschiedlichen Zuschnitts und Lehrbüchern, die ein Interesse an einer vom Lateinischen und bestimmten Volkssprachen gebildeten Mehrsprachigkeit und eine entsprechende Methodik ausweisen (Minerva 2009; Meißner 2012). Adressat war eine (alphabetisierte) Leserschaft, die damals aber nur einen mehr oder weniger kleinen Teil der Bevölkerung darstellte. Die Autoren waren zumeist Sprachmeister oder Sprachenkundige, die ihre Werke z.T. parallel für mehrere (romanische) Zielsprachen publizierten, wie etwa der Kölner Johannes Basforest (Greive 1992). Die Zahl der Auflagen einzelner mehrsprachiger Wörterbücher und Lehrbücher unterschiedlicher Zielsprachen, in denen auf andere Sprachen Bezug genommen wurde, ist bemerkenswert. Solcherlei Parallelwerke in mehreren Sprachen stehen am Anfang der vergleichenden Sprachwissenschaft (Greive 1996). Sie trugen zweifellos zur additiven Mehrsprachigkeit bei. <?page no="308"?> 299 58. EuropäischeMehrsprachig keitundInterkomprehensioninhistorischerSicht Auch die Entstehung von sog. Vielvölkerstaaten tat ein Übriges für die Entwicklung von Mehr- und Vielsprachigkeit. Dies zeigt z. B. die Habsburgische Österreichisch-Ungarische Monarchie (1867-1918) mit den beiden Amtssprachen Deutsch und Ungarisch und z.T. ihren vorlaufenden italienischen Gebieten, mit Böhmen, Transsylvanien u. a. m. Die Bevölkerung selbst war u. a. deutscher, ungarischer, italienischer, ukrainischer, serbischer, kroatischer, slowenischer, böhmischer, tschechischer, sorbischer, bulgarischer, ruthenischer und polnischer Muttersprache. Nachdem der Versuch Joseph II., das Deutsche als einzige Amtssprache durchzusetzen, gescheitert war, griffen die Reformen Maria-Theresias im Sinne der Mehr- oder Vielsprachigkeit zumindest für Teile der Beamtenschaft. Ähnliche Entwicklungen lassen sich für andere Sprachen ausmachen, deren Staaten territorial expandierten (↗ Einleitung). Als explizites Lernziel des Fremdsprachenunterrichts bleibt der Signifikant Mehrsprachigkeit ( plurilinguisme, multilinguisme ) bis vor wenigen Jahrzehnten ungenannt (↗ Art. 6, 7). Inhaltlich lässt sich allerdings durchaus - und zwar über Jahrhunderte hinweg - ein Interesse am Erwerb mehrerer Sprachen ausmachen, wie ungezählte didaktische Publikationen, vor allem mehrsprachige Glossare, belegen. Das „Wesentlichste, soweit es für die Schulgrammatik von Belang ist, zu erfassen“, signalisiert die ‚Vergleichende Syntax der Schulsprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Griechisch, Lateinisch)‘ (1930) von Ferdinand Sommer. Im deutschen Sprachraum brachte der Romanist Mario Wandruszka (1911-2004) die Formel „Didaktik der Mehrsprachigkeit“ zu Papier (1979: 313). Interkomprehension und Interkomprehensionsdidaktik sind seit den 1990er Jahren in fachsprachlichem Gebrauch. Die bisherigen Erörterungen, insbesondere zur Interkomprehension (↗ Art. 56, 64), setzen die Interaktion von mindestens zwei, oft mehr Sprachen voraus. In diesem Sinne erscheint Interkomprehension als Vehikel der Vielsprachigkeit, und zwar- in Sprechakten millionenfach realisiert - zum Zeitpunkt der verstehenden Begegnung von Kommunikanten verschiedener Sprachen. Literatur Blanche-Benveniste, C. (1997): Les langues de Christophe Colomb. In: C. Blanche- Benveniste & A. Valli (coord.): L'intercompréhension: le cas des langues romanes. Paris, 54-58. Blanche-Benveniste, C. (2008): Comment retrouver l'expérience des anciens voyageurs en terres de langues romanes? In: V. Conti & F. Grin (Hrsg.): S'entendre entre langues voisines: vers l'intercompréhension. Actes du Colloque international sur l'intercompréhension. Novembre 2006 à l'université de Genève . Genève, 33-52. Ehlich, K. & Hornung, A. (Hrsg.) (2006): Praxen der Mehrsprachigkeit. Münster. Frijhoff, W. 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NatürlicheInterkomprehensionamBeispielSkandinaviens Etwas anders liegt der Fall für das Skandinavische, wobei hierunter die germanischen Sprachen Nordeuropas verstanden werden, also das Dänische, Schwedische und Norwegische (in den beiden Schriftformvarianten Bokmål und Nynorsk). Isländisch und Färöisch zählen bei dieser Art der Verständigung zu einer sekundären Ebene, weil sich diese Sprachen seit dem Mittelalter ohne den nachhaltig prägenden Einfluss des Niederdeutschen zur Hansezeit eigenständig entwickelt haben, wobei es allerdings beim Färöischen zu ‚Interferenzen‘ durch das vom niederdeutschen Kontakt geprägte Dänische als zweiter Landessprache gekommen ist. Im Fall des Isländischen wurde dieser frühere dänische Kontakt im Zuge puristischer Bestrebungen wieder weitgehend rückgängig gemacht, so dass die Bewohner Islands bestenfalls über die Beherrschung einer festlandskandinavischen Sprache an der direkten innerskandinavischen Kommunikation teilhaben können. Für die Färinger geht dies hingegen problemlos über die Zweitsprache Dänisch. Genau genommen liegt für das Skandinavische keine Interkomprehension im Sinne der heutigen Sprachlehrforschung vor, sondern eine besondere Form der interdialektalen Kommunikation, so wie man Sprecher, auch von entfernteren Nachbardialekten, durchaus verstehen kann, sofern der feste Wille zu dieser Art der asymmetrischen Verständigung vorhanden ist. Auch eine Klassifizierung aus der Perspektive der rezeptiven Mehrsprachigkeit lässt sich mit guten Argumenten vertreten (Braunmüller 2002a). 2. Problemaufriss Die innerskandinavische Kommunikation geht auf das Mittelalter zurück und gründet sich auf eine gemeinsame Geschichte und Kultur. Früher nannte man mittelalterliches Skandinavisch „dǫnsk tunga“ (‚dänische Sprache‘), das alle Varietäten überwölbte (Melberg 1949-51). Heute wird Festlandskandinavien quasi als ein Haus mit mehreren Gebäudeteilen gesehen, bei dem das gemeinsame Dach abhandengekommen ist. Das Haus, d. h. die Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit, ist jedoch noch vorhanden. Der Wunsch, sich als sprachlich-kulturelle Einheit zu sehen, ist somit sehr alt, wird jedoch heute zunehmend von der Dominanz des Englischen als Lingua franca bedroht (↗ Art. 13, 98). Dies gilt insbesondere für die jüngste Generation (Delsing & Lundin Åkesson 2005). Natürlich gibt es etliche phonologische wie lexikalische Unterschiede zwischen diesen Sprachen, aber diese werden überspielt, weil die unmittelbare Verständigung ohne eine Hilfssprache (bislang) weitaus mehr zählt als das Lernen einzelner Wörter, die es im eigenen Idiom nicht oder nicht mehr gibt. Sog. „falsche Freunde“, d. h. morphologisch ähnliche Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung (z. B. rolig : dän./ norw. ‚ruhig‘, schwed. ,lustig‘), werden in der Regel als solche meist erkannt und memoriert. Für das Bewusstmachen dieser Gemeinsamkeiten wie auch für das Aufzeigen gewisser Unterschiede wird seit jeher vom Nordischen Ministerrat (↗ Art. 9, 11) viel getan, so dass sich diese quasi interdialektale Mehrsprachigkeit weiterhin in der täglichen Praxis hält und bewährt, wobei es hin und wieder vorkommt, dass jemand auf die Unverstehbarkeit der betreffenden Nachbarsprache hinweist. Dies erfolgt paradoxerweise jedoch auch im rezeptivsprachlichen Modus! Lexikalische Eigentümlichkeiten der Nachbarsprache werden vor allem im Schulunterricht vermittelt und bei Auslandsreisen in der interaktiven Praxis erworben. Im Zuge der festen Öresundquerung wurden Kampagnen und Lehrmaterialen (↗ Art. 79) <?page no="311"?> 302 KurtBraunmüller für die Metropolregionen Kopenhagen und Malmö entwickelt, wobei man sich durchaus bewusst war, dass gesprochenes Dänisch für Schweden ziemlich schwer zu verstehen ist, was an bestimmten morpho-phonologischen Schwächungstendenzen im Dänischen liegt, die seit dem Hochmittelalter wirken. Dänen haben es da phonetisch etwas leichter, weil die schwedische Aussprache näher an deren Schriftform liegt. Norwegisch liegt hinsichtlich des Verstehens wie der Verstehbarkeit ungefähr in der Mitte, was darin begründet liegt, dass das heutige Bokmål früher die Sprache des Dänisch sprechenden Bürgertums in Norwegen war. Diese Varietät wurde im Zuge der Nationalstaatenbildung etwas vereinfacht und lokal dialektal umgeformt. Dass es ein dialektales Kontinuum in Bezug auf die Lexik wie die Flexions- und Wortbildungsmorphologie von der norwegischen Westküste bis ins westliche Finnland gibt, kann man an der zweiten Schriftsprache Nynorsk ablesen, die dialektale Gemeinsamkeiten mit dem Schwedischen aufweist. 3. Forschungsstand Wesentliche methodische, historische wie soziolinguistische Aspekte beschreibt Braunmüller (2007: 321-362) in einer einführenden Darstellung. Mit Blick auf die rezeptive Mehrsprachigkeit zum Zweck der interkulturellen Kommunikation in einem vielsprachigen Europa (Eurocomprehension) umreißt er den Forschungsstand über die Jahrtausendwende hinaus (Braunmüller 2006). Als Beispiele für Fallstudien, bezogen auf die Öresundregion, seien Ridell (2008) und Börestam (2008) genannt. Beide Untersuchungen zeigen anschaulich anhand der dänisch-schwedischen Kommunikationsprobleme, wo sie auftreten und wie man sie lösen kann, wobei auch die nicht geringe Anzahl an Zweitsprachenlernern, d. h. Einwanderern, berücksichtigt wird. In Zeevaert (2004) werden die dabei ablaufenden Strategien dargestellt, ebenso wie in Golinski (2007). Zum Hörverstehen wie zur Akkommodation zwischen Dänen und Schweden liegt eine Untersuchung von Doetjes (2010) vor. Dass selbst missglückte Akkommodationsversuche nicht abgelehnt, sondern eher als positives Bemühen geschätzt werden, wird in Braunmüller (2002b) gezeigt. Das Interesse an dieser Thematik hat in den letzten Jahren stark abgenommen, so dass wenig dazu publiziert worden ist. Möglicherweise spielt hier die Dominanz des Englischen als internationaler Sprache eine entscheidende Rolle. 4. Praxisrelevanz Diese Art der rezeptiven Mehrsprachigkeit innerhalb eines dialektalen Kontinuums ist nach wie vor von überragender Bedeutung für die innereuropäische Kommunikation. Das von der EU propagierte Ziel, neben der Muttersprache mindestens zwei weitere Sprachen zu beherrschen, kann vielleicht von einer gewissen Gruppe mit höherer Bildung erreicht werden (↗ Art. 12). Dennoch ist es sehr wünschenswert, dass man sich über die Ähnlichkeiten der verwandten Nachbarsprachen klar wird und lernt, wie man sich mit relativ wenigen Regeln den Sinn von Texten in diesen Sprachen erschließen kann. Im Gegensatz zum Vorbild Skandinavien fehlt es jedoch an dem Bewusstsein wie der Einsicht, dass transnationale Gemeinsamkeiten zwischen den Mitgliedern derselben Sprachfamilie bestehen. Da Fremdsprachenlernende nicht jedoch über ein muttersprachliches System mit verschiedenen Varietäten verfügen, bietet sich <?page no="312"?> 303 59. NatürlicheInterkomprehensionamBeispielSkandinaviens nur an, im Sinne der Interkomprehensionsforschung eine sog. Brückensprache zu lernen. Für den Bereich der germanischen Sprachen wäre dies das Niederdeutsche (↗ Art. 125), das wegen der nicht erfolgten hochdeutschen Lautverschiebung zu allen anderen Sprachen dieser Familie den geringsten Abstand aufweist. Leider ist das Niederdeutsche heutzutage sehr geschwächt und kämpft um sein eigenes Überleben, so dass diese Möglichkeit ausscheidet. Dennoch bietet jede andere germanische Sprache als das Hochdeutsche mehr Einsichten in die Strukturen und die Lexik der übrigen germanischen Sprachen. 5. Perspektiven Es gilt zu unterscheiden zwischen Theorie und Praxis. Zweifelsohne hat die Interkomprehension, die rezeptive Mehrsprachigkeit wie auch die interdialektale Kommunikation eine große Zukunft. Durch diese Modi der Verständigung würde das Bewusstsein für sprachliche Ähnlichkeiten wie Variation gestärkt, die im Zuge der Standardisierung der Nationalsprachen weitgehend verloren gegangen sind. Diese mangelnde kommunikative Flexibilität gab es in früheren Jahrhunderten nicht: man war so ständig gezwungen, neue Varietäten zu lernen und immer offen für andere, oft ähnliche Formen, Laute und Wörter zu sein. Was die dominierende Standardisierung hinsichtlich des Abbaus an Flexibilität nicht geschafft hat, wird wohl durch den inflationären Gebrauch des Englischen, auch in Form von Hybridbildungen, endgültig beseitigt werden. Literatur Börestam, U. (2008): Samma skjorta - olika knappar. Kopenhagen. Braunmüller, K. (2002a): Variation in Receptive Bilingualism: what is received and what is not received. In: G. Kischel (Hrsg.): Eurocom. Mehrsprachiges Europa durch Interkomprehension in Sprachfamilien. Hagen, 226-237. Braunmüller, K. (2002b): Semicommunication and Accommodation: Observations from the Linguistic Situation in Scandinavia. In: International Journal of Applied Linguistics 12, 1-23. Braunmüller, K. (2006): Vorbild Skandinavien? Zur Relevanz der rezeptiven Mehrsprachigkeit in Europa. In: K. Ehlich & A. Hornung, (Hrsg.): Praxen der Mehrsprachigkeit. Münster, 11-29. Braunmüller, K. (2007): Die skandinavischen Sprachen im Überblick. 3. Aufl. Tübingen, Basel. Delsing, L.-O. & Lundin Åkesson, K. (2005): Håller språket ihop Norden? Kopenhagen. Doetjes, G. (2010): Akkommodation und Sprachverstehen in der interskandinavischen Kommunikation. Hamburg. [http: / ediss.sub.uni-hamburg.de/ volltexte/ 2010/ 4805/ pdf/ Doetjes_2010_Dissertation.pdf]. Golinski, B. (2007): Kommunikationsstrategien in interskandinavischen Diskursen. Hamburg. Hufeisen, B. & Marx, N. (2007): EuroComGerm - Die sieben Siebe: Germanische Sprachen lesen lernen. Aachen. Klein, H. G. & Stegmann, T. D. (2000): Euro- ComRom - Die sieben Siebe: R omanische Sprachen sofort lesen können. 3. Aufl. Aachen. Melberg, H. (1949-51): Origin of the Scandinavian Nations and Languages. 2 Bde. Halden. Ridell, K. (2008): Dansk-svenska samtal i praktiken. Uppsala. Zeevaert, L. (2004): Interskandinavische Kommunikation. Hamburg. Kurt Braunmüller <?page no="313"?> 304 AnnaSchröder-Sura 60. Interlexis und Morphologie als Ressourcen von (europäischer) Mehrsprachenkompetenz 1. Begrifflichkeit Interlexeme oder Kognaten sind Wörter, die in verschiedenen Sprachen vorkommen und morphosemantische Ähnlichkeiten aufweisen. Sie sind formkongruent und bedeutungsadäquat und besitzen ein gemeinsames Etymon. Beispiel: dt. kurios , engl. curious , frz. curieux , it. curioso …. Die Serie verdeutlicht, dass die Bedeutungsadäquanz zwischen Formkongruenten partiell sein kann: So bedeutet frz. curieux im Gegensatz zu dt. kurios nicht „merkwürdig“, sondern auch „neugierig“. Eine totale Intersynonymie (Synonymie in mindestens zwei Sprachen) muss außerhalb der Fachsprachen als Ausnahme betrachtet werden. Sie würde voraussetzen, dass die betreffenden Kognaten „in paradigmatischer, syntagmatischer und diasystematischer (diachronischer, diatopischer, diastratischer, diakonnotivativer, diatechnischer, dianormativer und diafrequenter) Hinsicht übereinstimmen“ (Schaeder 1990: 71). Natürlich ist Formkongruenz nicht nur innerhalb ein und derselben romanischen Serie möglich. So liefert der Stamm dt. kontinuim Adjektiv kontinuierlich oder im Substantiv Kontinuum Transferbasen zur Serie to continue, continuer, continuare, continuar. Interlexeme sind generell dank des lexikalischen Vorwissens der Sprachteilhaber und des jeweiligen Ko-Textes dekodierbar. Ihre Dekodierung kann durch Strategien wie Zerlegung (Dekomposition) in morphologische Elemente (Prä-, In- und Suffixe) erleichtert werden. Interlexeme fungieren als intra- und interlinguale Sprachenbrücken bzw. Transferbasen (↗ Art. 64). Auf den europäischen Sprachraum bezogen, können sie, strenggenommen, nicht einfach mit Internationalismen gleichgesetzt werden (Muljačić 1979). Echte Internationalismen müssen global und in vielen nicht miteinander verwandten Sprachen heimisch sein. 2. Historische Typisierung und Reichweiten des morphosemantischen Identifikationstransfers Interlexikalische Transparenz und interlingualer Identifikationstransfer sind innerhalb der europäischen Koiné nicht auf Sprachfamilien begrenzt (Meißner 2018: 102 ff.). Dies lässt sich historisch mit der Rolle der klassischen Sprachen als Adstrate der modernen europäischen Sprachen erklären. Deshalb ist auch Englisch (↗ Art. 98) für das Erlernen romanischer Sprachen ebenso nutzbar wie diese für das Englische (Hemming et al. 2011). Dessen Transparenzanteil am romanischen Kernwortschatz beträgt immerhin 53 Prozent! (Meißner 2018: 47). Die interromanische Transparenz basiert, wie gesagt, auf dem lateinischen Erbe. Als Sprache des Volkes (Vulgärlatein) stellte Latein (↗ Art. 92) in zahlreichen Varianten einen Großteil des romanischen Vokabulars der Mündlichkeit. Die französische Lexikologie spricht von Erbwörtern ( mots populaires ). Ihr Lautstand bezeugt, dass sie immer im Munde des Volkes waren. Daneben stand das Latein als Sprache der Gelehrsamkeit, der Literatur, der Kirche und der Schriftregister überhaupt über viele Jahrhunderte bzw. über ein Jahrtausend hinweg zur Verfügung, um gelehrtes Vokabular ( mots savants ) zu „entleihen“. Erbwörtliche Beispiele: voir < videre, <?page no="314"?> 305 60. InterlexisundMorphologiealsRessourcenvon(europäischer)Mehr sprachenkompetenz aujourd’hui- < hodie, eau < ACQUA. Buchwörter stehen hingegen dem lateinischen Original näher, z. B. frz. aqueux < aqua, visibilité < VI- SIBILITAS, humeur/ humour < HUMOR usw. Aufgrund des entfernten Lautstandes der Erbwörter von den Etyma und der großen Zahl an Buchwörtern muss das Französische als eine besonders gut geeignete Brückensprache für die Interkomprehension und für das Erlernen weiterer romanischen Sprachen betrachtet werden (↗ Art. 67, auch: Klein 2002). Folgt man einer erweiterten Interlexemtypik, so lassen sich unter dem Gesichtspunkt der Transferreichweite bestimmte Klassen aufstellen. Von europäischer Reichweite sind zumeist Buchwörter oder Kultismen (frz. humour , extase, comédie, grammaire, génie …) als klassische Wörter der res publica litterarum . Von oft weltweiter Reichweite sind Modernismen (sp. emancipación, frz . émancipation < EX MANU CAPERE [frei werden, z. B. von Sklaven], dt. Zigarette , rus. cигаре́ та, fr. chocolat…, rus . шокола́д , Schokolade…, sp. neoliberalismo, engl.. neoliberalism, dt. Neoliberalismus… ; von oft globaler Reichweite sind Szientismen (dt,/ en./ fr. oxydation, fr. aspirine, dt./ en. aspirin usw.), Interlexeme des modernen Lebens (en./ fr./ dt. usw. software ) und Bedeutungsexotismen: Ikebana aus dem Japanischen, dt; Samovar < rus. самова́ р (Meißner 1993). Wörter, die für jede einzelne Sprache typisch und nicht transferierbar sind, werden als opake Wörter oder als Profilwörter bezeichnet: fr. beaucoup, sp. alfombra usw. (Meißner 2004; Klein & Stegmann 2000). Solche Wörter versperren das interkomprehensive Verständnis von Sprachen und sollten deshalb schon früh Lernern bekannt gemacht werden. 3. Interligalexe Der Begriff Interligalex ist ein Neologismus der auf Mehrsprachigkeit ausgerichteten Lexikographie (Meißner 2019). Er bezeichnet jene lexematischen Elemente, die Interlexemen gemeinsam sind. Typ: Ein einziges Interligalex hat die Serie: accès, accesso, acesso, acceso, access im Fall einer fünfsprachigen seriellen Transparenz, und zwar ACCES; fünf romanische Ligalexe zählt hingegen die opake Serie BALAI; RAMAZZ-, SCOP-A/ ESCOB; VASSOU in balai, ramazza/ scopa, vassoura, escoba, (broom, Besen) . Selbstverständlich können Ligalexe wie Lexeme Teil mehrerer Serien sein, so zu: frz. balayer in den Serien von spazzare/ scopare (fegen, kehren). Zudem können Interligalexe als Entsprechungen in z.T. voneinander abweichenden Graphien in verschiedenen Sprachen auftreten (it. SCOP- ~ sp. ESCOB-). Die große lernökonomische Wirkung der Interligalexe ergibt sich nicht nur daraus, dass sie intraserielle Varianten auf einen oder evtl. mehrere Archetypen reduzieren, deren Zahl zumeist geringer ist, als die Vertreter der Serie, sondern auch aus dem geringen Anteil von opaken Formen am Gesamt des Vokabulars, im Kernwortschatz der romanischen Mehrsprachigkeit (KRM) sind dies 9 % (seriell totale Opazität) gegenüber 61 % (seriell totale Transparenz) (Meißner 2018: 35). 4. Praxisrelevanz Die genaue Kenntnis der europäischen Interlexis erlaubt beträchtliche Vorteile für das Leseverstehen neuer Sprachen und den Aufbau der Mehrsprachigkeit (steile Progression und beschleunigtes Sprachenwachstum, mehrsprachige Lesekompetenz, Sprachlernkompetenz sowie eine positiven Motivationssteuerung) <?page no="315"?> 306 AnnaSchröder-Sura (↗ Art. 56). Die verbesserte Lernökonomie zu verwirklichen verlangt lehrseitig ein differenziertes Verständnis des zu vermittelnden Wortschatzes, vor allem unter dem Gesichtspunkt der interlingualen Transferierbarkeit. Reflexives Lernen spielt eine besonders große Rolle in den aktuellen Empfehlungen des Europarates für die Sprachendidaktik. Dabei wird betont, dass mit den „ reflective activities “ Nutzen durch das Einbeziehen aller Sprachen des lernerseitigen Repertoires verbunden ist (Beacco et al. 2016: 41). Dies betrifft zuvorderst die Wortschätze. Literatur Beacco, J.-C., Byram, M., Cavalli, M. et al. (2016): Guide for the Development and Implementation of Curricula for Plurilingual and Intercultural Education . Strasbourg. [https: / / www.coe.int/ en/ web/ platform-plurilingualintercultural-language-education/ curricula-and-evaluation#{%2228070509%22: [0]}]. Hemming, E., Klein H. G. & Reissner, C. (2011): English - the Bridge to the Romance Languages . Aachen. Klein, H. G. 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Definitionen Der Begriff Grammatik geht zurück auf das griechische tékhnē grammatikḗ und das daraus geprägte lateinische ars grammatica ‚Kunst des (korrekten) Lesens und Schreibens‘. In Europa sind die bekannten Abhandlungen <?page no="316"?> 307 61. Die„Erfindung“der europäischenGrammatikographie über Grammatik aus der griechischen Antike überliefert. Sowohl konzeptuell als auch terminologisch ist die europäische Grammatikographie wesentlich von der griechisch-lateinischen Antike beeinflusst. In der Geschichte der europäischen Grammatikographie zeigt sich, dass Grammatik bzw. die daraus entwickelten einzelsprachlichen Termini ( grammaire , gramática , grammar etc.) einerseits die Struktur, das System bzw. den Bau einer Sprache bezeichnet, andererseits ein konkretes Werk (z. B. „die Grammatik von Nebrija“). Im Mittelalter kam der Grammatik als Teil des Triviums insofern eine zentrale Rolle zu, als sie die Grundlage für alle anderen Disziplinen darstellte; grammatica war gewissermaßen gleichbedeutend mit lateinischer Sprache. Noch Dante unterscheidet zu Beginn des 14. Jahrhunderts - zu einer Zeit, als für das Okzitanische bereits die ersten Werke mit normierendem Anspruch entstanden waren (Polzin-Haumann 2006: 1475; Swiggers 1989) - zwischen gramatica , dem Latein, und der vulgaris locutio , der in Zeit und Raum wandelbaren Volkssprache, „quam sine omni regula nutricem imitantes accipimus“ ( De vulgari eloquentia : I, I, 3). Generell können Grammatiken präskriptiv/ normativ (im Hinblick auf die Durchsetzung einer bestimmten Sprachnorm) angelegt sein oder mit deskriptiver Intention sprachliche Strukturen (inkl. verschiedener Sprachnormen) dokumentieren; sie können weiterhin vornehmlich wissenschaftlich/ theoretisch (und hier wiederum unterschiedlichen Strömungen folgen) oder vornehmlich praktisch, d. h. im Hinblick auf die Vermittlung einer Sprache orientiert sein (für Sprecher derselben Sprachgemeinschaft oder als Fremdsprache). Diese unterschiedlichen - grundsätzlich parallel existierenden - Grammatiktypen entwickeln sich in je spezifischen kulturhistorischen Kontexten und zu verschiedenen Zeiten. 2. Historische Entwicklungslinien von der Antike bis zur frühen Neuzeit Erste grammatische Abhandlungen zum Griechischen sind von Dionysios Thrax (2. Jh. v. Chr.) und Apollonios Dyskolos (2. Jh. n. Chr.) überliefert. Die für das Griechische verwendeten Begrifflichkeiten werden im Weiteren auf die lateinische Sprache übertragen. Die Grammatikographie des Mittelalters hat zunächst die lateinische Sprache zum Gegenstand (für eine Zusammenstellung der Abhandlungen vgl. Keil 1855-1880). Das erste bekannte Werk zum Lateinischen, De lingua latina von M. Terentius Varro (2./ 1. Jh. v. Chr.) ist nur fragmentarisch erhalten. Besonders einflussreich sind Aelius Donatus ( Ars minor , Ars maior ; 4. Jh.) und Priscianus ( Institutionum grammaticarum ; 6.Jh.). Beide Werke wurden intensiv genutzt sowie zahlreich kommentiert und glossiert; Law (2002: 44-52; 65-67) weist darauf hin, dass dabei auch - je nach Jahrhundert und geographischem Raum spezifische - Veränderungen bzw. Ergänzungen vorgenommen wurden. Charakteristisch für das ausgehende 7. und das 8. Jh. seien etwa die sog. „Insularen Elementargrammatiken“. Besonders die Ars minor des Donat hat das Lateinlernen nicht nur im Mittelalter, sondern weit darüber hinaus entscheidend geprägt. Um diese Prägung zu erfassen, genügt es im Grunde, die in diesem Werk behandelten acht Wortarten zu betrachten: „De nomine, De pronomine, De verbo, De adverbio, De participio, De coniunctione, De praepositione, De interiectione“. Neben Donat wurden ab dem ausgehenden 12. Jh. weitere Werke für den Lateinunterricht benutzt und ihrerseits vielfach glossiert. Als zwei wichtigste seien hier Doctrinale von Alexandre de Villedieu [Alexander de Villa- Dei] (1199; Lehrgedicht in Hexametern) und <?page no="317"?> 308 ClaudiaPolzin-Haumann Graecismus von Évrard de Béthune [Eberhardus Bethuniensis] (1212; ein lateinisches Lehrgedicht in Hexametern und Pentametern) genannt. Die mittelalterlichen Lateingrammatiken haben präskriptiven Charakter und sind - modern ausgedrückt - auf konzeptionelle Schriftlichkeit ausgerichtet, auch wenn sie zum Teil in Dialogform abgefasst waren. Parallel hierzu entwickelte sich sowohl für das Latein (hier gilt die Grammatik des Ælfric von Eynsham, die um 995 in lateinischer und altenglischer Sprache verfasst wurde, „[…] als eine Pionierleistung der Sprachwissenschaft und der Sprachdidaktik“; Gneuss 2002: 77) als auch und später vor allem für das Erlernen der (noch nicht standardisierten) Volkssprachen z. B. für die Handelskommunikation eine praktisch orientierte Tradition in Form von Vokabellisten und Dialogbüchern (Sánchez Pérez 1992: 14 f.). Zunächst stand im spätmittelalterlichen England das Französische im Fokus der sog. Manieres de langage (Kristol 1992; Critten 2015). Hier wird der Sprachgebrauch in den Mittelpunkt gerückt. Sánchez Pérez (1992: 8) spricht daher insgesamt von zwei Tendenzen der Grammatikschreibung: „gramatical“ und „conversacional“. Diese beiden Traditionen waren allerdings letztlich schon über die mittelalterlichen Kommentare und Glossierungen zu Lehrzwecken miteinander verbunden; auch im weiteren historischen Verlauf sind sie nicht immer sauber zu trennen (↗ Art. 29, 58). 3. Vom 16. bis 21. Jahrhundert: Tradition und Innovation Wie stark der Einfluss der Lateingrammatik und des Lateinunterrichts auf die europäische Grammtikographie war, erkennt man nicht zuletzt daran, dass die ersten (fragmentarischen) Beschreibungen romanischer Volkssprachen nach dem Muster des Donat entstehen ( Donatz Proensals , ca. 1240; Le Donait françois , ca. 1409). Für die Beschreibung der lebenden Sprachen ab der frühen Neuzeit bildet die lateinische Grammatik das maßgebende Muster (vgl. hierzu Padley 1976; 1985; 1988). Ihre Rolle ist jedoch ambivalent: Sie bildet einerseits den - terminologischen und konzeptuellen - Rahmen, innerhalb dessen die Beschreibungen und Kodifizierungen der Volkssprachen sich bewegen; andererseits trägt sie auch dazu bei, das Bewusstsein für die Unterschiedlichkeit von Volkssprachen und gelehrten Sprachen zu schärfen. Daneben blieb das Latein lange die Metasprache der volkssprachlichen Grammatikschreibung, auch nicht-indoeuropäischer Sprachen wie dem Ungarischen. Davon zeugen Werke wie z. B. Sylvester, János (1536): Grammatica Hungarolatina oder Molnár, Albert (1610): Novae grammaticae Ungaricae libri duo . Einen informativen Überblick über die wesentlichen Grammatiken des Französischen, Italienischen, Spanischen, Slavischen und Russischen gibt Colombat (1998; vgl. auch Ahlqvist 1987). Die intensive grammatikographische Auseinandersetzung mit den Volkssprachen ab der frühen Neuzeit ist ein gesamteuropäisches Phänomen; Divergenzen gibt es im Hinblick auf den Beginn in den einzelnen Ländern. Die erste Grammatik einer romanischen Volkssprache wird auf Italienisch verfasst: die Grammatichetta vaticana oder Regole della lingua fiorentina von Leon Battista Alberti (zw. 1435 und 1441). Doch erst die in Pietro Bembos Werk Prose della volgar lingua (1525) enthaltene Grammatik in Dialogform erlangt den Referenzcharakter, den Antonio de Nebrijas Gramática de la lengua castellana (1492) in Spanien besaß. Trotz politischer (und sprachlicher) Zersplitterung ist in Italien die Entste- <?page no="318"?> 309 61. Die„Erfindung“der europäischenGrammatikographie hung eines kulturellen Nationalbewusstseins zu beobachten, dem allerdings das machtpolitische Moment fehlt. Wesentlich deutlicher sieht man den Zusammenhang von Nation und Sprache (↗ Art. 10, 11) in Spanien, wo er von Nebrija programmatisch formuliert wird („[…] siempre la lengua fue compañera del imperio”). Auch hier rückt die Volkssprache also vergleichsweise früh in den Blickpunkt theoretischer Auseinandersetzungen. Erst ein halbes Jahrhundert später erscheint die nächste Grammatik, die 1555 anonym in den damaligen Niederlanden publiziert wird. Überhaupt entstehen, erklärbar aus der mächtigen Position Spaniens in Europa unter Karl V., die meisten spanischen Grammatiken dieses Zeitraums im Ausland. Auch in Frankreich steht das 16. Jahrhundert im Zeichen der Ausbildung der französischen Nationalsprache. Dass es hier im Grunde drei ‘Premieren’ gibt, illustriert exemplarisch die Komplexität der Entwicklungen: Die erste Französischgrammatik erscheint zunächst in England (Palsgrave, John: Lesclaircissment de la langue francoyse , London 1530; trotz des französischen Titels in Englisch); die erste Französischgrammatik in Frankreich erscheint 1531, allerdings auf Latein verfasst (Dubois, Jacques: Iacobi Syluui Ambiani in linguam Gallicam Isagoge, vna cum eiusdem Grammatica Latino-gallica, ex Hebraeis, Graecis,-& Latinis authoribus , Paris 1531). Als erste in Frankreich erschienene Französischgrammatik in französischer Sprache gilt die von Louis Meigret Le trętté de la grammęre françoęze, fęt par Louís Meigręt Líonoęs (Paris 1550). Vergleichsweise spät erscheinen die ersten Grammatiken des Englischen (z. B. William Bullokar, A bref grammar for English , 1586). Mit der Erkenntnis der Unterschiedlichkeit von Latein und Volkssprachen gehen die Renaissancegrammatiker sehr unterschiedlich um. Im Hinblick auf die Terminologie beispielsweise lassen sich neben der Verwendung traditioneller Begriffe und Kategorien volkssprachliche Dopplungen und/ oder Umschreibungen bis hin zu Paraphrasierungen belegen (Polzin-Haumann 2001: 135-139). Eine besonders große Vielfalt ist in den Fällen zu beobachten, in denen volkssprachliche Phänomene nicht in das durch die traditionelle Lateingrammatik vorgegebene Raster passen, wie etwa beim zusammengesetzten Perfekt (Polzin-Haumann 2011). Eine eigene Kategorie bilden zwei- oder mehrsprachige Grammatiken und Lehrwerke. Insbesondere die „Gebrauchsgrammatiken“ (Dahmen et al. 2001) enthalten bisweilen sprachvergleichende Elemente (neben anderen praxisnahen Hinweisen, z. B. für bestimmte Lernergruppen), die gar nicht im Titel auftauchen (Polzin- Haumann 2001: 135 f.). Die explizite ‚Kontrastivität‘ (Suso López 2012) ist von den Anfängen der volkssprachlichen Grammatikschreibung an in vielen Varianten belegt, sowohl was die Art als auch den Umfang der vergleichenden Darstellung angeht. Eine eingehende Analyse dieser Werke, die Meißner als mehrsprachigkeitsdidaktisch ante litteram bezeichnet, steht noch aus (vgl. Meißner 2012: 541 f. für eine ausführliche Liste und verschiedene Fallbeispiele). Zu erwähnen sind weiterhin die mehrsprachigen Glossare, Vokabellisten bzw. Wörterbücher, die ebenfalls in hoher Zahl, mit unterschiedlichen Sprachenkonstellationen und in verschiedenen Metasprachen (Französisch, Spanisch, Latein u. a.) aufgelegt wurden (vgl. Hüllen 1989). Besonders bekannt sind die Werke des Ambrosius Calepinus, die zeitweise elf Sprachen umfassten ( Dictionarium undecim linguarum , 1590), des Noel de Berlaimont (ab 1536 in verschiedenen Varianten) und die Colloquia et Dictionariolum Octo Linguarum (1656; Waentig 2002). Da die Grammatiken bisweilen auch Wortlisten enthielten und die Glossare <?page no="319"?> 310 ClaudiaPolzin-Haumann auch sprachliche Strukturen und Funktionen thematisierten (Waentig [2002: 195] bezeichnet die Colloquia explizit als „Fremdsprachenlehrbuch“), sind Grenzen zwischen Grammatikographie und Lexikologie/ Lexikographie sowie Lehrbuch mitunter schwer zu ziehen. Die kontrastiv angelegten Werke umfassen häufig mehrere romanische Sprachen; doch auch sprachfamilienübergreifende Ausgaben (die u. a. das Englische, das Flämische, das Deutsche, das Lateinische oder auch slavische Sprachen [vgl. z. B. Pausch 2003] einbeziehen), sind rekurrent belegt und zeugen von einer hohen Nachfrage und einem ebenso hohen Gebrauchswert dieser Werke (Meißner 2012: 538-540). Mit der Institutionalisierung des (Fremd) Sprachenlehrens und -lernens und der Entwicklung von Curricula, später auch für verschiedene Schultypen, beginnt ab dem 19. Jh. ein neuer Abschnitt, in dem (wieder) nationale Einflussmomente in den Vordergrund treten. Die mehrsprachigkeitsorientierte Sprach- und Bildungspolitik auf europäischer Ebene ab den 1990er Jahren (↗ Art. 9, 12) stellt - auch wenn sie national umgesetzt werden muss und insofern keine direkten Auswirkungen hat - die Weichen für gesamteuropäische Entwicklungen, die zumindest zum Teil an für das 16. und 17. Jahrhundert charakteristische Strömungen anknüpfen. 4. Schlussfolgerungen und Ausblick Zwischen den eingangs genannten verschiedenen Typen von Grammatiken bestehen Überlappungen und vielfältige Übergänge. Die „Erfindung“ der europäischen Grammatikographie vollzieht sich in der Auseinandersetzung mit der antiken Tradition und durch spezifische kulturhistorische Kontexte bedingte Innovationen. Dabei sind „[d]as lateinische und das nicht-lateinische Mittelalter“ (Hüllen 2005: 31 bzw. 31 ff.) stärker verbunden, als dies auf den ersten Blick scheinen mag. Wie Meißner (2012) gezeigt hat, sind ‘moderne’ Methoden fest in der Vergangenheit verankert; umgekehrt sind ‘historische’ Methoden, sei es die Grammatik-Übersetzungsmethode, sei es die direkte Methode oder weitere Methoden (Puren 2007) nach wie vor Bestandteile des aktuellen (Fremd)Sprachenunterrichts (↗ Art. 30). Literatur Ahlqvist, A. (Hrsg.) (1987): Les premières grammaires des vernaculaires européens (= Histoire - Épistémologie - Langage 9/ 1). Saint-Denis. Colombat, B. (Hrsg.) (1998): Corpus représentatif des grammaires et traditions linguistiques , t.1 (= Histoire - Épistémologie - Langage hors-série n°2). Paris. Colombat, B., Fournier, J.-M. & Raby, V. (Hrsg.) (2012): Vers une histoire générale de la grammaire française. Matériaux et perspectives. Actes du colloque international de Paris (HTL/ SHESL, 27-- 29 janvier 2011) . Paris. Critten, R. G. (2015): Practising French Conversation in Fifteenth-Century England. In: The Modern Language Review 110/ 4, 927-945. 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Auch in der Erstsprache wird das mentale Lexikon im Laufe des Lebens einer Person erweitert und das semantische Gedächtnis weiter ausgebaut. Das Wort wird als Grundeinheit des mentalen Lexikons betrachtet, wie es die Bezeichnung „Lexikon“ vermuten lässt. Doch Wörter sind vielschichtig. In der Kognitionspsychologie (für die Literatur zu den kognitionspsychologischen Erkenntnissen im Folgenden siehe Lutjeharms 2004), in der das mentale Lexikon experimentell untersucht wird, benutzt man „Lexem“ für die phonologische Wortform, während die abstrakte Grundeinheit im Lexikon als „Lemma“ bezeichnet wird (in der Sprachwissenschaft dagegen meist als „Lexem“). Zu den Repräsentationsebenen des Lemmas gehören Worteigenschaften wie Bedeutung, Wortart, morphologische Form, Flexionsmorpheme, syntaktische Verwendungsmöglichkeiten (z. B. Verbvalenz), Kombinierungsmöglichkeiten, phonologische und pragmatische Informationen, Frequenz u. a. Diese Repräsentationsebenen können sehr flexibel eingesetzt werden. Mit lexikalischem Zugriff, d. h. dem Zugriff auf das mentale Lexikon, ist der Moment gemeint, in dem alle Repräsentationsebenen (Eigenschaften) eines Wortes für die weitere Verarbeitung zur Verfügung stehen. Bei der Rezeption greift man ausgehend von der vorgegebenen Lautform oder der graphischen Form auf die Repräsentationsebenen des Lemmas zu, bei der Produktion erfolgt der Zugriff vom Begriff aus. Erst anschließend geschieht beim Sprechen die Aktivierung der phonologischen Eigenschaften des Lemmas, also des Lexems. Morpheme werden als eines von vielen Ordnungsprinzipien im mentalen Lexikon betrachtet und dürften für den lexikalischen Zugriff eingesetzt werden. Das mehrsprachige mentale Lexikon wird im Allgemeinen als sprachübergreifend betrachtet, d. h. es wird eine gemeinsame Repräsentation der erworbenen Sprachen angenommen, vielleicht mit sprachbedingten Subsystemen oder bei jedem Lemma eine Sprachkennzeichnung als eine von vielen Repräsentationsebenen. Man geht von einer Netzwerkstruktur aus, übrigens auch innerhalb von nur einer Sprache. Es kann unterschiedlich starke Verbindungen zwischen Übersetzungsäquivalenten geben. Viele Faktoren können die Stärke der sprachübergreifenden Verbindung beeinflussen, so u. a. die Sprachbeherrschung, die Art bzw. individuelle Geschichte des Spracherwerbs (↗ Art. 51), die Verwendung, die Distanz zwischen Sprachen oder Worteigenschaften. Für Kognaten wurden viele Hinweise auf gemeinsame Speicherung gefunden. Wörter der verschiedenen Sprachen, die konkrete Sachen bezeichnen, könnten stärker mit einander verbunden sein als die für abstrakte Begriffe, bei denen kulturbedingte Aspekte oft wichtig sind. Viele <?page no="322"?> 313 62. Dasmehrsprachige mentaleLexikon experimentelle Daten konnten zeigen, dass das L1-Übersetzungsäquivalent beim Zugriff auf fremdsprachliche Wörter mit aktiviert wird. Auch neurolinguistische Daten zeigen, dass bei der Verarbeitung einer Zweitsprache automatisch der lexikalische Zugriff auf die Erstsprache stattfindet, so dass Übersetzungsäquivalente und alternative Bedeutungen mit aktiviert werden (Meuter 2009). Aufgrund des Verhältnisses der erworbenen Sprachen (Sprachdistanz oder -verwandtschaft), der Erwerbsgeschichte und des Erwerbsalters, der Verwendung, des Niveaus der Sprachbeherrschung u. a. dürfte es individuelle Unterschiede im mentalen Lexikon geben (vgl. auch die Ergebnisse von Franceschini et al. 2004: 184 zum Gehirn aufgrund von bildgebenden Verfahren). Zudem ist das Lexikon nicht statisch, es ändert sich bei jeder Sprachverwendung. Letzteres impliziert die Aktivierung bestimmter Elemente. Bei häufiger Aktivierung wird der lexikalische Zugriff auf ein Lemma beschleunigt. 2. Das mentale Lexikon bei der Sprachverarbeitung Bei der Rezeption werden Zeichen und Laute vom sensorischen Gedächtnis aufgenommen und an das Arbeitsgedächtnis weitergeleitet, das nur eine beschränkte Kapazität hat. Mithilfe der Informationen aus dem mentalen Lexikon werden Zeichen und Laute automatisch erkannt und unter Einsatz von Aufmerksamkeit gedeutet. Bei der Produktion geschieht ausgehend von der Sprech- oder Schreibintention mithilfe des mentalen Lexikons eine Umsetzung in Laute oder Zeichen. Die Wiedererkennung, Deutung und Umsetzung geschieht im Arbeitsgedächtnis. Dazu werden ein Input- und ein Outputsystem angenommen. Um Informationen etwas länger im Arbeitsgedächtnis zu halten, weil man mehr Zeit für die Verarbeitung oder die Formulierung braucht, beispielsweise bei schwierigen Stellen, zum Lernen oder zum besseren Behalten, wird die sogenannte phonologische Schleife eingesetzt. Mithilfe des akustischen Kodes können Informationen so etwas länger im Arbeitsgedächtnis festgehalten werden (Rezirkulation oder rehearsal , vgl. Baddeley 1997: 52 ff.). 3. Forschung zum mehrsprachigen mentalen Lexikon Bei der (experimentellen) Forschung der Kognitionspsychologie wurde anfänglich nur die Erstsprache untersucht, zumeist das Englische. Erst in den 1990er Jahren findet das bilinguale Lexikon mehr Interesse (Schreuder & Weltens 1993). Eine sehr frühe Arbeit zum mehrsprachigen Lexikon ist Abunuwara (1992), der bei Arabischsprachigen Hebräisch und Englisch als Fremdsprachen untersuchte. Heute wird immer noch vor allem das bilinguale Lexikon erforscht (Pavlenko 2009), obwohl seit etwa zwei Jahrzehnten das Interesse für Mehrsprachigkeit wächst (Szubko-Sitarek 2015). Gelegentlich wird bilingual auch im Sinne von mehrsprachig verwendet (↗ Art. 85). Das Lexikon wird vorwiegend mit Hilfe von Priming -Experimenten zur Worterkennung und zum Wortabruf erforscht. Dabei wird ein Wort ( Prime ) in Sprache A offen oder verdeckt präsentiert und untersucht, wie bzw. ob dieses Wort die Verarbeitung eines Wortes in Sprache B beeinflusst. Eine Hypothese über die Struktur des mehrsprachigen mentalen Lexikons und den Zugriff darauf wird durch die Reaktionszeit bestätigt oder ver- <?page no="323"?> 314 MadelineLutjeharms neint. Heute wird häufig das Code-Switching oder der Sprachwechsel (↗ Art. 5) erforscht, wobei Teile einer Äußerung in einer anderen Sprache erfolgen, die von den Gesprächsteilnehmenden meist verstanden wird (bspw. de Bruin et al. 2018; Beatty-Martinez & Dussias 2017). Der Kodewechsel kann in sehr unterschiedlichen Situationen stattfinden und wird u. a. durch die Gesprächsbeteiligten, durch das Thema, durch die schnellere Aktivierung der anderen Sprache bzw. durch Kenntnislücken ausgelöst. Deshalb sind die Forschungsergebnisse schwer vergleichbar. Im Bereich der Forschung zum Fremdsprachenerwerb (zur Angewandten Linguistik, Psycholinguistik) besteht neuerdings mehr Interesse für das mehrsprachige Lexikon als in der Kognitionspsychologie (vgl. u. a. Cenoz et al. 2003; Tschirner 2004; Li 2006; De Angelis & Dewaele 2011; eine frühe Arbeit ist Börner & Vogel 1994). Hier werden vor allem traditionelle Methoden der Angewandten Linguistik eingesetzt, neben Wortschatzerwerb Trans