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Rita Schober - Vita. Eine Nachlese

Ediert, kommentiert und mit Texten aus Archiven und dem Nachlass erweitert von Dorothee Röseberg

1029
2018
978-3-8233-9227-9
978-3-8233-8227-0
Gunter Narr Verlag 
Dorothee Röseberg

Sie stehen noch in vielen Bücherschränken: die deutschen Ausgaben der Rougon-Macquart von Émile Zola mit den Nachworten von Rita Schober. Aus Anlass des 100. Geburtstages der international bekannten Romanistin und Zolaforscherin erscheint erstmals ihre Vita. Wer war diese Frau, die fünf Staatsbürgerschaften hatte, die großen politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts erleben musste und in der DDR als eine der ersten Frauen Professorin wurde? Wie erinnert sie selbst nach 1989 ihr Leben? Dieses Selbstzeugnis wird mit bislang unveröffentlichten Dokumenten aus ihrem Nachlass und aus Archiven konfrontiert und kommentiert. Dabei geht es um die Frage: Wie schreibt man sein Leben nach tiefgreifenden gesellschaftlichen Brüchen?

<?page no="0"?> lendemains edition lendemains 46 Ediert, kommentiert und mit Texten aus Archiven und dem Nachlass erweitert von Dorothee Röseberg Rita Schober ‒ Vita Eine Nachlese <?page no="1"?> Rita Schober — Vita Eine Nachlese <?page no="3"?> Rita Schober — Vita Eine Nachlese Ediert, kommentiert und mit Texten aus Archiven und dem Nachlass erweitert von Dorothee Röseberg <?page no="4"?> Gedruckt mit Unterstützung der Leibnis-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-8227-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 13 13 16 32 32 73 75 78 78 81 97 100 115 130 130 137 171 195 197 199 200 226 255 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . TEIL I VITA - EINE NACHLESE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editorischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Les origines oder der schwierige Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschullehrerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vom Aufbau der Romanistik an der Humboldt-Universität in schwieriger Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Einzelne Textfragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Internationale Beziehungen: Gastvorlesungen (GV), Kolloquien (Koll) und Internationales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin . . 3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Moskau - Leningrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Gastvortrag in Moskau 1959 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Studienaufenthalt in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Gastsemester Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Le tournant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Versatzstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Jahresbilanzen / Privates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT . . . . . . . . . . . . 1. Die Textsorte Autobiographie und Rita Schobers Vita . . . . . . . . . . 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der erste und zweite Umbruch (1938 und 1945/ 46) und das Kapitel Les origines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der dritte Umbruch: 1989/ 90 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Religiöser Glaube und politisch-weltanschauliche Bildung . . . . . . <?page no="6"?> 264 265 273 280 288 294 295 304 305 308 312 318 324 364 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Editionsgeschichte als Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . 4.2 Literaturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zum Geleit der CD-ROM Ausgabe der Rougon-Macquart 5. Rita Schober und Victor Klemperer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Rita Schobers politische Netzwerke in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Der Briefwechsel mit dem Politbüromitglied Kurt Hager 6.2 Weitere Korrespondenz mit politischen Führungskräften 6.3 Rita Schober und die Staatssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Frau-Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Mühe und Glück, Glück und Mühe - Selbstgespräche . . . . . . . . . . 9. Anstelle eines Nachwortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . TEIL III DOKUMENTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Vorwort Die Bilder, die von Rita Schober in der Romanistik, in der Öffentlichkeit der DDR und darüber hinaus in wissenschaftlichen Kreisen auch im Ausland verbreitet waren bzw. sind, werden mit diesem Buch auf die Probe gestellt. Wer war die Frau, von der man als die „schöne Rita“, als „rote Rita“, als „die am besten an‐ gezogene Professorin“ oder als die „Grande Dame der Romanistik“ sprach? Sie war geschätzt, bewundert und gefürchtet zugleich. Manchen, die Rita Schober in der Universität kennenlernten, galt sie als gestrenge und unnahbare Kollegin, Professorin, Genossin, Direktorin, Dekanin, von der man wusste, dass sie per‐ sönliche Beziehungen zur SED-Führungsspitze unterhielt. Bekannt ist sie über nationale Grenzen hinaus als eine der wichtigsten Romanistinnen der DDR, als marxistische Literaturwissenschaftlerin, als Zola-Forscherin und als hoch de‐ korierte Wissenschaftlerin der DDR. Ihre Lebensgeschichte ist ein Zeugnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Man kann sie auch als Geschichte einer der bekanntesten Romanistinnen des vergangenen Jahrhunderts lesen und als Geschichte einer bemerkenswerten Frau. Mit diesem Buch steht in Teil I ihr Selbstblick auf diese Geschichte im Mit‐ telpunkt. Da ihre Vita unvollendet geblieben ist, wird in Teil II dieser Selbstblick durch ausgewählte Dokumente gestützt, ergänzt, konfrontativ überformt und aus einer biographiewissenschaftlichen Perspektive kommentiert. In Teil III sind Schriftstücke zu finden, die Rita Schobers Leben in den von ihr erfahrenen un‐ terschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen dokumentieren. Sie hatte sechs Staatsbürgerschaften und war eine Zeitlang staatenlos. Rita Tomaschek wurde am 13. Juni 1918 in der Österreich-Ungarischen Mo‐ narchie in Rumburg geboren. Sie absolvierte ihre Schulzeit, ihr Studium und ihr Doktorat in ihrer Heimat, im Sudentenland, das nach dem Ersten Weltkrieg erst zur Tschechoslowakei, dann zum Deutschen Reich gehörte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges siedelte die Kriegswitwe Rita Hetzer nach Deutschland in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) aus. Sie kam, zusammen mit ihrem spä‐ teren Mann, dem in Dachau inhaftierten und 1945 entlassenen Robert Schober, mit einem Antifa-Aussiedlungstransport 1946 nach Halle (Saale). Sie wurde an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) als wissenschaftliche Assistentin angestellt. Von 1940 bis 1945 hatte sie der NSDAP angehört, 1946 trat sie der SED bei. Mit der Berufung Victor Klemperers 1948 erhielt das ro‐ <?page no="8"?> manische Seminar in Halle einen Lehrstuhlinhaber und Rita Schober, die in der französischen Sprachwissenschaft in Prag bei Erhard Preißig promoviert und in einem Luftschutzkeller bei Fliegeralarm ihre letzte Prüfung absolviert hatte, einen Literaturprofessor als Betreuer ihrer Habilitationsschrift zu Zola, die sie 1954 verteidigte. 1951 wurde sie nach Berlin berufen, arbeitete im Staatssekre‐ tariat für Hoch- und Fachschulwesen, um schließlich die Nachfolge Victor Klemperers am Berliner Romanischen Seminar zu übernehmen. Sie war eine der ersten Frauen mit Ordinariat an der Humboldt-Universität zu Berlin. Als solche prägte sie das wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Leben der Hum‐ boldt-Universität (HU), die Lehre sowie die Nachwuchsausbildung der Roma‐ nistik, auch über das Jahr 1978 hinaus, als sie emeritiert wurde. International und national wirkte sie in zahlreichen Gremien, darunter in der UNESCO und erhielt hohe staatliche Auszeichnungen, so den Vaterländischen Verdienstorden in Gold und die Palmes académiques des Französischen Staates in der Klasse des Chevalier. Ein Vertrag regelte außerdem bis 1989 ihren steten Einfluss auf die Entwicklungen am Institut für Romanistik der Humboldt-Universität. Dann er‐ lebte Rita Schober den dritten gesellschaftlichen Umbruch in ihrem Werdegang, das Ende der DDR und den Übergang in das Leben einer berenteten Wissen‐ schaftlerin der DDR in der Bundesrepublik Deutschland. Sie war weiterhin aktiv, reflektierte die wissenschaftlichen und politischen Grundlagen ihres bisherigen Tuns, sie publizierte, erhielt Einladungen zu Vorträgen und Gastsemestern. Rita Schober starb im Dezember 2012 in Berlin, fast ein Jahr nach dem Tod ihres einzigen Sohnes. Wolfgang Asholt ist es zu verdanken, dass Rita Schober kurz nach der Jahr‐ tausendwende das Niederschreiben ihrer Vita in Angriff genommen hat. Man mag vermuten, dass es ihr am Herzen gelegen hat, von sich ein letztes Mal ein Bild für die Öffentlichkeit zu entwerfen. Diese Vermutung ist ebenso zutreffend wie die Spuren ihrer Widerstände gegen ein solches Vorhaben erkennbar sind. Im Resultat liegt ein Fragment vor, das viele Fragen aufwirft. Neben der Un‐ vollständigkeit der vorliegenden Texte fällt dem eingeweihten Leser deren He‐ terogenität auf. Hat man stellenweise den Eindruck ein Geschichtsbuch, z.T. in belehrendem Ton geschrieben, oder einen Reiseführer mit vielen sachbezogenen Daten und Fakten zu lesen, so wird man zugleich Zeuge von Privatem und per‐ sönlichen Befindlichkeiten. Dieses Pendeln zwischen Sachbuch, autobiographi‐ scher Selbstdarstellung und Selbstbefragung macht den ambivalenten Charakter dieser Vita aus und der Adressat des Geschriebenen scheint zu wechseln. Dieser ambivalente Charakter verweist einerseits auf den Willen zur „Aufklärung“ und Selbstaufklärung am Ende des Lebens und macht die Grenzen derselben deut‐ lich. Und wie so oft, ist das Gesagte auch in diesem Fall ein Zeugnis des Ver‐ 8 Vorwort <?page no="9"?> 1 FAZ, 16. Juni 1999, S. N7 drängten und des Schweigens, des Nicht-Gesagten, des Nicht-Sagen Könnens. Hat dieses Schweigen mit dem Zusammenfallen einer „moralischen Schmerz‐ grenze (…) mit einer persönlichen Schamgrenze“ zu tun, wie 1999 Hans-Ulrich Gumbrecht die Situation so mancher Intellektueller in der DDR im letzten Viertel ihres Lebens zutreffend beschreibt? 1 Rita Schober war eine dem Rationalen, dem Logos verpflichtete Wissen‐ schaftlerin, deren Vorlieben in der Schulzeit auf Latein und Mathematik ge‐ richtet waren. Studieren wollte sie Mathematik und Chemie, obgleich sie von Kind an Freude am Auswendiglernen literarischer Texte hatte. Ihre Liebe galt schon früh der Sprache und sie war, bis ins hohe Alter hinein empfänglich für ästhetische Genüsse. Die Textsorte Vita stellte sie offenkundig vor bislang ungekannte Herausfor‐ derungen. Sie hat kein Tagebuch geschrieben, aber ihre Korrespondenz, auch die von ihr selbst geschriebenen Briefe, Arbeitspapiere und Notizen sorgfältig archiviert. Die Vita-Texte oszillieren zwischen dem Bemühen um eine positi‐ vistisch anmutende Faktentreue, die auch ihren wissenschaftlichen Arbeiten eigen war und den Versuchen, das eigene Leben in verschiedenen Facetten zu überschauen und zu durchdenken. Dabei stehen Systematisierungsversuche, die ihr Leben in gesellschaftliche Gegebenheiten und Prozesse einordnen und ihm Sinnhaftigkeit geben sollen, neben textuellen Versatzstücken, die sich einer sol‐ chen Systematisierung entziehen bzw. verweigern. Die Texte, die fast alle im letzten Lebensjahrzehnt verfasst sind, lassen sich als Selbstdokumentation einer erfolgreichen wissenschaftlichen Karriere lesen, die unter den Bedingungen des Nationalsozialismus und der DDR eng mit politischen Stellungnahmen ver‐ bunden war. Wie diese enge Verbindung von Wissenschaft, Lehre und Politik thematisiert bzw. ausgespart wird, entscheidet wesentlich mit über die persön‐ liche Sinngebung des eigenen Lebens nach dem Ende der beiden Diktaturen. Die Suche nach überdauernden Wert- und Sinngrundlagen durchzieht explizit und implizit die Vita-Texte. Sie tragen zum einen jenen Bekenntnischarakter, der vom Wissen um die gesellschaftlich opportun gewordene Infragestellung von politischen Standpunkten und Werten zeugt, die nach 1989 vielen erzählten DDR-Biographien eigen und deshalb oft mit Rechtfertigungsdiskursen versehen ist. Spricht aus diesem Bekenntnischarakter zugleich Nachdenklichkeit und mitunter Trotz, so vermitteln manche Texte auch eine tiefe Trauer, Einsamkeit und die Suche nach Trost. Letzteren hat Rita Schober in den späten Lebensjahren auch im Katholizismus gesucht, der Religion, mit der sie in der Kindheit und im Jungendalter aufgewachsen war. Die Texte vermitteln diese Hinwendung zur 9 Vorwort <?page no="10"?> Religion nur fragmentarisch und lassen Spielraum für Interpretationen. Dass sich ihr Wunsch nach einem traditionellen römisch-katholischen Begräbnis nicht erfüllt hat, gehört zu den tragischen Momenten ihres Lebens und verweist zugleich darauf, dass Rita Schober eine vielschichtige Persönlichkeit war. Der Gesang des Cavadossi aus der Oper Tosca von Puccini in der Trauerhalle wäh‐ rend der weltlichen Begräbnisfeier spiegelt etwas von solcher Tragik, so wie sich das Volkslied S is Feieromd zum Ausgang und auf dem Weg zur Grabstelle mit der tiefen Verbundenheit zu ihrer sudetendeutschen Heimat und einem Rückblick auf ein arbeitsintensives Leben verbindet. Der fragmentarische und so manche Widersprüche erhellende Charakter der Vita-Texte veranlasste mich als Herausgeberin, den Texten, die von Rita Schober als Vita gekennzeichnet sind, weitere Texte und einige Dokumente hinzuzu‐ fügen, die gesondert in einem zweiten bzw. dritten Teil des vorliegenden Bandes versammelt sind. Die meisten der Texte in Teil II haben mit den Texten der Vita des Teil I gemeinsam, dass sie Reflexionen enthalten, die Rita Schober nach 1989 in Briefen, Interviews und privaten Notizen hinterlassen hat. Diese Texte sind thematisch geordnet. Die thematische Struktur ist das Ergebnis einer intensiven Beschäftigung mit dem Nachlass Rita Schobers, der für den vorliegenden Band erstmalig erschlossen wurde. Er war noch nicht archivalisch bearbeitet. Die Themen schienen vor allem aus den von Rita Schober selbst sorgfältig archi‐ vierten Dokumenten aufzuscheinen. Intensive Recherchen in verschiedenen Archiven und Interviews mit Wegbegleitern Rita Schobers komplettierten die editorische Arbeit und den Kommentar. Die Sicht der Herausgeberin auf die insgesamt 58 als Vita gekennzeichneten Texte und auf die weiteren aufgefundenen Dokumente sind in eine übergeord‐ nete Fragestellung integriert: Wie schreibt man seine Lebensgeschichte nach tiefgreifenden gesellschaftlichen Systemumbrüchen? Diese Frage leitet den bi‐ ographiewissenschaftlichen Kommentar in Teil II. Insgesamt entstand ein Textensemble, das aufgrund des fragmentarischen Charakters manche Redundanzen enthält und durch die Textwahl und den Kommentar in Teil II auch den subjektiven Blick der Herausgeberin sichtbar macht. Dieser Blick ist nicht frei von persönlichen Erfahrungen mit Rita Schober im Kontext der DDR-Romanistik und in der Nachwendezeit, doch ist er unab‐ hängig von einer Schüler- und direkten Kollegenschaft. Zudem unterhielt Rita Schober zur Kulturwissenschaft ein distanziertes Verhältnis, so dass die wis‐ senschaftlichen Berührungspunkte gering blieben. (Siehe Teil II, Kapitel 9) Mein Dank gilt allen voran Maria Schober, die mir die Rechte übertrug, bereits ab 2014 in den Nachlass Rita Schobers einzusehen und die hinterlassenen Texte ihrer Großmutter zu veröffentlichen. Im Zusammenhang mit der Erarbeitung 10 Vorwort <?page no="11"?> des Teil II waren mir eine Reihe von Kollegen anderer Disziplinen mit ihrem fachlichen Rat wertvolle Gesprächspartner: die Historikerin Ulrike van Hoorn, die Wissenschaftshistorikerin Annette Vogt, sowie die Pschychologen Uwe Wolfradt und Franziska Röseberg. Die französische Literaturwissenschaftlerin und Komparatistin Aurélie Barjonet hat den gesamten Prozess meiner Annä‐ herung an das Leben Rita Schobers und an ihre Persönlichkeit begleitet. Mit ihr habe ich wichtige Fragen, Zweifel und Hypothesen besprochen. Für diese in‐ tensiven Gespräche, ihre klugen Beobachtungen und ihren Rat bin ich zu tiefem Dank verpflichtet. Ebenso haben Wolfgang Asholt und Wolfgang Klein jeweils besonderen Anteil am Zustandekommen dieser kommentierten Vita. Von Wolf‐ gang Klein erhielt ich das Material mit wertvollen Hinweisen und Wolfgang Asholt begleitete vertrauensvoll die verschiedenen Phasen der Arbeit, stets mit Hilfe seiner reichen Erfahrungen. In Ottmar Ette fand ich einen klugen Ratgeber für Entscheidungen, die sich einer Autorin beim Schreiben der romanistischen Fachgeschichte des 20. Jh. stellen. Zu den Wegbegleitern Rita Schobers, die mit mir Gespräche führten, gehören: Hans Klare, Edith und Horst Heintze, Hans-Otto Dill, Gerhard Schewe, Irene Selle, Ursula Bociort, Ilse Ennig, Angelika Klapper, Rösemarie Gläser, Francis Cloudon, René-Marc-Pille, Claude Duchet. Ihnen gilt mein Dank ebenso wie Gerta Stecher und Horst Büttner, die mit Rita Schober die zitierten Interviews führten und mir für Gespräche zur Verfügung standen, wie auch dem Präsidenten der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Gerhard Banse, der mir den Zugang zum Material des letzten Interviews 2011 ermöglichte. Dietrich Mühlberg danke ich für Informationen zum Interview der Kulturwissenschaftler der Humboldt-Universität im Jahre 1995. Christian Löser, dem Herausgeber der Tagebücher Victor Klemperers bin ich zu Dank ver‐ pflichtet für Vorabinformationen und die Zusendung jener Ausschnitte aus den Tagebüchern von Victor Klemperer, die erstmalig 2018 mit Bezug auf Rita Schober erscheinen. Ohne die Hilfe des an der Karls-Universität Prag tätigen Altphilologen Martin Bažil, der Übersetzungen aus dem Tschechischen übernahm, wäre die Brisanz der Dokumente, die im Teil II abgedruckt sind, im Dunkeln geblieben. Ihm danke ich für die großzügige und kompetente Unterstützung. Bei der editorischen Ar‐ beit am Teil I, der Sichtung und detailgetreuen Zuordnung aller Textfragmente 11 Vorwort <?page no="12"?> 2 Christine Köchy. Le tournant - Autobiographie und geschichtliche Brüche. Untersu‐ chung zu ausgewählten Texten des Nachlasses der DDR-Romanistin Rita Schober. Ba‐ chelorarbeit im Rahmen des deutsch-französischen Studiengangs „Interkulturelle Eu‐ ropa- und Amerika-Studien/ Langues Etrangères Appliquées“ an der MLU und der Université Paris Ouest Nanterre la Défense, in Betreuung von Anne-Marie Pailhès und Dorothee Röseberg. Eingereicht und angenommen im September 2015. Unveröffent‐ licht. haben Ulrike Röseberg und Christine Köchy 2 unverzichtbare und zuverlässige Hilfe geleistet, wie auch Françoise Bertrand durch eine gründliche Korrektur des Textes. Mein Mann, der Künstler JoDD von Schaffstein, hat sich mit der Digitalisie‐ rung einzelner Dokumente und Fotographien in bestmöglicher Qualität befasst. Nicht zuletzt geht mein Dank an meine Freundinnen und meine Familie, die alle Phasen an dieser besonderen, nicht immer leichten Editionsarbeit, bei der auch schwierige Entscheidungen zu treffen waren, mit ihrem Interesse und durch Zuhören begleitet haben. 12 Vorwort <?page no="13"?> TEIL I VITA - EINE NACHLESE Editorischer Kommentar Am 23. Mai 2014 übergab mir Wolfgang Klein 58 Dateien mit dem Vermerk ‚Vita’, die er in dem privaten Nachlass Rita Schobers, gemäß einer früheren Absprache mit dieser, auf deren PC nach ihrem Tod gesichert und übernommen hatte. Die ursprüngliche Konzeption ihrer Vita hat Rita Schober in einem Brief for‐ muliert, den sie am 12. September 2006 an Wolfgang Asholt geschrieben hatte. Hier der Wortlaut des Briefes, der als eines der 58 Dokumente überliefert ist: „Berlin, den 12. September 2006 Lieber Herr Asholt, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie freundlicherweise meine Überlegung prüfen wollen. Vielleicht lassen sich so die verschiedenen Ansätze besser unter einen Hut bringen. Nachfolgend mein Vorschlag: Titel : Nachlese Inhalt: Korrespondenzen: - Klemperer / Hg. Wolfgang Klein - Krauss / Hg. Karlheinz Barck Zola: - Einleitung: erweitertes und annotiertes Geleitwort (aus digitaler Version Direkt-Media), d.h.: Einbeziehung der wesentlichen Nachwortkorrek‐ turen und zusätzlich neu der für Zola besonderen Übersetzungsprobleme, kleine Ergänzung der schon angesprochenen theoretischen Grundlagen. (Ich habe diese Ergänzungen aufgesprochen für ein Interview auf Band). - Nachwort zu Nana, annotiert - Nachwort zur Erde (gekürzt u. annotiert) Meine vita als Romanistin: Erzählt aus dem Rückblick und der Erinnerung, ich habe keine Tagebuchno‐ tizen (wie mein Lehrer Klemperer), also nicht nur Fakten nach Akten 1. Les origines = Die Studienzeit in Prag (fertig, bis auf kleine Korrekturen) <?page no="14"?> 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschullehrerin: - Grundlagen: Klemperer = literarhistorisch; Kleinmachnow-Lehrgang = marxistisch-theoretisch; mein Mann Robert: politisch; Jakobson (Begeg‐ nung in Rumänien) = literaturtheoretisch (Strukturalismus) - Wissenschaftliche Anregungen durch AILC = Konferenzen, Vorträge, Funktionen - Die Berliner Jahre als Institutsdirektor (1957-1969), die Konferenzen des Instituts - Kurzer Ausblick auf die letzten Jahre (als Dekan und Emerita, 1970 -1989) 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin - wissenschaftliche Auslandskontakte und Gastvorlesungen in: Polen, Rumä‐ nien, Moskau, Paris, Aix-en-Provence (Raimond Jean), Bordeaux (Escarpit). Nur kurz Bedingungen der Reisen: travel-board = presumed-german, Geld‐ reserve = 5 DM, Flug: festgelegte Linie: not to be tanslated, keine Versiche‐ rungen, keine Botschaft, Geldanweisungen nur für eine bestimmte Bank, Streiks = geschlossen, was nun? Nur kurze Hinweise - Die Auslandssemester: Moskau 1970, Graz 1984, das Zola-Wochenend-Kol‐ loquium bei Neuschäfer in Saarbrücken 1984 = Erfahrungen mit den Kol‐ legen, den jeweiligen Bedingungen der Arbeit und Eindrücke von den Stu‐ denten. Tragender Teil dieses Abschnitts 4. Le tournant Konferenz in Akademie 1989 zum 200. Gedenktag der französischen Revolu‐ tion mit anschließender Teilnahme an der Protestkundgebung vor dem ZK mit Claudon und Manfred Naumann, und den Forderungen nach Rücktritt des Po‐ litbüros. Heimweg mit Claudon, der Anfang vom offiziellen Ende der DDR Neue Freunde und neue wissenschaftliche Eindrücke und kleine Aktivitäten Lieber Herr Asholt, hoffentlich bekommen Sie nun keinen Schreck. Prag lege ich dem jetzigen Entwurf bei, denn Sie müssen sich ja ein Bild machen können. Im Wesentlichen sollte er nach meiner Meinung so bleiben. Die Vita meines eigentlichen Lehrers Preißig muß ich noch ergänzen, aber ich habe bereits die Daten und wollte jetzt nicht mit der Korrektur anfangen. Ich muß auch noch etwas bei Hausmann nachsehen. Ein Grund für diesen Vorschlag ist unter anderem die Geschichte der DDR-Romanistik von Gerdi Seidel. Ich glaube, sie ist eine Hausmann-Schülerin 14 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="15"?> und war auch bei mir zu einem Gespräch. Aber einiges scheint mir doch der Korrektur bedürftig. Egal wie die Entscheidung ausfällt - es kann ja sein, dass der Verlag diese Mischart für grundsätzlich ungeeignet für seine Zwecke erachtet - dann bleibt es eben bei der Publikation der Korrespondenzen in der Zeitschrift, wenn es Ihnen recht ist. Übrigens, die historisch-politischen Einschübe bei dem Prag-Teil schienen mir wegen der allgemeinen Unkenntnis dieser Geschichte notwendig, für die Zeit danach kann ich auf die inzwischen reichlich erschienenen historischen Arbeiten über die DDR einfach verweisen, falls es notwendig sein sollte für irgendein Detail. Lieber Herr Asholt, nochmals herzlichen Dank für das heutige Gespräch und hoffentlich taucht die Karte noch auf. Ich habe in meinem Notizbuch nachge‐ sehen, sie war bei dem ersten Kartenschwung dabei! Ihnen und Ihrer lieben Gattin, alles Gute und ganz liebe Grüße Ihre Rita Schober“ Für die Vita als Romanistin hatte Rita Schober der Konzeption zu Folge vier Kapitel vorgesehen. Von ihnen liegt lediglich das erste vollständig vor. Es ist das älteste der 58 Dokumente und mit dem Jahr 2006 datiert. Wie aus dem Nachlass hervorgeht, hat sich Rita Schober seit dem Jahr 2000 mit dem Gedanken befasst, ihre Vita zu schreiben. Da 2006 das erste Kapitel vorliegt, ist davon auszugehen, dass sie in den letzten zehn bis zwölf Jahren ihres Lebens an ihr geschrieben hat. Mit Ausnahme des ersten Kapitels sind alle anderen unvollständig geblieben. Die Texte lassen sich den vorgesehenen Kapiteln wie folgt zuordnen: Vier Texte zu Kapitel 1: Les origines, neun Texte zu Kapitel 2: Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschullehrerin, zwanzig Texte zu Kapitel 3: Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin und zehn Texte zu Kapitel 4: Le tournant. Weitere fünfzehn Texte gehen über die Konzeption hinaus. Es handelt sich dabei in der Mehrzahl um Lebensläufe, die Rita Schober für verschiedene Publikationen angefertigt hat, um Verträge zu ihrer Nachlassbibliothek mit der Universität Potsdam und um Interviews. Die Interviews werden als ein fünftes Kapitel veröf‐ fentlicht. Zum Abdruck kommen in der vorliegenden Vita also nicht alle 58 Texte, weil innerhalb dieser verschiedene Varianten von Dopplungen enthalten sind: Vorar‐ beiten, Ergänzungen, einfache Kopien und Wiederholungen, die sich aus Mehr‐ fachverwendungen von Texten und Textteilen ergeben. Es erfolgte ein gründlicher 15 Editorischer Kommentar <?page no="16"?> 1 Durch den Friedensvertrag von Saint-Germain-en Laye (10.09.1919) zwischen Öster‐ reich und den Entente-Staaten wurde die Anerkennung der selbständigen Nachfolge‐ staaten durch Österreich-Ungarn, einschließlich der Abtretung der entsprechenden Gebiete festgelegt (Ploetz, 28. Aufl.1976, S. 1250) Während des Sommers und Herbstes 1918 wird die Errichtung einer unabhängigen Tschechoslovakei von den alliierten Mächten einzeln anerkannt. Am 14. Oktober bildet der tschechoslovakische Nationalrat in Paris die Regierung mit Masaryk als Präsidenten und Benes als Außenminister. Am 28.Oktober 1918 wird in Prag die Tschechoslovaki‐ sche Republik ausgerufen. Am 29. Februar 1920 erhält der neu gegründete Staat seine endgültige Verfassung als parlamentarische Demokratie nach französischem Vorbild. (Ploetz, 32. Aufl. 2005, S. 1067) Am 4. März 1919 kam es zur ersten, z.T. blutigen Auseinandersetzung zwischen den deutschen Volksteilen und der tschechischen Staatsmacht anlässlich des Verbots der Teilnahme der Deutschen an den Wahlen zur Nationalversammlung Deutsch-Öster‐ reichs. (Ploetz, 28. Aufl. S. 1302) Vergleich aller verschiedenen Textvarianten mit dem Ziel, alle Textfragmente der Vita zu erhalten und zu datieren. In den folgenden Kapiteln sind die editorischen Kommentare kursiviert. 1. Les origines oder der schwierige Anfang Hierbei handelt es sich um die letzte Fassung vom 18.5.2009, die identisch ist mit einem Text vom 9.2.2008, bis auf einen Satz, der als Fußnote eingeschoben wird. Der Text vom 15.7.2006 wird durch die vorliegende Fassung vom 18.5.2009 lediglich ergänzt, bleibt jedoch weitgehend die Grundlage. Die allgemeinen Voraussetzungen, die für einen Mensch bei seiner Geburt ge‐ geben sind, kann sich niemand aussuchen. Zeit, Ort, Sprache, Land, die konkrete historische Situation, in die ein Kind hineingeboren wird, können sein späteres Leben entscheidend beeinflussen. Ich wurde am 13. Juni 1918, in den letzten Wochen des Ersten Weltkrieges, in Rumburg, einer nordböhmischen, direkt an der Grenze zum Deutschen Reich gelegenen Kleinstadt geboren. Zu diesem Zeitpunkt gehörten die von Deutschen besiedelten Randgebiete Böhmens, die später unter dem Namen Sudetenland mehr unrühmlich als rühmlich in die Geschichte eingegangen sind, noch zu Österreich-Ungarn, schon wenige Monate später jedoch zu dem neu gegrün‐ deten tschechoslovakischen Staat. 1 Dessen Führung lag mit Thomas G. Masaryk als Präsidenten und Edvard Benes als Außenminister in den Händen der tsche‐ chischen Nationalität. Und angesichts des prozentualen Verhältnisses zwischen den verschiedenen Volksgruppen und der Einbeziehung der deutschen Gebiete 16 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="17"?> 2 46 % der Gesamtbevölkerung Tschechen, 13 % Slovaken, 28 % Deutsche, 8 % Magyaren, 3 % Ukrainer (Ploetz 1976, S. 1302) Minderheitsschutzvertrag vom 10. Sep. 1919 zwi‐ schen der Tschechoslovakei und den alliierten und assoziierten Hauptmächten. (Ploetz ebd.) 3 Am 30. Januar 1930 wird Adolf Hitler durch Hindenburg zum Reichskanzler berufen. Am 1. Oktober 1933 gründet Henlein die sudetendeutsche Heimatfront, deren Name am 30. April 1935 in „Sudetendeutsche Partei“ umgewandelt wird. (Der Große Ploetz, 34. neu bearbeitete Auflage unter der Leitung v. Friedemann Bedürftig (Hamburg) für Lizenzeausgabe KOMET Verlag Köln, Redaktionsschluß Mai 2005, S. 475ff.) in diesen Staat gegen den Willen der dortigen Bevölkerung 2 bestand von Anfang an die Gefahr neuer nationaler Auseinandersetzungen zwischen dem deutschen und dem tschechischen Bevölkerungsteil, wie sie schon im alten Österreich-Un‐ garn, vor allem seit 1848 von Seiten des tschechischen Teils gegen die österrei‐ chisch-deutsche Dominierung stattgefunden hatten. Damit war auch der Ein‐ mischung von außen, die Hitler nach 1933 mit Hilfe der sudetendeutschen Partei 3 gezielt betrieb, ein Boden bereitet. Diese Vorgänge bestimmten in ge‐ wisser Beziehung die politischen und historischen Verhältnisse, unter denen meine Kinder- und Jugendjahre verliefen. Für die konkrete Berufswahl eines Menschen kommt außer den äußeren Rahmenbedingungen als wesentlicher Steuerungsfaktor ein Zweites hinzu: das Elternhaus. Oft ist die Berufswahl selbst dadurch mehr oder weniger vorge‐ geben. Später einmal Lehrer zu werden, war schon mein früher Kinderwunsch. Lehrer hatten - ganz gleich, ob sie in der Volksschule oder im Gymnasium tätig waren - im Sommer zwei Monate Urlaub. Solch lange Zeit, über deren Verwendung man zunächst selbst verfügen konnte, aber war für meine Eltern, deren meist zwölfstündiger Arbeitstag Montag früh um acht Uhr begann und Samstag Abend um acht endete, ein kaum vorstellbarer Traum. Hinzu kam das soziale Prestige dieses Berufs. Lehrer und gar Gymnasiallehrer, die in Öster‐ reich-Ungarn und der daraus 1918 hervorgegangenen Tschechoslovakei Pro‐ fessoren hießen, genossen in einer Kleinstadt, wie in meinem Geburtsort, ein hohes Ansehen. Und da ich, soziologisch gesehen, aus einer kleinbürgerlichen Familie stammte, hatten meine Eltern den für diese Schicht begreiflichen Wunsch, dass es ihre Tochter im Leben einmal besser haben sollte als sie selbst. Der Lehrerberuf schien ihnen die dafür geeignete Laufbahn, zumal ich offen‐ sichtlich von klein an lernbegierig war. Für ein gut erzogenes Kind gehörte es sich bei uns zu Haus zu irgendwelchen Geburts- oder Familientagen, Gedichte aufzusagen. Für mich konnten sie nicht lang genug sein. Je länger sie waren, umso lieber lernte ich sie. Doch das war nicht der einzige Anstoß für mein späteres literarisches Interesse. Mein Groß‐ 17 1. Les origines oder der schwierige Anfang <?page no="18"?> vater, der als junger Mann mit einer Wandertruppe von zu Hause durchgebrannt und zeitweilig zur Bühne gegangen war, rezitierte noch im hohen Alter lange Passagen aus seinen ehemaligen Rollen, vor allem den Nathan aus Lessings Nathan der Weise und den Marquis Posa aus Schillers Don Carlos. Schiller war sein Lieblingsautor. Nachlesen jedoch konnte ich die von ihm rezitierten Texte nur in seinen Rollenbüchern, denn Bücher besaßen meine Eltern keine. So kam es, dass ich mir in einem Alter, wo es sich für ein junges Mädchen von vierzehn Jahren gehörte, an seine spätere Aussteuer zu denken, zu Weihnachten statt der obligatorischen Bettwäsche für den späteren Hausstand die Ausgaben der deut‐ schen Klassiker, Schiller, Goethe, Lessing wünschte. Mein Vater kommentierte diesen Wunsch mit der kritischen Bemerkung, dass es mir später einmal am Nötigsten fehlen werde und ich als Taschentücher würde Buchseiten benutzen müssen. Von meinem Großvater habe ich die Begeisterung für die Schönheit der Sprache gelernt. Wenn er den Prolog im Himmel aus dem Faust sprach, dann verwandelten Goethes wortgewaltigen Verse der Erzengel auf die unvergäng‐ liche Schönheit der Schöpfung „Die Sonne tönt nach alter Weise in Bruder‐ sphären Wettgesang…“ unsere sehr bescheidene Stube in die Unendlichkeit des Alls? Weltalls? für dessen kleinen Planeten Erde - wie ich aus heutiger Sicht hinzufügen würde - der Wortwechsel zwischen dem Herrn und dem Teufel eine neue Runde des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse ankündigte, der in der Tragödie erstem Teil mit der Schwerkraft eines unentrinnbaren Schicksals er‐ neut seinen Lauf nimmt. Zu diesen literarischen Anregungen kamen ästhetische für Farben und Formen durch meine Eltern. Mein Vater war Verkäufer und ein einfallsreicher Dekorateur in einem Modewarengeschäft und meine Mutter Schneiderin. Sie war zwar eine sehr schlechte Geschäftsfrau, aber eine sehr gute Schnei‐ derin, die die seltene Kunst des Schnitte-Entwerfens sich selbst beigebracht hatte und ihre Anregungen aus Wiener Modejournalen bezog. Diese bunten Bilder‐ bücher, in denen es um die hohe Kunst des Nähens nach sorgsam ausgearbei‐ teten Modellen ging, und Vaters Auslagendekorationen waren meine Art von Initiation in die darstellenden Künste. Meine Schulzeit verlief im Grunde problemlos. Nach vier Jahren Volksschule kam ich unter Überspringung der fünften Klasse, deren Lehrplan ich durch den gemeinsamen Unterricht der Vierten und Fünften in einem Jahrgang nebenbei mit absolviert hatte, in das deutsche Realgymnasium meiner Heimatstadt. Beim Eintritt in das achtklassige Gymnasium gab mir meine Mutter gewis‐ sermaßen ein Ziel vor: ich müsste so gut abschneiden wie die beiden Brüder der jüdischen Familie Janowitz - ihnen gehörte das größte Modewarengeschäft im 18 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="19"?> 4 Die Prager Universität wurde 1348 von Karl dem IV als Karls-Universität gegründet. Ab 1882 wurde die Universität in eine tschechische und eine deutsche Hochschule auf‐ geteilt. 1939 wurde die Deutsche Universität in Prag zur Reichsuniversität Prag erklärt. Bis Kriegsende wurde einzig an dieser Universität in Prag (in deutscher Sprache) ge‐ lehrt, die offiziell in Deutsche Karls-Universität in Prag umbenannt wurde. Am 18. Ok‐ tober 1945 wurde die Auflösung der deutschen Universität verfügt, nachdem die (tsche‐ chische) Karls-Universität im Sommer wieder ihren Betrieb aufgenommen hatte. Ort - die alle Klassen in allen Fächern durchweg mit der Note Eins absolviert hatten. Ich habe dieses Ziel erreicht und in der siebenten Klasse, dem vorletzten Gymnasialjahr, die anlässlich des fünfundachtzigsten Geburtstages von Ma‐ saryk herausgegebene Medaille als beste Schülerin des ganzen Gymnasiums er‐ halten und das Abitur - in der CSR hieß es die Matura - 1936 mit Auszeichnung bestanden. Meine Lieblingsfächer waren von der ersten bis zur letzten Klasse Latein und Mathematik, wozu in der Oberstufe noch Chemie kam. In Latein und Mathe‐ matik hatte ich zudem fachlich hervorragende Lehrer, Prof. Öhlert und Prof. Langhans, die zugleich ausgezeichnete Pädagogen waren. Ihnen verdankte ich in erster Linie die Schulung meines logischen Denkvermögens und meines In‐ teresses für komplizierte Fragestellungen. Die in der lateinischen Grammatik erworbenen Schulkenntnisse waren der feste Grundstock für mein späteres La‐ teinstudium. An eine Mathematikstunde aber erinnere ich mich heute noch, weil sie gewissermaßen ein Probefall für spätere Berufserfahrungen war. Es gab in meiner Klasse drei gleich gute Mathematiker, zwei Jungen und mich. Beim Übergang zur darstellenden Geometrie rief Prof. Langhans uns drei in einer der ersten Stunden gemeinsam an die Tafel, stellte uns eine Aufgabe und sagte zu mir: “Nun werden wir doch einmal sehen, ob Du jetzt auch noch so gut bist wie deine beiden Mitschüler.“ Räumliches Vorstellungsvermögen war nach seiner Ansicht bei Jungen besser ausgebildet. Es blieb bei diesem einen Test, denn er brachte nicht das erwartete Ergebnis. Daß ich nach dem Abitur in Prag an der Deutschen Universität 4 studieren und „Gymnasialprofessor“ werden wollte, stand für mich und meine Eltern fest. Die Frage war aber wie. Denn meine Eltern konnten das Studium nicht finanzieren. Vater war schon seit zwei Jahren arbeitslos. Und Mutters Verdienst aus der Schneiderei reichte gerade fürs tägliche Leben. Nun hatte ich aber seit meinem vierzehnten Lebensjahr Nachhilfestunden gegeben. Im Abiturjahr waren es sieben Schüler pro Woche. Das davon zusammengesparte Geld war ein kleiner Stock, der für die je vier Monate pro Semester vier Jahre lang eine kleine Summe sicherte. Zusammen mit der durch Spendensammeln selbst zu beschaffenden 19 1. Les origines oder der schwierige Anfang <?page no="20"?> 5 Oft äußerte sich dies auch in Kleinigkeiten. So bekam z. B. unser Gymnasium in Rum‐ burg einen neuen, betont pro-tschechischen Direktor. 6 Auch mein Vater hatte seine Arbeit durch den Bankrott des alten Geschäftes verloren, in dem er 1895 als Lehrling angefangen hatte. 7 Hitler legte bereits am 5. November 1937 die gewaltsame Besetzung Österreichs und der deutschen Gebiete der CSR in einem internen Material fest (Ploetz, S. 1293). Unterstützung durch den örtlichen Akademikerverband und das durch Prü‐ fungsleistung auch für Deutsche zu erreichende staatliche Stipendium pro Se‐ mester und weitere Nachhilfestunden während des Studiums und in den Ferien schien dieser Wunsch realisierbar. Das bedeutete allerdings, die Studienzeit von vier Jahren unbedingt einzuhalten und 1940, als Voraussetzung für eine Ein‐ stellung mit einem möglichst guten Staatsexamenszeugnis, abzuschließen. Die schwierige Wahl der künftigen Studienfächer erleichterte für Lehramts‐ anwärter, im Hinblick auf die Aussicht, mit dem fertigen Studium auch tatsäch‐ lich eine Anstellung zu finden, in der CSR ein Amtsblatt, worin die in den nächsten Jahren freien Stellen aufgelistet waren. Dadurch ergab sich für mich die Notwendigkeit, Latein und Französisch zu wählen, obwohl ich, trotz meiner Liebe für Sprachen und Literatur, eigentlich lieber Mathematik und Chemie stu‐ diert hätte. Doch all diese vorsorglichen Überlegungen und Planungen gerieten wie Treibholz in den Mahlstrom der Geschichte. Am 14. Dezember 1935 war Masaryk, der Philosoph auf dem Präsidentenstuhl, im Alter von 85 Jahren zurückgetreten. Vier Tage danach wurde Benes zu seinem Nachfolger gewählt. Er galt als der Vertreter einer unnachgiebigen Linie in der Nationalitätenpolitik gegenüber den Sudetendeutschen. 5 Die Lage in deren Gebieten hatte sich aber bereits seit Anfang der dreißiger Jahre durch die allgemeine Wirtschaftskrise mit dem Sinken der Industriepro‐ duktion und wachsenden Arbeitslosenzahlen drastisch verschärft. 6 Und ähnlich wie vor 1933 in Deutschland brachte auch in den Sudeten die schwierige öko‐ nomische Lage und die Verlockung des anscheinenden „Wirtschaftswunders“ der durch Hitler in Deutschland - wie die spätere Geschichte zeigt, der Vorbe‐ reitung eines Krieges dienenden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, wie Auto‐ bahnbau und Rüstungsproduktion - beseitigten Arbeitslosigkeit der Partei Henleins immer mehr Anhänger. In steigendem Maße fanden seine Anschlußforderungen, die „Heim ins Reich Parolen“ offene Ohren. 7 Die sich aggravierenden politischen Gegensätze ver‐ gifteten oft selbst das Privatleben der Familien. Auch meine Eltern blieben davon nicht verschont. Da mein Vater ein überzeugter Gegner Hitlers war, zerbrach die Freundschaft mit seinem besten und ältesten Freund an dessen durch Ge‐ 20 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="21"?> 8 S. Mískova und Dejiny 9 Maximilian Adler 10 Zum Beleg füge ich eine kleine Begebenheit an. Lehramtsanwärter für deutsche Schulen mussten in den ersten Semestern Fachvorlesungen in Deutsch, ihrer späteren Unter‐ richtssprache, belegen. Da der Besuch einer einzigen Vorlesungsstunde bei Cysarcz mir gereicht hatte, seine Vorlesung nicht zu wählen, belegte ich eine Vorlesung in Volks‐ kunde über Hexenglauben im Mittelalter bei Jungbauer. Als praktische Ergänzung zu derartigen Parawissenschaften wie den mittelalterlichen Traktaten über Inkubusse u. ä. lud er zum Abschluß einen Handleser ein, dem die Hörer Fragen stellen konnten. Meine lautete: Werde ich fertig studieren können? Und nicht, wie für mein Alter zu erwarten: werde ich heiraten? schäftsinteressen plötzlich aufgekommenen Enthusiasmus für Hitler. Eine Hurra-Begeisterung für Hitler und Henlein gab es in unserer Familie jedenfalls nicht. Als ich 1936 das Studium in Prag aufnahm, erlebte ich in meinem Freundes‐ kreis die nationalistische Auseinandersetzung unter den Studenten vor allem im Zusammenhang mit dem längst entschiedenen Streit um den Namen Karlsuni‐ versität, den nur die tschechische Universität führen durfte 8 . Natürlich blieben mir auch die häufigen Randale um das Deutsche Haus am Graben oder um das deutsche Studentenheim nicht verborgen. Aber in dem katholischen Mädchen‐ institut Svaté Notburgy in der Sporkgasse, in dem ich untergekommen war, hatten wir zu Viert - zwei tschechische und zwei deutsche Mädchen - ein ge‐ meinsames Studierzimmer und ein freundschaftliches Zusammenleben. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass es bei den Altphilologen Aufforderungen gegeben hätte, die Vorlesungen unseres jüdischen Professors Adler 9 zu sabo‐ tieren. Die Prager deutsche Universität, war ja wie die Tschechoslovakei über‐ haupt, für viele deutsche und auch jüdische Emigranten zumindest bis 1938/ 39 ein Zufluchtsort gewesen. Dennoch prägten die politischen Auseinandersetzungen dieser Jahre das all‐ gemeine Klima mit einem Gefühl der inneren Unsicherheit und Zukunfts‐ angst. 10 Doch mit kaum zwanzig überwiegt das natürliche Lebensgefühl der Ju‐ gend, und ich war jung, noch nicht einmal zwanzig, und zum ersten Mal unsterblich verliebt. Die Studienorganisation an der Deutschen Universität in Prag sah für Schul‐ fächer nach vier Semestern die Erste Staatsprüfung vor, deren Bestehen die Vor‐ aussetzung für die Fortsetzung des Studiums war. Eine in doppelter Hinsicht kluge Anordnung. Sie zielte einmal auf ein geordnetes Studium und die Aus‐ sonderung von Kandidaten, die für das Fach oder generell für das Studium un‐ geeignet waren. Sie eröffnete mit ihrer Ablegung aber auch vorzeitigen Abgän‐ gern die Möglichkeit eines reduzierten Einsatzes als Lehrer und damit trotz 21 1. Les origines oder der schwierige Anfang <?page no="22"?> 11 Ich bin auch heute noch der Ansicht, dass solche Halbzeitprüfungen, eventuell mit be‐ grenzter Anschlussausbildung für eine andere berufliche Spezialisierung die Vergeu‐ dung des geistigen Potentials vieler junger Menschen, die kein Vollstudium absolvieren können, auffangen würde. 12 Ich bin vor einiger Zeit von einem Kollegen gefragt worden, warum haben Sie denn nicht in Deutschland weiterstudiert? Da wurde mir eigentlich erst klar, dass ich an diese Möglichkeit überhaupt nie, nicht einmal als Möglichkeit je gedacht habe. Das Deutsche Reich war nie der Blickpunkt meiner Eltern und damit auch nicht meiner. Als anderes Land kam nur Österreich in Frage und das war schon von Hitler besetzt. Abbruch - ganz gleich aus welchen Gründen - eine, wenn auch begrenzte, be‐ rufliche Chance. 11 Während der Sommermonate 1938 habe ich mich - trotz aller Beunruhigung durch die bereits extrem kritische politische Situation und die steigende Angst vor dem Ausbruch eines Krieges - mit allem Fleiß und aller Konsequenz vor‐ bereitet, um diese erste Staatsprüfung zu Beginn des Wintersemesters Anfang November gut zu bestehen. Am 29./ 30. September fand die Münchner Konferenz statt und am 1. Oktober begann der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sudetengebiete. Es war im Grunde der Auftakt für den Zweiten Weltkrieg. Was nun? Die Situation war völlig unübersichtlich. Würde es noch eine of‐ fizielle Regelung für die nun vom tschechischen Gebiet abgeschnittenen deut‐ schen Studenten geben, um wenigstens die fälligen Prüfungen an der Prager Universität als Ausweis für die studierten Semester ablegen zu können? An ein unmittelbares Weiterstudium war unter den gegebenen Umständen nicht mehr zu denken. Das Studiensystem der Deutschen Universität in Prag war dem alten österreichischen nachgebildet und unterschied sich von der reichsdeutschen Studienorganisation, z. B. schon in der Zahl der Fächerkombi‐ nationen. 12 Ein dementsprechend notwendiges Umsatteln hätte auf jeden Fall eine Verlängerung bedeutet. Aber die Frage stellte sich überhaupt nicht, denn alle meine finanziellen Voraussetzungen, staatliches Stipendium und mein Spar‐ geld, waren nicht mehr vorhanden. An ein Stipendium war - unter den neuen Bedingungen aus politischen Gründen - nicht zu denken und mein Spargeld war bei dem durch die „Befreier“ festgesetzten amtlichen Umtauschsatz der tschechoslovakischen Krone in Reichsmark von 10 zu 1 - der zwischenstaatliche offizielle Satz betrug schon vorher entgegen der realen Kaufkraft 8 zu 1 - schlicht und einfach zu Nichts zusammengeschmolzen. Dreihundert Kronen pro Monat waren alles in allem meine Geldgrundlage gewesen. Damit konnte man mit einigen Nachhilfestunden und hie und da ein paar Kronen Taschengeld von den Eltern oder Verwandten im Monat bescheiden 22 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="23"?> 13 Als Vorwand diente eine Lüge: der gestellte Überfall auf den Sender Gleiwitz. hinkommen. Mit 30 Reichsmark pro Monat, hätte ich sie überhaupt gehabt, je‐ doch nicht. Geldumtauschaktionen haben für die davon Betroffenen so ihre speziellen Seiten. Ich ahnte damals noch nicht, dass ich deren noch weitere erleben würde. Diese allerdings war die radikalste. Um meinen Eltern nicht zur Last zu fallen, mußte ich mir eine Arbeit suchen. Ich nahm ab 1. Januar 1939 eine Stellung als Hauslehrerin für ein behindertes Kind bei einer Familie im „Altreich“ an. Anfang März 1939, noch vor dem Ein‐ marsch der reichsdeutschen Truppen am 15. März in das verbliebene tschechi‐ sche Gebiet und der Errichtung des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren, eröffnete sich die Möglichkeit, die noch offene Erste Staatsprüfung in Prag ab‐ zulegen. Dank des Entgegenkommens meiner Arbeitgeber - die mir die dafür notwendigen Tage frei gaben und auch das notwendige Fahrgeld schenkten - konnte ich sie wahrnehmen und mit dem Ergebnis „sehr gut bestanden“ und der damit verbundenen begrenzten Lehrberechtigung zurückkehren. Durch Zufall traf ich 1940 im Sommerurlaub bei meinen Eltern meinen frü‐ heren Gymnasialprofessor für Deutsch. Durch seine Hilfe bekam ich ab Oktober 1940 eine Stelle als Aushilfslehrerin an der Oberschule für Jungen in Warnsdorf, einem Nachbarort meiner Heimatstadt. Lehrer waren infolge des seit dem 1. September 1939, dem Angriff auf Polen 13 , tobenden Krieg, inzwischen rar ge‐ worden. In denselben Monat Oktober 1940 fiel auch meine Verheiratung mit meiner Jugendliebe aus der Studentenzeit - während eines kurzen Fronturlaubs. In der mörderischen wochenlangen Kesselschlacht um Stalingrad endete meine erste Ehe. Als ich die Vermisstenmeldung mit Datum vom 13. Januar 1943 bekam, gab es aus diesem Zusammenbruch meines Lebens eigentlich nur noch einen Ausweg, auf den mich mein Vater mit liebevoller Eindringlichkeit verwies: wei‐ terstudieren, das Studium an der Prager Universität nach der begonnenen Stu‐ dienordnung zum Abschluß bringen, wenigstens versuchen, die Grundlage für ein mögliches, späteres Berufsleben zu legen. Irgendwie hatte ich auch das Gefühl, meinen Mann im wissenschaftlichen Bereich ersetzen zu müssen. Er hätte in der Anglistik eine Hochschullaufbahn vor sich gehabt, wäre der Krieg nicht dazwischen gekommen. Wenigstens das Doktorat zu erwerben, hielt ich fast für eine Pflicht meinem vermißten Mann gegenüber. Als Fach kam nur mein Hauptfach Romanistik in Frage, da mir für 23 1. Les origines oder der schwierige Anfang <?page no="24"?> 14 cf. Alena Mískova, Nemecká (Karlova) univerzita od Mnichova k 9. kvetnu 1945, Uni‐ verzita Karlova v Praze, Nakladatelství Karolinum, 2002. So wurde ab 1. Januar 1940 bis 1. April 1942 als neuer Rektor der SS-Standartenführer und Ordinarius für Bauern- und Bodenrecht (ab1938 in Göttingen) Wilhelm Saure eingesetzt, der Prag zu einem For‐ schungszentrum für Süd- und Osteuropa sowie für Rassenstudien machen wollte. (cf. ib., p. 83-123, Rektorát Wilhelma Saureho 1.1.1940-1.4.1942). 15 Prof. Maximilian Adler, geb. 1884 in Budweis, Promotion 1906 in Wien, AO.Prof. in Prag ab 1937 fiel der Arisierungskampagne unter dem Rektorat von Ernst Otto (23.9.1938-31.12.1939, s Mísková, l.c.45-63) zum Opfer. Er wurde zunächst in das KZ Theresienstadt deportiert und 1944 in Osvet umgebracht. (ib. 51) 16 Viktor Eugen Stegemann, geb. 1902 in Aachen, Promotion 1925 in Heidelberg, Dozentur in Würzburg 1939, Einsetzung in Prag 1940/ 41, nach Mísková p. 208 offensichtlich un‐ habilitiert, AO.Prof. in Prag 1943, cf. Mísková p. 257 17 Prof. Theodor Hopfner, geb. 1886 in Trautenau, gest. 1946 in Kufstein, Promotion 1911 Prag, Doz. 1918 Prag f. Klassische Philologie, 1923 AO. u. 1928 O.Prof. Prag, 1940-45 Direktor des Instituts f. Klassische Philologie, cf. Mísková l.c.,p.161,163,207,224 u. 243. Hopfner wurde vom „Sicherheitsdienst“, cf. ib. p. 158-163 als „unzuverlässig“ eingestuft. ein Doktorat in Altphilologie das notwendige Gräzistikstudium fehlte. Ich hatte nur das kleine Gräcum, als Bedingung für mein Lateinstudium, abgelegt. Doch das Prag, auf das ich im Frühjahr 1943 stieß, war nicht mehr das Prag meiner ersten Semester. Durch die Errichtung des Protektorates und die Schlie‐ ßung der Karlsuniversität für tschechische Studenten hatte sich die Situation völlig verändert. Die deutschen Uniformen passten nicht in das altgewohnte Stadtbild und auch an der verbliebenen deutschen (Karls-)Universität waren - wie schon vorher in den sudetendeutschen Gebieten - für die führenden Ämter neue Köpfe aus dem Altreich aufgetaucht. 14 In der Romanistik war Prof. Preißig zwar Institutsleiter geblieben, doch in der Altphilologie hatte sich die Situation sehr verändert. Auf die Stelle von Prof. Adler 15 , bei dem ich noch 38 über ein fünfstündiges Kolleg kolloquiert hatte, war ein reichsdeutscher Dozent, der Alt‐ philologe aus Würzburg, Herr Stegemann 16 gesetzt worden und Prof. Theodor Hopfner, 17 der bis 38 vor allem die Gräzistik vertreten hatte und sich mit Ägyp‐ tologe als Hobbyfach beschäftigte, hatte nun die Hauptvorlesung auch für Latein übernommen. Am Ende des Sommersemesters 1944 legte ich die Zweite Staatsprüfung ab. Diesmal nur mit gut. Mein Antrag auf ein weiteres Studiensemester zur Fertig‐ stellung der mit der Staatsexamensarbeit begonnenen Dissertation wurde je‐ doch abgelehnt. Ein neuer Schlag. Zum Glück konnte ich wenigstens der staatlichen Referendarausbildung ent‐ gehen und wieder an der Warnsdorfer Oberschule auf Anforderung durch deren Direktor als Aushilfslehrerin anfangen. Hilfe kam auch von meinem Doktor‐ vater Prof. Preißig. Er wandte sich an meine Schulleitung und bat für mich um 24 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="25"?> stundenmäßige Entlastung. Doch die anfänglich gewährte Reduzierung meines Unterrichts auf vier Wochentage musste schon nach ganz kurzer Zeit auf An‐ weisung der übergeordneten Schulbehörde in Aussig aufgehoben werden zu‐ gunsten voller „Auslastung“ - wie es wörtlich hieß - und das bedeutete sechs volle Wochentage mit je fünf Stunden. Es war der zweite Stolperstein auf meinem Weg zum Doktorat. Mein Arbeitstag begann früh um sechs Uhr, Busfahrt nach Warnsdorf zur Schule, fünf Stunden Unterricht (Acht bis Eins), Busfahrt zurück, Vorbereitung für den nächsten Schultag, Weiterschreiben an der Diss., Ende um Mitternacht. Zum Glück war ich ein Nachtarbeiter. In meiner späteren Hochschullaufbahn wurde Nachtarbeit sowieso die ständige Regel. Prof. Preißig hatte mir in Erweiterung meiner Staatsexamensarbeit als Dok‐ torthema die Entwicklung des Suffixes -age aus der lateinischen Wurzel -aticus bis zur Gegenwart gegeben. Parallel dazu ließ er eine Kommilitonin, Frau Bauer, über das Suffix -ment arbeiten. Preißig hatte angesichts des allgemeinen ideo‐ logischen Zwanges - ob bewusst oder unbewusst vermochte nur er selbst zu sagen - davon freie sprachwissenschaftliche Themen als Zentrum seiner Pro‐ jekte gewählt. Da Frau Bauer und ich dieselben Lexika und Bücher brauchten und das Institut bereit war, uns diese bis zur Fertigstellung der Dissertationen nach Hause auszuleihen, zog Frau Bauer vom Sommer 1944 an zu mir nach Rumburg. Es begann ein gemeinsamer Wettlauf mit der Zeit, wenn auch unter sehr verschiedenen Bedingungen. Weihnachten war der Kampf mit den über‐ vollen Zettelkästen beendet und wir konnten die fertigen Arbeiten einreichen. Nach deren Annahme wurden die mündlichen Prüfungen für das Doktorat auf Anfang Februar 1945 festgesetzt. Dabei drohte jeden Tag der völlige Zu‐ sammenbruch des „tausendjährigen Reiches“. Die sowjetische Front war zu diesem Zeitpunkt Rumburg bereits so nahegerückt, dass mich auf dem Bahnhof bei meiner Abfahrt nach Prag Kanonendonner begleitete. Ob ich überhaupt würde zurückkommen können, wusste ich nicht. Und so verabredete ich mit meinen Eltern einen Treffpunkt bei meinen Schwiegereltern. In meinem Koffer hatte ich das Nötigste an Wäsche und Kleidung, je eine Garnitur für Sommer und Winter und - ja, es ist aus heutiger Sicht kaum zu fassen, dass man daran überhaupt noch denken konnte - mein Promotionskleid, das meine Mutter aus altem Stoff gezaubert hatte. Die Promotionsordnung sah für das Doppelfach Romanistik - in meinem Fall Französisch und Italienisch - ein zweistündiges Rigorosum vor. Das bedeutete für mich französische und italienische Literatur- und Sprachgeschichte, letztere unter Einschluß von Altprovenzalisch und Altkatalanisch und für Latein ein einstündiges Rigorosum nach thematisch freier Wahl des Prüfenden. Zur vollen 25 1. Les origines oder der schwierige Anfang <?page no="26"?> 18 Cf. Alena Mísková, Nemecká (Karlova) p. 127-130 Altphilologie hätte analog zur Romanistik als zweites Fach noch Griechisch ge‐ hört. Ich hatte aber nur Latein studiert. Die Prüfungen fanden im Luftschutzkeller statt, denn es war Fliegeralarm und es war auch mein erster unmittelbar selbst erlebter Bombenangriff. Doch an der Prüfungsdauer änderte das nichts und Prof. Hopfner jagte mich die volle Zeit durch die lateinische und griechische Metrik. Als wir nach Entwarnung wieder aus dem Keller auftauchten, brannte Prag an einer Reihe von Stellen. Bisher war es von Bomben immer verschont geblieben. Am nächsten Morgen ging ich wegen des feierlichen Promotionstermins ins Dekanat. Da eröffnete mir der Dekan, Hans Joachim Beyer, SS-Obersturmführer und Ordinarius für Volkslehre und Nationalitätenkunde Osteuropas seit 1943 18 , dass ich noch eine Griechisch-Prüfung absolvieren müsste. Ansonsten wären die Rigorosen ungültig. Für diese Auflage gab es keine juristische Grundlage, es war ein reiner Willkürakt. Noch ein Stolperstein! Dank meines energischen Hinweises darauf, dass ich nur Latein und nicht Altphilologie als volles Fach studiert habe, war er nach längerer Verhandlung bereit, diese Prüfung, bei deren Forderung er blieb, wenigstens in eine Zusatzprüfung in Mittellatein umzu‐ wandeln, der ich mich ohne die Möglichkeit weiterer Vorbereitung unterziehen musste. Zum Glück hatte ich an einem Editionsseminar der Reparatio calendarii von Cusanus teilgenommen und auch durch die Dissertation aus sprachwis‐ senschaftlicher Sicht von Mittellatein eine gewisse Ahnung. Mein Prüfer, Prof. Blaschka, ließ, durch meinen Doktorvater über den Hergang informiert, Milde walten. Doch das bis dahin feststehende „summa cum“ war dahin. In der gege‐ benen Lage jedoch - ein völlig unwichtiges Detail. Dafür aber überraschte mich Prof. Preißig nach der feierlichen Promotion, an der er selbst für seine beiden Kandidaten (Frau Bauer und mich) als Promotor mitgewirkt hatte, mit dem Vorschlag, bei ihm weiterzuarbeiten mit dem Ziel, die Hochschullaufbahn anzustreben. Der wissenschaftliche Weg, für den mein Mann als Anglist vorgesehen war, sollte für mich möglich sein? Ich war völlig durcheinander. Preißig sah das wohl und beruhigte mich. Für eine Hochschul‐ laufbahn bedürfe es zweier Voraussetzungen: es müsste einem hie und da etwas einfallen. Und er sei sicher, mir würde etwas einfallen. Und man müsste je‐ manden haben, der einen schiebe. Und er werde mich schieben. (Sic! ) Und um dem Ganzen gewissermaßen eine sichernde Basis zu geben, schlug er mir die Aufnahme einer Arbeit zur Namengebung im Altprovenzalischen vor. Ich sollte zunächst an Hand des Wörterbuchs von (…) schon einmal anfangen, wobei man bei einer Arbeit möglichst zugleich das Material für eine zweite sammeln müsse. 26 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="27"?> Über welche, darüber könnten wir uns ja noch verständigen. Und er werde sich wieder an meine Schule wenden und um Verständnis für meine neue wissen‐ schaftliche Aufgabe bitten. Auch dieser Traum ging, wie schon vorher meine nur aus Briefen, Warten und Angst bestehende Kriegsehe, blutig zu Ende. Prof. Preißig kam in den schweren politischen Wirren in Prag am Ende des Krieges ums Leben. Die Repressionen der deutschen Besatzer gegenüber der tschechischen Be‐ völkerung im Reichsprotektorat - in der Umgangssprache der Tschechen hieß es „Pro tentokrat! “ „Für diesmal“ - erzeugten, wie immer in der Geschichte, als Reaktion die gleichen Gewalttaten von der anderen Seite. Ich höre noch den Aufschrei des Entsetzens meines Vaters, als die Nachricht des grauenvollen Massakers von Lidice (10. 06. 1942), der „Vergeltungsaktion“ wegen des An‐ schlags auf den Reichsprotektor Reinhard Heydrich am 26. Mai 1942, über die Sender ging. Lidice war das tschechische Oradour (10.06.1944). „Es ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muß gebären.“ Doch wenn ich an mein Gespräch mit Preißig denke - welche Illusionen auf deutscher Seite noch im März 1945, zwei Monate vor dem Kriegsende - dem endgültigen Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes und der völ‐ ligen Unsicherheit aller künftigen politischen Regelungen und staatlichen Ver‐ hältnisse. Welch eine politische Blindheit ! Frage ich mich aus meiner jetzigen Sicht im Rückblick auf meine Prager Stu‐ dienzeit, welches wissenschaftliche “Startkapital“ sie mir gegeben hat, so würde ich sagen, zunächst einmal eine positivistische, auf Faktenerhebung ausgerich‐ tete Wissenschaftsorientierung. In diese Richtung ging meine Doktorarbeit, deren Verdienst auf Fleiß und Ausdauer beruhte, nicht auf theoretischer Durch‐ dringung. Aber so waren auch Preißigs sprachwissenschaftliche Seminare an‐ gelegt. Sie beruhten auf dem sprachhistorischen Stand der Junggrammatiker. Von einem Einfluß der geradezu revolutionären tschechischen Linguistikschule, die weit über das eigene Land hinausstrahlte, war in Preißigs Vorlesungen leider nichts zu spüren. Dabei wurde der 1926 gegründete Cercle linguistique de Prague (Prazský linguistický krouzek), dem der schon 1915 gegründete Mos‐ kauer Linguistenkreis als Vorbild gedient hatte, die Wiege des ganzen europäi‐ schen Strukturalismus. Daß ich Jakobson, die Zentralfigur beider Kreise, Anfang der sechziger Jahre durch einen glücklichen Zufall bei einem Gastvortrag in Rumänien kennenlernte, wodurch meine bisherige theoretische Ausrichtung grundlegend beeinflusst wurde, war gewissermaßen ein spätes Korrektiv dieses Ausbildungsdefizits. Dieser Begegnung dankte ich meine Bekehrung zum Struk‐ turalismus. 27 1. Les origines oder der schwierige Anfang <?page no="28"?> In die positivistische Richtung rational-logischer Erkundung wiesen auch die großen Vorlesungen in Latein von Prof. Adler. Den größten Raum bei der Dar‐ stellung der Werke eines Dichters nahmen bei ihm immer die ein, von denen nur Bruchteile überliefert waren, oder die man nur aus anderen Zeugnissen in mühseliger Kleinarbeit erschließen konnte. Was in der Sprachwissenschaft angesichts der in Prag vorhandenen neuen Theorien als Mangel erscheint, war in der von Preißig geübten Literaturge‐ schichte eher ein Vorteil. Ich habe bei ihm den viersemestrigen Kurs zum neun‐ zehnten Jahrhundert mit Übergang zum zwanzigsten vor 1938 und 1943/ 44 ge‐ hört. Er unterschied sich in Nichts. Theoretisch beruhte er beide Male auf Montesquieus Klimatheorie zur Erklärung der poetischen Eigenart eines Dich‐ ters. Welch ein Vorteil nach 1938 angesichts der offiziell geforderten Literatur‐ geschichtsschreibung, die sich im Dritten Reich auf die Rassentheorie zu stützen hatte. Davon war bei Preißig aber keine Rede. Und noch etwas dankte ich seinem Faktenfetischismus: einen festen Grundstock der wichtigsten Jahreszahlen, Au‐ torennamen und Werktitel der französischen Literaturgeschichte vom Mittel‐ alter bis zur Neuzeit. Deren Kenntnis musste in einer Aufnahmeprüfung für das Proseminar nachgewiesen werden, sonst konnte man diese Veranstaltung nicht besuchen. Für die Aufnahme ins Oberseminar war ebenfalls eine Prüfung, diesmal in Altfranzösisch gefordert. Emotional den größten Eindruck von allen Vorlesungen, die ich in Prag gehört habe, hinterließen bei mir die unseres Italienischprofessors Bischof über Dante aus den Jahren 1936-1938. Sie fanden in den Abendstunden in einem alten Kloster auf der Kleinseite statt. Schon der Weg dahin und die Atmosphäre in dem Raum waren ein besonderes Erlebnis. Und eine solche Bezauberung durch die Sprache habe ich nie wieder erfahren, denn Bischof zelebrierte förmlich Dantes Verse wie ein Evangelium. Diesem Hochschullehrer, dem seine Schüler alles bedeuteten - er war Junggeselle - verdankte ich auch mein erstes Italien‐ erlebnis und damit verbunden das Kennenlernen meiner Jugendliebe, meines späteren, in Stalingrad verschollenen ersten Mannes. Jedes Jahr zu Ostern organisierte Prof. Bischof für seine Studenten eine Ex‐ kursion nach Italien, für die er die notwendigen Gelder durch Spenden von Firmen und sonstigen Stellen zusammenbrachte. Die besten und ärmsten Stu‐ denten der Italienischkurse wurden umsonst mitgenommen. Und so reiste ein buntes Völkchen von etwa 25 Teilnehmern, Romanisten, Kunsthistorikern, Alt‐ philologen und Archäologen durch die wichtigsten Städte der Toskana mit Flo‐ renz als Zentrum und Venedig als Abschluß und lernte bei der Führung durch die verschiedenen Museen, stets unter Leitung eines sachkundigen Kunsthisto‐ rikers, mehr als manchmal in einem ganzen einschlägigen Fachsemester. 28 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="29"?> 19 Oskar Kraus, geb. in Prag. Das von Mísková, l.c.,p.6o angegebene Datum 1827 kann nicht stimmen. Gestorben in der Emigration 1942 (ib.), O. Prof. Prag 1916. Ord. Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Prag 20.12.1924 (l.c.,p.111) 20 Carl Voretzsch, der emeritierte, langjährige Ordinarius des Hallenser Romanischen Se‐ minars, dessen Einführungen in die Altfranzösische Sprache und Literatur in Prag die jeweiligen Grundlagen für das Studium des Altfranzösischen waren, bin ich nur einmal begegnet. Er starb am 15. Januar 1947 im Alter von 79 Jahren. 21 Cf. Zu Victor Klemperers Wirken nach 1945, in: Rita Schober, Auf dem Prüfstand, Zola-Houellebecq-Klemperer, edition tranvía. Verlag Walter Frey, Berlin 2003, S. 325 zur Bibliotheksrückführung, zu Klempers Gesamtwirken S. 325-350 Eine wissenschaftliche Leerstelle blieb für mich in Prag jedoch die philoso‐ phische und pädagogische Grundausbildung. Dabei galt schon in der Oberstufe des Gymnasiums dem philosophischen Propädeutik mein größtes Interesse. Ei‐ gentlich wollte ich immer wissen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. In den ersten Studiensemestern hatte man obligatorisch in Philosophie die Hauptvorlesung für alle Fächer und in Pädagogik die entsprechenden Seminare zu belegen. Für die obligatorische Vorlesung des Philosophen Oskar Kraus, 19 der sich redlich mühte, uns den philosophischen Gehalt des Taoismus deutlich zu machen, aber fehlte es mir im Alter von mit kaum zwanzig Jahren an der nötigen geistigen Reife und gegen die vor 1938 agnostizistischen Spielereien und danach ideologisch angepaßten pädagogischen Seminare von Prof. Ernst Otto empfand ich geradezu einen inneren Widerstand. Vielleicht erklären dieser Ausbildungsgang und die historischen Ereignisse jener Jahre meine spätere Aufnahmebereitschaft für eine umfassende Welter‐ klärung in soziologischer und philosophischer Hinsicht, wie der Marxismus sie anbot. Das Kriegsende erlebte ich in Rumburg, zunächst mit dem Durchzug polni‐ scher, dann sowjetischer Truppen, denen schließlich die tschechisch-slovaki‐ schen Svobodatruppen in schwarzen Uniformen folgten und mit ihnen die ge‐ waltsamen Aussiedlungsaktionen. Nach der Aussiedlung in die sowjetische Besatzungszone im März 1946 kam ich schließlich nach Halle und hatte die Chance, in der dortigen Universität eine Assistentenstelle zu bekommen. Doch das Romanische Institut, an dem ich an‐ gestellt wurde, war von Hochschullehrern völlig verwaist 20 und seine Bibliothek zudem noch ausgelagert. Als Erstes galt es also, die Bücher aus den Salinen herauszuholen und wieder aufzustellen, um überhaupt die Grundlage für die mögliche Aufnahme eines Lehrbetriebs zu schaffen. 21 Das Wichtigste dafür aber war die Berufung einer ausgewiesenen und erfahrenen Lehrkraft. Nur dann be‐ stand auch für mich vielleicht die Möglichkeit einer weiteren wissenschaftlichen Qualifizierung, vor allem aber die Möglichkeit noch etwas zu lernen. Am 15. 29 1. Les origines oder der schwierige Anfang <?page no="30"?> 22 Ib. S. 325 23 Es starben damals in derselben Woche sieben Deutsche in diesem Krankenhaus an Sepsis. (Dieser Satz wurde in den Text am 9.2. 2008 eingefügt, er fehlt in der Endversion vom 18/ 5/ 2009. D.R.) 07.1948 wurde Victor Klemperer 22 berufen und das Seminar hatte nach dreijäh‐ riger Vakanz wieder einen Direktor und das Fach einen Ordinarius. Wenn ich mich heute - ich bin vor kurzem Achtundachtzig geworden - im Rückblick frage, welche Begegnungen, welche Menschen, welche Erlebnisse meine Entwicklung und meinen Werdegang nach 1945 entscheidend bestimmt haben, so sind es folgende: für die menschlich-politische Seite die Begegnung mit meinem zweiten Mann Robert Schober, für die wissenschaftliche Laufbahn die Begegnung mit Victor Klemperer, für die theoretische Ausrichtung meine Teilnahme am Sonderlehr‐ gang für Dozenten des historischen und dialektischen Materialismus in Klein‐ machnow im Sommer 1948. Robert Schober habe ich in Rumburg Weihnachten 1945 im Sekretariat der tschechischen kommunistischen Partei kennengelernt, wo ich seit September als Sekretärin arbeitete. Er war nach langer Haft seit Oktober 1938 in Bautzen, Dresden, Dachau, einem Kriegseinsatz 1944 in Ungarn, aus anschließender sow‐ jetischer Gefangenschaft als krank entlassen, auf Umwegen über Wien nach Hause gekommen. Wir waren mit demselben Zug ausgesiedelt. Er mit seiner Mutter - sein Vater war 1944, wie die meisten ehemaligen kommunistischen Funktionäre nach dem 20. Juli, dem Anschlag auf Hitler verhaftet worden und im Dezember umgekommen. Ich mit meiner Mutter, mein Vater war im De‐ zember 1945 nach einer Bruchoperation an Sepsis gestorben. 23 In Halle trafen wir uns wieder. Was lag näher, als dass wir uns gegenseitig halfen? Kartoffeln mussten gestoppelt oder irgendwo vom Lande herbeigeschafft, Kohlen im Tagebau bei Halle gebrochen und Baumstümpfe in der Hallenser Heide als Feuerholz geholt werden. Sicher mußten solch elementare Fragen des einfachen Überlebens die meisten Deutschen in den ersten Nachkriegsjahren lösen. Aber für Aussiedler, die nichts zum Tauschen hatten, waren sie unter den herrschenden urzeitlichen Bedin‐ gungen des elementaren Warentauschs jener Jahre noch etwas schwieriger zu bewältigen. Unter solchen Verhältnissen lernt man den wirklichen Charakter eines Menschen kennen. Robert war hilfsbereit, zuverlässig, vor allem aber gut im umfassenden Sinne des Wortes, moralisch und emotional. Hinzu kam seine aufrechte politische Haltung. Von Jugend an kommunistisch erzogen, Anhänger der Naturfreunde-Bewegung, war seine politische Überzeugung klar, kompro‐ 30 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="31"?> misslos, aber nicht engstirnig. Er hatte in den Haftjahren viel Schlimmes erlebt, aber nur selten sprach er darüber. Große Worte waren nicht seine Sache. Er verkörperte für mich mit seinem Leben und seinem Charakter das mora‐ lische Antlitz des Sozialismus. In einem weiteren Text vom 28.7.2006 sind unter dem Titel „Prager Professoren“ Informationen versammelt, die Rita Schober über ihre Professoren und die von ihr belegten Veranstaltungen notiert. Sie hatte hierfür Kontakt zu Hans-Rutger Haus‐ mann aufgenommen. Der Text enthält folgende Informationen: Maximilian Adler, geb. 1884 in Budweis. 1930 Dozentur für Latinistik in Prag, 1944 in Auschwitz umgekommen, Hauptwerk: Studien zu Philon v. Alexandria Ich: WS 36/ 37, 2-stündiges Latein-Proseminar WS 37/ 38, 3-stündige Vorlesung zu Ovid SS 38, 5-stündige Vorlesung zur Römischen Literatur Theodor Hopfner, geb. 1886 in Trautenau, umgekommen 1946 in Prag (Selbst‐ mord? ) Prof. am Orientalischen Seminar für Religionsgeschichte 1943 Auftragsarbeit! „Die Judenfrage bei Griechen und Römern“ Akademie‐ schrift Ich: WS 37/ 38, 2-stündiges Latein-Proseminar SS 38, 2-stündiges Latein-Proseminar SS 43, lateinische Stilübungen, Referat Aeneis II WS 1944 lateinische Stilübungen WS 1944 Seminar über Petronius. Referat über Petronius, Leben und Werk. Oskar Kraus, geb. 1889 in Sudeten, Dr. jur., ord. Professor für Philosophie 1916 in Prag, 1922 Dekan der Philosophischen Fakultät 1939 verhaftet, kann nach England ausreisen, stirbt 1942 in Oxford. Wichtigste Publikation 1934: Wege und Abwege der Philosophie. Ich: WS 36/ 37, 4-stündige Vorlesung: Wert, Recht und Macht. Friedrich Sloty: Prof. für allgemeine und vergleichende Indogermanistik 1881 geb. in Brieg b. Breslau, Todesdatum unbekannt 1924 AO. Prof. in Prag, später O. Prof. 1938 Publikation: Einführung ins Griechische Ich: WS 36/ 37, 2-stündiges Indogermanisches Proseminar 31 1. Les origines oder der schwierige Anfang <?page no="32"?> 24 Hausmann unsicher ob und wann O. Prof., Frau Bauer meinte, er wäre nur AO. Prof. geblieben. 25 Rita Schober. Vom Aufbau der Romanistik an der Humboldt-Universität in schwieriger Zeit. In: Klaus-Dieter Ertler (Hg.). Romanistik als Passion. Sternstunden der neueren Fachgeschichte II. LIT Verlag, Münster 2011, S. 341-389 Erhard Preißig, geb. 1889 in Prag, Tod 1945 in Prag, soll an der Tür seines Hauses erschossen worden sein. AO. Prof. 24 1942 im Rahmen des Kriegseinsatzes der Romanisten schreibt er die Publikation: Die französische Kulturpropaganda in der CSR 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschullehrerin Dieses Kapitel besteht aus mehreren Texten, die in unerschiedlichem Grade abge‐ schlossen bzw. verdichtet sind. Bei dem ersten Text handelt es sich um die im Archiv aufgefundene Schlussversion zu Rita Schobers Beitrag in dem von Klaus-Dieter Ertler 2011 herausgegebenen Band „Romanistik als Passion. Sternstunden der neu‐ eren Fachgeschichte II“.  25 Der Text ist mit dem Datum 3.6.2011 versehen. An ihm hat Rita Schober insbesondere seit 2010 gearbeitet, wie einige Vorläuferversionen belegen. Bestimmte Teilaspekte, wie die Dante Konferenz, waren bereits früher in Arbeit und sind in die Schlussversion eingegangen. Andererseits enthält der frühere Text zu dieser Konferenz eine Passage über die festliche soirée, die in der gedruckten Schlussversion so nicht enthalten ist. Sie wird als Fußnote 75 eingeschoben. 2.1 Vom Aufbau der Romanistik an der Humboldt-Universität in schwieriger Zeit La connaissance du passé, nuit dorsale, Est le commencement de toute connaissance Aragon Les aventures de Télémaque Ich schreibe im Jahr der Jubiläumsfeierlichkeiten zum 200. Gründungstag der heutigen Humboldt-Universität, der ehemaligen Friedrich-Wilhelms-Univer‐ sität, und im Alter von zweiundneunzig Jahren. Der Aufbau der Romanistik an dieser Universität war der Lebensinhalt meiner aktiven Zeit. 32 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="33"?> 26 Für diesen Beitrag wurde der Text meiner Dankworte zum 90sten Geburtstag benutzt. Cf. R.Sch. , „Dank der Jubilarin“ in „Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissen‐ schaften zu Berlin“, Jg. 2009, Bd. 101, S. 57-66 Meine Universitätslaufbahn 26 beginnt nach dem Krieg 1946 in Halle und endet 1989 in Berlin, als ich den Arbeitsvertrag, der mich ab 1980 als Emerita mit der Humboldt-Universität weiterhin verband, zur Wende gekündigt habe. Sie gliedert sich aus meiner Sicht in zwei sehr unterschiedliche Phasen, sowohl in wissenschaftlicher, wie wissenschaftsorganisatorischer Hinsicht: Die erste Phase umfasst die Zeit von 1946 bzw. 1948 bis 1969. Ab 1946 war ich zunächst als Assistentin allein, dann ab 1948 mit Victor Klemperer an der Martin -Luther-Universität Halle, 1951/ 52 folgte ich Victor Klemperer an die Hum‐ boldt-Universität Berlin, habilitierte mich 1954 bei ihm und übernahm danach wegen seiner Erkrankung die Institutsleitung und wurde ab 1957 seine Nachfol‐ gerin und Lehrstuhlinhaberin bis 1978. Die Begegnung mit Klemperer in Halle war ein Glücksfall für mich. Mein Doktorvater an der Prager Deutschen Universität Prof. Dr. Erhard Preißig hatte mir nach der Promotion, März 1945, angeboten, bei ihm wissenschaftlich weiterzuarbeiten, mit dem Ziel, eine akademische Laufbahn zu ergreifen. Da er aber nach dem Kriegsende in Prag umkam, bestand für mich wenig Aussicht, dass sich die von ihm geweckte Hoffnung jemals erfüllen würde. Mit der III. Hochschulreform 1969 und der damit verbundenen Gründung von Sektionen beginnt die zweite Phase meiner Universitätslaufbahn bis zu meinem endgültigen Ausscheiden 1989. Bei dem Wort Reform ist immer Vorsicht ge‐ boten! Der Schwerpunkt meiner Universitätstätigkeit verlagerte sich von der Lehre auf wissenschaftsorganisatorische Aufgaben, zuerst als Dekan der neu gegrün‐ deten Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät mit der Zuständigkeit für Pro‐ motionen und „Facultas docendi“. Anschließend konzentrierten sich meine hochschulpoliitischen Bemühungen auf die Herauslösung der Romanistik aus der „Monster“-Sektion „Philologien-Germanistik“ und ihre Konstituierung als selbständige Sektion Romanistik, die erst 1980 nach langem Kampf gelang. Es ging dabei natürlich auch um Stellen und die dafür notwendige Finanzierung. Hinzu kamen wissenschaftliche Einsätze: 1969 zunächst als Mitglied der „Deutschen Akademie der Wissenschaften“ in Berlin (später der „Akademie der Wissenschaften der DDR“), ab 1975 insbesondere im Rahmen des Nationalko‐ mitees für Literaturwissenschaft, aber auch als Mitglied und Leitungsmitglied internationaler wissenschaftlicher und kulturpolitischer Gesellschaften, wie der AILC (Association Internationale de Littérature Comparée) und der SEC (Société Européene de Culture), Gastsemester im Ausland (1970 an der Lomo‐ nossow-Universität in Moskau, 1984 an der Carl-Franzens-Universität in Graz) 33 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="34"?> und ab 1974 als gewähltes Mitglied des Exekutivrates der UNESCO, aus dem ich auf eigenen Wunsch nach zwei Jahren ausgeschieden bin, um den Kontakt zur Wissenschaft vor meiner gesetzlichen Emeritierung 1978 (in der DDR als Frau mit 60 Jahren) nicht zu verlieren. Aus heutiger Sicht betrachtet, war die politi‐ sche Erfahrung auf diesem internationalen Niveau - auch wenn ich es damals vielleicht nicht so gesehen habe - eine in mehrfacher Weise sehr lehrreiche. xxx Im Rückblick erscheint mir jedoch gerade die erste Phase meiner akademischen Laufbahn eine in jeglicher Hinsicht fruchtbare. Wissenschaftlich war sie auf die Aneignung der notwendigen neuen literaturtheoretischen Grundlagen, die Erarbeitung der Habilitationsschrift, die Ausarbeitung eines Grundstocks an Vorlesungen und wissenschaftlichen Publikationen und die Pflege notwendiger wissenschaftlicher Auslandsbeziehungen, vor allem mit den sozialistischen Län‐ dern, aber natürlich auch mit Frankreich und da in erster Linie mit dem fran‐ zösischen Zola-Spezialisten Henri Mitterand konzentriert. Wissenschaftsorganisatorisch galt sie zunächst gemeinsam mit Klem‐ perer - und nach seinem Tod 1960 ohne ihn - dem Aufbau des Berliner Instituts. Als Klemperer im WS 1952, nachdem sich Werner Krauss für die Universität Leipzig entschieden hatte, endgültig die Leitung des Berliner Instituts übernahm, waren nur zwei Fachgebiete mit Wissenschaftlern besetzt: die Linguistik mit dem Wartburgschüler Kurt Baldinger und das Fach Hispanistik-Latino-Amerikanistik mit Prof. Dr. Traugott Böhme, der allerdings kurz vor Jahresende 1963 überra‐ schend starb. Klemperers erstes Bemühen war es, wenigstens noch Italienisch mit einer Wahrnehmungsdozentur durch Dr. Margarete Steinhoff vertreten zu lassen und Werner Draeger, einen vielfältig linguistisch ausgebildeten Rumänisten, für den Aufbau dieses Fachs zu gewinnen, das dann auch von ihm auf hohem wissen‐ schaftlichen Niveau etabliert und weitergeführt wurde. Mich selbst hat er zur Literaturwissenschaft zurückgeholt - promoviert hatte ich sprachwissenschaft‐ lich - und so danke ich ihm mit Habilitation und Förderung auch weitgehend meine ganze Laufbahn. Dass jedoch alle Gebiete der Romanistik möglichst bald durch wissenschaft‐ lich ausgewiesene habilitierte Kräfte besetzt werden müssten, stand für ihn außer Frage. Klemperers zweites Bemühen galt der Aufnahme von Wissenschaftsbezie‐ hungen zum Ausland, zu Polen und vor allem zu Rumänien, dem einzigen ro‐ manisch sprachigen Land innerhalb des sozialistischen Lagers, aber auch zu 34 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="35"?> westdeutschen Kollegen, vor allem über den deutschen Romanistenverband und dessen Vorsitzenden, Prof. Rheinfelder. Und sein drittes Bemühen galt - und das tatsächlich auch von Anfang an - der Gründung einer Zeitschrift. Aber das Wichtigste für den wissenschaftlichen Aufbau des Instituts war für uns Jüngere natürlich die prägende Kraft von Klemperers eigenen Vorlesungen. xxx Diese ersten Jahre in Berlin haben mich viel Kraft gekostet wegen all der Auf‐ gaben, die gleichzeitig bewältigt werden mussten. Als erste natürlich die eigene wissenschaftliche Konsolidierung, sprich die Arbeit an der Habilitation und der Aufbau von Vorlesungen und Seminaren. Ich hatte mit einem linguistischen Thema über das Aktionssuffix -age noch im März 1945 in Prag promoviert. Und meine Übungen, die ich in Halle und anfangs auch noch in Berlin gehalten habe, bezogen sich auf altfranzösische Literatur und Sprache, worin ich im Studium eine gründliche Ausbildung erfahren hatte. Die Literaturgeschichte des Mittel‐ alters von Voretsch, der damaligen Autorität für diese Periode, war Pflichtlek‐ türe und Prüfungsstoff und ich hatte sie gründlich studiert. Voretsch habe ich im Hallenser Institut auch noch einmal persönlich kennen gelernt. Meine Ehrfurcht vor dem kleinen alten Mann war so groß, daß ich am liebsten auf die Knie gesunken wäre, um zu ihm aufschauen zu können und nicht auf ihn heruntersehen zu müssen. Mit Klemperer als wissenschaftlichem Betreuer aber trat die neuere Literatur für mich in den Vordergrund und, wenn ich mich für Literatur habilitieren wollte, auch die Notwendigkeit, mich in die Literaturtheorie einzuarbeiten. Denn in dieser Hinsicht waren die Vorlesungen von Preißig in Prag auf dem Standpunkt von Montesquieus Klimatheorie stehen geblieben. Dass Klemperers begeisternde Literaturvorlesungen bei aller Bewunderung mir jedoch nicht das für die damals in der DDR aktuellen ästhetischen Auseinandersetzungen not‐ wendige theoretische Rüstzeug vermitteln konnte, war offensichtlich. Woran sich orientieren? Werner Krauss, der Leipziger Romanist, galt als kompetenter Marxist. Doch Klemperer nahm es mir, wie die Tagebücher zeigen, sehr übel, dass ich von dem einen Seminar, das er für alle Aspiranten unseres Fachs in Leipzig gehalten hatte, begeistert zurückkam. Und leider wurden diese Seminare für alle auch nicht fortgesetzt. Die Arbeiten des ungarischen marxistischen Literaturtheoretikers und Phi‐ losophen Georg Lukács - sie erschienen in der DDR ab 1948 (erstes Buch: Karl Max und Friedrich Engels als Literaturhistoriker) - dienten mir deshalb als Grundeinführung in die Literaturtheorie. Außerdem kam seine Vorliebe für die 35 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="36"?> Klassik als Wertungsnorm, die von überzeugten Marxisten als idealistische Ten‐ denz kritisiert wurde, meinen eigenen literarischen Neigungen sehr entgegen. Schließlich hatte ich mir als Vierzehnjährige zu Weihnachten Schillers gesam‐ melte Werke gewünscht und sie - wenn auch sicher nicht verstanden - so doch „mit heißem Bemühen“ in kurzer Zeit durchgelesen. Den oft trivialen Mach‐ werken der zeitgenössischen Agitationsliteratur die Schönheit klassischer Lite‐ ratur als Vorbild entgegenzuhalten, war meiner Meinung nach auch berechtigt, konnte, dogmatisch ausgelegt, aber zu einem unhistorischen Herangehen an den Literaturprozess führen und zum Verwerfen innovatorischer Verfahren. In diesen oft verwirrenden Diskussionen insistierte Klemperer zum Glück auf der Arbeit am Text. An der sprachlichen Gestalt mussten sich die Inhalte der Werke verifizieren lassen. „Inhalt“, ein obsoletes Wort in der modernen Litera‐ turtheorie. Um seine Erfassung ging es aber Klemperer wie Krauss. Für beide war Literatur als ein „aufgeschlagenes Buch der Geschichte“ zu lesen. Eine Position, die von dem größten Teil der zeitgenössischen französischen Literatur in eindrucksvoller Weise bestätigt wurde. Denn in ihr standen die Ereignisse und Katastrophen der jüngsten Vergangenheit, Faschismus und Krieg, die materiellen Verwüstungen, die Greueltaten in den Lagern und Kzs, sowie der in der Gegenwart neu aufflammende Kampf zwischen den politischen Systemen und auch die Ängste vor dem Ausbrechen eines Atombombenkrieges im Mittelpunkt. Es war eine Literatur, die alle existentiellen Grundfragen auf den Prüfstand moralischen Verhaltens und ethischer Werte stellte und den Le‐ sern die Verantwortung nahm. Ich erinnere mich, dass Stücke, wie „Les mains sales“ von Sartre mich wochenlang innerlich beschäftigten mit der Frage, was hättest Du getan. Selbstprüfung im Einzelnen wie im Ganzen, Verantwortung, Entscheidung war die Forderung des Tages. Das galt auch für die Schriftsteller. Sie wollten mit ihren Werken etwas bewegen. Einen Roman, ein Theaterstück zu schreiben war kein leeres Spiel. Sartre´s „engagement“- Begriff, wie er ihn in der politischen Praxis später dezidiert vertrat, kam nicht von ungefähr. Seine Stücke, wie „Die Fliegen“, be‐ wegten nicht nur Literaturwissenschaftler und Philosophen, sondern vor allem die Zuschauer und das gleichermaßen in Ost und West. Als „Die Fliegen“ 1948 im Berliner Schiller-Theater aufgeführt wurden, bin ich mit einer Gruppe von Teilnehmern eines Sonderlehrgangs für dialektischen und historischen Materi‐ alismus an der Parteihochschule der SED von Kleinmachnow nach West-Berlin gefahren, um dieses Stück zu sehen. Es wurde im Lehrgang natürlich auch an‐ schließend behandelt und heftig diskutiert. Denn ein individualistischer Frei‐ 36 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="37"?> 27 Cf. Rita Schober. Editionsgeschichte als Rezeptionsgeschichte. In: Winfried Engler und Rita Schober (Hg.). „100 Jahre Rougon-Macquart“. Gunter Narr Verlag, Tübingen 1995, S. 17-52 heitsbegriff, wie Sartre ihn in diesem Stück vertrat, war mit dem marxistischen Verständnis von gesellschaftlicher Verantwortung nicht vereinbar. xxx Doch meine Bemühungen, mich in die Literaturtheorie einzuarbeiten, ergaben noch kein tragfähiges Habilitationsthema. Ein erster Ansatz, nach der Lektüre des Briefwechsels George Sand- Flaubert, das Gesamtwerk dieser interessanten Frau zu untersuchen, scheiterte an der Literaturlage. Es gab keine Gesamtausgabe ihrer Werke, schon gar nicht ihrer - wie die inzwischen längst erschienene Edition beweist - geradezu enzyklo‐ pädischen Korrespondenz. Hinzu kamen die Schwierigkeiten, ihre zwischen den Genres oszillierenden Werke in die unterschiedlichen literarischen Strömungen des 19. Jahrhunderts, über die es Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre auch noch keine neuen Arbeiten gab, theoretisch einzuordnen. Meine erste Publikation 1951 in einem Sammelband, bezeichnender Weise mit dem Titel „Wissen‐ schaftler kämpfen für den Frieden“, in den ich überhaupt nicht hineingehörte, weil er sonst nur Beiträge bekannter, gestandener Wissenschaftler enthielt, verrät u. a. diesen versuchten Einstieg. Aus heutiger Sicht betrachtet, zeigt dieser Aufsatz vor allem, dass ich zu diesem Zeitpunkt die gängigen Thesen marxisti‐ scher Literaturtheorie bereits brav gelernt hatte. Zu Hilfe für eine Themenwahl kam mir 1952 das Angebot des Verlags Rütten und Loening, die Herausgabe von Zolas Rougon-Macquart zu übernehmen, wofür Werner Krauss mich vorgeschlagen hatte. Dass diese Aufgabe eine gründ‐ liche wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gesamtwerk erforderte, war selbstverständlich. Aber von Zola gab es als Voraussetzung wenigstens eine von Maurice Le Blond in 50 Bänden bei François Bernouard ab 1927 „avec notes et commentaires“ herausgegebene Gesamtedition, wenn auch noch keineswegs eine wissenschaftliche und vollständige all seiner Arbeiten, ebenso wenig wie eine Gesamtausgabe seiner Briefe. Und da mich zudem die Diskussion um den „Naturalisten“ Zola angesichts der dominanten Forderung nach realistischer Literatur reizte, war das theoretisch angelegte Habilitationsthema klar: „Zolas naturalistische Romantheorie und das Problem des Realismus.“ Die Arbeit an der Habilitationsschrift und die an der Herausgabe der ersten drei Bände der Rougon-Macquart lief von 1952 bis 1954 parallel. 27 Günstig war, dass das Startjahr 1952 aus Anlass des fünfzigsten Todestages Zolas außer den üblichen Gedenkartikeln in der Presse auch einige neue Gesamtdarstellungen 37 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="38"?> 28 Cf. In « La Pensée », Nr. 44: Jacqueline Chambron, « Réalisme et épopée chez Zola » und Jean Varloot, « Zola vivant - Le procès du naturalisme » und derselbe ein Jahr später in Nr. 46 derselben Zeitschrift: « Le réalisme de Zola ». zu Autor und Werk brachte, vor allem aus England und Frankreich. Als wich‐ tigste für mich die von Guy Robert zu den „prinipes et caractères généraux de son oeuvre“, die materialreich und gründlich gearbeitet war, sowie seine grund‐ legende Studie zu “La Terre“ aus demselben Jahr. Aber da meine Habilitationsschrift marxistisch angelegt sein sollte, musste ich natürlich nach diesbezüglichen Untersuchungen Ausschau halten. Viel war allerdings nicht zu erblicken. Wenn überhaupt, dann in Frankreich. So Jean Fré‐ ville´s marxistisch engagierte Darstellung des realistischen Gesellschaftskriti‐ kers und mutigen Verfassers von „J´accuse“ in seinem 1952 publizierten Buch „Zola, semeur d´orages“ und die ebenfalls marxistisch orientierten Zeitschrif‐ tenbeiträge von Jacqueline Chambron und von Jean Varloot in La Pensée 28 , sowie die Sondernummer der Zeitschrift „Europe“ zu „Zola“. Von deutscher Seite erschien im Gedenkjahr 1952 überhaupt kein wissen‐ schaftliches Sekundärwerk und in der BRD begann die Zola-Forschung erst mit dem Erscheinen meiner vom Winkler-Verlag, München, übernommenen deut‐ schen Ausgabe der Rougon-Macquart in den 70er Jahren, die dann allerdings eine grundlegende Bereicherung der Sekundärliteratur zu Zola erbrachte. 1952, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, das darf man nicht vergessen, war die Forschung in Deutschland, insgesamt gesehen, gerade erst wieder angelaufen und während der 30er und 40er Jahre im faschistischen Deutschland der Schrift‐ steller Zola, der unerschrockene Verteidiger des jüdischen Hauptmanns Dreyfus, kein Forschungsthema. In der DDR gab es Anfang der 50er Jahre über Zola mit Ausnahme des Artikels von Petriconi zu „La Débâcle“ - der als Grundstruktur dieses Romans seinen Weltuntergangmythos herausarbeitete - weder neue traditionelle, noch mar‐ xistische literaturwissenschaftliche Untersuchungen. Zwar hatte der Gustav Kiepenheuer Verlag 1946 Heinrich Manns „Geist und Tat. Franzosen 1870-1930“ wiederveröffentlicht. Aber bei aller Anerkennung von Manns linker Haltung, seine dithyrambischen Sätze über „Die Erde“ kann man nicht unbedingt als marxistische Analyse betrachten - wohl aber als ent‐ housiastische hommage an den großen Dichter-Kollegen. Die in dem vom Gebr. Weiß Verlag 1948 veröffentlichten Aufsatzband „Beiträge zur Literaturge‐ schichte“ von Franz Mehring, einem der bedeutendsten Köpfe des linken Flügels der deutschen Sozialdemokratie, u. a. enthaltenen Artikel zu Naturalismus und Zola verwiesen mit Nachdruck auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen so‐ wohl dieser ganzen literarischen Bewegung wie speziell des Werkes von Zola 38 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="39"?> 29 Cf. Hg. v. Werner Krauss, unter Mitwirkung v. Manfred Naumann, „Lesebuch der fran‐ zösischen Literatur, Teil I: Aufklärung und Revolution, Volk u. Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1952 30 Cf. ebd. S. 22 31 Alle in Anführung gesetzen Worte sind zitiert nach ebd. S. 25 und gaben so ihre grundsätzliche, historisch-materialistische Einschätzung, ohne allerdings näher auf erzähltheoretische Fragen einzugehen. Als neue lite‐ raturwissenschaftliche marxistische Arbeit studierte ich natürlich vor allem gründlich das „Lesebuch der französischen Literatur“ zu Aufklärung u. Revolu‐ tion 29 , das Werner Krauss unter Mitarbeit von Manfred Naumann 1952 veröf‐ fentlicht und mir mit einer Widmung geschenkt hatte, da es überhaupt die erste marxistische Arbeit zur französischen Literatur in der DDR war. Der kurze, ge‐ wissermaßen auf den Punkt gebrachte (und darum heute noch mit Gewinn les‐ bare) historisch-materialistische Abriß der Entwicklung der Aufklärungslite‐ ratur in der von Krauss geschriebenen Einführung wird ergänzt durch einen Ausblick auf das Proletariat als die geschichtsbewegende Kraft des 19. und 20. Jahrhunderts. Seiner historischen Rolle entspricht der „wissenschaftliche Sozi‐ alismus von Marx und Engels“ als die „gebrauchsfähige Waffe im Klassen‐ kampf “ 30 . Krauss formulierte am Schluss dieser Einführung eine Reihe von Grundsätzen 31 für eine marxistische Literaturbetrachtung, und das war es ja, was ich mit dem Studium dieses Lesebuchs von Krauss lernen wollte. An den Anfang stellte Krauss die mit Klemperer übereinstimmende Auffassung, auf der die Bedeutung der Literatur als wissenschaftliches Fach grundsätzlich beruht: „In der Literatur ist die unverfälschte Erfahrung einer nationalen Gesellschaft gespeichert“. Aber zugleich hob er auch die Verpflichtung der Literaturwissen‐ schaftler hervor, die an deutschen Universitäten und Schulen betriebene „for‐ malistische Verkümmerung der Literaturgeschichte“ und die damit verbundene Vernachlässigung der Aufklärungsliteratur zu „verurteilen“ und zu „entlarven“ und abschließend - man könnte sagen im Sinne von Leibniz - den Auftrag an sie, den Anschluß an die Lebenspraxis zurückzugewinnen und durch Freilegung der „belebenden Quellen der echten und bleibenden Werte der Menschheit“ ihrer „Verpflichtung auf die nationale Kultur“ gerecht zu werden. Man kann diesen Aufsatz von Krauss natürlich verschieden lesen, u. a. auch als ein Beispiel für die nationale Gesinnung der marxistischen Intelligenz in jener Zeit der DDR, als es in ihrer Hymne von Johannes R. Becher hieß: „Deutschland, einig! Vaterland.“ Und nicht alle konnten sich später, als die weit‐ gehend durch die Diktatur der Parteihierarchie und die Machtinteressen der Sowjetunion verursachten negativen Seiten des „real existierenden sozialisti‐ 39 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="40"?> 32 Schreibweise des Namens korrigiert. D.R. 33 Cf. Horst Heintze. Hippolyte Taines Entwicklung. Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg, Jg. 1952/ 53, H.12, Ges. u. sprachwissen‐ schaftliche Reihe, Nr. 6 schen Systems“ immer offensichtlicher wurden, von diesem Traum und von der dahinter stehenden Möglichkeit einer gerechteren Welt einfach lösen. Als Bezugsgrößen für die Auffassung der einzelnen Autoren wurden neben französischen Literaturwissenschaftlern und Philosophen auch Politiker wie Maurice Thorez (zu Descartes), Lenin (zu Diderot) und Jean Jaurès 32 (zu Marat) genannt. In späteren Jahren wurden solche direkt politischen Bezugsgrößen vor allem immer dann zitiert, wenn es darum ging, „gewagtere“, aus der Auseinan‐ dersetzung mit der internationalen Literaturtheorie oder der inhärenten Ent‐ wicklung des marxistischen Kategoriensystems hervorgegegangene neue Theo‐ rien gegen kurzschlüssige Angriffe verbohrter Parteifunktionäre abzusichern. Denn auch in diesem Sinne konnte man von den Tricks der französischen En‐ zyklopädie lernen. Als marxistische Stellungnahme direkt zu Zola erschien 1952 in der DDR nur der Artikel, den Georg Lukács 1940 zu Zolas 100. Geburtstag veröffentlicht hatte. Der mit Rütten und Loening verbundene Aufbau-Verlag publizierte ihn in dem Sammelband von Georg Lukács über „Balzac und der französische Realismus“. Bei der Bedeutung von Lukács´ Werken zu diesem Zeitpunkt war mit dieser Koppelung die „marxistische“ Auffassung damit gewissermaßen vorgegeben, und zwar im doppelten Sinne: für Zolas „Naturalismus“ und zugleich für Balzac als das große „realistische Vorbild“. Zu meinem eigentlichen Spezialthema, Zolas Ästhetik, gab es außer der ein‐ zigen vorhandenen Gesamtdarstellung aus dem Jahre 1923 von F. Doucet „L’es‐ thétique de Zola et son application à la critique“ keinerlei neue Untersuchung. Doucets Arbeit war in den Haag erschienen. Sie behandelte im ersten Teil in chronologischer Reihenfolge die Herausbildung der literaturtheoretischen An‐ sichten Zolas im Zusammenhang mit seiner persönlichen und beruflichen Ent‐ wicklung und war eine solide Zusammenstellung. Hinsichtlich der Auffassung der für Zolas ideologisches Instrumentarium wichtigen Philosophie Hippolyte Taine´s stützte ich mich auf den marxistischen Versuch, den Horst Heintze mit seiner Dissertation „Über die naturwissen‐ schaftliche Theorie der Geschichte und Literatur bei H. Taine“ 33 vorgelegt hatte. Meine 1953 eingereichte Habilitationsarbeit, insgesamt 300 Seiten, umfasste zwei Teile: Der erste, zwei Drittel ausmachende Teil überprüfte Zolas naturalisti‐ sche Romantheorie auf ihre die Narrativität betreffenden Auffassungen und ihre dementsprechenden subjektiven Voraussetzungen an Hand folgender Kategorien: 40 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="41"?> 34 S. Werner Krauss/ Rita Schober. Briefe 1951-1975. lendemains, 33. Jg. 2008, Nr. 130/ 131, S. 249 das Typische, Fabel, Handlungsführung, Komposition; Inhalt / Form-Problematik; „sens du réeel“/ Phantasie, Arbeitsmethode (Dokument, Detail, Faktenfeti‐ schismus). Hinzu kamen Zolas terminologiche Überlegungen zur Genreproble‐ matik des naturalistischen Romans (roman/ étude) und als Aspekt des literarischen Kommunikationssystems: die Funktion der Literatur. Der zweite Teil der Arbeit konzentrierte sich auf den „Einfluß der naturalis‐ tischen Theorie auf die künstlerische Praxis der Rougon-Maquart“ an Hand a) einer Analyse der Planentwürfe und b) des Romans „Germinal“. Das Urteil der Gutachter über meine Arbeit fiel insgesamt positiv aus. Nach der offiziellen Annahme der Arbeit musste der Kandidat nach den damaligen Regeln vor der Fakultät einen Vortrag halten, wofür drei Themen zur Auswahl einzureichen waren. Ich hatte außer George Sand und Maupassant die altfran‐ zösische Dichterin Marie de France vorgeschlagen. Klemperer meinte - wie er in seinem Tagebuch verzeichnete - es wäre gut, wenn ich ein wenig mit dem Handwerk klappern würde. Ich klapperte und dieses Thema lag mir auch. Ich hatte schon mehrere Jahre Übungen zur altfranzösischen Literatur gehalten. In der Nacht vor der Fakultätssitzung (im März 1954) habe ich aber trotzdem mit meiner Angst vor dieser Prüfung meine ganze Familie durcheinander gebracht. Doch es ging dann alles gut. Blieb eigentlich nur noch die Publikation der fer‐ tigen Arbeit. Prof. Georg Klaus - von Haus aus Naturwissenschaftler - ein sehr unabhän‐ giger und kluger marxistischer Philosoph, hatte in seinem Gutachten jedoch zu recht angemerkt, dass es wünschenswert wäre, vor der Veröffentlichung die Bedeutung der positivistischen Philosophie Taines für Zolas ästhetische An‐ sichten etwas stärker herauszuarbeiten. Ich hatte diese Seite berücksichtigt, aber nicht in einem eigenen Kapitel umfänglicher dargestellt und war auch selbst der Meinung, dass hier eine weitere Vertiefung nicht schaden könnte. Da ich zu dieser Bearbeitung angesichts meiner Gesamtbelastung - im selben Jahr 1954 musste ich auf Grund der langen Erkrankung von Klemperer voll und ganz die Institutsgeschäfte übernehmen - einfach keine Zeit mehr fand, unterblieb sie, obwohl Werner Krauss 34 mir mehrfach anbot, sie in seiner inzwischen begon‐ nenen Schriftenreihe zu publizieren. Aus heutiger Sicht kann diese Schrift, die wie Klemperer von seinen Anfangsarbeiten sagte, „mit der Unbekümmertheit der Jugend geschrieben ist“, vor allem in Bezug auf das eingesetzte Kategorien‐ system nur historischen Dokumentationswert beanspruchen. Sie diente mir aber als Ausgangspunkt für zwei Artikel: „Zolas ästhetische Auseinanderset‐ 41 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="42"?> 35 Cf. Rita Schober. Zolas ästhetische Auseinandersetzung mit Balzac. Erstveröffentli‐ chung: Wissenschaftliche Zeitschrift der HU, Gesellschafts- und sprachwissenschaft‐ liche Reihe, Nr. 2/ 1955-56, S. 123-138; bearbeitet wiederveröffentlicht in: Rita Schober. Von der wirklichen Welt in der Dichtung. Aufbau-Verlag, Berlin, S. 185-213 und Wie‐ derabdruck in: Winfried Engler (Hg.). Der französische Roman im 19. Jh. Wissenschaft‐ liche Buchgesellschaft, Darmstadt 1976, S. 427-464 Rita Schober. Réalité und vérité bei Balzac und Zola. In : BRPh, 1961/ H.1, S. 116-142 u. 1963/ H.2, S. 127-138 36 Die Germinal-Analyse der Habilitationsschrift ist vollständig abgedruckt in: Rita Schober. Die Wirklichkeitsssicht des Germinal, in: dse. Skizzen zur Literaturtheorie. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1956, S. 70-142; wiederabgedruckt mit dem gleichen Titel - ohne den deskriptiv-interpretierenden Teil der Stilanalyse - leicht be‐ arbeitet und mit einem Nachtrag von 1980 in: Friedrich Wolfzettel (Hg.). Der französi‐ sche Sozialroman des 19. Jhs. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1981, S. 345-400 37 Cf. Note 2,. S. 17-25 38 Die Arbeit von Aurélie Barjonet erscheint noch in diesem Jahr im Verlag. Aurélie Bar‐ jonet. Zola d’Ouest en Est. Le naturalisme en France et dans les deux Allemagnes. Presses universitaires de Rennes 2010. (Titel hinzugefügt. D.R.) zung mit Balzac“ und „Réalité et vérité bei Balzac und Zola.“ 35 Sie wurden beide veröffentlicht, ebenso wie die Germinalanalyse. 36 Diese habe ich allerdings 1991 noch einmal neu bearbeitet und wenigstens teilweise um ihr mythisches Sub‐ strat ergänzt. Die Herausgabe der Rougon-Macquart bei Rütten und Loening Berlin, die erst 1976 beendet war und mit der Übernahme durch den Winkler-Verlag, München (1974-77) und die dazu gehörenden Lizenzausgaben des Bertelsmann-Clubs Gü‐ tersloh und des Buchclubs Ex libris, Zürich in dem gesamten deutschsprachigen Raum in Millionen Exemplaren verbreitet wurde, stellte sich für den Verlag als ein großer Erfolg heraus. 37 Dass die westdeutsche Zola-Forschung erst mit der Winkler-Ausgabe eingesetzt hat, ist in einer französischen Doktorarbeit zu Zola 2008 festgestellt worden. 38 Für diese verschiedenen Auflagen habe ich die Nach‐ worte immer wieder durchgesehen und kleine „Schönheitskorrekturen“ vorge‐ nommen, für Rütten und Loening vor allem noch einmal für die Rollen-Offset-Ausgabe 1981-83. Die letzte Version der Rougon-Macquart-Aus‐ gabe in deutscher Sprache, für die ich außer der Korrektur ideologischer „Schwänzchen“ in den Nachworten, auch ein neues Nachwort für Nana und zusätzlich eine Einführung geschrieben habe, erschien 2005 bei dem Verlag Di‐ rectmedia, Berlin als Nr. 28 seiner Digitalen Bibliothek. xxx Eigentlich kam mein Impetus zur wissenschaftlichen Arbeit stets aus dem In‐ teresse für knifflige, umstrittene Probleme, wie der Naturalismus in den 50er 42 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="43"?> 39 Rita Schober. Im Banne der Sprache. Strukturalismus in der Nouvelle Critique. Mittel‐ deutscher Verlag, Halle (Saale) 1968. Diese Publikation war eine der ersten zum Struk‐ turalismus in deutscher Sprache. 40 Korrektur der Schreibweise des Titels des Gedichtes D.R. Jahren eines war. Ich wollte wissen, welche Position zu solchen Problemen die richtige ist. Zu den „Indifferenti“ gehörte ich in jenen Jahren nie, ebenso wenig wie mein Lehrer Klemperer. Die negative Seite dieser Anlage war, dass eine nach meiner Meinung gelöste Frage, mich meist nicht mehr lockte, das damit ver‐ bundene Problem oder wissenschaftliche Gebiet weiter zu verfolgen. Mich reizte die Herausforderung, etwas Neues anzufangen, denn ich war immer neugierig. Wiederholung war nicht meine Sache. Deshalb habe ich es auch nie geschafft, dieselbe Vorlesung unverändert zweimal zu halten. Ich habe auch nie ein fertiges Manuskript abgelesen, sondern stets mit Hilfe einer Disposition frei gesprochen. Ab 1958/ 59 habe ich allerdings, „aus gegebenem Anlass“, die gehaltenen Vorle‐ sungen nach den Tonbandaufnahmen schreiben lassen, doch zur Weiterbear‐ beitung für die Veröffentlichung reichte wiederum nie die Zeit. So blieb vieles schriftlich unausgeführt, was sich vielleicht gelohnt hätte, wie eine nach Ga‐ raudys „Réalisme sans rivages“ komparatistisch angelegte Vorlesung zu den „Grenzen des Realismus? “. Ein noch größerer Verlust für mich war der durch persönliche Umstände ausgelöste Abbruch der Arbeit an der Ausgabe von Boi‐ leaus „L’art poétique“, die mit einem historisch-theoretischen Kommentar ge‐ plant war, von der aber nur eine Art Torso erschienen ist. Die Materialien und erarbeiteten Teile sind inzwischen ins Akademie-Archiv gewandert. In meinem Vorlesungs- und Seminarangebot aber schlugen die Boileau-Studien sich nieder. U.a. in meinem Gastsemester in Moskau 1970 unter dem Titel: “Die Entwicklung der Poetik von der Renaissance zur Frühaufklärung.“ Das Zentrum meiner wissenschaftlichen Interessen lag ästhetisch und histo‐ risch eigentlich immer im theoretischen Bereich. Die Anregung zur Beschäfti‐ gung mit dem Strukturalismus 39 verdankte ich jedoch einem Zufall. Gelegentlich einer Gastvorlesung in Rumänien, 1961 oder 62, hörte ich in Bukarest einen Vortrag von Jakobson. Er interpretierte ein Gedicht von Eminescu „Lucea‐ fârul“ 40 , das er sich lediglich einmal hatte übersetzen lassen. Er konnte zu diesem Zeitpunkt noch kein Rumänisch. Die mit dieser Interpretation demonstrierte Schlüssigkeit der von ihm eingesetzten Methode war verblüffend und sie kam meiner durch Klemperer geschulten Auffassung entgegen, dass der Schlüssel zum Verständnis eines Werkes die Analyse seiner sprachlichen Gestaltung ist. Mein grundsätzliches Verhältnis zur Sprache, in der ich eines unserer kost‐ barsten kulturellen Güter sehe, hat allerdings noch tiefere Wurzeln. Die Begeis‐ terung für die Schönheit und den Klang der literarischen Sprache habe ich von 43 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="44"?> 41 Manfred Naumann (Hg.). Gesellschaft Literatur Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. In Zusammenrbeit mit Dieter Schlenstedt, Karlheinz Barck, Dieter Kliche, Rose‐ marie Lenzer. Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1973 42 Manfred Naumann, a. a. O. S. 18-26 43 Karl Marx, MEW. Berlin: Akademie für Gesellschaftswissenschaften 1980. Bd. 13, S. 622-626 44 Werner Krauss. Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag. In: Sinn und Form 2.J./ 1950, 4.H., S. 65-126 45 Manfred Naumann. Auteur-Destinateur-Lecteur. In: Actes du VIe Congrès de l´AILC, Stuttgart 1975, S. 205-208, Rita Schober. L´Œuvre littéraire, symbole ou modèle ? In: Actes du VIe Congrès de l´AILC, Stuttgart 1975, S. 455-459 meinem Großvater väterlicherseits geerbt. Er war viele Jahre Schauspieler und sein Lieblingsdramatiker eigentlich Schiller. Doch wenn er den Prolog aus Goe‐ thes Faust rezitierte, dann tönten in den wortgewaltigen Versen die Sphären wirklich. Und ähnliches erlebte ich im Studium bei meinem Italienisch-Professor Bischof, wenn er einen Gesang aus Dantes Divina Commedia wie ein Kapitel aus dem Evangelium förmlich zelebrierte. Im Gegensatz zur sprachanalytischen Sicht des Strukturalismus war seine ahis‐ torische mit einer marxistisch-historischen Grundorientierung nicht vereinbar. Die durch diese Auseinandersetzung aufgeworfenen Fragen bereiteten, insgesamt ge‐ sehen, den Boden für meine Beschäftigung mit der von Hans Robert Jauß entwi‐ ckelten Rezeptionsästhetik. Entscheidend für mich wurde jedoch ihre Weiterent‐ wicklung in Richtung auf kommunikationstheoretische und semiotische Ansätze. 1973 erschien unter der Leitung von Manfred Naumann 41 der Band „Gesellschaft Literatur Lesen“, dessen Einführung aus der Feder von Naumann die einschlä‐ gigen Probleme auf marxistischer Bass behandelte und die Rezeptionsproblematik auf das dialektische Verhältnis von Produktion und Konsumtion projizierte 42 , wie Marx es in der „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie“ 43 behandelt hatte. De facto hatte Krauss schon 1950 in seinem Grundsatzartikel „Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag“ 44 darauf hingewiesen, dass Literatur auf „ein Ver‐ nehmen“ angelegt ist und damit „das (daran ablesbare, Einfügung, R.Sch.) histori‐ sche Bild der Gesellschaft“ als den konkreten Empfänger ins Spiel gebracht. Dem diesem Konzept unterlegbaren „dialogischen Prinzip“ (wie Manfred Naumann es 2004 in seinem Artikel ausgeführt hat), entsprach die kommunikationstheoreti‐ sche Sicht. Die von Naumann und mir 1970 auf dem AILC-Kongress in Bordeaux präsentierten Beiträge ergänzten sich in dieser Hinsicht, insofern Naumann die spezifische Aktivität der Leserseite in den Mittelpunkt rückte 45 und ich mit dem Aspekt der Modellbelegbarkeit die dafür notwendige spezifische Offenheit des Werkes, wodurch die Aktivität des Lesers erst ermöglicht wird. Auf die Notwendigkeit, in die literaturtheoretischen Überlegungen die neuen Ergebnisse der anderen Geisteswissenschaften einzubeziehen, habe ich in den 44 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="45"?> 46 Rita Schober. Vom Sinn oder Unsinn der Literaturwissenschaft. Mitteldeutscher Verlag, Halle, Leipzig 1988 47 Joachim Küpper hat in seiner Antrittsvorlesung an der FU am 29. 06. 2000 zu dem Thema „Was ist Literatur“ diese Position unter Einbeziehung des gesamten Problemfeldes in differenzierter Weise überzeugend herausgearbeitet. Joachim Küpper. Was ist Lite‐ ratur ? In: Zeitschrift f. Ästhetik u. Allgemeine Kunstwissenschaft, H.45/ 2, Felix Meiner Verlag 2001, S. 187-215 80er Jahren nach einem Disput mit Peter Hacks im Präsidium des P.E.N-Clubs der DDR in dem Essay „Vom Sinn oder Unsinn der Literaturwissenschaft“ 46 ausdrücklich hingewiesen. Die objektiv erforderliche, darüber noch hinausge‐ hende Interdisziplinarität des theoretischen Ansatzes wird von der Hybridität des literarischen Diskurses selbst erfordert, wie Joachim Küpper in seiner An‐ trittsvorlesung „Was ist Literatur“ an der Berliner Freien Universität nachge‐ wiesen hat. 47 Das Interesse für die Fragen unseres Fachs habe ich mir bis heute bewahrt und auch versucht, so weit wie möglich, die Hauptwellen der gerade in den letzten Jahrzehnten anschwellenden Flut einschlägiger literaturtheoretischer Publika‐ tionen zu verfolgen. Viele Probleme wurden dadurch exakter formuliert und dif‐ ferenzierter beantwortet, aber oft „turnten“ die „turns“ ein bisschen zu flott und der Blick auf „das aufgeschlagene Buch der Geschichte“ ging dabei verloren. Doch es ist zu befürchten, dass sich angesichts des wachsenden Drittmitteleinwerbungs‐ drucks, der durch die Exzellenzinitiativen steigenden Konkurrenz zwischen Uni‐ versitäten und Fachgebieten das „turn“-Karrussel in der Literaturwissenschaft aus individuellen Profilierungsgründen nur noch schneller drehen wird. Ein Blick auf die literaturwissenschaftlichen Sektionstitel des Programms für den nächsten Ro‐ manistentag lässt in solcherlei Hinsicht Schlimmes befürchten. Dieses Programm ist vor allem ein unübersehbares Beispiel der wechselnden Moden in unserem Fachgebiet, auch wenn es berechtigt ist, die literarhistorischen Fragestellungen in die jeweils interkulturelle Kontingenz einzubetten. xxx Da Wissenschaft grundsätzlich ohne Austausch der Meinungen, ohne Kommu‐ nikation nicht gedeihen kann, mussten für den Aufbau des Instituts nach der Unterbrechung durch den Krieg als zweite Aufgabe die wissenschaftlichen Ver‐ bindungen der Romanistik mit dem Ausland wieder hergestellt werden, für Klemperer zusätzlich die mit den deutschen Kollegen. Da traf es sich gut, dass vom 1.-2.Juni 1955 der deutsche Romanistentag in München stattfand, Klemperers alter Heimatuniversität, und der Vorsitz des deutschen Romanistenverbandes in den Händen von Hans Rheinfelder lag, der 45 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="46"?> 48 Im gesamten Text wurde die Schreibweise des rumänischen Namens Iorgu Iordan korrigiert. D.R. den romanistischen Lehrstuhl innehatte und den Kollegen „aus dem Osten“ ge‐ genüber freundlich und kooperativ eingestellt war. Er hatte bereits im Vorjahr an der HU einen Gastvortrag über Gabriele Mistral gehalten. Mit Klemperer konnte auch ich an der Münchner Tagung teilnehmen und so nicht nur die be‐ reits arrivierten Fachkollegen kennen lernen, sondern auch die beiden Schüler von Rheinfelder, den späteren Ordinarius in Salzburg Rudolf Bähr und vor allem Noyer-Weidner, der den Münchner Lehrstuhl erhielt. Die Kontakte mit ihnen blieben erfreulicher Weise auch erhalten. An der nächsten Tagung des Deutschen Romanistenverbandes in Mainz 1957 haben Klemperer und ich ebenfalls noch teilgenommen. Doch die bekannte, sich nach dem Mauerbau 1961 aggravierende politische Konfrontation verhinderte die weitere Teilnahme. Die Mitarbeit im Internationalen Romanistenverband dagegen war wegen der ausgesprochen philologisch traditionellen, also bestenfalls mittelalterliche Li‐ teratur einbeziehenden Ausrichtung für Literaturwissenschaftler nicht ergiebig. Da aber Visaerteilungen für DDR-Bürger vom Internationalen Travel-Board grundsätzlich nur für offizielle wissenschaftliche Veranstaltungen oder Einla‐ dungen erfolgten und die notwendigen Devisenbewilligungen andererseits auch nur aus solchen Anlässen erteilt wurden, haben Klemperer und ich die Teil‐ nahme an dessen Tagungen 1956 und 1959 beantragt, um überhaupt einmal die internationale community unseres Fachs zu erleben. Der Internationale Romanistenkongress vom 3.-8. April 1956 in Florenz war für mich mit dem Erlebnis zweier großer Gelehrter verbunden: Walter v. Wart‐ burgs und Iorgu Iordans 48 . Denn auf der Hinfahrt besuchten wir, Familie Bal‐ dinger und ich, Baldingers Lehrer Wartburg in Basel. Dass ein so monumentales Unternehmen wie das FEW den vollen Einsatz eines Wissenschaftlers erfordert, war auch für mich als Nachwuchskraft selbstverständlich. Aber dass die Hin‐ gabe an ein solches Werk fast zu klösterlicher Abstinenz in den persönlichen Lebensgewohnheiten führen könnte - denn Wartburg schlief in einem kleinen, spartanisch eingerichteten Zimmerchen unmittelbar neben dem Raum mit den kostbaren Zettelkästen, als ob er sie ständig persönlich überwachen müsse - war ein unvergesslicher Eindruck. Iorgu Iordans Auftreten auf dem Kongress in der Auseinandersetzung mit Sever Bopp wegen der sprachlichen Zugehörigkeit des Moldavischen im Zu‐ sammenhang mit den damals aktuellen Sprachatlantendiskussionen überzeugte nicht nur durch seine wissenschaftliche Kompetenz, sondern vor allem auch 46 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="47"?> durch seine überlegene persönliche Haltung. Ich habe Iordan in den späteren Jahren noch mehrfach getroffen und erlebt. Er war stets eine beeindruckende Wissenschaftlerpersönlichkeit und zugleich ein Grandseigneur, dessen sugges‐ tiver Aura man sich nicht entziehen konnte. In Florenz gab es auch ein erfreuliches Wiedersehen mit Rheinfelder und die Bekanntschaft mit Elena Eberwein-Dabcovich, einer alten Freundin von Werner Krauss, und im Anschluß an den Kongress eine von Cook organisierte Rund‐ reise, deren Teilnahme für die Kongressteilnehmer devisenmäßig genehmigt worden war. Sie führte uns von Florenz zunächst nach Neapel, von da zu den Ausgrabungen von Pompeji, die costiera amalfitana, eine der schönsten Küs‐ tenstraßen, entlang bis Amalfi und zurück nach Rom. Eine in vielfacher Hinsicht einprägsame, interessante Reise, landschaftlich, kunsthistorisch, aber auch po‐ litisch. Denn die noch vorhandenen Relikte der jüngsten Vergangenheit in Form der für Mussolinis Partei typischen Symbole der „fasci“ waren nicht zu über‐ sehen. Norditalien bis Florenz kannte ich schon von den Studentenexkursionen aus meiner Prager Zeit. Sie hatten meine kunsthistorische Vorliebe für die Ma‐ lerei und Architektur der Renaissance für lange Zeit geprägt. Aber Pompeji, Rom, das war für mich die Antike, die ich aus meinem Latinistikstudium bis dahin nur aus Büchern kannte, wie z. B. die Schilderung des Untergangs von Pompei durch den Ausbruch des Vesuvs 79 v. Chr., die Plinius der Ältere in seinen Briefen hinterlassen hat. Beim Gang durch die ausgegrabenen Privathäuser, öf‐ fentlichen Plätze und Strassen, beim Anblick der Tempel, Termen, Theater, Hallen, des Lupanars, wurde aus Leseerinnerungen anschauliche Wirklichkeit. Besonders eindrucksvoll und bewegend waren die durch Ausgießen der Hohl‐ räume gewonnenen Plastiken, mit denen die verkrümmten Haltungen der Be‐ wohner festgehalten waren, durch die sie sich vor dem Lavastrom zu schützen versucht hatten. In Rom war die Spannung der zweiundeinhalb Jahrtausende europäischer Geschichte, auf die man mit jedem Schritt traf, für mich so groß, dass ich nach zwei Tagen, noch vor dem Schluss der Reise, buchstäblich geflohen bin. Wahrscheinlich lag diese Reaktion an dem Bildungsgang meiner Genera‐ tion. Mir jedenfalls war die griechisch-römische Antike näher als die deutsche Geschichte, die ich im Gymnasium vor allem aus dem Blickwinkel der Historie Böhmens gelernt hatte. An dem zweiten internationalen Romanistenkongress 1959 in Lissabon konnte Klemperer selbst nicht mehr teilnehmen. Er musste nach einem schweren Herzanfall auf dem Hinflug, von dem er sich bis zu seinem Tod am 11. Februar 1960 in Dresden nie mehr richtig erholte, mit seiner Frau Hadwig von Brüssel aus den Rückflug antreten. 47 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="48"?> 49 Adalbert Dessau studierte in den 50er Jahren an der HU Romanistik, promovierte bei mir mit einer sehr guten Arbeit zur französischen Epik, arbeitete sich unter der Leitung von Werner Krauss in die Hispanistik und Lateinamerikanistik ein, habilitierte sich in letzterem Fach und baute es an der Universität in Rostock auf. Der Lissaboner Kongress war für mich nicht in wissenschaftlicher, sondern in anderer Hinsicht ein Grunderlebnis. Als die damals schon als provenzalische Namensforscherin anerkannte Professorin Rita Lejeune nach vorn zum Red‐ nerpult ging, beobachtete ich die nicht gerade wohlwollenden Blicke der Herren Kollegen. Sie folgten ihr mit einem Ausdruck, als ob sie ihr eine ordentliche Leistung gar nicht zutrauten und machten mir schlagartig deutlich, auf welches Unternehmen ich mich mit dem Versuch, eine wissenschaftliche Laufbahn zu wagen, eingelassen hatte. Den nachhaltigsten Eindruck hinterließ mir die an den Kongress anschlie‐ ßende Reise durch Portugal unter der Führung von Adalbert Dessau. 49 Sie führte uns im Norden über die berühmte Universitätsstadt Coimbra, die Weingegend um Porto bis zu dem Wallfahrtsort Fatima und im Süden bis zu den Korkei‐ chenwäldern um Evora, und vermittelte uns einen Eindruck von der zwischen Größe und Verfall wechselnden Geschichte dieses wunderschönen Landes, wie sie sich in seinen kulturellen Denkmälern und Bauten niederschlug, aber auch von den gravierenden sozialen Unterschieden, wie sie vor allem zwischen Stadt und Land herrschten. Bevor z. B. die armen, barfuss ankommenden Bauern die Stadt Porto betreten durften, mussten sie zumindest Holzpantoffeln anziehen. Wir haben aber auch auf dem Land einfache Händler erlebt, die nicht multipli‐ zieren konnten, sondern nur immer eins und eins zusammenzählten. Anderer‐ seits gab es bei dem Schlussempfang für die Kongressteilnehmer in dem großen Treibhaus von Lissabon eine solche Entfaltung von gepflegter Eleganz, Schön‐ heit und Esskultur, wie sie bei solchen Anlässen selten ist. Das Land stand damals noch unter dem Regime von Salazar und war Bündnispartner der Nato, deren deutschen Vertretern wir zufällig im Hotel auch begegnet waren. xxx Den wissenschaftlichen Kontakt mit den sozialistischen Ländern hat Klemperer ebenfalls selbst noch hergestellt. Als erstes war er im Rahmen einer größeren Delegation im Frühjahr 1952, vom 22. April bis 7. Mai zu Gastvorlesungen in Polen, an den Universitäten in Warschau und Krakau, als zweites im Dezember desselben Jahres in Rumänien, 48 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="49"?> 50 Cf. aus den Tagebüchern Victor Klemperers, „So sitze ich denn zwischen allen Stühlen“, II, Tagebücher 1950-1959, Aufbau-Verlag Berlin 1999, Polen: S. 166-282, Rumänien: S. 337-346. Die Klammerbemerkung - Die Expedition - in dem Silverster-Résumé 1952 (S. 350), zeigt Klemperers Einschätzung dieser Reise. 51 Cf. den ausführlichen Bericht von Zygmunt Czerny (Krakau), « Colloque International de civilisations, littératures et langues romanes à Bucarest », in: BRPh, II.Jg., 1963, H 1, S. 182-191 an den Universitäten in Bukarest und Cluj 50 . Angesichts der außenpolitischen Situation war der Versuch, wissenschaftliche Verbindungen zunächst mit den Universitäten der sozialistischen Staaten zu knüpfen, eigentlich selbstverständ‐ lich. Dennoch gelang es z. B. erst in den 70er Jahren über Prof. Heisstein zu Polen, d. h. zur Universität in Breslau kontinuierliche Beziehungen zu etablieren, ob‐ wohl auch ich selbst schon 1954 bei den Gastvorlesungen in Warschau, Posen, Krakau ausgesprochen freundlich aufgenommen worden war. Mit der Roma‐ nistik der Lomossow-Universität in Moskau und deren Direktor Roman Mi‐ chailowitch Samarin erfolgte der erste direkte wissenschaftliche Kontakt bei meiner Gastvorlesung Dezember 1959, der dann über mein dortiges Gastse‐ mester im WS 1970 und die Beteiligung verschiedener Kollegen an unserer Zeitschrift bis Ende der 80er Jahre aufrecht erhalten blieb. Entscheidend in mehrfacher Hinsicht für die Auslandsbeziehungen unseres Instituts und auch für mich persönlich nach Ost und West - und ebenso wichtig, zumindest kurzzeitig, für mein Verhältnis zu Werner Krauss - war jedoch meine Teilnahme an zwei komparatistischen Tagungen, die erste 1959 in Bukarest und die zweite1962 in Budapest; beide ausgerüstet durch die jeweiligen Akademien. Diese Tagungen waren, meiner Meinung nach, ein Versuch der darin vertre‐ tenen Romanisten der älteren Generation, die ihre Ausbildung selbst meist noch in Frankreich erhalten hatten, Brücken zu den Kollegen in den westlichen Län‐ dern zu schlagen und die dem wissenschaftlichen Austausch hinderlichen po‐ litischen Vorurteile wenigsten etwas abzubauen. Vom 14. bis 27. September 1959 fand in Bukarest ein „Colloque international de civilisations, littératures et langues romanes“ statt, das von der Rumänischen Akademie und der Nationalen Kommission für die UNESCO mit finanzieller Unterstützung der UNESCO organisiert wurde. 51 Ich habe nie wieder eine so großzügig und wissenschaftlich wie kulturell so vielfältig ausgerichtete Tagung erlebt wie diese. Vorgesehen waren insgesamt zwei Wochen. Eine Woche in Bukarest, vor allem für die wissenschaftlichen Veranstaltungen, aber auch für kulturelle Genüsse verschiedenster Art, einschließlich einer Weinverkostung in dem der Akademie gehörenden Weingut in Murfatlar. Und eine zweite Woche für eine Reise durchs Land. Zunächst ging es an die Schwarzmeer-Küste, nach 49 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="50"?> 52 Die Kopie eines seiner berühmtesten Bilder, „Der kleine Hirte“, ein Geschenk rumäni‐ scher Kollegen, hing an der Wand meines Universitätsdienstzimmers. Mamaia, Eforie und Constanta, wo wir natürlich des unglücklichen verbannten Ovids gedachten („Cum repeto noctem, qua tam mihi cara reliqui…”), danach durch das Brahova-Tal mit einem Zwischenhalt in Cámpina zur Besichtigung des Grigorescu-Museums 52 in die Südkarpaten nach Sinaia. Die letzten Stationen dieser Rundreise waren die siebenbürgischen Städte Brasov (Kronstadt) und Sibiú (Hermannstadt). Die Erinnerung an diese Reise hat sich mir wohl auch deshalb so eingeprägt, weil wir die ganze Zeit wunderbares Frühherbstwetter hatten mit strahlendem Sonnenschein, so dass ich im Schwarzen Meer sogar ein kurzes Bad nehmen konnte. Und weil mir ein zweites Erlebnis unvergesslich ist, das unbemerkte Verschwinden von Werner Krauss aus Kronstadt. Er hatte schon seit zwei, drei Tagen mehrfach erklärt, er müsse jetzt bald nach Hause, denn in Berlin wäre schon längst Schnee. Er liebte es, bisweilen seine Umgebung mit solchen überraschenden Sätzen oder etwas skurrilen Verhaltensweisen zu scho‐ ckieren, vielleicht um einfach die Reaktion zu testen. Angesichts dieser Abreise-Bemerkungen bat unser Betreuer, Herr Theiß, ein Germanistik-Kollege von der Universität Bukarest, den Pförtner unseres Hotels in Kronstadt aus‐ drücklich, ihn sofort zu verständigen, sobald dieser Gast das Hotel allein ver‐ lassen wolle. Am nächsten Morgen, vor der Abfahrt nach Hermannstadt, fehlte Krauss beim Frühstück. Schließlich ging Theiß zu seinem Zimmer um ihn ab‐ zuholen. Aber niemand öffnete auf sein Klopfen. Krauss war nicht mehr da. In dem Zimmer auf dem Tisch stand jedoch eine Flasche Wein mit einem Zettel: „Frau Prof. Rita Schobers Eigentum“. Wir hatten uns nach der Weinverkostung in Murfatlar einen Wein aussuchen können, von dem wir eine Flasche als Gast‐ geschenk bekamen und Krauss hatte sich freundlicherweise bereit erklärt, meine Flasche zu transportieren. Wie es ihm gelungen war, unbemerkt Hotel, Stadt und Land zu verlassen, blieb ein ungelöstes Rätsel, zumal bei dem nicht zu über‐ sehenden Sicherheitssystem dieses Landes. Denn auch das war ein Eindruck von diesem Aufenthalt. Viel entscheidender aber war der Eindruck einer ehrlichen Gastfreundschaft und unglaublichen Großzügigkeit. So wurden z. B. die gesamten Aufenthalts‐ kosten von den Organisatoren übernommen, d. h. Unterbringung in dem besten Hotel Bukarests, dem Athénée Palace, und ganztägig volle Verpflegung à la carte für alle Teilnehmer einschließlich ihrer familiären Begleitung und natürlich ge‐ hörte auch die Rundreise dazu. Offizielle Einladungen waren an 64 Romanisten ergangen, teilgenommen haben 30 Wissenschaftler aus 18 Ländern, darunter Gerhard Rohlfs, begleitet 50 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="51"?> von seiner Frau, aus der BRD, Roger Caillois aus Frankreich, Manuel Alvar aus Spanien, Bertil Malmberg aus Schweden, Giuseppe Petronio und der hoch an‐ gesehene Monteverdi aus Italien. Vom Gorki-Institut in Moskau war Tamara Motyljowa gekommen, von der Karls-Universität Prag Jan O. Fischer, von der Universität in Krakau Zygmunt Czerny, von der DDR Werner Krauss und ich. Die rumänische Seite vertraten vor allem die Akademiemitglieder Tudor Vianu mit Gattin und A. Rosetti und natürlich der Vizepräsident der Akademie Iorgu Iordan als offizieller Einlader. Die insgesamt 12 Vorträge der ersten Woche verteilten sich entsprechend dem Titel des Kolloquiums auf drei Sektionen. Und obwohl für jeden Vortrag reich‐ lich Diskussionszeit vorgesehen war - und vor allem auch die nicht offiziellen rumänischen Teilnehmer diese Gelegenheit wirklich nutzten - blieb noch ge‐ nügend freie Zeit für das umfangreiche kulturelle Programm. In der linguisti‐ schen Sektion, die am stärksten vertreten war, wurde die schon auf dem Ro‐ manstik-Kongreß in Florenz virulente Sprachatlantenfrage des Moldavischen, da sie mit der Grenzziehung zur SU ein Politikum darstellte, erneut aufge‐ nommen. Mich interessierten natürlich am meisten die literarischen Vorträge von Petronio, Caillois und Vianu, dem bedeutendsten rumänischen Literatur‐ wissenschaftler der älteren Generation. Vianu sprach über die spezifischen Cha‐ rakterzüge der rumänischen Literatur, Caillois über die Besonderheiten, denen die lateinamerikanische Literatur im 20sten Jahrhundert ihre Weltgeltung ver‐ dankt. Giuseppe Petronio seinerseits ging auf ein aktuelles theoretisches Pro‐ blem der littérature comparée ein. Er forderte, zunächst innerhalb nationaler literaturgeschichtlicher Darstellungen die Literarhistorie stärker mit der jewei‐ ligen Allgemein- und Sozialgeschichte zu verzahnen, um so überhaupt erst eine relevante Vergleichsbasis als Voraussetzung komparatistischer Studien zu ge‐ winnen. Da ich mich in der durch Petronios an Gramsci und Marx gemahnende, so‐ ziologisch orientierte Position - er war deshalb als Wissenschaftler nicht zufällig auf dem Außenposten in Cagliari gelandet - ausgelösten, lebhaften Debatte in seinem Sinne äußerte, kam es mit ihm zu einer langjährigen kollegialen Ver‐ bindung. Petronio, klein, quirlig, und man ist versucht zu sagen, „typisch itali‐ enisch“, war ein Feuergeist. Mit ihm zu diskutieren machte richtig Spaß und seine literatursoziologischen Arbeiten, die er in den gemeinsam mit Schulz-Buschhaus herausgegebenen Sammelbänden veröffentlichte und mir re‐ gelmäßig schickte, brachten mir auch wichtige Anregungen. Ein zweiter dauerhafter kollegialer Gewinn dieses Kolloquiums war die Be‐ kanntschaft mit J.O. Fischer, kurz Jan Ottokar, wie wir ihn später, etwas salopp, bei uns im Institut nannten. Er war aber auch eine etwas ungewöhnliche Er‐ 51 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="52"?> scheinung: groß, ziemlich beleibt, mit stets zerknitterten Hosen, aus deren un‐ ergründlichen Taschen in Rumänien Unmengen von Kleinigkeiten zutage kamen, wie Spagatfäden, Taschenmesser, Flaschenkorken, Notizzettel, Bleistifte, Kalender und natürlich auch Taschentücher. Und irgendwo fand sich in diesem pêle-mêle auch noch ein veralteter kleiner Foto-Apparat, mit dem er eifrig be‐ müht war, Aufnahmen zu machen, natürlich vor allem von den Teilnehmern. Aber auch das ging nicht so einfach vonstatten, denn er musste den Apparat genau verkehrt herum auf dem Bauch halten, um überhaupt damit fotografieren zu können, so dass der ganze Vorgang meist alle Zeitpläne der Beteiligten durcheinander brachte. Doch solches störte Jan Ottokar nicht im Geringsten. Ich habe viele Jahre später bei einem Abendessen in Bordeaux, zu dem Robert Escarpit mit seiner Gattin in sein Haus eingeladen hatte, erlebt, dass die ganze Gesellschaft nach dem Essen noch ein gute Stunde aufgehalten wurde, weil Jan Ottokar unbedingt jetzt und hier mit Prag telefonieren musste, was aus uner‐ findlichen Gründen nicht gelang. Doch die dadurch entstandene peinliche Si‐ tuation wurde ihm gar nicht bewusst. Kurz, er war, wie sich immer wieder her‐ ausstellte, ein Unikum. Ungeheuer fleißig und betriebsam; die von ihm in Liblice, einem Schloß im Norden von Prag, in den 60er Jahren organisierten Kolloquien, wurden gern besucht. Ideologisch - vor lauter Ehrlichkeit - aber ziemlich starr. Ein Leben, das bis zu einem gewissen Grade unter dem Trauma ablief, die wis‐ senschaftliche Größe des berühmten Vaters, der ebenfalls Professor an der Prager Universität gewesen war, erreichen zu müssen. Als dauerhaften wissenschaftlichen Gewinn brachte dieses Kolloquium aber vor allem noch etwas ganz anderes, den Plan eine Zeitschrift zu gründen - womit Klemperers ureigenstes drittes Anliegen endlich einer Realisierung näher kam. Die hier vertretenen Kollegen der sozialistischen Länder verständigten sich am 17. September in einer Zusammenkunft in Bukarest, an der auch Werner Krauss teilnahm, darüber, gemeinsam eine romanistische Fachzeitschrift her‐ auszugeben, wenn die DDR die zugesagte Finanzierung und das Romanische Institut der HU die mit der Herausgabe einer solchen Zeitschrift verbundenen technischen und redaktionellen Arbeiten übernimmt. Als Titel schlug Iorgu Ior‐ dan „Beiträge zur Romanischen Philologie“ (BRPh) vor. 1961 erschien dann die erste Nummer bei Rütten und Loening in Berlin. Klemperer, der sich so für die Zeitschrift eingesetzt hatte, war es leider nicht vergönnt, diese Freude noch zu erleben, aber sein Name stand mit Werner Krauss und Rita Schober unter den Herausgebern. Und für die Mitwirkung der anderen sozialistischen Länder signierten R. A. Budagow (Moskau), Z. Czerny (Kraków), J. O. Fischer (Prag), I. Iordan (Bukarest), L. Tamás (Budapest), Th. S. Thomow 52 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="53"?> 53 Werner Draeger, den Klemperer mit großer Mühe - wie in den Tagebüchern nachzu‐ lesen - für die Universität gewonnen hatte, war Gamillscheg-Schüler und Spezialist für Balkan-Linguistik. Er vertrat an unserem Institut die Rumänistik und erwarb sich vor allem in der Linguistik große Verdienste um eine fruchtbare wissenschaftliche Zusam‐ menarbeit mit Rumänien. (Sofia). Als Redaktionssekretäre fungierten Dr. Werner Draeger 53 und Gerhard Schewe. Das Geleitwort zur ersten Nummer schrieb Werner Krauss, zugleich veröffentlichte er darin einen Beitrag zum 18. Jh. Ebenso erschienen Beiträge von Klemperer und mir und allen anderen für die einzelnen Länder verantwort‐ lichen Kollegen, mit Ausnahme Bulgariens, das keinen Artikel beisteuerte. Für Polen hatte Czerny den Aufsatz einer Kollegin eingereicht. Der Start war nach den langen Kämpfen endlich gelungen, die Schwierigkeiten insgesamt blieben indessen, hinsichtlich der Zusammenarbeit mit den anderen so‐ zialistischen Ländern, mit bestimmten Kollegen in der DDR selbst, vor allem aber mit der Druckerei. Ohne den unermüdlichen Einsatz von Gerhard Schewe als Re‐ daktionssekretär - Draeger war schon nach kurzer Zeit ausgeschieden - wäre die Zeitschrift an den technischen Schwierigkeiten sicher gescheitert. Untergegangen ist sie allerdings erst infolge der Wende. Angesichts der in der BRD vorhandenen wohl eingeführten Fachzeitschriften lag auch kein Bedarf mehr für ein solches Blatt vor, dessen eigentliche Funktion es - nach ursprünglich anderer Planung - geworden war, den Romanisten der DDR und der befreundeten Länder grundsätz‐ lich als Sammelbecken für den Druck fachspezifischer Arbeiten zu dienen, die sonst kaum in den vorhandenen Publikationsorganen veröffentlicht werden konnten. Die Artikel der einzelnen Hefte mussten zu keinem Zeitpunkt irgend‐ einer Kontrolle, weder des Hochschul-, noch des Kulturministeriums vorgelegt werden. xxx Angeregt durch die Tagungen in Bukarest und besonders durch die 1962 auf literaturwissenschaftliche Komparatistik angelegte in Budapest - zu der wie‐ derum Krauss und ich gemeinsam fuhren - und meine darauf folgende Teil‐ nahme 1964 an der AILC-Tagung in Fribourg (Schweiz), verliefen, von da bis zur Wende, meine internationalen Beziehungen auf literaturtheoretischem Gebiet vor allem über diese Gesellschaft, die Association Internationale de Littérature Comparée (AILC). Für die französische Literaturgeschichte war natürlich mein Kontakt mit den französischen Kollegen ausschlaggebend. Der erste französische Gelehrte, den ich persönlich kennen lernte, war Prof. Antoine Adam. Ich hatte im Zuge der Arbeit an Boileau seine kritische Ausgabe der Satiren benutzt, vor allem aber 53 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="54"?> die fünf Bände seiner „Geschichte der französischen Literatur im 17. Jh.“. So eine gründliche, informationsreiche, auf umfängliche Quellen- und Archivstudien gestützte Arbeit hatte ich bis dahin noch nie in Händen gehabt und bewunderte ihren Verfasser restlos. Dass ich es wagte, mich an ihn direkt zu wenden, hatte einen ganz anderen Grund. Ich war mit zwei Kollegen, Dr. Horst Heintze und Dr. Runkewitz (vom Akademie-Institut) zu einer Tagung der Société Arthuri‐ enne am Collège de France und musste auch in der Bibliothèque Nationale ar‐ beiten. Doch die dafür notwendige Benutzerkarte wollte mir der Angestellte der Ausgabestelle nach Besichtigung meines Dienstausweises von der Hum‐ boldt-Universität, auf dem deutlich mein Dienstgrad, Prof. mit vollem Lehrauf‐ trag, verzeichnet war, partout nicht geben. Nach einem Blick auf mich und mein Lichtbild im Ausweis kam die Antwort: „assistante“! So etwas Ähnliches war mir gerade erst in Warschau passiert. Die zu meiner Abholung auf den Bahnhof erschienene Kollegin, erkannte in der einzigen, dem durchlaufenden Wagon Berlin-Warschau entstiegenen Person auch nicht die erwartete Berliner „Pro‐ fessorin“. Beim Abschied gestand mir Prof. Brahmer, dass sie, wenig erfreut, eine ältere und noch dazu „deutsche blaustrümpfige“ Dame erwartet hätten. In Paris rettete mich Antoine Adam aus dem Dilemma. Mit seiner Befürwortung wagte niemand mehr, mir die Karte für die Lesesaalbenutzung zu verweigern. Entscheidend lief meine Beziehung zu den französischen Kollegen natürlich über die Zolaforschung und damit über Henri Mitterand. Ende 1955 hatte ich mich an unsere Staatsbibliothek gewandt mit der Bitte, an der Bibliothèque Nationale nachzufragen, ob sie einen jungen Kollegen ver‐ mitteln könnten, der für mich recherchierte, wo und wann Zolas Aufsatz „Deux définitions du roman“ erschienen wäre. Wozu ich gerade diesen Aufsatz unmit‐ telbar brauchte, kann ich nicht mehr sagen. Jedenfalls war dieser Aufsatz in den von Zola zwischen 1880 und 1882 veröffentlichten Sammelbänden der allein zur Verfügung stehenden, bei Bernouard erschienen Gesamtausgabe nicht vor‐ handen, denn Zola hatte ihn Dezember 1866 für einen dem Studium des Romans gewidmeten Congrès scientifique de France verfasst, in dessen Annalen er im gleichen Jahr veröffentlicht wurde. Am 16. Januar 1956 kam die Antwort der Bibliothèque Nationale, dass Henri Mitterand, ein „agrégé linguiste et philologue“ bereit wäre, diese Aufgabe zu über‐ nehmen und am 10. Mai der Brief Mitterands mit den nötigen Angaben. Mitter‐ ands wissenschaftliche Ausrichtung lag damals mehr auf linguistischem Gebiet. In seiner Agrégation-Arbeit beschäftigte er sich mit einem grammatischen Thema und Gegenstand seiner maîtrise war die Vulgärsprache in „Le Feu“ von Barbusse. Damit war er eigentlich schon in der Nähe von Zola. Vielleicht hat diese Re‐ cherche auch sein Interesse für Zola befördert, denn die journalistischen, vor den 54 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="55"?> 54 Unter Journalisten würde man z. Zt. sagen „Ein Streitlicht“ im Stile der Süddeutschen Zeitung. 55 Dieser roman-fleuve ist von 1947-1955 bei Les Éditeurs Français Réunis in Paris er‐ chienen. Rougon-Macquart verfaßten Artikel Zolas waren zu diesem Zeitpunkt weder wis‐ senschaftlich bearbeitet noch erschlossen. Jedenfalls veröffentlichte er 1962 eine diesbezügliche Untersuchung „Zola journaliste de l´affaire Manet à l´affaire Dreyfus“. An der Erarbeitung und Herausgabe der wissenschaftlichen Neu-Aus‐ gabe der Rougon-Macquart bei Gallimard war er bereits 1960 beteiligt; im ersten Band zunächst noch gemeinsam mit Armand Lanoux, ab dem zweiten Band als alleiniger Herausgeber. Und für mich ist aus dieser ersten Fühlungnahme 1956 eine über die Jahre bis heute anhaltende freundschaftliche Verbindung entstanden. Seiner Vermittlung dankte ich nicht nur im Juli 1957 einen Besuch bei dem Sohn Zolas, le docteur Jacques Émile Zola, der in der rue Pigalle Nr. 22 wohnte, sondern natürlich auch den Zugang zum „Centre Émile Zola“ am CNRS und den Kontakt mit den anderen dort verankerten Kollegen, vor allem mit Colette Becker. Sie ist mir inzwischen ebenfalls eine gute Freundin geworden. In den siebziger Jahren kamen intensivere wissenschaftliche Beziehungen auch zu anderen Universitäten hinzu, so zu dem Schriftsteller und Literatur‐ wissenschaftler Raymond Jean in Aix, zu dem Literatursoziologen Robert Es‐ carpit und seinem Forschungsteam in Bordeaux und bis heute zu Francis Claudon, dem Ordinarius für Littérature Comparée zunächst an der Université de Bourgogne in Dijon und dann in Paris XII (Paris Est). Er vertrat in der AILC die Sparte „Litterature and the other arts“, aber unter ganz besonderer Betonung der Musik. Er spricht perfekt deutsch und ist ein hervorragender Kenner des deutschen Musikschaffens. In unsere freundschaftliche Beziehung sind auch längst die Familien einbezogen. Auf einer ganz anderen Ebene hatte ich in den sechziger Jahren auch eine persönliche Bekanntschaft mit André Wurmser (1899-1984) und seiner Frau. André Wurmser war Journalist an der Humanité, auf deren erster Seite täglich seine aktuelle satirische Glosse „Mais, dit André Wurmser“ 54 erschien. Er führte aber nicht nur für seine politische Überzeugung eine spitze Feder, sondern er nahm auch sich selbst als Zielscheibe seines Spottes. Kurz, er hatte stets Sinn für Humor. So schrieb er z. B. in den zweiten Band seiner siebenbändigen Ge‐ schichte einer jüdischen Familie „L´Enfant enchaîné“, den er mir gelegentlich eines Besuchs in meinem Berliner Haus schenkte, als Widmung hinter den Titel „Un homme vient au monde“ 55 - „seulement pour la joie de dîner avec son amie Rita Schober.“ Die Wohnung des Ehepaars Wurmser im damals noch vorhan‐ denen Hallenviertel, wo ich beide einmal 1968 besuchte, hatte einen ganz ei‐ 55 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="56"?> 56 Cf. Karlheinz Barck. Internationales Lateinamerikakolloquium in Berlin. In: BRPh 1963, II, S. 180-181 genen Stil, ein Gemisch aus Nostalgie und Modernität, aus Eleganz und einem Anflug von Kitsch. Wurmsers aus den Glossen zusammengestellte Sammel‐ bände wiederum könnte man durchaus als Teilstücke einer aus der Perspektive eines überzeugten Kommunisten geschriebenen satirischen zeitgeschichtlichen Dokumentation lesen. Wenn ich mich rückblickend frage, wo meine nachhaltigsten wissenschaftli‐ chen und persönlichen Auslandsbeziehungen lagen, dann war es - trotz aller gegebenen objektiven Schwierigkeiten - Frankreich mit Paris als Zentrum. Ich kannte Paris besser, als ich je eine andere Stadt - mit Ausnahme von Prag - gekannt und geliebt habe. Mais: « Revenons à nos moutons » Ich glaube, man kann sagen, dass bis zum Tode Klemperers 1960 die erste Aufbauphase des Romanischen Instituts an der HU unter den verschiedenen Aspekten im wesentlichen abgeschlossen war. Nun musste das Institut sich auch nach außen hin bewähren. Dafür waren 1960 die Feierlichkeiten anlässlich des 150sten Jahrestages der Gründung der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der jetzigen Hum‐ boldt-Universität, gewissermaßen die erste Probe. Die zweite war 1965 die wis‐ senschaftliche Tagung zum 650sten Geburtstag von Dante. Anlässlich des Gründungsjubiläums der Universität sollten sich die Institute mit wissenschaftlichen Veranstaltungen in der Öffentlichkeit präsentieren. Unser kleines Institut richtete aus diesem Anlass drei Tagungen aus: eine lite‐ raturwissenschaftliche, ein Lateinamerika-Kolloquium und eine Studentenkon‐ ferenz. Den Auftakt machte vom 2.-4. November das zweitägige „Kolloquium zu ak‐ tuellen Problemen Lateinamerikas“ 56 . Die Initiative dazu kam von Prof. Waldo Ross, dem chilenischen Philosophen, der seit 1959 begonnen hatte, an unserem Institut die Lateinamerikanistik wieder aufzubauen. Gemeinsam mit Karlheinz Barck, als wissenschaftlichem Assistenten, war er für die Organisation und Durchführung verantwortlich. Seinem engagierten Einsatz war es zu danken, dass die in der DDR vorhan‐ denen Vertretungen lateinamerikanischer Staaten durch je einen Repräsen‐ tanten bei dem Kolloquium anwesend waren und auch der sowjetische Bot‐ schafter zur Eröffnung erschien. 56 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="57"?> 57 Das Referat erschien in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Humboldt-Universität, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Jg. XI,1962, H.1, S. 69-79 58 Cf. Anm. 19 den Tagungsbericht von Karlheinz Barck Angesichts der Bedeutung dieses Kolloquiums - es war nach dem Krieg die erste wissenschaftliche Veranstaltung auf deutschem Boden, die Lateinamerika gewidmet war - oblag es mir als Institutsdirektor, die Tagung zu eröffnen. Zur Diskussion standen die aktuellen Probleme der politischen, ökonomi‐ schen, kulturellen und sozialen Befreiungsbewegungen in Lateinamerika. Diese breite Thematik wurde in zwei Plenarsektionen abgehandelt: In der ersten die Fragen der Geschichte, Ökonomie und Völkerkunde, in der zweiten die der Li‐ teratur-, Kultur- und Kunstgeschichte. Eine solche Thematik wäre mit den Kräften unseres Instituts allein nicht zu bewältigen gewesen. Die aktive Beteiligung der entsprechenden Fachvertreter der Romanischen Institute der Universitäten Leipzig und Rostock an dem Kol‐ loquium mit Vorträgen war deshalb von vorn herein eine conditio sine qua non. Außerdem erforderte die Spannbreite der Fragestellungen die Einbeziehung von Wissenschaftlern anderer Disziplinen, wie Historikern, Ökonomen, Politologen. Eine besondere Bereicherung waren in der ersten Sektion vor allem die Bei‐ träge der Kollegen aus Lateinamerika selbst, die diese Probleme aus eigener Anschauung kannten, wie z. B. das Referat des Politologen Prof. Carlos M. Rama aus Uruquay über „Die soziale und Arbeiterbewegung in Südamerika“ 57 oder der Beitrag von Prof. Tellez Maciel aus Mexiko zum Thema „Mexiko und die latein‐ amerikanische Unabhängigkeitsbewegung“. In der zweiten, etwas kleineren Sektion sprachen ebenfalls anerkannte Spe‐ zialisten, wie u. a. Prof. Atkinson (England), Dr. Rieu (Frankreich), Prof. Marquez Rodriguez (Mexiko) 58 . Im Unterschied zu den ausländischen Wissenschaftlern, kamen die Beiträge aus der DDR vor allem von jungen Nachwuchswissenschaflern. Die beiden wichtigsten von Dr. Manfred Kossock (Leipzig) in Sektion I und von Dr. Adalbert Dessau (Rostock) in Sektion II. Der Historiker Manfred Kossock, Fachmann für Revolutionsgeschichte und Unabhängigkeits-Bewegungen, hielt ein Referat zu dem Thema „Das Jahr 1810 - über den historischen Ort der spanischamerika‐ nischen Unabhängigkeitsbewegung“. Der Romanist Dr. Dessau, spezialisiert für lateinamerikanische Literatur, griff eine literaturgeschichtliche und -theoretische Problematik auf: „Das Problem des Realismus in den Romanen Mariano Azuelas und die Frage der Originalität der mexikanischen Literatur“, das im Zusammenhang mit seinem Habilitati‐ onsthema zum mexikanischen Roman stand. Beide waren später die aner‐ 57 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="58"?> 59 Vgl. den Bericht von Dieter Paufler, der damals wissenschaftlicher Assistent am Institut war, in der Jugendzeitschrift Forum, 9. Dez. 1960. kannten Vertreter ihrer jeweiligen Fachgebiete, die sie an ihren Universitäten erst etabliert hatten. Insgesamt bestimmend für den Erfolg des Kolloquiums war außer den Refe‐ raten der anerkannten Wissenschaftler aus dem Ausland, den guten Vorträgen unserer eigenen jungen Wissenschaftler, vor allem die von sachlichem Interesse getragene Diskussionsfreudigkeit aller Teilnehmer. Die Studentenkonferenz fand am 17. November statt. Für sie war vom Lehr‐ körper Mme Danelius verantwortlich, die in den sprachpraktischen Unterricht auch landeskundliche Themen einbezog. Sie stammte aus Algerien und da der am 1. November 1954 von den Franzosen gegen Algerien begonnene Krieg noch immer nicht beendet war, lag es für sie nahe, als wissenschaftlichen Beitrag für die Studenten die Untersuchung des Kampfes um die Unabhängigkeit ihres Hei‐ matlandes in der Presse vorzuschlagen, zumal sie dieses Thema im Unterricht auch behandelt hatte. Allerdings stand dafür als vorhandenes Material nur die Humanité, das Organ der französischen kommunistischen Partei, zur Verfü‐ gung. Unter pädagogischem Aspekt das noch wichtigere Anliegen als das Thema selbst war jedoch die Einbeziehung möglichst aller Studenten ab dem zweiten Studienjahr in die Vorbereitung und Ausarbeitung. Der Jahrgang 1959 der Hu‐ manité wurde auf die drei Studienjahre aufgeteilt, die ihrerseits in insgesamt neun Gruppen die einzelnen Nummern auszuwerten hatten. Dadurch sollte die gegenseitige Zusammenarbeit und Hilfe der Studenten angeregt werden. Am Ende wurden die einzelnen Auswertungen durch eine Redaktionsgruppe zu einem Referat zusammengefasst, das von einem Vertreter dieser Gruppe auf der Studentenkonferenz verlesen wurde. Für Mme Danelius war diese Art der meh‐ rere Jahrgänge einbeziehenden Zusammenarbeit nichts Neues, denn sie prakti‐ zierte sie ständig bei der Vorbereitung der jährlichen Theateraufführungen am Ende des Wintersemesters. An der Konferenz nahmen auch in der DDR studierende algerische Studenten und ein offizieller Vertreter der UGEMA, des algerischen Studentenverbandes teil. Die Darstellung der aktuellen Freiheitskampfes des algerischen Volkes wurde ergänzt durch zwei Diskussionsbeiträge, in denen die durch diese Vor‐ gänge ausgelösten Veränderungen im kulturellen Bereich an zwei Beispielen behandelt wurden. Gerhard Schewe verwies auf das Romanschaffen Mohammed Dibs und der algerische Student Mokkdad auf Wandlungen im algerischen The‐ ater. Insgesamt gesehen bot die Konferenz 59 genügend Diskussionsstoff zu un‐ 58 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="59"?> 60 Im Jahre 2010, im Zeichen von Moderne und Postmoderne, als Literaturwissenschaftler das obsolete Wort „Realismus“ überhaupt in den Mund zu nehmen, grenzt allerdings eher an Selbstmord. Ein Standardwerk zur Literatur- und Kulturtheorie, wie das von Ansgar Nünning in der zweiten überarbeiteten Auflage 2001 bei Metzler herausgege‐ bene Lexikon, hält sich mit dem Artikel zum Realismus deshalb auch nicht lange auf. terschiedlichen aktuellen Fragen, eine Gelegenheit, die von den überwiegend jungen Teilnehmern auch ausgiebig genutzt wurde. Das Thema der literaturwissenschaftlichen Tagung, die am 18.11. als Ab‐ schluß stattfand, war „Die Gestaltungsmittel des sozialistischen Realismus in der modernen französischen Lyrik und im französischen Gegenwartsroman“. Dafür waren zwei Hauptreferate vorgesehen, eines von mir über „Aragons Roman ‚La Semaine Sainte’ und ein zweites von Dr. Jürgen Papenbrock zu „Eluards Lyrik“. Dass die „Realismusproblematik“ 60 das Thema der literaturwis‐ senschaftlichen Tagung sein sollte, stand für mich fest, denn um diese Fragen gingen ständig die kulturpolitischen Diskussionen und sie hatte mich seit der Arbeit an der Habilitationsschrift auch nicht mehr losgelassen. Zudem war 1960 in Frankreich die Diskussion um diese Problematik im Zu‐ sammenhang mit der zeitgenössischen Romanproduktion ganz aktuell. Schließ‐ lich hatten die seit 1953 erschienenen Romane Robbe-Grillets - seine progam‐ matische Schrift zum nouveau roman veröffentliche er allerdings erst 1963 - die konstitutiven Fragen der Literatur wie: Gegenstandswahl, Autorrolle, Wir‐ kungsweise, Darstellungstechnik, Realitätsbezug, Fiktion, Wahrheitsanspruch erneut auf den Prüfstand gestellt. Und in der sowjetischen Literaturwissenschaft hatte die nach 1956 - durch Chrustschows Rede auf dem 20. Parteitag der KPdSU - ausgelöste „Tauwetter‐ periode“ der Auseinandersetzung um die Realismusproblematik ebenfalls neuen Auftrieb gegeben. Auf der 1957 vom „Gorki-Institut für Weltliteratur“ (der Sowjetischen Aka‐ demie der Wissenschaften) durchgeführten Konferenz setzte sich für den Rea‐ lismus die traditionell vor allem von der Leningrader Schule vertretene literar‐ historische Auffassung durch, nach der „Realismus“ ein Epochenbegriff und zugleich eine überzeitliche mimetische Grundkategorie war. Ähnlich war es 1946 in der deutschen Romanistik von Auerbach in seinem Mimesisbuch in überzeugenden Werkanalysen dargelegt worden. Die historische Auffassung des Realismus als Epochenbegriff hatte eigentlich auch 1934 auf der ersten All‐ unionskonferenz des sowjetischen Schriftstellerverbandes zur Wahl des Bei‐ worts „sozialistisch“ für den zeitgenössischen Realismus geführt. Damit sollten die literarischen Werke, in denen die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes ihren Niederschlag fanden, von dem traditionellen Realismus eines 59 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="60"?> 61 Rita Schober. Ästhetischer oder literarhistorischer Realismusbegriff ? “ (Einige Bemer‐ kungen zur Realismus-Diskussion). In: „Kunst und Literatur“ 1957, Nr. 6, S. 604-608 62 AaO., S. 608 63 Louis Aragon. « J´abats mon jeu ». Les Éditeurs Réunis Français, Paris 1959, folgende Aufsätze: L´auteur parle de son live. p. 88-93 ; Il faut appeler les choses par leur nom, p. 134-173. Alle Aufsätze Anfang und April 1959. Tolstoi oder Dostojewski terminologisch abgegrenzt werden. Dagegen war an sich nichts einzuwenden. Zur „dogmatischen“ Kategorie wurde der „sozialisti‐ sche Realismus“ erst durch die vor allem von Shdanow durchgesetzte, restriktive parteipolitische Handhabung als einzig erlaubte Kunstpraxis und ihre Eingren‐ zung auf ganz bestimmte Formen und Verfahren, auf festgelegte Vorschriften. Die negativen Folgen dieses Dogmatismus hatte die „Formalismus-Debatte“ der frühen fünfziger Jahre in der DDR gerade gezeigt. Die Freiheit der Darstel‐ lungsmittel schien mir ein vordringliches Gebot theoretischer Klärung. An der nach der Konferenz des Gorki-Instituts einsetzenden Diskussion be‐ teiligte ich mich 1957 deshalb mit einem kleinen Aufsatz „Ästhetischer oder literarhistorischer Realismusbegriff “ in der Zeitschrift „Kunst und Literatur“. 61 Darin setzte ich mich dafür ein, durch mehr Detailuntersuchungen der Gestal‐ tungsmittel literarischer Werke den Realismus „als ästhetische Kategorie“ der „Sprach-Kunst“ gründlicher herauszuarbeiten. Zugleich betonte ich, dass „Die neue Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts zweifelsohne auch neue Ausdrucks‐ möglichkeiten“ erfordert und „es ganz ohne Experimente hier nicht abgehen wird.“ 62 Aragons im folgenden Jahr erschienener Roman „La Semaine Sainte“ schien mir in dieser Hinsicht ein überzeugendes Beispiel und deshalb ein geeigneter Gegenstand für die anlässlich des Universitätsjubiläums zu planende literatur‐ wissenschaftliche Konferenz. „Die Karwoche“ hatte sofort nach ihrem Er‐ scheinen wegen ihrer ganz neuen narrativen Struktur in der gesamten Presse lobende, ja geradezu begeisterte Kritiken erhalten. Die Begründungen dafür waren allerdings gegensätzlich. Während die bürgerliche Presse in der „Kar‐ woche“ nach den Verirrungen von „Les Communistes“ die Rückkehr Aragons zur künstlerischen Praxis des Surrealimus sah, betonte die parteioffizielle Presse, dass es sich um ein großartiges Werk des „sozialistischen Realismus“ handele. Aragon selbst unterstrich zweierlei: erstens er hätte ohne die Schreiberfahrung des Romans „Les Communistes“ die schwierige strukturelle Frage der gestalte‐ rischen Verzahnung der diachronen und synchronen Zeitebene nicht bewältigen können und zweitens, „La Semaine Sainte“ sei ein Werk des „sozialistischen Realismus“. In dem Artikel „Il faut appeler les choses par leur nom“, dem ein Vortrag in der Mutualité 63 vor dem kommunistischen Jugendverband vom 23. 60 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="61"?> 64 Ebenda 65 Rita Schober. Aragons Semaine Sainte, Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Uni‐ versität, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Jg. XI, 1962, H. 1, S. 53-68. Wie‐ derveröffentlicht (leicht bearbeitet) in: Rita Schober. Von der wirklichen Welt in der Dich‐ tung. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1970, S. 323-351 66 Zur Stellung der Karwoche im Gesamtwerk cf. Rita Schober. Louis Aragon. Von der Suche der Dichtung nach Erkenntnis der Welt. In „Sitzungsberichte der Akademie der Wissen‐ schaften der DDR. Akademie-Verlag Berlin 1985, Jg. 1985, Nr. 1/ G, S. 1-23 67 S. Note 28 68 Der Text des Gedichts „Liberté“ von Paul Éluard in der Gestaltung Fernand Légers hing als Wandbild in meinem Arbeitszimmer in der Universität - wo auch kleinere Seminare durchgeführt wurden - dem „kleinen Hirten“ von Grigorescu gegenüber. April 1959 zugrunde lag, hob er ausdrücklich den undogmatischen Charakter dieses Kunstkonzepts hervor. « Mais le réalisme socialiste …n´est pas une con‐ ception de l´art fixée une fois pour toutes. » und fügte hinzu : « J´ai du réalisme socialiste, pour ma part, une conception ouverte (kursiv i.T.), non dogmatique, qui permet à l´artiste qui s´en réclame de s´enrichir, d´enrichir son art non pas sur un pré réservé, mais partout où il trouvera sa pâture, sous la réserve critique de ses conceptions. » 64 Mein Vortrag 65 auf unserer literaturwissenschaftlichen Konferenz war unter dem Titel „Aragons Gestaltungsmittel in der ‚Semaine Sainte’ unter besonderer Berücksichtigung des style indirect libre“ angekündigt. Er konzentrierte sich nach einem kurzen Überblick über die in Frankreich zu dem Roman geführte Diskus‐ sion und einer gerafften Darstellung von „histoire“ und Thematik (die große Frage der Entscheidung in historisch-gesellschaftlicher und persönlicher Hinsicht) und der Hervorhebung des Novitätscharakters dieses Werks bezüglich des Konzepts des sozialistischen Realismus auf die entsprechende Untersuchung der Gestal‐ tungsmittel. Sie zielten mit ihrer „Anstrengung der Form“ durch den Einsatz von erlebter Rede, innerem Monolog, stéréoscopie im Sinne von historischer Doppel‐ perspektive, Autoreinbrüchen, Schockwirkung, nach meiner Meinung auch auf eine Veränderung der Wirkungsstrategie ab und setzten an Stelle der bisher von Aragon vertretenen emotional-identifikatorischen bewusst die rationale Aktivie‐ rung des Lesers 66 . Zugleich war unübersehbar, dass sich der Roman „La Semaine Sainte“ von Aragons bisherigem Werk der gesamten „Narrativität“ nach deutlich unterschied. Er war tatsächlich eine Wende in seinem ganzen Schaffen. 67 Der zweite Vortrag von Dr. Jürgen Papenbrock „Zur Lyrik Paul Eluards“ - Eluards 68 Lyrik war sein Habilitationsthema bei mir - hob ebenfalls hervor, dass die im Frühwerk als modernistisch einzustufenden gestalterischen Mittel - wie assoziativer Redestrom, Gattungsbegriffe als dominante Bildkerne, freie Vers‐ 61 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="62"?> 69 Tamara Motyljowa. Bei den Literaturwissenschaftlern der DDR. In: Kunst und Literatur. 1961, Nr. 3, S. 260-270 70 Ebenda S. 268 71 Roger Graudy. D´un réalisme sans rivages. Picasso. Saint-John Perse. Kafka. PLON, Paris 1963 72 Vgl. zu meiner weltanschaulichen Position: Rita Schober. Dank z. 70. Geburtstag. In: Christa Bevernis (Hg.). Realität, Fiktion und Realismus in der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Humboldt-Universität zu Berlin, Sektion Romanistik, Bereich Literaturwissenschaft, Gesellschaftswissenschaften-Studien, 1989, Nr. 8, S. 4-11; und Rita Schober. Dank der Jubilarin. In: Festveranstaltung zum 90. Geburtstag von Rita Schober. In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, Jg. 2009, Bd. 101, S. 57-66 form u. ä. - in seiner Nachkriegslyrik durch die veränderte Weltsicht des Dich‐ ters eine völlig neue Funktion erhalten hatten. An unserer Konferenz hatte auch Tamara Motyljowa vom Gorki-Institut teil‐ genommen. In ihrem Bericht „Bei den Literaturwissenschaftlern der DDR“ 69 wies sie darauf hin, dass die Tagung der Romanisten die einzige war, in der „der Spezifik der literarischen Erscheinungen (…) den Problemen der künstlerischen Meisterschaft, der Sprache und des Stils Beachtung geschenkt wurde.“ Zugleich betonte sie aber auch, dass unsere „beiden interessanten Referate (…) bis zu einem gewissen Grade problematisch waren“ und „die freie und zugleich kom‐ plizierte Form, die Aragon für seine Gestaltung wählte, gewisse Gefahren in sich birgt“ und „viele der behandelten Fragen eine weitere kollektive Ausarbeitung und Diskussion erfordern.“ 70 So ganz einverstanden war sie nicht mit uns. Die weitere Entwicklung, die zunächst in Frankreich die durch Aragons Roman ausgelöste Debatte um den „sozialistischen Realismus“ in Garaudys 1963 ver‐ öffentlichten Buch „D´un réalisme sans rivages“ 71 , vor allem in den am Schluss formulierten Thesen, ihren Fortgang nahm, hätte sicher nicht ihre Zustimmung gefunden. Grundsätzlich, wie Garaudy, allerdings habe ich an dem Terminus „sozialis‐ tischer Realismus“ nicht gerüttelt, aber es ging mir um seine „Entdogmatisie‐ rung“. Ich war - in meiner Jugend streng katholisch erzogen - ein „gläubiger“, an die Befolgung von „Geboten“ gewöhnter Mensch und glaubte, dass es möglich wäre, mit dem Experiment des Sozialismus, eine bessere und friedliche Welt zu schaffen 72 . Da ich aber auch ein „ästhetisch“ veranlagter Mensch war, glaubte ich genauso, dass Literatur und Kunst auf ihre Weise vor allem dann dazu bei‐ tragen könnten, wenn man sie nicht durch unsinnige und restriktive Vor‐ schriften in ihrem Schaffen einschränkte. Doch in dieser Hinsicht etwas be‐ 62 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="63"?> 73 Die Verlage hatten sich auch rechtzeitig auf das Dante-Gedenkjahr vorbereitet. Im Reclam-Verlag erschien eine Prachtausgabe der „Göttlichen Komödie“ mit den Zeich‐ nungen von Boticelli, herausgegeben von Werner Bahner, der im Insel-Verlag zugleich eine Neuausgabe der „Vita Nuova“ und eine deutsche Übersetzung der „Vita Dantes“ von Boccaccio, beide mit eigener Einleitung, herausbrachte. Die Deutsche Staatsbib‐ liothek veröffentlichte den von Horst Heintze gemeinsam mit seiner Frau Edith erar‐ beiteten Sachkatalog der Dante-Bibliothek von Friedrich Schneider, die sie angekauft hatte und vor der Dante-Konferenz im Aufenthaltsraum ausstellte. Das Kupferstichka‐ binett stellte in einem Studiensaal die Boticelli-Illustrationen zur Divina Commedia aus. wirken zu können, war aus heutiger Sicht insgesamt betrachtet, eine weitere Illusion. Die Durchführung der drei Konferenzen hatte für alle Kollegen viel zusätz‐ liche Arbeit bedeutet. Als kleinen Dank - denn eine offizielle Anerkennung gab es nicht - lud ich alle Beteiligten zum Abschluss der Jubiläumsfeiern in den Klub der Kulturschaffenden in der Jägerstraße zu einem gemütlichen Beisammensein ein. Dass 1965 Dantes 700ster Geburtstag von den Fachgelehrten in der ganzen Welt gefeiert werden würde, war vorauszusehen. 73 Nicht so, dass die Regierung der DDR für die Vorbereitung entsprechender Feierlichkeiten eigens ein Dante-Komitee bilden würde. Allerdings ehrte man auf diese Weise in den sechziger Jahren mehrfach große Dichter, und man darf annehmen, dass mit solchen Ehrungen im kulturellen Bereich außenpolitisch ein „guter Eindruck“ beabsichtigt war. Grundsätzlich spielte die Kulturpolitik - im Guten wie im Bösen - in der DDR eine wichtige Rolle. Der Vorsitz in diesem Komitee wurde den Direktoren des Berliner und Leip‐ ziger Romanischen Instituts übertragen. Damit waren Werner Bahner und ich für die Organisation der vorgesehenen wissenschaftlichen Konferenz verant‐ wortlich. Die künstlerische Ausgestaltung der Dante-Ehrung lag beim Ministe‐ rium für Kultur in den Händen von Johanna Rudolph, einer kompetenten Händel-Spezialistin, die selbst durch die Hölle von Auschwitz gegangen war. Mit der Aufgabe im Dante-Komitee kehrte ich gewissermaßen zu meinen ersten Universitätssemestern 1936-38 in Prag zurück, als ich mit unserem Itali‐ enisch-Professer Bischof zweimal um die Osterzeit auf Exkursion in der Toscana, vor allem in Venedig und Florenz gewesen war. Alles wurde wieder lebendig! Vor allem seine Dante-Vorlesungen in dem alten Prager Kloster auf der Klein‐ seite, Florenz mit dem Blick von der Piazza Michelangelo auf die Stadt; sein David, diese traumhafte Jünglingsstatue in der Academia; Boticellis Bilder in den Uffizien; die Giotto-Fresken in Santa Croce - alles war wieder da. Auch die Karfreitagspredigt, die ich in dieser Kirche gehört hatte! Eine solche Sturmge‐ 63 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="64"?> 74 Rita Schober. Dantes Jenseitsvision des Diesseits. In: BRPh, Jg. IV, H. 2, S. 7-28. In diesem Sonderheft sind außer meinem Festvortrag alle auf der Konferenz gehaltenen Vorträge abgedruckt. walt des Wortes habe ich nie wieder erlebt. Man spürte förmlich, wie die hoch schlagenden Flammen des Höllenfeuers einen umzingelten. War die Erinnerung an solche Predigten auch in Dante lebendig, als er seine Inferno-Visionen schrieb? Aber jetzt galt es nicht, in den Erinnerungen der Vergangenheit zu schwelgen, sondern die wissenschaftliche Konferenz vorzubereiten, für die das Thema „la Fortuna di Dante“ gewählt worden war, und für mich selbst, mit der Arbeit an dem Festvortrag zu beginnen. Die in der Staatsbibliothek neu aufgestellte Dante-Bibliothek von Friedrich Schneider und der dazu von Horst Heintze erarbeitete und herausgegebene Sachkatalog waren für mich eine große Hilfe. Dadurch waren die wichtigsten Publikationen, gut geordnet, unmittelbar greifbar und Horst Heintze, der bereits an seiner Habilitationsschrift über Dante schrieb, für mich zugleich ein un‐ schätzbarer Gesprächspartner. In der letzten Ausarbeitungsphase gingen wir drei, Horste Heintze mit seiner Frau Edith und ich nach Prieros, einem kleinen Ort in der Nähe von Königswusterhausen, wo meine Familie eine „Datsche“ hatte. Dort habe ich in vierzehn Tagen eigentlich fast Tag und Nacht, mit mi‐ nimalen Schlafpausen den Vortrag erarbeitet. Drei Sekundärwerke waren mir von besonderem Nutzen: Hugo Friedrichs „Rechtsphilosophie“, die ähnlich ge‐ lagerte Untersuchung Giuseppe Urbinos zu „giustizia“ und vor allem Erich Au‐ erbachs „Dante als Dichter der irdischen Welt“, dem ich auch die Anregung für den Titel meines Vortrags „Dantes Jenseitsvision des Diesseits“ 74 verdankte. Dass ein Festvortrag kein fundamental neues Forschungsergebnis darstellen muss - was ich angesichts meiner fachlichen Ausrichtung auch gar nicht hätte leisten können - schien mir möglich und auch üblich. Wohl aber meinte ich, dass er eine dem Anlass entsprechende, durch die jeweils besondere historische Situation bedingte Gesamtsicht auf den zu behandelnden Gegenstand zu bringen hatte. Dieser Versuch war wohl auch der Grund, weshalb der Festvortrag auf unserer wissenschaftlichen Konferenz in Berlin öfter Gegenstand der Diskus‐ sion wurde. Interessanter Weise war es Prof. Getto, der meine Position unter‐ stützte. Eines jedenfalls ist sicher, die Ausarbeitung des Festvortrags hat mir trotz der damit verbundenen großen Anstrengung viel Freude gemacht, ebenso wie der dazu gehörende geistige Austausch mit Horst und Edith Heintze. Das zweite zu lösende Problem war die Sicherung des wissenschaftlichen Niveaus der Konferenz durch entsprechende Teilnahme von Kollegen aus an‐ deren Ländern, denn dass die DDR-Romanistik dies allein nicht leisten konnte, 64 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="65"?> 75 Der Dantekreis um Pfarrer Riedel in Chemnitz war eine private Fortführung der in der DDR nicht mehr bestehenden Dante-Gesellschaft. Aber auch andere wissenschaftliche Gesellschaften wie die der Germanisten oder der Romanistenverband blieben in der Systemkonfrontation dieser Jahre leider nicht erhalten. Johanna Rudolph wollte Pfarrer Riedel jedenfalls von der Teilnahme an den Feierlichkeiten ausschließen. Sie war manchmal starr in ihrer Haltung. Unmittelbar vor Beginn der Konferenz hatte ich des‐ halb mit ihr wegen seiner Anwesenheit eine ziemlich ernste Auseinandersetzung. Je‐ denfalls hat er daran teilgenommen, das ließ ich mir nicht verbieten und ein Beitrag eines Mitglieds aus seinem Kreis, Gerhard Ledig, ist in dem Sonderheft der Beiträge, BRPh IV, 1965, H. 2, S. 79-87 abgedruckt. war klar. Eine auf Dante spezialisierte Forschungsbasis war bei dem relativ be‐ scheidenen Personalstand an Fachromanisten im Lande selbst nicht vor‐ handen. 75 Also bemühten wir uns, erst einmal bei den in Ost und West uns per‐ sönlich bekannten Italianisten wegen der Möglichkeit einer Teilnahme nachzufragen. Leider sagten die Kollegen aus der Bundesrepublik ab. Offen war auch die Teilnahme von italienischen Kollegen. Petronio, an den ich mich ge‐ wandt hatte, war bereit zu kommen, verwies aber darauf, dass er kein Spezialist für dieses Thema sei und ich den mir von dem Kolloquium in Bukarest be‐ kannten Monteverdi, Präsident der Accademia der Lincei, fragen sollte. Im üb‐ rigen würden sich sicher bei den offiziellen Feierlichkeiten in Florenz noch Möglichkeiten zu Einladungen ergeben. Und so fuhren Bahner und ich und mit uns Rudolf Besthorn von der Universität Greifswald erst einmal zu den - vom wissenschaftlichen Niveau und den umrahmenden kulturellen Veranstaltungen - wirklich eindrucksvollen Jubiläums-Feierlichkeiten in Florenz und anschlie‐ ßend Bahner und ich weiter nach Rom, wo ich Monteverdi bei einem Besuch mein Anliegen vortrug. Durch seine Vermittlung kam auch eine repräsentative Teilnahme italienischer Dantisten zustande, zu denen außer Monterverdi selbst, der Präsident der Accademia della Crusca, Prof. Devoto (Florenz), Prof. Getto (Turin) und die Professoren Roncaglia (Rom), sowie Ramat (Florenz) gehörten. Dass Petronio teilnehmen würde, stand ja schon vorher fest. Blieb noch eine Schwierigkeit. Von Rom gab es keinen Direktflug nach Ost-Berlin, sondern nur die Möglichkeit, ein Flugzeug nach Prag zu nehmen und dort in ein Flugzeug nach Ost-Berlin umzusteigen. Bei diesem Umsteigen in Prag hatte ich gerade im Vorjahr, von der AILC-Tagung in Friebourg aus der Schweiz zurückkommend, ganz üble Erfahrungen gemacht, denn meist war diese Anschlusslinie mehr als ausgebucht. Ganz abgesehen von den Unwägbarkeiten des Verhaltens übereif‐ riger Zollbeamter auf unserem Flughafen in Schönefeld. Vorsichtshalber schickte ich deshalb zur Abholung der italienischen Kollegen unseren Lektor für Italienisch, Dr. Heinz Neumann, der von seinen Einsätzen als Dolmetscher im Umgang mit Grenzbeamten versiert war, nach Prag. So ist die Herreise der 65 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="66"?> 76 Ein Originalexemplar der Einladung für die wissenschaftliche Konferenz und ein Pro‐ gramm der „Festlichen Soirée“ hat Horst Heintze dem Augsburger Universitätsarchiv übergeben. 77 Die Referate waren in der im Text genannten Reihenfolge: Giacomo Devoto: Die itali‐ enische Sprache und Dante; Giovanni Getto: Dante poeta e profeta; Giuseppe Petronio: Appunti per uno studio su Dante e il pubblico; Raffaello Ramat: Perché Dante è nato a Firenze; Aurelio Roncaglia: Ritorno e rettifiche alle tesi vosslereriana sui fondamenti filosofici del dolce stil nuovo. - Nina Façon: Remy de Gourmont interprete della Beatrice dantesca; Kalikst Morawski: La Dantologia polacca moderna. - Werner Bahner: Dantes theoretische Bemühungen um die Formung der itaienischen Litertursprache; Rudolf Besthorn: Zur Problematik der deutschen Dante-Übersetzungen; Horst Heintze: Ver‐ gangenheit und Gegenwart deutscher Dantekritik; Margarete Steinhoff: Lectura Dantis an der Berliner Universität. - Peter Feist: Welt und Bild bei Giotto; Bernhard Töpfer: Progressive Züge in Dantes Reichsidee; - Gerhard: Bemerkungen zu Bemerkungen von Porena. Kollegen ohne Schwierigkeiten verlaufen und sie sind auch wohl behalten wieder nach Hause gekommen. Die Dante-Feierlichkeiten 76 fanden in Berlin am 25. und 26. Mai statt. Sie be‐ gannen am 25. vormittags im Apollo-Saal der Deutschen Staatsoper mit einem Festakt, der durch den Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Alexander Abusch, eröffnet wurde und auf dem ich die Festansprache hielt. Die wissenschaftliche Konferenz begann nachmittags um 15 Uhr und wurde am nächsten Morgen ganztägig fortgesetzt. Auf ihr hielten alle angereisten italienischen Kollegen, mit Ausnahme Mon‐ teverdis, einen Vortrag. Hinzu kamen als ausländische Teilnehmer, Frau Prof. Nina Façon (Bukarest) und Prof. Kalikst Morawski (Poznan). Die deutsche Seite beteiligte sich mit insgesamt sieben Beiträgen. Vier von Romanisten: Prof. Werner Bahner (Leipzig), Prof. Rudolf Besthorn (Greifswald) und zwei aus un‐ serem Institut: Dr. Horst Heintze und Frau Dr. Margarete Steinhoff. Ergänzt wurde diese Vortragsliste durch zwei Referate von anderen Berliner Fachkol‐ legen: dem Kunsthistoriker Peter Feist und dem Historiker Bernhard Töpfer, und durch eins von Gerhard Ledig aus dem Dantekreis um Pfarrer Riedel. Wenn man sich diese vierzehn Referate ansieht, so entwarfen sie, der breiten Fächerung des Themas der Konferenz gerecht werdend, ein eindruckvolles Bild von der Größe dieses Dichters. 77 Als kulturelle Ergänzung fand am ersten Abend ebenfalls im Apollo-Saal der Staatsoper eine „Festliche Soirée“ statt, die Johanna Rudolph mit großem Enga‐ gement und mit Sachkenntnis vorbereitet hatte und bei der Künstler des Deut‐ 66 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="67"?> 78 Einschub vom 28/ 9/ 2010. Zu Gehör gebracht wurden: Rezitationen aus Dantes Komödie und der „Vita nuova“, gelesen von den Spitzenkräften des Deutschen Theaters: Erika Pelikowski, Wolfgang Heinz und Horst Hiemer und Lieder aus dieser Zeit, gesungen von den besten Kräften der Staatsoper, wie der Sopranistin Celestina Casapietra (die vor allem durch die Arie der Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte berühmt war) und dem Doppelquartett der Berliner Singakademie, sowie Musikstücke, gespielt auf originalen alten Instrumenten von Künstlern der Staatskapelle Berlin und der Hoch‐ schule für Musik. schen Theaters, der Staatsoper, der Berliner Singakademie, der Staatskapelle Berlin und der Hochschule für Musik mitwirkten. 78 Diese Veranstaltung war in jeder Hinsicht ein künstlerischer Genuss. Im Anschluss an diese beiden Tage haben wir mit den ausländischen Teil‐ nehmern noch eine schöne Exkursion nach Dresden - mit Abstecher nach Pill‐ nitz a. d. Elbe zum Sommerschloss der sächsischen Kurfürsten - nach Altenburg zur Besichtigung des Lindenau-Museums mit seiner reichen Sammlung italie‐ nischer Renaissancemaler und natürlich nach Weimar, zu den Gedenkstätten der deutschen Klassik, durchgeführt. Von unserem Institut nahmen außer mir selbst die Italianisten, Frau Dr. Steinhoff, die Familie Dr. Heintze und Dr. Neu‐ mann daran teil. Insgesamt verliefen auch diese Tage, da sie in ungezwungener Atmosphäre reichlich Gelegenheit zum persönlichen Gespräch und wissenschaftlichen Aus‐ tausch boten, soweit ich es beurteilen kann, zur Zufriedenheit aller Teilnehmer. Mit dieser kleinen Reise und der durchgeführten Konferenz war die zweite Bewährungsprobe des Instituts bestanden. In den späten sechziger Jahren gab es für mich persönlich noch zwei interes‐ sante Tagungen im Ausland. 1967 den großen internationalen Kongress der AILC in Belgrad, der mir eine langjährige freundschaftliche Verbindung mit einem amerikanischen Kollegen, Prof. Stavro Skendi, einbrachte und 1968 eine Tagung, zu der die Zeitschrift „Europe“ eingeladen hatte. Auf dieser konnte ich zum ersten Mal meine deutsche Zola-Ausgabe in Frankreich vorstellen. In diesem Zusammenhang hatten Henri Mitterand und ich auch ein Interview im Fernsehen, allerdings weiß ich nicht mehr in welchem Sender. Mit mir und Christa Bevernis führte André Wurmser ein Gespräch für die Humanité. Der Kontakt mit Frankreich nahm in den nächsten Jahren für mich erfreulicher Weise insgesamt zu. xxx 1969 wurde mir die Entpflichtungsurkunde als Institutsdirektor zugesandt. Eigentlich hatte ich zu diesem Zeitpunkt - ein Jahr nach meinem fünfzigsten Geburtstag, der mir als größte Überraschung eine Festschrift gebracht hatte - 67 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="68"?> 79 Siehe Anhang oder Rita Schober. Dank der Jubilarin. In: Leibniz-Sozietät der Wissen‐ schaften, Bd. 101, Jg. 2009, S. 57-66, insbes. S. 61/ 62 gehofft, mich mit dem guten Gefühl, dass die Romanistik an der HU im wesent‐ lichen etabliert sei, von den Amtsgeschäften zurückziehen und endlich einmal mit etwas Ruhe der Forschung widmen zu können. Ich hatte auf Grund meiner Strukturalismus-Arbeit 1968 ein verlockendes Angebot auf Weiterführung der Untersuchung, die Zola-Ausgabe war noch nicht abgeschlossen und sollte eine zusammenfassende Einführung bekommen, Aragons neuer Trend im Roman erforderte ausgewertet und in die literaturtheoretischen Überlegungen, die nach wie vor eines meiner Hauptanliegen waren, einbezogen zu werden. Und es wäre auch erfreulich gewesen, vielleicht einmal etwas mehr schlafen zu dürfen und nicht zwei bis dreimal in der Woche bis vier und fünf Uhr früh und manchmal einfach die Nacht durch arbeiten zu müssen und um acht Uhr wieder im Institut zu sein. Doch es kam alles ganz anders. 1969 wurden im Zuge der III. Hochschulreform nicht nur die Institute durch einen Verwaltungsakt aufgelöst und in Sektionen überführt, sondern ebenso die bisherigen Fakultäten in ihrer alten Form und Funktion. Mit dieser III. Hoch‐ schulreform erlosch die bisherige Selbstverwaltung der Universität durch Senat und Fakultäten. An ihre Stelle traten hierarchisch aufgebaute Weisungsstruk‐ turen. Die Romanistik gehörte von da an für mehrere Jahre zur großen Sektion Phi‐ lologien-Germanistik. Dass ein kleines Fach wie die Romanistik, deren Haupt‐ sprache Französisch in den Schulen, noch dazu gegenüber dem Englischen zu‐ rückging, im Verein mit der nationalen Philologie Deutsch und der primären Fremdsprachphilologie Slavistik in Bezug auf Etat und Stellen ins Hintertreffen geriet, war unvermeidlich. Bis 1969 hatte ich mich bemüht, die Romanistik an der HU auf- und auszubauen. In den nächsten Jahren betrachtete ich es vor allem als meine Aufgabe, ihre Etablierung als selbstständige Sektion durchsetzen zu helfen. Einer Sektionsleitung habe ich nie angehört. Wenn die 1980 gegründete Sektion für Romanistik an der HU bei der Wende 1989/ 90 als einzige der DDR in den Hauptfächern funktionsfähig überführt werden konnte, so ist dies außer der bis dahin umsichtigen Leitung durch Dieter Paufler als Sektionsdirektor auch dem Umstand zu danken, dass die Hauptfä‐ cher, außer Portugiesisch, bis 1969 bereits im Romanischen Institut etabliert worden waren. Und das, wie ich mit einem gewissen Stolz sagen möchte, mit dem eigenen wissenschaftlichen Nachwuchs. 79 Dieser Rückblick auf den ersten Teil meiner Universitätslaufbahn bedarf noch einer entscheidenden Ergänzung. Ohne meinen Mann, Robert Schober, hätte ich 68 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="69"?> diese Laufbahn sicher nicht geschafft. Nicht nur weil er für mich ein Stück Heimat verkörperte - unsere gemeinsame Aussiedelung aus unserer Heimat‐ stadt Rumburg erfolgte 1946 - und der Mensch eine solche Verwurzelung braucht - nicht nur weil er ein Mann von großer charakterlicher Reife, mit einer unter Einsatz des eigenen Lebens vertretenen, aber nie dogmatischen politi‐ schen Überzeugung war, auf den man sich in jeder Lebenslage verlassen konnte, sondern vor allem - und das ist gerade für eine Frau in einem solchen Beruf entscheidend - weil er sich über jeden meiner Schritte auf dem eingeschlagenen Universitätsweg, über jeden Erfolg von Herzen mit mir freute. Ohne seine stets rücksichts- und zugleich liebevolle Zugewandtheit, seine ständige moralische Unterstürzung, seinen immer klugen Rat, wenn es sich um Menschenkenntnis handelte - hätte ich diesen langen Weg, vor allem die sehr schwierigen 50er Jahre, sicher nicht bewältigt. Er war der ruhende Pol in meinem sehr arbeits- und oft auch sehr spannungsreichen Leben und der stän‐ dige Kraftquell all meines Tuns. Anhang In den späteren Jahren äußerten sich auswärtige Romanisten bei Besuchen am Institut häufig positiv über das hier herrschende kollegiale Klima. Dazu trug sicher bei, dass es keine Konkurrenz unter den Kollegen gab - sie waren alle ihrer Stelle sicher - aber auch dass die meisten der führenden Fachkollegen aus derselben Schule kamen. Sie hatten ihr Studium entweder noch ganz bei Klem‐ perer absolviert oder zumindest bei ihm angefangen, und ihre weitere Qualifi‐ kation später meist bei mir durchlaufen. Und da diese Kollegen der Romanistik an der HU oft bis in die jüngste Gegenwart die Treue gehalten haben, sollen sie hier wenigstens kurz vorgestellt werden. Horst Heintze war 1952 Klemperers erster Promovend mit einer Dissertation „Zu Hippolyte Taines Entwicklung“, auf die ich mich in meiner Habilitations‐ schrift zu Zola selbst gestützt habe. Er hatte 1946 in Halle sein Studium aufge‐ nommen, war einer meiner eigenen ersten Hörer, ab 1948 Klemperers Schüler und ist wie Hans Klare u. a. - nicht zuletzt ich selbst - mit Klemperer von Halle nach Berlin gegangen. Er erhielt 1954 eine Wahrnehmungsdozentur in Halle, die er zehn Jahre wahrnahm, mit der aber auch, vor allem nach Klemperers Tod, die durch die Umstrukturierungsmaßnahmen der gesamten Romanistik schwie‐ rige Verantwortung für das Institut verbunden war. 1964 - die Leitung des Hal‐ lenser Instituts war inzwischen an Ulrich Ricken, einen Schüler von Werner Krauss und Sprachwissenschaftler, übergegangen - wurde er nach Berlin zu‐ rückgeholt. 1965 hat er sich bei mir mit der von ihm selbst gewählten Arbeit über Dante habilitiert, nach einem harten Disput mit dem germanistischen 69 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="70"?> Jury-Mitglied Wilhelm Girnus - ein nicht marxistischer Schönheitsfehler ließ sich immer irgendwo finden -. Heintze erhielt nach der Habilitation endlich die wohl verdiente Dozentur und 1975, nach der ersten Sektionsumbildung Anglistik-Amerikanistik (AAR) mit einer erst dadurch möglich gewordenen neuen Stelle, eine Professur. Die italienische Literaturgeschichte mit einem ge‐ wissen Schwerpunkt Renaissance war bei Heintze in kompetenten Händen, was ihn aber nicht hinderte, als echter Klemperer-Schüler immer wieder vor allem in der Lehre Ausflüge in die französische Literatur zu unternehmen. Auf der nicht offiziellen Ebene war Heintze, schon auf Grund der Altersnähe, der einzige Kollege mit dem ich auch privat, unter Einbeziehung der beiderseitigen Fami‐ lien, befreundet war. Johannes Klare hatte 1948 ebenfalls bei Klemperer in Halle angefangen, 1951 in Berlin bei ihm seine Examensarbeit gemacht und sich dann 1956 mit seiner Promotion bei Baldinger (Habilitation 1968) für die Linguistik qualifiziert. Er wurde in der Folgezeit eine der Hauptstützen der Institutsleitung und hat sich auch nach der III. Hochschulreform als stellvertretender Sektionsdirektor für Erziehung und Ausbildung nicht nur weiterhin um die Ausbildung qualifizierter Französisch-Lehrer besonders verdient gemacht, sondern auch eine beträcht‐ liche Anzahl von Doktoranden zum erfolgreichen Abschluß geführt, wozu sein breites Wissen und seine stets freundliche Art beträchtlich beitrugen. Seinen Forschungsansatz zum „politischen Wortschatz“ kann man auf dem Hinter‐ grund von Klemperers LTI lesen. Mit dieser sozio-semantischen Orientierung folgte er dem Beispiel der LTI (Lingua Tertii Imperii), dem - nach meiner Ansicht - wichtigsten wissenschaftlichen Neuerungsbeitrag und Vermächtnis seines Lehrers. Meine eigene Nachfolgerin 1978, Christa Bevernis, war 1950 mit Werner Krauss an die HU gekommen. Sie hat 1951 ihre Examensarbeit ebenfalls noch bei Klemperer gemacht, dann bei mir mit einer sehr guten Balzac-Arbeit pro‐ moviert (1963) und sich später (1969) mit ausgewählten Aufsätzen zur franzö‐ sischen Literatur des 19. Jh. mit Schwerpunkt Flaubert habilitiert und vor allem in den 70er/ 80er Jahren die französische Literaturgeschichte in Lehre und For‐ schung vertreten und mich auch mehrfach auf Gastvorlesungsreisen begleitet. Den großen Schub an wissenschaftlich fähigen Nachwuchskräften aber brachte der Jahrgang 1953-58. Im sprachwissenschaftlichen Bereich vor allem Dieter Paufler. Nach längerer Assistenz und Aspirantur promovierte er 1964 zur „Stellung der attributiven Adjektive im Altspanischen“. Mein Zweitgutachten dazu war die Grundlage für meinen Beitrag zur Festschrift für Rosetti. Paufler spezialisierte sich wegen der wissenschaftlich möglichen Kontakte zu Kuba auf die lateinamerikanische Variante des Spanischen und habilitierte sich 1968 auf 70 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="71"?> 80 Sprachausbildung in Spanisch war immer möglich, auch in den ersten Jahren, in denen als Lektor ein spanischer Emigrant, Bautista Banqué tätig war und von 1958-61 der chilenische Philosophieprofessor Waldo Ross. diesem Gebiet bei Bahner und Klare. Er hat sich als Sektionsdirektor zunächst der AAR (Anglistik, Amerikanistik, Romanistik) und dann der Romanistik durch seine umsichtige und kluge Leitung große Verdienste um die Erhaltung dieses Fachs an der HU erworben und wurde bei seiner Emeritierung mit einer um‐ fangreichen Festschrift von seinen Kollegen geehrt. Auf literaturwissenschaftlichem Gebiet hatte ich die große Freude ebenfalls Mitarbeiter aus diesem Jahrgang gewinnen zu können. Einer davon war Hans-Jürgen Hartmann. Er hatte eine Zusatzausbildung in Bibliothektswissen‐ schaft und gehört zu jenen Hochschullehrern, deren wissenschaftliches Inter‐ esse Sondergebieten gilt. Für Hartmann waren es die Francophonie (Dissertation 1970: „L´homme de guerre“. Wiederspiegelung des Algerienkrieges in der fran‐ zösischen Literatur) und die Literaturverhältnisse, sprich die ökonomischen Veränderungen im Verlagswesen und ihre Rückwirkungen auf die Literatur (Habilitation 1987: „Abriß der Beziehungen zwischen materieller Produktion, Distribution und Konsumtion von Literatur in der 4. und 5. Republik in Frank‐ reich (1946-1985)“. Solche Kollegen bereichern das Lehrangebot wesentlich (Hartmann bis in die neunziger Jahre), sind in der Fachnomenklatur aber oft schwer unterzubringen. Landeskunde war dafür jedenfalls eine Bezeichnung, die eher Missverständnisse auslöste. Gerhard Schewe nahm 1953 nach verschiedenen Versuchen, im bibliotheka‐ rischen Bereich Fuß zu fassen, vier Jahre nach dem Abitur sein fünfjähriges Diplomandenstudium der Romanistik in den Fächern Französisch, Italienisch, Spanisch an der HU auf. Im Mai 1960, nach zwei Jahren freiberuflicher Tätigkeit im Verlag, wurde er als Forschungsassistent, ab Sommer 1961 als geschäftsführender Oberassistent ans Institut zurückgeholt, vor allem für die Redaktion der 1959 endgültig auch mit Zustimmung von Werner Krauss beschlossenen Zeitschrift „Beiträge zur romanischen Philologie“, die er bis zur letzten Nummer 1990 betreute. Ange‐ sichts der ständigen Schwierigkeiten mit den Druckereien erforderte diese Ver‐ antwortung großes Engagement. Ursprünglich auf französische Literatur spe‐ zialisiert - er promovierte 1971 mit einer Dissertation über Romain Rolland („Vom bürgerlichen Krisenbewusstsein zur Anerkennung der sozialistischen Revolution. Weltanschauliche und ästhetische Probleme im Humanismusbild Rollands“) - hat er sich, da die spanische Literatur nicht besetzt war, verdienst‐ voller Weise selbstständig in dieses Fach eingearbeitet 80 und 1978 die „facultas docendi“ und Dozentur für französische und spanische Literatur nach ausführ‐ 71 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="72"?> 81 Vgl. Dills Beitrag in Klaus-Dieter Ertler (Hg.) Romanistik als Passion, Fachgeschichte: Romanistik, Bd. 1, LIT Verlag Wien 2007, S. 51-63 lichen Studien zur alternativen Kulturpolitik im nachfrankistischen Spanien er‐ halten. Gerhard Schewe hat sich als Institutsdirektor auch um die Weiterführung der Romanistik in den ersten Nachwendejahren besondere Verdienste erworben. Als letzten erfolgreichen Wissenschaftler aus dem Jahrgang 1953-1958 möchte ich Karlheinz Barck nennen, der mit einer sehr guten Diplomarbeit über „Die Geschichtsauffassung von Saint-Évremond bis zur Frühufklärung“ ab‐ schloß, dann aber nach einem Praxiseinsatz im Rundfunk und Assistenzen bei mir und Adalbert Dessau in Rostock, nicht bei uns blieb, sondern in spanischer Literatur bei Werner Krauss promovierte und ab 1969 in der Theorieabteilung des Zentralinstituts für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissen‐ schaften tätig war. Die dauerhafte Etablierung der Lateinamerikanistik als Fach an der HU ist mit Hans Otto Dill, einem Absolventen des nächsten Studienjahres (1954-59) verbunden. Er machte bei mir zunächst eine sehr gute Staatsexamensarbeit in französi‐ scher Literatur zu einem gattungstheoretischen Thema „Die Wallensteinüber‐ setzung von Benjamin Constant“, erhielt dann als Praxiseinsatz eine Stelle bei der Auslandskorrespondenz des ADN (Allgemeiner Deutscher Nachrichten‐ dienst) und wurde 1961 ans Institut zurückgeholt. Im Rahmen des Freund‐ schaftsvertrages der HU mit der Universität in Havanna bekam er die Möglich‐ keit zu einem einjährigen Kuba-Aufenthalt, um sich in die lateinamerikanische Literatur einzuarbeiten. Dieses Fach war nach dem Weggang von Prof. Waldo Ross, der sich große Verdienste um die Ausbildung und die Präsentierung des Instituts bei den Universitätsfeierlichkeiten 1960 erworben hatte, im Frühjahr 1962 verwaist. Ross hatte einen Ruf nach England erhalten und ging anschlie‐ ßend als Philosoph an die Universität in Montreal. Dill hat 1968 mit einer Arbeit über Nicolas Guillén bei mir promoviert und sich 1975 für Lateinamerikanistik habilitiert. Eine Professorenstelle für dieses Fach war aber erst nach der Ein‐ richtung der Sektion Romanistik und auch dann nur mit großem Kraftaufwand 1982 durchzusetzen, weil auf Grund der III. Hochschulreform die Lateinameri‐ kanistik an der Universität der Handelshafenstatt Rostock konzentriert wurde. Dill hat sein Fach auch in Lateinamerika mit so großem Erfolg vertreten, dass er daselbst mehrfach mit hohen staatlichen Auszeichnungen geehrt wurde. 81 Horst F. Müller, dessen Barbusse-Studien, vor allem seine Bibliographie zu diesem Autor, sowie die jüngsten „Studien und Miszellen zu Henri Barbusse und 72 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="73"?> seiner Rezeption in Deutschland“ aus dem Jahre 2010 keine ernst zu nehmende Barbusse-Forschung übergehen kann, kommt ebenfalls aus dem Jahrgang 54-59. Er hat seine wissenschaftliche Laufbahn jedoch ab 65 an der Akademie gemacht. Im Vergleich zur Akademie hatte die Universität keine eigenen Forschungs‐ stellen, so dass es oft nicht möglich war, begabten Nachwuchs zu halten. Es wären noch eine Reihe von wissenschaftlichen Kollegen, die zum Aufbau des Instituts nach besten Kräften beigetragen haben, genauer vorzustellen, wie z. B. die Italianistin Dr. Margarete Steinhoff (unser „Komtesschen“ aus altem österreichischem Adel), der Rumänist Prof. Dr. Werner Draeger und natürlich Prof. Auguste Cornu, französischer Kommunist und profunder Kenner der Junghegelianer einschließlich des jungen Marx (sein diesbezügliches Buch war der Grund, dass er bei den Philosophen nicht eingestellt wurde). Er war mit seiner Lehrtätigkeit bei uns als „Landeskundler“ fachlich weit unterfordert, für die Studenten wegen seiner Weltoffenheit, profunden Bildung und seiner ge‐ samten Persönlichkeit jedoch ein echter Gewinn. Ich beschränke mich auf zwei Kolleginnen aus dem Mitarbeiterbereich: Lu‐ cette Danelius und Lilo Limberg. Bis zur völkerrechtlichen Anerkennung der DDR 1974 hatten wir als mut‐ tersprachliche Lektoren - mit Ausnahme des Rumänischen, da entsandte das Land selbst seit 1952 wissenschaftlich hoch qualifizierte Kräfte - meist nur po‐ litische Emigranten. Unter ihnen zeichnete sich Lucette Danelius durch ihre besonders große pädagogische Begabung aus. Bei ihr Französisch lernen machte den Studenten einfach Spaß. Da wurde gesungen und Theater gespielt und die Sprache praktisch angewandt erlebt. Ihre ehemaligen Studenten erinnern sich noch heute dankbar daran. Lilo Limberg war nicht nur eine in jeder Beziehung - Sprachkenntnisse fran‐ zösisch und rumänisch - perfekte Sekretärin, sondern in gewisser Beziehung die Seele des Instituts. Das kann man in Klemperers Tagebüchern nachlesen. Wenn Fräulein Limberg sagte: „Das machen wir nicht, Frau Professor“, dann wurde es auch nicht gemacht. In vieler Hinsicht war sie mir fast eine vertraute Freundin und sie hat mich auch begleitet und als ich auf Wunsch des amtie‐ renden Rektors Wirzberger 1969 das Dekanat übernahm, auch hier für exakte Ordnung in den Akten gesorgt. 2.2 Einzelne Textfragmente Es folgen zwei kleinere Texte, die als Notizen zur Vorbereitung auf die Vita bzw. auf umfangreichere Ausarbeitungen dienten. Der erste Text ist ein Teil der für Winfrid Engler (FU) geschriebenen Gratulation im Jahre 2005 und wurde am 1. 12. 73 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="74"?> d. J. verfasst. Der Bezug zur Vita ist deutlich, denn hier nimmt Rita Schober Bezug auf für sie wichtige Wissenschaftlerpersönlichkeiten, die für ihren Wergang nach‐ haltige Bedeutung erlangten. Der zweite Text ist eine Vorarbeit, die sich mit der III. Hochschulreform in der DDR befasst und die eigene Rolle auf hochschulpolitischem Gebiet relfektiert. Er ist auf den 29. 9. 2010 datiert. 2.2.1 Wichtige Wissenschaftlerpersönlichkeiten (Überschrift D.R.) Wie jeder Wissenschaftler habe ich im Laufe eines „sündhaft langen Lebens“, wie Klemperer von sich zu sagen pflegte, sehr viele Fachvorträge berühmter Kollegen aus dem In- und Ausland gehört, sowohl am Romanischen Institut der HU, wie auf internationalen Kolloquien und Kongressen, vor allem der AILC. Sollte ich aus dieser Fülle jedoch diejenigen Kollegen nennen, die mir - aus unterschiedlichen Gründen - in besonderer Erinnerung geblieben sind, so tau‐ chen aus meinem Gedächtnis aus den frühen Jahren drei auf: Als Erster Iorgu Iordan (1888-1986), der damals führende rumänische Sprachwissenschaftler auf dem internationalen Romanistenkongreß 1956. Sein Vortrag „Sur la formation de la langue littéraire roumaine“ war dem Problem der Literatursprachen ge‐ widmet. In dem Streit mit Sever Pop um die Einordnung des Moldavischen in diesem Zusammenhang vertrat er die traditionell gültige sprachwissenschaft‐ liche Auffassung, dass es sich bei dem Moldavischen um einen Dialekt des Dako-Rumänischen handele und nicht um eine eigene romanische Sprache, zu der aus aktuellen, politisch motivierten Gründen einige Fachvertreter diesen Dialekt hochstilisierten. Seine auf Ausgleich zwischen den gegensätzlichen po‐ litischen Meinungen bedachte, wissenschaftlichem Ethos verpflichtete, souve‐ räne Haltung war für mich ein beeindruckendes Erlebnis einer Wissenschaft‐ lerpersönlichkeit. Als Zweite Rita Lejeune (1906 geboren, auf deren bevorstehenden 99. Ge‐ burtstag 2005 in einem Internet-Artikel hingewiesen wurde), die 1958 auf dem Internationalen Romanistenkongreß in Lissabon einen Vortrag über „Formules féodales et style amoureux chez Guillaume IX d’Aquitaine“ hielt. Sie war zu diesem Zeitpunkt bereits eine anerkannte Spezialistin auf dem Gebiet altpro‐ venzalischer Namensforschung, u. a. auch im Zusammenhang mit der For‐ schung zum Rolandslied. Doch die Blicke, die ihr seitens der Kollegen auf dem Gang nach vorn zum Rednerpult folgten, machten mir klar, dass ich mit dem Versuch, eine wissenschaftliche Laufbahn zu wagen, einen schwierigen Weg gewählt hatte. Als Dritter Roman Jakobson (1896-1982). Seinen in jeder Hinsicht glänzenden Vortrag, hörte ich gelegentlich einer eigenen Vortragsreise, Anfang der sech‐ 74 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="75"?> 82 Übersetzung D.R. (Rita Schober hat das Gedicht mit „Morgenstern“ übersetzt.) ziger Jahre, in Bukarest. Jakobson beherrschte damals noch nicht das Rumäni‐ sche. Das dem Vortrag zugrunde gelegte Gedicht Luceafârul (Der Abendstern) 82 , eines der berühmtesten von Mihail Eminescu (1850-1889), hatte er sich, nur zur Kontrolle seiner Interpretation, vor dem Vortrag von den Kollegen noch über‐ setzen lassen. Seine Interpretation selbst jedoch, deren Resultat die anwesenden rumänischen Literaturwissenschaftler (wenn ich mich recht erinnere, waren es Elena und Tudor Vianu) einhellig als mit ihrer fachwissenschaftlichen Meinung übereinstimmend bestätigten, beruhte auf der von ihm für die Literaturwissen‐ schaft adaptierten strukturalistischen Methode. Das Erlebnis dieses Vortrags hat meine eigene literaturtheoretische Entwicklung entscheidend beeinflusst. 2.2.2 Die III. Hochschulreform (Anfang für mich) Der ursprüngliche Plan, mich als stellvertretenden Sektionsdirektor für For‐ schung in der neu zu bildenden Sektion „Philologien-Germanistik“ einzusetzen, wurde nach bereits erteilter Urkunde rückgängig gemacht. Ich war für einen solchen, an die Weisungen der übergeordneten Instanz gebundenen Posten wirklich nicht gut zu brauchen. So kam unser Rektor Karlheinz Wirzberger, der mir sicher wohl gesonnen war, auf die Idee, mich als Dekan für die eine der beiden neu gebildeten Fakul‐ täten, nämlich die gesellschaftswissenschaftliche, einzusetzen. Laut Verordnung hatte die Fakultät die Aufgabe, für die ordnungsgemäße Durchführung der Pro‐ motionsverfahren, die bei den Sektionen lagen, zu sorgen und auf Antrag die „facultas docendi“ zu erteilen. 2.3 Internationale Beziehungen: Gastvorlesungen (GV), Kolloquien (Koll) und Internationales Unter diesem Titel ist eine Aufstellung der wichtigsten wissenschaftlichen Aktivi‐ täten, die entweder vom romanischen Institut der HU verantwortet wurden oder von Rita Schobers internationalen wissenschaftlichen Kooperationen berichten, versammelt. Die Datei ist mit dem 3. März 2008 datiert. Dabei verweist Rita Schober auf mögliche Lücken, die sich vor allem auf die 1970er und 1980er Jahre beziehen. Aus Herausgebersicht betreffen diese Lücken u. a. die für die Romanistik an der HU wichtigen Beziehungen zu der damals kommunistisch orientierten französischen Universität Paris VIII Vincennes à St. Denis und da vor allem Prof. Claude Duchet, den Spezialisten für die Literatur des 19. Jh., Mitherausgeber der Zeitschrift „Lit‐ térature“ und international anerkannter Begründer der sociocritique. Rita Schober 75 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="76"?> erwähnt ihn an keiner Stelle. Er hatte in der Zeit des Kalten Krieges den Universi‐ tätsaustausch mit der Romanistik der DDR befördert. Die Professoren Jacques Neef (ciritique génétique) und Jean Verrier (enseignement de la littérature) standen ihm zur Seite. Zusammen mit dem Germanisten Prof. Jean Mortier, dem Spezialisten für die DDR, war ein Austausch von Studierenden und Dozenten erfolgt, mitunter auch an den staatlich gesetzten Bedingungen für Reisen vorbei. Außerdem fällt auf, dass die Beziehungen zu dem an der TU Berlin lehrenden Prof. Nerlich, dem bekannten Literaturwissenschaftler und Herausgeber der Zeit‐ schrift lendemains, zu dem Rita Schober frühe und intensivste Kontakte in vielerlei Hinsicht kontinuierlich unterhielt, hier nicht aufgeführt sind und in der Vita ins‐ gesamt kaum eine Rolle spielen. 1954: GV Polen: Warschau Krakau, Posen; Deutscher Romanistentag in Mün‐ chen (mit Klemperer) bei Rheinfelder 1955: Internationaler Romanistenkongreß in Neapel (anschließend Cook-Reise Pompei, Costiera amalfitana, Rom) 3.-8. April Kolloquium der Société Arthuri‐ enne in Paris mit Horst Heintze 1956: Studienaufenthalt Paris (Boileau), Résidence Universitaire in Antony zweieinhalb Monate (Mai-Anfang Juli); zwischendurch Teilnahme am deutschen Romanistentag in Mainz ( Juni) 1957: GV Heidelberg (bei Baldinger), Tübingen bei (Wilhelm) 1958: Internationaler Romanistenkongreß in Lissabon (Anfang April), Klem‐ perer auf Hinreise (Flugzeug) Herzanfall, bei Umsteigen in Brüssel Rückkehr. Unsere Delegation (außer Krauss) Reise durch Portugal (Norden bis Fatima, Süden Evora). 1959: Colloque international de Civilisations, Littératures et langues Romanes, Bukarest (14.-27.Sept.) gemeinsam mit Werner Krauss (Bericht: Zygmunt Czerny in: BRPH 1963,II/ H.1,182-191) GV: Prag bei Fischer, Moskau bei Samarin, Bukarest bei Dima (Dezember) Veranstaltungen unseres Instituts zur 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität: Aragon, Éluard und der sozialistische Realismus (1954) (Vortragende Schober, Papenbrock) 1960: Internationales Lateinamerikakolloquium in Berlin (2.-4.11.1960), 1963 II/ H.1 Bericht Karlheinz Barck, BRPH 1963, II/ H.1,180-81), Studentenkonferenz: Berichterstattung über den Algerienkrieg in der Humanité GV: Bukarest, Cluj (Spätherbst) 1962: Conférence de Littérature comparée, Budapest 26.10.-29.10.1962 mit Werner Krauss, zur Frage kunsthistorischer Termini 1964: Frühjahr Studienaufenthalt in Moskau (mit Assistenten: Bevernis, Hart‐ mann): 3 Wochen (vom 22. April-Mai) Arbeit in der Leninbibliothek 76 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="77"?> (Commune-Lyrik), Sommerkurs in Sinaia mit Bevernis (Vortrag auf abschlie‐ ßender Konferenz mit dem Titel: Comment écrire une histoire de la littérature française - aspects méthodologiques AILC-Kongreß in Fribourg (Schweiz) September mit Referat 1965: Internationaler Dante-Kongreß in Florenz (Frühjahr) mit Werner Bahner (Gespräche in Rom mit Monteverdi wegen Teilnahme italienischer Dantisten an DDR-Konferenz in Berlin) 25.-26 Mai: Dante-Konferenz an HU in Berlin (publiziert in: BRPH 1965, IV,H.) 1966: GV: Salzburg, Wien 1967: 10.-14. Oktober in Budapest, 6. Kongreß dell´associazione internazionale per gli studi di lingua e letteratura italiana (Sektionsleitung) Belgrad AILC-Kongress: ohne Referat Prag (Fischer): Periodisierungskonferenz GV: Prag, Brünn, Bratislava 1968: GV: Bordeaux (begleitet von Bevernis), gemeinsam mit Fischer und Reizov: table ronde, Pressemitteilung über den Besuch, vorher Teilnahme (mit Bevernis und Balzer vom Aufbau-Verlag) am Kolloquium-Zola, organisiert von der „Europe“ (Pressemitteilung und Fernsehinterview mit Mitterand über Zola) 1969: HU: Strukturalismus-Konferenz der Gesellschaftswissenschaftlichen Fa‐ kultät von mir (als Dekan) organisiert, Publikation abgelehnt, desgleichen Be‐ richt in Presse 1970: AILC-Kongress in Bordeaux mit Referat (Das literarische Werk, Symbol oder Modell), Vorschlag der DDR: nächster AILC-Kongreß in Berlin (Streit mit Wellek), Vorschlag in Leitungssitzung der AILC abgelehnt (meine Teilnahme in Vertretung von Krauss) Gastsemester Moskau (28. Sept. bis 30. November): Einführung in die Nouvelle Critique, Hauptvorlesung: Entwicklung der Poetik von der Renais‐ sance zur Frühaufklärung, Zola-Seminar 1972: FILLM-Kongress in Cambridge, 20.-26. August (ohne Referat) VII. Internationaler Ästhetik-Kongress in Bukarest (26.8.-2.9.) in Abstracts (p. 26-27): Zur Dialektik von Abbild und Sinnbild im Prozess der literarischen Kom‐ munikation (kein Referat) 1973: AILC-Kongress in Ottowa-Montreal, Teilnahme abgelehnt, weil Kon‐ greß-Angebot der DDR zurückgezogen wurde, Referat eingeschickt, in Akten erschienen 1975: Bureau-Sitzung der AILC in Weimar 1976 oder 1977: GV in Dijon und Besançon bei Francis Claudon AILC-Kongress 1978: GV in Aix bei Raimond Jean (mit Bevernis) 77 2. Die Grundlagen meines wissenschaftlichen Werdegangs und meine Arbeit als Hochschul‐ lehrerin <?page no="78"?> FILLM-Kongress in Aix mit Hauptreferat 1979: AILC-Kongress in Innsbruck (Leitung einer Hauptsektion mit Einfüh‐ rung, erschienen in den Akten, kein Referat wegen langer Krankheit vorher) 1982: GV: Wien, Graz, Salzburg AILC-Kongress in New York mit Referat (Akten) 1983: XVII. Weltkongress für Philosophie in Montreal (vom 21.-27.8.) zu dem Thema: Philosophie and culture; Hauptreferat in Plenarsitzung III. « Personne et culture dans le monde contemporain » 1985: 11. AILC-Kongress in Paris ohne Referat (07.02.85, 08.-10.2.85) Wochenendseminar über Zola in Saarbrücken bei Neu‐ schäfer GV: Gießen (bei Wolfzettel), Marburg (bei Hofer) anschließend Gastsemester bei Lind in Graz (März bis Ende Juni): Einführung in die Literaturtheorie (Vorlesung), Zola / Mauspassant (Seminar) GV: in Klagenfurt bei Schulz-Buschhaus 1988: 12. AILC-Kongress in München mit Referat (in Akten) 1990: Gastvorlesung in München bei Nolting-Hauff über Germinal (Vom Werden eines Romans) 1993: Internationales Kolloquium (organisiert gemeinsam mit Winfried Engler an der FU. Thema: Hundert Jahre Rougon-Macquart (Band erschienen 1995) 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin Zu diesem Kapitel ließen sich allein 21 Texte zuordnen. Es traten hier jedoch be‐ sonders viele Wiederholungen auf. 3.1 Einführung Der folgende Text besteht aus verschiedenen Bausteinen, die vor allem im Verlauf des Jahres 2009 geschrieben wurden und an einigen Stellen 2012 ergänzt worden sind. Die Daten wurden zusammengefügt und werden im Text entsprechend ange‐ zeigt. Als Direktor des Romanischen Instituts der Humboldt-Universität war Klem‐ perer von Anfang an bewusst, daß persönliche und direkte Wissenschaftsbe‐ ziehungen für den Aufbau eines Universitätsinstituts wichtig sind, möglicher‐ weise vor allem deshalb, weil er als Geisteswissenschaftler in einer Außenseiterposition an der Technischen Hochschule in Dresden und später 78 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="79"?> 83 Genaues Datum wurde hinzugefügt. D.R. 84 Diese Passage wurde von der Herausgeberin eingefügt, da Rita Schober sich der Daten und Fakten nicht sicher war, was Fragezeichen und Auslassungen im Text anzeigten. DR. während der Nazijahre durch die zwangsweise Isolierung solche nicht entwi‐ ckeln konnte. Daß dies für ihn zunächst Aufnahme innerdeutscher Beziehungen hieß, war für ihn ebenso selbstverständlich; aber natürlich ging es ihm auch um Kontakte mit ausländischen Gelehrten. Und so reiste er nicht nur zu den von Prof. Rheinfelder organisierten Romanistentagen nach München, seiner alten Studienstadt, sondern auch schon 1954 und 1955 zu Gastvorträgen nach Polen, nach Rumänien, 1955 zum Romanistenkongreß nach Italien und anschließend gleich weiter nach Paris und dies nicht nur um der wissenschaftlichen Arbeit seiner Frau willen, sondern ebenso aus eigenem Interesse. Und er war natürlich auch daran interessiert, dass ich in gleicher Weise tätig wurde. Daß in den ersten Jahren solche Möglichkeiten der Kontaktaufnahme auf Grund der offiziellen staatlichen Beziehungen primär mit den sozialistischen Ländern möglich waren, ist angesichts der politischen Situation verständlich. Außerdem müssen auch Dienstreisen immer irgendwie finanziert und bezahlt werden und da spielen auch die gegenseitigen Währungsverhältnisse durchaus eine nicht unerhebliche Rolle. Gerade da lagen bei Reisen ins nichtsozialistische Ausland ab 1949 noch zusätzliche Schwierigkeiten. Denn am 20. Juni 1949 83 wurde von den Westmächten in der französischen, britischen und amerikani‐ schen Besatzungszone und den entsprechenden Sektoren Berlins eine Wäh‐ rungsreform durchgeführt, die die Deutsche Mark an den Dollar band. Sie zei‐ tigte bekanntlich die währungspolitische Abkoppelung der entsprechenden sowjetisch besetzten Gebiete und führte dazu, dass der inzwischen offene Kalte Krieg zwischen den beiden Weltblöcken sich von da an auf deutschem Boden unter dem Vorzeichen zweier als deutsche Staaten konstituierten Währungsge‐ biete abspielte. Am 23. Mai 1949 erfolgte mit der Annahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ihre Gründung, 84 am 7. Oktober 1949 die Grün‐ dung der DDR, die von da an zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen angehörten. Am 28.8.2012 wird an dieser Stelle ergänzt: Die Bundesrepublik wurde sehr rasch in die westeuropäische Gemeinschaft eingegliedert und erfuhr nicht zu‐ letzt durch die amerikanische Starthilfe einen beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung, der natürlich auch im Alltagsbewusstsein vieler Menschen in der DDR seine ideologischen Auswirkungen zeitigte. Der Westen, das waren die Reichen, denen es gut ging, bei denen alles besser war. So die Vorstellung vieler Menschen in der DDR. Die folgende Passage war am 2.11.2009 in einer eigenen Datei gespeichert: 79 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="80"?> 85 Mit der Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO 1973 wurde die DDR als Völker‐ rechtssubjekt anerkannt. D.R. Die von der DDR gegenüber der SU zu erbringenden Reparationsleistungen dagegen belasteten die Wirtschaft ebenso wie die Demontagen und man kann natürlich auch nicht behaupten, dass die Bevölkerung die sowjetische Besat‐ zungsmacht mit Begeisterung begrüßte. Dazu waren in den letzten Kriegsmo‐ naten beim Vormarsch der Sowjettruppen zu viele Übergriffe gegenüber der Zivilbevölkerung, vor allem Frauen und Mädchen, vorgekommen. All das ver‐ festigte das seit Jahrzehnten über die Kommunisten verbreitete Feindbild. Es war auch zu vieles fremd an dem Verhalten der Besatzer einschließlich der mit ihnen neu auftauchenden Begriffe und Sprachregelungen. Und daß die allmäh‐ lich zur Sozialisierung der Besitzverhältnisse durchgeführten Veränderungen auch mit dieser Bindung an die SU zusammenhingen, war ebenfalls nicht zu übersehen. Es kann in dieser Vita nicht darum gehen, diesen Wendepunkt der deutschen Geschichte (? ), der vierzig Jahre später mit der Maueröffnung zurückgenommen wurde (? ), mit all seinen Konsequenzen im Detail nachzuzeichnen. Das ist die Aufgabe der Historiker und bedarf sicher noch eines größeren Abstandes und vor allem seiner gesamteuropäischen und weltgeschichtlichen Kontextualisie‐ rung. Der folgende Satz wurde am 28.8.2012 ergänzt: Aber losgelöst von dem gesamtgeschichtlichen Zusammenhang ist auch ein einzelner Lebensweg nicht zu erfassen. Für unseren Zusammenhang, d. h. für die Auslandskontakte der DDR-Wis‐ senschaftler über viele Jahre entscheidend jedoch ist die Tatsache, dass die DDR völkerrechtlich erst 1974 85 überhaupt anerkannt wurde und das bedeutete, dass ein von ihr ausgestellter Reisepaß außerhalb des sozialistischen Blocks keine Gültigkeit hatte. Dieser für Reisefreiheit und Reisemöglichkeit gravierende beschränkende Faktor muß für diese Jahre immer mitgelesen werden. Einreisen in nicht sozialistische Länder hingen hing nach 1949, abgesehen von allen innerpolitischen Beschränkungen, d. h. von Devisenbewilligungen und Ausreisegenehmigungen, in erster Linie von den Paß- und Visaerteilungen durch die von da an bis 1974 für den sogenannten Travel-Board zuständigen Besatzungsmächte ab, die in den ersten Jahren die notwendigen Dokumente oft sehr willkürlich verweigerten. Wenn ich rückblickend meine Auslandsbeziehungen überdenke, erscheint es mir darum umso unglaublicher, dass mich angesichts dieser Grundsituation meine kontinuierlichsten und bis zum heutigen Tage anhaltenden wissenschaft‐ 80 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="81"?> 86 Außenpolitisch jedoch verfolgte Chruschtschow konsequent die Stärkung des interna‐ tionalen Gewichts der SU: 14.5.1955 Abschluß des Warschauer Paktes (Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand der sozialistischen Länder), 13.9.1955 Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der BRD (Adenauer-Besuch in Moskau), 11.11.1956 Niederschlagung des Aufstands in Ungarn durch die Rote Armee, 1957 Einsetzung Andrej A. Gromykos (1909-1989) als Außenminister, 4.10. Start des 1. Sputniks, 7.11. 1958 Berlin-Ultimatum, 22.10.-28.10. 1961 Kubakrise mit Hilfe des seit 1957 im Amt befindlichen Außenministers Gromyko beigelegt. 1963 Einrichtung des Roten Telefons Washington-Moskau. Innenpolitisch gescheitert ist Chruschtschow letztlich an seiner erfolglosen Landwirt‐ schaftspolitik. lichen und längst auch ganz persönlichen Beziehungen gerade mit französischen Kollegen verbanden, an der Spitze von allen mit Henri Mitterand, dem interna‐ tional führenden Zola-Spezialisten, Ergänzung vom 7.8.2012: aber ebenso mit Colette Becker und vor allem mit Francis Claudon sowie René Pille, unserem französischen Gastlektor in den 80er Jahren. 3.2 Moskau - Leningrad Der folgende Text wurde in den Jahren 2009 und 2010 geschrieben. Die Datei trägt das Datum 1.2.2010. Meine erste Begegnung mit dem führenden Land des sozialistischen Lagers er‐ folgte 1959 während einer dreiwöchigen Ferienreise Ende Juli-August mit meinem Mann Robert. Nun gehören in einen vornehmlich auf das eigene Berufsleben konzentrierten Lebensbericht ja nicht unbedingt die Eindrücke einer Privatreise. Aber diese war für mich in mancher Hinsicht eine Art Grunderlebnis der SU, dieses riesigen Vielvölkerstaates. Zum Verständnis der historischen Situation muß man sich einige Eckdaten der politischen Entwicklung des Landes in diesen Jahren ins Gedächtnis rufen. Nikita Chruschtschow war am 14.März 1953, unmittelbar nach dem Tode Stalins (5.März), 1. Sekretär des ZK der KPdSU geworden. Auf seine 86 Initiative ging im Dezember 1954 die als „Tauwetterperiode“ bekannt gewordene Lockerung der dirigistischen Kulturpolitik zurück. (Sie wurde von Breschnew, der nach Chruschtschows Absetzung (10.10.1964) den Parteivorsitz übernahm, allerdings nach und nach wieder zurückgenommen). Chruschtschows politisch folgen‐ reichste Tat war jedoch seine berühmte Geheimrede auf dem 20. Parteitag der KPdSU (14.-25.2.) 1956, in der er schonungslos die geradezu ungeheuerlichen, jahrelangen Verbrechen Stalins aufdeckte. Ein für das ganze Land unglaublicher Vorgang angesichts des Personenkults um den „Generalissimus“, den „Sieger 81 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="82"?> von Stalingrad“. Denn damit wurde zugleich die Ikone des einfachen Volkes, „Väterchen Stalin“, umgestürzt, ein nicht ganz ungefährlicher Vorgang für den Zusammenhalt des Riesenreiches, wie wir auf unserer dreiwöchigen Ferienreise in Georgien feststellen konnten. Das von Intourist, der sowjetischen Tourismusagentur, zusammengestellte Programm sah außer der für jede touristische SU-Reise obligaten Besichtigung Moskaus einen Besuch Tbilissis, der Hauptstadt Georgiens mit einem Ausflug in den Kaukasus vor, anschließend einen Badeaufenthalt in Batumi am Schwarzen Meer und abschließend eine Besichtigung Leningrads. Geographisch völlig unterschiedliche Regionen und ethnisch ebenso unterschiedliche Bevöl‐ kerungen. Zu der Dreitagebesichtigung Moskaus gehörte eine große Stadtrundfahrt, Besichtigung des Roten Platzes, des Kremls mit Schatzkammer und natürlich der Kremlmauer mit dem Lenin-Stalin-Mausoleum und auch ein Besuch des berühmten Bolschoi-Theaters mit einer Aufführung des Balletts Schwanensee von Tschaikowski. Ich hatte zu dem Zeitpunkt dieser Reise schon eine Reihe europäischer Länder und Großstädte Europas kennen gelernt: vom Studium her Prag, meine Lieb‐ lingsstadt, und auf Studienexkursionen Norditalien mit Florenz und Venedig, von Gastvorlesungen Warschau und Krakau, von internationalen Kongressen Neapel (mit anschließendem Besuch Pompejis und Roms), sowie Lissabon (mit einer anschließenden Kurzreise durch den Norden über die alte Universitäts‐ stadt Coimbra bis Fatima) und von Studienaufenthalten vor allem Paris. Doch Moskau, die Hauptstadt der Sowjetunion, war die Begegnung mit einer ganz anderen, mir völlig neuen und irgendwie auch fremden Welt, einer Welt der Gegensätze von historischer Vergangenheit und sich radikal verändernder Gegenwart. Allein das Riesenensemble des Kremls, dieses unvergleichliche Denkmal alter russischer Kultur, mit seinen orthodoxen Kathedralen, den Pa‐ lästen und imposanten Glocken- und Wachtürmen, der geradezu einmaligen Rüstkammer, in der neben alten kunstvoll gearbeiteten Waffen vor allem die kostbaren Gerätschaften und Schätze der russischen Zaren aufbewahrt werden, allein dieses Herzstück Moskaus war durch Größe und Ausmaße so überwälti‐ gend, so dass es sich für mich kaum mit Ähnlichem vergleichen ließ. Sicher, das Grüne Gewölbe in Dresden beherbergt auch eine einmalige Sammlung von ein‐ zigartigen Prunkstücken des deutschen und europäischen Kunsthandwerks, bei denen an Gold und seltenen Edelsteinen nicht gespart wurde und die natürlich auch Macht und Reichtum des sächsischen Königshauses demonstrieren sollten. Aber die kostbaren Materialien sind in das geformte Ganze kunstvoll integriert und dadurch in ihrem Wert gesteigert und nicht primär als Demonstrationen 82 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="83"?> von Reichtum ausgestellt. Doch wenn man die Rüstkammer mit ihren teils auch bergeweise in Vitrinen ausgeschütteten Diamanten verlässt, ist man von dieser Überfülle des hier aufgehäuften materiellen Reichtums eher wie erschlagen. Und dieses Gefühl des Überdimensionalen war für mich eigentlich auch der dominante Eindruck des gesamten Areals Roter Platz, Kreml, Kremlmauer, Ba‐ silius-Kathedrale, wobei Bewunderung und Verwunderung unaufhörlich inein‐ ander griffen und sich die Waage hielten. Daß in diesem Zusammenhang auch das, wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten wirkende, zweigeschossige Kaufhaus GUM mit seinen Miniläden uralten Stils besichtigt wurde, trug sicher ebenfalls zu diesem widersprüchlichen Eindruck bei. Auf einer ganz anderen Ebene lag das Erlebnis des Lenin-Stalin- Mausoleums mit den stundenlang geduldig auf den Einlass wartenden dichten Schlangen einfacher Menschen aus allen Teilen dieses Riesenreiches. Daß die Gruppen ausländischer Besucher an ihnen vorbei bevorzugt die „heilige Stätte“ betreten durften, nicht einmal das schien die Wartenden zu stören. Die Einbalsamierung der beiden Parteiführer, die dadurch ermöglichte Aufbewahrung ihrer Körper für kommende Zeiten, entsprach ungefähr dem, was eine Heiligsprechung nach christlichem Ritual für den religiösen Kult bedeutet. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass die Möglichkeit, die beiden aufgebahrten, leibhaftig vorhan‐ denen, nur gleichsam schlafenden, großen Führer - Lenin im schwarzen Anzug, Stalin in Generalissimusuniform - einmal im Leben von Angesicht zu Angesicht betrachten zu können, für das wartende Volk wohl eine ähnliche Bedeutung hatte, wie der Besuch der heiligen Stätten Mekka und Medina für einen gläu‐ bigen Anhänger des Propheten Mohammed. Es war eine Art religiöser Vereh‐ rung, die sich hier vollzog, vergleichbar vielleicht dem Reliquienglauben des Mittelalters. Daß Chruschtschow deshalb erst am 31. Oktober 1961, also fünf Jahre nach der moralischen Hinrichtung Stalins auf dem 20. Parteitag, ihn aus diesem Mausoleum entfernen ließ, kann mit den Risiken eines solchen öffent‐ lichen Heiligensturzes zusammenhängen. Und wie präsent Stalin tatsächlich im Bewusstsein der Bevölkerung noch 1959 vorhanden war erlebten wir zumindest in Georgien. Dort war Stalin, mit seinem richtigen Namen Joseph Wissarionovitch Dshugaschwili, am 21.12.1879 in Gori, ungefähr 70 km westlich von Tbilissi, der Hauptstadt Landes, geboren worden. Aus kleinen Verhältnissen stammend hatte er sich, nach einem auf Wunsch seiner religiösen Mutter erfolgten Besuch des griechisch-orthodoxen Priester‐ seminars in Tbilissi, schon mit zwanzig Jahren der sozial-demokratischen Partei angeschlossen und zunächst den für alle Gegner des Zarenreiches üblichen Weg von Verhaftung, Gefängnis, Verbannung durchlaufen. Sein eigentlicher politi‐ scher Aufstieg zum unumschränkten Diktator der kommunistischen Partei und 83 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="84"?> des Sowjetstaates begann nach dem Tode Lenins 1924 nicht zuletzt mit Hilfe der von Chrustschow erst 1956 aufgedeckten verbrecherischen Ausschaltung aller, die ihm, insbesondere in den eigenen Reihen, irgendwie gefährlich werden konnten. Doch für die Georgier war er 1959 noch immer der große Sohn des Landes, dessen Andenken durch Bilder und Statuen weiterhin in der Öffent‐ lichkeit gepflegt wurde. Georgien, mit der offiziellen Bezeichnung Grusinische SSR, im Norden vom großen Kaukasus im Süden vom kleinen Kaukasus begrenzt, wird unter dem Namen Kolchis schon im 4. Jh. v. Chr. von dem Historiker Xenophon wegen seiner Sänger und Lieder erwähnt. Ins literarische europäische Bewusstsein eingegangen aber ist das antike Kolchis, der am östlichen Schwarzen Meer ge‐ legene Landesteil, als das Ziel der Argonautenfahrt und damit der Sage um Ja‐ sons Raub des Goldenen Vlieses mit Hilfe der Zauberin Medea, der schönen Tochter des Aietes, des Königs von Kolchis und Besitzers des begehrten gol‐ denen Vlieses. (Euripides, Seneca, Corneille, Grillparzer) Die Liebesgeschichte zwischen Jason und Medea wurde schon in der Antike von Euripides als die große Tragödie von Eifersucht und Rache gestaltet und später in den verschie‐ denen Literaturen (Corneille, Grillparzer) und bis in die Gegenwart hinein (Christa Wolf) immer wieder erfolgreich bearbeitet. Das Land, günstig zugänglich am Ostrand des Schwarzen Meeres gelegen und sich nach Osten hinstreckend bis zum Kaspischen See, hatte seit dem Altertum eine bewegte Geschichte. Schon die alten Phönikier waren per Schiff hierher gekommen. Im ersten vorchristlichen Jahrhundert unterwarf es Pompeius der Oberhoheit Roms, so dass es nach der Teilung des römischen Reiches zunächst unter by‐ zantinischen, später, bis zum neunten Jahrhundert, unter persischen und arabi‐ schen Einfluß kam. Dem zweihundertjährigen kurzen Traum von einem ein‐ heitlichen Feudalstaat um die Jahrtausendwende machten im 13./ 14. Jahrhundert die auch aus der europäischen Geschichte bekannten verheerenden Mongoleneinfälle ein Ende. Das Reich zerfiel und wurde erneut Spielball persi‐ scher und türkischer Machthaber. Erst im 19. Jh. erreichte das Gebiet mit der Eingliederung in das russische Zarenreich eine gewisse staatliche Stabilisierung. Die Auswirkungen der Okto‐ berrevolution 1917 machten natürlich auch vor Georgien nicht Halt, genau so wenig wie die zu ihrer Niederschlagung einrückenden deutschen, türkischen und britischen Interventionstruppen. 1921 gelang es zwar mit Hilfe der Roten Armee auch in Tbilissi das sowjetische System durchzusetzen. Doch erst Ende 1936 wurde die nunmehr neu gebildete staatliche Verwaltungseinheit als Gru‐ sinische SSR Teil der Sowjetunion. Auf Grund des günstigen Klimas und der 84 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="85"?> 87 Durch einen Zufall habe ich einiges Werbematerial von Intourist über diese Reise auf‐ bewahrt, darunter den Flugschein Moskau-Tbilissi, Abflug am 26. Juli 10 Uhr 30 und das Tbilissier Abendblatt vom 28. Juli. Der Name Tbilissi kommt von dem georgischen Wort für “warm“, weil der Sage nach der Ort wegen seiner heilkräftigen eisenhaltigen heißen Quellen gegründet worden sein soll. Die Quellen werden auch heute medizinisch genutzt. Bodenschätze konnte sich Landwirtschaft und Industrie in dieser Sowjetrepu‐ blik im Lauf der Jahre gut entwickeln, so dass sie zu den reichen Unionsgebieten gehörte, was natürlich auch der Bevölkerung zugute kam. Und dass die Georgier ein ausgesprochen schöner und auch stolzer Menschenschlag sind, konnten wir bei unserem Besuch selbst erleben. Wir landeten von Moskau kommend auf dem Flughafen in Tbilissi 87 , dem alten Tiflis, der Hauptstadt des Landes, günstig in einem von Bergen umgebenen Talkessel an dem Fluß Kura gelegen, der ins Kaspische Meer mündet, und zu‐ gleich am Ende der den Kaukasus nach Norden durchquerenden grusinischen Heertrasse. Mit ihren ungefähr 750.000 Einwohnern war Tbilissi eine auch für europäische Verhältnisse respektable Großstadt, das industrielle und kulturelle Zentrum Georgiens und ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Die gewandte, liebenswürdige Fremdenführerin, die uns am Flughafen in Empfang nahm, war Georgierin, der man schon nach wenigen Sätzen den Stolz auf ihr Land und vor allem auf seine Hauptstadt anmerkte. Schließlich konnte Tbilissi auf eine lange, 1500jährige Geschichte zurückblicken, von der die alten Stadtteile noch immer Zeugnis gaben. Doch dank der seit den 30er Jahren durchgeführten Umbauten und Neubauten machte die Stadt vor allem den Eindruck einer weiträumigen, hellen, modernen Großstadt in dem für die SU typischen, etwas monumentalen Zeitstil dieser Jahre erbaut - aber ohne Wolkenkratzer wie in Moskau! - mit breiten, oft von Bäumen gerahmten Straßen, vielen Grünanlagen und Blumen. Und wie alle Städte, die an den Ufern eines Flusses angelegt sind - und Tbilissi zieht sich an der Kura 20 km lang hin - erhält auch Tbilissi seinen besonderen Reiz durch die vielen Brücken und die großzügigen Uferpromenaden. An einer dieser Brücken, der Metechsky Brücke, schien bei der Stadtbesichtigung ein Re‐ porter des städtischen Abendblattes unsere Gruppe beobachtet zu haben. Auf der Titelseite vom 28. Juli war eine kurze Notiz über den Besuch von Touristen aus der DDR zu lesen, mit der Nennung der Namen dreier Universitätsprofes‐ soren, darunter mein eigener. Mein verehrter Lehrer Victor Klemperer hätte in diesem Fall in seinem Tagebuch vermerkt: „Das schmeichelte ungemein.“ Der günstige Allgemeineindruck, den Stadt und Menschen, denen wir bei der Rund‐ fahrt begegneten, auf mich machte, wurde noch gesteigert während unseres Ausflugs auf den im Westen gelegenen Bergzug Mtatsminda, einem bei der Be‐ 85 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="86"?> völkerung offensichtlich beliebten Ausflugsziel, denn auf dem Bergrücken be‐ fanden sich ein neu angelegter weitläufiger Park und mehrere Gaststätten. Na‐ türlich wurden wir als ausländische Besucher an der Talstation der Zahnradbahn vor den einheimischen Ausflüglern bevorzugt abgefertigt - ohne dass auch nur eine negative Bemerkung zu hören war - doch das überraschte uns nach den geduldigen Warteschlangen in Moskau schon fast nicht mehr. Aber die herzliche Gastfreundschaft, die wir hier auf Schritt und Tritt antrafen, war wirklich über‐ wältigend, denn sie beruhte auf einer ausgesprochenen Deutschen-Freundlich‐ keit. Eigentlich konnten wir uns gar nicht retten vor den Angeboten der ein‐ heimischen Besucher dieses Ausflugsorts, immer wieder an einem der Tische Platz zu nehmen und als ihre Gäste mit ihnen zu essen und zu trinken. Ähnliches erlebten wir bei dem Besuch auf dem Basar. Irgendeine Kleinigkeit mussten wir als Gastgeschenk fast von jedem Stand mitnehmen. Eine Mitreisende erhielt sogar ein lebendes Huhn geschenkt und auch das lebende Huhn musste mitge‐ nommen werden, denn eine Ablehnung wäre eine schwere Kränkung gewesen. Ein einmaliges Erlebnis ganz anderer Art dagegen war der den Tbilissi-Be‐ such abschließende Ausflug in die Berge des Kaukasus auf der grusinischen Heerstraße. Sie durchquert, an dem Kasbek vorbei, dem zweithöchsten Fünf‐ tausender nach dem Elbrus - mit 5633 m dem höchsten Gipfel - auf einer Länge von 207 km das Hochgebirge nach Norden. Dass sie in vergangenen Zeiten auch eine wichtige strategische Bedeutung für den Schutz Georgiens gegen Angriffe aus diesen Gebieten hatte, bezeugen die vielen noch erhaltenen Überreste alter Festungen und Wachtürme. Doch darum ging es bei diesem Ausflug weniger. Es ging um das Landschafts- und Naturerlebnis. Der große Kaukasus ist etwa einer Hochalpenlandschaft in der Schweiz vergleichbar, nur irgendwie gewal‐ tiger, überwältigender. Gipfel an Gipfel von Gletschern bedeckt, dazwischen tiefe Schluchten, dann wieder riesige Wasserfälle und plötzlich überraschend reizvolle Täler und Bergwiesen! Bergwiesen von einer Blumenfülle und Far‐ benpracht und Schönheit, wie ich sie nie vorher und nie nachher wieder gesehen habe. Dabei den Pflanzenarten nach nicht eigentlich außergewöhnlich, vor‐ herrschend die bekannte Flora unserer mitteleuropäischen Alpenwiesen, aber alles gewissermaßen überdimensional, Gräser meterhoch, Sträucher manns‐ hoch, ein Eindruck - unvergesslich. Mit dem Badaufenthalt in Batumi dagegen wurde uns nach dem Hochge‐ birgserlebnis eigentlich erst bewußt, dass wir uns in Georgien in einem subtro‐ pischen Gebiet befanden, das für die SU der Lieferant von Tee und Zitrus‐ früchten, also von Orangen, Zitronen und Granatäpfeln und anderem Obst und Gemüse war. Sieben Jahre später bei meinem Gastsemester in Moskau wurde ich durch das Obstangebot im Rinok, der Markthalle, daran erinnert. 86 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="87"?> Batumi, mit 41°39´ nördlicher Breite, die südlichste Stadt am Schwarzen Meer ist wenige Kilometer von der türkischen Grenze entfernt an einem tiefen Meer‐ busen gelegen. Hier landeten nach den Phöniziern auch schon die Galeeren der Römer an. In der SU war Batumi, Hauptstadt des zur Grusinischen SSR gehör‐ enden autonomen adscharischen Gebiets, zu dem damaligen Zeitpunkt ein sehr wichtiger Handelshafen, sowohl für die Ausfuhr von Manganerz und Erdöl - die Erdölleitung von Baku endete hier - wie auch für das ganze Industriegebiet des Hinterlandes. Doch das Reiseziel, dem in diesem Fall unser eigentliches In‐ teresse galt, war nicht die Hafenstadt, sondern der Schwarzmeerstrand, das Baden im warmen Meerwasser, die Sonne. Die etwas abseits von der Stadt gelegene Badekolonie mit ihren auf den Tou‐ rismus abgestellten Hotels - wir waren wie immer in einem Intourist-Hotel gut untergebracht - erinnerte uns in etwa an die vor drei Jahren bei einem Bade‐ aufenthalt in Bulgarien vorgefundenen Bedingungen, nur dass wir hier noch zusätzlich die in den Anlagen - auch vor unserem Hotel, wie das vor mir liegende Kofferschild zeigt - eigens angepflanzten Palmen, bewundern konnten. Die er‐ sehnte Wärme erwies sich allerdings als tropische feuchte Hitze von meist 40 Grad im Schatten und war etwas schwer zu ertragen. In der Badewanne wurde deshalb das kalte Wasser ständig zum abkühlenden Eintauchen erneuert. Bei solchen Temperaturen war es für uns selbstverständlich, in kurzen Hosen - ganz gleich ob Männlein oder Weiblein - an dem Strand oder auf der Promenade spazieren zu gehen. Doch das erregte ausgesprochen Ärger - in Bulgarien hatte solcherlei Bekleidung niemanden gestört. Die Gründe dafür wurden uns allerdings nach einem zum Programm gehör‐ enden Besuch der Stadt selbst klar. Der dominante türkische und muslimische Einfluß war auf Schritt und Tritt zu sehen, vor allem in der Gegend um den großen Bazar: die Frauen verschleiert, die Männer oft mit Turban. Eine fremde Welt. Andererseits stellte gerade der Bazar ob der Exotik seiner angebotenen Waren - für mich schon allein wegen der Gerüche der Gewürzstände - eine wirkliche Attraktion dar. Meinen Mann reizte es selbstverständlich, dieses bunte Treiben im Bilde festzuhalten. Aber bei dem Versuch zu fotografieren, wäre ihm beinahe der Apparat entrissen worden und er hatte alle Mühe, heil davonzu‐ kommen. Insgesamt gesehen aber war dieser Badeaufenthalt eine erholsame Unterbrechung vor der letzten Reiseetappe, dem Besuch von Leningrad. Leningrad liegt etwas mehr als 18 Breitengrade oder rund 2000 km Luftlinie nördlich von Batumi. Um von dem mediterranen Badeort am Schwarzen Meer nach Sankt Peters‐ burg, der nördlichen Metropole des alten Zarenreiches an der Ostsee, zu ge‐ langen, brauchte man im Direktflug selbst mit den heutigen Flugzeugen (ich 87 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="88"?> schreibe diese Zeilen im Jahre 2009) mehrere Stunden. Aber wir sind im Jahre 1959, einen Direktflug gibt es nicht und so hoppeln wir gewissermaßen in drei Etappen mit wechselnden Flugzeugtypen, zunächst 1013 km Fluglinie nach Charkow, dann 634 km nach Moskau und von dort 599 km nach Leningrad. Daß sich der gesamte Flug derart auch noch zu einem kleinen Abenteuer besonderer Art entwickeln würde, war allerdings nicht vorauszusehen. Vielleicht hat er mich aber gerade deshalb so beeindruckt, daß ich ihn noch heute in lebhafter Erinnerung habe. Für die erste Teilstrecke besteigen wir ein kleines zweimotoriges Flugzeug vom Typ IL-14, dessen Plätze gerade für unsere Reisegruppe ausreichen und dessen mögliche Flughöhe begrenzt ist. Also mußte der Pilot mit Kurs auf Charkow in nordwestlicher Richtung zunächst die Schwarzmeerküste entlang fliegen, Richtung Sotschi, Krasnodar, um die Dreitausender des westlichen Teils des Großen Kaukasus zu vermeiden, über die die direkte Fluglinie führen würde. Nach anfänglich sonnigem Wetter und guter Sicht gerieten wird jedoch in ein sehr schweres Gewitter, das mit dem kleinen Flugzeug wahrlich nicht glimpflich umging. Die Gesichter der Reisender wurden grün und grüner, die bekannten Tüten voll und voller und in Charkow wankten wir alle, Gott dankend endlich wieder Boden unter den Füßen zu haben, in den Warteraum für den Weiterflug. Und was ich nie für möglich gehalten hätte, nach ganz kurzer Zeit war die Übelkeit verschwunden. Der Flug von Charkow zu dem Inlandflugplatz Tsche‐ remetjewo im Norden Moskaus mit einer IL-18 verlief problemlos. Es war in‐ zwischen Abend geworden, als wir, ebenfalls mit einer IL-18, nach Leningrad starteten. Im Vergleich zu den beiden vorhergehenden Flügen eine relativ kurze Strecke. Und nach dem doch recht anstrengenden Tag freuten wir uns auch auf Ruhe und Schlaf, denn am nächsten Morgen sollte ja sofort nach dem Frühstück die Besichtigung der Stadt beginnen. Nach ungefähr zwei Stunden hätten wird unser Ziel erreichen müssen. Doch als wir offensichtlich über der Stadt kreisten, machte die Maschine plötzlich eine Kehrtwendung. Ich sagte ziemlich entsetzt zu meinem Mann: „Wenn mich nicht alles täuscht, fliegen wir zurück.“ Da kam auch schon die Ansage, dass die Maschine keine Landeerlaubnis erhalten habe und wir zurück nach Moskau müssten. Gründe dafür wurden nicht angegeben. Dort angekommen, wurde mitgeteilt, dass wir auf dem Flughafen bleiben und warten müssten, da der Flug nach Leningrad jederzeit wieder abgerufen werden könnte. Also erst einmal irgendeinen Sitzplatz suchen, in der Hoffnung, dass das Warten nicht allzu lange dauern würde. Und Langeweile war auch nicht zu befürchten, denn Tscheremetjewo, der Flughafen für die Inlandlüge, bei denen die Passagiere in die südostasiatischen Republiken auch schon einmal ein paar kleinere Haustiere mitnahmen, sorgte mit seinem bunten Völkergewirr und 88 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="89"?> derlei außergewöhnlichen Reisebegleitern für Abwechslung. Doch die Zeit ver‐ ging, und wir waren noch immer nicht aufgerufen worden. In den beginnenden Morgenstunden ließ der Betrieb zwar nach, aber an Schlafen und Ruhe war trotzdem nicht zu denken. Ich hatte zudem einen Platz genau unter einem Laut‐ sprecher gefunden, aus dem in kurzen Abständen die Ankunfts- und Abfahrts‐ zeiten ertönten und mich immer wieder, auch wenn ich für ein paar Minuten vor Übermüdung eingenickt war, hoch schreckten. Als wir nach dieser durch‐ wachten Nacht gegen sechs Uhr abfliegen konnten und endlich gegen acht Uhr auf dem Flughafen Pulkowo in Leningrad landeten, hieß es nur noch: „Los geht ´s! “ oder wie man russisch sagen würde: „davaj! davaj, rabotat´! “ - mit dem Reisebus schnell ins Hotel, im Zimmer Koffer abstellen, frühstücken und - auf zur Stadtbesichtigung! Diese Besichtigung war für mich psychisch nicht ganz unbelastet. Denn das zweiundsiebzigste Artillerieregiment, zu dem mein erster Mann Dr. Hans Hetzer gehörte, hatte vom ersten Tage, dem 8. September 1941 an der Belagerung Le‐ ningrads teilgenommen. Es war im Sommer aus Frankreich nach Ostpreußen verlegt worden. Ich erinnere mich noch genau an die Worte, die mein Mann mir in einem Feldpostbrief schrieb: „Wenn ich nach Osten sehe, sehe ich kein Ende.“ Für ihn und die ganze sechste Armee einschließlich seines Regimentes war nach dem Zwischeneinsatz 1942 an der mittleren russischen Front vor Moskau aber sehr bald schon der Untergang in der Vernichtungsschlacht um Stalingrad das Ende. Seine Vermisstenmeldung war auf das Datum seines letzten Briefes aus Stalingrad vom 13. Januar 1943 datiert. Fast zeitgleich mit dem Sieg der sowjetischen Truppen über die 6. Armee des Generals Paulus in Stalingrad war vom 12.-18. Januar 1943 auch in Leningrad nach rund 400 Tagen wahrlich heldenhaften Widerstands (den Schostakovitsch in seiner 7. Symphonie würdigte, Erstaufführung 19.03.1942) die Blockade durchbrochen worden. Doch die Schäden, die der Krieg im Stadtbild hinterlassen hatte, waren 1959 trotz eines erstaunlich schnellen Wiederaufbaus in den in‐ zwischen vergangenen fünfzehn Jahren noch nicht völlig behoben und die Ver‐ letzungen in den Herzen und Köpfen der Menschen in der Zurückhaltung der Bevölkerung gegenüber deutschen Touristen noch immer spürbar. Die Atmo‐ sphäre, der wir in Leningrad begegneten, war weit entfernt von der heiteren Unbekümmertheit Tbilissis. Sankt Petersburg, wie die Stadt ursprünglich hieß und in dem heutigen Russ‐ land auch wieder heißt, war 1703, also zu Beginn des gesamteuropäischen Auf‐ bruchsjahrhunderts der Aufklärung, von Peter I. an der in die Ostsee mündenden Newa, als Tor zum Westen gegründet worden und entwickele sich sehr bald zur Hauptstadt Russlands (ab 1712) und einem städtebaulich durch Barock und 89 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="90"?> Klassizismus geprägten Ensemble von Adelspalästen, Kathedralen und Reprä‐ sentationsbauten. Die besondere Lage zwischen finnischem Meerbusen und La‐ doga-See mit den vielen kleinen Wassertraßen und Kanälen und den berühmten weißen Nächten gab der jungen Stadt zudem ein spezifisches Flair, das man mit dem Zauber Venedigs vergleichen könnte. Die Stadtbesichtigung des ersten Tages - drei Tage waren für den Kurzbesuch insgesamt vorgesehen - stand angesichts der besonderen geschichtlichen Situ‐ ation Leningrads im 20. Jahrhundert unter dem Vorzeichen zweier mit dem Namen der Stadt verbundener welthistorischer Ereignisse: der erfolgreichen Verteidigung der Stadt im „Großen Vaterländischen Krieg“ - wie der offizielle Terminus dieses Krieges in der SU lautet - gegen die deutschen Angreifer und dem Beginn der Oktoberrevolution 1917 unter der Führung Lenins. Und so be‐ gannen wir auch nach einem Rundblick vom Newa-Ufer vor allem auf die ge‐ genüberliegende Peter- und Paul-Festung, gewissermaßen auf das Wahrzeichen der Stadt, mit dem Besuch des Panzerkreuzers Aurora, dessen Kanonenschüsse am Abend des 9. November (nach alter Rechnung am 25. Oktober) 1917, dem Plan Lenins zum bewaffneten Aufstand folgend, das Signal zum Angriff auf das Winterpalais gaben. Nach der Besichtigung der Aurora ging es über die Kirow‐ brücke die Uferpromenade lang zum Schlossplatz, der für Leningrad die gleiche Bedeutung hat, wie der Rote Platz für Moskau. Hier finden an nationalen Fei‐ ertagen die großen Kundgebungen statt. Hier entschied sich 1917 mit dem Sturz der Provisorischen Regierung, die sich im Winterpalais - bis Februar 1917 der Residenz der Zaren - verschanzt hatte, das Schicksal des zaristischen Russlands und in gewisser Beziehung die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert bis zum Mauerfall in Berlin am 9. November 1989 und dem damit verbundenen Zusam‐ menbruch des sozialistischen Ostblocks. Aber als ich 1959 mit meinem Mann Robert hier stand, überwogen die Ver‐ gangenheit und die Hoffnung, dass der erfolgreiche Sturm der russischen Ar‐ beiter und Soldaten auf das Winterpalais das Tor zu einer sozial gerechteren Zukunft aufgestoßen hatte. Die Ausmaße dieses acht Hektar großen Platzes selbst und die geballte Wucht der den Platz nach Norden und Süden säumenden riesigen architektonischen Prachtbauten, Winterpalais und Eremitage auf der einen Seite, das riesige 600 m lange Halbrund der zwei durch eine Art Triumph‐ bogen verbundenen Gebäude des Generalstabes auf der anderen und die fast fünfzig Meter hohe, aus einem granitenen Monolith gehauene Alexandersäule in der Mitte verstärkten dieses Gefühl der Zuversicht in die Zukunft. Ein Volk, das es geschafft hatte, solche Werke auf dem unsicheren morastigen Boden dieses Geländes zu errichten, hatte vielleicht auch die Kraft, die Welt zum Bes‐ seren zu verändern. Und auch die Selbstreinigung der Partei durch Chruscht‐ 90 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="91"?> schows Rede auf dem zwanzigsten Parteitag leistete einer solchen optimisti‐ schen Sicht Vorschub. Die weitere Stadtrundfahrt intensivierte zudem den Eindruck des Überdi‐ mensionalen, den dieser Platz hinterließ, ein Eindruck, den mir schon in Moskau der Kremlbesuch vermittelt hatte. Und ein zweiter kam hinzu: der einer ebenso überdimensionalen Prachtentfaltung, als ob es gelte, Europa, die Welt und vor allem das französische Vorbild zu überbieten. Denn der französische Hof war zumindest im 18. Jh. vor allem für Katharina die Große das unbestrittene Vorbild. Was für Friedrich den Großen Voltaire als arbiter litterarum bedeutete, galt für Katharina in allen Kulturfragen Diderot. Unsere weitere Fahrt führte uns nach einem Blick auf den imposanten Bau der Admiralität - des Repräsentationsbaus für die Seefahrtsansprüche des Landes - deren 72 m hohe vergoldete Nadel man schon vom Schlossplatz aus im Westen sehen konnte - über den Dekabristenplatz, vorbei an dem Ehernen Reiter, einem von Katharina der Großen zu Ehren Peters I. errichteten Stand‐ bildes zur Isaak-Kathedrale mit ihrer monumentalen Kuppe - der drittgrößten in der Welt, wie unsere Stadtführerin mitteilte - auf den Newski Prospekt, den längsten und bekanntesten Boulevard Leningrads. Ein Besuch dieser Straße war für Leningrad ebenso obligat wie für Paris ein Besuch der Champs-Élysées oder für Berlin des Kudamms. Außer den architek‐ tonisch interessanten Gebäuden, wie der Kasan-Kathedrale, finden sich hier auch Geschäftshäuser, Verlage und eine der größten Bibliotheken des Landes. Dass Kirchen und Kathedralen 1959 zum größten Teil nicht mehr als Gottes‐ häuser, sondern als Museen dienten - so z. B. die Kasan-Kathedrale als Museum für Religions- und Atheismusgeschichte - soll angemerkt werden. Wir müssen auf dem Newski-Prospekt auch ein ganzes Stück zu Fuß lang geschlendert sein, denn ich erinnere mich deutlich an ein anderes Erlebnis, das zu Pracht, Prunk, Größe und letztlich auch oft überwältigender Schönheit der Bauten in einem verblüffenden Kontrast stand: den Anblick der öffentlichen Toiletten. Sie standen keineswegs versteckt, sondern deutlich sichtbar an der Straße, relativ enge, viereckige Kästen aus Holz, deren Türen jedoch vorn nicht bis auf den Boden reichten, so dass man die Füße und ein Stück der unteren Beine der Be‐ nutzer sehen konnte. Und solche Kontraste sind mir bei späteren Besuchen des Landes immer wieder aufgefallen, z. B. 1982 bei einer Sibirien-Mittelasienreise, als wir ein Elektrizitätswerk besuchten. Den Betonboden der - wiederum rie‐ sigen ! - mit modernsten Maschinen ausgestatteten Halle fegten einige Frauen mit Hilfe von Strohbesen, wie man sie bisweilen auch bei uns noch heute für die Reinigung von Gartenwegen oder Hausterrassen benutzt. 91 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="92"?> Am Ende der Besichtigungstour erwartete uns noch ein besonderes Erlebnis: ein Besuch der Peter-Paul-Festung, die ja in mehrfacher Hinsicht eng mit der Geschichte des Landes verbunden ist. Hier hatte Peter I. am 16. Mai 1703 den Grundstein für die als Bollwerk gegen die Schweden gedachte neue Festung gelegt und damit für die künftige Metro‐ pole und Residenzstadt des Zarenreiches. Es handelte sich um eine sechseckige Anlage, die sich im Grundriß ungefähr der Form der kleinen Insel, auf der sie erbaut wurde, anpasste. Die sechs Bastionen wurden durch eine doppelte Mauer von unterschiedlicher Höhe und Stärke, aber ungewöhnlicher Dicke mitein‐ ander verbunden und die beiden Brückenzugänge zusätzlich gesichert. Ein Ent‐ kommen von dieser Festung war unmöglich und es ist auch nie einem Gefan‐ genen gelungen von hier zu fliehen. Die Festung verlor sehr bald ihren militärischen Charakter und diente 200 Jahre lang vor allem als Gefängnis für politische Gefangene. Unter ihnen finden sich auch bekannte Namen, wie der des unglücklichen Sohnes von Peter I., Zarewitsch Alexis, der hier nach Teil‐ nahme an einem Komplott der Bojaren gegen die Reformen seines Vaters in einer der Kasematten exekutiert wurde. Innerhalb des Festungsgürtels stehen mehrere mit der ursprünglichen Funktion der Anlage verbundene Gebäude, wie ein Kommandantenhaus, ein Munitionsdepot und ein Offiziershaus. Architek‐ tonisch das wichtigste Gebäude ist jedoch die in einem relativ einfachen Ba‐ rockstil erbaute Peter-und-Paul-Kathedrale und vor ihr sind wir stehen ge‐ blieben, um sie zunächst von außen zu betrachten. Ihr mehrgliedriger, über dem Eingangsportal aufgipfelnder Glockenturm war wirklich eindrucksvoll. Mit seiner doppelten Haube und seiner, wie auf der Admiralität, darauf gesetzten, fast 40 m hohen, natürlich vergoldeten Spitze, die von einem ebenfalls vergol‐ deten Engel als Wetterfahne bekrönt ist, war er lange Zeit der höchste Turm im ganzen Lande. In der Kirche befindet sich die Fürstengruft, wie man in Öster‐ reich sagen würde, d. h. hier sind fast alle Zaren beigesetzt, einschließlich Peters I. Kunsthistorisch am wichtigsten aber ist die aus Eichenholz geschnitzte und mit Gold überzogene Ikonostase, ein wirkliches Prachtstück typisch russischen Kunsthandwerks. Bei aller Bewunderung für das technische und künstlerische Können, das die gesamte Anlage dem Besucher abnötigt, ich war doch froh, als wir die Festung wieder verließen. Denn irgendwie haftet solchen Stätten stets etwas Unheimliches an, ein Hauch von Mord und Tod. Der zweite Leningrader Tag war nur für die Eremitage vorgesehen und für die meisten ausländischen Besucher ist dieses Museum der Hauptgrund einer Städtereise hierher, wie er es auch für mich persönlich war. Mein Interesse für Architektur und Malerei war während des Studiums in Prag durch die Studienexkursionen nach Florenz und Venedig mit unserem Ita‐ 92 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="93"?> lienisch-Lektor, Prof. Bischof, geweckt worden und natürlich auch durch die Gespräche mit meinem ersten Mann, dessen zweites Studienfach Kunstge‐ schichte war. Das gesamte staatliche Museum der Eremitage, eines der größten und be‐ deutendsten Museen der Kunst- und Kulturgeschichte der Welt, besteht heute aus sechs Abteilungen, die angefangen von der Kulturgeschichte der Urgemein‐ schaft, über die russische Kultur- und Kunstgeschichte, sowie die der Völker des Orients und der Antike, auch die Numismatik und die westeuropäische Kunst umfassen, so dass man auch sagen könnte, die Sammlungen umspannen Jahr‐ tausende vom Paläolithikum bis Picasso. Untergebracht sind diese Sammlungen vor allem im Winterpalais, das mit seinen unendlich vielen Sälen erst seit 1946 voll als Museum dazu gehört, sowie in der anliegenden Kleinen, Großen und Neuen Eremitage. Den Grundstock der Eremitage legte wie bei vielen, z. B. auch den bedeu‐ tendsten italienischen Museen, eine Privatsammlung, in diesem Fall der Zaren‐ familie, die schon Peter I. begonnen hatte. Als offizielle Gründung des Museums jedoch gilt der Ankauf einer reichen Sammlung von Werken vor allem hollän‐ discher und flämischer Meister im Jahre 1764. Durch gezielte Ankäufe erfolgte im Lauf der nächsten Jahrhunderte die ständige Erweiterung der Kunstschätze. Für die Öffentlichkeit in einem bestimmten Maße zugänglich wurde die Eremi‐ tage, die vorher nur der Zarenfamilie und ihren Gäste vorbehalten war, aber erst seit 1852, uneingeschränkt allerdings erst nach der Oktoberrevolution. Der heutige Zugang zur Eremitage erfolgt über das Hauptportal des Winter‐ palais von der Newaseite her. Von da gelangt man über die Haupttreppe zu den ehemaligen Repräsentationssälen und der langen Flucht der früheren Gemächer der Zarenfamilie. Nach meiner Erinnerung sind wir auch über diese Treppe gegangen, um im ersten Stock die Säle mit den westeuropäischen Kunstwerken vor allem der Malerei zu erreichen. Die Italiener - und sie waren natürlich auch durch Tafeln der berühmtesten Renaissancekünstler wie Leonardo da Vinci, Tizian, Raphael - vertreten, waren für mich mehr eine Wiederbelebung und sicher auch Ver‐ stärkung meines Grunderlebnisses der Geschichte der italienischer Malerei von Giotto bis zur Hochrenaissance, das ich 1937 vor allem in den Uffizien, aber auch im Palazzo Pitti in Florenz hatte. Mein Geschmack und meine Vorliebe in der Malerei wurden dadurch für lange Zeit geprägt. Eine Neubegegnung waren die Spanier - mit El Greco, Velasquez, Murillo. Aber um ehrlich zu sein, ich kann mich an keines ihrer hier ausgestellten Werke im Detail mehr erinnern. Ganz anders die Bilder der holländischen und flämischen Maler. Sie haben mich auch später in anderen Museen, wie dem Louvre in Paris oder dem Dresdener 93 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="94"?> Zwinger immer wieder begeistert. Rembrandt noch mehr als Rubens. Auch wenn von der Pracht der Farben und überquellenden Formen bei Rubens (ich denke an die Galerie Medici mit den 21 Bildern aus dem Leben der Maria von Medici im Louvre) der Eindruck einer unbändigen Lebensfülle ausgeht, die Bilder von Rembrandt mit ihrer Eindringlichkeit in der thematischen Gestaltung oder in der Charakterisierung des ganzen Menschen im Porträt, ihrer ganz spe‐ zifischen Licht und Schattentechnik sprechen mich mehr an. Sie berühren die Seele und erfreuen nicht vor allem die Augen. Mein eigentliches Interesse aber galt den Sälen mit den Werken der franzö‐ sischen Maler vom 18. bis 20. Jahrhundert und da wiederum vor allem den Im‐ pressionisten. Schließlich arbeitete ich seit 1952 an der Herausgabe der Rougon-Macquart von Emile Zola in deutscher Sprache, dem Freund Manets und gewissermaßen literarischem Weggefährten der Impressionisten. Zola, der Begründer des französischen Naturalismus, hatte mit der Gegenstands- und Fi‐ gurenwahl seiner Romane, mit der Darstellung der Masse und des Arbeiters, der Kohlengruben und der Eisenbahnen, der Börse und der Kaufhäuser das moderne Leben mit seinen grundsätzlichen Veränderungen der sozialen Strukturen und materiellen Alltagserscheinungen literaturfähig gemacht. Die Impressionisten hatten durch die Motivsuche ihrer „Freiluftmalerei“ nicht nur die bisherige Maltechnik, sondern vor allem die Thematik der traditionellen Atelierkunst revolutioniert. Daß mir dennoch kein Bild der Impressionisten aus der Eremitage in spezi‐ eller Erinnerung geblieben ist, liegt sicher daran, dass spätere Begegnungen mit ihrer Kunst, wie 1974 der Besuch der Ausstellung im Grand Palais in Paris zum 100. Jahrestag der ersten Impressionisten-Ausstellung mit Manets legendärem „Frühstück im Freien“ oder noch später ihre hervorragende Präsentierung im Musée d’Orsay, diesen Eindruck überlagert haben. Unvergesslich geblieben ist mir jedoch ein anderer Eindruck von der Eremi‐ tage, die Prunktreppe des Hauptaufgangs. Als ich viele Jahre später, erst nach der Wende, eine der berühmtesten deutschen Prunktreppen des Barock in der Würzburger Residenz besichtigen konnte - Hans hatte mir sehr oft von dieser von Balthasar Neumann entworfenen und durch ein Deckengemälde von Tie‐ polo ergänzten Treppe vorgeschwärmt - musste ich auch an die wunderbare Eingangstreppe im Winterpalais denken. Und ein zweiter Eindruck verbindet sich mit meiner Erinnerung an die Ere‐ mitage: die einmalige Farbkombination von Rot, Gold und Grün, wie sie uns im Malachitzimmer entgegentrat. Aber auch sonst begegnete uns in diesem Palais immer wieder das intensiv leuchtende Grün des Malachits, dieses kostbaren Halbedelsteins, in der verschiedenartigsten Verarbeitung. In der Form von 94 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="95"?> Säulen, Vasen, Tischplatten, Amphoren und zeugte unter anderem - wie schon die ausgeschütteten Diamantenberge im Kreml - von dem Reichtum des Landes an kostbaren Naturschätzen. Malachit war seit dem Leningrader Erlebnis mein Liebling unter den Halbe‐ delsteinen - auch wenn sich meine Vorliebe für Steine sonst mit weit beschei‐ deneren Vertretern zufrieden gibt. Ich bringe gern von einer Reise zur Erinne‐ rung irgendeinen Stein mit und wenn es ein ganz einfacher Kieselstein ist. Der dritte und letzte Leningrader Tag war dem Besuch des Peterhofs vorbe‐ halten. Der Petershof liegt 29 km nordöstlich von der alten Stadtgrenze am Fin‐ nischen Meerbusen. Zeitgleich mit der Grundsteinlegung der Peter-und-Paul-Festung wurde 1703 von Peter I. auf der Insel Kotlin, die der Einfahrt in den östlichen Teils des Finnischen Meerbusens vorgelagert ist, auch mit dem Bau der Festung Kronstadt angefangen zum Schutz der heranwach‐ senden Stadt Sankt Petersburg. Da Peter I. diese Arbeiten selbst leitete und er bei schlechtem Wetter für die Fahrten von oder nach Kotlin den längeren Seeweg der Küste entlang nehmen musste, ließ er 1714 mit dem Bau einer Art „Ruhe‐ station“ für mögliche Zwischenlandungen beginnen, woraus nach umfangrei‐ chen Umbauten vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das ein‐ zigartige Ensemble des Peterhofs entstand mit dem zentralen Großen Schloss als Mittelpunkt, seinen verschiedenen kleineren Palais und rund 1000 Hektar dazu gehörender Parkanlagen. Genutzt wurde der Peterhof bis 1918 als Sommerresidenz der Zarenfamilie und danach als Museum für die Öffentlichkeit freigegeben. Er war und ist ob seiner günstigen Lage ein beliebtes Ausflugs- und Erholungsziel für die Be‐ wohner der so nahe liegenden Metropole, vor allem aber ein kunsthistorisches Unikat, das zum Weltkulturerbe gehört. Mit dessen Wiederaufbau wurde sofort nach Kriegsende begonnen, und zum Zeitpunkt unseres Besuches war er auch noch nicht abgeschlossen. Die deutschen Truppen waren im Zweiten Weltkrieg am 13. September 1941 bis hierhin vorgedrungen und hatten das gesamte Gelände des Peterhofs besetzt. Er wurde bis ihrer Vertreibung am 14. Januar 1944 durch die Kriegshandlungen weitestgehend zerstört. Vom Großen Schloß waren nur noch die Grundmauern stehen geblieben, die vorhandenen Kunstschätze - soweit sie nicht rechtzeitig hatten gesichert werden können - geplündert. In Kriegen gehören solche Vorgänge, der Tod von Zivilisten oder Zerstörung und Raub unwiederbringlicher Kunstschätze, zu den sogenannten „Kollateral‐ schäden“, wie sie in allerjüngster Zeit aus dem Irakkrieg bekannt wurden. We‐ niger unentschuldbar werden sie durch solche sprachliche Bagatellisierung 95 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="96"?> 88 Langeweile D.R. nicht. Euphemismen dieser Art gehören bekanntlich zu den Verdrängungsme‐ chanismen des Menschen gegen Bedrohungs- und Schuldkomplexe. Ich habe mich natürlich auch während unseres Besuchs gefragt, ob die Bat‐ terie meines Mannes hier eingesetzt worden war und er dadurch gezwunge‐ nermaßen mitschuldig an dieser Barbarei wurde. Ich kann mich nicht erinnern, dass er in seinen Briefen auf diese kunsthistorisch einmalige Umgebung auch nur irgendwie angespielt hätte. Direkte Ortsangaben duften in Feldpostbriefen ja sicher nicht gemacht werden - aber hätte er als begeisterter Kunsthistoriker ganz darüber geschwiegen? Ich wusste es nicht. Eines allerdings war und ist für mich sicher. Der Krieg gegen die Sowjetunion muß für ihn mit fürchterlichen Erlebnissen verbunden gewesen sein. Kriege sind immer schrecklich. Sie zer‐ stören Menschen nicht nur physisch, sie zerstören sie vor allem auch psychisch. Denn auf dem einzigen Urlaub von der Ostfront im Mai 1942, als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, war er völlig verändert wie ein Mensch, der Schwer‐ stes hinter sich hat und in die Hölle zurück muss. Trotz solcher nicht abweisbarer Gedanken war der Besuch des Peterhofs für mich dennoch ein eindrucksvolles Erlebnis. Die Anlage ist ja auch wirklich ein‐ malig schon durch die geschickte Art der Einbettung des gesamten Ensembles in die Landschaft. Das 1746-1755 von Bartolomeo Rastrelli in einem spezifischen Barockstil umgebaute Große Schloß befindet sich auf einem höher gelegenen Grundstück, dessen Nordabhang sich zum Finnischen Meerbusen hin erstreckt. Von der Terrasse vor dem Schloß schweift der Blick über die am Abhang er‐ richtete Große Kaskade, das Große Becken und den anschließenden, wiederum von Fontänen umsäumten gradlinigen Kanal bis hin zu einer Landestelle am Meerbusen. Zur Zarenzeit wurden über diesen Kanal die Ehrengäste auf Kähnen zum Schloß gebracht. Natürlich war - wie im 18. Jahrhundert üblich - das Vorbild solcher Schloss‐ anlagen großen Stils das Versailles Ludwigs XIV., das Symbol absolutistischer Prachtentfaltung, das man an Prunk und Pracht möglichst noch übertreffen wollte und in vielerlei Hinsicht, vor allem in der Verschwendung von Gold, im Peterhof auch übertraf. Ich hatte Versailles vier Jahre vorher besucht. Auch hier gab es einen Kanal, der bei Festen in die Veranstaltungen, Gesellschaftsspiele und Vergnügungen der Hofgesellschaft einbezogen wurde. Denn ein vor allem auf Repräsentati‐ onserhöhung für den Herrscher reduzierter, seiner eigentlichen Funktion als Grundherr aber enthobener und folglich unbeschäftigter, sich also langwei‐ lender nur noch an den Hof gebundener Adel - „ennui“ 88 ist eine Grundvokabel 96 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="97"?> dieser Gesellschaft - musste abgelenkt werden. Die Herbeischaffung des not‐ wendigen Wassers für diesen Kanal, sowie für die gesamte Schlossanlage aus der Seine erforderte von Ludwig XIV. einen großen finanziellen Aufwand. Für den Peterhof mußte ebenfalls eine besondere Wasserzuleitung gebaut werden, die, hydraulisch selbstfließend geschickt angelegt, noch bis heute funktioniert. Der Vergleich mit Versailles drängte sich im Peterhof aber auch sonst auf, nicht zuletzt durch die französischen Namen für andere, im Krieg ebenfalls zer‐ störte Schlösser im unteren Park, wie Monplaisir, dem vergleichsweise beschei‐ deneren Lieblingsschlösschen Peters I., dem Schlösschen Marly oder dem Eremitage-Pavillon, von denen die Reiseführerin uns aber nur berichten konnte, weil sie noch nicht wieder hergestellt waren. Unsere Reiseführerin erzählte natürlich auch von den hydraulischen Scherzen, die sich die Konstrukteure und Baumeister des Peterhofs für dessen Gäste ausgedacht hatten. Wie z. B. von den Bänken, die zum Ausruhen ver‐ lockten, den unvorsichtigen Gast, der sich darauf niederließ, aber gründlich mit Wasser besprengten. Solche Scherzanlagen waren bei der führenden Gesell‐ schaft jener Zeiten sehr beliebt. Dieselben Fachleute, die solche Scherze konstruierten, schafften es aber auch durch geschickte Nutzung der Geländeunterschiede alle Springbrunnen, Teiche und Wasserspiele ohne die Zuhilfenahme irgendwelcher zusätzlicher Pumpen oder Wasserdruckanlagen hydraulisch zu betreiben. Sollte ich sagen, was mich beim Besuch des Peterhofs insgesamt am meisten beeindruckt hat, so ist es, außer dem Blick auf die „Enfilade“, d. h. auf die schier endlose Reihe der Prunksäle, dennoch die Große Kaskade mit ihren Wasser‐ spielen und Fontänen und ihrer überreichen Ausschmückung mit vergoldeten Figuren und Vasen. Gold und im Sprühregen der Fontänen regenbogenfarbig aufblitzende Lichteffekte, das ist es, was ich als eigentliches Wahrzeichen vom Petershof in Erinnerung habe. Mit den in vieler Hinsicht bewegenden Eindrücken dieses letzten Tages war unsere Reise zu Ende. Am nächsten Morgen flogen wir über Moskau zurück nach Berlin. 3.3 Gastvortrag in Moskau 1959 Dieser relativ kurze Text ist einer der letzten, aus dem Jahr 2012. Die Datei trägt das Datum 1.6.2012 und hat noch vier Varianten, die sich jedoch nur minimal von‐ einander unterscheiden und Vorarbeiten enthalten. Zu einer ersten wissenschaftlichen Begegnung mit der Romanistik an der Mos‐ kauer Universität kam es relativ spät. Im Dezember 1959. Zwar hatte ich ihren 97 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="98"?> damals führenden Vertreter, den Lehrstuhlinhaber für Germanisch-Romanische Literaturwissenschaft, Professor Roman Michailowitsch Samarin, schon vorher in Berlin gesehen, aber leider nicht persönlich sprechen können. Für meine Habilitationsarbeit musste ich mich, zur theoretischen Fundierung der Realismus-Naturalismus-Diskussion in den frühen 50er Jahren, mit den von den sowjetischen Spezialisten vertretenen Auffassungen beschäftigen. Und da ja nicht alle wichtigen Beiträge dafür auf deutsch in der Zeitschrift „Kunst und Literatur“ erschienen, lernte ich „mit heißem Bemühen“ ein Jahr lang russisch. Meine Tschechischkenntnisse einerseits und mein kleines Gräcum hinsichtlich der Schrift andererseits halfen dabei. Immerhin brachte ich es so weit, dass ich einschlägige Fachtexte mit Hilfe des Wörterbuchs lesen konnte. Von dieser Lek‐ türe wusste ich, dass Samarin der für Balzac entscheidende Spezialist war und ich wollte ihn natürlich sprechen, als es hieß, dass er nach Berlin kommt. Aber für eine solche direkte Begegnung qualifizierte mich zu diesem Zeitpunkt nichts, aber auch gar nichts. Denn zwischen dem berühmten Roman Michailowitsch und der noch nicht einmal habilitierten Rita Schober lagen Welten. Doch ich hatte erfahren, dass er in der Johannisstraße im Hotel Johannishof wohnte und machte mich auf den Weg, um ihn dort aufzusuchen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich einen sowjetischen Kollegen, nach den damaligen Gesetzen seines Landes, mit einem solchen inoffiziellen Besuch wegen unerlaubter privater Auslandskontakte in Schwierigkeiten brachte. Diesen Grund für sein für mich merkwürdiges Verhalten habe ich erst viel später erfahren. Davon, mich zu empfangen oder mit mir gar zu reden, konnte natürlich keine Rede sein. „Er habe keine Zeit, ich solle mich offiziell - bei wem, weiß ich nicht mehr - wegen eines Termins anmelden“, so die Auskunft am Telefon beim Pförtner in der Empfangshalle. Ich kann allerdings auch nicht sagen, dass mich Roman Michailowitsch Sa‐ marin 1959 bei meinem offiziellen Besuch in Moskau besonders freundlich auf‐ nahm. Zumindest schien es mir so. Dafür aber hatte ich eine reizende Betreuerin, Irina Leonidowna Bjelokon‐ jewa, die spätere Gattin von Stephan Hermlin. Ihr Vater war Dekan an der Technischen Hochschule in Moskau. Irina hatte Germanistik studiert und im Frühjahr des Jahres ihr Staatsexamen abgelegt. Sie sprach nicht nur ein ein‐ wandfreies Deutsch, sondern bemühte sich auch redlich, mir von ihrer Stadt trotz der mehr als 30 Grad Kälte - mein Besuch erfolgte im Dezember - in dem einen Tag, der mir dafür blieb, ein paar nicht zu dem üblichen touristischen Pflichtprogramm gehörende interessante historische Ecken zu zeigen und na‐ türlich auch von den Leninbergen aus, wo der neue Universitätsbau stand, den wunderbaren Blick auf die an ihrem Fuß im Tal, an der Wolga liegende Stadt. 98 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="99"?> 89 Ich hatte diese Thematik schon ein Jahr vorher bei einer Gastvorlesung in Heidelberg bei Prof. Kurt Baldinger als Vortrag erprobt. Vgl. Réalité und vérité bei Balzac und Zola, BRPh (1961) I, S. 116-142 ; II ib. (1963) 1, S. 127-138 Dieser Ausflug auf die Leninberge hat sich mir noch aus einem anderen Grund eingeprägt. Während ich in den Anblick der tief verschneiten Stadt versunken war, rief Irina plötzlich ganz aufgeregt: „Reiben Sie, reiben Sie“, Ihre Nase! ! ! “ Sie war schon, von der Kälte erstarrt, ganz weiß geworden. Gegen Erfrieren der Extremitäten half auch mein dicker, warmer Pelz nicht. Also eilten wir in die Uni hinein, um im Professorenrestaurant einen heißen Tee zu trinken und uns aufzuwärmen. Doch daraus wurde nichts! Denn unter meinem Pelz schaute bei diesen Temperaturen natürlich kein Frauenröckchen hervor, sondern lange „Männer“- Hosen, weshalb mir der diensthabende Ordnungshüter an der Tür den Eintritt verweigerte und alle Erklärungen Irinas über „ausländische Gast‐ professorin und Ähnliches“ nichts halfen. Wir durften nicht eintreten. Zum Glück fand meine Gastvorlesung am nächsten Tag in den Räumen der Romanistik statt, die sich noch in dem alten Universitätsgebäude unten in der Altstadt befand, so dass es keine Probleme mit einem Türhüter wegen meines Anzugs gab. Bei den Besuchen sowjetischer Wissenschaftler wie Samarin in Berlin hatte ich den Eindruck gewonnen, dass sie immer lange Vorträge hielten. Also meinte ich natürlich, auch meinerseits mit einer sehr langen Vorlesung aufwarten zu müssen. Die halb sprachwissenschaftlich, halb literaturtheoretisch angelegte Untersuchung zu den Begriffsdefinitionen von „réalité“ und „vérité“ bei Balzac und Zola, die gut zwei volle Doppelstunden in Anspruch nahm, schien mir dafür geeignet. 89 Außerdem bot sie die Möglichkeit einer anschließenden theoreti‐ schen Diskussion, um die es mir gerade mit Samarin als kompetenten Realis‐ musspezialisten ging. Daß ich die armen Studenten - und es waren wirklich viele erschienen - schon vom Zeitaufwand sinnlos überforderte, wurde mir spätestens nach der ersten Stunde klar. Aber auch Samarins Interesse schien sich in Grenzen zu halten, denn er verließ mehrfach den Raum, um an einer gleich‐ zeitig an diesem Nachmittag stattfindenden Sitzung der Philologischen Fakultät teilzunehmen. In der dann doch noch zustande gekommenen Diskussion rich‐ teten sich die Fragen zu Zola vor allem auf biographische Details und Samarin vertrat zu meinem größten Erstaunen die Ansicht, dass sie für das Verständnis eines Werkes von genau solchem Interesse wären wie die theoretischen Posi‐ tionen des Autors. Ich war eigentlich ganz froh, als ich am vierten Tag nach meiner Ankunft das Flugzeug besteigen konnte, um Moskau in Richtung Bukarest zu einer weiteren Gastvorlesung zu verlassen. 99 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="100"?> 90 Vgl. zu diesen insgesamt vier Bänden R.Sch., Gedanken zur Problematk einer „Ge‐ schichte der französischen Literatur“, in ZRPh II.Jg. 1964, H.2, S. 126-140. 91 Jan Ottokar Fischer, Francouská literatura (Struċný nástin vývoje), druhé, rozŝířené vydání, Orbis. Praha 1964; Französische Literatur im Überblick. Hg. v. Rita Schober u. Autorenkollektiv, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1970, 2. Aufl.1977. Cf. die Kritik dieser Literaturgeschichte und meine Stellungnahme dazu in: Dorothee Röseberg (Hrg.). Frankreich und das andere Deutschland. Analysen und Zeitzeugnisse. Cahiers lendemains, Bd. 1, Stauffenburg Verlag Brigitte Narr GmbH, Tübingen 1999, S. 495-541 3.4 Studienaufenthalt in Moskau Dieser Text ist über mehrere Jahre hinweg geschrieben, das älteste Datum ist der 2.2.2010, das jüngste Datum zeigt eine Datei mit dem Verweis auf den 9.11.2013 an. Wie diese Datierung nach dem Tod Rita Schobers zu erklären ist, konnte nicht erhellt werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass Rita Schober von 2010 bis 2012 an diesem Kapitel immer wieder gearbeitet hat. Fünf Jahre später, April-Mai 1964, also noch in der „Tauwetterperiode“ kam ich wiederum nach Moskau, diesmal zu einem Studienaufenthalt von drei Wochen und begleitet von zwei Assistenten, Christa Bevernis und Hans-Jürgen Hart‐ mann. Es ging darum zu prüfen, ob es machbar wäre, die vom Gorki-Institut für Weltliteratur bei der sowjetischen Akademie der Wissenschaften unter der Lei‐ tung von Akademiemitglied Anissimow herausgegebenen, sehr umfangreichen zwei Bände der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts 90 , die unserem In‐ stitut als Manuskript in einer deutschen Rohübersetzung vorlagen, nach ent‐ sprechender Bearbeitung entweder in Auszügen oder in gekürzter Form als Handbuch für Studienzwecke zu veröffentlichen, da eine marxistische Darstel‐ lung für dieses Jahrhundert - und als solche galten natürlich die beiden Aka‐ demiebände - in deutscher Sprache nicht vorlag, dem 19.Jh. aber nach den gül‐ tigen Studienplänen zentrale Bedeutung zukam. Dieses Vorhaben erwies sich am Ende insgesamt als nicht realisierbar, so dass wir uns statt dessen, um überhaupt wenigstens eine literaturgeschichtliche Überblicksdarstellung zu haben, für die Bearbeitung der von Jan Ottokar Fischer 1964 in tschechischer Sprache veröffentlichten Geschichte der französischen Literatur entschieden - trotz aller Bedenken gegen ihre als marxistisch ge‐ dachten, oft nur schematischen gesellschaftlichen Etikettierungen. 91 Nach der Wende bin ich von einer Reihe Kollegen gefragt worden, warum wir angesichts dieser offensichtlichen Mängel nicht eine eigene Arbeit in An‐ griff genommen haben/ hätten. Ich möchte mir zu dieser Frage einen kleinen Exkurs erlauben. Wie wichtig es ist, für das Studium einer Nationalliteratur wenigstens einen relativ kurz gefassten Überblick über die ganze Geschichte zur Verfügung zu 100 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="101"?> haben, wusste ich aus eigener Erfahrung. Wir mussten in Prag nach den ersten zwei Semestern Französischstudium eine Prüfung zur Literaturgeschichte mit Erfolg ablegen, um im dritten Semester an dem Proseminar überhaupt teil‐ nehmen zu dürfen. Bei dieser Prüfung ging es vor allen Dingen um die Kenntnis der wichtigsten Autorennamen, Werktitel, Lebens- und Erscheinungsdaten und damit um ein Gerüst chronologisch geordneter Fakten. Als Grundlage dafür diente die nach jedem Abschnitt ein dementsprechendes Résumé enthaltende Histoire de la Littérature Française des Akademiemitglieds René Doumic, die, wie auf dem Einband ausdrücklich stand, „À l’enseigne de la Sorbonne“ bestimmt war. Nun kann man ja eine solche „Paukerei“ als unsinnig verteufeln, aber ich bin auch heute noch - trotz aller pädagogischen und sonstigen modernen Ein‐ wände - der Ansicht, dass die Kenntnis eines solchen historischen Gerüsts die Voraussetzung für jedes tiefere Verständnis größerer Zusammenhänge und damit letztlich auch der spezifischen Details literarischer Werke ist. Ganz ab‐ gesehen davon, dass man eine solche Überblicksdarstellung auch als Nachschla‐ gewerk braucht. Also, eine Überblicksdarstellung war auf jeden Fall nötig, mit oder ohne die Übernahme des 19. Jh. aus dem Moskauer Akademieband. Daß bei unseren Studenten angesichts der damaligen Situation auf dem Ge‐ biet der einschlägigen Sekundärliteratur tatsächlich ein Bedarf für ein solches Buch vorhanden war, zeigt die vom Verlag 1977 trotz aller Mängel des „Fischer“ - allerdings ohne meine Kenntnis und Zustimmung - herausgebrachte not‐ wendig gewordene Nachauflage. Eine eigene Überblicksdarstellung hätten wir mit dem bescheidenen Mitarbeiterstab unseres Instituts zu jenem Zeitpunkt gar nicht erarbeiten können und die Leipziger Kollegen waren voll in die Aufklä‐ rungsforschung von Werner Krauss integriert. Ein bescheidener Versuch jedoch, wenigstens eine Art Überblick über einige Vertreter des „Höhenkammkanons“ des 19. Jhs., einschließlich des Übergangs zum 20., mit Hilfe gezielt angesetzter Dissertationen zu erarbeiten, war schon in den 50er Jahren von mir ins Auge gefasst worden, aber, zumindest teilweise, gescheitert. Zum einen war die Zahl der möglichen Doktoranden durch die ge‐ ringen Studentenkontingente sowieso eingeschränkt (Lehramtskandidaten 20 pro Jahr, Diplomanden 5, später alle zwei Jahre je 3). Zum anderen kam gerade 101 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="102"?> 92 Promoviert haben: Christa Bevernis (Balzac; Habilitation Flaubert), Gerhard Schewe (Romain Rolland), Horst Müller (Henri Barbusse), Jürgen Papenbrock (Paul Eluard); selbst beteiligt war ich mit den Arbeiten zu George Sand, den Romanen Maupassants, der Habilschrift zu Zola und zu Aragons Karwoche. Die DDR verließen aus mir im Detail nicht bekannten Gründen: Annemarie Pohle (Chateaubriand), Gertraude Cholière, Helmut Keßler (Novellen Maupassants; die Arbeit wurde unter der Leitung v. Prof. Maurer in der BRD zu Ende geführt und publiziert). 93 Rita Schober, Zur Problematik literarhistorischer Perioden (franz.) in Actes du Colloque international de Civilisations et Langues Romanes, Bucarest 1959, S. 102-107; ds. Zur Frage kunsthistorischer Termini, in : Acta litterari, Budapest 1962, S. 93-94 94 Vgl. Note 4 95 Vgl. Briefwechsel zwischen Rita Schober, Victor Klemperer und Werner Krauss, lende‐ mains, 33.Jg. 2008, Nr. 130/ 131, Klemperers Brief vom 19.7.54, S. 231 in jenen Jahren der nicht vorhersehbare Verlust von Studierenden hinzu, die aus persönlich unterschiedlichen, oft politischen Gründen die DDR verließen. 92 Und daß mich theoretische Probleme der Literaturgeschichtsdarstellung seit Ende der fünfziger Jahre beschäftigten, zeigen zwei Beiträge auf internationalen Konferenzen, an denen ich gemeinsam mit Werner Krauss teilgenommen habe: mein Diskussionsbeitrag zu den vor allem von Giuseppe Petronio vorgetragenen Thesen auf dem internationalen Kolloquium 1959 in Bukarest und 1962 meine Bemerkungen „Zur Frage kunsthistorischer Termini“ auf der internationalen Konferenz zur Komparatistik in Budapest. 93 Die einschlägige Gesamtproble‐ matik habe ich schließlich ausführlich in der Rezension zur Literaturgeschichte des Gorki-Instituts für Weltliteratur 1964 in unserer Zeitschrift behandelt. 94 Nun könnte man natürlich noch fragen, ob es angesichts des Scheiterns un‐ seres Plans, das vom Gorki-Institut für Weltliteratur erarbeitete 19. Jh. als Stu‐ dienbuch zu übernehmen, nicht möglich war, die seit 1956 vorliegenden beiden Bände Klemperers zum 19. Jh. als Lehrbuch einzusetzen. Diese Frage berührt u. a. das Verhältnis der beiden führenden Romanisten der DDR in den 50er Jahren. Die von Klemperer anfangs der 20er Jahre des 20. Jh. geschriebene, noch heute mit Gewinn und auch Vergnügen lesbare Darstellung des 19. Jh. - die wegen der Behandlung der damaligen modernsten Literatur zu ihrer Zeit gera‐ dezu ein - oft als Journalismus verschriener Tabubruch! war - entsprach na‐ türlich nicht der Forderung nach einem marxistischen Lehrbuch. Zwar hatte Klemperer sich redlich bemüht, bei der Neuherausgabe, soweit es ihm vertretbar schien, Korrekturen vorzunehmen. Es empfiehlt sich dazu seine einschlägigen Tagebucheintragungen aus dieser Zeit, seine Vorworte zu den Wiederauflagen und unseren Briefwechsel zu lesen. 95 Aber die Grundanlage, mit Hilfe von Trä‐ gerfiguren die Charakteristika der verschiedenen historischen Perioden zu er‐ fassen, war geblieben und wurde vor allem von Werner Krauss, dem führenden marxistischen Romanisten, prinzipiell abgelehnt und als idealistisch kritisiert. 102 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="103"?> 96 Werner Krauss. Das wissenschaft6liche Werk, Bd. 5, Aufklärung I. Frankreich, hg. v. Winfried Schröder, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, 1991, S. 329-348. Editorische Anmerkungen: Renate Petermann u. Peter-Volker Springborn, S. 698-702. Auslöser dieser prinzipiellen Kritik an dem theoretischen Konzept war bereits der 1954 von Klemperer zur französischen Literatur des 18. Jhs. veröffentlichte I. Band „Das Jahrhundert Voltaires“, der mit seiner voll auf Voltaire bezogenen Gliederung viel konsequenter als das schon vorher erarbeitete 19., dieses Prinzip durchhielt und damit dem Verdikt der Unwissenschaftlichkeit anheim fiel. Hier fehlt eine Fußnote aus der Version des Textes vom 3.2. 2010, in der es heisst: Einen im Auftrag des Kindler Verlags in Zürich für die Enzyklopädie „Die Großen der Weltgeschichte“ neu geschriebenen Essay über Voltaire beginnt Krauss jedoch mit den Sätzen: „Man hat schon öfter gesagt, Voltaire stehe für sein ganzes Jh.. Er war, für sich allein, eine geistige Großmacht.“ (Allerdings ohne Klemperer zu nennen.) Und endet mit den Sätzen: „Voltaire steht in der Tat für sein Jahrhundert. Ohne ihn wäre es um seine wirkungsmächtigste, in ganz Europa fast sechs Jahrzehnte lang vernehmbare Stimme ärmer gewesen.“ 96 Doch schon allein der Aufbau der jeweiligen Artikel zeigt die unterschiedlichen Posi‐ tionen: Klemperer beginnt nach der vita mit dem Lyriker, und verzeichnet die kleinen Romane unter „Dichterischem Journalismus“, in dem Voltaire allerdings „schlechthin ein Genie“ ist und beendet die Werkanalyse mit dem Mann der Wissenschaft. Krauss beginnt nach der vita mit Voltaires nicht ganz eindeutigem Verhältnis zur Religion und damit zum Materialismus und lässt danach den Historiker und den Erzähler folgen (den er an die „Wanderromane“ anschließt! ) und behandelt dann den Dramatker und Dichter und endet mit dem Briefschreiber. Hier setzt die Fassung von 2013 wieder ein: Klemperers Trägerprinzip kollidierte zudem mit der in der Geschichtswis‐ senschaft fast gleichzeitig geführten Diskussion um die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte, deren Überbetonung wiederum vor allem einer schemati‐ schen Auffassung autonom abrollender, ökonomisch bedingter historischer Pro‐ zesse zuwiderlief. Gegen Klemperers 19. konnte man auf Grund der aktuellen literaturwissen‐ schaftlichen Diskussion auch noch eine Reihe anderer Einwände ins Feld führen. So fasste er z. B. die erste Jahrhunderthälfte insgesamt unter dem literarischen Schulenbegriff „Romantik“ zusammen und subsumierte in dem Kapitel „Ro‐ mantik im Umbau“ sowohl Historiker (wie Thiers und Michelet), utopische So‐ zialisten! (Saint-Simon, Lamenais, Fourier), den Philosophen Auguste Comte, so wie die nach der marxistischen Auffassung als kritische Realisten einzustu‐ fenden Prosaautoren Balzac und Stendhal, und pêle-mêle mit ihnen George 103 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="104"?> 97 Cf. Victor Klemperer. LTI, Notizbuch eines Philologen. Verlag Philippe Reclam, Leipzig 1947. Mit dieser Arbeit hatte Klemperer an Hand der gesprochenen Sprache des Dritten Reiches, gewisser Maßen am lebenden Objekt, die Richtigkeit des Satzes von Marx in den Grundrissen (ME, Bd. 3., S. 390): “Die Sprache selbst ist ebenso das Produkt eines Gemeinwesesn, wie sie in anderer Hinsicht selbst das Dasein des Gemeinwesens und das selbst redende Dasein des Gemeinwesens ist“ bewiesen. (Unterstreichung, R. Sch.) Sand, Mérimée und den Trivialautor Eugène Sue und hängte auch noch Baude‐ laire an, dessen Bedeutung nicht auf einem Umbau der Romantik, sondern auf der Begründung der zukunftsweisenden neuen Richtung beruhte. Den geforderten Neuansatz für die literaturgeschichtliche Lehre konnte Klemperers Darstellung des 18. und 19. Jhs. nicht erfüllen. Sein bleibendes Ver‐ dienst lag auf einem anderen Gebiet, in dem Aufspüren des ideologischen Ge‐ halts der politischen „Sprache des Dritten Reiches“ (LTI, 1947) 97 . Durch deren Reinigung von dem Unrat des Faschismus wollte er wie Krauss, der dieses Ziel mit einer marxistisch fundierten Aufklärungsforschung verfolgte, zu einem kulturellen, geistigen Neuanfang beitragen, in anderer Weise, aber von dem‐ selben politischen Willen erfüllt. Dass deshalb gerade um die Aufklärungsfor‐ schung der Dissenz zwischen beiden Gelehrten aufbrach, war ein mehr als be‐ dauerliches Missverständnis. 104 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="105"?> 98 Diese Formulierung gebraucht Werner Krauss im Titel eines 1968 veröffentlichten Es‐ says. W.K., Essays zur französischen Literatur, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1968, S. 130. “Der Streit der Altertumsfreunde mit den Anhängern der Moderne und die Ent‐ stehung des geschichtlichen Weltbildes“. Der Band beginnt mit einem Essay zu den literarischen Gattungen, dem ein Essay zur französischen Novellistik des 18. Jhs., zur französischen Romantheorie des 18. Jhs. und zum „nouveau roman“, der modernsten Romanentwicklung, folgt, in der Fassung von 2010 ist diese FN länger: Aus den editori‐ schen Anmerkungen v. Renate Petermann und Peter-Volker Springborn zu demselben Essay „Der Streit der Altertumsfreunde usw…“ in der wissenschaftlichen Gesamtaus‐ gabe des Werkes von Werner Krauss, Bd. 5 Aufklärung I (Frankreich), S. 593-616 (s. Note 7), wird jedoch ersichtlich, dass die mit der Formulierung „Entstehung des geschicht‐ lichen Weltbildes“ umrissene Forschungsrichtung ein Schwerpunkt der Arbeitsgruppe zur Geschichte der deutschen und französischen Aufklärung an der Deutschen Aka‐ demie der Wissenschaften von Anfang an (seit 1956) war. Das hieß zugleich Quellen‐ forschung auf Grund der neuen Bibliotheksbestände und die damit verbundene Er‐ schließung neuer geschichtstheoretischer Erkenntnisse in der Literatur des 18. Jhs. (s. editorische Anmerkungen, insbes. 595/ 96). Es ging Krauss zunächst schon um die He‐ rausarbeitung „geschichtliche(r) Weltbilder“ und damit um einen Beitrag zur „Entste‐ hung einer sozialistischen Welterklärung“ (S. 595) und zu „der Vorgeschichte der bür‐ gerlichen Revolution und der Vorbereitung einer sozialistischen Weltenwende“, wie es in einem 1958 erarbeiteten Werbeprospekt für die geplante Schriftenreihe der Arbeits‐ gruppe hieß. (s. ebd.). Die spezifisch literarischen Fragestellungen folgten später, wie auch der Essayband zeigt ein dezidiert literarhistorisch angelegter Band. (Ende Einschub 2010) 99 Cf. Werner Krauss. Lesebuch der französischen Literatur. Teil I. Aufklärung und Revo‐ lution. Hg. v. ders. unter Mitarbeit v. Manfred Naumann. Volk und Wissen, Volkseigener Verlag, Berlin 1952. Natürlich betonte dieses als Auftakt einer neuen Aufklärungsfor‐ schung gedachte Studienbuch die philosophisch-ideologischen Schriften. Klemperer sah in dem Insistieren von Werner Krauss auf dem Beitrag der Aufklärung zur „Entstehung des geschichtlichen Weltbildes“ 98 und der damit verbundenen Betonung der philosophischen Schriften der Aufklärer 99 eine Ver‐ nachlässigung des poetischen Gehalts dieser Literatur. Aber gerade dessen He‐ rausarbeitung lag Klemperer am Herzen. Er wollte der in der deutschen Roma‐ nistik vorherrschenden Verunglimpfung des dix-huitième als „unpoetisches“, folglich vom ästhetischen Standpunkt aus zu vernachlässigendes Jahrhundert als Literaturhistoriker entgegentreten. Für Krauss verbarg sich hinter dieser Vernachlässigung vor allem der von der geistesgeschichtlich depravierten deut‐ schen Literaturgeschichte geführte Kampf gegen ihren aufbrechenden Materi‐ alismus, weshalb er, in der Anfangsphase seiner Forschungen, das philosophi‐ sche Schrifttum in den Vordergrund rückte. Daß sich in den literarischen Werken „inhaltlich“ gesehen - um diesen z. Zt. obsoleten terminologischen Ausdruck zu gebrauchen - die Geschichte eines Volkes niederschlägt, stand jedoch für beide Wissenschaftler fest. 105 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="106"?> 100 Cf. Werner Krauss, Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag, in „Sinn und Form“, 2. Jahr, 1950, 4. H., S. 65-126. Dass Krauss diesen Artikel selbst in einem teils ironischen, teils pathetischen, fast an Nietzsche erinnernden, aber nicht in einem dürren Ge‐ lehrten-Stil geschrieben hat, mag wohl Ausdruck der inneren Bewegtheit und Dring‐ lichkeit des persönlichen Anliegens gewesen sein. 101 Vgl. die Nummern 121,125,126 von „Sinn und Form“ 1924, als es, kurz nach dem l. Weltkrieg, zur Versöhnung der Nationen um ein gegenseitiges geschichtliches Verständnis ging, verteidigte Klemperer seine moderne Literaturgeschichte in einem offenen Brief an Voßler mit eben diesem Argument: „Literatur als Ganzes (ist) ein Korrelat, einer übergeordnete Ergän‐ zung der Geschichte (…) In seiner Dichtung spricht ein Volk aus, was es in jedem Auenblick sein möchte (…) was es zu sein glaubt (…) und was nicht sein möchte (…) Damit ist (…) als Ordnungs- und Inhaltsprinzip der Literaturgeschichte das gleiche vorgeschrieben, was für die Geschichte gilt (…) den Ablauf nationaler Entwicklungen im dichterischen Ideal zu verfolgen.“ Und bei Krauss heißt es 1952 gegen Schluss seiner Einführung in das „Lese‐ buch der Literatur“ zu Aufklärung und Revolution: „In der Literatur ist die un‐ verfälschte Erfahrung einer nationalen Gesellschaft gespeichert.“ Schon 1950 hatte Krauss seinen in „Sinn und Form“ veröffentlichten Grund‐ satzartikel „Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag“ 100 nach der Diag‐ nose der Krise der Literaturgeschichte mit der Feststellung begonnen: „Das Pro‐ blem, wie Dichtung in die Zeit gesenkt ist, steht daher im Zentrum aller ernsten literaturwissenschaftlichen Diskussionen.“ Und zunächst einmal alle gegentei‐ ligen Positionen in einem gründlichen Verriß ad acta gelegt (einer gründlichen kritischen Analyse unterzogen ? ? ? ), um dann den eigenen marxistischen, ge‐ sellschaftswissenschaftlichen Standpunkt den idealistischen geisteswissen‐ schaftlichen Absurditäten - Croce, Walzel, Dilthey! als besonderen Sündenbö‐ cken - entgegenzusetzen. Hier, im Geschichtskonzept selbst, liegt aber auch der eigentliche Dissenz zwischen Krauss und Klemperer. Für Krauss ist Geschichte ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozeß, ausgelöst durch Interessenwiedersprüche von Klassen, angelegt auf Progreß, mit dem Telos der Freiheit des Individuums in der Ge‐ meinschaft und durch sie. 101 Für Klemperer ist Geschichte Wandel, Wechsel und Wiederholung in der Dauer der Zeit, die sich im Werke in Inhalt und Form niederschlagen und auch in Typologien, psychologischen oder ästhetischen, fassbar sind (wie Barock oder Rokoko in Walzels, für das Ganze einer Kunstperiode verwandten Termino‐ logie). 106 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="107"?> Vor allem aber war für Klemperer die Spezifik der Literatur ihre Verfasstheit als Sprach-Kunst-Werk und der Weg zu ihrer Entschlüsselung begann mit der Analyse der Sprache. Auf der Sprache eines literarischen Werkes, gefasst als das Gesamt seiner Formstruktur, beruhte sein ästhetischer Wert. In ihr galt es daher für ihn in erster Linie die geschichtliche Position des Autors aufzudecken. Klemperers Betonung des literarisch-ästhetischen Aspekts der Literatur war in einer geschichtlichen Periode, in der die Gefahr, Literatur in falsch verstan‐ denem „Marxismus“ nur noch als Belegmaterial der Ideologiegeschichte miß‐ zuverstehen, zumindest eine heilsame an seine Schüler gerichtete Warnung. Das Nichtbeachten dieser Warnung konnte in Examensarbeiten bei ihm zu vernich‐ tender Kritik führen. Der folgende Absatz ist nur in der Textvariante von 2010 enthalten: Natürlich war die Spezifik der Literatur als Sprachkunstwerk auch Krauss sehr wohl bewusst. In der Passage über „Die geschichtliche Zeugniskraft der literarischen Phänomene“ kommt sie beinahe beiläufig zum Ausdruck. Denn zwei Sätze nach dieser Feststellung heißt es: „Wie das Wort, wie ein Satz, wie ein Brief, so ist auch das sprachliche Kunstwerk nicht in die Luft hinein und nicht für den Nachruhm, sondern im Hinblick auf einen konkreten Empfänger geschrieben. Dichtung bewegt sich in der Richtung auf ein Vernehmen. Daher erzeugt sich in ihr die angesprochene Gesellschaft: Stil ist ihr Gesetz. (Unterstr. R. Sch.) - durch die Kenntnis des Stils kann auch die Adresse der Dichtung entziffert werden.“ Doch diesen Aspekt zu verteidigen schien ihm zum gege‐ benen Zeitpunkt nicht die dringlichste Aufgabe, sondern die prinzipielle Ge‐ winnung eines gesellschaftswissenschaftlichen Standpunkts für die insgesamt vernachlässigte Erforschung des Jahrhunderts der Aufklärung. Nebenbei bemerkt, der Stil von Krauss in diesem Aufsatz erinnerte eher an Nietzsche als an Karl Marx und war offensichtlich auf das „Vernehmen“ seitens der gescholtenen Geisteswissenschaftler abgestimmt. Weiter im Text von 2013 Dass Werner Krauss mit seinen Schülern eine völlig neue Aufklärungsfor‐ schung auf einem theoretisch hohen marxistischen, nicht dogmatischen Niveau begründet hat, ist eine international längst anerkannte Tatsache. Unter diesem Aspekt ist der Dissenz zwischen den beiden Positionen längst Geschichte. Für die Zusammenarbeit der Romanistik in der DDR jedoch war er, mehr oder we‐ niger unterschwellig, zumindest im Hinblick auf beider Schüler, eine gewisse Belastung. Doch nun, zurück zu unserem Studienaufenthalt in Moskau 1964, der zwar nicht den erwünschten Erfolg brachte, aber insgesamt sehr interessant war. 107 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="108"?> Vor allem ging es darum, mit den Kollegen ins Gespräch zu kommen, deren Abschnitte uns für die Auswahl, auf die wir uns konzentrieren wollten, am wichtigsten waren. Das betraf natürlich die Entwicklungslinie des kritischen Realismus, die Samarin verantwortete, die Entwicklungslinie der Arbeiterdich‐ tung bis zur Commune, für die Danilin als zuständig zeichnete, und die Einzel‐ studie Balaschows über Baudelaire, dessen Bewertung in marxistischer Sicht umstritten war. Da ich Samarin schon kannte, schien es sinnvoll, als erstes mit ihm zu spre‐ chen. Nach diesem Gespräch war klar, dass die geplante Übernahme des zweiten Bandes nicht durchgeführt werden konnte. Und zwar aus zwei Gründen, weil zu umfangreiche Kürzungen gemacht werden mussten und zweitens weil zu befürchten stand, dass auch die anderen Kollegen Schwierigkeiten haben würden, ihre Zitate exakt zu belegen. Im russischen Text waren die französi‐ schen Zitate in russischer Übersetzung wiedergegeben. Wir brauchten aber für eine Publikation bei uns, die Zitate unbedingt nach dem zugrunde gelegten französischen Originaltext. Bei dem Gespräch mit Samarin stellte sich heraus, dass er z.T. nach Übersetzungen, z.T. nach französischen Texten in russischer Ausgabe gearbeitet hatte und es eines großen Aufwandes bedurft hätte, diese Belegstellen, wenn sie vorhanden wären, ihrerseits aus den nunmehr gültigen französischen Originalausgaben herauszusuchen. In jedem Fall waren sie ad hoc nicht zu ermitteln. Zudem war Samarin mit seinen Zitaten ziemlich großzügig umgegangen. Mehrfach hatte er Stellen aus ganz verschiedenen Passagen zu einem langen Zitatsatz zusammengefügt. Um keine unerfreuliche Verstimmung zu riskieren, blieb nur die Möglichkeit ihm vorzuschlagen, nach ruhiger Durchsicht der einschlägigen Unterlagen auf die ganze Frage, zu einem späteren Zeitpunkt, noch einmal zurückzukommen. Auf jeden Fall schien Samarin zu einer Zusammenarbeit bereit und aufgeschlos‐ sener als beim ersten Besuch. Unerfreulicher war, dass wir Danilin, den Verantwortlichen für die Arbeiter- und Communedichtung überhaupt nicht erreichen konnten. An der Übernahme dieser Kapitel war uns aber, ehrlich gesagt, mehr gelegen als an Samarins Balzac, denn sie hätte einen echten Informationsgewinn bedeutet. Zur Communedich‐ tung z. B. gab es ebenso wenig Textausgaben wie Sekundärliteratur, weder bei uns noch in den westdeutschen oder französischen Verlagen. Lediglich von Eu‐ gène Pottier, dem Dichter der „Internationale“, diesem weltumspannenden Lied der Arbeiterbewegung (1871), war 1937 in Frankreich ein Gedichtband „Chants révolutionnaires“ erschienen. 108 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="109"?> 102 N.I. Balaschow. Das Schaffen Baudelaires, ZRPh, III. Jg. 1964, H.2, S. 1-25 Sicher ging es bei diesen Gedichten und Liedern nicht um große Dichtung, war ihr Interesse mehr politischer Natur. Aber sie brachten eine neue Weltsicht in die Lyrik ein, die im 20. Jh. z. B. in der Dichtung eines Aragon oder in den Gesängen Pablo Nerudas weltliterarische Bedeutung erlangte. Warum die Be‐ gegnung mit Danilin nicht stattfinden konnte, weiß ich nicht mehr zu sagen. Dafür entdeckten wir auf der Suche nach einschlägigem Material zu Danilins Kapiteln die Schätze der Leninbibliothek. Mit ihren reichen Beständen ist sie nach Größe und Bedeutung für das ganze Land der Bibliothèque Nationale ver‐ gleichbar. Mit Hilfe dieser Recherchen gelang es, wenigstens Danilins Studie zu Hégésippe Moreau für eine Publikation der ZRPh 102 fertig zu stellen. Überraschend angenehm verlief dagegen die Unterhaltung mit Balaschow. Er lud mich nicht nur, als einziger von allen Kollegen, zu einem Essen nach Hause ein, nach dem wir in zügiger Arbeit den Artikel durchgingen. Er hatte auch alle Unterlagen dafür bereit gelegt, darunter die gültige Gallimard-Ausgabe von Baudelaires Gedichten, nach der er selbstverständlich in seinem Text zitiert hatte. Daß er mir bei diesem Besuch auch seine kleine Gemäldesammlung zeigen konnte, machte ihm sichtlich Freude, denn er betonte bei einigen Bildern immer wieder, dass die Tretjakowgalerie über ihren Besitz sehr stolz sein würde. Ganz nebenbei kam zu Tage, dass er selbst aus einer alten Adelsfamilie stammte und die Bilder folglich Erbstücke waren. Balaschow entsprach in seinem Habitus den Wissenschaftlern, die ich bisher auf meinen Auslandsreisen kennen gelernt hatte und das Gespräch mit ihm war ausgesprochen kollegial und anregend. Wir haben uns später mehrfach auf internationalen Kongressen der AILC getroffen und uns immer über dieses Wiedersehen gefreut. Die zweite und noch viel größere wissenschaftliche Überraschung war das völlig unerwartete Auftauchen von Efim Etkind aus Leningrad in unserem Hotel. Es erinnerte mich an meinen kühnen Überfall auf Samarin in Berlin, un‐ gefähr zehn Jahre vorher. Ohne die Tauwetterperiode wäre Etkins Eskapade nicht möglich gewesen. Das galt übrigens auch für Balaschows Privateinladung. Was unseren Kontakt ursprünglich ausgelöst hat, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall beschäftigte er sich, wie ich, mit Übersetzungsproblemen, so daß meine Zola-Ausgabe der Grund gewesen sein kann. Offensichtlich kam es mit ihm zu einem interessanten Gespräch, sonst hätte ich den Kontakt nicht weiter gepflegt und ihn bei meinem dritten Moskaubesuch nicht meinerseits in Leningrad auf‐ gesucht. In diesem Zusammenhang werde ich ausführlicher auf ihn zu sprechen kommen. 109 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="110"?> Die Vorbereitung der offiziellen Gespräche mit den Kollegen wegen des Li‐ teraturgeschichtsprojekts, insbesondere die Kürzungs- und Veränderungsvor‐ schläge, sowie die Nachbereitung und notwendigen Recherchen in der Lenin‐ bibliothek, für deren Organisation der auch in Berlin für unsere Institutsbibliothek zuständige Hans-Jürgen Hartmann verantwortlich war, nahmen ziemlich viel Zeit in Anspruch, so dass ich in der ersten Woche meine beiden Assistenten durch Nachtschichten - für mich seit langem gewohnheits‐ gemäß ganz selbstverständlich - ziemlich überforderte und bei ihnen einen kleinen Streik auslöste. Ich gelobte also Besserung und akzeptierte zur Versöhnung Hans-Jürgens Vorschlag, erst einmal schön essen zu gehen und zwar ins Restaurant des Hotels Peking. Hartmann kannte die chinesische Küche von einem Einsatz als Dolmetscher in Vietnam. Ich war immer froh, wenn unsere Assistenten auf diese Weise ins Ausland kamen und ihre Sprachkenntnisse praktisch erproben und üben konnten. Und mit chinesischer Küche war ich immer leicht zu verführen, seit ich sie in Paris bei meinem ersten Besuch - einfach aus ganz trivialen Gründen, wegen des günstigen Preises - kennen gelernt hatte. Das Essen im Peking war auch wirklich ausgezeichnet, doch für Moskauer Verhältnisse wiederum nicht gerade billig. Hartmann aber versöhnte es, weil er seine geliebten Glasnudeln bekommen hatte. Um das Hotel Peking zu erreichen, mussten wir die Metro bis zur Majakows‐ kistation benutzen (Staniza Majakowskaja), wie wir auch sonst die Metro für die notwendigen Fahrten durch die Stadt als schnelles und zuverlässiges Ver‐ kehrsmittel oft benutzten. Sie wurde erst in den dreißiger Jahren des 20. Jhs. gebaut. Im Mai 1935 nahmen die ersten Züge den Verkehr auf. Berühmt ist sie wegen ihrer schönen, künstlerisch und oft auch kostbar gestalteten Stationen. Viele dieser Stationen liegen sehr tief unter der Erde, wenn mehrere Linien sich kreuzen oder eine die Moskva unterqueren muß. Die Rolltreppen, auf denen man die einzelnen Bahnen erreicht, sind deshalb oft sehr lang, meist sehr steil und fahren sehr schnell. Jedenfalls konnte man schon einen Schreck bekommen, wenn man oben am Anfang der Treppe stand und in die Tiefe blickte. Christa Bevernis war deshalb fast nur mit Gewalt zum Benutzen dieser Treppen zu bringen, indem Hartmann sie kurz entschlossen um die Taille nahm, auf die Treppe setzte und mit ihr losfuhr. Die Metro war deshalb immer ein kleines Abenteuer für uns, denn ich kann auch nicht sagen, dass ich mich in dieser Hinsicht sehr viel mutiger anstellte. Manchmal musste Hartmann deshalb wegen uns beiden die Treppe zweimal herunter fahren. 110 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="111"?> Als Ausgleich für Wissenschaft und viel Arbeit bot der Aufenthalt aber nicht nur hie und da ein gutes Essen, sondern auch einige kulturelle Höhepunkte. So haben wir uns die Zeit genommen, sowohl die Tretjakow-Galerie wie auch das Puschkin-Museum zu besuchen und in zwei Vorstellungen des Bloschoi-Thea‐ ters (im Kongreßpalast im Kreml) zu gehen. Die Tretjakowgalerie ist in dem ehemaligen Haus ihres Begründers Pawel Tretjakow(1832-1898) in einem alten Stadtteil Moskaus jenseits der Moskwa untergebracht und bietet dem Besucher einen vollständigen Überblick über die Entwicklung der russischen Malerei, angefangen von den frühesten Zeugnissen, über die berühmteste Sammlung von Ikonen aus verschiedenen Schulen und Jahrhunderten, die Portraits des 18. Jhs., die Landschaften der Romantiker, die Historienmalerei und Realisten des 19. mit den auch im Ausland bekannten Vertretern Surikow und vor allem Repin, bis hin zu den Werken des späten 19. Jhs. und der nach der Oktoberrevolution im 20. Jh. beginnenden und seit den dreißiger Jahren dominierenden sowjetischen Kunst. Mit der Besichtigung dieser Galerie wollten wir uns wenigstens einen ersten Einblick in die sonst nirgends in der Welt in so geballter Form zu sehende rus‐ sische bildende Kunst verschaffen. Mehr war aber auch gar nicht möglich, und zwar aus zwei Gründen. Erstens wegen der Überfülle der vorhandenen Werke, die den Besucher fast erschlug und zweitens wegen der Schwierigkeit, über‐ haupt einen Zugang zu dieser uns bisher völlig unbekannten Kunst zu finden. Jedes Bild war ein Ersterlebnis. So viele auf einmal aber kann man gar nicht verarbeiten. Unbewusst versuchten wir natürlich, uns jeweils Ähnliches oder Vergleich‐ bares aus der uns bekannten westeuropäischen Kunst ins Gedächtnis zu rufen. Das gelang am ehesten bei den Ikonen, die man zumindest thematisch den ent‐ sprechenden christlich-katholischen Darstellungen zuordnen konnte. Oder bei den Porträts und den Realisten des 19. Jhs. Ich bin mir jedoch nicht so sicher, ob dieses Herangehen das richtige Erkennen des Anderen und Neuen uns nicht eher verstellte. Beeindruckt hat mich zumindest die Ikonensammlung, und die „Wanderer“ des 19. Jh. mit ihren Alltagsbildern (da tauchten die Niederländer bei mir auf! ) sowie die Realisten der zweiten Hälfte dieses Jhs., insbesondere Repin mit seinem Bild „Iwan der Schreckliche mit seinem Sohn Iwan“ und den „Wolgatreidlern“. Letzteres kannte ich schon von einer Reproduktion. Das Ori‐ ginal sehen zu können war deshalb ein besonderes Erlebnis. Der Besuch des Puschkin-Museum verlief weniger anstrengend und in vieler Hinsicht in anderer Weise anregend, weil er im Gegensatz zur Tretjakow ein Wiedersehen mit mir von anderen Museumsbesuchen bekannten Malern, aber 111 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="112"?> neuen Bildern von ihnen brachte. Das hat seinen eigenen Reiz, verführt aller‐ dings auch leicht, ein bisschen oberflächlicher hinzuschauen. Das Puschkin-Museum, insgesamt das zweitgrößte der SU nach der Eremi‐ tage, beherbergt u. a. eine reiche Sammlung von Werken der verschiedenen Schulen westeuropäischer Malerei. Besonders umfangreich sind die Franzosen vom 17.-20. Jh. vertreten, darunter eine der größten Kollektionen der Impressi‐ onisten mit jeweils erstklassigen Werken von Manet, Pissarro, Sisley, Renoir und Degas. Vor allem freute ich mich auf die Originale meiner Lieblingsbilder von Claude Monet: „.Boulevard des Capucines in Paris“, „Die Felsen von Étretat“ und „Seerosen“. Mein Grunderlebnis bei diesem Museumsbesuch war allerdings die Begeg‐ nung mit dem Picasso der Blau-Periode, die mir eigentlich erst den Zugang zu seinem Werk eröffnet hat. Ich kannte es bisher nur aus Reproduktionen. Seit den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin 1951, für deren Teil‐ nehmer er die Friedenstaube für ein Halstuch entworfen hatte, war diese für mich sein Symbol. Vieles von ihm jedoch mochte ich nicht. Viel später, erst in den 80er Jahren, habe ich das Picasso-Museum in Paris aufgesucht. Den jungen Picasso aber konnte ich erst nach der Wende auf einer Spanienfahrt 1991 in Barcelona entdecken und da war es besonders ein Bild: „Erstkommunion“, das mich mit seinen, eines Renaissancemalers würdigen, fein ziselierten Details der Ausführung fasziniert hat. Wer das konnte, durfte sich in der Verkürzung der Formen, der Reduktion der Erscheinungen alles erlauben. Manchmal dauert, wie bei mir, ein Lernprozess ziemlich lange. Museumsbesuche sind immer anstrengend. Ein wirkliches Vergnügen und in mehrfacher Hinsicht nur ein Genuss waren dagegen die beiden Theaterbesuche im Kongresspalast im Kreml. Dieser Palast war erst ganz neu, 1959-61 erbaut, mit einem großen Saal für 6000 Personen, der auch für die Teilnehmer der Par‐ teitage der KPdSU genügend Platz bot, aber ebenso für sonstige Veranstaltungen zur Verfügung stand. Das Bolschoitheater nutzte diesen Großen Saal, dessen Bühne über modernste Technik verfügte, für Opern- und Ballettaufführungen. Hier haben wir am 7. Mai das Ballett „Aschenbuttel“ von Prokofjev und am 10. Mai die Oper „Ivan Susanin“ von Glinka gesehen. Zufällig fand ich die beiden Programme mit den Daten wieder. In Moskau gewesen zu sein, ohne einen Bal‐ lettabend erlebt zu haben, war eigentlich ein Unding, denn die russische klas‐ sische Ballettschule war weltberühmt und Ballerinen wie Plissetzkaja, die jah‐ relange Prima Ballerina des Bolschoi, wurden vor allem in „Schwanensee“ internationale Legenden. Wir haben zwar in diesem Ballett eine andere Tänzerin gesehen, namens Strytschkowa, und zwar in der 191. Aufführung dieser Insze‐ nierung des Aschenputtels, aber auch sie war nicht nur technisch, sondern vor 112 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="113"?> allem im ganzen Ausdruck perfekt. So wurde es ein beschwingter, heiterer Abend reiner Sinnenfreude. Ganz anders Glinkas tragische Oper „Iwan Susanin“, die erste russische Volksoper, deren Libretto einen historischen Stoff aus der Zeit der Kämpfe Russ‐ lands mit den Polen unter ihrem König Sigismund III. aufgreift. 1642 gelingt es, dank des von dem Nowgoroder Kaufmann Minin organisierten patriotischen Befreiungskampf des Volkes und dank des Bauern Iwan Susanin, der die Polen absichtlich in einen Hinterhalt führt, wofür er von ihnen umgebracht wird, die Polen bei Moskau vernichtend zu schlagen und das Land zu befreien. Dieses Libretto enthält alles, was für eine effektvolle Oper nötig ist: ein rau‐ schendes Fest beim Polenkönig, ein Liebespaar in Schwierigkeiten (die Hoch‐ zeitsvorbereitungen von Susanins Tochter mit ihrem Verlobten Sobinin werden durch die Kämpfe unterbrochen) und als Helden einen einfachen Bauer aus dem Volk, Iwan Susanin, der bereit ist, sein Leben für sein Land zu opfern. Die Inszenierung war in jeder Hinsicht traditionell: historische Kostüme, re‐ alistische Bühnenbilder. Im ersten und zweiten Bild des vierten Aktes tief ver‐ schneiter Wald, auf den unaufhörlich dicker Schnee herunterfällt. Musikalisch steht und fällt diese Oper mit der Besetzung der Hauptpartie und der Güte der Chöre. Die Rolle des Susanin erfordert einen stimmgewaltigen Bass. Daß es unter den russischen Sängern sehr gute Bassstimmen gibt, war bekannt. Dennoch, dieser Susanin war hervorragend, wegen seines Spiels und seiner Klangfülle. Bei seiner Abschiedsarie vom Leben im dritten Akt, blieb kein Auge trocken. Ebenso ausgezeichnet waren die Chöre, die vier große Partien zu be‐ wältigen haben. In besonderer Erinnerung geblieben ist mir außerdem noch ein anderer ästhetischer Genuss. Das Ballett auf dem Fest beim polnischen König Sigismund im 2. Akt. Es tanzte einen Walzer, auf den Zentimeter genau, vor und hinter einem Vorhang, wodurch der Eindruck entstand, dass man den Tanz di‐ rekt und zugleich im Spiegel sehen konnte. Perfekte Illusion und perfekte Ein‐ studierung. Die Oper „Iwan Susanin“ endet nach dem vierten Akt mit einem Epilog. Vor dem Kreml in Moskau feiert das Volk die Befreiung von den Polen und gedenkt mit der Ehrung von Susanins Familie seiner ruhmreichen Tat. Dieser Schluß bot alles auf, was Theater und Oper an Spektakulärem zu bieten hat. Ein lebendiges Pferd, auf dem ein Bote, der die Siegesmeldung bringt, unter dem Geläut der Glocken und beim Klang der Bläser auf die Bühne reitet, Festtrubel, Volksge‐ wimmel und drei Chöre in voller Fülle. In dem Schlusschor „Heil Dir, mein rus‐ sisch Land“ gipfelt zudem der nationale Grundgestus der Oper noch einmal wirkungsvoll auf. Es war ein sehr eindrucksvoller Abend. Aufführungsdauer insgesamt vier Stunden, und das Publikum tobte vor Begeisterung. Aber für uns 113 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="114"?> war dieser Schluss fast ein bisschen zu viel. Wir machten uns ziemlich erschöpft auf den Heimweg, da wurde auf der Brücke über den Festungsgraben das Pferd an uns vorbeigeführt, offensichtlich in die Stallung, und Christa sagte leicht ironisch, „Ach, da kommt der Hauptdarsteller! “ Ein anderer Höhepunkt unseres Studienaufenthaltes war ganz besonderer Art, unsere Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 1. Mai. Nun war die Teilnahme an Aufmärschen und Umzügen nie so recht meine Sache. Sicher, in den ersten Jahren nach dem Krieg bin ich mit meinem Mann aus voller Überzeugung zum Umzug am 1. Mai gegangen. Wir wollten für ein Ziel demonstrieren, ein friedliches, besseres Leben für alle. Aber als die Maide‐ monstrationen immer mehr zur Legitimationsveranstaltung für die eingeschla‐ gene Politik und damit zur Pflichtübung und Routine wurden, ließ auch die innere Beteiligung nach. Doch 1964 in Moskau und dann noch in der Tauwet‐ terperiode - das war etwas ganz anderes. In Moskau durfte nicht jeder, wie er gerade Lust hatte, an der Maidemonstration teilnehmen, sondern nur im Rahmen einer Delegation von einem Betrieb oder einer Institution, wie wir als Gäste des Gorki-Instituts in dessen Delegation. Eine solche Begrenzung war notwendig, weil in Moskau die zentrale Veranstaltung für die ganze SU stattfand und Delegationen aus allen Landesteilen nach Moskau kamen. Es war schon ein eigentümliches Erlebnis, in der Hauptstadt des führenden Landes des Sozia‐ lismus an diesem internationalen Feiertag der Arbeiterklasse an der Demonst‐ ration teilzunehmen, wenn ich es im perfekten Parteistil formuliere. Doch zum damaligen Zeitpunkt habe ich es sicher auch so empfunden. Im Prinzip natürlich ähnelte dieser Umzug allen Veranstaltungen dieser Art, außer daß man ihn nicht irgendwann und -wo verlassen konnte, denn das hätte bei diesen Massen ein Chaos ergeben. Ich weiß auch nicht mehr, an welchem Ort wir uns nach dem Durchzug über den Roten Platz aufgelöst haben. Nur dass wir auf diese Weise nicht die immer übliche Militärparade sehen konnten, die war nach Größe und auch propagandistischer Bedeutung mit unserer in Berlin nicht zu vergleichen war. Ein persönliches Erlebnis ganz anderer Art war die Festveranstaltung des Instituts am Nachmittag. Außer sehr gekonnten, guten musikalischen Darbie‐ tungen gab es vor allem den Vortrag von Teilen aus Puschkins Eugen Onegin. Ich kann Dichtung in russischer Sprache nicht lesen und schon gar nicht beim Hören inhaltlich verstehen, wohl aber ihren Klang genießen. Bei dieser Veran‐ staltung kam als Erlebnis aber noch etwas ganz anders hinzu. Ganz gleich wel‐ ches Stück vorgetragen wurde, sofort nach den ersten Worten rezitierte der ganze Saal den Text voller Begeisterung auswendig mit. So etwas hatte ich noch nie erlebt und ich stellte mir vor, wie es wohl sein würde, wenn in einer Uni‐ 114 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="115"?> 103 Man darf nicht vergessen, dass sich in diesen Jahren die 68-Bewegung vor allem aus der BRD und Frankreich auch in der DDR auswirkte. Zur Hochschulreform, vgl. Ro‐ manistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Periodisierungsversuche im Streitge‐ spräch. Rita Schober, Christian Wagner. S. 423-437, insbes. S. 428-431 in: Dorothee Rö‐ seberg (Hg.). Frankreich und „Das andere Deutschland“. Analysen und Zeitzeugnisse, Stauffenburg-Verlag, Tübingen 1999 (Cahiers lendemains: Bd. 1) und Hubert Laitko, Untersuchungen statt Neugründung. Die Dritte Hochschulreform in der DDR. In: Be‐ richte zur Wissenschaftsgeschichte 21 (1998), 2-3, S. 143-158 versitätsveranstaltung bei uns Teile aus Goethes Faust rezitiert würden. Diese Liebe zur eigenen Sprache und Dichtung, welch ein Kulturbewusstsein! Es hat mich immer wieder bei meinen russischen Kollegen überrascht und auch bei meinen Studenten, als ich 1970 ein Gastsemester in Moskau verbrachte. Erfreut über all diese Erlebnisse (Text von 2010) Mit all diesen Erlebnissen und Eindrücken (Text 2013) und vor allem zufrieden mit den wissenschaftlichen Er‐ gebnissen fuhren wir nach drei Wochen nach Berlin zurück. 3.5 Gastsemester Moskau Zu diesem Punkt liegen besonders viele Textvarianten vor. Der folgende Text ist aus dem Jahr 2010 und wird durch einige weitere Textvarianten aus dem gleichen Jahr bzw. aus 2012 ergänzt. Weitere sieben Texte zu diesem Thema entfallen, da sie keine zusätzlichen Informationen enthalten, sondern Vorarbeiten darstellen. Im Frühjahr 1970 war ich von der Lomonossow-Universität, mit der die Hum‐ boldt-Universität einen Freundschaftsvertrag hatte, zu einem Gastsemester ein‐ geladen worden. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Humboldt-Universität jedoch im Um‐ bruch der III. Hochschulreform 103 . Bei Reformen, ist es immer gut, wenn man hellhörig wird. Diese Reform jedenfalls bedeutete die Umwandlung der bishe‐ rigen traditionellen universitären Selbstverwaltungsstrukturen in weisungsge‐ bundene Leitungsstrukturen und die Auflösung der alten Institute und ihre Er‐ setzung durch sogenannte, mehrere verwandte Fachgebiete zusammenfassende Sektionen. Die Romanistik, damit ihrerseits aufgelöst in einzelne Fachgebiete, gehörte zu der alle Philologien umfassenden Sektion Philologien. Die ebenfalls aufgelösten Fakultäten wurden durch sogenannte Wissenschaftliche Räte er‐ setzt; einen für die Naturwissenschaften und einen für die Gesellschaftswissen‐ schaften. Diesen sogenannten „Beratungsgremien“ - in meinen Selbstgesprä‐ chen nannte ich sie „pseudodemokratische Schwatzbuden“ - kam jedoch keinerlei Entscheidungskompetenz zu - mit Ausnahme der Kontrolle der Pro‐ 115 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="116"?> motionen. Angesichts der neuen Situation ein kleiner Hoffnungsschimmer in wissenschaftlicher Hinsicht! Gleichzeitig mit diesem Umbau der Leitungsstrukturen erfolgte auch eine neuerliche Veränderung der Lehrpläne, die nach meiner Meinung schon sehr bald eine für die wissenschaftliche Lehre auf Verschulung hinauslaufende Ka‐ tastrophe zu werden drohte. 1969 als Dekan der gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät berufen, hoffte ich, die daraus resultierenden negativen Folgen wenigstens für die Romanistik abwenden zu können. Dass daraus ein zwölfjähriger Kampf um die Wiederher‐ stellung ihrer Selbständigkeit als eigene Sektion werden sollte, konnte ich al‐ lerdings nicht ahnen. 1970 war die Sowjetunion für mich kein ganz unbekanntes Land mehr. Ich war schon dreimal da gewesen, einmal privat und zweimal dienstlich, aber immer nur für kürzere Zeit. Ein längerer Aufenthalt für ein ganzes Semester hätte mich durchaus gereizt. Doch angesichts der mit der III. Hochschulreform verbundenen Umbrüche beantragte ich die Verkürzung dieses Gastsemesters auf zwei Monate, d. h. auf die Zeit vom 28. September bis zum 30. November. Zugleich erbat ich die Ge‐ nehmigung, dass mein Sohn, der am 4. Juli sein Abitur abgelegt hatte und zum 3. November seinen Wehrdienst antreten musste, mich bis zu diesem Zeitpunkt zur Verbesserung seiner Russischkenntnisse nach Moskau begleiten dürfte. Im Grunde wollte ich mit ihm einfach diese paar Wochen einmal mit etwas mehr Ruhe zusammen sein. Denn richtig Zeit hatte ich für ihn als Mutter angesichts der dienstlichen Anforderungen an der Universität nur wenig gehabt. Es war nicht meine erste Reise nach der Metropole der SU. Doch bisher hatte ich dafür immer die schnelle Flugverbindung genutzt, ganz gleich ob es sich um einen Gastvortrag oder um eine Urlaubsreise handelte, zu der grundsätzlich stets auch ein bis zwei Tage Moskau-Aufenthalt gehörten. Diesmal aber musste ich den Zug nehmen, einfach schon wegen des notwen‐ digen Gepäcks und das hieß: Kleidung für Spätherbst und russischen Winter, alle Unterlagen für die Vorlesungen und das Seminar nebst Büchern, Schreib‐ maschine und entsprechendem Arbeitsmaterial, sowie die dringlichsten Uten‐ silien für Küche und Haushalt, da Gastprofessoren für die Zeit ihres Aufenthaltes von der Universität in einem Gästehaus eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche zur Verfügung gestellt wurde. Zusammen mit dem - gemessen am Einkom‐ mensdurchschnitt der Bevölkerung - hohen Gehalt von 400 Rubel pro Monat, die sonst nur Akademiker erhielten, waren diese offiziellen Bedingungen sehr großzügig. 116 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="117"?> So machten wir uns mit sieben Koffern, die aufgegeben wurden, und weiteren fünf, die gewissermaßen die notwendigsten Dinge für den Anfang enthielten und deshalb zu unserem Glück - wie sich herausstellen sollte - in unserem Schlafwagenabteil untergebracht werden konnten, auf die Reise. Die Eisenbahnstrecke Berlin-Warschau-Minsk-Moskau betrug exakt 1886 km und die Fahrt mit dem D-Zug dauerte rund 31 Stunden. Wir fuhren um 8 Uhr 45 vom Ostbahnhof mit dem „Ost-West-Express“ ab und erreichten nach den ent‐ sprechenden Grenzübergängen, die ohne besondere Aufregungen verliefen, 0 Uhr 53 morgens Brest-Litowsk, amtliche Bezeichnung Brest Central, wo die Wagen auf die russische Gleisspur umgestellt werden mussten. Dass es demgemäß hier einen längeren Aufenthalt geben würde, wussten wir. Aber natürlich nahmen wir an, dass wir beide nach den entsprechenden Kontrollen der Ausweis- und Reisepa‐ piere in unserem Abteil auch hier würden ruhig weiterschlafen können. Wir hatten es uns so weit wie möglich gemütlich gemacht. Hans hatte das obere Bett, ich das untere genommen und natürlich hatten wir auch zum Schlafen die Oberkleidung abgelegt. Lediglich einen Morgenrock behielt ich für alle Fälle in greifbarer Nähe. Kurz vor diesem Aufenthalt hatte ich ihn jedoch, weil mir kalt geworden war, zusätzlich übergezogen. Wie gut, wie sich bald herausstellen sollte. Die Beamten, die unser Abteil betraten, kontrollierten zunächst unsere Aus‐ weispapiere und Fahrkarten und fragten, wie viel Rubel und wie viele Koffer wir bei uns hätten. Wahrheitsgemäß antwortete ich, dass ich 1000 Rubel bei mir habe - ich hatte sie wegen des mitreisenden Sohnes auf meinen Antrag hin in Berlin eintauschen können - und dass sich außer den fünf kleineren Koffern hier im Abteil unser eigentliches Gepäck, also weitere sieben Koffer, im Ge‐ päckwagen befände. Diese Mitteilung hatte unerwartete Folgen. Ein nicht ge‐ rade freundliches: „Aufstehen! “ war die erste Reaktion. Hans kletterte im Schlaf‐ anzug, wie er war, herunter, ich stand auf und fuhr in die Hausschuhe. Die kurze Kofferdurchsicht förderte offensichtlich nichts Verdächtiges zutage. Nur eine Tasche mit Äpfeln erregte Anstoß. „Alles sofort wegwerfen.“ Dass frische Lebensmittel nicht eingeführt werden dürfen, war allerdings, wie ich viele Jahre später, 1982, auf dem New Yorker Flughafen erlebte, keine be‐ sondere Schikane der SU. Allerdings waren wir in diesem Fall schon vorher im Flugzeug von Prag nach New York durch die Stewardessen darauf hingewiesen worden. „Maltschik“, damit war Hans-Robert gemeint, so der offensichtliche Chef der drei Mann umfassenden Truppe, könne sich wieder hinlegen, ich aber müsse sofort - und der Ton lag auf sofort! - mitkommen, um die auf dem Gepäckwagen befindlichen Koffer zu „identifizieren.“ Von langem Um- und Anziehen konnte keine Rede sein. 117 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="118"?> Das Bahnhofsgelände, das wir nun betraten, habe ich als relativ wenig be‐ leuchtet in Erinnerung. Auf jeden Fall ging es aber, nicht wir ich erwartete, schnurstracks zu dem Güterwagen, sondern erst in einen hellen Raum - ob es der normale Aufenthaltsraum war, kann ich nicht sagen - wo man mir bedeutete zu warten. Und so wartete ich. Als ich nach einer Stunde vergeblichen Wartens anfing zu frieren - schließlich war ich für diese Exkursion wirklich nicht ge‐ nügend bekleidet und außerdem war ich einfach müde und wollte mich wieder in meinem Abteil hinlegen - versuchte ich mit der Zauberformel: “ ja, akademik“ - ich war im Vorjahr zum ordentlichen Mitglied der Berliner Deutschen Aka‐ demie der Wissenschaften gewählt worden - den Diensttuenden zu beeindru‐ cken und meine Warterei zu beenden. Allerdings ohne jeglichen Erfolg. Diese Frau sollte ein Akademiemitglied sein und dann noch dazu in diesem Alter! - ich war gerade zweiundfünfzig - das sollte glauben, wer wollte. Unwillkürlich musste ich an die Bibliothèque Nationale in Paris denken. Dort hatte mir 1956 Antoine Adam auch erst bescheinigen müssen, dass ich an der Universität in Berlin Professor und nicht Assistentin wäre, damit ich einen entsprechenden Benutzerausweis bekam. Doch da war ich ja auch wirklich noch viel jünger. Aber diesmal ging es um den, nach sowjetischer Vorstellung, mit höchstem sozialen Prestige versehenen wissenschaftlichen Status, für den mich dem äußeren An‐ schein nach ja wirklich nichts, aber auch gar nichts qualifizierte. Ein Akade‐ miemitglied hatte ein würdiger Herr in älterem Alter zu sein. Auch wenn ich der russischen Sprache genügend mächtig gewesen wäre, um eine Diskussion zu beginnen, es hätte keinen Zweck gehabt und das Mahlen der amtlichen Mühlen auch nicht beschleunigt. Nach einer reichlichen weiteren Stunde Warten erschien ein anderer Beamter und teilte mir mit, der Gepäckwagen wäre nicht zu finden, die Kontrolle könne deshalb erst in Moskau nach meiner An‐ kunft durchgeführt werden und ich nunmehr in mein Abteil zurückgehen. Um 3 Uhr 01 fuhren wir ab. Die restliche Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Auf dem belorussischen Bahnhof in Moskau, wo wir fahrplanmäßig um 16 Uhr ankamen, erwarteten uns ein Mitarbeiter der Botschaft der DDR, Hans Große, der Mann einer mir befreundeten Kollegin, und eine von der Universität mir zugeteilte Betreuerin, namens Swetlana. Sie war mittelgroß, mit einem freundlichen, angenehmen Gesichtchen und sprach ein gutes Deutsch. Eine Germanistin, wie sich herausstellte und offensichtlich aus „gutem Hause“, wie man in meiner Jugend sagte. Alles Weitere würde man sehen. Meine erste Frage nach der Begrüßung war natürlich die nach den Koffern auf dem Gepäckwagen. Trotz aller nun einsetzenden Bemühungen unseres „Empfangskomitees“, sie waren nicht zu finden. Aber meine Betreuerin beru‐ higte mich, wir würden sie am nächsten Tag sicher abholen können. 118 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="119"?> Also fuhren wir erst einmal mit dem Gott sei Dank vorhandenen „Handge‐ päck“ in das Gästehaus, in dem wir untergebracht werden sollten. Unsere Wohnung in der Schabulowka sorok schest (sechsundvierzig) lag in der Nähe der gleichnamigen U-Bahn-Station der Linie, die in südlicher Richtung weiter zur Station Leninsky Prospekt (Leninprospekt) führte, von wo aus die Lomonossow-Universität auf den Leninbergen mit Straßenbahn und Bus leicht zu erreichen war. Die Gastwohnung war für Moskauer Wohnverhältnisse großzügig: ein kleiner Vorraum stieß direkt auf einen Flur, von dem nach links Toilette, Bad und eine kleine Küche mit Außenfenster abgingen und auf der gegenüberlie‐ genden Seite zwei Zimmer mit Fenstern und je separatem Eingang. Wir würden das eine Zimmer als Schlafzimmer benutzen und das zweite als Wohn- und Ar‐ beitsraum. Die Zimmer waren hell und sauber und mit neuen Möbeln einge‐ richtet. In dem Wohnzimmerschrank fanden sich sogar sechs dem dortigen Ge‐ schmack entsprechende irisierende, sicher gar nicht billige Weingläser, sowie Wassergläser und in der Küche einige Töpfe, ein Eimer und was man sonst so braucht. Die Wohnung wurde zentral beheizt, hatte kaltes und warmes Wasser und Telefon. So weit, so gut. Nun mussten wir erst einmal auspacken, uns ausruhen und versuchen, auch innerlich anzukommen. Außer Haus gehen mussten wir nicht mehr, Hans Große hatte uns für alle Fälle etwas zum Essen mitgebracht. Mit den beiden hilfreichen Geistern verabredeten wir uns für die nächsten Tage. Mit Swetlana wegen der dienstlichen Schritte, mit Hans Große wegen des leiblichen Wohls, denn wir mussten ja wissen, wo wir das Notwendigste für das tägliche Leben einkaufen könnten. Ehe er ging, ließ ich mir von ihm noch die Vorwahl‐ nummer für Berlin geben, damit ich gleich meinem Mann unsere Ankunft und natürlich auch die offene Kofferfrage mitteilen konnte. Er beruhigte mich in dem Telefongespräch. Spätestens in einer Woche, wenn er für zehn Tage zur Arbeit ins Parteiarchiv nach Moskau komme, würde er sich selbst darum küm‐ mern, falls die Koffer bis dahin noch nicht aufgetaucht wären. Und so war es auch. Erst nach seiner Intervention klärte sich mit Hilfe der Genossen des Ar‐ chivs die Lage. Die Botschaft hatte sich offensichtlich nicht dafür eingesetzt. In den nächsten Tagen mussten erst einmal die notwendigen Formalitäten erledigt werden. Die polizeiliche Anmeldung ergab keine Schwierigkeiten. Die Anmeldung an der Uni erfolgte in dem alten Universitätsgebäude in der Altstadt, wo ich 1959 meine Gastvorlesung gehalten hatte. Jetzt war hier vor allem die Verwaltung untergebracht. Das Gehalt würde ich erst Ende des Monats be‐ kommen. Wie gut, dass ich hatte Geld eintauschen können. Ob ich medizinisch versichert war, weiß ich nicht mehr. Aber ich habe mir die Frage auch nicht 119 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="120"?> gestellt. Schließlich hatten wir in Moskau im schlimmsten Fall eine Botschaft, an die ich mich um Hilfe wenden konnte. Ich war seit Jahren so viel ins kapi‐ talistische Ausland zu Gastvorlesungen, Kongressen und Kolloquien gereist, ohne jede internationale rechtliche Anerkennung, geschweige denn medizini‐ sche Absicherung und ohne zusätzliche finanzielle Mittel. Jedenfalls war ich mir sicher, dass ich bei diesem Aufenthalt in Moskau schon medizinische Hilfe finden würde, wenn es nötig wäre. Tatsächlich brachte mich mein Kollege Vipper, als ich Zahnbeschwerden hatte, zu seinem Zahnarzt und regelte auch irgendwie die Bezahlung. Das ganze Erlebnis war von den äußeren technischen Bedingungen her zwar nicht allzu angenehm, aber die Zahnbeschwerden wurden jedenfalls behoben. Ansonsten gab es keine gesundheitlichen Zwi‐ schenfälle. Die wichtigste Frage hinsichtlich der Universität war für mich natürlich, wann und wo ich mit dem Unterricht beginnen könnte und ob Hans Robert - worum ich von Berlin aus schon brieflich gebeten hatte - an einem Rus‐ sisch-Sprachkurs teilnehmen könnte. Letzteres schien unproblematisch. Er habe ab sofort die Möglichkeit, dreimal die Woche, einen Kurs zu besuchen. Vorle‐ sungen, Seminare und Kurse aller philologischen Disziplinen, also auch der Russisch-Kurs, fänden in der neuen Universität auf den Leninbergen statt, die von unserer Wohnung aus gut zu erreichen war. Dass Hans Robert nach den beiden ersten Wochen diesen Versuch dann doch aufgab, lag einfach daran, dass er den Anforderungen dieses auf Dolmetscher‐ ausbildung ausgerichteten Kurses mit seinen bescheidenen Schulkenntnissen gar nicht folgen konnte. Also ließ auch ich mich davon überzeugen, dass es besser wäre, für die kurze Zeit die gegebenen Möglichkeiten zu nutzen und mit der russischen Sprache im praktischen täglichen Umgang ein bisschen ver‐ trauter zu werden. Learning by doing, schließlich musste ja auch ich auf diese Weise versuchen, meine Anfang der fünfziger Jahre mühselig erworbene be‐ scheidene Lesefähigkeit von Fachtexten nun mit ein paar Alltagsphrasen und Ausdrücken zu ergänzen. Die zweite Frage, mein eigener Arbeitsbeginn an der Universität war aller‐ dings noch nicht geklärt. Zeiten und Räume stünden noch nicht fest. Es würde noch einige Tage dauern. Ich hatte von Berlin aus schriftlich folgendes Pro‐ gramm angeboten: 1. Methodologische Probleme der modernen französischen Literaturkritik unter besonderer Berücksichtigung der Nouvelle Critique 2. Zur ästhetischen Diskussion von der französischen Klassik zur Frühauf‐ klärung. 120 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="121"?> 104 Vgl. mein Schreiben an den Dekan der Philologischen Fakultät der Lomonossow-Uni‐ versität über das Direktorat für internationale Verbindungen der HU vom 08.04.1970. Die angebotenen Themen entsprachen meinem damaligen Arbeitsgebiet. Von den bei Rütten und Loening, Berlin, seit 1952 von mir in deutscher Sprache herausgegebenen zwanzig Romanen der Rougon-Macquart Zolas waren zu diesem Zeitpunkt bis auf La joie de vivre, L´Argent und Le Docteur Pascal bereits alle erschienen. Ebenso 1968: Nicolas Boileau-Despréaux, L´Art poétique, (zweisprachig, VEB Max Niemeyer Verlag, Halle/ S.) u. Im Banne der Sprache. Strukturalismus in der Nouvelle Critique. Mittel‐ deutscher Verlag, Halle/ S.), sowie in BRPh die Aufsätze: Der Fall Boileau (1966/ 1, 99-106), Die klassische Doktrin (1967/ 1, 65-87), Desmarets de Saint-Sorlin und die Krise des Neoaristotelismus (1968/ 1, 54-73). 3. Seminar zu: Zola und der französische Naturalismus. 104 Das gesamte Angebot natürlich in französischer Sprache. Nach den mir vorliegenden, 1970 gültigen Ausbildungsplänen gehörten Ro‐ manistik und Germanistik zu einem gemeinsamen philologischen Lehrstuhl. An der HU wäre dies 1970 die Sektion Philologien-Germanistik gewesen. Das Stu‐ dium jeden Fachs dauerte insgesamt fünf Jahre, wobei das 10. Semester der Ausarbeitung der Diplomarbeit vorbehalten war. Dem Adjektiv „philologisch“ entsprach auch der Aufbau des Studienplans, denn er enthielt sowohl Einfüh‐ rungen in die Literaturtheorie wie der Sprachwissenschaft und eine Einführung in das jeweilige Fachgebiet, sowie umfangreichen Sprachunterricht mit hohen Stundenzahlen bis zum 10. Semester, Fachvorlesungen und Seminare für Lite‐ raturgeschichte oder Sprachwissenschaft, ebenfalls bis zum 10. Semester und einschlägige allgemeinbildende Kurse: kleines Latinum (1.-2. Semester), eine zweite Fremdsprache (4.-9. Semester), literaturgeschichtliche Vorlesungen und Seminare: zur antiken Literatur (1. Semester), zur Weltliteratur (1.-9. Semester) und zur Geschichte der russischen und sowjetischen Literatur (1.-4. Semester). Dazu kam der allgemeine Rahmenplan: marxistisch-leninistische Philosophie, politische Ökonomie, wissenschaftlicher Kommunismus, Geschichte der KPdSU, Sport, sowie Vorbereitungskurse zu den Examens- und Belegarbeiten. Nach diesen Plänen ließ sich für die Französisch-Studenten nur in die letzten beiden Ausbildungsjahre etwas von meinem Vorschlag einbauen. Möglicher‐ weise aber auch in einen nach den mir übergebenen Materialien vorgesehenen Spezialkurs für Doktoranden zur ausländischen Literaturkritik und Literatur‐ wissenschaft. Natürlich wollte ich so bald wie möglich anfangen. Ich war ja auch neugierig auf meine Studenten. Aber ich wusste aus meiner eigenen Universi‐ tätserfahrung, wie schwierig es oft war, selbst nur für einen Gastvortrag im normalen Unterrichtsbetrieb eine freie Stunde und einen freien Raum zu finden. Also fasste ich mich erst einmal in Geduld. Schließlich gab es in Moskau genügend Sehenswertes, an Langeweile würden wir also nicht sterben. Und ei‐ 121 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="122"?> gentlich war ich ganz froh, noch ein bisschen freie Zeit zu haben, um uns in Ruhe einzurichten und Hans ein wenig die Stadt zu zeigen, die er nicht kannte. Unmittelbar dringlich aber war auf jeden Fall die Klärung des Verbleibs der Koffer. Sicher, für ein paar Tage waren wir mit Wäsche und Kleidung versorgt. Doch der Oktober stand vor der Tür. Es konnte jeden Tag richtig kalt werden. Was dann? Hans Große hatte uns schon gleich am ersten Tag gesagt, dass er spätestens in der übernächsten Woche kommen werde, um unsere Fenster zu verkleben, wie es in Moskau für den Winter üblich und notwendig wäre. Und so tat er es auch. Im Nachhinein waren wir ihm sehr dankbar trotz anfänglicher Verwunderung über solches Tun. Irgendwie konnte ich mich dunkel erinnern, dass meine Großmutter im Winter nicht nur die Doppelfenster einsetzte, son‐ dern zwischen äußeres und inneres Fenster dicke mit Stroh ausgestopfte lange Kissen legte, um so die unteren Ritzen abzudecken. Denn in meiner Heimatstadt Rumburg in Nordböhmen waren die Winter in den zwanziger Jahren auch wirklich kalt. Jedenfalls erinnere ich mich an viel Schnee und kräftig böllernde Eisenöfchen als zusätzliche Wärmequelle in der großen Wohnstube. Nun lernte ich eine andere Art der „Wärmedämmung“ kennen. Die Kofferfrage jedoch entwickelte sich zu einem wirklichen Problem. Auch nach einer Woche waren sie noch immer nicht aufgetaucht. Und natürlich gaben wir Swetlana, die jeden Tag mit derselben negativen Auskunft kam, die Schuld. Armes Mädchen! Erst nachdem mein Mann Robert, der inzwischen für eine Woche zur Arbeit im Moskauer Parteiarchiv eingetroffen war, die dortigen Ge‐ nossen um Hilfe gebeten hatte, klärte sich die Lage. Die Koffer wären schon vor ein paar Tagen in der Zollstelle eingegangen und könnten abgeholt werden. Große Erleichterung. Würde aber auch alles vorhanden sein? Tatsächlich lagen sie, als wir mit Swetlana auf der Zollstelle ankamen, zu unserer großen Freude alle sieben schön aufgereiht nebeneinander da. Zur Kontrolle mussten sie nun einer nach dem anderen aufgemacht werden. Das war schließlich normal, wir hätten ja wirklich irgendetwas einschmuggeln können. Wäsche, Kleidung, Schuhe, Bücher, Manuskripte, Schreibmaschine, Schreibpapier, Wolldecken, Töpfe, Gewürze, Geschirr kurz ein ganzer kleiner Haushalt kam zutage. Nach dem vierten Koffer sagte der Zollbeamte „Nun noch einen aufmachen“, und zeigte auf ein Gepäckstück, das mehr wie eine riesige Tasche aussah. Als ich den Reißverschluss aufzog, purzelten Unmengen von Rollen Toilettenpapier heraus. Alle Welt hatte uns daheim darauf hingewiesen, dass Toilettenpaper in Moskau Mangelware sei und wir unbedingt genügend mitnehmen müssten. Dieser Inhalt entlockte selbst dem Zollbeamten ein Lachen, die Kontrolle war beendet und wir fuhren heilfroh in die Schabulowka 46. 122 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="123"?> Ich glaube, in Swetlanas Vorstellung wurde mein Mann ob der Lösung des Koffer-Problems zu einer einflussreichen Autoritätsperson, von der sie fortan nur mit ehrfurchtsvoller Hochachtung sprach. Mein Sohn und ich aber hatten von Roberts Anwesenheit in der Stadt leider sonst nicht viel. Untergebracht war er mit dem Kollegen, der ihn begleitete, in einem Hotel. In unserer Wohnung wäre ja auch keine Schlafmöglichkeit ge‐ wesen. Doch als Besuch hätte er sowieso nicht im Haus übernachten dürfen und tagsüber nahm ihn die Arbeit im Archiv voll in Anspruch. Nicht einmal alle Abende waren frei von dienstlichen Verpflichtungen und selbst wenn er kommen konnte, blieb nicht viel Zeit, denn spätestens um zweiundzwanzig Uhr mussten die Besuche beendet werden. Schließlich hatte in einem Gästehaus der Lomonossow-Universität Ordnung und Sitte zu herrschen, es war nicht als Stätte für ein idyllisches Familienleben gedacht. Doch wir trösteten uns, in zwei Monaten würde ich ja wieder in Berlin sein. Roberts Besuch blieb während dieses Moskau-Aufenthalts nicht der einzige aus Berlin. Kurz danach war Mädi Grotewohl wegen einer RGW-Tagung im Moskau. Sie erschien mit einem kleinen „Gastgeschenk“, einem ziemlich großen Pilz, den sie an der Uferböschung der Wolga gefunden hatte. Pilze suchen war unsere gemeinsame Leidenschaft und Mädi fand immer Pilze, auch dort, wo sie kein Mensch vermutete. Ebenso hatte sie auch immer lustige Erlebnisse. Diesmal hatte sie sich in ihrem Hotel im Stockwerk geirrt, in dem ihr Zimmer lag, und war prompt bei einer fröhlichen Männerrunde gelandet, die sie natürlich liebend gern behalten hätten. Diese Geschichte erinnerte an ein modernes russisches Theaterstück, in dem durch solche Verwechslung die einförmige Architektur der neuen Hochhäuser karikiert wurde. Das tägliche Leben hatte sich für Hans und mich inzwischen auch eingespielt. Hans Große hatte uns mit den Einkaufsmöglichkeiten für das Essen vor allem in unserer Umgebung bekannt gemacht. Denn ich wollte natürlich in erster Linie selbst für uns kochen. Und so musste man schon wissen wann, wie und wo es was gab. Dass man bei diesen Geschäftsgängen jedoch ohne Rücksicht auf of‐ fizielle Öffnungs- und Schließzeiten sehr oft nichts erledigen konnte, weil man auf geschlossene Türen stieß, hing mit drei magischen Formeln zusammen: „pjerjeryw, sanitarnyí tschas und ne rabotajet.“ Pause, Erholungspause, nicht in Betrieb - auf gut deutsch, hieß Letzteres „zur Zeit geschlossen“. Das konnte ein oder zwei Stunden sein oder auch den ganzen Tag. Viel wichtiger als die staatlichen Läden war für Lebensmittel die nächste Markthalle, der „rinok“, auf dem zusätzlich zu den staatlichen Geschäften die Bauern aus der Umgebung und oft auch von weit her - für Obst vor allem aus Georgien - ihre Ertragsüberschüsse zum freien Verkauf anbieten konnten. So 123 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="124"?> ein rinok-Besuch war stets ein neues Erlebnis, schon allein wegen der unter‐ schiedlichen Menschentypen, die hier zusammenkamen. Aber auch wegen der Gerätschaften, mit denen der Verkauf hinsichtlich Abwiegen und Abrechnen erfolgte. Solche alten, frei in der Hand hoch zuhaltenden oder irgendwie an der Wand zu befestigenden Wiegegeräte, an deren Querbalken die Gewichte auf‐ gesteckt und an deren mit einem Haken versehenen Längsteil die Ware, vor allem Fleisch, festgemacht wurde, hatte ich noch nie gesehen. Aber es ging rasch und funktionierte einwandfrei. Und noch viel flotter verlief die Abrechnung mit Hilfe der „Rechenmaschinen“. Ich konnte die verschiedenen, auf den überein‐ ander angebrachten Eisendrähten hin- und hergeworfenen Holzkugeln gar nicht so schnell verfolgen, da war der Preis schon klar. Ein Stromausfall, der in unseren mit modernen, elektrisch gesteuerten Rechenmaschinen versehenen heutigen Kaufhallen geradezu eine Katastrophe auslöst, konnte dieses effektive Verfahren nicht außer Kraft setzen. Völlig ungewöhnlich für mich war auch die Art, wie ein Stück Fleisch abge‐ schnitten wurde. Meist hing an einem Haken ein halbes Tier, von dem von oben nach unten ein Stück Fleisch abgeschnitten und von diesem wiederum die ge‐ wünschte Menge abgetrennt wurde. Eine Auswahl eines bestimmten Stücks, eines Koteletts oder einer Lende war so natürlich nicht möglich. Und das war auch in den staatlichen Läden schwierig. Dafür aber gab es hier zu meiner großen Freude meist Hirn jeder Art in Hülle und Fülle, das in Berlin schon lange den Restaurants vorbehalten war. Im Übrigen versorgte uns Hans Große einmal in der Woche nach Bedarf über die Botschaftsverpflegung mit Fleisch und vor allem mit echtem schwarzen Kaviar. Er war zwar nicht gerade billig, aber diesen Genuss haben Hans und ich uns keine Woche entgehen lassen und auch unsere als Gäste eingeladenen Kollegen haben sich daran gern delektiert. Im offiziellen Handel war er dagegen kaum zu bekommen, außer in den Interhotels gegen Devisen. Doch selbst ohne diese Sonderzuwendungen durch Hans Große konnte man in der Stadt auch sonst nicht verhungern. Schließlich gab es genügend gute Restaurants und da wir ja etwas von der Stadt und von den Menschen sehen wollten, leisteten wir uns in den kommenden Wochen auch öfter ein gutes Essen außer Haus. Drei davon sind mir in besonderer Erinnerung geblieben, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Von meinem Studienaufenthalt mit den Assistenten 1964 hatte ich das Re‐ staurant Peking in der Bolschaja-Sadowaja-Straße 5 noch in bester Erinnerung. Und da ich die chinesische Küche besonders liebe, wollte ich mir die Möglichkeit, sie in Moskau auch diesmal zu goutieren, nicht entgehen lassen. Nur hatte ich nicht bedacht, dass die 1970 bereits erhebliche Abkühlung des freundschaftli‐ 124 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="125"?> chen Verhältnisses zwischen der SU und China eventuell auch Rückwirkungen auf eine solche Einrichtung haben könnte. Es folgt ein Textteil vom 27.8.2012 : Zu welchen grotesken Teilreaktionen dies auch auf internationaler Ebene führen konnte, habe ich Jahre später, Frühjahr 1975 in der UNESCO, bei den Abstimmungen wegen der Vorgänge in Chile er‐ lebt, als China mit den USA gegen die von den sozialistischen Staaten einge‐ brachte Resolution stimmte. Ende des Einschubs. Schon vom äußeren Eindruck her wirkten Haus und Lokal diesmal eher ver‐ nachlässigt. Es waren auch kaum Besucher in dem großen Speiseraum vor‐ handen, so dass man sich irgendwie verloren vorkam. Die Speisekarte schien mir gegenüber 1964 deutlich reduziert und den einzelnen Gerichten merkte man an, dass die spezifischen chinesischen Zutaten teilweise ersetzt und die ent‐ sprechenden Ingredienzien offensichtlich nicht mehr ausreichend zur Verfü‐ gung waren; kurz und gut, es schmeckte nicht und war vor allem für mich - Hans hatte mit chinesischer Küche ja keine Vergleichsmöglichkeit - eine rechte Enttäuschung. Das zweite Restaurant, im neuen Fernsehturm in Ostankino im Norden der Stadt gelegen, besuchten wir eigentlich nicht wegen des Essens, obwohl es auch in dieser Hinsicht einen guten Ruf hatte, sondern mehr wegen der Aussicht. Und so wählten wir die späten Nachmittags- und Abendstunden, um Moskau einmal im Lichterglanz von oben zu sehen. Das Menu, obligatorisch mit der Buchung des Besuchs verbunden, war überreichlich und wirklich gut, so dass wir genü‐ gend Zeit hatten, uns an dem nächtlichen Eindruck von dieser riesigen Stadt zu erfreuen. Nur mit dem Trinken wurde es etwas schwierig. Sicher hätten wir einen Tee bekommen. Aber eigentlich wollten wir zu dem guten Essen ein Glas Wein trinken. Diesen aber gab es nicht, obwohl die Krim und Georgien wirklich Weine haben, die jedem internationalen Vergleich standhalten. Das einzige al‐ koholische Getränk, das wir bestellen konnten - und auch dieses nur flaschen‐ weise - war Cognac. Diese Art von - eigentlich unnötigen, sicher oft auf Schlamperei zurückzu‐ führenden - Engpässen selbst in guten, meist nur ausländischen Besuchern oder Reisegruppen vorbehaltenen Restaurants bestimmte naturgemäß u. a. den bleib‐ enden Eindruck, den das Land von seinen Zuständen hinterließ. In einer Fassung von 2012 heisst es dazu: Diese Art von unnötigen Engpässen auch in guten, zu‐ meist für ausländische Besucher oder Reisegruppen bestimmten Restaurants erzeugte naturgemäß bei diesen als bleibend von dem Lande den berechtigten Eindruck einer Mangelwirtschaft, darüber konnten auch die modernen Prunk‐ 125 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="126"?> bauten - wie z. B. die U-Bahn-Stationen - nicht hinwegtäuschen. Ende des Ein‐ schubs. Nun gut, irgendeinen Schluck Alkohol brauchten wir auf dieses schwere Essen und schließlich war der Abend noch lang und die Qualität des russischen Cognacs auch nicht zu verachten. Es wurde ein fröhlicher Abend, so dass wir für den Rückweg lieber eine Taxe nehmen wollten. Da die Bestellung durch das Restaurant aber nicht klappte, versuchten wir unser Glück mit Anhalten auf der Straße, obwohl uns bekannt war, dass wir dabei unter Umständen von „wilden“ Taxen schwer geprellt werden könnten. Tatsächlich kam auch eine und nun geschah etwas, was wir nicht erwartet hatten. Leute, die uns an der Sprache offensichtlich als Ausländer erkannt hatten und dem Wagen ohne Taxi- Kenn‐ zeichen winken sahen, riefen laut : “no taxi! “ um uns zu warnen. Doch wir hatten gar keine Wahl, mussten es also riskieren und kamen auch heil und für einen machbaren Preis nach Hause. Das dritte Restaurant im Hotel Moskva brachte uns ein ganz anderes Erlebnis. Obwohl wir uns nicht laut unterhielten, konnte man vom Nebentisch hören, dass wir miteinander nicht russisch sprachen. Am Nebentisch saß ein Herr, der uns schon eine ganze Weile beobachtete, schließlich aufstand, an den Tisch kam und auf Deutsch - er sprach gebrochen, aber doch verständlich - bat bei uns Platz nehmen zu dürfen. Nach seinen Vorstellungsworten war er staatlicher Leiter eines Betriebes in der Nähe von Moskau. Nach allem, Kleidung, Auftreten, Umgangsformen zu urteilen, ein Mann in gehobener Position. Zunächst fragte er natürlich, ob uns Moskau gefiele und ob wir schon lange hier wären. Seine zweite Frage aber war, ob wir aus Berlin kämen. Er wäre am Ende des Krieges als Soldat in Berlin gewesen und kenne die Stadt nur in Trümmern. Er möchte gern wissen, wie sie jetzt aussähe und wie das Leben jetzt in Berlin sei. Dies alles mit dem Ton wirklichen Interesses, ohne irgendwelche Ressentiments. Und etwas später, völlig unvermittelt, aber ebenso selbstverständlich kam der Satz: „Haben Sie noch immer Juden in der Regierung? “ Mit meiner etwas entgeist‐ erten Antwort: „Ja, selbstverständlich. Warum, fragen Sie? “ war das Gespräch für ihn offensichtlich beendet und er verabschiedete sich. Hans hatte dieser Satz die Sprache verschlagen. „Mutter, das können wir zu Hause niemandem er‐ zählen! “ Spontan verteidigte er sein schulmäßiges Bild von einer politisch kor‐ rekten SU, in der solche als antisemitisch deutbaren Sätze nicht vorkommen konnten. Außer diesen kulinarischen Genüssen gönnte ich mir mit Hans natürlich auch künstlerische Erlebnisse. Da ich das Bolschoi-Theater selbst noch nicht kannte, besuchten wir einen Ballettabend: Tschaikoswkis Schwanensee mit der dama‐ ligen Moskauer Primaballerina Maja Plissezkaja. Das Bolschoi ist das älteste, 126 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="127"?> 105 Mitteilung des Heute-Journals im ZdF vom 24.01.08. Popow lebt in Nürnberg, ist mit einer deutschen Frau verheiratet und tritt noch immer als Clown auf. schon 1776 gegründete russische Musiktheater. Das Haus selbst wurde nach mehreren Bränden 1856 im klassizistichen Stil wiederaufgebaut. Das Bol‐ schoi-Ballett galt mit dem Leningrader als das beste klassische Ballett der Welt überhaupt und Primaballerinen wie Plissezkaja und die legendäre Ulanowa, deren Tanz als Fünfzigjährige noch von unveränderter Leichtigkeit und Form‐ vollendung war, erfreuten sich eines unbestrittenen internationalen Rufes. Und außerdem war ein Ballett für Hans auch leichter zugänglich als eine Oper, denn ich muss gestehen, dass ich seine musikalische Erziehung leider vernachlässigt hatte. Dieser Abend jedoch begeisterte ihn restlos: die Atmosphäre des Hauses, die eingehende Musik, der Tanz, ganz gleich ob als Solopartie oder Gruppe. Als ich ihn bei der Vorbereitung dieses Teils der vita nach seiner Erinnerung fragte, kam als erstes die Antwort: „Die kleinen Schwänchen“. Ja, die waren wirklich entzückend, nicht nur künstlerisch perfekt. Dass es mir gelungen war, mit Hilfe von Hans Große für den Moskauer Staatszirkus Karten zu bekommen, grenzte fast an ein Wunder, denn der Zirkus war bei den Moskauern wahrscheinlich noch beliebter als Oper oder Ballett und Karten daher noch schwieriger zu bekommen. Denn die Artistik stand in hohem Ansehen und die Absolventen der staatlichen Artistikschule galten als hervor‐ ragend. Der feste Bau des Moskauer Zirkus lag nicht weit von der Universität entfernt und war für uns sehr gut zu erreichen. Das Programm lief unter dem Titel „Wasserfeerie“ und dem Motto „Glückliches Schwimmen“, denn nach dem ersten artistischen Teil kamen artistische Darbietungen und eine Löwendressur in einem riesigen Wasserbecken. Die eigentliche Attraktion des Abends aber war der berühmte Clown Oleg Popow, der das gesamte Programm begleitete. Man konnte ihn, nicht nach der Art der Clownerie, aber der Berühmtheit etwa mit Grog vergleichen. Grogs Wirkung beruhte vor allem auf der passenden oder unpassenden Wiederholung eines Wortes, seines unnachahmlichen „Schöööön? ! “ Popows Wirkung auf der Maske und seiner einfallsreichen Situationskomik. Dass ein so beliebter Künstler diesen Formats im Alter seine Geburtsstadt Moskau - wo er 1931 ge‐ boren wurde - würde verlassen müssen, weil seine Rente hier zum Leben nicht mehr ausreicht, war damals allerdings unvorstellbar. 105 Nach den zufällig in meinen Unterlagen erhaltenen Programmheftchen muss ich diesen Aufenthalt noch mehrfach dafür genutzt haben, das Opern- und Kon‐ zertangebot Moskaus zu genießen. Allerdings erinnere ich mich nur noch an 127 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="128"?> 106 Das Angebot entsprach meinem damaligen Arbeitsgebiet. Von den bei Rütten und Loe‐ ning, Berlin, seit 1952 von mir in deutscher Sprache herausgegebenen zwanzig Ro‐ manen der Rougon-Macquart Zolas waren zu diesem Zeitpunkt bis auf La joie de vivre, L´Argent und Le Docteur Pascal bereits alle erschienen. Ebenso 1968: Nicolas Boi‐ leau-Despréaux, L´Art poétique,(zweisprachig, VEB Max Niemeyer Verlag, Halle/ S.) u. Im Banne der Sprache. Strukturalismus in der Nouvelle Critique (Mitteldeutscher Verlag, Halle/ S.) sowie in BRPh die Aufsätze: Der Fall Boileau (1966/ 1, 99-106). Die klassische Doktrin (1967/ 1, 65-87), Desmarets de Saint-Sorlin und die Krise des Neo‐ aristotelismus (1968/ 1, 54-73) eine Aufführung von Gounods Oper „Faust“ im Bolschoi und an einen Klavier‐ konzert-Abend im großen Konzertsaal der Moskauer Philharmonie. Gounods Oper hat mir nicht gefallen; das lag aber nicht an der Aufführung, sondern an meiner Fixierung auf Goethes Faust, der für mich in jeder Beziehung den Höhepunkt der deutschen Dichtung - ich verwende bewusst das Wort „Dichtung“ - darstellt. Zu dem Besuch des Klavierkonzertabends mit einem amerikanischen Pia‐ nisten am 25. November, also schon kurz vor meiner Rückreise, hat mich wahr‐ scheinlich die Italienisch-Kollegin Zlata Michailowna Potapowa verleitet, mit der ich während dieses Gastsemesters näher in Kontakt kam. Sie vertrat die Italienisch-Abteilung, war mit Samarin befreundet gewesen, aufgeschlossen und gastfreundlich, so dass es - was gegenüber ausländischen Gastprofessoren in diesen Jahren eher ungewöhnlich war - zu wechselseitigen Einladungen kam und ein freundschaftliches Verhältnis entstand. Außerdem war sie meine einzige unmittelbare Kollegin an der Universität, die ich näher kennen lernte, nachdem ich Mitte Oktober endlich mit meinen Vorlesungen beginnen konnte. Textteil vom 18.5.2010: Am meisten Freude bei diesem Aufenthalt an der Uni‐ versität machten mir die Studenten, mit ihrer Wissbegierde und ihrer erstaun‐ lichen Beherrschung der französischen Sprache. Schließlich lief ja das gesamte Programm in der Fremdsprache. Ich hatte ein Zola-Seminar, eine Einführung in die Nouvelle Critique und eine Vorlesung zur Entwicklung der Poetik von der Renaissance zur Frühaufklärung 106 angeboten. Realisiert werden konnten im Rahmen der Studienpläne allerdings nur die beiden Vorlesungen. Ende des Ein‐ schubs. Die Studenten nahmen an den Veranstaltungen nicht nur pünktlich und mit großer Aufmerksamkeit teil, sondern konnten offensichtlich auch ohne Schwie‐ rigkeiten folgen, sowohl sprachlich - der gesamte Unterricht erfolgte in fran‐ zösisch - wie auch intellektuell, denn schließlich handelte es sich um schwierige theoretische Themen. Hie und da erlaubte ich mir eine Verkürzung der Vortragszeit, um im semi‐ naristischen Gespräch zu überprüfen, ob ich nicht etwa über die Köpfe hinweg 128 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="129"?> 107 Es handelte sich um vier Teilnehmerinnen: aus Baschkirien, Vilnius, Riga, Donez-Uni‐ versität und sechs Teilnehmer aus: Vladivostok, Uschgorod, Tschernowitz, Kishinow, Taschkent und Minsk. gesprochen hatte und die Hörer die jeweilige Problematik auch wirklich erfasst hatten. Ihre Fragen, manchmal auch noch Nachfragen in diesen zwischenge‐ schalteten seminaristischen Gesprächsrunden zeugten von ihrem wirklichen Interesse am Gegenstand. Die Teilnehmerzahlen waren allerdings insgesamt nicht hoch. Für die Poetik wesentlich höher als für den Strukturalismus. Denn diese Gruppe beschränkte sich auf zehn Hörer, wie die - wiederum zufällig auf‐ gehobene - handschriftliche Teilnehmerliste ausweist und sie kamen von ver‐ schiedenen Universitäten der SU 107 und waren offensichtlich zu einem weiteren Qualifizierungsstudium an der Lomonossow-Universität, so dass diese Vorle‐ sung in die hier angebotenen Problemkurse für Doktoranden anderer Univer‐ sitäten eingebaut war. Die Poetik fand ihm Rahmen des Romanistiklehrplans statt. Textteil von 2010 : Wenn über das Fachliche hinaus einmal Zeit zu einem zu‐ sätzlichen Gespräch war, wunderte mich vor allem, wie wach alle diese jungen Leute das kulturelle Leben in der Stadt verfolgten. Diese kulturelle Interessiert‐ heit war mir bei meinen früheren Besuchen schon bei den Kollegen aufgefallen. In den Gesprächen mit ihnen herrschte auch diesmal ein aufgeschlossenes, in‐ tellektuelles Klima. Textteil vom 19.10.2012: Die Vorbereitung dieser beiden Veranstaltungen ließ mir genügend Zeit, um Swetlana daran zu erinnern, dass wir eigentlich vor‐ hatten, einen Ausflug nach Leningrad zu unternehmen. Ich hatte diesen Wunsch auch gleich in den ersten Tagen geäußert. Es ging um einen Gegenbesuch bei Efim Etkind, der mich 1964 während meines damaligen dreiwöchigen Studien‐ aufenthaltes völlig überraschend in Moskau besucht hatte. Es wären noch einige Details zu regeln, sagte Swetlana - allerdings ziemlich verlegen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass dieser völlig harmlose und für mich ganz natürliche Wunsch sie eine Menge Arbeit kostete, denn ich wusste damals natürlich noch nicht, dass die Aufenthaltserlaubnis für einen ausländischen Besucher grundsätzlich nur für den vorher beantragten Aufenthaltsort gültig war. So einfach im Lande herumzureisen war nicht vorgesehen. In diesem Fall hatte es sogar noch einen besonderen Grund, doch den erfuhr ich erst vier Jahre später, als Etkind bereits in Frankreich war. Am 25. April 1974 hatte ihn der Wissenschaftsrat des Instituts Herzen auf Veranlassung der Staatssicherheit wegen politischer Unsicherheit aller Ämter enthoben. Der Grund war u. a. seine Beziehung zu Solschenizyn, 129 3. Begegnungen und Erlebnisse einer allein reisenden Professorin <?page no="130"?> 108 Cf. Wladimir Trubetzkoy. Etkind, le combat pour la culture. Revue des études slaves, t. 70, f.3, Paris 1998, p. 547-553 dessen Roman „Archipel Gulag“ in seiner Datscha zu Papier gebracht worden war. 108 4. Le tournant 4.1 Versatzstücke Text vom 13.11.2009 aus dem nicht archivierten Nachlass Partei. Der Umbau der ursprünglich als sozialistische Einheitspartei gegrün‐ deten Partei zu einer Partei „neuen Typus“, wie er 1948 durchgeführt wurde, erfolgte ebenfalls nach sowjetischem Vorbild. Selbst für alte Genossen wie meinen Mann bedurfte es einer Umstellung auf die allmählich, aber systematisch nach sowjetischem Vorbild neu eingeführten hierarchischen Strukturen, an deren Spitze göttergleich die Politbüromitglieder standen. Robert, der in den ersten Berliner Jahren im zentralen Parteiapparat als Ins‐ trukteur arbeitete - die Büros waren in dem Parteihaus Ecke Torstraße unter‐ gebracht - hatte es ja noch erlebt, dass morgens der damalige Vorsitzende Wil‐ helm Pieck (Pappa Pieck, wie er bei uns zu Hause mit dem Unterton des persönlichen Vertrauens in die Ehrlichkeit und den Anstand der Person genannt wurde) ganz leger in Pantoffeln von Zimmer zu Zimmer ging und die Genossen begrüßte. Natürlich waren solche familiären Formen auf die Dauer mit wach‐ senden Aufgaben und ebensolcher Arbeitsbelastung und sicher oft auch Über‐ lastung nicht beizubehalten. Aber das war nicht der Kern des Problems, sondern die mit der immer starrer werdenden Hierarchisierung einhergehende Entfrem‐ dung der Parteiführung nicht nur von der eigenen Parteimitgliedschaft, sondern von dem ganzen Volk und überhaupt von allem, was im Lande vor sich ging. Aus meiner heutigen Sicht, die mich unterschwellig mit zunehmender Ver‐ krustung der Verhältnisse schon seit den 80er Jahren gestört hat, würde ich „auf den Punkt gebracht“ sagen, dass diese von der sowjetischen Partei übernom‐ menen, den verschiedenen Parteien in den sozialistischen Staaten aufgezwun‐ genen Strukturen, die in erster Linie wohl Stalins Werk waren, mit kleinen Ver‐ änderungen perfekt die Ordnungsprinzipien der römisch-katholischen Kirche nachahmten. Stalin war nicht umsonst bei den Kapuzinern in die Schule ge‐ gangen. 130 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="131"?> Vielleicht habe ich auf Grund der streng katholischen Erziehung durch meine Mutter in der Jugend deshalb in den Anfangsjahren nach Krieg, Aussiedlung, dem Verlust der Heimat und des ganzen vertrauten Umfeldes diesen Regelkodex um des erstrebten Zieles einer besseren Welt, vor allem eines besseren Deutsch‐ lands und erfüllt von dem Wunsch nach Beständigkeit und Sicherheit auch frei‐ willig akzeptiert. Der Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes in religiösen Fragen geht zwar auf die Partei als Kollektivsubjekt über, wie es das Lied „Die Partei, die Partei hat immer Recht“ jubelnd verkündet, die de facto aber durch das Politbüro reprä‐ sentiert wird. Die Reinheit der Lehre - schon allein mit dem Gebrauch des Wortes Wort „Lehre“ war der offene Charakter des Marxismus als einer dialektischen Me‐ thode zur Erforschung der gesellschaftlichen Prozesse negiert und das Vorhan‐ densein eines gültigen Dogmas vorausgesetzt - überwachte nach dem Muster der Institution (der früheren Inquisition) die zentrale Parteikontrollkommission mit ihren Unterorganisationen bis hin zu den Kreisparteikontrollkommissionen. Und so wie der sündige Christ sein Gewissen erforschen musste, um Absolution für seine Sünden zu erhalten, musste auch das einer „Abweichung“ beschuldigte Parteimitglied in sich gehen, sein Gewissen erforschen und in schriftlicher Er‐ klärung die Gründe für seine ideologischen Fehler darlegen und die erteilte Strafe, Gewissenserforschung bei Anklage! ! bereuen, Selbstanklage! Parteistrafen, Rüge, Ausschluss = Exkommunikation - Bann - Versetzung aufs Land oder in die Produktion, um die Bindung an die Arbeiterklasse wie‐ derzugewinnen. All diese im Rückblick eigentlich unerträglichen Verhältnisse waren nur mit einem unerschütterlichen „eschatologischen Glauben“, dem notwendigen sub‐ jektiven Pendant der allein selig machenden Lehre zu ertragen. Gesprächsnotiz und Briefkopie Text vom 26.10.2011, er betrifft einen bis heute einsehbaren Wikipedia- Eintrag zu Anneliese Löffler, einer Germanistin und als Cherfredateurin der kultur- und lite‐ raturwissenschaftlichen Zeitschrift “Weimare Beiträge” einflussreichen Person. Sie wird in diesem Beitrag als IM ausgewiesen. Gespräch mit Frank Hörnigk am 25.10.2011, 21Uhr wegen Anneliese Löffler. Er wunderte sich keineswegs, dass ich ihn in diesem Zusammenhang anrufe, denn er hatte schon von Volker Braun gehört, dass offensichtlich derselbe Herr Tolzien, den Anneliese im Telefon als „einen Freund“ bezeichnete - der laut Adresse bei ihr wohnt - auch ihn um einen entlastenden Beitrag für Anneliese gebeten hatte. 131 4. Le tournant <?page no="132"?> 109 „Unbenklichkeitserklärungen“ wurden nicht durch persönliche Einsichten in die Stasi-Akten ermöglicht, sondern oblagen der dafür zuständigen Stelle, der Behörde für die Unterlagen der Staatssicherheit. D.R. Nun hatten aber sowohl Volker Braun, wie Frank Hörnigk nach der Wende ihre Stasi-Akte einsehen müssen, um die entsprechende Unbedenklichkeitsbe‐ scheinigung für ihre Berufungen - Frank als Professor an die HU, deutsche Gegenwartsliteratur, Volker Braun als Mitglied der Akademie der Künste - zu erhalten. 109 Leider fanden aber beide mehrere Seiten negativer Berichte von Anneliese über ihre Arbeiten als Literaturwissenschaftler und als Schriftsteller. Es ist ja auch bekannt, dass Volker Braun mehrfach Schwierigkeiten wegen seiner Werke hatte. Frank Hörnigk sagte, dass Anneliese ihn in ihren negativen Darstellungen einmal direkt als einen “Feind“ bezeichnet habe. Er sagte aber auch, dass er sie Ende der 60er Jahre als eine freundliche und sympathische Frau erlebt habe. Er habe auch sicher durch ihre Hilfe 1972 bei ihrem Mann, Hans Grosse, der in Moskau an der DDR-Botschaft tätig war, vier‐ zehn Tage Urlaub machen können. Seine Meinung war, dass sie durch die Berufung auf einen offensichtlich ei‐ gens dazu neu eingerichteten Lehrstuhl für DDR-Literatur überfordert war. Sie ist ja auch 1980, also mit 53 Jahren, bereits wieder ausgeschieden. Und hat dann freischaffend gearbeitet. Diese negativen Aktivitäten scheinen vor allem aus dieser Zeit dann erfolgt zu sein. Ich habe aber nicht weiter nachgefragt. Inter‐ essant war, dass er bei einer Einladung zu Dieter Manns, ich glaube 80. Ge‐ burtstag, von der Tochter von Anneliese angesprochen, die ihm sagte, dass sie sich für ihre Mutter schäme. Daß Frank Hörnigk größte Schwierigkeiten hatte, weiß ich. Er hat sie mir schon damals erzählt, als er mehrfach - ich glaube sogar bei Konny Naumann - sich verantworten musste. Denn wenn ich mich nicht irre, ging es um einen Partei-Ausschluss. Ich kannte ihn selbst stets als einen sauberen Charakter und Genossen. Nach diesem Gespräch mit ihm, ist es absolut klar, dass die Anschuldigungen stimmen. Ich selbst hatte ihr schon vor diesem Gespräch auf den Beantworter - per‐ sönlich hatte ich sie am Telefon nicht erreicht - gesagt, dass sie nur mit amtli‐ chen Belegen und nicht mit Unschuldsbeteuerungen diesen Wikipedia-Bericht entkräften könne. Die Briefe von Herrn Tolzien finde ich eine Zumutung. 132 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="133"?> 110 Der folgende Text wurde von Rita Schober für ein Buch zu Ehren von Hadwig Klemperer geschrieben. Rosemarie Gläser (Hg.). Hadwig Klemperer im Spiegel lebendiger Erin‐ nerungen. Goldenbogen Verlag, Dresden 2011. S. 23-27 Liebe Anneliese, zur Beantwortung der von Dir veranlassten Zuschriften von Herrn Tolzien möchte ich Dir, wie bereits am Telefon, noch einmal sagen, dass ich Dir dankbar bin für den seinerzeitigen Hinweis auf eine gegen mich gerichtete politische Verleumdung in dem Abschlussbericht der Delegationsleitung der DDR zu dem AILC-Kongress in Belgrad 1967. Aus jenen ersten Jahren unserer Bekanntschaft habe ich Dich als sympathi‐ sche und freundliche jüngere Kollegin der Germanisten und natürlich als er‐ folgreiche Chefredakteurin der Weimarer Beiträge in angenehmer Erinnerung. Und ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, Dir irgendwie zu misstrauen. Allerdings hatten wir in den späteren Jahren auf Grund der unterschiedli‐ chen Lebensläufe weniger Kontakt. Und um diese geht es wohl bei den An‐ schuldigungen. Dies ist meine Antwort an Dich und nicht eine Zuarbeit für Herrn Tolzien. Es grüßt Dich die uralte und sehr müde Rita Schober Für Hadwig Klemperer (Text vom 2.09.2010) Ja, es war Liebe ! 110 Die Maison Heine hatte für den 21. Februar 1997 zu einer Konferenz einge‐ laden, um die französische Übersetzung von Klemperers LTI einem Kreis inte‐ ressierter Fachkollegen vorzustellen. Teilnehmer waren außer der französischen Übersetzerin der LTI und anderen Pariser Kollegen als auswärtige Gäste der Übersetzer der Klemperer Tagebücher Ghislain Riccardi, ich selbst als Klemperer Schülerin und vor allem natürlich Du, liebe Hadwig, als die berufene Sachwal‐ terin von Klemperers wissenschaftlichem Nachlass. Nun ist das Übersetzen eines Textes aus einer Sprache in eine andere immer ein schwieriges Geschäft. Seine spezifischen Probleme kommen jedoch aus der jeweiligen Textart selbst. Umberto Eco, ein erfahrener Fachmann auf diesem Gebiet, gab seiner 2003 erschienenen Untersuchung dieser Problematik nicht umsonst den Titel: Dire quasi la stessa cosa. Esperienze di traduzione. Und bei einem Text wie der “Sprache des Dritten Reiches”, wo es um die mit Hilfe einer dominant eingesetzten Terminologie vollzogene massenpsychische Manipulation des Alltagsdenkens eines ganzen Volkes ging, kam es wirklich nicht nur auf Exaktheit, sondern auch auf das Erfassen der entsprechenden sprachlichen Nuancen an. Kein Wunder also, dass es eine angeregte Diskussion gab und auch Du Dich veranlasst sahst, Deine Meinung zu den aufgeworfenen 133 4. Le tournant <?page no="134"?> Fragen einzubringen. Aber wie Du das tatest, das war zauberhaft. Nicht durch eine autoritäre Stellungnahme, wie es Dir ja zugestanden hätte. Schließlich musstest Du am Besten wissen, was Victor im Zweifelsfall mit einem Ausdruck oder Wort gemeint habe. Nein, eher zögernd, nachdenklich und als ob Du erst nach dem richtigen französischen Wort für Deinen Gedanken suchen müsstest. Es war herrlich! Und natürlich hast Du mit Deinem moderaten Stil alle von Deiner Meinung restlos überzeugt und damit von Victors vielleicht wichtigstem wissenschaftlichen Erbe, dieser einmaligen, am lebendigen Alltagsgebrauch exemplifizierten soziolinguistischen Arbeit. Doch irgendwie fiel jemandem plötzlich ein, Dir die überhaupt nicht hierher gehörende Frage zu stellen, ob Du denn diesen soviel älteren Herrn Professor Klemperer aus Liebe geheiratet hättest? Und da kam Deine Antwort prompt und klar und deutlich: „Ja, es war Liebe! “ Ja, es war Liebe - eine große Liebe von beiden Seiten. Und ich musste an jenen Tag denken, als Victor nach dem Tod von Eva zu einem Festtag - ich glaube es war Ostern - nicht wieder allein sein wollte und eigentlich von seiner Schülerin Rita erwartete, dass sie ihm über diese Feiertagseinöde durch ihren Besuch hin‐ weghelfe. Und als ich ihm sagte, er möchte doch einfach diese reizende Assis‐ tentin Hadwig Kirchner einladen, sie schwärme bekanntlich für ihren Professor und würde sicher gern zu Besuch kommen, antwortete er ebenso flott, wie Du viele Jahre später in Paris, nur im gegenteiligen Sinne: „Das kann ich nicht! “ Und auf meine völlig verblüffte Frage: „Aber warum denn? “ kam der schlichte Satz: „Dazu habe ich sie zu lieb.“ „Na, dann heirate sie doch! “, war meine einfache Lösung. Und so kam es ja auch. Und wenn jemand noch irgendwelche Zweifel an der Wahrheit Deiner Ant‐ wort haben sollte, dann möge er die entsprechenden Seiten in Victors Tagebü‐ chern nachlesen. Sie sprechen Bände über eine große Liebe, die einen Mann in hohem Alter mit elementarer Gewalt überfällt und der er - trotz des doppelten schlechten Gewissens gegenüber der verstorbenen treuen Lebensgefährtin in den schwersten Jahren der Verfolgung und in anderer Weise gegenüber der so viel jüngeren Geliebten - nicht wiederstehen kann. Und auf der anderen Seite Du, Hadwig, dieses entzückend natürliche Menschenkind, das ganz unbeküm‐ mert mit dem Schwung der Jugend heimlich in der Nacht durchs Fester in das Direktorzimmer des Romanischen Instituts in der damaligen Clara-Zetkin-Straße Nr. 1 einsteigt, um die nächtlichen Stunden bei ihrem Ge‐ liebten zu verbringen. Und nicht nur das. Die in jeder Weise bereit ist, sich auch sonst in allem und jedem ihrem Mann anzupassen. Sie nimmt sogar an Gewicht zu, weil Victor das Schönheitsideal seiner Jugend wiederentdeckt hat, „Schönes 134 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="135"?> Mädchen - schweres Mädchen“. Nach dem Tode von Victor wurdest Du ganz schnell wieder schlank und zierlich wie als junges Mädchen. Und dennoch konntet Ihr in Eurem Leben nicht immer der inhärenten Schwierigkeit und manchmal auch unbeabsichtigten Komik dieser besonderen Situation entgehen. Vor allem konnte Victor als Literaturhistoriker, weder in seinem Bewusstsein noch seinem Unterbewusstsein, nicht den Obsessionen dieses beliebten Komödienstoffes: Alter Mann/ junges Mädchen, wie er ihn in den verschiedenen Versionen vom Mittelalter bis zur Moderne kannte und in unzähligen Vorlesungen behandelt hatte, entgehen und auch nicht den anzüg‐ lichen Bemerkungen seiner freundlichen Herren Kollegen vor allem von der Universität in Greifswald. Oder einfach auf Grund von kleinen Zufälligkeiten. Ich denke an die standesamtliche Hochzeit in Berlin Mitte. Altes Haus, alte Räume, altes pseudogotisches Gestühl in dem Raum für die Trauung. Robert und ich waren Eure Trauzeugen. Vor der Abfahrt bei uns in Niederschönhausen gab es bereits eine kleine Schwierigkeit mit meiner Mutter, die uns allen unbedingt die für eine Hochzeit nach ihrer Meinung notwendigen Myrtensträußchen an‐ stecken wollte, was Victor ganz energisch ablehnte. Die unbeabsichtigt Komik produzierende Schwierigkeit kam jedoch von dem Standesbeamten selbst. Er war schon etwas betagt in diesem Amt und hatte die Unterlagen für die anste‐ hende Trauung offensichtlich gar nicht gelesen. Jedenfalls hatte er beim Her‐ einrufen des Brautpaares Schwierigkeiten, die zusammengehörenden Partner herauszufinden, wodurch zunächst eine peinliche Verwechslung entstand. Als wir schließlich in der richtigen Reihenfolge in dem Trauungsraum Platz ge‐ nommen hatten, konnte die Zeremonie nach längerem Warten endlich be‐ ginnen. Der amtliche Aktenteil verlief ohne Komplikationen. Doch dann kam die Ansprache des Standesbeamten an das Brautpaar, womit diesem die not‐ wendigen Regeln für das gemeinsame Leben mitgegeben werden sollten. Seine Rede war aufgebaut auf drei Bibelsprüchen, dessen dritter da hieß: „Seid fruchtbar und vermehret Euch.“ Ich sehe Victor noch, wie er, um nicht die Hal‐ tung zu verlieren, die Lehne seines Chorgestühls krampfhaft umklammerte, den Kopf senkte und heimlich, gewissermaßen von unten, sondierend unsere Blicke suchte, um unsere Reaktion festzustellen. Aber dieser Bibelspruch stellte in der gegebenen Situation einen so horrenden faux-pas dar, dass er sich eigentlich von selbst erledigte und die Situation damit irgendwie gerettet war. Als wir nach Beendigung des Amtsaktes den Raum verlassen hatten, haben wir alle vier von Herzen gelacht und die mögliche Peinlichkeit war endgültig erledigt. Ihr wart eigentlich auch schon in Eile, denn Victor hatte, wie üblich, irgendeine wichtige Sitzung. Ich glaube des Präsidiums des Kulturbundes. 135 4. Le tournant <?page no="136"?> Solche kleinen Peinlichkeiten haben Eurer Liebe nie Abbruch getan. Du hat‐ test aber auch eine zauberhafte, leicht ironisch distanzierte Art, mit den Dingen und Schwierigkeiten des Alltags umzugehen, die das Leben einfach leichter machte. Und wenn gar nichts half, dann kehrtest Du diese leichte Ironie schon auch mal gegen Euch selbst und alles war gerettet. Ja, und es war auch Liebe, als Victor, ängstlich fast wie ein Pennäler, auf das Ergebnis Deiner Doktorprüfung bei Kantorowicz und mir wartete, wozu es ei‐ gentlich gar keinen Anlass gab. Schließlich kamst Du aus einem intellektuellen Elternhaus, hattest ordentlich studiert, eine wirklich gute Untersuchung über Heinrich Manns „Henri Quatre“ als Promotionsarbeit abgegeben und dass das Ganze nicht mit „summa cum laude“ endete, lag einfach daran, dass Du mit Victor Klemperer verheiratet warst und auf jeden Fall der Eindruck vermieden werden sollte, Deine gute Note ginge auf das Konto der Professorengattin. Nein. Das hattest Du wahrlich nicht nötig. Du hattest einen wachen Verstand, solide Fachkenntnisse und Deine Studenten in Halle/ S. wussten Jahre später Deine Übungen und Seminare sehr wohl zu schätzen. Ja, es war Liebe! Und die Deine hat sich vor allem auch dann bewährt, als Victor ernsthaft erkrankte und auf Deine Hilfe und Pflege angewiesen war. Du zögertest keinen Augenblick, den notwendigen Krankenhausaufenthalt mona‐ telang mit ihm zu teilen, um vorsorglich darauf zu achten, dass er richtig gepflegt wurde und die Medikamente pünktlich eingenommen wurden. Ganz abgesehen von der seelischen Beruhigung, die Deine Nähe dem Kranken einfach gab und ihm über das Schwerste hinweghalf, so dass er sich, fast wie durch ein Wunder, Ende 1959 gesundheitlich wieder erholt hatte und neue Hoffnung schöpfte, wie er mir in seiner Weihnachtskarte schrieb. Ja, es war Liebe! Eine große Liebe, die auch über Victors Tod hinaus Dein Leben prägte und zu völlig neuer Entfaltung kam, als es darum ging, sein wis‐ senschaftliches und persönliches Erbe zu hüten und zu verteidigen. Ich sehe Dich noch 1995 in einem Hörsaal der Ludwig-Maximilian-Univer‐ sität München gemeinsam mit Walter Nowojaki auf dem Podium stehen und den Geschwister- Scholl-Preis entgegennehmen, der Victor für die eben veröf‐ fentlichten ersten Bände der Tagebücher verliehen wurde. Die sehr sensible und sprachlich schöne laudatio von Martin Walser war eine gebührende Würdigung von Leben und Werk des Preisträgers. Ohne Deine Zustimmung jedoch hätten diese Tagebücher, deren Fertigstel‐ lung Victor so auf der Seele lag und die er dann doch nicht mehr bewältigte, gar nicht veröffentlicht werden können. Welche Gestalt sie, von Victors Hand ge‐ formt, angenommen hätten, lassen uns die zwei Bände des „Curriculum vitae“ ahnen. Sie wären sicher eine stilistisch gute, interessante Erzählung geworden. 136 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="137"?> Aber etwas Unschätzbares wäre dabei verloren gegangen, die Unmittelbarkeit des täglich Erlebten, als Zeitzeugnis und zugleich als Selbstzeugnis - dieser „Goldschatz“ - denn mit diesem Terminus beschrieb Walter Nowojski ganz be‐ geistert seinen ersten Eindruck von der Lektüre der handschriftlichen Tagebü‐ cher in der Dresdener Landesbibliothek, den er dann ja auch mit vieler Mühe und Deiner unschätzbaren Hilfe für die Nachwelt gehoben hat. Dass Victors Tagebücher ein kostbares Zeitzeugnis der „Alltagsgeschichte des deutschen Volkes“ über fast ein Jahrhundert darstellen, ist inzwischen unbe‐ strittenes Faktum der Historiographie. Als persönlicher Kontext haben die Ta‐ gebücher zugleich einen neuen Zugang für die Einordnung seiner literaturwis‐ senschaftlichen Arbeiten eröffnet, insbesondere für sein „Sorgenkind“, den unvollendeten zweiten Band des „dixhuitième“, „Das Jahrhundert Rousseaus“. Vor allem hat die Veröffentlichung dieser Tagebücher aber Victors Namen weit über die engen Fachkreise hinaus bekannt gemacht und das ist letztlich auch Dein Verdienst. So wie es auch Dein Verdienst war, das Verdienst Deiner Liebe, dass Victor nach dem Tode von Eva noch die Kraft fand, fast acht Jahre lang wissenschaftlich zu arbeiten, zu publizieren und vor allem Vorlesungen zu halten, die Hunderten von Studenten der Romanistik und auch Germanistik den Blick für die Literatur als das „aufgeschlagene Buch der Geschichte“ öffnete und zugleich ihren Sinn für die Schönheit der Sprache beförderte. Und deshalb möchten seine Schüler Dir heute von Herzen danken, dass Du ihnen mit Deiner Liebe den verehrten Lehrer noch so lange erhalten hast. Rita Schober 4.2 Jahresbilanzen / Privates 7. Oktober 2003. Eigentlich wollten wir heute nach Prag fahren. Aber die vor‐ gesehene Unterkunft in einem Kloster Nähe des Altstädter Platzes war nicht mehr frei und die offiziellen Quartiere finanziell nicht machbar oder zu weit vom Zentrum. Und so fiel die geplante Reise mit dem Rosenmädchen während der Berliner Schulherbstferien ins Wasser. Ursprünglich hatte ich für sofortige Abreise am ersten Tag, also, dem dritten, plädiert. Doch der wäre wegen des durch den Nationalfeiertag am dritten ver‐ längerten Wochenendes sicher ungünstig, weil überlaufen. Dienstag der sie‐ bente, nun ja, das ginge, da würden wir eben den ehemaligen Staatsfeiertag der DDR wählen. Auch gut. Ich hatte an beide nicht gedacht. Verdrängung - wenn auch aus unterschied‐ lichen Gründen? 137 4. Le tournant <?page no="138"?> Dabei war mir schon in den achtziger Jahren der tschechische Slogan: „Pro tentokrát“ - „Für diesmal“ - mit dem man das Ende des deutschen Besatzungs‐ regimes siegesgewiß vorwegnahm - angesichts des unübersehbaren Nieder‐ gangs unseres Wirtschaftssystems, und nicht nur deswegen, immer wieder wie ein Memento in den Sinn gekommen Hätte man Paris in vier Besatzungszonen aufteilen können? Bestimmt nicht. Wäre die Teilung Frankreichs in zwei getrennte Staaten angesichts des Jahr‐ hunderte alten französischen Nationalgefühls je möglich gewesen? 03.03.06 Gestern waren wir zur Auswertung des Echo-Kardiogramms, das Dr. Eisenberg am 16. Februar aufgezeichnet hatte im Zusammenhang mit einer Langzeitblut‐ druckmessung. Es hatte, wie schon so oft, Trabbel wegen des Termins gegeben und als wir am Montag, also am 27. 02. baten, statt Nachmittag um 15 Uhr schon früh kommen zu dürfen. Hanno Harnisch vom ND hatte sich für 16.30 Uhr zum Interview angesagt mit einem Fotografen und den Nachsatz hinzugefügt: „Hübsch Dich ein bisschen an.“ Dafür brauche ich natürlich, wie es in dem be‐ kannten Witz (Ihre Frau ist ja noch immer so schön! ) heißt, jetzt schon etwas länger. Nach einer zweiten Intervention von Ilse - sie kann so etwas, wenn sie die Frau Oberstudiendirektor herauskehrt - wurden wir auf halb zehn Uhr be‐ stellt und kamen, ebenfalls wie üblich, nach zwei Stunden warten dran. Eigentlich ging ich völlig ahnungslos wie seinerzeit zu der entscheidenden Mammografie vor der Brustkrebsoperation in das Ordinationszimmer. Dr. Ei‐ senberg eröffnete mir, dass sich mein Herzklappenfehler leider wesentlich ver‐ schlimmert habe und nach dem vorliegenden Befund normalerweise eine Ope‐ ration angeordnet werden müsste. Doch angesichts meines Alters - noch ein Vierteljahr bis zu meinem 88. Geburtstag - rate er zu konservativer Behandlung, d. h. Erhöhung des Blutdruckmedikaments und Ergänzung durch ein Blutver‐ dünnungsmittel. Er wusste nicht, dass ich schon seit Jahren von Dr. Turowski verordnet Plavix 300 einnehme. Durch diese Mitteilung wurde der Befund über die Verschlechterung des Herzzustandes natürlich gravierender. Das mögliche Verzögerungsmedikament gegen die fortschreitende Erkrankung war damit ja schon seit Jahren eingesetzt worden. Ich bat Dr. Eisenberg, mir offen die Wahrheit zu sagen. „Wieviel Zeit bleibt mir noch, um mein „Leben in Ordnung zu bringen? “ Ein Problem, das mich schon seit Längerem belastet: Ordnung machen in den Unterlagen, das Testament, und vor allem, die vita schreiben für Dich, mein lieber Hans! Als Vorbild für meinen Abgang aus dieser Welt schwebt mir immer die Gestalt des alten Bauern vor Augen in Bobrowskis Roman Der Vater. Aber auch meine Schwiegermutter, Oma 138 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="139"?> 111 Die Schreibweise des Namens Houellebecq wurde im gesamten Text korrigiert. D. R. Schober, die merkwürdigerweise, als ob sie ihr Ende geahnt hätte, kurz vor ihrem Tode all ihre Sachen in ihrem Zimmer noch geordnet hatte. Die Antwort von Eisenberg war eindeutig: „Im Hinblick auf Ihren Herzzu‐ stand: maximal fünf Jahre.“ Nun wissen wir ja alle, dass wir sterblich sind. Und seit einiger Zeit habe ich immer öfter das Gefühl, ich muß mich beeilen, um meinen Wunsch, „Ordnung zu machen“, noch zu schaffen. Immer wieder sage ich mir, ich darf mich nicht ablenken lassen, wie jetzt wieder durch die Houellebecq-Lektüre 111 ; ich muß wenigstens die Klempererbriefe noch herausbringen und mich dann an die vita setzen. Aber dieses sozialpsychologische Phänomen Houellebecq, die neuerliche Re‐ aktion der Medien auf sein letztes Buch, „La possibilité d’une île“, das Kollo‐ quium über „Le social dans la littérature du XXI ième siècle“ mit dem fast ver‐ krampften Bemühen, die Rückkehr zur referentiellen Darstellung sozialer, gesellschaftlicher Vorgänge, allgemeiner gesagt, überhaupt die Rückkehr zur Referentialität in die moderne französische Literatur zu kaschieren, all das möchte ich noch einmal bearbeiten - nein, es muß Schluß sein, ich muß mich auf das Wesentliche konzentrieren, vielleicht auch noch einmal nicht nur ar‐ beiten, sondern bei Sonnenschein ein bisschen wenigstens spazieren gehen, den Garten genießen, kurz, noch ein bisschen „leben“, wie man es so normalerweise versteht. Ja, aber ich? Mein Leben ist nun einmal, die Freude an der Lösung eines wissenschaftlichen Problems. Dieses dumpfe Gefühl, dass die Uhr schon fast abgelaufen ist, beherrscht mich ja schon eine ganze Weile. Es ist kein Zufall, dass ich Dir, mein lieber Hans, diesmal ein paar Zeilen zum Geburtstag geschrieben habe und nicht nur ange‐ rufen habe. Fünfundfünfzigster Geburtstag - ein halbrunder - irgendwie stand hinter meinem schriftlichen Glückwunsch der, wie ich nun weiß, berechtigte Zweifel, ob ich zum nächsten runden Geburtstag überhaupt noch einmal gra‐ tulieren kann. Eisenbergs Worte riefen mir als Erstes Balzacs La peau de chagrin ins Ge‐ dächtnis. Ich habe diesen Roman neben den Verlorenen Illusionen in meinen Vorlesungen immer am liebsten behandelt. Das Chagrinleder hat alle Eigenschaften eines Erfolgsromans beim breiten Publikum. Es ist zunächst eine phantastische Geschichte von einem geheimnis‐ vollen Talisman, der seinem Besitzer jeden Wunsch erfüllt - allerdings um den Preis, dass mit jedem erfüllten Wunsch das Chagrinleder ein Stückchen kleiner 139 4. Le tournant <?page no="140"?> wird als Anzeichen dafür, dass im gleichen Maße das Leben seines Besitzers ebenfalls ein Stückchen weiter aufgebraucht ist. Der junge Mann, der dieses Leder im Trödelladen eines Altwarenhändlers erwirbt, hat den Wunsch: ich möchte reich werden, noch nicht einmal richtig zu Ende gedacht, da erfüllt er sich auf geheimnisvoll natürliche Weise, wenn ich mich recht erinnere durch eine große Erbschaft und eröffnet damit seinem Be‐ sitzer die Möglichkeit, von nun an ein Leben in Saus und Braus zu führen, da sich ihm fortan ja alle Wünsche auf der Stelle erfüllen, bis er irgendwann durch einen Zufall feststellt, dass das geheimnisvolle Leder durch seine Inanspruch‐ nahme schon sehr klein geworden ist. Denn jeder Wunsch, ob ernsthaft gewollt oder nur gedacht zehrt von dem Leder. Eine andere Midasgeschichte, Von da an wird sein Leben zur Hölle. Um die verhängnisvollen Veränderungen seines Ta‐ lismans besser verfolgen zu können, bringt er ihn sichtbar an der Wand an. Der angstvolle Blick auf dieses schwindende Leder wird zum Fluch seiner letzten Tage. Ist das nun meine Zukunft? Jeden Tag denken, noch fünf Jahre und die Tage zählen? Nein! ! ! . Auch wenn ich im ersten Augenblick geschockt war, weil das uns als Zeitpunkt unbekannte Ende im Grunde eine Gnade ist und der Schock dieses plötzlichen Wissens über ein von heute an feststehendes Limit, wie für einen Verurteilten der Tag der Hinrichtung, über eine nicht mehr überschreit‐ bare Grenze zumindest im ersten Augenblick das ganze Lebensgefühl grund‐ sätzlich verändert. Auch der Roman enthält natürlich über seine phantastische Oberflächenge‐ schichte hinaus einen tiefen philosophischen Sinn: Das Leben leben mit allem was dazu gehört, Liebe und Haß, Lust und Leid, Freude und Schmerz, Bewegung und Ruhe, Arbeit und Erholung mit allen Höhen und Tiefen heißt auch, es auf‐ zubrauchen. Heideggers Leben zum Tode, anders ausgedrückt, Leben heißt sterben oder Panta rhei - alles fließt, alles verändert sich, nichts kann man fest‐ halten, das Vergehen ist das Bleiben. „Werd´ ich zum Augenblicke sagen verweile doch, Du bist so schön, dann kannst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehen.“ Faust hat Recht. Wenn das non plus ultra erreicht ist, ist das Leben erfüllt, und da es sich nicht festhalten lässt, kann man auch untergehen. Eigentlich kreisen Hou‐ ellebecqs Gedanken im letzten Roman in den verschiedensten Variationen eben‐ falls um diesen einen Gedanken des Todes, des Vergehens, der Unmöglichkeit dauernden Glücks. Nichts ist beständig, nichts dauert unverändert. Aber das Gegenteil, das reine bedürfnislose nur Existieren der Neomenschen, dieses andere Extrem, ist das Nichts, Sinnlosigkeit. 140 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="141"?> Und der Sinn eines Lebens wird uns nicht gegeben und nicht geschenkt, den müssen wir ihm schon selbst zu geben versuchen. Also Ordnung machen und das Tagwerk vollbringen, wie es in dem schönen Lied „S´ is Feierombd“ heißt. Ich will versuchen, mir Mühe zu geben, es in diesem Sinne zu schaffen. 11. Juli 2006 neuer Besuch bei Dr. Eisenberg Heute war es ein glücklicher Tag. Alle Befunde waren in Ordnung. Das Herz schlug ruhig und auch der Blutdruck war gut, obwohl ich angesichts der nun schon einen Monat vorhaltenden extremen, zwischen dreißig und mehreren dreißig Graden schwankenden Hitze Schlimmes befürchtet hatte. Allerdings hatten wir auch die ganze Zeit atmosphärischen Hochdruck. Die zweite gute Nachricht des heutigen Tages kam vom Sozialamt. Der Schwerbeschädigtenausweis (70 %) ist bewilligt. 12. September 2006 Gestern, am 11. September 2006 habe ich mit einer Vertreterin der Firma Grien‐ eisen, in deren Händen schon die Beerdigung von Robert lag, meine eigene Be‐ stattung besprochen und vor allem einen festen Eichensarg ausgesucht. Einen solchen zu bekommen hatte sich aber auch schon meine Mutter gewünscht und er hat ja auch lange gehalten. Die geplante Überführung nach München verteuert alles aber sehr, da die Fahrt hin und her = doppelte Strecke à 650 km 1300 EUR kostet. Der Sarg un‐ gefähr 2000. Alles zusammen unter Einschluß der wahrscheinlichen Kosten in München - ohne Zeitungsanzeige! - EUR 10.000. Das entspricht der DM-Summe (1: 1) für Robert, aber da waren alle Kosten, auch Zeitung inbegriffen, Trauer-Essen usw. Text vom 9.2.2008: Das Jahr 2007 hatte drei wirklich schöne familiäre Höhepunkte, viele gesund‐ heitliche Schwierigkeiten und fast keine wissenschaftlichen Ergebnisse. Ich beginne mit den Schwierigkeiten: Nach einem Menière-Anfall gleich An‐ fang Januar, kam eine eitrige Bronchitis, die insgesamt fast zwei volle Monate dauerte und deren schwere Hustenanfälle fast bis zum Erbrechen den Körper sehr schwächten. Mit beginnendem Frühling und besser werdendem Wetter be‐ gann sich mein Zustand langsam zu bessern. Die eigentliche Antriebskraft war wohl die Vorfreude auf Marias im Mai be‐ vorstehende Hochzeit, die ich doch unbedingt miterleben wollte. Dann ging es mir ab der zweiten Aprilwoche zunehmend besser und ich hatte richtig schöne Tage. Neuer Rückfall in eitrige Bronchitis in Wörishofen und schnelle und wirk‐ 141 4. Le tournant <?page no="142"?> same Hilfe wie immer durch Herrn Dr. Hennig, so dass ich auch an der Taufe teilnehmen konnte. Mein Versuch, das eigentliche Grundübel, die chronische Sinusitis durch eine Konsultation bei Herrn Prof. Kaschke und entsprechende Behandlung wirklich auszukurieren, schlug fehlt. Nach verschiedenen gründli‐ chen Untersuchungen bestätigte sich meine „Diagose“ zwar als richtig, aber eine wirkliche Behebung des Übels - da nur mit einer Operation möglich - musste unterbleiben. Mit Hilfe von Dr. Kühne wurde nun konservativ therapiert. Vielleicht durch all diese Aufregungen ausgelöst, kam im September ein neuer schwerer Menière-Anfall mit mehreren Schüben, davon nach fünf Tagen in der Nacht ein so schwerer, dass ich fünf Wochen lang nicht einmal mehr in der Wanne stehen konnte, um mich zu duschen. Das wechselnde Herbstwetter tat das Übrige. Ich war ziemlich verzweifelt und Ilse vollbrachte Wunder an liebe‐ voller Fürsorge und sorgte zehn Tage lang für volle Verpflegung im Schlaf‐ zimmer, denn ich konnte einfach nicht die Treppe hinuntergehen. Zu dem Me‐ nière gesellte sich offensichtlich eine Blockierung der Halswirbelsäule, die ganz allmählich durch die sehr gute Behandlung von Herrn Mahnke, der mir schon im Frühjahr einmal geholfen hatte nach einer vergeblichen, aber teuren Aku‐ punktur von Dr. Herrmann, zurückging. So dass ich nun wieder hoffe, Weih‐ nachten mit meinen Kindern in München feiern zu können. Aber insgesamt waren es fünf Monate! Die Wissenschaft: Erschienen ist: die Rezension des Kolloquiums 2004 zum modernen Roman in lendemains Nr. 125,150-161; das Interview mit Adelbert Reif zu Zola im Juniheft der Universitas (die Korrektur hat mich mit Ergän‐ zungen und Umschrift des Schlusses, der dann nicht erschien, viel Mühe ge‐ kostet). Erscheinen wird am 17. Dezember zu Englers 72. Geburtstag die noch‐ mals bearbeitete und vor allem mit dem wissenschaftlichen Apparat versehene Nana (Sekundärliteratur ab 1990 nachgearbeitet, Kopien oft von Aurélie be‐ sorgt.) All das in den ersten vier Monaten trotz der Krankheit. Dann kam Durchsicht von Aurélies Dissertation = 1000 Seiten, plus kritische Stellungnahme. Dann viel Prag-Lektüre und vor allem Tschechisch üben und Versuch, einen genauen Plan für die drei Tage zu machen. Im Herbst ist de facto nichts geworden. Absicht: Spitzer-Briefe zu rezensieren an Klares Alleingang gescheitert, die Lektüre an sich war aber interessant. Habe den Plan auch aufgegeben, um wenigstens mit der Durchsicht der Akten anzu‐ fangen, denn ich habe das Gefühl, mich beeilen zu müssen, wenn ich wirklich noch etwas, wenigstens von meinen Jahren an der HU, zu Papier bringen will. Die Idee, einen ersten Entwurf zum 90. fertig zu haben, ist leider nicht zu rea‐ lisieren. Ich bin kein Archivar und das Ordnen der Akten macht mir viel Schwie‐ 142 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="143"?> rigkeiten, besser gesagt, das Zuordnen zu den verschiedenen Komplexen. Oft weiß ich nicht, wo ich ein Schriftstück am besten unterbringen soll, weil es unter verschiedenen Gesichtspunkten verwendet werden könnte. Und Dr. Schulze vom HU-Archiv konnte mir im Prinzip auch nicht weiterhelfen, da er ja die Akten nicht kennt. Dennoch angefangen habe ich damit. Anfang Dezember gelang es wenigstens noch, in einer „gesundheitlichen Pause“ das vom Referat für Öffentlichkeitsarbeit der HU, Frau Heike Zappe, erbetene Interview durchzuführen. Es waren reichlich drei anstrengende Stunden. Fünf Leute angereist, ein Kameramann, Frau Zappe als Photografin, Beleuchter. Leider hatte ich mir die Fragen nicht vorher geben lassen. Und der Interviewer war kein Fachmann, sondern ein Journalist, so dass die eigentliche Wissenschaft zu kurz kam. Aber die Photographien wurden sehr schön. Text vom 27. Januar 2008: Fortsetzung der Jahresbilanz 2007 Die schönen Stunden: die Hochzeit, der Prag-Besuch, die Taufe und ein Besuch von Prof. Wolfzettel und seiner Frau. Die Hochzeit in Kloster Chorin am 5. Mai stand unter einem guten Stern, denn das Wetter war hell, sonnig, die Temperatur der Jahreszeit entsprechend ange‐ nehm. Das Hotel war gut, oben auf einem Hügel gelegen, so daß wir von un‐ serem Zimmer im zweiten Stock einen wunderbaren Rundblick über den Wald hinweg in die Ferne hatten. Die vier Tage, denn wir waren von Berlin mit Hans und Linde bereits am Freitag hingefahren und erst am Montag zurück, waren wie ein kleiner Urlaub, der mich aus meinem Krankheitstief herausgeholt hat. Aber das Wichtigste war natürlich die Braut, meine wunderschöne große En‐ kelin Maria in einem entzückenden Kleid und mit einer neuen Frisur, die ihr sehr gut steht, und dazu ihr Bräutigam Matthias, schick angezogen und beide strahlend. Eine fröhliche Hochzeitsgesellschaft (insgesamt ungefähr 40 Leute) außer der Familie, vor allem Susi Knauer mit Familie (die kleine Anne als Kränz‐ eljungfer), Otti Knauer mit Frau, Schmittkes mit beiden Kindern und nach langer Zeit wieder einmal der „lange Frank“. Die standesamtliche Trauung in der ehe‐ maligen Sakristei war dank einer sehr guten Standesbeamtin geradezu persön‐ lich und feierlich und der kulinarische Teil ausgezeichnet und abwechslungs‐ reich, mit Umtrunk am Mittag im Hotel und Abendessen in der Klosterschenke (Patrizia natürlich immer dabei und hellwach, nie geweint, am Abend war sie für die Zeit des Essens in der ehemaligen Schmiede neben der Schenke unter‐ gebracht und hat da friedlich geschlafen - ein wunderbares Kind! ). Es war rundum erfreulich und hat mich aus meinem Krankheitstief herausgeholt. Der Prag-Besuch von Donnerstag den 28. Juni, bis Montag den 2. Juli. 143 4. Le tournant <?page no="144"?> Ohne Angelikas in jeder Hinsicht großzügige Einladung (als Geburtstagsge‐ schenk) wäre die Reise nie zustande gekommen. Hinfahrt (mit kleiner Unter‐ brechung und Kurzbesuch mit Mittagessen in Dresden) über die neue Autobahn nach Prag. Vier Stunden insgesamt, aber die Einfahrt nach Prag - bei Blitz und Donner und einem Wolkenguß - dauerte eine ganze Stunde. Doch dadurch konnten wir wenigstens nach dem Gewitter trocken auf dem Wenzelsplatz vor dem Ambassador aussteigen. In dem Hotel: Unterbringung, Frühstück, Service, alles perfekt. Gegessen haben wir an diesem Abend (unsere Einladung) in einem sehr guten, aber auch sehr teuren Restaurant, am Ufer kurz vor der Karlsbrücke gelegen, und natürlich mussten wir vor der Heimfahrt ein paar Schritte über die Karlsbrücke machen und Prager Luft schnuppern. Die Karlsbrücke, das Kle‐ mentinum - mein täglicher Weg zur Uni. Ein Wiedersehen nach fast dreißig Jahren - aber eigentlich zählten die Be‐ suche in Prag nach 45 gar nicht. Prag, mein Prag, das Prag meiner Jugend und meiner ersten großen Liebe, das stand mir vor Augen, als ich nach so vielen Jahren wieder auf der Karlsbrücke war. Die nächsten Tage hatten wir auf drei Punkte verteilt: Freitag: Altstadt mit Zentrum, Altstädter Ring (kurz vor Weihnachten war ich mit Johne Fritz, stumm und verstört, über diesen Platz zu Abholung der Aussiedlungspapiere ge‐ gangen! ) und die Karls-Universität, Samstag: Kleinseite mit Kloster, Niklas‐ kirche und Nerudova (dort in einem kleinen Gasthaus Mittagessen und Nach‐ mittagsspaziergang zur alten Wohnung von Hans). Sonntag: Burg: Kloster Strachov, Loretto-Kapelle, Burg / Veits-Dom von außen und Erholung (Einla‐ dung Angelika) in einem totschicken, kleinen und sehr teuren Restaurant, wo es einen köstlichen Grünen Veltiner aus Mähren gab, so dass wir gleich zwei Flaschen getrunken haben, um uns über den vorhergehenden Ärger mit dem Taxifahrer zu trösten. Abends im Puppentheater Mozarts Don Gionanni. Pub‐ likum: offensichtlich sehr viel Gäste aus asiatischen Ländern. Fortsetzung: 1. Februar 2009 Montag Rückfahrt über Rumburg auf der alten Strecke über Melnik- Heida, die ich einmal als ganz junge Studentin mit meinem Tanzstunden-Kränzelherrn ge‐ fahren war, Tempi passati. Jetzt war die Strecke je näher man der Grenze kam, umso dichter von Bordels am Wegesrand gesäumt. Das Wiedersehen mit Rumburg etwas hetzig. Angelika war in Eile, die Mutter hatte telefonisch alarmierende Nachrichten über Angelikas Vater mitgeteilt. Das Wichtigste: ein Besuch in der Stadtkirche, die mir der freundliche Küster, der auch deutsch sprach, auf meine Bitte - ich war ins Pfarramt gegangen - öffnete. Ich wollte sie noch einmal von innen sehen. Hier war ich getauft worden, hatte 144 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="145"?> die Erstkommunion mit zehn Jahren und Firmung mit vierzehn Jahren erhalten und 1940 im Oktober Hans geheiratet. Mein alter Religionslehrer Prof. Marschner hatte uns getraut. Aber auch dieses Wiedersehen war eine Enttäu‐ schung. Offensichtlich war der Hauptaltar in der kommunistischen Ära entfernt worden. Nur der Altar in der großen Nebenkapelle, in der alljährlich Karfreitag die Grablegung Chrisit erfolgte, ein Grab, das stets von vielen brennenden Kerzen strahlend erleuchtet wurde, ein Eindruck, der sich mir bis heute einge‐ prägt hat, war erhalten. Die Kahlheit der Wände im sonstigen gesamten Kir‐ chenraum zeigte aber deutlich, dass hier aller Schmuck entfernt worden war. Die Sakristei jedoch, durch die wir hereingeführt worden waren, war völlig un‐ verändert. Sie enthielt ja auch schon vorher keinerlei besondere, deutlich reli‐ giöse Kennzeichen. Schlimm war auch der Eindruck in der Schützengasse. Mein Geburtshaus weggerissen. Statt dessen ein riesiger Schutthaufen, teilweise als Abstellplatz genutzt. Vorhanden war die Worff-Villa gegenüber und das Haus nebenan, in dem früher ein Gasthaus war. Und die Friedhofgasse bei der Kirche, wo wir ab 1938 bis zur Aussiedlung 1946 gewohnt hatten, war mit quer gestellten Häusern völlig zugebaut und nicht mehr erkennbar. Zu einem Besuch der Klosterkirche und Loretto-Kapelle blieb leider keine Zeit. Doch das Gymnasium habe ich von weitem gesehen. Alles in allem: es ist gut, dass ich noch einmal da war. Ein endgültig abgeschlossenes Kapitel. Die zerstörte Stadt der Jugend wiederzusehen, ist keine Freude. Und wenn man in diesem blühenden Städtchen mit seinen zehntausend Einwohnern und einer guten Industrie vor 1938 gelebt hat, dann muß solches Wiedersehen weh tun. Die Taufe im August - in Unterhaching in der Kirche, in der Andi und Eva 2004 getraut worden waren - war das dritte erfreuliche Ereignis. Ein Wochen‐ endbesuch von Wörishofen aus. Der amtierende Pfarrer war aber nicht der mir bekannte Pfarrer Blasi, er hatte Urlaub, sondern als Vertretung ein jüngerer Inder, für den dies die erste Amtshandlung war. Aber es war alles sehr feierlich und Patrizia hat das Taufwasser ohne einen Laut über sich ergehen lassen. Den nachfolgenden Umtrunk hatten Maria und Monika ausgerichtet und Hans fuhr uns noch am Nachmittag nach Wörishofen zurück. Ein erfreuliches Ereignis ganz anderer Art war 2007 der Besuch von Wolf‐ zettel, ich glaube im Juli. Im ganzen Jahr der einzige Tag, an dem ich mich vom Aufstehen an wirklich wohl gefühlt habe. Wolfzettel kam eigentlich überra‐ schend. Wir gingen zum Chinesen in unserer Nähe zum Essen und unterhielten uns die ganze Zeit - wohl gut vier Stunden - intensiv. Ich war so präsent wie schon lange nicht mehr, d. h. mein Gedächtnis und meine Sprache funktionierte, wie in meinem besten Zeiten, Wörter und Namen kamen ohne weiteres Nach‐ 145 4. Le tournant <?page no="146"?> denken oder Verzögerung. Aus heutiger Sicht, war dies der letzte Tag, an dem mich keinerlei körperliche Schwierigkeiten behinderten. Kurz und gut, ich war sehr glücklich. Text vom 3.3.2009 Das Jahr 2008, das Jahr meines neunzigsten Geburtstages, war ein Jahr der Krankheit. Der einzige rundum schöne Tag war der 20. Juni, die hommage im Senatssaal der HU mit 147 Teilnehmern, Gratulanten, Kollegen, ehemaligen Studenten. Und natürlich mit meinen Kindern - Hans und Linde - mit Ilse und meinen Freunden Ursula, Georg, Angelika groß mit Hartmut, Angelika klein, Dr. Bernatek mit Dr. Urte - die letzten drei hatten extra einen Urlaubstag genommen - und mit den jungen Kollegen: Aurélie, Isabel Müller, Prof. Leopold mit Frau. Meine langjäh‐ rigen „Westkollegen“ waren alle gekommen, z. T. von weit her, sogar Prof. Maurer mit 84 Jahren und noch dazu allein, weil seine Frau erkrankt war. Für die Verpflegung im Senatssaal (die übrigens sehr gut war und vom Re‐ staurant im Hause zu einem noch bezahlbaren Preis, den Angelika ausgehandelt hatte! , geliefert wurde) und seine Ausschmückung hatte Angelika groß - wie ich die Frau von Hartmut, meinem ehemaligen Dekanatssekretär, nenne - ge‐ sorgt. Wir waren von ungefähr 60 Teilnehmern ausgegangen. Aber da viel mehr kamen, mussten nicht nur weitere Stühle herangeschafft, sondern auch noch Laugenbrezeln nachgeordert werden. Doch dank Angelikas Organisationstalent klappte alles. Und die Ausgabe der Humboldtuniversitätszeitung mit meinem Interview (eine ganze Seite) und einem wirklich schönen Bild lag auch aus. Der inhaltliche Ablauf war in jeder Beziehung erfreulich. Die Begrüßung er‐ folgte durch den Dekan der Philosophischen Fakultät 2 und den Präsidenten der Leibnizsozietät. Die sehr schöne laudatio hielt Wolfgang Klein, den sehr aus‐ führlichen, mit Bildprojektionen unterstützten Festvortrag „Rendez-vous mit Manet“ Helmut Pfeiffer und den sehr persönlichen hommage-Band übergab Gerhard Schewe, von dem auch die Initiative für diese Ehrung ausgegangen war. Mit meinem halbstündigen Dankwort und dem kleinen Empfang war die Ver‐ anstaltung, die um 10 Uhr begonnen hatte, gegen 14 Uhr zu Ende. Die Ausarbeitung meines Dankwortes hatte mich eigentlich das ganze erste Halbjahr unterschwellig beschäftigt und psychisch belastet und bei aller Krank‐ heit nicht zur Ruhe kommen lassen. Vor allem am Schluß machte mir, nach einem kurzen Rückblick auf die Geschichte des Romanischen Instituts an der HU in den vierzig Jahren DDR, die Formulierung meines politischen Credos, das den Standpunkt reflektieren sollte, den ich nunmehr als Ergebnis einer langen Lebenserfahrung vertrat, viel Mühe. Denn sie erforderte die kritische Überprü‐ 146 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="147"?> 112 Lapalien D.R. fung meines ganzen durch die historischen Wechselfällen dieses 20. Jahrhun‐ derts geprägten Lebens, mit all seinen Irrtümern, aber auch seinen großen, wie‐ derum enttäuschten Hoffnungen, mit den neuen Nach-Wende-Erfahrungen, aber auch anderen Einsichten dank der Denkanstöße aus wissenschaftlichen Arbeiten, die von anderen als marxistischen, philosophischen und theoretischen Positionen ausgingen. Dieses Dankwort war auch so gut wie die einzige produktive Arbeit, die ich 2008 geschafft habe. Hinzu kommen einige „nugae“ 112 . Januar, Februar für die Festschrift Hofer ein kleiner fachgeschichtlicher Beitrag „Berlin-Moskau und zurück“, eine Kurzfassung meines Gastsemesters in Moskau 1970, die Redaktion des Interviews im Juni, wo es mir nach einer schweren eitrigen Bronchitis an‐ fing, ein bisschen besser zu gehen und im Oktober ein Grußwort für Asholts Festschrift zum Fünfundsechzigsten mit einem anderen Blick auf meine Mos‐ kaubesuche insgesamt. Der Rest war Krankheit, inklusive dreier Krankenhausaufenthalte, davon einer mit Einweisung durch den medizinischen Rettungsdienst am Wochenende. Begonnen hatte es mit dem chronischen Frühjahrsmenière, anschließender Pan‐ kreatitis, folgendem springendem Bluthochdruck, Schlaflosigkeit mit Husten‐ anfällen bis zum Erbrechen - nein, es war nicht lustig. Doch das Schlimmste nach der Ruhepause im Juni, während der ich mich wirklich erholt hatte und glaubte, nun würde sich mein Zustand wieder stabi‐ lisieren, kam am 1. Juli abends. Ein Unfall im Haus. Eigentlich ein wunder‐ schöner Sommerabend. Um Halbneun war es auf der Terrasse noch richtig hell, so dass ich nach dem Gespräch mit Karlheinz Barck wegen der Kraussbriefe noch ein wenig sitzen blieb und entgegen dem Rat von Winfried Engler noch die mäkelnde Rezension des Prüfstands von Bender in Hempfers Zeitschrift las. Verärgert darüber, rannte ich in der dunklen Diele gegen den schmiedeisernen Zeitungshalter und riß mir einen Triangel von sechs Zentimetern ins rechte untere Schienbein. Daß damit letztlich alles gut ging - ich nehme dreihunderter Blutverdünnung! und dem entsprechend blutete die Wunde - danke ich der sofortigen Nachbarschaftshilfe durch Familie Dr. Kaschke und der Versorgung in Bad Wörishofen durch Dr. Eghbal. Am 11. September war die Wunde endlich ganz verheilt. Dafür kam kurz danach am 7. Oktober die ambulante Operation des großen linken Zehs durch Dr. Nauendorf. Die Nacht danach erlebte ich die schlimmsten Schmerzen, die ich bisher je hatte. All diese physischen Belastungen wurden kumuliert durch psychische. Maria verließ, fast auf den Tag genau, ein Jahr nach ihrer Hochzeit, ihren Mann Mat‐ 147 4. Le tournant <?page no="148"?> 113 Lateinisches Sprichwort: Mit jemandem, der die Prinzipien / Grundlagen leugnet, lässt sich keine Auseinandersetzung führen. D.R. tias, trennte sich von den Eltern - sans laisser d´adresse, sie zog aus und ver‐ weigerte die Angabe ihrer neuen Adresse - und die einzige Erklärung für ihr Gesamtverhalten war, sie habe sich halt verliebt. Im übrigen brauche sie ihre Ruhe, denn sie wäre ja schließlich mitten in der Meisterausbildung für Zahn‐ technik. Daß dadurch der ganze Familienzusammenhalt ins Wanken kam - denn bis dahin waren wir eine gut funktionierende Großfamilie von elf Personen - war ihr wahrscheinlich nicht einmal bewusst. Als Verlust im kollegialen Bereich kommt der Bruch mit Prof. Küpper hinzu. Er hat zum Hommage-Band einen sehr ausführlichen, ganz persönlichen Beitrag von fast zwanzig Seiten geschrieben, über den ich mich sehr freute, da er seine eigenen politisch-ideologischen Etappen an Hand der Auseinandersetzung mit meinen Naturalismusarbeiten entwickelte und so eine lange geistige Verbin‐ dung zwischen uns herstellte. Und dass er am 20. Juni kam, war auch nicht selbstverständlich, denn natürlich ist er in seiner Position an der FU mit Arbeit überlastet. Doch nach der Bender-Lektüre habe ich ihn angerufen und ihn, ver‐ ärgert wie ich war, für die Rezension seines Schülers verantwortlich gemacht, denn er hatte ihn damit beauftragt - also hätte er sich nach meiner Meinung das Ergebnis vor dem Druck einmal ansehen müssen. Es geht nicht um berech‐ tigte Kritik, die steht jedem Rezensenten zu, sondern um den Grundtenor, - mäklich eben, wie Engler sagte - in dem die ganze Rezension geschrieben ist. Man könnte sie auf die Formel bringen: „Contra principia negantem non est disputandum.“ 113 Seit diesem Zwischenfall habe ich, trotz mehrfacher vergebli‐ cher Anrufe meinerseits, um das Ganze wieder zu bereinigen, nichts mehr von Joachim Küpper gehört, den ich bis dahin für einen Freund, nicht nur für einen Kollegen hielt. Ein Lichtblick in der Familie war zum Ende des Jahres der zweite Geburtstag von Patrizia, am 19. Dezember in München und der Heilige Abend. Das Kind ist einfach entzückend! Der Jahresausklang mit dem perfekt und schmissig inszenierten Musical „Kiss me Kate“ in der Komischen Oper und dem Silversterumtrunk mit Georg und Ursula bei uns zu Hause ließ uns zudem vergessen, dass wir schon wieder eine kräftige Erkältung hatten. Alles in allem: es war ein schwieriges Jahr. Das Jahr 2010 Text vom 20.2.2011 Insgesamt gesehen war es ein gutes Jahr: 148 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="149"?> mit zwei richtigen Urlauben und einem Kurzurlaub, mehreren Besuchen der Kinder bei uns in Berlin als allergrößte Freude und liebevoll von Hans und Linde gestalteten Weihnachtstagen in München und als kleines fachgeschichtliches Ergebnis die 40 Seiten meines Beitrags für Ertlers zweiten Band „Romanistik als Passion“. Begonnen hatte das Jahr nicht gerade gut, mit wochenlanger strenger Kälte und für mich persönlich mit Krankheit, einem ernsten Bauchspeicheldrüsenan‐ fall. Nach fünf Wochen strenger Kostreduktion wog ich noch 53 Kilo und be‐ durfte dringend einer gründlichen medizinischen Versorgung. Auf Anraten von Monika Wellershaus wandte ich mich an Prof. Schulz, einen Spezialisten für Pankreatitis. Er war, wie so viele, aus der Charité nach der Wende entlassen worden und an die Sana-Klinikkette gegangen. Er nahm mich sehr gut auf und legte mich - gewissermaßen als alte Humboldt-Kollegin - auf seine Privatsta‐ tion, ohne dass ich dafür zuzahlen musste. Die gründliche Untersuchung ergab eine Korrektur des seinerzeitigen Münchner MRT-Ergebnisses. Auf Grund meines abgemagerten Gesamtzustandes und einer sehr starken Bronchitis em‐ pfahl Professor Schulz dringend im Anschluss an das Krankenhaus (23.-29.März) einen Rehabilitationsaufenthalt an der Ostsee. So fuhren wir, Ilse und ich, für drei Wochen - vom 9.-29. April - nach Warne‐ münde ins „Neptun“. Eine fast unerschwingliche Ausgabe. Zudem war ich so abgemagert, dass mir von meiner Kleidung nichts mehr, aber auch nichts mehr richtig passte und ich wenigstens ein Kostüm, ein paar Hosen und Blusen kaufen musste. Eine zusätzliche Ausgabe. Die Hinfahrt übernahm unsere Freundin, Ursula Mielke. Sie freute sich, ebenso wie Georg, auf diese Weise einmal wieder die Ostsee zu sehen, auch wenn es noch immer winterlich kalt war und an einen Strandspaziergang nicht zu denken. Aber wenigstens die Seeluft riechen. Und auch das Kaffeetrinken im Panoramarestaurant des „Neptun“ mit dem Blick aufs weite Meer fanden beide sehr schön. Der Vorteil des Hauses ist ja auch, dass alle Zimmer einen Balkon mit Seeblick haben. Von unserem im zehnten Stock hatten wir den Blick nach Westen und damit zum Sonnenuntergang. Das Wetter meinte es - mit Ausnahme eines einzigen Regentages - die die ganze Zeit gut mit uns. Mäßiger Wind, viel Sonne und steigende Wärme. In der letzten Woche war es so warm, dass man mittags richtig ein Sonnenbad nehmen konnte. Das Reizvollste war, das langsame Erwachen der Natur zu beobachten. Bei unserer Ankunft lag sie noch im Winterschlaf. Kahle Bäume, kahle Sträu‐ cher. Als wir abfuhren hatte alles, Baum wie Strauch, entweder schon richtiges Blattgrün oder zumindest einen grünen Schimmer. 149 4. Le tournant <?page no="150"?> Bei solchem Wetter konnten wir jeden Tag, brav die Strandpromenade lang spazieren gehen, immer ein bisschen weiter, bis wir als Höhepunkt in der letzten Woche, zum alten Strom vor gelaufen sind. Aber auch in der anderen Richtung haben wir es mehrmals bis zum „Stoltera“ geschafft. Einmal bekamen wir auch Besuch von unserem Rosenmädchen, die wir für ein kurzes Wochenende ein‐ geladen hatten. Sie hat vor allem den langen Strandspaziergang genossen, den sie während unseres Mittagsschlafs gemacht hat und sich in den zwei Tagen Seeluft richtig erholt. Alles in allem, haben auch wir uns blendend erholt, ich hatte dank des guten Essens zwei Kilo zugenommen. Den ganzen Aufenthalt hätte man unter dem Motto: Frühlingserwachen am Ostseestrand zusammen‐ fassen können. Die Tage in Warnemünde waren für mich in gewisser Hinsicht zugleich ein Wiedersehen mit alten Zeiten, als Robert und ich (einmal auch Hans) mit Tutti und Zelko Silvester im „Neptun“ gefeiert haben und ich ein anderes Mal allein für eine Woche zum Ausruhen im „Stoltera“ war. Tempi passati. Zum zweiten „Erholungs-Urlaub“ gingen wir vom 10. Juli bis 3. August, wie nun schon mehrfach, für drei Wochen nach Bad Wörishofen. Die körperliche Umstellung auf die 600 m Höhenunterschied gegenüber Berlin, fiel mir diesmal schwer und mit dem Wetter klappte es auch nicht so gut. Die ersten zehn Tage waren viel zu heiß, so dass man eigentlich erst abends überhaupt herausgehen konnte und dann gab es in wechselnder Folge: Regen, Gewitter, Sturm - kurz und gut, kein Spaziergangwetter. Wir waren de facto ein einziges Mal wirklich im Ort und sind eine längere Strecke gegangen. Medizinisch wichtig jedoch war für mich der Besuch bei Dr. Eghbal für die Behandlung der Entzündung am zweiten linken Zeh und bei dem Dermatologen für Diagnose und Behandlung des weißen Haukrebses im Gesicht. Richtig schön aber waren die beiden Ausflüge mit dem Auto, die wir - auch wie immer - meinen Kindern verdankten. Ein Wochenende fuhren wir zum Bodensee und dann das Nordufer lang von Lindau bis nach Meersburg und Mittagessen in einem direkt am Ufer gelegenen Restaurant kurz vorher. Linde hatte alles vorbestellt. Allein schon die Fahrt nach Lindau auf Hinterstraßen vorbei an Obstplantagen und Weingärten war ein Ge‐ nuss, auch wenn das Wetter immer etwas bedrohlich schien und sich zur Rück‐ fahrt in einen Dauerwolkenbruch verschlechterte. Das Wetter war so katastro‐ phal, so dass wir alle - auch auch Hans als Fahrer, der zeitweise kaum den vorher fahrenden Wagen erkennen konnte - heilfroh waren, als wir endlich gegen 8 Uhr abends in Wörishofen in dem Gasthaus mit den guten Wiener Schnitzeln ohne Unfall angekommen waren. 150 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="151"?> Bei dem letzten Wochenende ging es eigentlich um Evas Geburtstag. Da sie am Dienstag den 3. August zum Feiern keine Zeit hatte, funktionierten wir dieses Wochenende von Freitag Nachmittag bis Sonntag Abend um in einen längeren Ausflug ins Stubaital, nach Mieders in unser altes Hotel bei Peter und in ein Geburtstagsgeschenk für Eva, die wir mit Andi und Patrizia dahin einluden. Dieses ganze Wochenende hatten wir strahlenden Sonnenschein, obwohl wir von Wörishofen mit Hans und Linde bei Gewitter abfuhren. Eva kam mit ihrer Familie direkt von München nach Wörishofen. Es waren zweiundeinhalb wun‐ derbare Tage. Freitag gab es bei Peter den wöchentlichen Grillabend, Sonnabend machten wir einen Ausflug nach unserem geliebten Maria Waldrast und Sonntag eine Fahrt durch das Stubaital Richtung Gletscher mit anschließendem Mittagessen in einem Restaurant am Westhang des Tales über Neustift, von wo aus man einen weiten Blick über das ganze besonnte Tal, in dem hie und da auch ein Drachenflieger schwebte, sowie die gegenüber liegende Gipfelkette hatte. Die Rückfahrt am Nachmittag gestaltete Hans zu einem zusätzlichen Erlebnis, indem er Ilses Jugenderinnerungen zuliebe eine andere Strecke wie auf der Hin‐ fahrt wählte, und zwar über Garmisch-Partenkirchen. Leider gab es am Dienstag bei der Abfahrt von unserem Hotel Steinle einen kleinen Ärger wegen der Abrechnung der Massagen von Herrn Köller, dessen Kenntnisse ich sonst eigentlich sehr schätze. Er hatte die zweite Verordnung für die Behandlung der Beine offensichtlich verschusselt, so dass wir mit diesem ungeklärten Problem abreisen mussten. Den dritten Urlaub, allerdings nur einen Kurzurlaub, anlässlich Ilses 85. Ge‐ burtstag am 24. August, verbrachten wir auf Usedom. Die Ausrüstung der mehrtägigen Geburtstagfeierlichkeiten war mein Ge‐ schenk für Ilse. Da Hans und Linde zu diesem 24., er fiel auf einen Dienstag in der Woche vor ihrer eigenen Abfahrt nach Korsika, nicht nach Berlin kommen konnten, feierten wir mit ihnen vor. Am Donnerstag, den 19. kamen sie abends 19 Uhr an, tot müde nach einer sehr schweren Autofahrt. Freitag erledigten die Kinder wie immer alle notwendigen Einkäufe und abends wurde gegrillt mit Maria und Sven, Tobias und Ulrike. Es schmeckte köstlich. Grillen kann Hans wirklich wie ein „Sternekoch“. Für Samstag hatten sich Svens Eltern mit den Kindern eine Überraschung ausgedacht. Da Ilse ja eine Nixe ist und immer ans Wasser will, fuhren wir auf Nebenstrecken nach Neuruppin - eine schöne Fahrt bei gutem Wetter und machten auf dem dortigen See ein kleine Schifffahrt bei strahlendem Sonnenschein. Anschließend gab es ein Mittagessen im Restaurant des vornehmen 5-Sternehotels „Hotel am See“. Danach fuhren wir noch kurz zum Häuschen von Svens Eltern in der Nähe von Neuruppin. Abends besuchten 151 4. Le tournant <?page no="152"?> die Kinder Schmittkes und wir, Ilse und ich, gingen reichlich müde von all den Eindrücken ins Bett. Am Sonntag nach dem Frühstück, es war schon sehr warm - die Temperatur stieg auf 31 Grad und es war Gewitterstimmung - fuhren die Kinder zurück nach München. Wir aber mussten die notwendigen Sachen für die Ostsee packen. Zwei Uhr nachts kamen wir endlich ins Bett. Ich war so erschöpft, dass ich wie 1975 in Paris vor der Abreise des Exekutivrats der UNESCO nach Ägypten am liebsten vor lauter Müdigkeit auf die ganze Reise verzichtet hätte. Montag, halb sieben, hieß es wieder aufstehen, Abfahrt mit Mielkes um halb zehn. Die Fahrt war Ursulas Geburtstagsgeschenk. Nach einer kurzen Mittagspause in Anklam, kamen wir um 16 Uhr in Heringsdorf an, dem Nobelbad aus der Kaiserzeit, wo auch Klemperer einmal mit Hadwig einen kleinen Urlaub verbracht hatte, mit schlechtem Gewissen. (Alter Mann sitzt am Strand und sieht, wie sich seine junge Frau vergnügt im Wasser tummelt. Schwierige Situation.) Das Hotel, etwas am Rande des Ortes gelegen, mit relativ großer Bettenka‐ pazität war offensichtlich auch für die Unterbringung von größeren Teilneh‐ merzahlen von Reisebusfahrten geeignet. Es war neu hergerichtet und die Aus‐ führung der Zimmer ziemlich gepfuscht. Das Frühstücksbuffet allerdings war reichhaltig und fast so gut wie im Neptun. Die Verständigung mit dem Personal - meist hübsche, junge polnische Mädchen - allerdings etwas schwierig. Nach einer kleinen Ruhepause machten wir einen Ausflug in den Ort, vor allem um ein Restaurant für die Feier von Ilses Geburtstag am nächsten Abend zu suchen und auszuprobieren. Es nieselte ein bisschen und es war vor allem kaum möglich, einen Parkplatz in der Nähe des Strandes zu finden. Ursulas Schwierigkeit beider Tage, die sie übrigens mit viel Geduld und bewunderns‐ wertem Geschick bewältigte. Schließlich landeten wir dennoch in dem uns empfohlenen Restaurant „Seeterrassen“, direkt am Strand, von dem man aufs Meer blicken konnte. Ein Nobellokal. Ilse war überglücklich und suchte von den angebotenen Festmenus für den Geburtstagsabend, zu dem sie ihrerseits einlud, eines aus. Vorsichtshalber bestellte ich aber für diesen ersten Abend ein Probe‐ essen. Es war wirklich gut und am nächsten Abend klappte alles ganz vorzüglich mit einem exzellenten Sieben-Gang-Menü. Nur die obligaten wechselnden Weine hatten wir - mit Ausnahme von Aperitif und Digestif - auf einen mitt‐ leren Weißwein reduziert. Zu Ilses Freude hatte der Ober uns ausnahmsweise auch direkt in der Mitte des Fensterrundes einen Vierertisch mit freiem Blick aufs Meer platziert. Der Geburtstag hatte auch gut begonnen mit einem schön geschmückten Geburtstagstisch im Frühstücksraum und einem wunderbaren Strandaufenthalt 152 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="153"?> in einem für zwei Stunden gemieteten Strandkorb, von dem aus Ilse und ich bei dem herrlichen Sonnenschein das fröhliche Treiben am Strand - ringsum gab es viele kleine Kinder - in aller Ruhe beobachten konnten. Mielkes hatten einen kleinen Rundgang durch den Ort unternommen und kamen etwas später dazu. Einen Mittagsimbiss, den richtigen Hunger mussten wir ja für das Abendessen aufheben, nahmen wir in einem polnischen Bistro direkt am Strand ein. Es gab außer einer obligaten Fischsuppe - man höre und staune - Pflaumenknödel, die richtig gut schmeckten! ! Am nächsten Morgen, als wir losfuhren, herrschte ein riesiger Sturm, der schon in der Nacht eingesetzt hatte. Ursula wollte eigentlich noch ein Stück die Küste lang fahren und dann erst zur Autobahn abbiegen, aber ihr Navigations‐ system versagte total und gleich am Anfang kamen uns so viele Autos entgegen, dass sie, völlig deroutiert, den richtigen Weg verpasste und nolens volens gen Süden abbog. Auf der Heimfahrt gab es als Ersatz für die verpasste Küstenfahrt noch einen kleinen Abstecher nach Fehrbellin zum See, wo wir in einer Fische‐ reigenossenschaft mit köstlichen Fischgerichten zusätzlich für alles Versäumte entschädigt wurden. Zu Haus, am Abend, erfuhren wir aus den Nachrichten, dass die ganze Küste Usedoms von einem Zyklon heimgesucht worden war, der große Schäden verursacht hatte. Deshalb bei der Abfahrt die entgegen komm‐ enden Autos, die in der Küstengegend Ausweichwege nehmen mussten. Da hatten wir ja noch Glück gehabt. Insgesamt war dieser kurze Ausflug nach Usedom noch einmal ein gelun‐ gener Aufenthalt an Ilses geliebter See. Eigentlich waren die Weihnachtstage bei den Kindern von Dienstag den 21. bis Montag den 27. Dezember auch noch ein kleiner Festtagsurlaub, zumal wir vorher angesichts der ständigen Flugbehinderungen wegen des wochenlangen extremen Winterwetters mit Frost und riesigen Schneemassen Sorge hatten, ob wir überhaupt würden fahren können. Es klappte jedoch perfekt. Wir sind pünktlich abgeflogen und auch pünktlich angekommen und hatten einen au‐ ßergewöhnlich guten und ruhigen Flug. Er bescherte uns allerdings einen Tem‐ peraturwechsel von zehn Grad. -5 Grad in Berlin beim Abflug, +5 Grad bei der Ankunft in München. Hansis Auto stand buchstäblich in einem See. Die nächsten Tage war das Wetter unruhig, mal taute es, mal fror es wieder, mal schneite es, so dass ich gesundheitlich nicht gerade in Form war und wir auch nur zweimal ein paar Minuten an die frische Luft gehen konnten. Dafür gaben sich aber die Kinder alle Mühe, uns den Aufenthalt angenehm zu machen in einer nach allen Regeln der Kunst festlich geschmückten weih‐ nachtlichen Umgebung: die neuen gediegenen Holzmöbel als Esstischgarnitur, eine wunderschön geputzte Tanne, Hansis von Jahr zu Jahr anwachsende, in‐ 153 4. Le tournant <?page no="154"?> zwischen überreiche Sammlung handgeschnitzter Räuchermännchen, am Hei‐ ligen Abend ein prächtig gedeckter Esstisch, dessen Anblick allein schon das Auge erfreute, dies alles zusammen ergab den Eindruck eines ausgewogenen ästhetischen Ensembles, das mir viel Freude machte. Zudem verwöhnten uns Hans und Linde auch die ganze Zeit mit gutem Essen. Für die Festtage hatte Hans eine Gans gebraten und am Heiligen Abend gab es wie immer Karpfen im Backrohr gedämpft und die traditionelle Fischsuppe nach dem Rezept meiner Mutter, der, zum Schluss den letzten Pfiff mit dem Würzen zu geben, nach alter Tradition mir vorbehalten blieb. Das Schönste am Heiligen Abend war natürlich die Freude von Patrizia über die Geschenke, diesmal vor allem über den von Hans gebauten Kaufmannsladen und den Globus von mir. Das bunte Weih‐ nachtspapier von den Geschenken ritsch-ratsch aufzureißen ist doch bei all dem Auspacken für Kinder der größte Spaß. Und so glücklich ich auch war, das Weihnachtsfest mit der ganzen Familie verleben zu können, es fällt mir von Jahr zu Jahr immer ein bisschen schwerer, längere Zeit mit einem größeren Kreis von Menschen zusammen zu sein. Zum Glück hat der Münchner Aufenthalt Ilse, die sich trotz ihrer Wund‐ schmerzen sehr tapfer hielt, nicht geschadet, sondern ihre Wundheilung be‐ trächtlich gefördert, da Hans eine exzellente Schwester zur täglichen Behand‐ lung gefunden hatte. Ilse musste am Dienstag den 30.11. ganz plötzlich und überraschend am Nacken an einem Arthenom, das sich entzündet hatte, operiert werden. Eigentlich war sie ganz harmlos zur Hausärztin Frau Adam gegangen, aber nicht mehr wieder gekommen. Stattdessen erhielt ich von ihr einen Anruf: „Bin in Maria-Heimsuchung, werde gleich operiert, komme heute abends nicht nach Haus, aber komm nicht her, das Wetter ist zu schlecht.“ Inzwischen ist die große Wunde - Gott sei Dank! - geheilt verheilt und das Einkremen der Narbe habe nun ich übernommen, früh und abends. Dass die Sorge wegen der mögli‐ chen Folgen dieser Operation nach der für mich doch erschöpfenden Arbeit an dem Ertler Text die sowieso etwas stressige Vorweihnachtszeit noch stressiger gemacht hat, dürfte auch mit die Erklärung für meinen etwas lädierten Zustand in München sein. Aber letztlich ist ja alles gut gegangen. Dass die Kinder in diesem Jahr 2010 öfter zu Besuch kommen würden, war nicht vorauszusehen. Zwar hatte Hans mir zu meinem neunzigsten Geburtstag erklärt, dass er von nun an immer zu meinem Geburtstag - wie viele noch in diesem Alter? ! - kommen würde. Aber sonst? Schließlich müssen die Kinder ihrer Arbeit nachgehen und unbegrenzten Urlaub haben sie auch nicht. Doch seit Marias dramatischer „Übersiedlung“ nach Berlin 2008 hat diese Stadt ja auch noch einen zweiten Anziehungspunkt. Kurz und gut, 2010 waren sie insgesamt fünfmal hier: Als ich Anfang des Jahres sehr krank war: von Donnerstag den 154 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="155"?> 8.3. bis Sonntag den 31.3. Dann zu meinem Geburtstag von Freitag 11.6. bis Montag 14.6.; zu Ilses Geburtstag von Donnerstag den 19.8. bis Sonntag 22.8.; zu Marias Geburtstag von Donnerstag 28.9. bis Sonntag den 1.11. und nach Weihnachten, Flug mit uns nach Berlin am Montag den 27.12., Weihnachten mit Maria und Sven am 28. 12. bei uns und Abfahrt der Kinder mit Schmittkes am 29. nach Oranienburg über Silvester und wieder bei uns von Sonntag Abend den 2. Januar 2011 bis Mittwoch den 5. 1. All diese Besuche der Kinder waren für uns glückliche Tage und sie haben uns mit Kochen und Einkäufen immer viel geholfen. Mit der wissenschaftlichen Arbeit - und d. h. jetzt in erster Linie immer Arbeit an der vita meiner aktiven Universitätszeit bis 1989 - lief es wegen der doch erheblichen gesundheitlichen Ausfälle nicht so gut. Zwar habe ich im Frühjahr noch etwas an dem Studienaufenthalt in Moskau 1964 gearbeitet, sowie an der Ostsee für Klares offizielle Feier zum 80.Geburtstag am 23. 4. in der HU eine „offizielle“ Grußadresse als ehemaliger Institutsdirektor geschrieben. Ich hatte mir zu diesem Zweck von Doris extra einen Laptop er‐ beten und ins Neptun mitgenommen, den Ausdruck besorgte dort freundlicher‐ weise die Gästebetreuung. Ebenso habe ich zu Schewes 80. Geburtstag am 16. Juli im Urlaub in Wörishofen einen „offiziellen“ Gruß verfasst, wofür mir das Hotel Steinle einen Laptop für das Zimmer zur Verfügung gestellt hatte und schließlich ist auch noch der kleine Beitrag für Hadwigs zum 85. Geburtstag am 5.3.2011 geplante kleine Festschrift zu erwähnen, den ich noch nach am 27.9.2010 fertig gestellt habe. Aber schließlich sind das alles nur „nugae“, um Ciceros Aus‐ druck zu gebrauchen. Wirklich ernsthaft und lange gearbeitet habe ich an dem Beitrag für Ertler, dessen ersten Entwurf ich sogar mehreren Kollegen: Asholt, Pfeiffer, Leopold mit der Bitte um ihre Vorschläge und Korrekturen zugeschickt habe. Die Be‐ rücksichtigung dieser Einwände führte zu mehreren Überarbeitungen. Das län‐ gere Hochdruckwetter im Herbst kam mir bei der Abfassung dieses viele Wo‐ chen bis Mitte November in Anspruch nehmenden Textes sehr zu Hilfe. Ich war dann zwar ziemlich erschöpft, aber auch einigermaßen zufrieden und Horst fand ihn gleichfalls akzeptabel. Wir tauschen doch jetzt immer unsere vita-Texte aus, seit er sich, von Berlin weg, in den Thüringerwald zurückgezogen hat. Dafür ist aber der Telefonkontakt erfreulicher Weise viel intensiver geworden. Ebenso wichtig wie das eigene Produzieren ist für das notwendige geistige Training natürlich das Aufnehmen von neuen Anregungen und das ist bei meiner marginalen Situation im heutigen wissenschaftlichen Leben ja nur durch Lektüre möglich. Gelesen habe ich vor allem zwei Bücher zur Gegenwartslite‐ ratur: von Florence Aubenas, „Le quai de Ouistreham“, ein Geburtstagsgeschenk 155 4. Le tournant <?page no="156"?> 114 Die Schreibweise des Namens wurde im gesamten Text korrigiert. D.R. von Aurélie, bei dem es sich um eine persönlich von der Autorin durchgeführten Fallstudie der Erscheinungen und Folgen der Krise für Arbeitslose bei der Ar‐ beitssuche in einem durch den Zusammenbruch der heimischen Industrie von der Krise schwer getroffenen Gebiet an der französischen Atlantikküste handelt. Und zweitens natürlich das mit dem Goncourtpreis ausgezeichnete Buch von Houellebecq 114 “La carte et le territoire“ einschließlich der dazu gehörigen Kri‐ tiken, die mir Aurélie, aber auch Francis Claudon geschickt hatten. Darauf muss ich gesondert zurück kommen. Nur so viel: fällig gewesen wäre der Preis für Houellebecq bereits für die von der gesamten offiziellen Presse nur beschimpften „Elementarteilchen“. Ich hatte damals mit meiner positiven Einschätzung Recht. Dieser Roman war der wirk‐ liche Bruch mit der autoreferentiellen Theorie-Manie und den oberflächlichen Beschreibungen von Nichtigkeiten und einer Rückkehr zum realistischen Er‐ zählen in gegenüber dieser Tradition veränderter, neuartiger Weise. Houelle‐ becq zielte mit den von ihm aufgegriffenen Themen auf Wesentliches in der Gegenwart. Ohne großen Gegenstand keine große Literatur. Bei dem Verfasser des jetzigen Buches haben wir es mit einem ausgereiften Romancier zu tun. Allein der zweite Teil dieses Romans hätte für den Goncourt gereicht. Houellebecq kann einfach schreiben und sich auch in sehr unter‐ schiedlichen Genres bewegen. So beginnt er den 3.Teil z. B. als Krimi. Die im Roman behandelten Realien: Photographie, moderne Malerei, Architektur sind wie stets exakt recherchiert, wie das ihm zur Verfügung stehende entspre‐ chendes Fachvokabular zeigt. Ein bisschen Provokation hat er seinen Kritikern aber auch diesmal um die Ohren gehauen mit der Einführung seiner eigenen Person und der seines Freundes Beigbeder als Romanfiguren. Um Inhalt - Ge‐ schichte - Sinn von „La carte et le territoire“ auf den Punkt zu bringen, könnte man sagen, auch sein neuester Roman, wie sein gesamtes bisheriges Roman‐ schaffen, bezieht sich auf ein zentrales philosophisches Thema, die unausweich‐ liche Endlichkeit des menschlichen Lebens, die Problematik des Todes. Rilke beschwört sie in den Duineser Elegien mit den Klangbildern seiner Sprache, Heidegger umkreist sie mit der kategorialen Differenz zwischen Sein und Dasein in seinem zentralen Werk „Sein und Zeit“ in seiner elitären Sprache und Hou‐ ellebecq beschreibt im dritten Teil seines Romans u. a. bis zu welcher Perversion es die Moderne im Geschäft mit der professionellen Tötung im Umgang mit diesem Problem gebracht hat. Zu diesem Gelesenen sind auch noch ein paar „nugae“ hinzuzufügen. 156 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="157"?> Die Barbusse-Arbeiten von Horst Müller, plus die französische Bar‐ busse-Studie von Brett, als Vorbereitung auf den Vortrag von Müllers Bar‐ busse-Artikel zu dem Lingner-Kolloquium in der Akademie der Künste am 28. November. Müller konnte wegen seiner gerade erst erfolgten schweren Opera‐ tion nicht selbst seinen Text lesen, so dass ich für ihn „eingesprungen“ bin. Der Theorieartikel von Engler, als wirkliche Durcharbeitung und gründliche Lektüre und die Weihnachtslektüre von Teilen aus Jungs „Beziehungen zwi‐ schen dem Bewussten und dem Unbewussten“ (seine unsystematische Darstel‐ lung liegt mir nicht so recht). Und zwischendurch immer wieder die Texte, die Horst mir als die fertig gestellten Teile seiner Biographie per mail schickt. All die bisherigen Teilstücke seiner vita gefallen mir sehr. Sie sind in einer ganz besonderen Art verfasst. Ich rede ihm ständig in unseren Telefongesprächen zu, sie für eine Publikation vorzusehen. Zur Lektüre kämen dann noch die von weiteren Kollegen erhaltenen Sonderdrucke, die wöchentliche Freitagsnummer von Le Monde, das monatliche „Magazine littéraire“ und die Zeitschrift „lende‐ mains“. Wichtig für den Kontakt mit dem Fach sind natürlich auch die regelmäßigen Telefonate mit Kollegen wie Wolfgang Asholt, Prof. Leopold, Aurélie, Margarete Zimmermann. Letztere läßt mir zudem als wichtige Information stets die Ein‐ ladungen zu ihren Veranstaltungen zukommen. Der wöchentliche Sonntags‐ anruf, Punkt elf Uhr, von Winfried Engler, ganz gleich, ob er in Deutschland, in Frankreich oder irgendwo sonst im Urlaub ist, liegt vor allem auf der Ebene freundschaftlicher Zugewandtheit. Und so hat er mich auch zu dem Abendessen mit einem ganz kleinen Freundeskreis anlässlich seines 75. Geburtstags am 17. Dezember im Nobelrestaurant „Vau“ eingeladen. Doch das Jahr 2010 bestand natürlich nicht nur aus Höhepunkten, Geburts‐ tagen und wissenschaftlichen Interessen, sondern bedurfte vor allem auch der Organisierung des Alltags und damit der kontinuierlichen Hilfe von Freunden, Bekannten und Ärzten für zwei Frauen in unserem Alter, die in einem Einzel‐ haus mit Garten leben und sich nicht mehr allein versorgen können. Bei den Ärzten betreut uns, nun schon seit etlichen Jahren, in erster Linie unsere stets hilfsbereite und freundliche Hausärztin, die Internistin Frau Adam, im Zusamme wirken mit den von ihr herangezogenen Fachärzten für Derma‐ tologie, Gynäkologie, Urologie, Physiotherapie. Für die Augen ist Dr. Weller zuständig und für die Zähne seit 25 Jahren Dr. Eva Krause. Für die Sauberkeit im Haus und den Einkauf sorgt in bewährter zuverlässiger Weise seit der Wende Frau Fanter, die fast zur Familie gehört und keinen Feiertag oder Geburtstag vergisst, auch nicht den von Robert. Im Garten hilft durch Ver‐ mittlung von Frau Fanter Frau Schölzel und auch Herr Krippner, mit dem uns 157 4. Le tournant <?page no="158"?> das Rosenmädchen bekannt gemacht hat. Er gehört in die Kategorie „von uns zu Haus“, wie ich zu sagen pflege“, wenn jemand, wie er, aus Böhmen stammt. Von Beruf Tiefbauingenieur, engagiert er sich, seit er arbeitslos ist, in seiner katholischen Gemeinde vor allem in sozialer Hinsicht, spielt aber auch in ihrer Theatergruppe mit und freut sich vor allem über ein Gespräch bei einer Tasse Kaffee. Doch im Zentrum aller Hilfe von außen steht Angelika Klapper, genannt „das Rosenmädchen“weil sie stets eine Rose mitbringt - oder auch „Angelika klein“, im Unterschied zu Hartmuts Frau, die ihrer Erscheinung entsprechend den Titel „Angelika groß“ erhalten hat. Beide gehören zu unserem Freundeskreis. Das Rosenmädchen kümmert sich um uns in vielfältiger Weise. Sie bringt uns zum Flughafen, wenn wir nach München fliegen, sie fährt jede Woche in Ilses Woh‐ nung, um die dort eingegangene Post abzuholen und nach dem Rechten zu sehen, sie schafft die bestellten Bücher von Thalia herbei oder versorgt uns mit Essen, an das wir sonst nicht herankämen (denn laufen können wir nur ein par Schritte und Taxen als Bewegungsmittel sind teuer) - kurz und gut, sie kümmert sich um uns, wie es eine aufmerksame Tochter nicht fürsorglicher tun könnte. Die Bekanntschaft mit ihr ist eigentlich Ilses Verdienst. Frau Klapper hat nach der Wende einen von Ilse durchgeführten Weiterbildungslehrgang für Gymna‐ siallehrer, die ihr Studium in der DDR absolviert hatten, im Fach Deutsch be‐ sucht und war auch an einem weiteren Kontakt mit Ilse wegen derer großer pädagogischen Erfahrungen interessiert. Das Rosenmädchen ist ihrerseits aber auch für Ilse als Gesprächspartnerin wichtig als Verbindung zu ihrem alten Be‐ rufsfeld. Über die teilweise katastrophalen Zustände in unseren heutigen Ober‐ schulen sind sich beide einig. Meinerseits schätze ich das Rosenmädchen als Gesprächspartnerin vor allem wegen ihrer großen Belesenheit und ihrer vielfältigen Interessen. Als ich er‐ zählte, dass mir Prof. Engler als Einladung zu seinem 75. Geburtstag eine Visi‐ tenkarte mit dem Worte „Fröhliche Wissenschaft“ geschickt hat, kam von An‐ gelika prompt der Einwurf: „Nietzsche“. Dieser kurze Rückblick auf 2010 bedarf allerdings noch einer Anmerkung. Ohne die Wende hätte er sicher unter dem Motto gestanden: Zweihundertjahr‐ feier der Humboldt-Universität. Denn meine Arbeit am Romanischen Institut dieser Universität war der Inhalt meines ganzen aktiven Lebens bis 1989. Zum wirklichen Festakt im Schauspielhaus am 6. Oktober, auf dem Gumbrecht die Festrede hielt, war ich nicht eingeladen und zu dem „Alumni-Treffen am Freitag, den 15. Oktober, zu dem auch ehemalige Mitarbeiter aus DDR-Zeiten kommen durften, hatte ich sogar durch die Vermittlung von Frau Zappe, der Redakteurin der Humboldt-Universitäts-Zeitschrift, in letzter Minute gewissermaßen, am 158 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="159"?> Montag den 11. Oktober eine Einladung der Rektors erhalten. Auf dem Alumni-Treffen wurde, sicher auch durch Frau Zappe angeregt, unter anderen Interview-Ausschnitten von alten Professoren, auch ein Ausschnitt aus meinem Interview mit ihr vom Dezember 2007 abgespielt. Ich konnte an diesem Freitag aus Erschöpfungsgründen nicht an der Veranstaltung teilnehmen. Ich wollte es aber auch nicht. Zum Festakt zur 150-Jahrfeier 1960 bin ich im Talar mit den anderen Mitgliedern der philosophischen Fakultät über die Linden im feierli‐ chen Zug in die Staatsoper gezogen und das Romanische Institut, dessen Di‐ rektorin ich war, hat sich anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten mit drei Konfe‐ renzen in der Öffentlichkeit präsentiert. Tempi passati. Man muss wissen, wohin man gehört. Das Jahr 2011. Datei vom 11.09.2012 Eigentlich war es in der Voraussicht durch zwei freudige Familienereignisse markiert: den 60. Geburtstag von Hans am 1. März 2011 und Evas dreißigsten am 3. August. Doch die Hoffnung, dass es zu Evas rundem Geburtstag, so wie zu Marias dreißigstem, ein richtiges Familienfest in München geben würde, fiel durch die von den Kindergartenzeiten abhängige Ferienplanung von Eva und Andi zu meinem und Ilses Bedauern - wir wollten Wörishofen damit koordi‐ nieren - von vornherein aus. Blieb wenigstens noch Hans und er wollte auch feiern und wir freuten uns darauf und so besorgten wir noch im Dezember des Vorjahres die Flugkarten. Um Billigflüge zu bekommen, muss man rechtzeitig planen. Seinen Geburtstagswunsch hatte Hans Weihnachten auch noch angemeldet, eine neue, gute - und das hieß auch teure - Uhr. So würde er, wenn er darauf schaute, immer an diesen runden Geburtstag erinnert werden und sich freuen. Und dann die „Moira“, das völlig Unfassbare dieser Schicksalsschlag mit sechzig Jahren - Krebs - Magenkrebs und Metastasen in der Leber. Nie mehr würde das Leben sein, wie es war - immer im Hintergrund: Angst, bei jeder kleinsten Unregelmäßigkeit - Angst. Als wir am Samstag den 26. Februar auf dem Flughafen in München ankamen schien die Sonne. Hans erwartete uns und stand da, eigentlich strahlend. Ein gut gekleideter, gepflegter Herr mittleren Alters. Dass er ein wenig abge‐ nommen hatte, war eher vorteilhaft. Auf der Fahrt zur Wohnung erzählte er, dass die inzwischen erfolgte Magen‐ spiegelung ergeben hätte, dass er am Ausgang der Speiseröhre zum Magen ein Geschwür habe, aber es sei ja dank seiner Schluckbeschwerden alles rechtzeitig erkannt worden. Von den Schluckbeschwerden, die er schon seit dem Winter‐ urlaub im Ötztal, Mitte Februar hatte, wussten wir erst seit ein paar Tagen, als 159 4. Le tournant <?page no="160"?> er das ursprünglich beim Griechen vorgesehene Geburtstagsessen durch ein kleines Abendessen im Haus ersetzt hatte. Denn sonst war bei jedem Telefonat immer die gleiche Antwort gekommen: Alles in Ordnung. Natürlich wollte er mit diesem Verschweigen mir Sorgen ersparen und mich nicht beunruhigen. Und so kam auch die Wahrheit über seinen jetzigen Zustand erst nach und nach zutage. Dass es Magenkrebs sei am Sonntag, das habe die Histologie der Ma‐ genprobe ergeben. Und als Hans und Linde von der für Montag anberaumten Sonographie gegen halb drei zurückkamen, sagte Linde, wir sollten uns erst einmal hinsetzen, es wäre noch viel schlimmer, denn die Sonographie habe Me‐ tastasen in der Leber nachgewiesen. Doch die gute Nachricht wäre, dass die Lunge und das Zwerchfell frei seien. Der Geburtstag selbst verlief dann zunächst wie vorgesehen, mit einem aus‐ giebigen Frühstücksbrunch für die ganze Familie (Sven und Maria waren Samstag ja auch von Berlin mit dem Auto gekommen), bei dem Hans selbst ein bisschen essen konnte. Dann folgte eine dreistündige Stadtrundfahrt mit Erklä‐ rung durch den Fahrer des gemieteten Kleinbusses, einem Abstecher nach Nym‐ phenburg - wo wir mit Hans und Linde einmal zu einem Konzertabend waren - und einer Kaffeepause im neu gebauten BMW- Auto-Präsentationshaus, dessen moderne großzügige Konstruktion auch ästhetisch überzeugend ein‐ drucksvoll ist. Wieder zu Hause angekommen - Hans hatte die Fahrt auch Freude gemacht, weil er die Stadt einmal nicht aus der Fahrer-, sondern aus der Besuchersicht erleben konnte - machte er sich an die Vorbereitung des Abendessens: Rinder‐ filet mit Schmorgemüse und Bechamelkartoffeln und danach einem guten Des‐ sert. Dazu gab es einen aus Österreich vom Winzer mitgebrachten Weißwein. Doch Hans konnte schon den ersten Bissen nicht hinunter schlucken und ging würgend hinaus. Am Tisch quälende, bedrückte Stille. Erst anderthalb Stunden später vermochte er wenigstens noch etwas zu trinken. Am nächsten Tag - unser Gepäck hatten Sven und Maria mitgenommen - brachte Hans mich und Ilse zum Flughafen. Abschied - bis wann? Für wie lange? Der Weinkrampf überfiel mich zum Glück erst nach Passieren der Sicherheits‐ schleuse. So konnte Hans es nicht mehr sehen. Und was dann kam, war ein Jahr des Wartens und Hoffens, des Hangens und Bangens. Im Grunde hatte ich diese schreckliche Situation im Vorjahr bei meinen Freunden Hartmut und Angelika miterlebt. Hartmut hatte Nierenkrebs, von dem auch ein Lymphknoten befallen war. Doch im Gegensatz zu Hartmuth ertrug Hans die Chemotherapie ganz gut und konnte sie deshalb auch regelmäßig jede Woche Donnerstag erhalten. Also hofften wir. 160 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="161"?> Zu meinem Geburtstag am 13. Juni, der auf den Pfingstmontag fiel, kamen die Kinder. Hans und Linde waren mit Patrizia am Samstag, den 11. mit dem Auto angereist und fuhren erst am Mittwoch, den 15. zurück. Es waren ein paar schöne Tage. Hans hat wie immer gegrillt. Alles Nötige hatte er in Triptis auf der Herfahrt eingekauft. Maria und Sven, die Eltern von Sven und die Nachbarn: Ulrike, Tobias und die Zwillinge waren da. Der Kindertisch im Garten war die größte Freude. Patrizia in ihrem Dirndlkleid sah entzückend aus. Marias Ge‐ burtstagsgeschenk war ein kleiner Klapperstorch. Ich habe gar nicht so schnell begriffen, was er bedeutete und fragte etwas verblüfft: „Ja, was soll ich denn damit? “ und Maria sagte: “ Omi, verstehst Du es denn nicht? „Maria bekommt ein Kind.! ! ! Da war die Freude aber groß. Doch mit dem Sommer-Urlaub in Bad Wörishofen lief alles schon ein bisschen anders. Wir hatten, wie immer, den Juli gebucht, von Samstag den 9. bis Samstag, den 30. Hans konnte uns bei der Ankunft nicht abholen, es hing wohl mit der Chemo zusammen. Also kam Andi allein zum Flughafen in München. Eva und Patrizia fuhren mit der Bahn nach Wörishofen und alle zusammen blieben, wie sonst Hans und Linde, bis Sonntagabend bei uns. Wir machten mit dem Wagen auch einen kleinen Ausflug und Patrizia hat mit Andi das Schwimmbad im Hotel Steinle richtig genossen. Das nächste Wochenende waren dann auch Hans und Linde zu Besuch - diesmal mit einer kleinen Ausfahrt - und sie haben uns auch zur Rückreise abgeholt und zum Flughafen gebracht. Hans war mit den ersten drei Chemotherapien für Speiseröhre und Magen im Juli fertig und der Befund war zufriedenstellend. Es sei alles verkapselt. Er solle sich nun ein paar Wochen erholen und dann würde im September mit der Chemotherapie für die Leber begonnen. Wieder hofften wir auf einen noch möglichen guten Ausgang, obwohl ich mir nicht so recht vorstellen konnte, warum die Leber nicht sofort operiert wurde, denn die kann ja bekanntlich auch wieder nachwachsen. Aber ich bin kein Arzt und ich wollte ja auch glauben, dass alles gut geht. Eigentlich suchte Hans zur Erholung einen Ferienplatz in der Provence, aber er hatte nichts Passendes gefunden und so fuhren sie an einen Ferienort in Süd‐ italien, nicht weit von Sizilien entfernt. Dort fühlten sie sich offensichtlich wohl und machten mit einem Schiff auch schöne Ausflüge zu benachbarten kleinen Inseln. So fuhren sie in der Nacht einmal bis zum Stromboli, um das Leuchten dieses Vulkans zu sehen. Nach München zurückgekehrt, hatte Hans plötzlich eine Lungenentzündung - angeblich durch die indirekte Belüftung in ihrem Ferienhotel. Ich glaube je‐ doch, dass es schon die krebsbefallene Lunge war, die ihm zu schaffen machte. 161 4. Le tournant <?page no="162"?> Er bekam gleichzeitig Antibiotika und eine neue Chemotherapie, diesmal gezielt für die Leber. Insgesamt zwei Serien bis Weihnachten. Vom 10. bis 25. September fuhren Maria und Sven in Urlaub. Zunächst ins Altmühltal mit Andi, Eva und Patrizia und die zweite Woche nach Österreich, nach Zell am See. Am Donnerstag, den 22. rief Maria an und teilte mir mit, dass Sven und sie am Dienstag den 20. geheiratet haben, beide Schober heißen und Ilse und mich für Montag den 3. Oktober in Berlin zu einem Hochzeitsessen einladen. Die Eltern, also Hans und Linde, sowie Eva, Andi und Patrizia be‐ suchten sie auf der Rückfahrt in München und luden sie ebenfalls zum Hoch‐ zeitsessen ein. Maria ist für Überraschungen immer gut. Kein Mensch hatte vorher etwas gewusst, aber sie hatte sich natürlich auf dieses Ereignis vorbereitet und sich in Berlin ein schönes Hochzeitskleid gekauft. Als Trauzeugen fungierten die Be‐ sitzerin des Hotels, in dem sie wohnten und die Fotografin, die sie bestellt hatten. Auf der Hochzeitsfeier in Berlin, die sehr hübsch war, habe ich dann eine kleine Rede gehalten und ein paar Worte über die vorher gegangenen Turbu‐ lenzen gesagt und dass Marias Entscheidung für Sven richtig war und sie wirk‐ lich gut zusammenpassten. Es waren wohl alle, vor allem Maria selbst, mit meiner Ansprache zufrieden. Denn für Svens Vater bedeutete die Namensän‐ derung seines Sohnes schon einen kleinen Schock. Über mein Hochzeitsge‐ schenk, das Aquarell von Bergmann-Hannack, das ich von Robert einmal zum Geburtstag bekommen hatte und seither im Schlafzimmer hing, hat sich Maria sehr gefreut, denn sie mochte es sehr. Maria war in den nächsten Wochen auch sehr lieb mit mir: Sie räumte eine Menge Sachen für das erwartete Baby in den Keller und ihn, um dafür Platz zu gewinnen, erst einmal mit viel Kraft auf, fuhr mit mir zum Zahnarzt nach Kö‐ penick - meine Prothese war gebrochen - und wir plauderten angeregt mit‐ einander beim anschließenden Mittagessen. Am 25. November hatte ich einen richtigen Zusammenbruch meiner Kräfte. Unter größter Anspannung schaffte ich es gerade noch, eine Seite für die Klem‐ perer-Tagung der Leibniz-Sozietät am 8. Dezember „Zur Aktualität von Klem‐ perers LTI“ zu schreiben und den Text auf der Tagung vorzutragen. Kurt Fenske fuhr mich hin. Er war selbst an der Problematik interessiert. Am 13. Dezember kam Marias Kind zur Welt, ein kleiner Felix, und am 15. musste ich Hans am Telefon mitteilen, dass ich Weihnachten nicht nach Mün‐ chen fliegen könnte. Meine Kräfte ließen es nicht zu. Nach kurzem Bedenken rief er zurück und sagte, sie würden am Samstag den 17. selbst mit dem Auto nach Berlin kommen. So bat ich ihn, schnell noch für 162 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="163"?> Berlin, d. h. eigentlich für sich und Linde, Daunendecken zu kaufen und mitzu‐ bringen. Hans, der sonst im tiefsten Winter in leichten kurzärmeligen Hemden he‐ rumspazierte, fror seit neuestem ständig - offensichtlich als Folge der Chemo‐ therapien - so wie er auch seit der ersten Chemo praktisch den Geschmackssinn verloren hatte. Am Mittwoch, den 21. Dezember fuhren die Kinder zurück. Es waren ein paar schöne und gute Tage. Sogar die traditionelle Fischsuppe für den Heiligen Abend hatten sie schon für Ilse und mich mitgebracht. Die notwendige Arbeit im Haus machte Linde. Hans allerdings hatte einen schlimmen Husten und ziemliche Schmerzen und musste zu meiner Hausärztin, Frau Adam gehen. Heilig Abend, an einem Samstag, und den ersten Weihnachtsfeiertag war ich mit Ilse allein. Aber wir trösteten uns mit dem Gedanken, dass die Kinder am nächsten Tag ja alle aus München nach Berlin kommen würden. Montag, den 26., am zweiten Weihnachtsfeiertag kamen Hans und Linde mit dem Flugzeug nach Berlin zu uns, Eva, Andi und Patrizia mit dem Auto zu Maria. Am Dienstag, den 27. Dezember feierten wir alle zusammen Weihnachten bei uns, wie in alten Zeiten, nur diesmal mit zwei Urenkeln. Zum Glück wusste ich da noch nicht, dass es unser letztes gemeinsames Weihnachten sein würde. Ich hatte die Krippe aufgebaut, die Gans hatte Maria besorgt und Hans hat sie für uns alle gebraten, wie immer. Es war noch einmal alles schön. Hans konnte auch ein bisschen essen. Doch im Hintergrund war schon die bange Frage, was wird am 9. Januar bei der Kontrolluntersuchung herauskommen. Sein Husten war nicht weg und auch nicht die Schmerzen in der Brustgegend. Aber insgesamt ging es noch, besser gesagt, Hans ließ sich nicht viel anmerken. Wie immer wollten Hans und Linde mit Schmidtkes Silvester in der Nähe von Oranienburg feiern, Eva und Andi dagegen am Freitag den 30. zurück nach München fahren. Am Vortag gingen wir, Ilse und ich, mit ihnen zum Abschied in das chinesische Restaurant am Ossietzkyplatz Mittag essen. Der Neujahrstag fiel auf einen Sonntag. Gegen Abend kamen Hans und Linde zurück. Hans in einem sehr schlechten Zustand. Der Husten hatte zugenommen und er hatte überhaupt keine Kraft. Er musste dreimal ansetzen, um vom Stuhl aufstehen zu können. Auch das Treppensteigen in den ersten Stock machte ihm Mühe. Den‐ noch sah er sich Montag die neue Wohnung von Schmidtkes Sohn an, fuhr Dienstag in ein Geschäft, um sich von dem Weihnachtsgeld von mir eine Strick‐ jacke zu kaufen, und Mittwoch noch einmal relativ kurz zu Maria. Die übrige Zeit lag er mehr oder weniger im Bibliothekszimmer auf zwei Stühlen und sah fern. Gesprochen hat er kaum, fast nur noch mit Linde. Er hatte sicher viel Schmerzen, aber er hat nie geklagt. Er kam sogar jeden Abend noch einmal in 163 4. Le tournant <?page no="164"?> mein Zimmer, um mir einen Gute-Nacht-Kuß zu geben, obwohl ihm das Bücken schwer fiel. Donnerstag, am 5. Januar, flogen Hans und Linde zurück. Ulrike fuhr sie zum Flughafen. Das Ergebnis der Untersuchung am 9. Januar war katastrophal. Der ganze Organismus war von Krebs befallen, vor allem die Lunge und die Knochen. Zwei Tage danach, am Mittwoch, musste er mit einem Krankentransport - gehen konnte er nicht mehr - wegen eines Erstickungsanfalles in seine Krebsklinik gebracht werden. Den nächsten Tag habe ich dann selbst bei dem Chefarzt, Herrn Prof. Dr. med. Fries, angerufen und ihn gebeten, sich nun endlich einmal persönlich um Hans zu kümmern. Ich hätte das längst tun sollen, aber wie immer, wollte Hans auf keinen Fall, dass ich mich in die Betreuung einmische oder mit dem Chefarzt selbst spreche. Prof. Fries telefonierte nachmittags zurück und erklärte mir, dass eine Hei‐ lung oder wirkliche Rettung nicht mehr möglich sei, sie aber versuchen würden, den Patienten noch ein bisschen aufzubauen und mit Chemotherapie noch eine Weile zu erhalten. Hans lag inzwischen schon Tag und Nacht an zwei Sauer‐ stoffschläuchen und beim Sprechen konnte man ihn nur sehr schwer verstehen. Dennoch haben wir früh und abends kurz telefoniert, d. h. ich habe früh ange‐ rufen und, sobald er konnte, rief er zurück, ebenso am späten Nachmittag. Linde war natürlich jeden Tag bei ihm und oft auch Andi, Eva, ein- oder zweimal sogar mit Patrizia. Hans lag die ganze Zeit in einem Zweibettzimmer und in der zweiten Woche erhielt Linde ein Sauerstoffgerät, damit er nach Hause verlegt werden könnte. Am 23. Januar änderte der Chefarzt diesen Plan und man sprach von einer Ver‐ legung in die Rehaklinik der Barmherzigen Brüder in Nymphenburg. An diesem Montagabend hatte ich das letzte, auch etwas längere und gut verständliche Gespräch mit Hans. Er fühlte sich offensichtlich ganz wohl, wie auch Aranka bestätigte, die ihn nachmittags besucht hatte. Dienstagabend habe ich ihn nicht verstanden und bei meinem dritten Nachfragen wurde er ungeduldig und brach ab. Mittwoch früh, es war der 25. Januar 2012, rief er nicht, wie sonst, zurück. Statt dessen teilte mir Linde am Telefon mit, dass es Hans nicht gut ginge. Er habe in der Nacht nicht geschlafen und brauche Ruhe und er würde sich Nach‐ mittag selbst melden. Außerdem wolle sie, da das Zweierzimmer auf die Dauer doch nicht so angenehm wäre, versuchen, die Verlegung zu den Barmherzigen Brüdern zu beschleunigen. Nach dieser Mitteilung von Linde wartete ich na‐ türlich geduldig auf Hansis eigenen Rückruf. 164 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="165"?> Um fünf Uhr nachmittags klingelte das Telefon. Aber es war nicht Hans, son‐ dern Frau Prof. Gläser aus Dresden, die eine Stunde lang auf mich einredete, so dass ich an nichts anderes denken konnte. Um halb acht Uhr, nun schon etwas beunruhigt, fragte ich Ilse, was sie meine, ob ich wohl jetzt anrufen könnte. Dann versuchte ich es. Es dauerte eine Weile, bis sich Andi meldete und irgendetwas erzählte. Ich wiederholte, ich möchte gern mit Hans sprechen. Wieder antwortete er irgendetwas und als ich energisch Hans an den Apparat verlangte, kam als Antwort: „Den kannst Du nicht mehr sprechen“. Mein Aufschrei war N e i n! Hans war genau um halb sechs Uhr gestorben, als Frau Gläser auf mich ein‐ redete. Wohl an einer Art Erstickung. Andi versuchte mich zu beruhigen, Sven würde gleich zu uns kommen. Sven kam wirklich sofort, versuchte uns zu trösten, so gut es ging, aber er musste ja wieder zurück zu Maria. Sven und Maria fuhren am nächsten Tag nach München mit dem kleinen Felix und Maria blieb mit Felix erst einmal bei der Mutter, damit sie nicht allein war und auch, um ihr beim Regeln der nunmehr notwendigen Dinge zu helfen: Wahl einer Beerdigungsfirma, Art und Tag der Beerdigung. - Hans wollte nicht in die kalte Erde, wie er in den letzten Tagen selbst geäußert hatte - also Feuerbestat‐ tung und deshalb als möglicher Beisetzungstermin erst der 24. Februar. Außerdem musste eine Grabstelle ausgesucht, Traueranzeigen gedruckt und verschickt, das Traueressen bestellt und der Redner für die Beerdigungsfeier und für die letzten Worte am Grab festgelegt werden. Ich hatte ganz spontan an Dieter Schmidtke gedacht, Linde an Otti, der auch für seine Eltern die Trauerrede gehalten hatte. Und er hat es auch wirklich gut gemacht. Am Grab selbst sprach Andi ein paar Worte. Das Verschicken der Traueranzeigen übernahmen für mich Ilse und Angelika. Bis zu unserem Flug nach München am 23. Februar - die Urnenbeisetzung war am Freitag den 24. um 14 Uhr auf dem alten Friedhof in Unterhaching - habe ich wie in einem Trancezustand gelebt. Und eigentlich kann ich Hansis Tod auch heute noch nicht wirklich realisieren. Aber wenn es mir bewusst wird, dann ist es unerträglich und ich kann nichts als weinen. Es tut so weh, richtig weh, es ist wie ein Ring ums Herz. An diesem Freitag der Urnenbeisetzung, den 24. Februar, war strahlender Sonnenschein, Hansi-Wetter. Es war so warm, dass wir vor der Trauerhalle auf der Bank sitzen und warten konnten, bis sie geöffnet wurde. Es waren ungefähr hundert Trauergäste gekommen, viele von weit her. Aus Berlin natürlich Sven und seine Eltern, Schmidtkes mit beiden Kindern, der 165 4. Le tournant <?page no="166"?> lange Frank Temme mit seiner Frau und Elke Hoffmann; von der Familie Knauer, außer Otti und seiner Frau, Arnold, der Mann von Susi; außerdem die Dresdner Freunde, und mit dem Flugzeug aus Schleswig-Holstein Daisy und ihr Mann. Aber auch viele neue Bekannte aus der Siedlung in Unterhaching, ebenso eine Vertreterin der Autofirma, bei der Hans die letzten Jahre gearbeitet hatte und natürlich Monika Gerstmann, sowie ihr geschiedener Mann, aber nicht Mattias, Marias erster Gatte und eigentlich Hansis Wahlsohn, obwohl er es sich fest vor‐ genommen hatte. Doch seine Abwesenheit ist eine andere Katastrophe, die in das Jahr 2012 gehört. - Und es gab Blumen über Blumen. Sechzig Gäste waren zum Traueressen geladen. Linde und Andi hatten Fo‐ tografien aus den früheren Jahren von Hans und der Familie zusammengestellt, die während dieses Beisammenseins auf eine Leinwand projiziert wurden. Das war eine sehr gute Idee, denn diese Bilder haben Hans irgendwie vergegenwär‐ tigt und für alle das eigene Erinnerungsbild reaktiviert und wohl auch ergänzt. Linde und ich waren von unseren Ärzten für diesen schlimmen Tag mit Tab‐ letten präpariert worden und so haben wir ihn auch durchgestanden. Am nächsten Tag lenkte Felix die ganze Familie Schober-Schumann ein wenig ab. Zum Flughafen brachte uns Sonntag Andi und in Berlin erwartete uns in Tegel zum Glück Angelika Klapper, unser Rosenmädchen, die uns das ganze Jahr über beigestanden hatte. Zu Hause angekommen wurde ich mir zum ersten Mal voll bewusst, dass ich nun mit Ilse allein war, ganz allein und dass ich Hans nie mehr, nie mehr sehen würde. 90. Geburtstag. Text vom 16./ 6/ 2008 Dank der Jubilarin Sehr geehrter Herr Dekan der Philosophischen Fakultät II der HU, sehr geehrter Herr Präsident der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde! Ganz herzlich möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie, zum Teil nach weiter Anreise - und diesen Kolleginnen, Kollegen und Freunden gilt mein ganz be‐ sonderer Dank - zu dieser hommage gekommen sind. Sie machen mir damit eine große Freude, die mir nach den langen Krankheitswochen doppelt gut tut. Wenn ich heute überhaupt selbst teilnehmen kann, so danke ich dies außer der medizinischen Hilfe befreundeter Ärzte, vor allem der monatelangen, un‐ ermüdlichen Pflege meiner Freundin, Frau Oberstudiendirektorin Ilse Ennig, die mir immer wieder Mut gemacht hat. Was Freundschaft wirklich wert ist, merkt man in schwierigen Zeiten. 166 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="167"?> 115 Der Festvortrag von Helmut Pfeiffer Rendez-vous mit Manet konnte leider in dieser Publikation nicht mit veröffentlicht werden, da die Reproduktion des notwendigen Bildmaterials aus technischen Gründen nicht möglich war. Er erscheint in einer Fach‐ zeitschrift. Dass diese Feierstunde durch Sie, sehr geehrter Herr Dekan, im Namen der Humboldt- Universität und durch Sie, sehr geehrter Herr Präsident, im Namen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, eröffnet wurde, betrachte ich als eine ganz besondere Ehrung seitens zweier Institutionen, mit denen ich mich seit Jahren durch die wissenschaftliche Arbeit zu tiefst verbunden fühle. Ihnen beiden, sehr geehrter Herr Pfeiffer und Dir, lieber Wolfgang Klein, danke ich für die Mühe, die die Ausarbeitung des Festvortrags und der Laudatio erfordert hat. Es tut mir leid, dass ich Dir, Wolfgang, auf Grund meiner Erkran‐ kung nicht einmal mit der Bereitstellung von Faktenmaterial helfen konnte. Lieber Herr Pfeiffer, die Wahl Ihres Themas „Rendez-vous mit Manet“ für den Festvortrag 115 macht mir ganz besonders Freude, weil es nicht nur mit Zola, sondern in besonderer Weise - was Sie ja nicht wissen konnten - mit meiner ganzen Biographie zusammenhängt. Natürlich geht Zola nicht ohne Manet und Manet nicht ohne Zola, und das Nachwort zu Zolas Roman „L’Oeuvre“ nicht ohne den Impressionismus. Aber der Impressionismus war auch die Lieblingsperiode innerhalb der französischen Malerei meines ersten, in Stalingrad vermissten Mannes, Dr. Hans Hetzer, der Anglistik und vor allem Kunstgeschichte studiert hatte. Und einer meiner äl‐ testen Latein-Schüler aus meiner Gymnasiallehrerzeit, 1942/ 43, Peter Feist - ici présent - wiederum verteidigte 1966 eine Habilitationsschrift über den franzö‐ sischen Impressionismus mit dem Titel: Bereicherung und Begrenzung der Ma‐ lerei durch den französischen Impressionismus, für die ich einer der Gutachter war. Theoretisch lag sie auf der Linie meiner eigenen Habilschrift über „Zolas naturalistische Romantheorie und das Problem des Realismus“, also der Erkun‐ dung neuer Ausdrucksmöglichkeiten realistischer Realitätsaneignung unter den Bedingungen veränderte historischer Konstellationen. Dass in meinen Arbeiten zu Zola natürlich auch seine Beziehung zu Manet eine Rolle spielt, darauf haben Sie selbst freundlicher Weise hingewiesen. Doch da man die Feinheiten eines Textes beim einmaligen Zuhören nicht erfassen kann, muss dies der Lektüre Ihrer beiden Vorträge vorbehalten bleiben. Heute kann ich Ihnen nur ganz, ganz herzlich Dank! sagen. Auf den Hommage-Band, den Du, lieber Gerhard Schewe, mir eben überreicht hast, bin ich verständlicherweise schon sehr neugierig. Dank an Dich für diese aparte Idee und Frau Dr. Veit für die Mühe der Präsentierung. 167 4. Le tournant <?page no="168"?> Vor allem aber möchte ich natürlich den Kollegen und Kolleginnen, die einen Beitrag beigesteuert haben und heute hier anwesend sind, schon jetzt sehr, sehr herzlich danken. Die Anregung, meinen 90. Geburtstag zu feiern, kam für die Leibniz Sozietät von Dir, lieber Jochen Herrmann, als dem Sekretar der gesellschaftswissen‐ schaftlichen Klasse, und für die Humboldt-Universität gemeinsam mit einigen anderen Kollegen von Dir, lieber Gerhard Schewe. Die Organisation des kleinen Empfangs, damit wir nicht ganz verhungern und verdursten müssen, hat für mich dankenswerter Weise in letzter Minute meine Freundin, Angelika Riemer, übernommen. Für den Raum sorgte Frau Kolb vom Referat für Öffentlichkeitsarbeit. In der Jugend geht an Geburtstagen der Blick in die Zukunft. Man freut sich auf die nächsten Jahre, auf das, was man noch schaffen und vielleicht auch noch erreichen möchte. Mit Neunzig ist das Leben gelebt und der Blick geht zurück. Ab hier ist der Hauptteil des Textes identisch mit wörtlich übernommenen Ab‐ schnitten aus dem Text „Vom Aufbau der Romanistik an der HU in schwierigen Zeiten“, das hier in Kapitel 2 präsentiert ist und damit auch weitgehend identisch ist mit dem Beitrag in „Sternstunden der Romanistik“. Er wird deshalb hier nicht zitiert. (…) Ich komme zum Schluss. In den alten Märchen, der Literatur meiner Jugend, gibt es gütige Feen, die den Menschen zu besonderen Anlässen drei Wünsche erfüllen. Wenn mir eine gütige Fee zu meinem 90. Geburtstag drei Wünsche frei gäbe, was würde ich mir wünschen? Als erstes, wenn die Zeit heran ist, ein ruhiges, schmerzfreies Sterben. Zur katholischen Erziehung durch meine Mutter gehörte ein Abendgebet, das mit dem Satz endete: „Herr, gib uns einen gnädigen Tod.“ Für mich als Kind war der Tod eine leere Worthülse. Für einen alten Menschen erhält dieser Gedanke als unmittelbare Perspektive eine sehr reale Aktualität, und der damit verbun‐ dene Wunsch seine nur allzu berechtigte Dringlichkeit. Aber natürlich habe ich auch noch einen Wunsch an das Leben und der betrifft die Gewährung der Zeit, die noch nötig wäre, um die aktiven Jahre meines Lebens als Wissenschaftler an der HU und als Mitglied der Akademie der Wissenschaften niederzuschreiben. Und soweit dies bei einer Darstellung aus der Erinnerung überhaupt möglich ist, möchte ich mich natürlich dabei des 168 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="169"?> 116 Ohne Zorn und Eifer. D.R. bekannten Grundsatzes, „Sine ira et studio“ 116 befleißigen, mit dem Tacitus seine Annalen beginnt. Verschiedene Bruchstücke meiner vita sind vorhanden, aber die Hauptarbeit bleibt noch zu tun und eine kritische Rückschau liegt mir auch zur eigenen Selbstverständigung über mein Leben sehr am Herzen. Mein dritter Wunsch wäre die Realisierung meines Credos - einer Welt, in der alle Menschen in Frieden und sozialer Sicherheit unter menschenwürdigen Bedingungen leben können. Doch für diesen Wunsch scheint mir keine, wenn auch noch so gütige Fee zuständig, denn realisieren können ihn nur die Menschen selbst. Mein ganzes bewusstes politisches Leben galt dem Ziel, nach besten Kräften zur Herbeiführung einer solchen Welt beizutragen und ich war überzeugt - besser wäre es vielleicht zu sagen, ich glaubte, denn angesichts der Umstände war es eher ein Glaube! - dass die sozialistischen Versuche des vergangenen Jahrhunderts dieses Ziel allmählich herbeiführen könnten. Seit dem Scheitern dieser Versuche habe ich wie viele Menschen über dessen Ursachen nachgedacht. Eine davon scheint mir die Reduktion der Theorien und Überlegungen von Marx in der politischen Praxis auf ein dogmatisches System. Meine literaturwissenschaftliche Position habe ich auf daraus möglicher Weise resultierende Einengungen in mehreren Publikationen kritisch über‐ prüft, vor allem hinsichtlich der Zola-Edition. 1993 auf dem von Winfried Engler an der FU durchgeführten Zola-Kolloquium, und zum letzten Mal 2005 in dem Vorwort zu der bei Direktmedia erschienenen digitalen Ausgabe der Rougon-Macquart, dessen geschichtheoretische Korrekturen vor allem der ein‐ dimensionalen teleologischen Kausalitätssicht galten. Meine literaturtheoretische Grundposition wurde davon nicht tangiert. Mich hat Literatur immer als Spiegel und Seismograph der Gesellschaft inter‐ essiert und damit als ein aufgeschlagenes Buch der Geschichte des Menschen in der ganzen Vielfalt seines Seins. Auf der Bedeutung dieses Gegenstandes zu dessen Kenntnis und Erkenntnis Literatur beizutragen vermag, beruht der gesellschaftliche Wert unseres Fachs. Als Aktie an der Börse gehandelt werden kann er allerdings nicht. Und damit, liebe Freunde und Kollegen, bin ich bei meiner heutigen politi‐ schen Position, da ich annehme, dass Sie dazu von mir ein Wort erwarten. Mein politisches Credo ist nach wie vor dasselbe: 169 4. Le tournant <?page no="170"?> 117 Die Richtigkeit dieses Anfang Juni 2008 geschriebenen Satzes hat im Oktober auf dem Höhepunkt der internationalen Banken- und Finanzkrise (s. Tagesspiegel v. 12. Oktober) eine unerwartete Bestätigung von einem prominenten CDU-Politiker erhalten. Norbert Blüm, als ehrlicher Vertreter einer „sozialen“ Marktwirtschaft, wetterte ebenda in einem fast eine ganze Seite umfassenden, ausgezeichneten Artikel Der Mensch ist kein Vermö‐ gensgegenstand gegen die „Nutzenmaximierer“, die den Menschen in ein „Renditeob‐ jekt“ verwandeln. „Der ‚homo oeconomicus’, für den nur der Nutzen zählt, ist das Spit‐ zenprodukt einer verblödeten Wirtschaftsgesellschaft, und die gegenwärtige Finanzkrise ist in Wirklichkeit eine Kulturkrise… Die Gesellschaft des ‚homo oecono‐ micus’ ist jedenfalls eine Horde habsüchtiger Egoisten.“ das Ziel der Politik muss es sein, Verhältnisse zu schaffen, in denen alle Menschen in Frieden, persönlicher und sozialer Sicherheit, unter menschen‐ würdigen Bedingungen leben können. Ebenso bin ich nach wie vor der Über‐ zeugung, dass ein nur auf Profitmaximierung konzentriertes gesellschaftli‐ ches System auf die Dauer den Zusammenhalt eines jeden Gemeinwesens zerstört, zwischenmenschlichen Beziehungen die objektive Basis entzieht und die gesellschaftliche, verbindliche Moral durch egoistisches Kalkül ersetzt. 117 Jedes System, das meint, in der besten aller möglichen Welten bereits an‐ gekommen zu sein und die endgültige Patentlösung für alle anstehenden und zukünftigen Probleme gefunden zu haben, muss scheitern - ganz gleich ob die Patentlösung Verstaatlichung oder Privatisierung heißt und Letzteres u. a. bis hin zur verantwortungslosen Privatisierung selbst von polizeilichen und mili‐ tärischen, allein in der Verantwortung des Staates liegenden Aufgaben! Dass soziale Sicherheit zu den grundlegenden Menschenrechten gehört, dürfte angesichts der weltweiten Armuts- und Hungerprobleme wohl außer Frage stehen. International, wie national verbindlich festgeschrieben ist sie aber bis heute nicht. Mit ihrer Durchsetzung allein jedoch ist der Zusammenhalt einer Gesellschaft noch nicht gesichert. Denn zu allen Rechten muss auch das Be‐ wusstsein damit verbundener staatsbürgerlicher Pflichten kommen. Ein solches Bewusstsein wächst jedoch nicht von selbst, auch nicht unter demokratischen Bedingungen. Es bedarf als Voraussetzung einer Ethik des Handelns auf allen Ebenen, d. h. einer dementsprechenden gesellschaftlich verbindlichen Moral, auf der die Gesetze als juristische Regelungen aufruhen müssen. Dass nach allen Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart eine der un‐ abdingbaren Voraussetzungen für das dauerhafte Funktionieren eines Gemein‐ wesens seine demokratische und rechtstaatliche Verfasstheit ist, scheint mir heute jedoch ebenso selbstverständlich. Aber nicht alles, was sich Demokratie nennt, ist auch wirklich eine Demo‐ kratie. Nach dem Urteil anerkannter, auch von mir geschätzter Rechtswissen‐ 170 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="171"?> schaftler, wie Hermann Klenner, ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in das die Erfahrungen der jüngsten deutschen Vergangenheit und des 2. Weltkrieges eingegangen sind - darunter auch der Gedanke einer „sozialen“ Marktwirtschaft - eine gute, auch noch ausbaufähige Grundlage für eine funktionierende Demokratie unter den heutigen Bedingungen. Gerade in letzter Zeit immer häufigere Versuche, zentrale, diesbezügliche Pa‐ ragraphen auszuhöhlen, sind deshalb Angriffe gegen die durch dieses Regelwerk verbriefte Demokratie. Es ist natürlich nicht möglich, im Rahmen eines solchen kurzen Dankwortes alle entscheidenden gesellschaftlichen Probleme auch nur zu benennen. Eines ist jedoch sicher, die gesellschaftlichen Probleme, die im vorigen Jh. zu den sozialistischen Experimenten geführt haben, stehen im Weltmaßstab heute noch aggravierter auf der Tagesordnung. Und viele weitere sind dazu gekommen. Sie bedürfen deshalb auch grundsätzlich neuer Lö‐ sungen und globaler Visionen, statt kurzsichtiger Vertretung machtpoliti‐ scher und parteipolitischer Interessen. Wissen, Nachdenken und die Bereit‐ schaft umzudenken sind gefragt. Ich möchte jedoch hoffen, dass es nicht erst einer Weltkatastrophe bedarf, um bei den dann noch Überlebenden diese notwendige Einsicht zu befördern, damit endlich alle Menschen auf diesem blauen Planeten in dauerhaftem Frieden und allseitiger Sicherheit leben können. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde, ich danke Ihnen für Ihr geduldiges Zuhören. Ich darf Sie nun zu einem kleinen Umtrunk einladen. 5. Interviews Es folgen zwei Interviews, die Rita Schober im Verlauf des Jahres 2007 gegeben hat, die ihr als Grundlage für ihre weitere Arbeit an ihrer vita dienen sollten. Sie waren beide Teil der 58 Texte, die den Vermerk Vita enthielten. Der erste ist das durchge‐ sehene Manuskipt eines Gespräches mit Adelbert Reif, dem bekannten Kulturpu‐ blizisten und trägt das Datum 28.3.2007. Es wurde in der Zeitschrift “Universitas” im Juni 2007 veröffentlicht. Émile Zola als intellektuelles Abenteuer Adelbert Reif im Gespräch mit der Romanistin Professor Dr. Rita Schober Sie ist die Grande Dame der deutschen Romanistik: Prof. em. Dr. phil. Dr. h. c. Rita Schober. 1918 geboren, war die Schülerin und Assistentin des legendären 171 5. Interviews <?page no="172"?> Romanisten Victor Klemperer von 1955 bis 1969 Direktorin des Romanistischen Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin. Weltweit gehört sie zu den besten Kennern des Oeuvres von Emile Zola. Die von ihr zwischen 1952 und 1976 her‐ ausgegebene, im Berliner Verlag Rütten & Loening erschienene zwanzigbändige Ausgabe seines Romanswerks „Die Rougon Macquart“ zählt zu den editorischen Glanzleistungen der modernen Zola-Rezeption in Deutschland. Schon seit län‐ gerer Zeit nicht mehr greifbar, ist diese „Jahrhundertausgabe“ vor kurzem - überarbeitet und versehen mit einer neuen Einleitung - in digitaler Form bei Directmedia erschienen. Reif: Frau Professor Schober, wann begann für Sie das Abenteuer Émile Zola? Schober: Mein direktes Abenteuer Émile Zola begann relativ spät. Er war auch nicht mein Wunschkandidat für die Habilitation. Ich wollte über George Sand habilitieren. Aber die Bibliothekslage gestattete das nicht. Es gab keine wissen‐ schaftliche Ausgabe ihrer Werke und die meisten ihrer Bücher waren nur unter größten Schwierigkeiten erhältlich. Auch war es mir, da ich in der DDR lebte, nicht möglich, die für eine solche Arbeit nötigen Studien in Paris vorzunehmen. Zu Zola brachte mich dann nicht mein Doktorvater Victor Klemperer, son‐ dern kurioserweise Werner Krauss, der Gegenspieler. Eigentlich war das 19. Jahrhundert für Krauss ein Tabuthema. Mit seinem „modernen Zeug“ sollte man es seiner Meinung nach am besten überhaupt nicht behandeln. Wir machen Aufklärung, lautete seine Devise, das tut den Deutschen gut, womit er so Un‐ recht ja nicht hatte. Aber ungeachtet dieser Überzeugung, empfahl er mich dem Verlag Rütten & Loening in Berlin, der für seine geplante Zola-Ausgabe einen wissenschaftlichen Herausgeber suchte. Um die Voraussetzungen für die Her‐ ausgabe einer solchen Ausgabe zu schaffen, musste ich mich mit Zolas Litera‐ turtheorie und seiner von der Ästhetik geprägten Stilistik beschäftigen. So habe ich dann meine Habilitationsschrift über „Émile Zolas Theorie des naturalisti‐ schen Romans und das Problem des Realismus“ verfasst. Reif: Wie stand Klemperer zu diesem Vorhaben? Schober: Klemperer arbeitete über das 19. Jahrhundert vorwärts und rückwärts. Seine zweibändige, zwischen 1954 und 1966 erschienene „Geschichte der fran‐ zösischen Literatur im 18. Jahrhundert“ ist heute noch lesbar. Natürlich hatte er ein ganz bestimmtes Zeitbild und konnte sich nicht recht vorstellen, was aus meinem Zola-Projekt werden sollte. Ihm war jedoch in solchen Angelegenheiten seinen Schülern gegenüber eine gewisse Großzügigkeit eigen. Er behinderte sie nie bei der Bearbeitung eines Themas, auch wenn er selbst meinte, dass darüber das letzte Wort schon längst gesagt worden sei. 172 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="173"?> Reif: Was bewog Sie, Zolas Naturalismus mit dem Realismus zu konfrontieren? Schober: Der Realismus war die in der DDR favorisierte Richtung der Litera‐ turgeschichte. Dabei darf man nicht vergessen, dass zu diesem Zeitpunkt bereits das große Buch von Erich Auerbach über den Realismus in der Weltliteratur erschienen war. Es brachte eine neue Sicht auf den Realismus mit sich, was allerdings nichts daran änderte, dass nach dem Verdikt von Friedrich Engels die Meinung über Zola nicht sehr günstig war. Umso mehr fühlte ich mich darin bestärkt zu untersuchen, was es eigentlich mit dem Naturalismus und dem Re‐ alismus auf sich habe. Erstaunlicherweise gab es zu Beginn meiner Beschäftigung mit Zola zu seiner Literaturtheorie nur die Arbeit von Fernand Doucet aus dem Jahr 1923. Das stellte mich vor ein großes Problem. Denn der Band „Le roman expérimental“ („Der Experimentalroman“) und die weiteren Sammelbände, in denen Zola von 1880 bis 1882 seine theoretischen Artikel zusammengefasst hatte, enthielten keine Angaben zur ursprünglichen Erscheinungszeit der einzelnen Beiträge auf. Man kann aber keine literaturtheoretische Arbeit schreiben, ohne die histori‐ sche Entwicklung der Ideen zu berücksichtigen. Mit Hilfe der Deutschen Staats‐ bibliothek in Berlin, die zu Beginn der 50er-Jahre noch enge Beziehungen zur Bibliothèque Nationale hatte, konnten wir jedoch in Paris einen jungen Wis‐ senschaftler beauftragen, die Veröffentlichungsdaten zu recherchieren. Dieser Wissenschaftler war Henri Mitterand, der spätere Zola-Biograf und Papst der Zola-Forschung. Reif: Haben Sie mit ihm zusammengearbeitet? Schober: Auf seine Vermittlung lernte ich Mitte der 50er Jahre in Paris noch Zolas Sohn Jacques kennen. Er wohnte in einer Straße, die zum Montmartre hinaufführt. Aus dem Gespräch mit ihm erfuhr ich, dass das Gesamtwerk Zolas noch zu Beginn der 50er Jahre in Frankreich nicht als Taschenbauchausgabe erscheinen konnte, weil er im Ruf stand, ein „unanständiger Autor“ zu sein. Und was wir bis heute nicht einsehen dürfen, sind die Liebesbriefe Zolas an Jeanne Rozerot. Zwar liegen zehn Bände mit Korrespondenzen von Zola vor, aber die Briefe an seine Geliebte und Mutter seiner Kinder werden von der Familie bis heute unter Verschluss gehalten. Reif: Von 1952 bis 1976 brachten Sie im Verlag Rütten & Loening die deutsche Ausgabe von Zolas zwanzigbändigem Romanwerk „Die Rougon Macquart“ her‐ aus. Diese Ausgabe war eine der editorischen Glanzleistungen der DDR und wurde dann auch vom Artemis-Winkler Verlag in Lizenz für die Bundesrepublik 173 5. Interviews <?page no="174"?> übernommen. Nachdem diese Ausgabe seit langem vergriffen ist, gibt es in Deutschland keine repräsentative Ausgabe dieses Romanzyklus mehr. Schober: Bedauerlicherweise wurde die Ausgabe nicht wieder aufgelegt, je‐ denfalls nicht in Printform. 2005 habe ich sie in digitaler Form neu bearbeitet und, versehen mit einer Einleitung, bei Directmedia herausgebracht. Aber schließlich ist ein Romanwerk zur Lektüre bestimmt. In digitaler Form eignet es sich fast nur für Studierende, denen daran gelegen ist, schnell die eine oder andere Passage herauszufiltern. Ich bezweifle sehr, dass sie einen ganzen Roman Zolas in digitaler Form lesen werden und ich bezweifle noch mehr, dass sie den gesamten Zyklus auf diese Weise lesen werden. Reif: Damit stellt sich die Frage nach der Rezeption Zolas. Ab wann wurde er in Deutschland bekannt? Schober: Die Rezeption Zolas in Deutschland begann fast parallel mit der fran‐ zösischen zu Beginn der 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts nach dem Erscheinen von „L’assommoir“ („Die Schnapsbude“). Erst mit diesem Roman etablierte sich Zola in Frankreich als Autor, wenn auch als Skandalautor. Und von diesem Zeit‐ punkt an wuchs auch das internationale Interesse an ihm, besonders in Deutsch‐ land und Ungarn, wo die Romane zeitgleich mit der jeweiligen französischen Ausgabe herauskamen. Wenig später folgten Ausgaben in Großbritannien und Russland. Ich habe diese Verkäufe einmal für den Roman „Germinal“ anhand von Zolas Briefwechsel recherchiert. Dabei zeigte sich, was für ein guter Kaufmann er war und mit welch großem Geschick er den Verkauf seiner Bücher auch international lancierte. Um einen Verkauf nicht zu gefährden, war er auch bereit, Abstriche zu machen. Wenn ihm bekannt wurde, dass gewisse Szenen wie etwa die der Entmannung in „Germinal“ Missfallen erregen könnten, dann erklärte er sich sogar zu Kürzungen bereit, was er sonst nie tat. Reif: Und welche Wirkung übte er aus? Schober: Die deutschen Naturalisten orientierten sich in starkem Maße an ihm. Vor allem lernten sie von ihm die Berücksichtigung der sozialen Komponente. Hauptmanns „Weber“ bieten dafür ein herausragendes Beispiel. Im Grunde aber wirkte Zola selbst ungleich stärker als die Schöpfungen der deutschen Natura‐ listen, wurde doch der deutsche Naturalismus von zu vielen kleineren, weniger bedeutenden Autoren repräsentiert, was seinem Gesamterscheinungsbild ab‐ träglich war. Auch maßen diese Autoren dem, was das Zentrum von Zolas Theorie ausmachte, kaum oder gar keine Bedeutung bei. Und Hauptmann als 174 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="175"?> einer der wenigen großen deutschen Naturalisten ist später, wie übrigens auch der alte Zola, in eine andere, romantisch-idealistische Richtung eingeschwenkt. Um die Jahrhundertwende gab es in Deutschland denn auch Versuche, Zola für die „Gartenlauben“-Romane zu gewinnen. Manche seiner Romane boten sich für Publikationen dieser Art geradezu an. „Une page d’amour“ („Ein Blatt der Liebe“), „Le rêve“ („Der Traum“) und „Au bonheur des dames“ („Zum Paradies der Damen“) sind breite Leserschichten ansprechende Liebesromane. Und die Übersetzer taten ein Übriges, sie in diesem Sinne zu bearbeiten und zu ergänzen. Beispielsweise wandelten sie den Schluss von „Au bonheur des dames“ in eine kitschige Liebesgeschichte um. Dadurch kam Zola zwar unter das Volk, aber es war nicht Zola, sondern eine Verfälschung. Reif: Würden Sie sagen, dass Zola erst durch sein aufrüttelndes politisches En‐ gagement in der „Affäre Dreyfus“ wirklich bekannt wurde? Schober: Nein, ganz gewiss nicht. Diese Affäre spielte für sein internationales literarisches Ansehen keine Rolle. Bemerkenswert ist zum Beispiel, dass Zola seine literaturtheoretischen Artikel von 1875 bis 1881 für den „Vestnik Evropy“ („Boten Europas“), eine in St. Petersburg erscheinende russische Zeitung, schrieb. Das unterstreicht seine internationale Bedeutung lange vor der „Dreyfus-Affäre“. Allerdings wandelte die Affäre sein Bild. Durch seinen vehe‐ menten Einsatz für den zu Unrecht der Spionage verurteilten jüdischen Offizier Alfred Dreyfus, wurde Zola zu einem politischen Autor. Hatte man ihn zunächst als Skandalschriftsteller wahrgenommen, so galt er nunmehr als politischer Provokateur. Reif: Würde man das heute auch noch so sehen? Schober: Zolas Engagement in der „Affäre Dreyfus“ ist vielleicht der letzte große Nachhall von Voltaire. Hier wurde das kulturelle Kapital eines Schrift‐ stellers in die Waagschale geworfen für eine historische, juristische, soziale, ge‐ sellschaftliche Aktion, die in das unmittelbare Tagesgeschehen hineingriff. Das konnte Zola sich nur leisten aufgrund seiner internationalen literarischen Re‐ putation. Es hat ihn allerdings nicht davor bewahrt, 1898 vor dem Schwurgericht in Paris wegen übler Nachrede und Rufschädigung zu einem Jahr Gefängnis und 3000 Francs Geldstrafe verurteilt zu werden, woraufhin er sich gezwungen sah, nach England zu fliehen. Reif: Welche Wirkung übte dieses politische Auftreten Zolas Ihrer Einschät‐ zung nach aus? 175 5. Interviews <?page no="176"?> Schober: Zolas Eintreten für Alfred Dreyfus war eine der ganz großen politi‐ schen Aktionen eines Schriftstellers in der Öffentlichkeit. Letzten Endes be‐ wirkte es, dass nach dem Ersten Weltkrieg Organisationen wie der P.E.N.-Klub etabliert wurden, wo sich international bekannte Autoren und Wissenschaftler zusammenfanden, um ihr geistiges und politisches Kapital zur Bekämpfung von Unrecht welcher Art auch immer Art einzusetzen. Damit scheint es heute vorbei zu sein, wenn ich mir beispielsweise die Re‐ aktion auf den P.E.N.-Kongress in Berlin 2006 ins Gedächtnis zurückrufe. Günter Grass hielt auf diesem Kongress eine bewegende Rede zur Dekuvrierung jenes Unrechts, das durch die Politik der USA im Nahen und Mittleren Osten begangen wird - mit allen katastrophalen Folgen für die ganze Welt. Er bekam Standing Ovations, sogar vom Bundespräsidenten. Aber der internationale P.E.N.-Präsi‐ dent Jiri Grusa spielte den Einsatz völlig herunter. So erklärte er in einem In‐ terview, er sei sich vorgekommen wie zu Zeiten der „68er“. Damit setzte er das Gewicht des P.E.N. in der öffentlichen Meinung selbst herab. Das Entscheidende von Aktivitäten wie der des P.E.N. in der Vergangenheit war doch, dass durch sie eine Öffentlichkeit erzeugt wurde, die nicht von der Tagespolitik abhing, sondern von individuellen Initiativen zu bestimmten Fragen. Reif: Und wie wurde Zolas Haltung zu seiner Zeit beurteilt? Schober: In Deutschland trug dieses Eintreten Zolas für einen jüdischen Offizier nicht gerade zu einem seriösen literarischen Ansehen bei. Zwar erschien in den 20er Jahren noch eine deutsche Ausgabe seiner Werke. Doch endete damit seine Rezeption in Deutschland zunächst einmal. Unter den Nationalsozialisten wurden seine Bücher eben wegen seines Eintretens für Dreyfus auf dem Schei‐ terhaufen verbrannt. Reif: War der von Ihnen herausgegebene Romanzyklus die erste Zola-Ausgabe nach dem Krieg? Schober: Ja, bis 1952 war das Werk Zolas in Deutschland nicht verfügbar. Die Initialzündung für seine Wiederentdeckung ging vom Verlag Rütten & Loening aus. Die Ausgabe war zunächst auf nur acht Bände konzipiert. Doch schon nach sehr kurzer Zeit - nach dem Erscheinen des zweiten oder dritten Romans - traf der Verlag die Entscheidung, den gesamten Romanzyklus herauszubringen. Reif: Was gab den Ausschlag für diese Entscheidung? Schober: Der Erfolg. Die ersten Bände stellten aus Sicht des Verlages gewis‐ sermaßen einen Versuch dar, zu ermitteln, wie Zola rund ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod beim Publikum ankomme. Keinesfalls konnte man es sich allein 176 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="177"?> schon aufgrund des zur damaligen Zeit herrschenden Papiermangels leisten, ein derart umfangreiches Projekt in Angriff zu nehmen, das sich schließlich als Verkaufsflop herausstellen würde. Doch übertraf die Aufnahme Zolas beim Le‐ serpublikum selbst die kühnsten Erwartungen. Von dieser bei Rütten & Loening erschienenen und dann von Artemis-Winkler übernommenen Ausgabe wurden insgesamt über fünf Millionen Exemplare verkauft - nicht eingerechnet die Ausgaben als Taschenbuch. Reif: Lässt sich dieser Erfolg nachvollziehen? Schober: Wie Zola dieses Projekt der „Rougon Macquart“ anlegte und bis zu seiner endgültigen Fertigstellung über 20 Jahre lang mit größter Energie ver‐ folgte - das ist einmalig in der Weltliteratur. Reif: Wenn Sie sich diesen Romanzyklus, der ein Panorama der gesellschaftli‐ chen Zustände Frankreichs im ausgehenden 19. Jahrhundert entwirft, heute vor Augen führen, welchem der Romane würden Sie auch für die Gegenwart noch eine besondere Bedeutung zuschreiben? Schober: Da stehen für mich drei Romane im Zentrum: „L’argent“ („Das Geld“), dann „Au bonheur des dames“ („Zum Paradies der Damen“) und schließlich „La curée“ („Die Beute“) über Grundstückspekulationen, ein heute besonders aktu‐ elles Thema. Vielleicht könnte man auch noch „Son excellence Eugène Rougon“ („Seine Exzellenz Eugène Rougon“) nennen. In ihm findet Politikschacher pur statt, nicht zu reden vom Umkehren der Meinungen: Aus dem erzkonservativen Eugène Rougon wird ein Promotor der fortschrittlichen Ideen von Napoleon III. Vom literaturgeschichtlichen Gesichtspunkt aus betrachtet ist zweifelsohne „Germinal“ Zolas Meisterwerk. Es ist der größte Arbeiterroman der Weltlite‐ ratur: Nie zuvor und nie mehr danach wurde seine literarische Qualität erreicht. Reif: „L’argent“ („Das Geld“) erschien vor einigen Jahren in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen „Anderen Bibliothek“ und erzielte eine geradezu phänomenale mediale Resonanz. Das Buch wurde als ein in höchstem Maße „aktuelles Werk“ gepriesen… Schober: Das ist es in der Tat. Die Abläufe der heute so vieldiskutierten „vir‐ tuellen Gewinne“ sind in diesem Roman bereits abgebildet. Was Zola darin schildert, basiert auf dem Erfolg des Suez-Kanals. Für den Handel in jener Zeit kam dieser Durchstich einer ökonomischen Revolution gleich. Plötzlich rückten weit entfernt liegende Länder in das unmittelbare Blickfeld einer breiten fran‐ zösischen Öffentlichkeit. Das bot in Handels- und Finanzkreisen eine glänzende Möglichkeit, für phantastische Anlagen und Spekulationsgeschäfte zu werben. 177 5. Interviews <?page no="178"?> Interessenten wurden riesige Gewinne im Orientgeschäft versprochen, die ebenso virtuell waren wie die Zahlen der Anlagegeschäfte, die vor ein paar Jahren zum großen Börsenkrach führten. Das heißt, Zola legte bereits zu einer Zeit, als die meisten Ökonomen und Sozialwissenschaftler das System noch gar nicht durchschauten, aufgrund seiner genauen Beobachtung der Vorgänge dar, welche fundamentalen Ver‐ änderungen sich im Geldgeschäft vollzogen. Gleichzeitig unternahm er es, eine Gegen-Vision, nämlich die sozialistische Vision einer neuen Gesellschaft, mit einzubauen. Leider war sie in der Art ihrer Anlage schon damals überholt. Doch spricht es für Zolas Größe, dass er beide Akteure der Zeit in diesem Geschehen erkannte. Reif: Nun wurde Zola häufig als Vielschreiber charakterisiert. Unmittelbar nach Vollendung der 20 Romane von „Rougon Macquart“ nahm er bereits einen wei‐ teren Romanzyklus in Angriff, die Städtetrilogie „Lourdes“, „Rom“, „Paris“. Wie bewerten Sie dieses Werk aus heutiger Sicht? Schober: „Lourdes“ enthält auch aus heutiger Perspektive hervorragende Pas‐ sagen in der Darstellung einer Massenbeeinflussung. Zola hatte 1891 und 1892 Lourdes besucht, die dortigen Vorgänge beobachtet und die medizinischen Be‐ richte über die stattgefundenen Wunderheilungen eingesehen. Seine Beschrei‐ bung der zur Grotte ziehenden Pilgerströme, ihre Anbetung der Mutter Gottes und der Atmosphäre des Wallfahrtsortes - das ist ganz große Kunst. Der am wenigsten überzeugende Roman aus der Trilogie ist „Paris“. Wenn Zola hier versucht, die sozialen und sozialistischen Theorien seiner Zeit darzulegen, dann erzeugt das Langeweile. Der Roman zieht sich hin und ist auch intellektuell nicht durchdrungen - ein literarisch misslungenes Opus. Reif: Dennoch begann Zola noch in England, wohin er 1898 nach der Dreyfus-Affäre geflohen war, mit einem neuen Romanzyklus, der Tetralogie „Les quatre évangiles“ („Die vier Evangelien“), bestehend aus den Romanen „Fécondité“ („Fruchtbarkeit“), „Travail“ („Arbeit“), „Vérité“ („Wahrheit“) und dem nicht mehr ausgearbeiteten Roman „Justice“ („Gerechtigkeit“), in denen er das Modell einer neuen Menschengemeinschaft entwarf. Kann man diesem Ro‐ manwerk heute noch etwas abgewinnen? Schober: Die ideelle Grundlage von Zolas Werk bildet seine Bejahung des Fort‐ schritts. Vor diesem Hintergrund verstand er seine Gesellschaftskritik vor allem konstruktiv. Sie sollte die Gesellschaft nicht zerstören, sondern ihr helfen, Fehler und Unzulänglichkeiten zu überwinden und voranzukommen. Sein Blick auf die 178 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="179"?> Zukunft war positiv und sein ganzes literarisches Tun darauf gerichtet, an diesem Werk des Jahrhunderts mitzubauen. In den ersten Romanen von „Rougon Macquart“ überwiegt noch die Kritik. Aber mit dem elften Roman „Au bonheur des dames“ („Zum Paradies der Damen“) aus dem Jahr 1883 kam es zu einer Wende. Aus dem kritischen Blick auf die Vergangenheit wurde mehr und mehr ein konzentrierter Blick auf das, was werden soll, verbunden mit dem Wunsch, diese Zukunft zu erfassen und positiv mitzugestalten. Zola wurde vom Wissenschaftler zum Propheten, wie ein deutscher Literaturwissenschaftler diesen Wandel treffend beschrieb. Von da an überwog in seinen Romanen der prophetische Aspekt, den er dann in seinem Zyklus „Les quatre évangiles“ auszuarbeiten suchte. Reif: Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die fortwähr‐ enden Predigten von Frucht und Samen auf den heutigen Leser zumindest be‐ fremdlich wirken… Schober: Da kommen wir auf einen weiteren Aspekt von Zolas ideologischer Grundlegung zu sprechen, der sein gesamtes Werk durchzieht, nämlich den christlichen Mythos, aus dem er seine Bilder bezieht. Sein Werk ist geprägt von diesem Ur-Mythos von Anfang und Ende, Auferstehung und Leben. Stets ging es ihm um eine künstlerisch-literarische Gestaltung von Zukunft. Das trifft be‐ sonders auf den Zyklus „Les quatre évangiles“ zu. Reif: Aber können wir die Verklärung der Fruchtbarkeit, sei es in Gestalt des Ackers oder der Frau, heute noch nachvollziehen? Schober: Das muss man aus der Zeit verstehen. Es herrschte damals große Be‐ sorgnis über eine zunehmende Entvölkerung Frankreichs. Das Potenzial an jungen Menschen schrumpfte. So sah Zola im Florieren einer kinderreichen Fa‐ milie die Zukunft. Das kann im Rückblick auf die Erfahrungen mit diesen Theo‐ rien, insbesondere während der Zeit des deutschen Faschismus ins Negative verkehrt und völlig falsch interpretiert werden. In den 80er Jahren wurde mir eine österreichische Dissertation zur Mitbegutachtung vorgelegt, deren Ver‐ fasser sich bemühte, diese Theorien als präfaschistische herauszuarbeiten. Ich habe die Mitbegutachtung der Arbeit abgelehnt. Gewiss führten diese Theorien ins Abseits. Dennoch ist es unzulässig, sie aus der Sicht einer späteren Zeit be‐ werten zu wollen und rückwirkend etwas hinein zu interpretieren, was so nicht enthalten war. Reif: Wie kam der Romanzyklus zu seiner Zeit an? 179 5. Interviews <?page no="180"?> Schober: Die Romane fanden keinen Anklang mehr. Ihr Absatz ging zurück. Und bei den Übersetzungen musste Zola sogar Kürzungen zustimmen. „Le tra‐ vail“ („Die Arbeit“), der zweite Roman aus dem Jahr 1899 stellt den Versuch dar, mit einer voyeuristischen Keimzelle den Umbau der Gesellschaft und der In‐ dustrie in einem sozialen Sinne darzustellen. Auch das erwies sich als Illusion. „La vérité“ („Die Wahrheit“) aus dem Jahr 1901 wäre, so heißt es allgemein, die Aufarbeitung des Dreyfus-Prozesses. Das ist unrichtig. Die zeitgenössische Kritik machte Zola gerade zum Vorwurf, dass er den Dreyfus-Prozess nicht in einen Roman umsetzte. Tatsächlich beinhaltet „La vérité“ den Kampf gegen die klerikalen Schulen und für ein laizistisches Schulsystem. Es war damals in Frankreich zu einem Anwachsen der geistlichen Schulorden gekommen. Und gegen diese klerikalen Privatschulen schrieb Zola an. Er plädierte für eine ob‐ jektive, von keiner Seite beeinflusste Schulausbildung, damit den Kindern nicht eine ideologisch vorgeprägte Sicht der Welt vermittelt werde. Was „La justice“ („Gerechtigkeit“) betrifft, so können wir nichts darüber sagen. Was es an Vorarbeiten gibt, reicht nicht aus, um sich ein Bild über diesen Roman zu machen. Zola wurde mitten in der Arbeit daran aus dem Leben ge‐ rissen, wobei bis heute nicht geklärt ist, ob es sich um einen Unfall handelte oder einen Mordanschlag in Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre. Reif: Wenn wir einmal von diesen Alterswerken absehen: Wie würden Sie die Neuerungen charakterisieren, die Zola in die Literatur einbrachte? Schober: Wenn wir Zola heute einer großen Richtung der Weltliteratur zu‐ ordnen wollen, dann wäre es der Realismus. Hippolyte Taine hatte den Begriff in die Literatur eingeführt. Aber zur damaligen Zeit war er ein Unwort. Flaubert etwa wehrte sich in dem Skandalstreit um die „Madame Bovary“ mit Händen und Füßen dagegen, ein Realist zu sein. Der Grund lag darin, dass es in den 60er- und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts in Frankreich eine literarische Richtung gab, die den Begriff für sich bean‐ spruchte. Einer ihrer Vertreter war Édmund Duranty, der zwei Jahre lang auch eine Zeitschrift mit dem Titel „Le Réalisme“ herausgab. Sie propagierte einen populistischen Realismus der kleinen Leute auf einem literarisch sehr niederen Niveau. Dadurch kam der Begriff in Verruf. Auch Balzac, der große Realist, wurde seinerzeit nie als Realist bezeichnet, sondern als Romantiker. Und Zola, der sich von dieser Richtung absetzen, wollte, wählte für sich in Anlehnung an die Naturwissenschaften den Begriff Naturalismus. Reif: Warum wollte er sich von Balzac absetzen? 180 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="181"?> Schober: Er musste sich absetzen. Indem er sich mit den „Rougon Macquart“ vornahm, eine ganze Epoche darzustellen, besaß er einen großen Vorgänger, eben Balzac mit seiner „Menschlichen Komödie“. In einem Artikel „Différences entre Balzac et moi“ („Unterschiede zwischen Balzac und mir“) legte er denn auch ausführlich dar, was sein Werk von dem Balzacs unterscheide. Dabei berief er sich auf die Wissenschaft: Er benötige nur eine Familie zur objektiven Be‐ schreibung des individuellen und historischen Geschehens und nicht ein stän‐ diges Kommen und Gehen der Protagonisten. Zolas Werk fußt auf den Naturwissenschaften und der Medizin seiner Zeit. Von daher erklärt sich auch der Untertitel der „Rougon Macquart“: „Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire“ („Natur- und Sozial‐ geschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich“). Die Naturgeschichte steht an erster Stelle. Für Zola war der biologische Anteil des Menschen an der Gestaltung seines Lebens und seiner Zukunft ganz wesentlich. Aufmerksam studierte er die Vererbungslehre und die Entwicklungstheorie von Charles Darwin, die damals auf den Plan rückte, sowie die Experimentalmedizin von Claude Bernard. Auch eine ganze Reihe Freudscher Entdeckungen nahm er in seinen Romanen vorweg. Bereits in seinen frühen literaturtheoretischen Äuße‐ rungen, wie sie in dem Sammelband „Mes haines“ („Meine Hassgesänge“) zutage treten, bringt er diese Konzentration auf die Erfassung des Fortschritts in den Wissenschaften zum Ausdruck: Die Himmel Dantes sind vorüber, wir müssen die Himmel von Laplace beschreiben. Reif: Gibt es besondere, über den Zeitgeist hinausreichende Gründe für diese aus heutiger Sicht beinahe naiv anmutende Fortschrittsgläubigkeit? Schober: Ja, diese Fortschrittsgläubigkeit hatte nicht zuletzt einen biografischen Hintergrund. Zola hatte eine schwere Jugend. Sein Vater, von Beruf Kanalbau‐ ingenieur, übernahm ein Kanalbauprojekt in Aix-en-Provence, das mit großen Ausgaben und noch größeren Versprechungen für die Zukunft verbunden war. 1843 zog die Familie von Paris nach Aix, wo Zola seine Jugendjahre verbrachte und die Freundschaft mit Cézanne begann. Doch das Kanalbauprojekt geriet in Schwierigkeiten. Der Vater starb und hinterließ seiner Witwe einen gewaltigen Berg von Zahlungsforderungen. Zola kehrte nach Paris zurück, scheiterte aus‐ gerechnet in französischer Sprache zweimal im Abitur und hauste völlig mit‐ tellos in einer Dachmansarde, während er sich mit einer Arbeit auf den Docks mühsam über Wasser hielt. Erst als er beim Verlag Hachette unterkam, begann sich seine Lebenssituation zum Besseren zu wenden. Schließlich wurde er Werbechef des Hauses. Er musste Werbetexte verfassen, was nicht nur eine wichtige Schreibschulung war, son‐ 181 5. Interviews <?page no="182"?> dern ihn auch zur Kenntnisnahme dessen zwang, was an Fortschritten auf den Gebieten der Wissenschaften virulent war. Davon beeindruckt, verschrieb er sich ganz dem Fortschrittsgeist. Reif: Und übertrug ihn auch auf seine Romane? Schober: Zolas methodische Vorgehensweise bei seiner literarischen Arbeit er‐ folgte nach dem Vorbild der Naturwissenschaften in drei Schritten: Beobach‐ tung, Analyse, Experiment. Sein Ziel war es, die Erkenntnisse der Wissen‐ schaften im Roman auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Er wollte sich selbst einbringen in diese wissenschaftliche Erkundung des Menschen. Philosophisch fußt sein Werk auf dem Positivismus, angefangen bei Auguste Comte und seinem „savoir pour prévoir“ („wissen, um vorauszusehen“) - Wissen zu sam‐ meln, um Entwicklungen vorauszusehen und die Lebensbedingungen der Men‐ schen verbessern zu können - bis zu Hippolyte Taines Milieutheorie mit den soziologischen Kategorien Rasse, Milieu und historische Bedingtheit. Für seinen Rougon-Macquart-Zyklus arbeitete er einen ganz systematischen Aufbau aus. Er entwarf eine Soziologie seiner Protagonisten und erstellte Stammbäume. Als er das Werk 1868/ 69 plante, stand das Kaiserreich gerade im Begriff, sich mit einigen sozialen und demokratischen Reformen in die neuen Verhältnisse einzupassen, um erhalten zu bleiben. Dass es bereits 1870/ 71 mit dem deutsch-französischen Krieg enden werde, war nicht vorauszusehen. Dieser Krieg setzte Zolas Geschichte, die auf eine Generation angelegt war, eine Grenze. Aus der Zeitgeschichte, die er zunächst hatte schreiben wollen, war Vergangenheitsgeschichte geworden. Im Vorwort zum ersten Roman des Zyklus „La fortune des Rougon“ („Das Glück der Familie Rougon“) schrieb er, er hätte diesen Zusammenbruch immer vorausgesehen. Dem war in Wirklichkeit na‐ türlich nicht so. Aber es passte Zola in sein Konzept. Er sah sich nun einer abgeschlossenen Periode gegenüber, die er in ihrer Gesamtheit untersuchen konnte. Reif: Balzac nannten Sie schon. Aber gab es darüber hinaus literarische Vor‐ bilder für Zola? Schober: Zolas großes Vorbild war Flaubert. Sein Artikel über Flaubert ist ei‐ gentlich seine wichtigste theoretische Arbeit überhaupt. In ihm stellt er die For‐ derung nach der Objektivität des Schriftstellers ins Zentrum. Sie ist sein Credo in der Haltung des Schriftstellers zu seinem Stoff und zur Art seiner Darstellung. Zola geht es immer um das Prinzip von Wahrheitserkenntnis. Das ist der Im‐ petus seines ganzen Werks. Für uns, die wir in einem Jahrhundert leben, das von grundsätzlicher Skepsis gegenüber den Möglichkeiten objektiver Wahrheiten 182 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="183"?> geprägt ist, lässt sich ein solches Credo freilich nur aus dem historischen Kontext der damaligen Zeit verstehen. Reif: Nun zählt Flaubert zu den großen Stilisten der französischen Literatur. Wie würden Sie Zola in stilistischer Hinsicht beurteilen? Schober: Zola hat einen wunderbaren sprachlichen Duktus. Auch arbeitete er unglaublich viel im Sprachlich-Phonetischen. Es gab zu jener Zeit eine symbo‐ lische Richtung, die sich an Verlaine, Rimbaud und anderen Lyrikern orientierte. In ihr wurden den einzelnen Vokalen Farben und Bilder zugeordnet. Zola wandte diese Technik an, um Personen oder Szenen eine bestimmte Klangfarbe zu ver‐ leihen. So beginnt etwa der Streikzug der Bergleute in „Germinal“ mit einer Häufung des Vokals „a“: „Et la bande, par la plaine rase, toute blanche…“ Den Übersetzer stellt die Wiedergabe solcher Klangfarben vor ungeheure Schwie‐ rigkeiten. Reif: Konnte Zola trotz seiner gewaltigen Produktion Muße für solche stilisti‐ schen Details finden? Schober: Es kommt noch etwas hinzu. Wie im Untertitel der „Rougon Mac‐ quart“ festgehalten, gründete Zola seine Romane auf zwei Aspekte: Natur- und Sozialgeschichte. Für beide Aspekte legte er je einen Handlungsstrang an, die er dann mit stilistischen Mitteln verkoppelte. So gibt es in „La curée“ („Die Beute“) einerseits eine Liebes-Inzest-Geschichte und den Betrug des Mannes Saccard an seiner Frau und andererseits die Saccard-Geschichte mit der Häu‐ serspekulation. Verbunden werden beide Geschichten durch das Bild des Re‐ gens. Saccard steht zu Beginn des Romans oben auf dem Montmartre. Er wirft einen Blick auf die abendliche, von der untergehenden Sonne beschienene Stadt und sagt: Goldregen gegen Lichter. Und dieses Bild des Regens kehrt in ver‐ schiedenen Variationen im Verlauf des Romans immer wieder. Reif: Vor welche Herausforderungen stellen solche stilistischen Raffinessen die Übersetzer von Zola? Schober: Im Allgemeinen wird die Ansicht vertreten, dass Prosawerke von der Art wie die Romane Zolas relativ leicht zu übersetzen sind. Dem ist aber nicht so. Ein Roman wie „Germinal“, der im Bergwerksmilieu des 19. Jahrhunderts spielt, ist schon von seiner Fachterminologie her unglaublich schwer zu über‐ setzen. Hinzu kommt das Problem, dass Sprachen nicht hundertprozentig kom‐ patibel sind. Das Französische hat zwei Wörter für Fleisch: „la viande“, das beim Metzger hängt, und „la chair“, das Fleisch einer schönen jungen Frau. Dass wir 183 5. Interviews <?page no="184"?> im Deutschen nur ein Wort haben, bereitete uns bei der Übersetzung von „La curée“ („Die Beute“) viele Probleme. Darüber hinaus weisen Zolas Texte einige stilistische Besonderheiten auf. So benützt er etwa für psychische Grundannahmen eine ganz bestimmte Termi‐ nologie. Wenn er beispielsweise im Vorwort zum ersten Roman der „Rougon Macquart“ davon schreibt, dass das Zeitalter durch ein Überborden der Begier‐ den gekennzeichnet sei, dann tauchen diese Worte im Verlauf des Zyklus an unterschiedlichen Stellen immer wieder auf. Für den Übersetzer stellt sich die Aufgabe, diese eingestreuten Wiederholungen zu erkennen und entsprechend herauszuarbeiten. Reif: Werfen wir zum Abschluss einen Blick auf die gegenwärtige Zola-For‐ schung. In Frankreich erschienen anlässlich von Zolas 100. Todestag 2002 meh‐ rere wichtige Werke, insbesondere der dritte und letzte Band von Mitterands großer Zola-Biografie. Aber wie sieht es auf internationaler Ebene aus? Findet eine kontinuierliche Zola-Forschung statt? Schober: Es gibt zwei internationale Zentren der Zola-Forschung: in Großbri‐ tannien und in Kanada. Dort hat beispielsweise Mitterand begonnen, die Kor‐ respondenz Zolas herauszugeben. Auch haben wir eine Zola-Gesellschaft, die jährliche Pilgerfahrten nach Médan unternimmt. Und es erscheint die Zeitschrift „Les Cahiers naturalistes“. Demnächst werden von der Académie Française nun auch alle Dossiers Zolas herausgegeben. Zola legte für jeden seiner Romane etwa 400 bis 500 Seiten Vor‐ arbeiten an. Diese waren bisher nur in der Bibliothèque Nationale in Paris ein‐ zusehen. Mitterand konnte sie von Anfang an nützen, ich leider nicht. Ihre Ver‐ öffentlichung eröffnet der Forschung auch im Hinblick auf Zolas Stilistik viele neue Möglichkeiten. Vor diesem Hintergrund kann man durchaus von einer florierenden Zola-For‐ schung sprechen. Ich würde sogar von einer Zunahme ausgehen. Seit 1952, dem Beginn der Wiederentdeckung Zolas in Deutschland, verzeichnen wir einen Anstieg der Sekundärliteratur über Zola, die kaum mehr überschaubar ist. Da‐ runter befindet sich manches Abwegige. Aber immer wieder werden auch in‐ teressante neue Theorien an Zola herangeführt und neue Gesichtspunkte erar‐ beitet. 184 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="185"?> 118 http: / / www.hu-berlin.de/ alumni/ prominente/ interviews/ schober. Der Beitrag lag zum 90. Geburtstag Rita Schobers im Juni 2008 vor. Das zweite Interview wurde für die Zeitschrift der Humboldt-Universität von Heike Zappe im November 2007 geführt.  118 Im Jahre 1951 ist Rita Schober als Assistentin von Victor Klemperer von der Universität Halle an die Humboldt-Universität nach Berlin gekommen. Sie wurde Dozentin und trat seine Nachfolge am Institut für Romanistik an. Als Professorin, Dekanin und Emeritierte war sie 38 Jahre der Humboldt-Universität verbunden. Sie brachte von 1952-76 das Hauptwerk Emile Zolas Die Rougon-Macquart in einer Gesamtausgabe heraus. Noch heute studiert sie die französische Gegenwartsliteratur und publiziert darüber. Am 13. Juni feiert sie ihren 90. Geburtstag. Wir sprachen mit ihr über ihr Leben für die Wissenschaft, Parteiversammlungen und den Ruf als schönste Frau der Universität. Frau Schober, Sie kamen 1951 zusammen mit Victor Klemperer an die Humboldt-Universität. Wie kann man sich die Zusammenarbeit mit ihm vorstellen? Die erste Begegnung mit ihm fand 1948 in Halle statt. Nach Berlin gekommen bin ich 1951 durch ihn. Er wollte, dass ich eine Stelle im Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen annehme, als Hauptreferentin für Philologien. Ich wollte das nicht, denn ich hatte zu der Zeit bereits eine Habilitationsarbeit über George Sand begonnen. Durch diese Unterbrechung, durch das Angebot von Rütten & Loening 1952, die Zola-Ausgabe herauszugeben, durch die Geburt meines Sohnes 1951 und weil es von George Sands Werken keine Gesamtaus‐ gabe und schon gar keine wissenschaftliche Ausgabe gab, konnte diese Habil‐ arbeit aber nicht zu Ende gebracht werden. Also ging ich mit Klemperer nach Berlin. Dass ich einmal seine Nachfolgerin werden soll, stand bei ihm fest. 185 5. Interviews <?page no="186"?> Sie hatten nicht nur ein kollegiales, sondern auch ein freundschaftliches Verhältnis zu Klemperer, denn er war Trauzeuge bei Ihrer Hochzeit? Klemperer hatte überhaupt ein kollegiales Verhältnis zu seinen jungen Stu‐ denten und zu denen, die er als seine Schüler betrachtete. Er hat mir beispiels‐ weise 1953, als ich sehr schwer krank war, das Geld gegeben, damit ich zur Kur fahren konnte. Auch so was gibt's. War es ein lang gehegter Wunsch, Wissenschaftlerin zu werden? Ich wollte von Kind an Lehrerin und später Gymnasiallehrerin werden. Darum habe ich ja auch das Studium angestrebt. Nach meiner Promotion im März 1945 ließ mich mein Doktorvater, Prof. Gerhard Preißig, zu sich kommen und sagte: „Möchten Sie bei mir weiterarbeiten? “ Ich habe wirklich gedacht, der Himmel geht auf! Dieses Angebot war gewissermaßen die Erfüllung meiner Träume. Und er fügte hinzu: „Um eine solche Laufbahn einschlagen zu können, sind zwei Voraussetzungen nötig: Man braucht jemanden, der einen schiebt“ - ich glaube, das gilt auch heute noch - „und es muss einem hie und da etwas einfallen. Ihnen wird etwas einfallen und ich werde Sie schieben.“ Er ist 1945 in Prag umge‐ kommen, und der Traum von einer akademischen Laufbahn war damit ausge‐ träumt. Dennoch haben Sie an Ihrem Traum festgehalten, an die Universität zu gehen. Es gab aber eigentlich keine Voraussetzungen für seine Erfüllung. Dass Klem‐ perer 1948 die Leitung des Instituts für Romanistik an der Universität Halle übernahm, wo ich seit 1946 als Assistentin, aber ohne einen, jedoch dringend notwendigen wissenschaftlichen Leiter arbeitete, war ein ungeahnter Glücksfall 186 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="187"?> für mich. Er hat mich auch von der Sprachwissenschaft - mein Promotions‐ thema war ein sprachwissenschaftliches - zur Literaturwissenschaft zurückge‐ holt, die mir viel mehr lag. Ihm danke ich deshalb in vielfacher Hinsicht die Orientierung meiner wissenschaftlichen Arbeit und damit auch meine ganze Karriere. Wie konnte sich die Romanistik zu DDR-Zeiten im Vergleich zu anderen Sprachen an der Humboldt-Universität entfalten? Das Studium war in den Sprachen in erster Linie auf die Ausbildung von Lehrern für die Oberschulen ausgerichtet; der dafür notwendige Bedarf - die Zahl der abzudeckenden Unterrichtstunden an den Schulen - spielte auch für die Be‐ deutung des Fachs an den Universitäten eine Rolle. Und die erste Fremdsprache an den Schulen war Russisch, und damit die Slawistik, mit dem Hauptfach Rus‐ sisch, jahrelang dominant. Als zweite Fremdsprache konnte zwischen Englisch und Französisch gewählt werden, und da wurde meist Englisch bevorzugt. Die Rolle der Germanistik als nationalsprachlicher Philologie wurde dadurch we‐ niger tangiert. Die im Zuge der III. Hochschulreform 1969 gegründete große Sektion aller neusprachlichen Philologien trug daher den Titel „Philologien - Germanistik“. Doch der Sektionsdirektor war ein Slawist. Verwaltungstechnisch zeigte sich das Gewicht der einzelnen Philologien praktisch in der Stellenver‐ teilung. Für die Möglichkeiten der Romanistik kam zudem ein weiterer er‐ schwerenden Umstand hinzu: Alle romanischen Sprachen mit Ausnahme des 187 5. Interviews <?page no="188"?> Rumänischen - Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch - wurden in Ländern gesprochen, mit denen die DDR bis zur völkerrechtlichen Anerken‐ nung 1974 keine internationalen Beziehungen hatte. Wenn es vorher offizielle Beziehungen gab, so höchstens auf der Parteiebene. Konnte sich die Romanistik später gegenüber der Slawistik behaupten? Die endgültige Ausgliederung der Romanistik aus der großen Sektion Philolo‐ gien - Germanistik gelang erst 1982 nach jahrelangem Kampf. Ich habe mich dafür mit großem Engagement eingesetzt. Nur so war es überhaupt möglich, z. B. die Lateinamerikanistik mit einer ordentlichen Professur in Berlin zu eta‐ blieren. Für Ihre Studenten war es sicher noch schwieriger als für Sie, ins nicht‐ sozialistische Ausland zu reisen? Ich bin selbst aufgrund der historischen Bedingungen 1953 das erste Mal in Frankreich gewesen. Für die Studenten ist es hinsichtlich der praktischen Sprachbeherrschung eine große Erschwernis, wenn ein längerer Studienauf‐ enthalt in den entsprechenden Ländern nicht möglich ist. Nur einmal, 1954/ 55, ist es gelungen, auf privater Ebene einen Studentenaustausch mit Frankreich durchzuführen. Zum Glück hatten wir jedoch in den ersten Jahren als mutter‐ sprachliche Lektoren aus den nichtsozialistischen Ländern Emigranten. Nach 1974 gab es aus diesen Ländern die vertraglich geregelte offizielle Entsendung von Lehrkräften für den Sprachunterricht. Um eine andere Sprache wirklich zu beherrschen, muss man allerdings mindestens einige Zeit im Lande gelebt haben. 188 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="189"?> Welchem Forschungsgebiet galt Ihr besonderes Interesse? Mich hat immer das interessiert, was theoretisch ein bisschen umstritten war. Emile Zola war in der offiziellen, marxistischen Literaturkritik vor allem auf‐ grund der negativen Meinung von Friedrich Engels ein solcher Autor. 1952 war der 50. Todestag von Zola. Solche Daten wurden meistens in der kulturellen Öffentlichkeit der DDR zur Kenntnis genommen und in der Zeitung dokumen‐ tiert. Zu diesem Todestag erschien ein Artikel, der Zola im positiven Sinne als Realisten würdigte. Und da ich in diesem Jahr die Herausgabe von Zolas Rougon-Macquart übernommen hatte, musste ich mich natürlich auch mit dieser Frage beschäftigen. Das Thema meiner Habilitationsarbeit lautete deshalb „Zolas naturalistische Theorie und das Problem des Realismus“. Aber literatur‐ theoretische Fragen: z. B. zu Boileaus Poetik, zum Strukturalismus, zu Aragon, zur Wertungstheorie standen auch sonst für mich im Vordergrund, eigentlich bis heute. Mich interessiert die Literatur als ein Spiegel und als ein Seismograph der Gesellschaft. Haben Sie denn im Zuge Ihrer Recherchen auch Zolas Erben kennen gelernt? Ja. Ich habe in den 1950er Jahren den damals noch lebenden Sohn Zolas durch die Vermittlung des führenden Zola-Spezialisten Henri Mitterand in Paris kennen gelernt. Er beschwerte sich damals, dass die zwanzig Bände der Rougon-Macquart zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht in Taschenbuchaus‐ 189 5. Interviews <?page no="190"?> gabe erscheinen durften, weil sie unmoralisch wären. Zola stand von Anfang an bei der offiziellen Literaturkritik unter dem Verdikt, dass seine Romane „Gos‐ senliteratur“ wären und nicht in die Hände des Volkes geraten dürften, damit es nicht verdorben würde. Das wirklich Bedenkliche daran war für diese Kritiker wohl eher ihre schonungslose Gesellschaftskritik, die in Romanen wie „Die Beute“, „Seine Exzellenz Eugène Rougon“, „Der Bauch von Paris“, „Das Geld“, „Germinal“noch heute greift. Wie kann man sich den Alltag der Romanistik-Professorin Rita Schober vorstellen? Ab 1957 bin ich früh morgens mit dem Auto in die Uni gefahren. Unser Institut war damals in der Clara-Zetkin-Straße 1 (heute Dorotheenstraße - d. Red.), und mein Raum die Nummer 6 im Erdgeschoss. Ich war meist die Erste, habe meine Assistenten begrüßt, dann lief der Tag mit Vorlesungen oder Konferenzen. Abends kam ich oft spät nach Hause. Unsere Haushälterin beklagte sich zu‐ nächst über das, was mein Sohn während des Tages wieder einmal angestellt hatte. Also musste ich zunächst die strenge Mama sein und dann erst die liebe, die ihn noch mit einem kleinen Schlaflied ins Bett bringt. Wenn wir Glück hatten, war mein Mann schon zu Hause und wir konnten zusammen wenigstens zu Abend essen. Danach habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt. Ich habe bis in die 1970er Jahre hinein regelmäßig mindestens zweibis dreimal, manchmal öfter, die Nächte bis drei oder vier Uhr früh durchgearbeitet. Manchmal habe ich auch zwei Tage hintereinander ohne Schlaf am Schreibtisch verbracht. Wir sprachen schon von der Verantwortung. Was bestimmte Ihre Tä‐ tigkeit an der Universität? 190 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="191"?> Ein Institut leiten mit allem Drum und Dran, Vorlesungen und Seminare halten, im Ausland auf Konferenzen, in Gastvorlesungen, auf Kolloquien tätig sein, die hochschulpolitischen Verpflichtungen wahrnehmen. In dieser Hinsicht gab es viele Gremien, in denen man seine Zeit oft nur vertrödelte. Aber, man musste teilnehmen, um die Interessen des Fachs zu wahren, damit der Hauptanteil des Stundenkontingents nicht Pädagogik, Gesellschaftswissenschaften oder Rus‐ sisch zufiel, sondern die Studenten in Französisch auch noch Französisch lernen durften. Bei all diesen Verpflichtungen verblieben eigentlich nur die Ferien als die Zeit, wo man mal hintereinander weg arbeiten konnte. Zum Universitätsleben gehören auch Feierlichkeiten. Können Sie sich an solche Feste erinnern? Mit meinen unmittelbaren Kollegen und Mitarbeitern habe ich stets eine Weih‐ nachtsfeier gemacht, und zum Fasching gab es ein Institutsfest für alle, an dem oft ein französisches Theaterstück in Originalsprache von den Studenten auf‐ geführt wurde. Besondere Feierlichkeiten fanden 1960 zum 150-jährigen Uni‐ versitätsjubiläum statt. Zum Festakt in der Staatsoper zogen wir noch in Talaren über die „Linden“. Vor allem aber bemühten sich alle Institute, die Universität mit wissenschaftlichen Veranstaltungen in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Wenn man bedenkt, dass dies erst fünfzehn Jahre nach Kriegsende geschah, so kann man sagen, dass sich das wissenschaftliche Potenzial der Universität in diesen Jahren bereits erstaunlich entwickelt hatte. Allein unser kleines Institut hat drei Konferenzen ausgerüstet: eine theoretische Konferenz zur Realismus‐ frage in Aragons Roman „Die Karwoche“ und Eluards Lyrik; eine Studenten‐ 191 5. Interviews <?page no="192"?> konferenz zum Algerienkrieg - das Referat haben die Studenten im Sprachun‐ terricht selbst erarbeitet - und eine Lateinamerikakonferenz, die erste nach dem Krieg in Deutschland. Wie reflektieren Sie die Parteiversammlungen? Wenn ich etwas in meinem Leben bedauere, dann sind es die vielen Versamm‐ lungen, bei denen nichts Vernünftiges herauskam. Natürlich gab es auch andere. Aber mit der Zeit der Mitglieder wurde umgegangen, als hätten sie ein ewiges Leben. Man fragt heute oft, wieso vernünftige Menschen dies alles jahrelang akzeptiert haben. Ohne die Überzeugung, vielleicht jedoch wäre es besser zu sagen, ohne den „Glauben“, sich für eine gute Idee einzusetzen und eine fried‐ liche Welt aufbauen zu helfen, in der alle Menschen ein menschenwürdiges Leben führen können, wäre dies nicht möglich gewesen. Und die diesem Glauben zugrunde liegenden gesellschaftlichen Probleme sind heute ja leider noch keineswegs endgültig gelöst. Ich wünschte mir deshalb, dass man aus den Fehlern der Vergangenheit wenigstens etwas lernte. Der Versuch in den 70er Jahren mit der dritten Hochschulreform amerikanische Vorbilder zu kopieren, war kein sehr glücklicher. Manche der jetzigen Bestrebungen an der Universität erinnern mich in fataler Weise daran. Man kannte Rita Schober seit 1964 auch als regelmäßigen Gast in der DDR-Fernsehsendung „Das Professorenkollegium tagt". 192 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="193"?> Das war eine sehr beliebte Sendung und, glaube ich, die einzige, die live gesendet wurde. Wir diskutierten oft über Alltagsthemen: über Kindererziehung, aber auch über naturwissenschaftliche Themen, denn das Kollegium war aus Pro‐ fessoren aller möglichen Wissenschaftsgebiete zusammengesetzt: Der Chef des Tierparks, Professor Heinrich Dathe, war oft dabei und auch der Gerichtsme‐ diziner, Professor Otto Prokop. In einer Sendung haben wir uns einmal über das Boxen als sportliche Disziplin unterhalten. Das Professorenkollegium war mit Prof. Prokop einheitlich der Meinung, dass es kein Sport wäre, wenn einer den anderen als dezidiertes Ziel k. o. schlagen muss. Da haben wir eins aufs Dach bekommen. Der Boxverband hatte Beschwerde eingelegt. Die Sie kennen, berichten, dass Sie „die schönste Frau der Universität“ genannt wurden… (Lacht: ) In Halle hieß ich immer „die schöne Rita“! Manchmal hieß ich auch „die Bestangezogene“. Aber schön? Ich glaube, schön im klassischen Sinn bin ich nie gewesen. Und Männer? Ich war mit einem sehr lieben, guten und fürsorglichen Mann verheiratet, auf den ich mich in jeder Lebenslage verlassen konnte. Und, vor allem, er hat sich über jeden meiner Erfolge mit mir gefreut! Ohne ihn, seine Unterstützung, Rücksichtnahme und die Bereitschaft, seine Wünsche in vielen Fragen zurückzustellen, hätte ich meine Universitätslaufbahn nicht machen können. Denn ein so vergnügliches Leben hat mein Mann an meiner Seite ja nicht gehabt. Ich sagte schon, ich habe sehr oft die Nächte durchgearbeitet, war immer gestresst, viel unterwegs, also nicht in Berlin - das erforderte schon sehr viel Liebe und Aufopferung seinerseits. Gibt es einen Rat, den Sie Wissenschaftlerkollegen mitgeben möchten? 193 5. Interviews <?page no="194"?> Ich meine, dass jede Gesellschaft scheitern muss, die glaubt, mit den Funkti‐ onsmechanismen ihres Systems die endgültige Lösung für alle Probleme bereits gefunden zu haben. Die also für eine weitere Entwicklung und selbstkritische Reflexion des Bestehenden nicht mehr wirklich offen ist. Zu dieser öffentlichen Reflexion mit ihren jeweiligen fachspezifischen Möglichkeiten beizutragen, ist auch eine Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Ich fange mit der Sprachwissenschaft an. Es wäre an der Zeit, den heutigen Sprachgebrauch der Politik kritisch zu untersuchen und dafür zu kämpfen, dass die deutsche Sprache, die mit dem Reichtum ihrer Ausdrucksmöglichkeiten auch unser Denken formt, erhalten bleibt. Zu ihrer Erhaltung gehört auch eine saubere Aussprache: der Sprecher im Rundfunk, im Fernsehen, der Schauspieler auf der Bühne, eigentlich aller im öffentlichen Leben. Ich würde Sprechunterricht zu einem Pflichtfach in der Schule und natürlich in der Ausbildung aller Lehrer machen. Das Gespräch führten Peter Göbel und Heike Zappe. Fotos: Heike Zappe; Archiv Rita Schober 194 TEIL I VITA - EINE NACHLESE <?page no="195"?> 1 Zu den der Herausgeberin von Wolfgang Klein übergebenen Materialien gehören neben den digitalen Dateien auch einige Kartons und Taschen, die ihm von Ilse Ennig im Auftrag von Rita Schober als besonders wichtige Unterlagen anvertraut worden waren. Sie gehen nach der Veröffentlichung der Vita in den Besitz des Archivs der HU über. TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT Nach der Lektüre der in Teil I veröffentlichten Vita kann sich jeder ein Bild vom Lebensweg bzw. von der erzählten Lebensgeschichte Rita Schobers machen, auch wenn es sich in weiten Teilen um Fragmente einer solchen Vita handelt. Leser mögen diese Erzählungen mit ihren Erinnerungen an Rita Schober ver‐ gleichen und verknüpfen. Im Teil II soll eine Nachlese anderer Art im Mittelpunkt stehen, die sich vor allem aus einer intensiven Beschäftigung mit dem Nachlass von Rita Schober speist. Dieser Nachlass im Archiv der HU war noch nicht archivalisch bearbeitet und trug deshalb noch keine Signaturen. Er konnte dennoch erstmalig eingesehen und für das Anliegen der Vita vollständig erschlossen werden. Der Impuls für die Arbeit am Nachlass entstand aus der Tatsache, dass die Vita unvollendet geblieben ist. Insofern stand zunächst die Absicht im Vordergrund, weitere von Rita Schober verfasste Texte mit ähnlich reflexivem Inhalt zu ermitteln wie diejenigen, die in Teil I abgedruckt sind. Die Frage war, ob man damit die mit der Bezeichnung ‚Vita’ hinterlassenen Texte ergänzen könnte. Im Verlauf der Arbeit an dem Nachlass, insbesondere auch mit dessen noch nicht archivierten Teilen, 1 taten sich Wider‐ sprüche und neue Fragen auf, die den Weg in weitere Archive notwendig machten. Teil II, die Nachlese, die dem Leser als Ergebnis dieser Arbeiten vorliegt, ist vor allem eine biographiewissenschaftliche Lektüre der Vita aus Teil I. Die autobio‐ graphischen Textteile werden dabei einerseits mit anderen Texten und Doku‐ menten verglichen und durch diese ergänzt. Es wird dabei zum anderen möglich, verschiedene Erfahrungsschichten einzubeziehen, die den Schreibprozess Rita Schobers begleitet haben. Widersprüchliches, Verdrängtes und Verschwiegenes wird zu Tage gefördert, das den von Rita Schober konstruierten Deutungsentwurf ihres Lebens zusätzlich erhellt. Latente Sinngebungen ihrer „kohärenten“ Lebens‐ konstruktion können zur Diskussion gestellt werden. Zugleich wird für das be‐ sonders fragmentarisch gebliebene Kapitel 4 eine Dokumentation hinzugefügt, die sich aus Briefen, Reden, persönlichen Notizen und aus Vorarbeiten für die Vita <?page no="196"?> 2 Dietrich Mühlberg informierte die Herausgeberin darüber, dass er alle damals geführten Interviews in das Bundesarchiv zur weiteren Verfügung übergeben wird. Es sei ange‐ merkt, dass es sich um ein einzigartiges Material handelt, das Aufschluss über Reflexi‐ onsprozesse führender Vertreter der wissenschaftlichen Eliten der DDR gibt und das Einblicke auch in ihre Rolle in der DDR ermöglicht . zusammenfügt. Ziel war es dabei zu erkunden, wie Rita Schober den Niedergang der DDR und des Sozialismus erlebt und reflektiert hat. Weitere Quellen sind drei bislang unveröffentlicht gebliebene Interviews. Sie heben darauf ab, in den 1990er Jahren und im Jahr 2011 biographiehistorisch relevante Fragen an Rita Schober zu richten. Die „Gesprächspartner“ waren mehr oder weniger vertraute Personen; in einem weiten Sinne gehörten sie dem Umkreis der ostdeutschen Kollegenschaft an. Es handelt sich um das Interview von 1995, das in Zusammenhang mit einem Projekt zur Kulturgeschichte Ost‐ deutschlands vom Institut für Kulturwissenschaft der HU unter Federführung von Dietrich Mühlberg, dem Initiator der Kulturwissenschaft und Leiter des entsprechenden Instituts an der HU in der DDR, konzipiert worden war. An der Diskussion nahmen Wissenschaftler der HU teil, allerdings ohne die bereits neuberufenen Professoren aus der alten Bundesrepublik. Auch die Fragen geben zu erkennen, dass es sich um eine „ostdeutsche“ Selbst-Verständigung über die Rolle der Eliten in der DDR und über Ursachen für das Scheitern dieses Gesell‐ schaftsprojektes handelte. Das anvisierte Forschungsprojekt konnte jedoch aus finanziellen Gründen, da das Interesse dafür fehlte, nicht veröffentlicht werden. Im nichtarchivierten Nachlass von Rita Schober ist ein transkribiertes maschi‐ nenschriftliches Manuskript zu dem mit ihr geführten Interview überliefert, das die Grundlage für die folgende Auswertung bildet. 2 Das zweite Interview führte die freiberuflich tätige Journalistin und Autorin Gerta Stecher in einem zwei‐ gliedrigen Intervall der Jahre 1997/ 98. Sie war, insbesondere auch als Frau des bekannten Lateinamerikanisten Hans-Otto Dill, der bei Rita Schober promoviert hatte, mit dieser sehr gut bekannt. Gerta Stecher stellte der Herausgeberin das in ihrem Besitz befindliche Material, die Audiokassetten, für eine erste Auswer‐ tung zur Verfügung. Das dritte Interview aus dem Jahr 2011 führte Klaus Büttner, den Rita Schober durch die HU kannte, im Auftrag der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. Dieses Interview gehört in eine Reihe von biogra‐ phischen Befragungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, die sich an ehe‐ malige Mitglieder der Akademie der Wissenschaften der DDR richteten. Die Audioaufnahme des Interviews wurde der Herausgeberin vom Präsidenten der Leibniz-Sozietät für das vorliegende Forschungsprojekt übergeben. 196 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="197"?> 3 Ulrike Jureit. Autobiographien. Rückfragen an ein gelebtes Leben. In: Martin Sabrow (Hrg.). Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jh. Helmstedter Kolloquien Heft 14. Akademische Verlagsanstalt, Göttingen 2012, S. 151 Die Methodik der Gesprächsführung variiert in den drei Interviews, da 1995 die Fragen das Gespräch leiten, wohingegen die beiden anderen durch ihre weitgehend freie Gestaltung auffallen. Um eine gute Lesbarkeit des Teils II zu ermöglichen, sind hier alle Zitate und Textteile von Rita Schober kursiv dargestellt. 1. Die Textsorte Autobiographie und Rita Schobers Vita Bekanntlich ist eine Autobiographie als ein individueller Ordnungsversuch zu verstehen, als eine Art „Choreographie“ des eigenen Lebens. Der Ich-Erzähler greift dabei auf „selbsterlebtes Material“ zurück und arrangiert es nach seinen aktuellen Bedürfnissen. „Diese kreative Begegnung mit der eigenen Lebensge‐ schichte liefert spezifische Deutungsangebote, variiert gängige Muster oder setzt Kontrapunkte im gesellschaftlichen Vergangenheitsdiskurs.“ 3 Rita Schober verbindet mit ihrer Vita drei erklärte Ziele, wobei sie einmal das eine, ein anderes Mal das andere formuliert: Sie möchte ihr Leben für ihre Kinder aufschreiben, wie sie in einigen Briefen vermerkt. Sie beabsichtigt aber auch Korrektive zur bislang dargestellten Geschichte der Romanistik zu setzen, wie sie Wolfgang Asholt mitteilt, und sie zeigt außerdem den Willen zur Selbstauf‐ klärung, wie ihre Dankesworte zu ihrem 90. Geburtstag verdeutlichen. Aus diesen hybriden Motivationen erklärt sich z.T. der ebenso hybride Charakter der Vita-Texte, der einmal strikt professionell bedeutsame Geschichten enthält, ein andermal Privates, vor allem die Familie thematisiert und drittens auch Persön‐ liches preisgibt, etwa Vorlieben für Kunstrichtungen und nicht zuletzt das Nach‐ denken über ihr Leben. Sie fasst ihre Motive mehrfach kurz mit der Maxime zusammen „Ordnung machen“, eine Maxime, die ihrem hohen Alter geschuldet und seit 2006 als Ant‐ wort auf eine ärztliche Diagnose zu verstehen ist, die sie mit der Endlichkeit ihres Lebens konfrontierte. Das „Ordnung machen“ schließt für sie vor allem ein, endlich die Vita zu schreiben und das fällt ihr schwer, denn sie kommuniziert auf verschiedene Art und Weise, dass sie Probleme darin sieht, kein Tagebuch geschrieben zu haben (wie Victor Klemperer) oder dass ihr die Zuordnung der aufbewahrten Mate‐ rialien schwer fällt. Eine Motivation, sich dennoch immer wieder neu damit zu befassen mögen auch die „Erinnerungen“ ihrer Kollegen gewesen sein. Als 197 1. Die Textsorte Autobiographie und Rita Schobers Vita <?page no="198"?> 4 Manfred Naumann. Zwischenräume. Erinnerungen eines Romanisten. Lehmstedt Verlag, Leipzig 2012 5 Horst Heintze starb am 15.5.2018. Horst Heintze. Gereimtes und Ungereimtes. Studien und Erinnerungen eines Romanisten. Galda Verlag, Glienicke 2017 „Zwischenräume. Erinnerungen eines Romanisten“ von Manfred Naumann er‐ schien 4 , war sie besonders ratlos, denn sie meinte, dies sei kein Modell für ihre eigene Vita. Gleichzeitig war sie in Kontakt mit dem Italianisten Horst Heintze, der seinerseits an Erinnerungen schrieb. Auch ihm ist es gelungen, zu seinen Lebzeiten das Erscheinen dieser Texte zu ermöglichen und Rita Schober lag viel daran, es ihm gleich zu tun. 5 Sie erlebte die Veröffentlichung von „Gereimtes und Ungereimtes. Studien und Erinnerungen eines Romanisten“ nicht, doch lobte sie Horst Heintzes ihr anvertraute Vorarbeiten, vor allem den ihm eigenen Stil. Aber dieser Stil war nicht Rita Schobers Stil und nicht ihre Herangehens‐ weise an ihre Vita, schließlich ist der Stil des Schreibens Teil der Persönlichkeit. Rita Schober wusste um den Konstruktionscharakter ihrer Vita-Texte und zu‐ gleich war ihr die Daten- und Faktentreue wichtig. Dies stellte (für sie) eine gewisse Widersprüchlichkeit dar, die offensichtlich als Hemmnis für das Schreiben wirkte. Wie alle Autobiographen, so wirbt auch Rita Schober für die Glaubwürdigkeit des Erzählten. Zu ihren besonders häufig eingesetzten Authentifizierungsstra‐ tegien gehört ein exzessiver Bezug auf alles Faktische ( Jahreszahlen, Kilome‐ terangaben, Breitengrade etc.), der ihr aus ihrer positivistisch geschulten Ar‐ beitsweise vertraut war und deshalb nahe lag. Alles scheint auf Nachprüfbarkeit angelegt zu sein; da wo Zweifel an der Richtigkeit der Fakten bestehen, korri‐ giert sie sich, lässt Varianten zu oder die Angaben offen. Dies verstärkt den beabsichtigten Wahrheitscharakter alles Gesagten und den darauf abhebenden autobiographischen Pakt zwischen Erzähler und Leser. Dennoch gehört es zu den Eigenarten der Textsorte Autobiographie, dass die Ebenen des Faktischen und der Deutungen nicht mehr voneinander zu trennen sind, obwohl gerade diese Verwobenheit verdeckt bleibt. Besonders deutlich wird diese Verwoben‐ heit in der vorliegenden Vita in den vielen Passagen, in denen Rita Schober von ihren Reisen erzählt, in denen sich ihre profunde Kenntnis zu kultur- und kunst‐ historischen Entwicklungen, aber auch ihre Fähigkeit, diese zur Sprache zu bringen, mit ihren Deutungen verweben. Die Reiseberichte sind deshalb ein Ort, in denen dieser Verbund von Wissen, Erinnern und Deutung dem Leser in au‐ thentischer und damit überzeugender Weise nahegebracht wird. Anders verhält es sich mit jenen Textpassagen, in denen von den „Perturbationen“ in ihrem Leben die Rede ist. Hier fallen Brüche, Schweigen, Auslassungen, Wortkargheit auf. Dies gilt besonders für die Anfangsjahre, die im Kapitel 1 „Les origines“ 198 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="199"?> 6 Ulrike Jureit. Autobiographien. Rückfragen an das eigene Leben. In: Martin Sabrow (Hrg.) S. 149-157 beschrieben werden. Hier bleiben die eingestreuten historischen Fakten an vielen Stellen äußerlich; sie stellen sich als „Rahmen“ für die Entwicklung Rita Schobers dar, ein Rahmen, an den es galt sich anzupassen. Das Kapitel 4 nimmt eine Sonderstellung ein, da es unvollendet und nicht in einer kohärenten Erzählung verdichtet ist. Die Texte über diese 23 Jahre (1989-2012) geben Aufschluss über Erlebtes, über Reflexionen als Zwischenbi‐ lanzen, über Erfahrungen, die Rita Schober das Schreiben ihrer Vita sowohl er‐ möglichen als auch erschweren. Die Jahre haben nicht ausgereicht, um das Ka‐ pitel 4, ihre Erfahrung des dritten Umbruchs, in einem geschlossenen Text (wie Kapitel1) zu verdichten. Es sind zu viele Ungereimtheiten - objektive (neue Ge‐ setzgebungen, Währungsreform, weltpolitische Ereignisse, viele Krankheiten etc.) wie subjektive (weltanschauliche, ideologische, politische, wissenschaft‐ liche und schließlich auch biographische Selbstbefragungen), die mit diesen Jahren verbunden sind. Diese Ungereimtheiten prägen die letzten 23 Lebens‐ jahre von Rita Schober und damit auch ihren Schreibprozess. Der fragmentari‐ sche Charakter der Vita ist insofern Ausdruck vielschichtiger Selbstbefragungen und nicht ihrer Verweigerung, auch wenn sich die Grenzen derselben erkennen lassen. Die biographiewissenschaftliche Lektüre der Vita fasst diese komplexen Pro‐ zesse mit der zentralen Kategorie der Erfahrung, in Abgrenzung zum Erleben. Erfahrung wird im Anschluss an die Biographieforscherin Ulrike Jureit als eine Wissensform aufgefasst, in der Erlebtes angeeignet, sortiert, gedeutet, interpre‐ tiert und abstrahiert wird. Erfahrung als eine Verarbeitungskategorie dient der Orientierung für die Urteilsbildung. Die Autobiographie kann insofern als eine Erfahrungssynthese verstanden werden, die „sich zum einen durch eine zeitliche Aufschichtung, zum anderen durch die Gegenwartsperspektive des Erzählenden konstituiert.“ 6 An diese Erfahrungsschichten ist anzuknüpfen, wenn es im Folgenden um die Verbindung von Erinnerung und Vergessen bzw. Verdrängen geht. 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita Rita Schober hat in ihrem Leben mehrere der tiefgreifenden Systemumbrüche des 20. Jh. erlebt. 1945 und 1989/ 90 sind Jahrhundertzäsuren, die, so Martin Sa‐ 199 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="200"?> 7 Martin Sabrow. Autobiographie und Systemumbruch im 20. Jh. In: Ders. (Hrg.) S. 10-11 brow, „zugleich kulturell sinnweltliche Umbrüche, Zäsuren in der Denkwelt sind, die mit den politischen Verhältnissen auch die moralischen Maßstäbe und den Wertehimmel der deutschen bzw. 1989-90 der ostdeutschen Gesellschaft verwandelten und die Ich-Identität der Zeitgenossen auf die Probe stellten.“ 7 Was Martin Sabrow hier als definitiv beschreibt, etwa den Wandel des „Wertehim‐ mels“ der ostdeutschen Gesellschaft, sollte zunächst als Frage formuliert werden. Gilt dies auch für Rita Schober, die ihre Vita aus dem Blickwinkel eines langen und bewegten Lebens schreibt. Vielmehr stellt sich die zentrale Frage, wie sie ihr Leben nach (diesen) tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüchen erzählt und wie sie versucht, ihrem Leben eine innere Logik zu geben. Wie ver‐ bindet sie diese „lebensgeschichtliche Einheit“ oder Ich-Identität mit den er‐ lebten Umbrüchen? Wie ist Rita Schober die Wege der Umbrüche gegangen und wie erinnert sie diese Übergänge? Welchen Stellenwert haben sie in ihrer Vita? Welche Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata lassen sich hinter dem Ge‐ sagten und dem Nichtgesagten erkennen? Wie stellt sich eine Kohärenz ihres Lebens in der Erzählung her? 2.1 Der erste und zweite Umbruch (1938 und 1945/ 46) und das Kapitel Les origines Kapitel 1 Les origines besticht - insbesondere im Kontrast zu den anderen Teilen der Vita - durch seinen durchkomponierten Charakter, denn die hier abge‐ druckte Version aus dem Jahr 2008 gleicht an vielen Stellen wörtlich den Aus‐ führungen in den drei unveröffentlichten Interviews der Jahre 1995, 1997/ 98 und 2011. Man kann davon ausgehen, dass das Kapitel Les origines für Rita Schober praktisch erprobt und zu einer tragfähigen Variante gefestigt war. Dennoch fallen auch Unterschiede auf, die im Hinblick auf Verdrängtes und Verschwie‐ genes aufschlussreich sind. Ein Vergleich mit Dokumenten aus dem nicht ar‐ chivierten persönlichen Nachlass und aus dem Archiv der MLU erhellt Auslas‐ sungen. Rita Schober hat das Jahr 1938 selbst als ihren ersten Umbruch bezeichnet. Es ist das Jahr des Münchner Abkommens, das die Besetzung ihrer nordböhmi‐ schen Heimat durch Hitlerdeutschland nach sich zieht, der schließlich die er‐ zwungene Unterbrechung ihres Studiums an der Prager Universität durch die Einsetzung reichsdeutscher Verordnungen für das Lehramtsstudium folgt, wo‐ durch nunmehr drei und nicht zwei Fächer für das Lehramt studiert werden mussten. Außerdem erlebte sie die Entwertung ihres Geldes und den Verlust 200 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="201"?> 8 Interview 1997/ 98 ihres Studienzieles, denn eine sichere Anstellung als Lehrerin für Latein und Französisch war für sie in unerreichbare Ferne gerückt. In einigen Briefen aus den 1990er Jahren wird sie diesen Umbruch in ein Leben einordnen, in dem sie mehrfach von vorn beginnen musste. Den Umbruch sieht sie auch als Verlust ihrer Heimat, denn als Reichsdeutsche hatte sie sich nie gefühlt, so sagt sie im Interview von 1997/ 98. Ihre Eltern - und in der Folge auch sie - waren mehr nach Österreich hin orientiert. Sie hatten dort auch ihre Ferien verbracht und nicht in Deutschland. In Kapitel 1 der Vita erinnert Rita Schober diesen Umbruch 1938 jedoch vor allem als Verlust sicherer materieller und institutioneller Grundlagen auf ihrem Ausbildungs- und Karriereweg. In den Interviews 1997/ 98 und 2011 erzählt sie mit fester und lauter Stimme die genauen Umstände dieser „Wirren“ und „Un‐ sicherheiten“. Gleichzeitig ist dieser Umbruch Anlass für eine fast romantische Sicht auf ihre Studienzeit von 1936 - 1938, die sie als die bestimmenden Jahre bezeichnet. 8 Die Stadt Prag, ihr täglicher Weg vom Mädchenpensionat des ka‐ tholischen Klosters über die Karlsbrücke in das Clementinum, in dem sie von „Büchern umgeben“ Altphilologie studierte, all dies verdichtet sich zu einer idealen Welt für Rita Schober, vor allem auch im Gegensatz zu den Studienbe‐ dingungen des 21. Jh., die Rita Schober sehr kritisch sieht. Eine zentrale Figur, die besonders in den Interviews von 1997/ 98 und 2011 zu einer Lichtgestalt sti‐ lisiert wird, ist ihr Professor für Romanische Philologie, Ehrhard Preißig. In für sie ungewöhnlich schwärmerisch-romantischem Ton erzählt sie 1997/ 98: „Ein Professor, es war der liebe Gott, wir waren alle verliebt. Es war ein Mai-Tag, bei Sonnenschein, er kam durch die Tür, die Sonne schien durch das Fenster auf diese Tür, er kam in einem hellgrünen Anzug herein. Die ganzen Mädel riefen aaah“. Preißig erscheint als das Kontinuum ihrer Erzählung über die Studienzeit, die sich 1943 unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen fortsetzt. Von diesen Bedingungen erfährt man in Kapitel 1 nur wenig. „Prag war nicht mehr Prag“ heißt es im Interview 2011. Gerta Stecher fragt nach den Beziehungen zu den Reichsdeutschen; erst auf diese Frage hin und auf ein gewisses Drängen der Interviewerin sagt sie: „Ich sprach im Alltag absichtlich nur tschechisch, mir war es peinlich, wie sich die Reichsdeutschen aufführten. (…) Ich hatte eigentlich keine Beziehung zu ihnen.“ Während 1995 und 2011 die Ideologiefreiheit des Studiums betont wird, heißt es 1997/ 98: 1943 „hatte sich die Richtung geändert, es waren merkwürdige Kategorien in der Literaturwissenschaft aufgetaucht.“ Das Personal der Universität war in den Führungspositionen ausgetauscht worden und die jüdischen Professoren „waren nicht mehr da.“ Der Dekan, der ihr nach dem Ri‐ 201 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="202"?> 9 Rutger Hausmann. „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“. Deutsche Romanistik im „Dritten Reich“. Analecta Romanica Heft 61. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2000, 393-395 10 Im archivierten Nachlass kann man aus dem Jahr 1947 Notizen aus der Feder von Rita Schober zur Vorbereitung von Lehrveranstaltungen finden. Die Geschichte Frankreichs wird hier mit den Kategorien Rasse, Volk und Raum systematisiert. HU UA, NL Schober, Karton Nr. 22/ 1 11 Nach dem Rigorosum im Luftschutzkeller in Prag 1945. D.R. gorosum 1945 eine zusätzliche Prüfung „ungerechtfertigt“ anordnete, „war ein hoher SS-Offizier“. Preißig aber war geblieben und als dieser ihr nach erfolgrei‐ cher Promotion 1945, kurz vor Kriegsende, eine Hochschullaufbahn bei sich vorschlug, erinnert sie noch nach fast 70 Jahren: „Ich dachte, der Himmel geht auf.“ Und „Er war perfekt, er war unschuldig“. Im Interview von 2011 verwendet Rita Schober viel Redezeit, um die inzwischen von Rutger Hausmann nachge‐ wiesene Nähe Preißigs zur faschistischen Ideologie 9 zu bezweifeln bzw. zu ent‐ kräften. Die Argumente reichen von „ich kann es nicht beurteilen“ bis „gegen eine solche Orientierung (faschistischer Ideologie bei Preißig D.R.) spricht auch (…)“. In ihrem archivierten Nachlass ist jedoch zu erkennen, dass sich Rita Schober die Arbeiten von Rutger Hausmann zu Preißig in Kopie hat schicken lassen. Ideologische Fragen spielen in ihren Erzählungen über diese Zeit jedoch eine untergeordnete Rolle. Sie schätzt sich selbst als junge Frau ideologiefrei ein, 10 betont ihr ideologiefreies sprachwissenschaftliches Promotionsthema, an‐ sonsten ist die katholische Erziehung durch ihre Mutter und Großmutter, die einen naiven Glauben zunächst auch auf das Kind Rita Tomaschek übertrugen, prägend, auch in ihren Erzählungen. 1997/ 98 spricht sie von sich als einem phantasievollen Kind, „das Geschichten über Engel, den Himmel und den lieben Gott“ erfand und erzählte. In diesem nahezu „ideologiefreien“ Rückblick (Ideologie spielt lediglich als Beschreibung einer historischen Situation eine Rolle) wird in Kapitel 1 und in allen Interviews ihre Mitgliedschaft in der NSDAP von 1940-1945 verschwiegen. Erst im letzten Interview 2011 kommt diese - fast beiläufig - zur Sprache. Sie spricht erstmals „öffentlich“ von ihrer „notgedrungenen“ Mitgliedschaft in der NSDAP während der Jahre 1940-1945. 1938, nach dem Abbruch des Studiums, entlastete sie ihre Familie, die mit Geldknappheit und Arbeitslosigkeit konfron‐ tiert war, durch eine Tätigkeit als private Hauslehrerin im „Altreich“, im vogt‐ ländischen Reichenbach. Zugleich wollte sie arbeiten, um im Falle ihrer erneuten Zulassung zum Studium dieses finanzieren zu können. Ihren Beitritt zur NSDAP schildert sie 2011 wie folgt: „Als ich fertig war  11 , am nächsten Tag, ließ mich der Dekan kommen, sagte ich muss noch eine Prüfung machen, war völlig ungerechtfertigt, aber dann, ich muss 202 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="203"?> 12 Rita Schobers Personalakten in der MLU und HU belegen, dass sie diese Mitgliedschaft angegeben hatte. In ihrem Umkreis unter Kollegen und Freunden war dies aber nicht bekannt. Es ist nicht nachzuweisen, dass Rita Schober über diesen Sachverhalt während ihrer Tätigkeit an der HU und danach gesprochen hat. Insofern ist das Interview von 2011 das erste „öffentliche“ Bekenntnis zu dieser Mitgliedschaft. 13 Ralph Jessen. Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hoch‐ schullehrerschaft in der Ulbricht-Ära. (Kritische Studien zur Geisteswissenschaft, 135) Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999. Sonia Combe. Une société sous surveillance. Les intellectuels et la Stasi. Albin Michel, Paris 1999. Gerdi Seidel. Vom Leben und Überleben eines ‚Luxusfachs’. Die Anfangsjahre der Romanistik in der DDR. Synchron, Heidelberg 2005 sagen, obwohl ich (lacht etwas D.R.) Mitglied der NSDAP werden musste, als ich Hauslehrerin war, da hatte ich es abgelehnt; der Nachbar kam, wollte mich nehmen, habe ich gesagt, nein ich möchte in keine Partei. Als der heimkam, es war ein Wehrwirtschaftsführer, bei dem ich angestellt war, der sagte, sie sind wohl verrückt, sie gehen sofort. Na ich hätte nicht mal heimfahren können, ich hatte gar kein Geld; also bin ich da eingetreten, bin aber nie was gewesen, war natürlich auch in keinem Studentenbund.“ Ton und Rhetorik lassen erkennen, dass die Interviewte in diesem Zusam‐ menhang keine weiteren Fragen duldet. Rita Schober mindert die Bedeutung des von ihr an dieser Stelle „öffentlich“ geäußerten Umstands ihrer NSDAP-Mit‐ gliedschaft durch den Kontext dieser Aussage. 12 Es geht eigentlich um ihr Ri‐ gorosum im Jahr 1945. Kurz zuvor hatte sie bereits über ihre Arbeit als Privat‐ lehrerin gesprochen, ohne diese Mitgliedschaft zu erwähnen. Nun, im Kontext des Rigorosums, erscheint diese Aussage als nebensächlich und dient dazu, die angesetzte zusätzliche Prüfung als besonders ungerechtfertigt darzustellen. Der Klartext heißt also, obwohl sie in der NSDAP war, musste sie ungerechtfertigter Weise die zusätzliche Prüfung ablegen. Dass Rita Schober Mitglied der NSDAP war, ist zum Zeitpunkt der Nieder‐ schrift der Vita längst öffentlich gemacht. 13 Die französische Literaturwissen‐ schaftlerin Aurélie Barjonet hatte Rita Schober anlässlich eines Interviews im September 2007 mit den betreffenden Publikationen konfrontiert, wonach diese sich mit den genannten Veröffentlichungen befassen musste und begann, im privaten Kreis darüber zu sprechen, allerdings meist eher vage bzw. nur in Teilen genau, wie ihre Freundinnen der letzten Jahre, Ilse Ennig und Angelika Klapper, in Gesprächen mit der Herausgeberin andeuteten. Aber es ist diese Erfahrung der Auseinandersetzung mit den Schriften von Ralph Jessen, Sonia Combe und Gerdi Seidel, die Rita Schober zum Sprechen über die Umstände ihres Eintritts 203 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="204"?> 14 Insbesondere die Schrift von Sonia Combe hat Rita Schober äusserst erregt, da diese Autorin Teile der Akte der Staatssicherheit zu Rita Schober veröffentlicht und darin enthaltene Charakteristika ihrer Person ungefiltert übernimmt und ihr zuschreibt. Aber auch über Gerdi Seidels Arbeit zeigte sich Rita Schober erbost. Sie schrieb ihr Unge‐ nauigkeit und Unkorrektheiten zu und fühlte sich durch das Gespräch, das Gerdi Seidel mit ihr geführt hatte „mißbraucht“. (Gesprächsnotiz 2007, nicht archivierter Nachlass und Bemerkungen im Interview mit Aurélie Barjonet 2007) in die NSDAP „drängen“. 14 Im Interview lassen die Einbettung des Geschehens, die Rhetorik und eine etwas nebulöse und syntaktisch ungenaue Redeweise (die im Kontext der ansonsten exakten Formulierungen auffällt) noch erkennen, dass es sich für Rita Schober um eine heikle Angelegenheit handelte. Hier sind die Spuren des gesellschaftlichen Tabus einer solchen Mitgliedschaft in der DDR noch erkennbar, zumal bei den Eliten, zu der Rita Schober gehörte. Eine Mit‐ gliedschaft in der NSDAP vertrug sich nicht mit dem antifaschistischen Grün‐ dungsmythos der DDR und somit nicht mit der nationalen Selbstthematisierung. Auf Tolerierung dieser Problematik - selbst einer formalen Mitgliedschaft - konnte man demnach nicht vertrauen. Ein Biographieelement aus dem Dritten Reich, das nicht mit dem antifaschistischen Widerstand bzw. der Verfolgung in Verbindung zu bringen war, bildete einen negativen Referenzrahmen der Selbst‐ thematisierung. Dies änderte sich unter den veränderten gesellschaftlichen Be‐ dingungen nach 1990. Allerdings bedurfte es äußerer Anstöße und Besinnungs‐ zeit, um sich dem ehemaligen Tabuthema sogar im privaten Gespräch zu stellen. Die moralische Aufladung dieses Tabus erforderte es, dabei eine persönliche Schamgrenze zu überschreiten. Der zweite Umbruch ist mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, mit Ver‐ treibung bzw. Aussiedlung 1946 und mit der „Ankunft“ Rita Schobers in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), zunächst in Bad Schandau, dann in Halle verbunden. In den Texten gehen Aussiedlung und Anstellung an der MLU noch im selben Jahr Hand in Hand. Über den genauen Umständen liegt in Kapitel 1 und auch im Interview von 1995 der Schleier des Ungenauen. 1997/ 98 schweigt sie dazu gänzlich. Es fällt auf, dass die Anfangsjahre in Halle in Kapitel 1 sehr kurz abgehandelt werden. Die Darstellung erscheint in ihrem Schreibfluss ab‐ gebrochen. Im Wissen um die Mitgliedschaft in der NSDAP stellen sich zudem Fragen nach Zeitpunkt, Ort und Umständen der formalen Entnazifizierung, ohne die eine Karriere in der SBZ bzw. DDR kaum denkbar war. Die Fragen erhalten noch zusätzliche Brisanz, da Rita Schober bereits im September 1946 in die SED ein‐ trat. 204 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="205"?> Über das Ende des Zweiten Weltkrieges und ihre Aussiedlung spricht Rita Schober ebenfalls erstmals genauer in ihrem Interview 2011. Sie erzählt zunächst von der Befreiung Prags durch das Prisma ihrer Promotion. Im Luftschutzkeller musste sie sich im Februar 1945 dem Rigorosum unterziehen. Prag brannte, als sie diesen verließ. Der Zweite Weltkrieg und die deutsche Besetzung endeten für sie mit dem Ende eines Versprechens für eine zukünftige universitäre Lauf‐ bahn bei ihrem Doktorvater Preißig, der erschossen wurde. Die dann folgenden Monate des Jahres 1945 werden als Wirren mit vielen Unübersichtlichkeiten dargestellt. Prag war von „polnischen, sowjetischen und dann von den Svobodatruppen besetzt worden." Weder in der Niederschrift der Vita noch in den Interviews oder in anderen Dokumenten ist davon die Rede, dass Rita Schober nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, vor ihrer Aussiedlung, um den Erhalt der tschechischen Staatsbür‐ gerschaft gebeten hatte. Das folgende Dokument 1 aus dem persönlichen, noch nicht archivierten Nachlass belegt einen solchen Antrag: 205 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="206"?> 206 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="207"?> (Übersetzung Martin Bažil) Zu Paragraph 2 des Dekrets Feststellung über den Beibehalt der Staatsbürgerschaft Bezirksverwaltungskommission in Rumburk (Zweitschrift) Name: Dr. Rita Hetzer, Beruf: Bürokraft In: Rumburk, Straße: Friedhofstraße Nr. 9 Fordert nach §. 2 des Verfassungsdekrets vom 2. August 1945 Nr. 33 der Samm‐ lung die Feststellung, dass ihm die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit erhalten bleibt und führt an: Geb. am 13.6.1918 in Rumburk Gehört durch das Wohnrecht zur Gemeinde Rumburk Bezirk: Rumburk, Nationalität: deutsch. Blieb der tschechoslowakischen Republik immer treu, machte sich nie gegen die tschechische und slowakische Nation schuldig. Und nahm aktiv am Befreiungskampf der Tschechoslowakischen Republik teil, indem (danach freier Teil) sie für eine illegale Gruppe von Kommunisten arbeitete (Glathe Frant. Zit‐ tauerstr. 40) hörte im Unternehmen von Marie Tomášková ausländische Rund‐ funkstationen ab, deren Nachrichten sie unter Kollegen weitergab. Unterstützte russische Arbeiterinnen mit Lebensmitteln und Kleidung (Zeuge: Gründler Franz. Friedhofsgasse 9) unterstützte politische Häftlinge (Frau Kindermann, Obere Gasse 13) (Formular) (oder) litt unter dem nazistischen (faschistischen) Terror und zwar dadurch, dass: (frei weiter) ihre Tante aus politischen Gründen im Jahre 1940 verhaftet wurde, dass sie 1944 bei der Gestapo angezeigt worden sei wegen staatsfeindlicher Reden. (Zeugen: Eberl Bruno, Rumburg, Dr. Zimmermann, Warnsdorf) (Formular) Als Beweise lege ich folgende Dokumente bei: (frei) Bestätigung über politische Treue und Bestätigung politischer Aktivität (Formular) eventuell schlage ich vor, folgende Untersuchungen oder Verhöre durchzuführen (frei) Schaba, Gustav, Augasse 50, Kindermann Antonín, Arbeitergasse 40. (Formular): Zugleich schlage ich vor, dass mir ein Zeugnis ausgehändigt wird, mit dem ich mich bis zum Ergebnis dieses Antrags als tschechoslowakischen Staatsbürger führen darf. 207 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="208"?> 15 Rita Schober hat seit der 1. Klasse des Gymnasiusm tschechisch gelernt und bereits für ihre Mutter beim Steueramt in tschechischer Sprache verhandelt. (Interview 1997/ 98) In Rumburk am 29.1.1946 Unterschrift: Dr. Rita Hetzerová Stempel Bezirksverwaltungskommission in Rumburk Eingang: 1. Februar 1946 Im Interview 1995 heißt es nur: „So, dann kam der 8. Mai, und das brauche ich Ihnen nicht zu sagen, was das in der Tschechoslowakei bedeutete, mit allem dazu, und nun kam die Aussiedlung. Ich bin dann 46 ausgesiedelt mit meinem späteren zweitem Mann in einem organisierten Aussiedlungsverfahren von Rumburg und kam nach Halle.“ Im Interview von 2011 schildert Rita Schober den Aussiedlungsprozess und die Entnazifizierung hingegen wie folgt: „Was mich gerettet hat, sind meine tschechischen Sprachkenntnisse  15 , wir hatten noch die alten tschechischen Pässe, das hat uns gerettet. Dann kam die Ausweisung. Diese KP hat sich ja wieder eta‐ bliert. Es gab nichts, nur Chaos, keine Nachrichten etc. Erste Verkündigung: nächsten Morgen um 5 Uhr haben alle Bewohner, die nicht einen Freimachungs‐ schein haben, und da hatte ich nun eben einen, durch meine Tante und die Kom‐ munistische Partei, die müssen ihr Haus verlassen mit 30 Kilo und um 5 Uhr, die Leute konnten es gar nicht lesen, ich stand daneben, ich habe es vorgelesen. Wir konnten bleiben. Ich habe dann auch auf der Tschechischen KP als Sekretärin ge‐ arbeitet, die arbeiteten mit der deutschen KP zusammen. Das lief auch durch die alten Bekanntschaften. Die kannten mich alle, meine Tante unten im Büro, war mal auch bei Hitler inhaftiert, auch wegen dieser Geschichte, da bin ich auch mal dort gewesen, das war natürlich auch so eine Sache, dass ich das gemacht hatte, auf diese Weise bin ich dann im März 46 ausgesiedelt.“ Neben der Tatsache, dass sie hier die Aussiedlung als Ausweisung bezeichnet, wird im Interview vor allem nicht klar, was es mit dem Freimachungsschein auf sich hat und welche Rolle die Tante und die KP dabei spielen. Der Interviewer stellt hierzu auch keine Fragen. Lassen wir an dieser Stelle weitere Dokumente sprechen, die Rita Schober in ihrem persönlichen Nachlass aufbewahrt hat, ohne sie ins Archiv zu geben. Die betreffenden Kartons wurden von ihr als besonders wichtig angesehen. Darin finden sich folgende Indizien: 208 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="209"?> Dokument 2 10. Juni 1945: Bestätigung über die illegale Arbeit für die KPTsch 209 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="210"?> (Bemerkungen des Übersetzers Martin Bažil): In der tschechischen Übersetzung des deutschen Textes gibt es zwei Zusatz‐ informationen: Einmal: für die zersetzende illegale kommunistische Gruppe Zum anderen: die Berichte wurden von Kindermann Antonín weitergeleitet. Glathe wird als Genosse bezeichnet. Alle Straßenbezeichnungen sind in tschechischer Sprache benannt, obwohl sie wahrscheinlich deutsche Namen trugen. Die Zeichen sind nicht alle adäquat, so als ob keine tschechische Tastatur zur Verfügung gestanden hat. Es liegt deshalb nahe, dass Deutsche die Texte verfasst und übersetzt haben. Dokument 3 1945: Entnazifizierung durch Genossen der KPTsch. Hier wird Rita Schober noch in der Tschechoslowakei 1945 zur Antifaschistin deklariert. Dies wird mit Unterschriften von den Mitgliedern des Zwölferausschusses beglaubigt. 210 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="211"?> Dokument 4 Ein Schriftstück vom 15.3.1946, unterzeichnet von dem Vorsitzenden der KP Rumburk, bescheinigt, dass Rita Hetzer von den Genossen in die NSDAP ge‐ schickt worden ist, um dort zersetzende, illegale Arbeit für die KPTsch zu leisten. (Übersetzung Martin Bažil) Rumburk am 15.3.1946 Bestätigung Ich, der Unterzeichnende, Frantisek Glathe, geboren am 5.4.1893 in Rumburk, bestätige als Leiter der KPTsch in Rumburk bis 1938, dass ich die Genossin Rita Hetzer in die NSDAP geschickt habe, um uns in unserer illegalen Tätigkeit zu helfen und Informationen von den Nationalsozialisten zu erhalten. Ihre Mitgliedschaft in dieser Partei war also absichtlich und diente nur dem Ziel, die zersetzende Tätigkeit in dieser Partei zu unterstützen. Der ehemalige Leiter der KPTsch, Zweigstelle Rumburk, z. Z. der Leiter Antifa Rumburk. Franz Glathe 211 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="212"?> 16 Annette Vogt. Die Berliner Humboldt-Universität von 1945/ 1946 bis 1960/ 1961. Marx-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Preprint 425 2012, S. 77-79 Stempel Kommunistische Partei der Tschechoslovakischen Partei Bezirk Rumburk i. A. (handschriftlich Tejnor Ct.. (vielleicht Ctirad) Dokument 4 ist der sogenannte „Persilschein“, der umgangssprachlich jene Ent‐ lastungsdokumente bezeichnete, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in allen Teilen Deutschlands verbreitet und die Voraussetzung für bestimmte Tätigkeiten und Anstellungen in den Besatzungszonen waren. Die Historikerin Annette Vogt spricht von Kartellen der Persilscheine, um Ausmaß und gegen‐ seitige Abhängigkeiten der Unterzeichner solcher Entlastungsschreiben zu cha‐ rakterisieren. „In sogenannten Entlastungsanträgen sollten in der Begründung die politischen und personellen Verhältnisse betont werden. Was hier so büro‐ kratisch verklausuliert formuliert wurde, sollte umgangssprachlich bald „Per‐ silschein“ heißen und die wechselseitigen Entlastungsschreiben der Kollegen erzeugten ein Kartell der Persilscheine“. 16 212 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="213"?> Dokument 5 Seifhennersdorf am 19.4.1946: Bestätigung über die ehrenamtliche Tätigkeit von Rita Hetzer im Sekretariat der KPTsch 1945/ 46. 213 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="214"?> Dokument 6 Ausgestellt am 26. März 1946: Bestätigung über die Arbeit als Sekretärin im Büro der KPTsch 214 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="215"?> (Übersetzung Martin Bažil) Kommunistische Partei der Tschechoslowakei Bezirkssekretariat Rumburk, E. Beneš-Platz 14, Telefon 373 Nr./ Betr.: Bestätigung Rumburk, am 26.3.1946 Wir bestätigen hiermit, dass die Genossin Rita Hetzerová, geboren am 18. 6.1918 (Sic! D.R.) in Rumburk, bei uns im Sekretariat der KPTsch gearbeitet hat - fünf Monate nach der Revolution und uns als Büroangestellte kostbare Dienste er‐ wiesen hat. Zugleich möchten wir uns bei ihr für ihre Arbeit bedanken und wir wünschen ihr viel Erfolg bei ihrer weiteren Tätigkeit. Ehre der Arbeit! Tejnor Ct. Stempel: Kommunistische Partei der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, Bezirk Rumburk Mit diesen Dokumenten wird klar, dass Rita Schober die wirklichen Umstände ihrer Aussiedlung in der Vita und in allen Interviews im Dunkeln lässt. Die Gründe liegen auf der Hand: Sie hätte aufdecken müssen, dass die Grundlagen ihres Neuanfangs in der SBZ, insbesondere ihr Karrierestart, unter den gänzlich anderen gesellschaftlichen Bedingungen an der MLU, auf einer fiktiven Ge‐ schichte basieren. Dieser Umstand wird von ihr verschwiegen. Zugleich aber bewahrte sie alle Dokumente auf, die auf eben diesen hindeuten. Ein unver‐ fängliches Dokument aus dieser „Sammlung“, der Nachweis ihrer Tätigkeit im Sekretariat der KPTsch von September 1945 bis März 1946, reicht Rita Schober in den 1990er Jahren bei der BfA zur Rentenberechnung ein. Die Aussiedlung mit einem Antifa-Transport garantierte Rita Schober und ihrer Mutter die Mitnahme eines nicht unerheblichen Teils ihres Hausstandes. 215 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="216"?> Dokument 7 beinhaltet die Auflistung der ausgeführten Gegenstände: 216 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="217"?> 17 Heike van Hoorn. Neue Heimat im Sozialismus. Die Umsiedlung und Integration su‐ detendeutscher Antifa-Umsiedler in die SBZ/ DDR. Klartext, Essen 2004 18 Bundesarchiv: BArch DO2/ 75246/ 51, Bl. 207, zit. in: Heike van Hoorn. Die Rolle der Antifa-Umsiedler in Sachsen-Anhalt. S. 1, unveröffentlichtes Mauskript, Referat auf der Tagung „Ende des Tabus? Flüchtlinge und Vertriebene in Sachsen-Anhalt ab 1945“, ver‐ anstaltet von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen-Anhalt, 14.Oktober 2006 in Halle (Saale) 19 Heike van Hoorn 2004, S. 61-93 Rita Schober gehörte infolge ihrer fiktiven Anerkennung als sudetendeutsche Antifaschistin zum Kreis der Antifa-Umsiedler. Die Historikerin Heike van Hoorn hat sich in einer umfangreichen Studie aus dem Jahr 2004 mit jener Gruppe von Aussiedlern befasst. 17 In der DDR war dieses Thema lange ein ge‐ sellschaftliches Tabu. Van Hoorn kommt zu dem Ergebnis, dass in der Sowjeti‐ schen Besatzungszone von insgesamt 4 Millionen Flüchtlingen und Vertrie‐ benen die Deutschen aus der Tschechoslowakei mit 800.000 die zweitgrößte Gruppe bildeten. Von ihnen waren etwa 500.000 als Antifa-Umsiedler katego‐ risiert, d. h. diese konnten unter Beweis stellen, dass sie entweder Sympathi‐ santen oder Mitglieder der KPTsch oder der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei waren. Nach offizieller Lesart waren sie „von der CSR als aktive Kämpfer gegen den Hitlerfaschismus anerkannt“ und waren „nicht gezwungen“ worden, die Tschechoslowakei zu verlassen, sondern hatten „sich selbst frei‐ willig für den Neu-Aufbau Deutschlands zur Verfügung“ gestellt.“ 18 Die Wortwahl „Aussiedlung“ unterstrich den Aspekt der Freiwilligkeit. Mit einer Freiwilligkeit war es jedoch nicht weit her. Die Benes-Dekrete hatten zwar Ausnahmeregelungen für Deutsche festgelegt, die als Antifaschisten galten, doch die antideutsche Stimmung nach 1945 ging mit Repressalien und willkür‐ licher Vertreibung einher. Van Hoorn weist nach, dass die Antifa-Aussiedlung auf einer Vereinbarung zwischen KPTsch und deutschen Kommunisten und So‐ zialdemokraten beruhte, um eine Umsiedlung deutscher Kommunisten und „an‐ tifaschistischer Funktionäre“ in die SBZ zu organisieren. Diese Vereinbarung wurde von der Sowjetischen Militäradministration abgesegnet und erhielt den Namen „Shukow-Aktion“. 19 Im Rahmen dieser Aktion wurden von Oktober 1945 bis Dezember 1946 rund 50000 als Antifa-Umsiedler registrierte Sudetendeut‐ sche in speziellen Transporten in die SBZ überführt. Rita Schober hatte, wie das Dokument 6 belegt, im Sekretariat der KPTsch in Rumburk gearbeitet und war auch in die technische Vorbereitung und Abwicklung solcher Aussiedlungen einbezogen. Sie ist selbst mit dem letzten, dort in ihrer Heimatstadt organisierten Aussiedlungstransport zusammen mit ihrer Mutter und ihrem späteren Mann 217 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="218"?> 20 Seit Frühjar 1946 liefen parallel auch Antifa-Aussiedlungen in die amerikanische Be‐ satzungszone, von denen etwas 80.000 Menschen profitierten, die einen sozialdemo‐ kratischen Hintergrund hatten. 21 V. Hoorn zitiert in ihrem Referat 2006 S. 2 den Abdruck dieses Regierungsbeschlusses wie folgt: Odsun: die Vertreibung der Sudetendeutschen. Begleitband zur Ausstellung. Hg. v. Sudentendeutschen Archiv, München 1995, S. 455-458 22 Ebenda 23 Ebenda 24 1947 siedelte er in die SBZ. Die Behörden des Landes Sachsen-Anhalt verschafften Ag‐ ricola eine Professur an der Universität Halle, aus „wissenschaftlichen Gründen“ er‐ folgte nach Protest der Universität jedoch keine Berufung für das Fach Staatswissen‐ schaften. Agricola wurde daher der vakante Lehrstuhl für Zeitungswissenschaften übertragen, später lehrte er Politische Ökonomie. Von 1948 bis 1951 wirkte Agricola als Prorektor der Universität, 1951 übernahm er das Rektorat von Eduard Winter. Vgl. Die Geschichte der MLU: www.uni-halle.de. Letzter Zugriff 18.5.2017 Robert wie dessen Mutter ausgesiedelt. 20 Die Aussiedlungsaktionen wurden im Februar 1946 durch einen Regierungsbeschluss der tschechoslowakischen Re‐ gierung legitimiert, „der dieser Übersiedlung eine dezidiert politische Zielset‐ zung gab, nämlich „den Okkupationsorganen in Deutschland eine wirksame Unterstützung bei der Bildung demokratischer Verhältnisse in Deutschland mit Hilfe der in der CSR befindlichen Personen deutscher Nationalität antifaschis‐ tischer Gesinnung zu gewähren.“ 21 Im Wortlaut der Vereinbarung zwischen deutschen und tschechischen Kommunisten vom September 1945 ging es sehr konkret um folgende Maßnahmen: „Die Evakuierten sind zur Arbeit einzu‐ setzen, entsprechend ihren Qualifikationen: Leitende Funktionäre im Selbst‐ verwaltungsapparat, Bauern ist Land zuzuteilen, andere Arbeiter sind in Be‐ trieben einzusetzen (…).“ 22 Liest man die Ausführungen von Franz Dahlem auf einer erweiterten Sitzung des Zentralkomitees der KPD, so wird klar, dass die Zugehörigkeit zu einem Antifa-Transport mit einer politischen Stigmatisierung einherging: „Es ist ein klassenbewußtes Proletariat, das da aus der Tschechei kommt. Wir müssen einen Plan machen, wie man diese Familien aufteilt, nicht wie es bisher voraus‐ gesehen war, nur für die beiden Sachsen und Thüringen, sondern dafür muss sich auch Brandenburg und Mecklenburg interessieren. Jetzt haben sie die Ge‐ legenheit, wirklich das ganze Land zu durchziehen, das bisher keine Arbeiter‐ kader, geschweige denn kommunistische Kräfte hatte.“ 23 Vor diesem Hinter‐ grund wird die relativ schnelle Einstellung Rita Schobers an der Universität Halle-Wittenberg, die auf Partei-Empfehlung erfolgte, verständlich. Sie war im März 1946 ausgesiedelt und wurde bereits im Juni 1946 an der MLU angestellt. Der Kurator der MLU, Prof. Rudolf Agricola, 24 schreibt am 8. Juni 1946: „Auf Empfehlung des ZK der KP der Tschechoslowakei und auf Empfehlung des 218 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="219"?> 25 Universitätsarchiv Halle-Wittenberg: UAHW, Rep.11, PA 14112 Rita Schober, Blatt 3 26 UAHW, Rep.11, PA 14112 Rita Schober, Blatt 4 SED-Landesvorstandes Sachsen habe ich Frau Dr. Rita Hetzer als wissenschaft‐ liche Assistentin für Romanistik angestellt.“ 25 Er bittet erst nachträglich um Zustimmung des Dekans und der Fakultät. Mit Wirkung vom 11.6.46 wurde Rita Hetzer zur wissenschaftlichen Assis‐ tentin ernannt, allerdings ohne Beamtenstatus. Die Dienstzeiten für die Zeit der NSDAP-Mitgliedschaft durften nicht berücksichtigt werden. Die fiktive Geschichte der illegalen Tätigkeit in der NSDAP durchzog die von Rita Schober gefertigten Lebensläufe dieser ersten Jahre nach dem Krieg. In der Personalakte von Rita Schober an der MLU befindet sich nur die Bestätigung des oben zitierten Genossen Glathe, dass er „R.H. in die NSDAP geschickt“ 26 habe. Diese war die Bedingung nicht nur für ihre Einstellung an der Universität und für ihre Aufnahme in die SED bereits im September 1946, sondern auch für ihre schnelle Karriere: Am 8.5.47 übernahm Dr. Rita Hetzer stellvertretend das Amt des Direktors des romanischen Seminars. Im Oktober 1947 stellte sie an die Landesregierung Sachsen-Anhalt den Antrag auf Erteilung eines Lehrauftrages. Am 9. März 1948 wurde ihr dieser Lehrauftrag von der Landesregierung Sachsen-Anhalt vom Minister für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft für Altfranzösisch und Alt‐ provenzalisch erteilt. Damit erhielt sie die Erlaubnis, nicht nur Sprachübungen abzuhalten, sondern auch Vorlesungen und Übungen. Zu den von ihr gehaltenen Lehrveranstaltungen zählten: Einführung in das Altfranzösische an Hand von Texten (Rolandslied, Marie de France), Einführung in die altfranzösische For‐ menlehre, Wortbildung. Einführung in die altfranzösische Literatur, Überset‐ zungstechnik, Spezialseminar zu Georges Sand und Marie de France. Im Sommer 1948 hatte sie am Lehrgang der Parteihochschule Karl-Marx in Kleinmachnow teilgenommen. Dort lernte sie Kurt Hager kennen, der später eine wichtige Rolle in ihrem weitreichenden Netzwerk politischer Funktionäre spielen sollte, ein Netzwerk, das bis in das Politbüro des ZK der SED reichte. Die Teilnahme am Lehrgang für zukünftige Dozenten war zunächst vor allem die Voraussetzung für ihre am 7.12.1948 erfolgte Zulassung zur Ausbildung für den wissenschaftlichen Nachwuchs an Wissenschaftlern und Hochschullehrern. Dieser Zulassung stimmte auch die SED-Leitung des Landes zu. Am 15.1.1949 wurde sie Studentenreferentin (heutige Studiendekanin). Die Tatsache, dass Rita Hetzer an der MLU dennoch als politisch belastete Kollegin galt, zeigen die Unterlagen des 3. Säuberungsausschusses vom 11. Juli 1947 an der Universität. 219 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="220"?> 27 Ebenda Blatt 7 28 Eine Kopie dieses Teils der Personalakte Rita Schobers lag im nichtarchivierten Nachlass vor 29 Annette Vogt 2012, S. 74 30 Ebenda 31 Vgl. Annette Leo: Erwin Strittmatter. Die Biografie. Aufbau Verlag, Berlin 2012 Dort wurde Rita Hetzer in der Gruppe IV, politisch vorbelasteter Dozenten, geführt, auf deren Verbleib die Universität jedoch wert legte. Im Ergebnis er‐ klärte man sie einstimmig für tragbar. 27 Der Vermerk der NSDAP-Mitgliedschaft ist in der Personalakte der MLU enthalten und wurde auch an der HU geführt, wie eine Personalakte aus dem Jahr 1963 28 zeigt. Allerdings waren in diesen Fällen offiziell nur die Personalbzw. Kaderabteilungen der Universitäten über eine solche Mitgliedschaft informiert, die diese Informationen aber „be- und ausnutzen“ konnten, wie Annette Vogt bemerkt. 29 Dies gilt für alle, die in frühen Jahren, in der SBZ und in der DDR, an der Universität trotz einer Mitgliedschaft in der NSDAP angestellt worden waren. Ihre Zahl ist nicht genau bekannt. 30 Sie bildeten eine „Schweigegemeinschaft“, deren Vertreter im einzelnen durchaus sehr Unterschiedliches hätten erzählen können. 31 So bleibt das Problem der verborgenen NSDAP-Mitgliedschaft in jenen Jahren virulent, wie die Aufzeichnungen von Victor Klemperer vom 10.4.49 zeigen, die in den 1996 veröffentlichten Tagebüchern aus personenschutz‐ rechtlichen Gründen (auf Rita Schober bezogen) nicht abgedruckt worden sind. Sie betreffen zunächst die Wahlen in Leitungsorgane des Kulturbundes: „Um so mehr, als nun am gleichen schwarzen Sonnabend das zweite guaio theatralisch einsetzte. Es sollten neue Leute in den Landesvorstand gewählt werden; im engeren Vorstand hatten wir auf meinen Wunsch beschlossen, Rita Hetzer hineinzuwählen, u. ich schlug also Rita H. vor. Da erhob sich Finke, der genau im Bilde war: er bitte diese Wahl zurückzustellen, denn Frau Hetzer habe der NSDAP angehört. Allgemeine peinlichste Überraschung, mir war, als hätte mich einer von hinten mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen. Ich sagte: Frau H. sitzt im Landessekretariat der SED, hat vollstes Vertrauen; Genossin Götz, mir ganz unbekannt, erklärte, Frau H. müsse sich erst „bewähren“, u. bei der Abstimmung waren nur 6 Leute für, die übrigen 30-40 gegen Rita H. Ich sagte sofort nach der Sitzung, Finke habe einen tückischen Vertrauensbruch begangen, aus Eitelkeit, um Sensation zu erregen u. den Gralshüter zu spielen. Es gab dann zeitraubende, aufregende u. peinliche Situationen in Menge. Ich erfuhr durch Schober, daß Rita H. im Auftrag der sudetischen Genossen zur NSDAP gegangen sei, daß die Beweise dafür bei den Personalakten der SED liegen, daß man mir davon nichts gesagt habe, weil man den alten „Roman“ nicht 220 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="221"?> 32 Christian Löser hat der Herausgeberin die hier abgedruckte Version vorab zur Verfü‐ gung gestellt. 33 Tout de bon, ernsthaft. D.R. 34 Texte von Christian Löser an die Herausgeberin übermittelt aufwärmen wollte, daß Finke 2 Tage vor dem Eclat erklärt hätte, die Sache sei belanglos, daß Frau Götz, die ebenfalls in der SED-Landesleitung arbeitet, per‐ sönliche Feindin Hetzer-Schobers sei. Ich setzte die Entlassung Finkes durch.“ Diese und auch die folgende Passage werden erst 2018 in der digitalen Daten‐ bank zu den Tagebüchern von Victor Klemperer durch Cristian Löser veröf‐ fentlicht. 32 Klemperers Vertrauen in Rita Hetzer, wie auch das des damaligen Prorektors Agricola und seiner Frau, waren offensichtlich erschüttert. Klemperer notierte am 11.4. 49: „Heute Nachm. am 11. 4. nach dem Colleg begleitete mich Jo Agri‐ cola. Sie sagt, ihrer u. Agricolas Meinung nach müsse Rita Hetzer wirklich und tout de bon 33 der NSDAP angehört haben. Es habe schon früher einmal Klatsch darum gegeben; sie, Jo, (Agricola D.R.) habe Rita gefragt, ob sie bei der Partei gewesen sei, u. Rita habe das erbittert abgeleugnet. Sehr peinlich - u. warum hat Rita mir nichts davon gesagt? Wiederum Jo ist kein klassischer Zeuge, es herrscht längst Spannung zwischen Rita u. Schober einer-,Agricolas u. Koflers andererseits. Jo sagt, anfangs sei Rita mit Koflers überintim gewesen, nachher hätten sie sich schwer überworfen, lange Zeit überhaupt nicht angesehen. Jetzt sei das äußerlich verkleistert. Frau Kofler - illegitim - lehne alle Nachsicht gegen Nazis ab, ihre Angehörigen seien in Maidanek umgekommen. Ich kenne die Koflerin von einer Ziondebatte her als Fanatikerin. Wo ist die Wahrheit? Jo sagt: Rita sei durch äußersten Ehrgeiz getrieben. Ganz unerschüttert ist mein Vertrauen nicht. Aber ich brauche Rita H.“ 34 Aus dem archivierten Nachlass geht hervor, dass sich Rita Schober vor Er‐ scheinen der Tagebücher Klemperers 1996 mit Hilfe eines Anwalts Zugang zu den beabsichtigten Veröffentlichungen verschaffen wollte, um sich zu verge‐ wissern, dass dort nichts gegen ihre Person verwendet werden könnte. Sie wurde abgewiesen. In den 1996 veröffentlichten Tagebüchern fallen die mit Punkten markierten Auslassungen zu ihrer Person jedem aufmerksamen Leser auf. Diese Episode macht deutlich, wie sehr sich Rita Schober immer wieder, durch andere provoziert, mit ihrer Vergangenheit konfrontiert sah. Diese Erlebnisse und Erfahrungen gehen dem „Eingeständnis“ von 2011 voraus. Auch die Inter‐ views stimulieren die Beschäftigung mit ihrem Lebensweg und ihren Erinne‐ rungen, da sie meist nicht unvorbereitet stattfanden. 221 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="222"?> 35 Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdientes: BStU. MfS. Halle. AP 2474/ 81 36 BStU. MfS. BV Halle. A3M234152, Blatt 000007 37 Ebenda. Blatt 000009 Die Mitgliedschaft von Rita Schober in der NSDAP war auch für den Werde‐ gang von Robert Schober mitunter ein Hindernis. Sie blockierte seine „Wahl“ zum Vertrauensmann für das Volksbildungsministerium im Jahre 1949. 35 Als sich Robert Schober freiwillig im Februar 1950 für eine konspirative Arbeit bei der Volkspolizei in Halle mit einer Verpflichtung bewarb, 36 wurde diese mit dem Vermerk abgelehnt: „Ehefrau war in der N.S.D.A.P.“ 37 Die Verwobenheit von NSDAP-Mitgliedschaft, fiktiver Anerkennung als An‐ tifaschistin, Antifa-Aussiedlung und Beginn der wissenschaftlichen Karriere an der MLU bei gleichzeitigem Eintritt in die SED, bildeten in den turbulenten Zeiten des ersten und zweiten Umbruchs einen engen Zusammenhang. Dieser Zusammenhang bleibt in Kapitel 1 der Vita vollständig im Dunkeln, im Inter‐ view 2011 wird er nur bruchstückhaft erhellt. Rita Schober wußte um diese Lü‐ cken und ist deshalb - so ist zu vermuten - in Bezug auf ihre Jahre an der MLU in Halle, mehr oder weniger bewusst, wortkarg geblieben. Rita Schober erzählt in Kapitel 1 insofern eine Vita, bei der die gesellschafts‐ politischen Ereignisse dieser Umbrüche thematisiert werden, aber diese er‐ scheinen entweder als eine Art historische Belehrung für den Leser oder bio‐ graphisch gesehen als Unsicherheitsfaktoren in ihren Jugendjahren, als Stolpersteine auf einem harten, mühevollen, aber weitgehend kontinuierlichen Weg schulischer und universitärer Bildung und Ausbildung. Es sind Widrig‐ keiten, die ihr das von Ehrgeiz getragene Streben nach Herauswachsen aus ihrem bescheidenen sozialen Milieu erschweren. Sie schildert ihre katholische Erziehung als Grundlage ihres Wertekanons. Mitgefühl für sozial Schwache war ihr von ihrer Mutter anerzogen worden. Im Interview von 1995 erzählt sie, wie sie mit ihrer Mutter jeden Sonntag zum Kloster in Rumburg gehen musste, um einem dort sitzenden „Männel“ eine Krone zu spenden, obwohl sie selbst nicht viel Geld hatten. Rita Schober führt diese Anekdote als Antwort auf die Frage an, warum sie in die SBZ ausgesiedelt sei und nicht in die Westzonen, wo man vielleicht eher hätte Karriere machen können. Retrospektiv sieht Rita Schober eine Übereinstimmung von katholischer Moralerziehung und dem Gesell‐ schaftsprojekt, das in der SBZ und der frühen DDR propagiert worden war. Diese Annahme bleibt für sie in der Erinnerung noch immer legitim. Sie wirbt in den Gesprächen um Zustimmung für diese moralisch geprägte „Entscheidung“ für die Aussiedlung in die SBZ. Im Vita-Text bleiben solche Überlegungen jedoch unerwähnt. Alles wird so berichtet, als ob es keine Alternative gegeben hätte. 222 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="223"?> Dabei finden politische Fakten zwar Erwähnung, doch eher als Bedingungen des Alltags, kaum in ihren ideologischen Folgen oder als Wertefragen, über die Rita Schober nachgedacht hätte. Insofern bleiben die gesellschaftlichen Um‐ brüche eher im „Hintergrund“. Sie werden insofern relativiert, als die persön‐ liche Entwicklung einer jungen Frau aus einfachen Verhältnissen, die sich durch eigenen Fleiß und Ehrgeiz, getragen durch ihre Begabungen, aus den kleinbür‐ gerlichen Verhältnissen „befreien“ möchte. Diese persönliche Entwicklung bildet die Einheit und innere Logik der Erzählung. Prägnant formuliert sie dies selbst in dem Interview 1995. Man stellt ihr die Frage: „Wie würden Sie sich selbst rückblickend ungefähr einschätzen? “ Sie antwortet: „Ungefähr auf glei‐ cher Ebene standen, zwei Jungs und ich, und es kam das Fach Darstellende Geo‐ metrie. Und unser Mathematiklehrer ließ es sich nicht nehmen, uns drei gleichzeitig an die Tafel zu holen und zu sagen: ‚So, Rita, und nun werden wir es mal sehen’ - und da wurde nun also getestet, wer am schnellsten und am besten war. Ich bin nicht eingebrochen. Also, ich war wirklich, ich habe mich bemüht, ich musste auch. Ich habe bis zu meinem 14. Lebensjahr kein eigenes Bett gehabt, sondern auf dem Kanapee in der Wohn-,Schlaf-,Wohn-,Koch-Arbeitsstube meiner Großeltern ge‐ legen. Also, ich wollte raus aus diesen Verhältnissen. Ich wollte wirklich was lernen und ich wollte wirklich aus diesen Verhältnissen raus und das ist vielleicht zu ver‐ stehen. Damit ist eigentlich schon das Ganze gesagt, damit ist mein Leben pro‐ grammiert gewesen.“ Diese Passage kommt fast wortgleich in allen der drei In‐ terviews von 1995, 1997/ 98 und 2011 vor. Der Anspruch, die Beste zu werden, war ihr von ihrer Mutter mit auf den Weg gegeben worden. Im Interview 1997/ 98 heißt es dazu: „Meine Mutter sagte, ich solle so gut sein wie die beiden Jungs des jüdischen Inhabers des Modegeschäftes.“ Auf diesem, von Ehrgeiz gezeichneten Weg nahm sie so manche „Widrigkeiten“ in Kauf. Als solche deutet sie 2011 auch die Mitgliedschaft in der NSDAP, die sie als rein formal und letztlich notwendig darstellt. Auch der Tod ihres ersten Mannes, der in Stalingrad vermisst wurde, wird in diese Kontinuitätserzählung eingeordnet. Als Kriegswitwe konnte sie ab 1943 ihr Studium an der Deutschen Universität Prag fortsetzen. Aus dem Nachlass wird ersichtlich, dass sie der un‐ geklärte Tod, der längere Zeit nicht mit letzter Gewissheit feststand, als ein traumatisches Erlebnis noch viele Jahre begleitet hatte, wie auch die Tatsache, dass sie ihn 1950, kurz vor ihrer zweiten Eheschließung, selbst für tot erklären musste. Das Interview von 2011 lässt noch etwas von der emotionalen Erschüt‐ terung erahnen, die sich mit der Nachricht von Stalingrad verband. Aber es ist eine Intervention des Interviewers, die dies initiiert. Sie selbst hat auch darüber den Mantel des Schweigens gelegt. Vernunftbasierung und Selbstkontrolle gehen bei Rita Schober Hand in Hand. 223 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="224"?> 38 Martin Sabrow, S. 21-24 Typologisch fällt Rita Schobers erzählte Vita für diese Zeit der Umbrüche 1938/ 1945 in die Kategorie einer Kontinuitätsbiographie. 38 Die, wenn auch er‐ schwerte und mit kleineren Unterbrechungen versehene, insgesamt aber kon‐ tinuierliche Entwicklung ihrer Ausbildung und des Studiums bilden den zen‐ tralen Gegenstand. Sinnweltliche Umbrüche werden nicht thematisiert. Die moralischen Maßstäbe und der „Wertehimmel“ Rita Schobers hatten sich nicht verändert. Für Erleben und Erzählung ist gleichermaßen zentral, dass auch in ihrem privaten Leben an der Seite eines kommunistischen Widerstandskämpfers und anerkannten Verfolgten des Naziregimes ab 1946 die fiktive Geschichte aus den ersten Umbruchszeiten ein virulentes Problem blieb, obgleich dieser „den Roman“ kannte und ihn offensichtlich mittrug. Rita Schober spricht in ihren Reden, in der Vita und in Interviews von ihrem Mann als dem moralischen Ant‐ litz des Sozialismus, der sich durch seinen „sauberen“(Sic! ) Charakter auszeich‐ nete - ganz so, als ob von ihm eine reinigende Wirkung auch auf sie selbst ausgehen könnte. Der auffällig moralische Ton, wenn es um den Widerstands‐ kämpfer, die DDR, den Sozialismus und ihr politisches Credo geht, haben ei‐ nerseits Bekenntnischarakter und sind andererseits zugleich Ausdruck der kog‐ nitiven Dissonanz, in der Rita Schober vor dem Hintergrund ihrer eigenen geglätteten Lebensgeschichte gelebt hat, eine Dissonanz, die auch aus dem Ge‐ gensatz zwischen katholischen Moralgeboten und dem Leben mit einer fiktiven biographischen Vergangenheitserzählung genährt wurde. Die dem Logos verpflichtete Erzählweise in Kapitel 1 erscheint im Wissen um Dissonanzen, Verschwiegenes und emotionale Erschütterungen als ein Schutz und Weg zur Selbstkontrolle. Im Grunde musste Rita Schober in den ersten Jahren ihrer Universitätslaufbahn in einem ständigen Verteidigungs‐ modus leben, der eng mit Angst und Bedrohung verbunden war. Sie wollte mit Eifer all dem entkommen. Zu den gesellschaftlichen Umbrüchen kommen zu diesem Zeitpunkt noch Brüche auf einer persönlichen Ebene hinzu: Am Sterbebett ihres Vaters 1945 hatte sie von ihrer Mutter erfahren, dass dieser nicht ihr leiblicher Vater war, sondern dass sie das Kind einer Vergewaltigung am Ende des Ersten Weltkrieges ist. Dieses Familientabu mit allen psychischen Folgen nimmt Rita Schober mit 224 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="225"?> 39 Das Nichtwissen um ihren leiblichen Vater und ihre Vermutung, dass er Jude war, prägte sie ihr Leben lang. Viele, die Rita Schober näher kannten, berichten davon, dass sie die Größe ihrer Nase oftmals thematisierte und in Zusammenhang mit dem Judentum brachte. Jude-Sein war für Rita Schober eine gängige Zuschreibung für Personen, wenn sie meinte, dafür Indizien wahrzunehmen. 40 Angelika Klapper, die auch in der Nacht, als das Sterben Rita Schobers begann, bei ihr war, berichtet von ihren Wahrnehmungen, in denen ihr am Ende Rita Schober als sehr authentisch und „bei sich seiend“ und eine umfassende „Humanität“ ausstrahlend, er‐ schien. Ihr hatte Rita Schober in den letzten Monaten ihres Lebens auch einige ihrer „Geheimnisse“ anvertraut. in ihre neuen Lebensumstände nach der Aussiedlung. 39 Erst im hohen Alter vertraute sie sich zwei Freundinnen an und die emotionale Erschütterung, die dies begleitete, lässt erahnen, mit welchem identitären Problem sie zu kämpfen hatte. Sie schildert in dem Interview von 1997/ 98 in einem anderen Zusammen‐ hang, wie lange sie gebraucht hätte, um an Selbstsicherheit zu gewinnen. Sie bettet diese Erzählung in den soziokulturellen Milieuzusammenhang ein, dem sie entwachsen wollte. Es ist naheliegend, dass auch der Identitätskonflikt, der sich mit ihrer Herkunft und Geburt verband, den längeren Prozess der Findung von Selbstsicherheit begleitet hat. Angst vor Entdeckung und das Bedürfnis nach Selbstschutz führten zu einer oft als Härte und Unnahbarkeit, mitunter auch Kälte, wahrgenommenen Art und Weise im Umgang mit anderen Menschen bzw. beim Vertreten eigener Standpunkte. Rita Schober ging ihren Weg, um Macht und Deutungshoheit zu erwerben, somit auch um unangreifbar zu werden. Sie blieb dabei als Person bis ins hohe Alter einsam, wie auch ihre enge Freundin Ilse Ennig bestätigte. Sie blieb „beziehungslos“ im Sinne einer Bezie‐ hung, die Nähe und Authentizität zulässt, weil ihr eine solche Beziehung Be‐ drohung bedeutete. 40 Gleichzeitig doch war dies getragen von einer hohen Be‐ dürftigkeit nach Anerkennung und auch Liebe. In ihrem nichtarchivierten Nachlass befindet sich eine Notiz mit den Worten: „Ich habe immer nur von den Brosamen der Liebe anderer gelebt.“ Dies ist immer mit zudenken, wenn Rita Schober bis ins hohe Alter hinein von den zahlreichen Anrufen und Lobesbe‐ kundungen für sich als Person und für ihre Arbeit sprach. Sie gab sich auch wenig Mühe, um die Befriedigung, die sie für ihr zuteil werdendes Lob empfand, zu verbergen. Als Fazit bleibt nochmals festzuhalten, dass die Umbrüche der Jahre 1938 und 1945/ 46 von Rita Schober nicht als sinnweltliche Umbrüche thematisiert werden. Vielmehr deutet sie in den Erzählungen über jene Zeit ihren Weg als schwierigen und arbeitsreichen Ausbildungsweg in turbulenten gesellschaftli‐ chen Umbruchzeiten, die in politischer und ideologischer Hinsicht äußerlich bleiben. Der starke Wille, sich aus einem sozialen Milieu zu befreien, führte sie, 225 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="226"?> 41 Mein Dank gilt den Rechtsinhabern der Texte für ihre Genehmigung zum Wiederab‐ druck. 42 Humboldt-Universität Universitätsarchiv: HU UA, Nachlass (NL) Schober, Karton Nr. 31 noch dazu unter den Bedingungen einer Diktatur, zu Anpassungen an politische und gesellschaftliche Normen. Die Erfahrung solcher Anpassungen, die sie mehrfach „gerettet“ haben, die sich in diesem Sinne „lohnen“, wie auch die Netzwerke, die hilfreich waren um „zu überleben“, all diese Erfahrungen nahm Rita Schober mit in ihr Leben in der zweiten deutschen Diktatur des 20. Jh. Mit sinnweltlichen Fragen befasst sie sich in ihrer Erzählung - wenige Andeutungen ausgenommen - erst im Zusammenhang mit Kommentaren und Schilderungen des dritten Umbruchs der Jahre 1989/ 90, den sie als in jeder Hinsicht, auch po‐ litisch gereifte Frau, im Alter von 71 Jahren erlebte. 2.2 Der dritte Umbruch: 1989/ 90 Die in Teil I veröffentlichten Teile der Vita beinhalten das 4. Kapitel mit dem Titel Le tournant. Dieses Kapitel ist nicht vollständig und besteht aus einzelnen, eher isoliert erscheinenden Texten. Es ist insofern kaum verdichtet und der Leser wird Teil von Reflexionen, die sich mit Momentaufnahmen und oft unmittelbar Erlebtem verbinden. Wie Rita Schober den dritten Umbruch gedeutet hat, wird in diesen Teilen der Vita nicht wirklich klar. Deshalb werden unter 2.2 vor allem Briefe und Aussagen in den bislang unveröffentlichten Interviews zitiert, die Aufschlüsse über diese Frage geben. Ihre wissenschaftlichen Positionen hatte sie in einigen Aufsätzen kritisch reflektiert und bereits veröffentlicht. Einige von ihnen werden unter 2.2.4 noch einmal abgedruckt. 41 Rita Schober erlebte den Niedergang der DDR und die deutsche Einigung als Emerita. Ein Text mit dem Titel Le tournant aus dem archivierten Nachlass 42 geht über die in Teil I veröffentlichten Texte des Kapitel 4 mit dem gleichen Titel hinaus. Dieser archivierte Text lag nur maschinenschriftlich vor. Er ist von Rita Schober offensichtlich als Einführungstext zu dem 4. Kapitel Le tournant gedacht gewesen. Er ist nicht datiert, aber Indizien lassen vermuten, dass er nach 2006 geschrieben wurde. Die Besonderheit dieses Textes besteht darin, dass es der einzige ist, in dem Rita Schober versucht, sich in einer Art Synthese zur Erfah‐ rung dieses Umbruchs zu äußern. Der Text hat folgenden Wortlaut: „Le tournant: 7. Oktober 1989: Dieses Datum der Wende bedeutete für mich viel‐ leicht den größten Einschnitt, sowohl in meinem persönlichen Leben wie im wis‐ senschaftlichen Bereich. Dabei hielt das 20. Jahrhundert, in das ich am Ende des Ersten Weltkrieges noch im alten Österreich-Ungarn, als Deutsche in Nordböhmen 226 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="227"?> hineingeboren wurde, an sich schon genügend Perturbationen bereit. Doch nun bin ich wieder abgestempelt, wie ich es zu Zeiten des Travelboard als „presumed german“ war, denn das war in den von den westlichen Besatzungsmächten in Westberlin ausgestellten Reisedokumenten die offizielle Bezeichnung für die Bürger der DDR vor der vollen völkerrechtlichen Anerkennung 1974. In einem jedoch hoffte ich nun mit der Wende zur Ruhe zu kommen: ich wollte endlich einfach eine Deut‐ sche sein, ohne Zusätze von Sudeten-, Beute-, Ost-. Doch auf meinem Krankenver‐ sicherungsschein für das Ausland steht wiederum: ‚Barmer-Ost’. Meine Heimat hatte ich ja schon einmal, nein eigentlich schon zweimal verloren, denn als ‚Reichsdeutsche’ habe ich mich nie gefühlt. Aber diesmal ging es um den Zusammenbruch einer großen Hoffnung: um den Wunschtraum von einer friedli‐ chen, solidarischen Gemeinschaft, deren Ideal sich mit dem Wertekatalog meiner katholischen Jugend vertrug. Und für das ich mich, wie mein Lehrer Victor Klem‐ perer, gerade nach den Erfahrungen des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges aus Überzeugung eingesetzt hatte. Umso größer das Erschrecken über die Kehrseite der Medaille, den Verrat an diesen Idealen in sensiblen Bereichen der realpolitischen Praxis, den kein utopisches Fernziel legitimierte. Für meinen Mann Robert - mit sechs Jahren Dachau und einem in Oranienburg umgebrachten Vater und einem nach diesem Ideal erlittenen und gelebten Leben - bedeutete die Wende psychisch den Todesstoß. Zu diesen persönlichen Erschütterungen kam für mich noch die In-fragestellung meiner theoretischen, wissenschaftlichen Grundlage.“ Der Umbruch 1989/ 90 wird von Rita Schober hier vor allem als ein dreifacher Verlust gedeutet: Verlust der Heimat, Verlust ihres Lebens-Ideals und Verlust bzw. Infragestellung ihrer theoretischen Arbeitsgrundlagen. Ganz anders als die ersten beiden Umbrüche erscheint derjenige von 1989/ 90 zunächst als Zäsur, bei der die bisherige Denkwelt und mit ihr die Ich-Identitat auf die Probe gestellt werden. Diese Zäsur ist mit einem mehr oder weniger tiefgehenden Reflexi‐ onsprozess verbunden, der vieles auf den “Prüfstand” stellt und unterschiedli‐ chen Bewertungen unterwirft. Es stellt sich deshalb die Frage, was Rita Schober wirklich meint, wenn sie von einem Verlust ihrer Heimat spricht. Diese Frage leitet die Abschnitte 2.2.1-2.2.4. Die Bemerkungen zu ihrem „Erschrecken über den Verrat an ihren Idealen in der realpolitischen Praxis“ geht in die Richtung von Schuldzuweisungen an das Führungspersonal der DDR, die Parteispitze und an die verkrusteten Partei‐ strukturen. Eine solche Argumentation führt Rita Schober mehrfach an. In an‐ deren Texten wiederum, dies wird zu zeigen sein, stehen Fragen nach der ei‐ genen Schuld und Verantwortung im Zentrum der Überlegungen. 227 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="228"?> In dem oben zitierten Text mit dem Titel „Le tournant“ folgt der Bericht über den Ablauf des 7. Oktober 1989 aus der Perspektive Rita Schobers als Teilneh‐ merin an dem offiziellen Empfang der Partei- und Staatsführung im Palast der Republik: „Zu dem Empfang im Palast der Republik am 7. Oktober 1989, dem 40. Staats‐ feiertag der DDR, war ich mit Robert eingeladen worden, doch mit der ungewöhn‐ lichen, vorherigen Anfrage, ob ich auch bestimmt teilnehmen würde. Wollte man sich genügend Teilnehmer sichern? Unsere Nachbarn, der Gesundheitsminister Prof. Dr. Mecklinger mit Gattin, nahmen uns im Dienstwagen mit. Der Fahrer war etwas nervös. Es gäbe im Prenzlauer Berg und um die Gethsemane-Kirche De‐ monstrationen. Und obwohl die Schönhauser Allee selbst, die wir Richtung (unle‐ serlich D. R.) hinunter fuhren, frei war, lag eine merkwürdige Spannung in der Luft. Den gleichen Eindruck vermittelte die Atmosphäre in den äußeren Räumen des Palastes. Der Hauptsaal war den offiziellen Gästen vorbehalten, schließlich wurde auch Gorbatschow erwartet. Doch dessen Erscheinen in Begleitung von Ho‐ necker verzögerte sich offensichtlich und so sahen wir mehr oder weniger huschende Gestalten von unserem Platz aus durch den Haupteingang kommen ohne jemanden im Detail erkennen zu können. Die Teilnahme an diesem Staatsfeiertag war Gor‐ batschows letzter offizieller Auftritt in der DDR mit dem berühmten Satz aus seiner Rede: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Er jedenfalls, nach seinen bereits laufenden Verhandlungen mit der BRD, hatte offensichtlich nicht die Absicht zu spät zu kommen. Selbst bei dem reichlichen Buffet, Sekt und Tanzweisen kam allgemein keine Stimmung auf, auch die offiziellen Gäste verschwanden sehr bald und wir fuhren mit Mecklingers gegen halb zehn reichlich bedrückt und beunruhigt wieder nach Hause. Diesmal hatte der Fahrer das offizielle Freifahrtschild von der Frontscheibe entfernt und erklärte, er müsse wegen der Demonstrationen eine andere Strecke nehmen. Am 8. November fand, wie seit langem geplant, in unserer Klasse der Akademie ein Kolloquium aus Anlass des zweihundertsten Gedenktages der französischen Revolution von 1789 statt, an dem auch Francis Cloudon aus Paris teilnahm. Am Ende des zweiten Tages gingen wir direkt nach der Schlusssitzung von dem Aka‐ demiegebäude zu dem nahe gelegenen Gebäude des Zentralkomitees, um an der dort stattfindenden Demonstration zur Entmachtung des bisherigen Politbüros teilzunehmen. Einer der Hauptredner war Gregor Gysi, Sprechchöre wie „Inge Lange macht uns bange“ (dieses für die Frauenfragen zuständige Politbüromitglied war auch wirklich ein Musterbeispiel von Dummheit und dazu gehöriger Arro‐ ganz! ) waren vergleichsweise harmlos, aber der Tenor der Demonstrationen insge‐ samt war die Forderung nach Rücktritt der bisherigen alten Parteispitze, Einhal‐ 228 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="229"?> 43 HU UA, NL Schober, Karton Nr. 6/ 2 tung der wirklichen Parteinormen und Gesetze; vor allem der Verfassung und Erneuerung der Gesamtpolitik. Es war ein ganz merkwürdiges Zusammentreffen verschiedener und doch ir‐ gendwie zusammengehörender Ereignisse: die wissenschaftliche historische Refle‐ xion über die große französische Revolution von 1789, die das Zeitalter der bür‐ gerlichen Demokratie eingeläutet hatte, und dieser Aufschrei der Parteibasis, die die Idee eines gerechten, sozialistischen Gemeinwesens angesichts der unerträgli‐ chen Verkrustungen der herrschenden Parteibürokratie retten wollte. Diese Demonstration brachte nur den Unmut und, so wie viele andere Protest‐ demonstrationen, die schließliche Ungeduld der Parteimitglieder selbst zum Aus‐ druck. Die Montagsdemonstrationen liefen als Protestkundgebungen in Leipzig mit wachsenden Teilnehmerzahlen seit gut einem Jahr. Theater und Künstlerverbände, einschließlich des Schriftstellerverbandes und PEN-Clubs, hatten in öffentlichen Erklärungen die Forderung nach Einhaltung der durch die Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten gefordert. Der eindrucksvollste Ausdruck der in der Bevöl‐ kerung vorherrschenden Stimmung aber war die Demonstration am 4. November 1989 am Alexanderplatz. In den Ansprachen der sehr unterschiedlichen Teilnehmer - auch Markus Wolf, der von seinem Amt zurückgetretene Sicherheitsmann für Westaufklärung nahm das Wort - kam als gemeinsames Anliegen der Umbau der DDR zum Ausdruck, nicht der Wunsch nach ihrer Abschaffung. Sie sollte endlich wirklich das sein, was sie hatte sein wollen.“ Diese Passagen lesen sich wie ein Zeitzeugenbericht, bei der auch Rita Scho‐ bers Zugehörigkeit zur Führungselite der DDR dokumentiert ist. Nur an einer Stelle wird von Beunruhigung oder Bedrückung gesprochen, die sich auf das Ungewisse der Situation beziehen. Die Schilderungen sind ansonsten eher dis‐ tanziert, fast aus einer Beobachterperspektive geschrieben, wenngleich sich in‐ tentional eine gewisse Unterstützung der Wünsche nach Reformen der DDR erkennen lässt. Wegbegleiter dieser Zeit berichten hingegen, dass Rita Schober auch von Angst sprach, vor allem zu einem Zeitpunkt, als der Fall der Mauer kurz bevor stand. Anders als im Text „Le tournant“, in dem aus der Perspektive der Beteiligten der Beginn des Umbruchs geschildert wird, steht in einer offiziellen Begrü‐ ßungsansprache vor den internationalen Gästen der Exekutivtagung der Société européenne de culture (SEC) im Juni 1990 der Versuch einer historischen Ein‐ ordnung des Umbruchs 1989/ 90 im Vordergrund. Rita Schober begrüßte die Gäste aus 16 Ländern als Präsidentin des DDR-Zentrums der SEC: 43 229 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="230"?> „Nicht mehr als sieben Monate sind seit unserer letzten Zusammenkunft im Ok‐ tober in Rom vergangen. Aber in dieser, historisch gesehen, relativ kurzen Zeit, haben sich in der DDR so grundlegende Veränderungen vollzogen, dass sie nicht nur das Gesicht dieses Landes völlig verändert haben, sondern dass ihre Auswir‐ kungen auch ganz Deutschland betreffen, ja sogar ganz Europa. Es ist Ihnen bekannt, dass der Staatsvertrag zwischen der DDR und der BRD von den zwei Finanzministern unterschrieben worden ist und dass die Verwirklichung der Wirtschafts-,Währungs- und Sozialunion einen entscheidenden Schritt auf dem Wege zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten darstellt. Dieser neue Staat, mitten im Herzen Europas gelegen, kann mit seinen 80 Mil‐ lionen Menschen und seinem bedeutenden ökonomischen Potential einen entschei‐ denden Faktor der Friedenskonsolidierung auf diesem Kontinent darstellen unter der Bedingung, dass sich diese Einigung unter den Auspizien des europäischen Ei‐ nigungsprozesses vollzieht und dass die legitimen Sicherheitsinteressen der Groß‐ mächte und aller Nachbarn dieses Staates, im Westen wie im Osten, gebührend berücksichtigt werden, insbesondere die des polnischen Volkes und der Völker der CSFR. Das Ziel kann nur sein: für ein europäisches Deutschland, nie mehr ein deutsches Europa! (…) Man befreit sich nicht von heute auf morgen von der Vergangenheit. Man muss sie schon annehmen mit all ihren Seiten, positiven und negativen, mit allem Verlust und ihrem Gewinn und man muss sich die Werte ins Gedächtnis rufen, deren Bewahrung oder Wiedergewinnung von erstrangiger Bedeutung ist. Der Übergang zur Marktwirtschaft kann sicherlich in relativ kurzer Zeit voll‐ zogen werden. Um aber die geistigen, moralischen und psychischen Wunden vernarben zu lassen, wird sicher ein schwieriger und schmerzlicher Prozess vonnöten sein und die Verankerung neuer demokratischer Beziehungen zwischen den Menschen wird sicher eine längere Periode in Anspruch nehmen. Demokratie ist nicht von einem Tag zum anderen zu erlernen, vor allem dann nicht, wenn sie alle Bereiche des Lebens durchdringen und sich nicht nur auf den politischen und juristischen Sektor beschränken soll. (…) Ich bin deshalb der Ansicht, dass sich unserem Zentrum ein weites Betätigungsfeld für die Propagierung der entscheidenden Grundsätze der SEC eröffnet. Ich halte es für unerlässlich, sich immer wieder auf den zentralen Gedanken des Dialogkonzepts, wie er von Campagnolo selbst ausgearbeitet wurde, zu besinnen: „Du musst immer davon ausgehen, dass auch die anderen Menschen eine für Dich gültige Wahrheit besitzen können.“ Zwei Verse aus dem Purgatorium der Göttlichen Komödie von Dante erinnern uns an unsere staatsbürgerliche Ver‐ antwortung: Und wenn die gegenwärtige Welt entgleist, so liegt in Euch der Grund, in Euch ist er zu suchen (…).“ 230 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="231"?> 44 Es ist zu vermuten, dass Rita Schober die Briefadressatin aus Warnsdorf kennt. HU UA, NL Schober, Karton Nr. 7 Interessant ist hier die Rede von Verletzungen und Wunden, die Rita Schober in diesem Text als Folgen des Umbruchs für einen größeren Teil der ostdeutschen Bevölkerung diagnostiziert. Wie sehr solche Verletzungen und Wunden auch die Rednerin selbst betrafen, das wird in zahlreichen Briefen aus den 1990er Jahren deutlich, die Rita Schober an Kollegen im In- und Ausland richtete. Die meisten sind an westdeutsche, französische oder österreichische Kollegen ge‐ schrieben, nur wenige an ostdeutsche. Rita Schober erfährt und schildert diesen Umbruch - wie viele Vertreter der DDR-Eliten dieser Jahrgänge - als Entwertung ihrer Biographie. In einem Brief vom 10.9.1990 an Frau Ostermeier 44 beschreibt sie diese Erfahrung explizit so: „(…) Ich hatte in letzter Zeit mehrfach die Freude, von ehemaligen Schülern aus Warnsdorf und ehemaligen Studenten Post zu bekommen. Es ist wie ein Zeichen, dass man nicht ganz umsonst gelebt hat, eine Auffassung, zu der mich die Ereig‐ nisse des letzten Jahres manchmal neigen lassen. (…)“ Diese Erfahrung der Entwertung des bisherigen Lebens hat mehrere Facetten, die sich zu einem Lebensgefühl bündeln, das in den ersten Jahren nach der Ver‐ einigung dominant gewesen ist. Dabei spielten sowohl existentielle Probleme, als auch die ihres gesellschaftlichen Status und ihrer Ideale und Werte eine wichtige Rolle. Ganz anders als die Umbrüche eins und zwei, die sie in ihrer katholisch geprägten Jugend ohne politisches und ideologisches Engagement erlebte, war der dritte gesellschaftliche Umbruch naturgemäß mit sinnweltli‐ chen Fragen verbunden. Die Thematisierung der Verwobenheit von Umbruch und Ich-Identität kennzeichnet auch die fragmentarischen Teile des 4. Kapitels der Vita und sehr viele im Nachlass dokumentierten Texte aus den Jahren nach 1990, allerdings in unterschiedlicher Intensität. Es gibt ebenso viele Indizien, die belegen, dass Rita Schober relativ schnell in den 1990er Jahren alte und neue Netzwerke zu nutzen verstand und wissenschaftlich keineswegs isoliert war. Wie tief die sinnweltlichen Fragestellungen gingen, ist nicht mit Gewissheit zu sagen. 2.2.1 Existentiell empfundene Probleme Zu den als existentiell empfundenen Problemen gehörten die mit dem Jahr 1990 einsetzenden Rentenregelungen für ostdeutsche Professoren sowie Eigentums‐ fragen. In den 1990er Jahren bestimmten diese Problemkreise viele der Briefe an die Kollegen aus Frankreich und der alten Bundesrepublik wie nur einige Beispiele belegen: 231 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="232"?> 45 Ebenda In einem Brief an Francis Cloudon vom 8.5.1990 45 schreibt sie: „Aber es gibt ja auch Ungeklärtheiten. Das Berliner Haus steht auf städtischem Grund. Wir haben den Antrag stellen können, diesen Grund zu kaufen, aber es rührt sich natürlich nichts, denn die Behörden werden die Abwicklung dieser Dinge bis nach der Währungsunion hinausziehen und dann werden wir nicht mehr das nötige Geld haben. Was wird dann mit Berlin? - falls wir es finanziell überhaupt noch bezahlen können: Licht, Gas, Wasser, Müll, Reparaturen, Garten? Telefon, Wagen? Noch haben wir keine Ahnung, was wir an Rente bekommen. Universitätsprofes‐ soren hatten bisher 80 % des Schlussgehaltes. Die allgemeine Rentenregelung sieht vor bei 45 Arbeitsjahren 70 % des Durchschnittsgehaltes dieser Jahre, das könnte ich gar nicht nachweisen. Denn da eine Frau mit 60 Jahren zwangsweise in Rente gehen musste, hätte ich ja mit 15 Jahren schon verdienen müssen. Diese Renten‐ rechnung ist generell gegen die Frauen gemacht und gegen die Intelligenz. Aber selbst wenn ich meine Rente behalte, stehen wir viel schlechter da als vorher, da die Grundausgaben in der Bundesrepublik ja in all den genannten Leistungen viel höher sind. Aber bekanntlich sind dort auch die Löhne dreimal so hoch wie bei uns. Die niedrigen Löhne korrelierten bisher mit den niedrigen Grundausgaben. Doch vielleicht sehe ich auch alles zu schwarz, weil die Gesamtsituation doch in vielem sehr bedrückend ist. (…) Wie ich Ihnen schon sagte, wollen wir diesen Sommer so weit es geht, in Prieros verbringen. Vielleicht ist es überhaupt das letzte Mal, denn bis jetzt kann niemand sagen, was mit diesen Grundstücken, die ja alle rechtens vergeben wurden, nach den neuen Bedingungen geschieht. Wir haben zwar nur eine große Laube, aber Nicolas wird Ihnen bestätigen, dass alles vorhanden ist, damit man sich wohlfühlt. Und was viel wichtiger ist, all dieses haben wir mehr oder weniger selbst gebaut. Jedes Stück verbindet sich mit einer Erinnerung an die eigene Arbeit, das eigene Leben, aber auch an Freunde, die uns geholfen haben. Und es steckt auch mein ganzes Geld darin. Vermögen haben wir keines, fast kann man nun sagen, zum Glück, obwohl ich den Umtauschkurs 2: 1 vertretbar finde. Das ist nicht das Problem. Das Problem sind die niedrigen Gehälter, die Renten und die nachfolgenden Preis‐ steigerungen. (…)“ In einem Brief an Michelle Campagnolo (SEC) vom 19.8.1991 heißt es: „Meine Rente ist auf 2010 DM vorläufig gekappt, was ich endgültig ab 1. Januar bekomme, weiß ich noch nicht, sicher weniger, denn die jetzige Summe ist die absolute Ober‐ grenze. Das entspricht dem SMIC für einen französischen Arbeiter und jeder Fahrer der Müllabfuhr verdient bei uns im Monat mehr als ich als emeritierter Ordinarius. Lassen wir dieses Thema. (…)“ 232 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="233"?> 46 HU UA, NL Schober, Karton Nr. 5 47 Ebenda 48 Ebenda, Karton Nr. 6 An Friedrich Wolfzettel (Universität Frankfurt a. M.) wendet sie sich am 2.5.1992 46 mit den Worten: „Es ist auch wirklich sehr, sehr schwierig. Die niedrigen, bis 94 eingefrorenen Renten der Intelligenz, 2010 DM, sind vor allem auch wegen der damit beabsichtigten Kränkung so schlimm. Da das Geld ja zum allgemeinen Wertmesser geworden ist, sind wir weniger wert als ein Müllkutscher.“ Und an Hans-Jörg Neuschäfer (Universität des Saarlandes) richtet sie am 3.5.1992 47 die Klage: „Das Schlimmste ist sicher die psychische Situation. Die nied‐ rigen Renten, die noch dazu eingefroren sind und bei Neuberechnung 1994 einen noch geringeren Satz erbringen werden, da man uns ja die Intelligenzrenten einfach weggenommen hat und wir wie jeder Müllkutscher, jedes Ladenmädchen behandelt werden, die niedrigen Renten sind in einem System, da nur das Geld zählt, eben vor allem auch eine moralische Disqualifikation. Und diese Ungerechtigkeit verkraftet man schwer.“ Wie lange Rita Schober diese existentiellen Fragen beschäftigt haben, zeigt auch ein Brief an ihre Kollegen in Graz vom 4. März 1994 48 : „Sie werden ja sicher erfahren haben, dass alle Universitätsprofessoren auf Rentenoberbeträge gekürzt worden sind, die auch nicht dynamisiert werden, so dass sich die Inflationsrate voll auswirkt. Diese ganze Situation bedeutet natürlich, dass man den Rechtswegs be‐ schreiten und beim Sozialgericht klagen muss und so habe ich seit zwei Jahren einen Prozess laufen, bei dem es zwar noch keine einzige Verhandlung gegeben hat, dafür aber einen umfänglichen Schriftwechsel. All dieser Ärger kostet viel Zeit und zehrt an Nerven und Kräften und schafft vor allem Unsicherheit für die Zukunft. Ohne die Rente meines Mannes wäre es sehr fraglich, ob ich das Berliner Haus halten könnte, in dem ich seit 1951 wohne und das mein Eigentum ist. Doch da gibt es auch wieder einen Haken. Der Grund war städtisches Eigentum, konnte folglich in der DDR nicht gekauft werden und die nach dem Oktober 89 getätigten Grund‐ käufe werden juristisch angezweifelt. Eine Entscheidung zu dieser Rechtsfrage durch Bonn liegt noch nicht vor, also bleibt die Unsicherheit. Und um das Bild abzurunden, sage ich schnell noch, dass mein Wochenendgrundstück ebenfalls auf „Westgrund“ liegt und damit auch hier alles offen ist - ein bisschen viel für zwei alte Leute an Fragen und Unruhe. Hinzu kommt, dass ich seit dem 1. Juli vorigen Jahres praktisch mit all diesen Probleme allein stehe, da meine Kinder nach Mün‐ chen gezogen sind.“ Dies sind Ausschnitte aus weiteren zahlreichen Briefen. Rita Schober hat den Kampf um die Rentenregelung per Klage aufgenommen und hat sich noch im hohen Alter 1996 einer Gerichtsverhandlung ausgesetzt, die ohne positives Er‐ 233 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="234"?> gebnis für sie ausging. Deutlich wird, dass sich mit der materiellen Verunsiche‐ rung vor allem die Empfindung einer Demütigung verband. Die Teilnahme an der Gerichtsverhandlung ist deshalb wohl als Protest gegen die moralische Her‐ absetzung ihrer Lebensleistung zu verstehen, die sie in der Rentenberechnung sah. Deshalb vermochte sie dafür, alle ihr noch zur Verfügung stehenden Kräfte, physische wie psychische, zu mobilisieren. In ihrem Haus, das ihr als „Intelli‐ genzheim“ zu Beginn der 1950 Jahre mit einer geringen Miete auf ihren Antrag hin zugewiesen wurde, das sie später, nach 1989, als Eigentum erwarb, in diesem Haus am Erpenbeck-Ring konnte sie bis zu ihrem Tod wohnen. Heute lebt dort eine ihrer Enkelinnen. 2.2.2 Umbruch, Status und Netzwerke Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich bereits erahnen, dass Rita Schober auch in den 1990er Jahren eine reiche Korrespondenz geführt hat. Auffällig ist dabei, wie wenig diese ostdeutsche Kollegen einschließt. In den nachfolgenden Ausschnitten ist von Isolation die Rede, die sich insbesondere auf ihre ehema‐ ligen Kollegen und „ihr“ Institut, die Romanistik der Humboldt-Universität, be‐ zieht. Als Gerta Stecher mit Rita Schober 1997/ 98 das Interview führte, hebt diese ihre neu geknüpften Kontakte zur Freien Universität Berlin (FU), insbesondere zu Winfried Engler hervor, während z. B. auch Michael Nerlich (TU Berlin) zwar als langjähriger Kollege und Freund Erwähnung findet, doch sie macht deutlich, dass ihr die Betonung der neuen Kontakte besonders wichtig ist. Auch die im Jahr 2006 an Wolfgang Asholt übermittelte Disposition zum Kapitel 4 der Vita legt den Akzent auf die „neuen Kontakte“. Nach der Durchsicht des Nachlasses lässt sich insofern eine deutliche Diskrepanz zwischen intensiv unterhaltenen Kontakten zu einigen Kollegen, allen voran Michael Nerlich, und deren Rand‐ position in der Vita feststellen. Mit Winfried Engler unterhielt Rita Schober erst in den letzten Jahren ihres Lebens bis zu ihrem Tod persönlichen Kontakt in regelmäßigen Telefonaten. Es ist auch Winfried Engler, der später die Trauer‐ rede für Rita Schober hielt und niemand von ihren alten Kollegen. Es ist nahe‐ liegend, dass sie mit der Betonung der „neuen“ Akteure ihr „Ankommen“ in den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen nach außen glaubhaft machen wollte. Bei den „neuen“ Kontakten handelte es sich um solche, die ideologisch kaum in die Nähe einer „kommunistischer Gesinnung“ zu bringen sind. Sie weiß aus ihrer Erfahrung der bereits erlebten gesellschaftlichen Umbrüche, wie wichtig die Arbeit an Netzwerken ist, um als Person und Wissenschaftlerin Anerkennung zu finden. Ihre wissenschaftlichen und die editorischen Arbeiten zu Zola, ihre auf Reisen und in internationalen Gremien bekannt gewordenen Aktivitäten 234 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="235"?> 49 Ebenda waren ihr dabei hilfreich. Aus der Korrespondenz ist eine internationale Aner‐ kennung Rita Schobers als Wissenschaftlerin der DDR ablesbar, die ihr auch noch nach 1989 kommuniziert wurde. Unter den neuen gesellschaftlichen Be‐ dingungen konnte sie daran zunächst anknüpfen. Sie scheute sich nicht, ihre Kollegen aus dem Westen um Rat zu fragen, wie z. B. ein Brief an Hans-Jörg Neuschäfer vom 3.5.1992 49 zeigt: „Ich habe in den letzten Monaten ein Wissenschaftsbad genommen und gear‐ beitet an einem Artikel und einem daraus umgearbeiteten Vortrag und Frau Harth ist so lieb und wird ihn sich in Potsdam anhören: Der junge Zola zwischen Revolte und Reklame. Nun möchte ich gern einen kleinen monographischen Band daraus machen, also einmal näher den Zola vor den Rougon-Macquart im Umbruch der Literaturverhältnisse darstellen. Aber ich habe leider gar keine Beziehungen zu westdeutschen Verlagen. Die beiden, die ich angeschrieben habe, Metzler und Peter Lang Verlag, haben abgelehnt. Ob Sie mir einen Rat geben könnten? Man müsste jemanden kennen oder auch von jemandem empfohlen werden, sonst sind die Chancen wohl gleich Null. Soviel habe ich über die neuen Beziehungen inzwischen auch erfahren. Ich wollte auch gern einen Auswahlband aus Zolas literaturtheo‐ retischen Schriften machen, mit Einleitung und Kommentar. Möglichst in deutscher Übersetzung. Die Germanisten würden für den deutschen Naturalismus einen sol‐ chen Band auch gebrauchen können, denn es liegt nichts in Übersetzung vor. Der Roman expérimental ist 1904 das erste und letzte Mal erschienen. Aber ich habe das gleiche Problem. Seien Sie mir deshalb nicht böse, wenn ich um einen Rat frage. (…)“ Beide Projekte blieben jedoch unvollendet und unveröffentlicht. Ein erstes Ergebnis dieses Arbeitens an neuen Netzwerken war das mit Win‐ fried Engler bereits 1993 organisierte Kolloquium anlässlich der 100. Wiederkehr der Erscheinung der „Rougon Macquart“ von Emile Zola, organisiert an der FU. Noch am 8.5.1990 hatte Rita Schober in einem Brief an Francis Cloudon erinnert: „Die Universität ist in diesem ganzen Komplex ein Problem für sich. Die HU hat mit der FU, die 1949 nach der Teilung Deutschlands, sprich Gründung der Bundes‐ republik und der DDR, als „Spalteruniversität“ vor allem mit weggegangenen Pro‐ fessoren unserer Universität gegründet wurde, nun eine Art Vertrag abgeschlossen, auf jeden Fall offizielle Beziehungen angeknüpft. Sie können sich denken, dass da die Aktien für unsere Romanistik bei der viel besseren Besetzung auf der anderen Seite nicht sehr gut aussehen. Es gab auch schon Gerüchte, dass die beiden Uni‐ versitäten zusammengelegt werden sollen. Doch was die Zukunft bringt, weiß nie‐ mand. (…)“ 235 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="236"?> 50 Ebenda, Karton Nr. 5 Die gemeinsame Konferenz mit der ehemaligen „Spalteruniversität“ FU fand statt und in einem weiteren Brief vom 11.10.1993 an Gertraude, eine ehemalige Studentin, spricht sie ohne Umschweife von der Wohltat der ihr dabei zum Aus‐ druck gebrachten persönlichen und wissenschaftlichen Anerkennung: „Nach Berlin zurückgekehrt hatte ich viel Arbeit. Dieses Jahr jährte sich doch zum 100. Male der Abschluss der Rougon-Macquart. Und aus diesem Anlass habe ich mit dem Kollegen von der Freien Universität (ja, du hörst richtig! ! , bei uns ist das Institut ja noch nicht richtig besetzt, Herr Dr. Schewe macht seit der Wende den Direktor und ab diesem Semester gibt es auch wieder berufene Neuprofessoren, natürlich aus den Altländern! ) ein Zola-Kolloquium am 7. und 8. gemacht. Und da musste ich den Einführungsvortrag halten. Viel Arbeit, aber es hat mir auch sehr gut getan, denn es war alles für mich sehr ehrenvoll (ich hatte doch am 13. Juni dieses Jahres meinen 75. Geburtstag! ), es gab viel Lob für den Vortrag und auch sonst. Nun bleibt die Nachbereitung und das kostet noch einmal Zeit, aber es macht auch Spaß, denn ich bin ja die letzten Jahre doch ganz schön aus der Bahn gekommen.“ 50 Die Schwierigkeiten, die sie mit einem Teil ihrer Schüler-Kollegen aus dem Osten offenbar, zumindest zeitweilig, hatte, werden im Interview 1997/ 98 an‐ gedeutet. Auf eine entsprechende Frage ringt sie um eine Antwort, die sie dann jedoch nicht geben möchte. Wenn in ihren Briefen von Isolation die Rede ist, bezieht sie dies in erster Linie auf die Romanistik an der HU. Zur Einordnung dieser Wahrnehmung muss man wissen, dass Rita Schober zwar bereits 1978 emeritiert wurde, dass sie aber mit der Universitätsleitung bis 1989 einen Vertrag unterhalten hatte, der ihr zahlreiche Aktivitäten in Lehre und Forschung zuge‐ stand. Aus dem Nachlass ist ersichtlich, dass Rita Schober über alle wichtigen Vorgänge am Institut informiert war. Ihre Schüler-Kollegen legten ihr Konzep‐ tionen und Berichte vor und so mancher hat ihr Recherchedienste für ihre Vor‐ träge und Publikationen geleistet. Über die Partei blieb sie ohnehin noch eng mit dem Institut verbunden. 1989/ 90 bildete insofern auch für die emeritierte Professorin Rita Schober institutionell einen tiefen Einschnitt. Am 2.5.1992 schreibt sie an Friedrich Wolfzettel: „Und schlimm ist natürlich auch die Isolation. Denn an der Universität herrscht ja nur Unklarheit. Die alten Kollegen sind ei‐ gentlich alle nur provisorisch angestellt. Und auch nur mit vergleichbarer Weise lächerlichen Gehältern. Sie werden es ja von Dr. Schewe wissen. Er leitet de facto das Institut und ärgert sich tot. Aber ernannt als Direktor ist er nicht. Das Sagen haben Leute wie Herr (…), der seit 20 Jahren promoviert und noch immer nicht fertig ist. Und im allgemeinen kann man nur staunen, wer jetzt so alles seine schon immer vorhandene „Dissidentenhaltung“ entdeckt und wie die Leute, die alle Vor‐ 236 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="237"?> 51 Ebenda 52 Ebenda 53 Dies berichtete Francis Cloudon im Mai 2018 in einem Gespräch mit der Herausgeberin. 54 Die Schreibweise des Namens Houellebecq wurde von der Herausgeberin im gesamten Text korrigiert teile der mit Sozialleistungen ja wirklich wohl versehenen DDR hervorragend ge‐ nutzt haben, im Nachhinein gelitten haben. Ich spreche nicht von den wirklichen Regierungsgegnern, die dafür bitter bezahlt haben. Denen gilt mein Respekt, so wie den früheren Gegnern der Vergangenheit. Ich spreche von den eifrigen „Trittbrett‐ fahrern“ und Wendehälsen. Und derer gibt es auch in der Romanistik genug.“ An Gertraude schreibt sie: „Die alten Kontakte sind durch die Veränderungen doch sehr geschmälert. Und, wie gesagt, unser Institut lebt ja eigentlich nicht mehr so recht. Die Gesamtsituation an den Universitäten war doch sehr schwierig. Allmäh‐ lich renkt es sich ein… die Akademie, das heißt die alte, ist liquidiert, aber wir haben eine Leibniz-Gesellschaft gegründet und sehen uns monatlich einmal zu einem wissenschaftlichen Vortrag.“ 51 Rita Schober hat Erfahrung mit derartigen „Neuanfängen“ - wie sie selbst in dieser Zeit in einem Brief vom 27.3.1990 an ihre Münchner Kollegin Ilse Nol‐ ting-Hauff beklagt: „Das Schlimmste ist, dass dies für mich nun schon das dritte Mal ist, dass wir ganz von vorn anfangen müssen. Ich komme doch aus der Tsche‐ choslovakei. …Es war wirklich, als ob die Welt zusammenbricht. (…)“ 52 Rita Schober thematisiert den Verlust ihres gesellschaftlichen Status, der sich für sie mit dem Untergehen der DDR verbindet. Die Absage von Verlagen oder die Tatsache, dass sie nicht zum Kreis der Eingeladenen anlässlich des 200. Gründungsjubiläum der Humboldt-Universität gehörte, die Unmöglichkeit, die von ihr mitgegründete Zeitschrift „Beiträge zur Romanischen Philologie“ am Leben zu erhalten, all dies und mehr schmerzte. Auch ihre Verbindungen zu französischen Kollegen veränderten sich. Vor allem spürte sie nachhaltig, dass sich nach dem Ende der DDR das Interesse an der Forschung aus der DDR schnell verminderte. Als Rita Schober 1997 im Heinrich-Heine-Haus in Paris mit einem Vortrag zu Victor Klemperer auftrat, blieb ihr der Erfolg versagt. Sie beschloss noch vor Ort, dass dies ihr letzter Besuch in Paris sein sollte. 53 Doch zu Hause schaffte sie es, sich aus diesem Tief erneut herauszuarbeiten, auch wenn selbst hier nicht alle Vorstöße ein positives Echo fanden wie z. B. ihre Anfrage vom 7.11.1999 an die FAZ und Marcel Reich-Ranitzky, in der Fernsehsendung „Das Literarische Quartett“ zu Houellebecq aufzutreten. In devotem Ton schreibt sie an den „Literaturpapst“: „Sehr geehrter Herr Reich-Ranitzky, seit Sie den ersten Houellebecq  54 - Roman „Extension du domaine de la lutte“ im Quartett besprochen haben, wollte ich Ihnen 237 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="238"?> schreiben, denn Ihren Ausführungen entnahm ich, dass Sie auch die Particules élé‐ mentaires zu diesem Zeitpunkt schon in Französisch gelesen hatten und freute mich, meine eigene Einschätzung durch Ihre Worte bestätigt zu finden. Würden Sie es als plumpe Zudringlichkeit betrachten, wenn ich mir die Frage erlaube, ob Sie für die Präsentierung des Buches - es ist inzwischen ja deutsch erschienen und Houellebecq hat eine medienbegleitete Lesetournee durch Deutschland absolviert, während der ich ihn in Berlin auch gehört habe - den freien Mitstreiter für Das Quartett schon gefunden haben? Ich kenne natürlich alle Publikationen dieses Au‐ tors, einschließlich der Lyrik, sowie die französischen Auseinandersetzungen um ihn und glaube, ihn auch entsprechend in die französische Literatur einordnen zu können. Sie erinnern sich vielleicht, daß ich Ihnen nach einer Begegnung zur Er‐ öffnung des neuen Verlagshauses von Aufbau mit einer Germinalstelle aushelfen durfte. Würden Sie in der gleichen Sendung mit Houellebecq auch die Klem‐ perer-Tagebücher 45-59 behandeln, könnte ich vielleicht als ehemalige Habilitandin Klemperers und Nachfolgerin auf dem romanistischen Lehrstuhl der HU und in Kenntnis all seiner Tagebücher nützlich sein. Sehr geehrter Herr Reich-Ranitzky, ich habe in meinem Leben an vielen europäischen Universitäten Gastvorträge ge‐ halten, aber ich habe nie selbst darum nachgesucht und ich fühle mich in der Rolle dieses Briefes wirklich nicht wohl. Aber schließlich können Sie ja nicht wissen, daß da irgendwo eine ehemalige Lehrstuhlinhaberin für französische Literatur an der Humboldt-Universität sich entgegen allen akademischen Gepflogenheiten gründ‐ lich mit dem derzeitigen Erfolgs- und Skandalautor Houellebecq beschäftigt hat. Meine Vita finden Sie in Kürschners Gelehrtenkalender (…) Je vous prie de croire à mes sentiments respectueux. Rita Schober." Der Brief blieb unbeantwortet und das Medium Fernsehen interessierte sich nicht für Rita Schober. Für sie wäre ein Auftritt im Fernsehen die Fortschreibung einer Normalität gewesen, schließlich war sie über viele Jahre Gast in der be‐ kannten DDR-Fernsehsendung „Das Professorenkollegium tagt”. Diese Sendung hatte damals Rita Schober in der DDR-Öffentlichkeit, weit über die Fachkreise der Romanistik hinaus, bekannt gemacht. Als Schülerin von Victor Klemperer war sie jedoch auch in den 1990er Jahren weiterhin Gast bei verschiedenen Rundfunksendern. Auch für Zeitungsinterviews und kleinere Berichte blieb sie gefragt, auch wenn dies in Umfang und Zahl nicht mit ihrer Präsenz in den DDR-Printmedien vergleichbar war. Insgesamt erwiesen sich die Beziehungen zu westdeutschen, französischen und österreichischen Kollegen meist als stabil und weiteten sich auch auf einige jüngere Kollegen aus, so dass sie im Interview 1997/ 98 mit Stolz in der Stimme von ihren „neuen“ Kontakten sprechen kann. Spätestens zu ihrem 85. Geburtstag 2003 waren fast alle, ehemalige Schüler-Kollegen, neue Kollegen und „ihr Nachfolger“ auf dem Lehrstuhl in der 238 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="239"?> 55 Ein Video dieser „Veranstaltung“ wurde allen Teilnehmern zugesandt Romanistik der HU, Helmut Pfeiffer, vereint, als Rita Schober diesen Geburtstag in ihrem Haus in Niederschönhausen zum Anlass nahm, um das Erscheinen ihres kurz zuvor erschienenen Sammelbandes „Auf dem Prüfstand“ rituell zu zelebrieren. Auch der immer wieder von Rita Schober zitierte französische Zola-Experte Henri Mitterand war angereist. Winfried Engler, der Autor des Vorwortes zu diesem Buch, trat mit einer Ansprache auf, bevor Hans-Otto Dill die Geschichte des romanischen Instituts vor 1989 erinnerte. 55 Zu ihrem 90. Ge‐ burtstag hielt Helmut Pfeiffer den Festvortrag anlässlich des Festaktes zu ihren Ehren an der Humboldt-Universität, ein Festakt, der auch in der Presse ein Echo fand. Als Kollege der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR und ehemaliger Schüler von Rita Schober hielt Wolfgang Klein die Laudatio. Dies und auch die in Teil I abgedruckten Interviews belegen, dass es Rita Schober gelungen war, auch diesen dritten Umbruch für sich mit Hilfe alter und neuer Netzwerke so zu bewältigen, dass ihr persönliche, fachliche und z. T. auch mediale Anerkennung zuteil wurde. 2.2.3 Umbruch: Rückblicke auf die DDR im Kontext des Vereinigungsprozesses Rita Schober wandte sich in der Zeit des Umbruchs in mehreren Briefen insbe‐ sondere an französische Kollegen, die sie in jenen Jahren wie auch zuvor in der DDR mehrfach getroffen hatte, mit denen sie freundschaftlich verbunden war. Auch ihre Rückblicke auf die DDR teilte sie ihnen mit, wie die folgenden Bei‐ spiele zeigen. „Nicht alles in diesem Lande war schlecht, wie es jetzt hingestellt wird. Es gab eine soziale Sicherheit, die sicher sogar ins Gegenteil ausgeschlagen ist, in Trägheit und Desinteresse. Ich frage mich heute, wo die Mitte liegt. Und ich frage mich vor allem, ob eine sozialistische Wirtschaft unter den modernen Bedingungen über‐ haupt machbar ist. Bedürfte sie nicht eines Menschentyps, den es gar nicht geben kann? Viele Fragen. Dass aber die Grundaussagen über das „marktwirtschaftliche“ Wirtschaftssystem stimmen, das zeigt jeder Tag überdeutlich. In diesem Vereini‐ gungsprozess geht es nicht um Brüder und Schwestern, wie es immer so schön hieß, sondern um Profit und letztlich um ein unglaubliches Geschäft. Das Tor zum Osten ist für die deutsche Wirtschaft weit aufgestoßen, zumal abzusehen ist, wann die SU wirtschaftlich zusammenbricht. Ich frage mich, was dann aus dem politischen Gleichgewicht in Europa wird. Schon die Spannungen mit den baltischen Staaten sind äußerst beunruhigend und ich bin diesmal auch nicht mit der Haltung von Gorbatschow einverstanden. Man kann sie nicht zwingen, in dem Verband zu 239 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="240"?> 56 Aus dem bereits zitierten Brief an Francis Cloudon vom 8.5.1990. HU UA, NL Schober, Karton Nr. 6 57 Brief v. 2.5.1992, HU UA, NL Schober, Karton Nr. 5 58 HU UA, NL Schober, Karton Nr. 7 bleiben. Aber wahrscheinlich kann er aufgrund der inneren Widerstände von den stalinistischen Kräften in seiner Partei nicht so wie er will oder man befürchtet, dass das Herausbrechen eines Teils der Anfang von einem nicht mehr aufzuhal‐ tenden Auflösungsprozess ist. Ich muss sagen, diese Entwicklung macht mir fast noch mehr Sorgen als das Geschehen in unserem Lande, auch wenn es mit den rechtsradikalen Tendenzen vor allem unter Jugendlichen, selbst wenn sie noch nicht die Überzahl darstellen, eben‐ falls beängstigende Erscheinungen gibt.“ 56 und etwas später 1992: „Wir hatten ein soziales Netz, das unsere ökonomischen Möglichkeiten überstieg und wofür die geistige Haltung der Menschen keineswegs ausreichte. Es wurde nur ausgenutzt. Und die Kopplung mit einem politischen System, das anachronistische Züge feudalabsolutistischer Formen hatte und von einem das Land wie eine Krake überziehenden Sicherheitsapparat abhing, war auch nicht die Lösung. Ohne wirk‐ liche demokratische Mitwirkung der Menschen und die Beachtung der grundsätz‐ lichen Freiheiten und der Würde des Einzelnen sind ein lebendiges Leben und eine sinnvolle Entwicklung nicht möglich. Trotzdem: soziale Sicherheit und Recht auf Arbeit sind auch Grundwerte ohne die das Leben ebenfalls nicht lebenswert ist. Sie sehen, ich quäle mich mit den Fragen des warum, woher und wohin.“ 57 Es wird deutlich, dass Rita Schober in ihren Rückblicken auf die DDR ambi‐ valente Bewertungen vornimmt. Insofern sind die meisten der Briefe eher ab‐ gewogen in den Argumenten und enthalten ein für und wider die DDR und den Vereinigungsprozess. Ein Brief fällt allerdings aus diesem Muster heraus, wenn sie am 27.5.1993 an René-Marc Pille schreibt: „Die Dinge bei uns nehmen ihren konsequenten Fortgang. Noch nie ist wohl eine Kolonie und ihre Bevölkerung mit soviel Konsequenz und so systematisch ihrer „vorkolonialen“ Identität beraubt und niedergemacht worden. Die Treuhand, die ein ganzes Land mit Grund und Boden und allen Betrieben verkauft, macht Milli‐ arden Schulden. Wie das zustande kommt, wissen sicher nur die Insider. Die Intel‐ ligenz wird weiter ausgegrenzt, die Akademie ist nun endgültig beseitigt und durch eine neue ersetzt worden. (…) Die vorhandenen Werte, sofern sie irgendwie an die alte DDR erinnern könnten, werden systematisch zerstört.“ 58 Die unterschiedlichen Bewertungen des Vereinigungsprozesses spiegeln Ein‐ schätzungen, die sicher auch mit verschiedenen Stimmungen und Erlebnissen der Schreiberin verbunden waren. Es ist schwierig, diese Bewertungen auf einen 240 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="241"?> Punkt zu bringen und damit Rita Schober auf eine Meinung oder Überzeugung in dieser Frage festzulegen. 2.2.4 Umbruch: Ursachen und Ideale Am 29. Oktober 1989, also kurz nach dem oben beschrieben Festakt zum 40. Jahrestag der DDR, wandte sich Rita Schober als Mitglied des PEN-Zentrums der DDR an dessen Generalsekretär Walter Kaufmann mit folgendem Schreiben: „Lieber Walter Kaufmann! Da ich an der Präsidiumssitzung am 26. Oktober wegen eines grippalen Infekts und zeitlicher Überlappung dieser Sitzung mit einer Kreisparteiaktivtagung der HU nicht teilnehmen konnte und bei der ad-hoc-Konfrontation nachts um halb elf Uhr mit der beschlossenen Erklärung der Präsidiumsmitglieder mich nicht in der Lage sah, diese Erklärung ohne mögliche Mitgestaltung am Text zu unterschreiben, lege ich, um meine Haltung in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen in unserer Gesellschaft darzutun, Wert darauf, folgendes festzustellen: Ich trete für alles ein, was darauf gerichtet ist, den Sozialismus in unserem Lande so umzugestalten, daß er den Idealen einer wahrhaft humanistischen Gesell‐ schaftsordnung auf rechtsstaatlicher und wahrhaft demokratischer Grundlage ent‐ spricht und jeglicher Missbrauch der Macht, ganz gleich in welcher Form und auf welcher Ebene auch immer er geschieht, für die Zukunft ausgeschlossen ist. Ich bin solidarisch mit allen Protesten, die sich gegen Übergriffe seitens der Si‐ cherheitsorgane wenden, wie sie in der Erklärung der Präsidiumsmitglieder be‐ nannt werden und mit der Forderung nach deren rückhaltloser öffentlicher Auf‐ klärung und der Zur-Verantwortung-Ziehung der Schuldigen und dafür Verantwortlichen. Obsta principiis! Aber ich bin für eine ebenso energische Dis‐ tanzierung von jenen gewaltsamen Provokateuren, die Gut und Leben gefährden und friedliche Demonstranten in Misskredit bringen und die Forderung nach ihrer angemessenen Bestrafung. Die Stunde bedarf revolutionärer Besonnenheit auf allen Seiten. Ich halte es für meine Pflicht, im Rahmen meiner Wirkungsmöglichkeiten, vor allem aber innerhalb der Partei, der ich angehöre, alles zu tun, damit die eingeleitete Wende unumkehrbar wird. Dazu bedarf es einer gründlichen Analyse des Ist-Zu‐ standes, einer rücksichtslosen Aufdeckung der Ursachen, die zu der derzeitigen in‐ nenpolitischen Krise geführt haben, wissenschaftlich begründeter gesellschaftlicher Alternativkonzepte, aus denen in einem öffentlichen Dialog der beste Lösungsvor‐ schlag für einen den heutigen modernen Erfordernissen entsprechenden Sozia‐ lismus in unserem Lande gefunden werden muß. 241 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="242"?> 59 Neues Deutschland v. 22.9.1989, S. 1 60 HU UA, NL Schober, Karton Nr. 6 Das Ziel muß sein, ein solches Klima demokratischer Öffentlichkeit zu schaffen, daß sich die Menschen wieder wohl fühlen, Vertrauen wieder hergestellt wird und das in langen Jahren harter Arbeit Gewonnene bewahrt bleibt. Dazu gehört nicht zuletzt jenes Wertvolle, das wir in unserer Erklärung des PEN zum 40. Jahrestag der DDR als positiv herausgestellt haben. Ich bitte, diese meine Erklärung den Präsidiumsmitgliedern zur Kenntnis zu bringen und sie ADN zur Verfügung zu stellen. Ich behalte mir im Falle ihrer Nicht-Veröffentlichung vor, sie auf der nächsten Vollversammlung des PEN zu ver‐ lesen, deren baldige Einberufung ich wegen der durch die Geschäftssistierung un‐ seres Präsidenten entstandenen Lage für dringend notwendig erachte. Unterschrift Rita Schober." Rita Schober gehörte - und dies verwundert nicht - zu jenen Teilen der DDR-Eliten, die an eine Reform des Sozialismus glaubten und damit ihr Le‐ bensideal und ihr Lebenswerk bewahren wollten. In der zitierten Erklärung des P.E.N.-Zentrums DDR, die anlässlich des 40. Jahrestages der DDR im Zentralorgan der SED, Neues Deutschland am 22. Sep‐ tember 1989 veröffentlich worden war und sich an Erich Honecker als Vorsit‐ zenden des Staatsrates richtete, hieß es: „Die Richtlinien des internationalen P.E.N. verlangen von uns die Friedens‐ pflicht der Staaten anzumahnen, sich gegen rassistische Vorurteile zu wenden, nationalen Größenwahn zurückzuweisen und die Freiheit des Wortes zu ver‐ teidigen. Wir haben die Deutsche Demokratische Republik immer als einen Ort angesehen, an dem sich unsere Grundsätze verwirklichen lassen.“ Unterzeichner waren die Mitglieder des Präsidiums des P.E.N.-Zentrums DDR, darunter Rita Schober.“ 59 Als im Mai 1990 das Ende der DDR bevorstand, schreibt sie an Francis Cloudon: „Sie werden verstehen, dass für mich das Schlimmste der Verlust meiner Ideale geworden ist. Ich habe doch geglaubt, dass eine sozial gerechtere Gesellschaft, eine humane Gesellschaft, in der nicht die einen Milliarden besitzen und die an‐ deren nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben, möglich oder zumindest er‐ strebenswert ist. Und sicher haben Menschen wie ich um dieses Ideals willen und einer zumindest seit den 70er Jahren auf Friedenserhaltung gerichteten Außenpo‐ litik ihre kritische Stimme öffentlich zurückgehalten, um das Ganze und die Zu‐ kunft nicht zu gefährden.“ 60 242 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="243"?> 61 Brief aus dem nicht archivierten Nachlass Die Verlust-Empfindungen verbanden sich jedoch schnell mit Fragen nach den Ursachen des Scheiterns des sozialistischen Experiments. Zu den wenigen Briefen, die im Nachlass zu finden sind, die sich an ostdeutsche Mitstreiter richten, gehört ein Brief an Konrad Naumann, den 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Berlin, der von 1976 bis 1985 auch Politbüromitglied des ZK der SED war, dem sie in einem Dankesbrief für Glückwünsche zum Geburtstag am 31.7.1990 vertrauensvoll schreibt: „Lieber Conny, (…) du hast tausendmal recht, in den Sozialismus kann man nur einsteigen, aber nicht mit Anstand aus ihm aus‐ steigen und ich frage mich jetzt oft, ist er machbar? Waren nur die subjektiven und objektiven Fehler schuld an seinem Scheitern? Aber die Idee sozialer Gerechtigkeit kann doch nicht falsch sein. Sie ist so alt, wie das Streben der Menschen nach Glück und erfülltem Leben. Und die Unfreiheit materieller Demütigung ist auch nicht besser als die politische Entmündigung. Ich habe meine ganze Jugend in Angst vor dem Arbeitsloswerden meines Vaters verbracht und vom 14. Lebensjahr an mein Studium selbst verdient. Ich sehe nicht so recht, wie die Verhältnisse, die meine ganze Jugend vergiftet haben, nun die ideale Lösung gesellschaftlichen Zusam‐ menlebens sein sollen.“ 61 Rita Schober bezieht die Frage nach den Ursachen für den Untergang der DDR auch auf ihre eigene Rolle in diesem Staat. Vom November 1989 ist eine hand‐ schriftliche Vorbereitung auf eine Parteiversammlung der Grundorganisation (GO) der SED überliefert, in der Rita Schober ihre Haltungen und Überzeu‐ gungen kritisch bilanziert. Diese Notizen hatte sie - so liegt es nahe - dazu genutzt, um kurz nach dem Mauerfall in ihrer Parteigruppe eine erste bilanzierende Kritik, die auch Selbst‐ befragungen und -kritik einschloss, vorzutragen. Der Grundtenor ist dabei zunächst das Eingeständnis, dass sie seit 1946 stets die Parteilinie vertreten habe, wobei sie dafür drei Gründe anführt: 1. Aus ide‐ ologischer Überzeugung, da sie von der Richtigkeit der marxistischen Gesell‐ schaftstheorie überzeugt war 2. Sie stimmte in zwei Aspekten grundlegend mit der praktischen Politik der SED überein: mit der Friedens- und Dialogpolitik und mit der Sozialpolitik 3. Sie folgte dem Gebot der Parteidisziplin, wobei der Zusatz vermerkt ist, in den letzten Jahren aus falsch verstandener Parteidisziplin. In diesem handschriftlich übermittelten Papier geht ihre Selbstkritik Hand in Hand mit einer historischen Ursachenforschung, die Elemente für das Scheitern des Sozialismus in der DDR ermitteln soll. Im November 1989 sieht sie diese vor allem in der Übernahme sowjetischer Modelle, vor allem der zentralistischen 243 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="244"?> bürokratischen Apparate. Sie bezeichnet diese Übernahme als „Verhängnis“ wie auch das „Abwürgen“ der Vorschläge von Anton Ackerman für einen eigenen Weg zum Sozialismus in der DDR. Im Interview von 1995, das einen Gesprächscharakter hat, wird ersichtlich, dass sie überhaupt den Beginn des Sozialismus in der Sowjetunion als einem nichtentwickelten Land, als tiefere Ursache für das praktische Scheitern der Marxschen Vorstellungen ansieht: „Frage: Warum war das System nicht reformfähig? Und das lag nicht nur an diesem Politbüro oder an den schlechten ökonomischen Verhältnissen, nein, sondern es gibt tiefe Wurzeln Rita Schober: Ja, für mich liegt die Wurzel viel früher, das sag ich Ihnen ganz ehrlich. Für mich hat es falsch angefangen. Es konnte nicht eine sozialistische Re‐ volution zunächst einmal in dem rückständigsten Land Europas beginnen mit allen daraus entscheidenden Konsequenzen. Im Grunde hatte sich ein Sozialismus ja nie auf der eigenen Basis entwickelt. Zwischenruf: Dennoch hat es ja seine Bewandtnis, dass es gerade in China und Russland losgebrochen ist. Rita Schober: Na sicher, aber der Ausgangspunkt ist für meine Begriffe trotzdem falsch. Die Marxsche Theorie, das wissen wir doch alle, die wir hier sitzen, war ja jedoch eine andere und die ist ja daneben gegangen. Also, die hat nicht funktioniert, es hat ja nicht geklappt. Deutschland hat ja eben die anderen Industriestaaten nicht mitgezogen, also für mich liegt der Anfang dort.“ In der DDR-Entwicklung sieht Rita Schober zwei verschiedene Perioden, wobei die erste mit einem antifaschistisch-demokratischen Aufschwung verbunden gewesen sei, der sich in der zweiten Hälfte der 40er und in den 50er Jahren vollzogen hätte. In den 70er Jahren hingegen wäre die außenpolitische Dialog‐ politik in Widerspruch zu einem „wachsenden ideologischen Rückzug“ im Innern geraten. Es ist die einzige Stelle, an der Rita Schober vom Mauerbau spricht und ihn als „Katastrophe“ bezeichnet, die mit vielen „menschlichen Problemen“ ver‐ bunden gewesen sei. Aber welchen Anteil hat die sozialistische Intelligenz am Zusammenbruch der DDR? Mit dieser Frage wird Rita Schober in dem Interview mit den Kultur‐ wissenschaftlern der HU konfrontiert: „Frage: Die Intelligenz, sofern sie an der Humboldt-Universität beschäftigt war, hat in all diesen Jahren ja ungeheuerlich viel geschluckt. Vielleicht inwendig räsoniert, das mag sein. Das muss sehr inwendig gewesen sein, weil sehr wenig 244 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="245"?> nach außen kam. Das ist eigentlich die Frage, dass eben die Intelligenz so dis‐ zipliniert eingebunden war in die DDR. Nicht eingebunden, eingebunden kann auch sehr positiv sein. So diszipliniert, zu resigniert, zu gläubig. Zu produktiven Reaktionen eigentlich, als sie merkten, das System geht den Bach runter, nicht mehr in der Lage war. Ich wollte das mit Blick auf mein eigenes Leben auch feststellen. (…) Rita Schober: Darf ich darauf gleich antworten? (…) Aber in den großen Fragen der Gesellschaftsgestaltung oder der Alternative. Ja also, da können Sie mir, da akzeptiere ich jede Form des Vorwurfes. Ich habe mir gedacht, na, diese Gespräche - ganz ehrlich - mit der SPD werden es schon einigermaßen in eine erträgliche Form bringen (…) Naja, vielleicht habe ich mehr eine Position zur SPD gehabt, auch mein Vater. Also, ich habe mich auch nie selbst als Kommunist bezeichnet. Die letzten Jahre wurde das doch immer dieses Wort wie so eine Fahne: "Wir Kommu‐ nisten". Zwischenruf: Mit kommunistischem Gruß. Rita Schober: Ja, ich habe das nie gesagt. Weil, ich fand das ehrlich gesagt, auch einen unglaublichen Anspruch, also der Mensch hatte nun mal eben so innere Hemmungen in manchen Dingen, und ich fand das Wort auch einen riesigen An‐ spruch. Und ich hab es nie für mich verwendet (…). Frage: Zu dem, mich interessiert folgendes: Du hast davon gesprochen, Du fühltest Dich politisch nicht kompetent genug um mitzumischen. (…) ich habe also auch 89 mit 55 Jahren schmerzlich festgestellt, dass ich falsch sozialisiert bin. Ich habe drei Gesellschaftsordnungen mitgemacht, aber für die bin ich nicht ausgebildet worden: Faschismus, dann Sowjetische Besatzungszone und dann also realer Sozialismus. Aber nun kommt noch eins hinzu, das würde ich für mich in Anspruch nehmen, wenn es um solche Erklärungen geht, und das möchte ich weitergeben. Es war - gerade, weil wir ja eine gemeinsame Erfah‐ rung hier an der Universität haben, es war für mich immer ganz furchtbar zu erleben, wie Leute, die ich außerordentlich schätzte und die ich kannte, die das Maul aufgemacht haben, und die also versucht haben, irgendwie in das politi‐ sche Geschehen einzugreifen. Wie die zunichte gemacht worden sind. Also, wir brauchen uns die Namen nur zuzurufen, nicht, das geht also mit Havemann los, da für mich, naja, das war dann meine Generation, die das eindrucksvoll erfahren hat. Dann ganz schmerzlich Heise, Wolfgang Heise, in den 60er Jahren, dann geht das weiter mit Biermann, der uns mal nahestand, also meiner Generation, der ja bei uns studiert hat. Dann kommt der Bahro, und da haben wir gewisser‐ 245 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="246"?> maßen, also das ist so eine Erfahrung meiner Generation, da haben wir unsere Lektion gelernt. Ich habe jetzt mal etwas Schlimmes gelesen: Wenn Affen sich nicht dressieren ließen. Ja, da hat man vor ihren Augen Hunde tot gequält und am nächsten Tag ließen sie sich dressieren. Und diese Erfahrung, und also ich möchte auch sagen, dieser Begriff des Totalitarismus. Nein, nein, da ist etwas ganz Ernstes dahinter, also dieses Vorexerzieren, gerade mit Havemann, mit Hager, der kommt und sagt: ‚Wir sagen wir diskutieren weiter.’ Am nächsten Tag, die nächste Kreisdelegiertenkonferenz und es ist dieser unsägliche Paul Verner, der kommt zu uns sagt: ‚Schluss mit dieser Diskussion’ und dann ist es aus. Und das da oben - die sich durchsetzen - und dann ist es aus. Also, das zu erleben und dann gehts also mit dem näheren Familienkreis, dann macht man die Erfahrung, dann ist man irgendwann resigniert. Also, dieses Moment der Resignation und dann die kleine Erfahrung der Hoffnung. Also, ich weiß nicht, wenn dann in der Tschechoslowakei etwas passiert, wenn dann der Gorbat‐ schow kommt, wenn dann also dieses Gespräch hier SPD/ SED kommt. Dann also diese unstillbare Ordnung, der Hunger, die Hoffnung, die sich immer Nah‐ rung sucht irgendwo, wieder festmacht. Also das würde ich für meine Genera‐ tion noch mit zusetzen zu diesem Mangel an Kompetenz. Ich weiß nicht, wie Du das siehst. Rita Schober: Ich muss sagen, ich sehe das ganz ähnlich, aber ich unterstreiche noch dieses schreckliche Bild von den Affen und den Hunden. Ich hätte nicht mehr weiterleben können, wenn ich hätte so Selbstkritik machen müssen, wie ich es manchmal erlebt habe. Ich fand das ist so schlimm, ich, ich hätte es nicht gekonnt. Du kannst sagen, ich habe da versucht, zu lavieren und durchzukommen, nicht in eine solche Situation zu geraten. Ich hätte es nicht ausgehalten. Ich bin, ich muss wieder von der Kindheit anfangen, das prägt ja einen Menschen. Wenn meine Mutter mir böse war, ich bin früh, obwohl ich immer pünktlich in der Schule war - ich, ich war ja eine brave Schülerin - ich konnte nicht gehen, wenn sie mir nicht gesagt hat, ich bin wieder gut mit dir. Ich kann mich erinnern an die Gespräche mit, wie heißt der Germanist, der die Theatergeschichten gebracht hat? (…) Der hat ja so viel Ärger gehabt, ich habe ein paar mal mich mit ihm unterhalten und auch versucht, ihm in unserem Rahmen ein bisschen die Stange zu halten und gewis‐ sermaßen wieder aufzubauen. Wenn er erzählt über die Art gewissermaßen dieser Verhöre - ich kann es nicht anders nennen - also das kam mir immer wie Inquisition vor. Und ich hätte wahrscheinlich mit einer Inquisition nicht leben können. Ich wäre auch eingegangen, ganz sicher, wenn ich hätte einen Arbeitsdienst machen müssen, weil ich auch diese Art der Dominanz hätte wieder nicht ertragen können. Also, das wäre daneben gegangen, und ich habe einfach Angst gehabt vor einer solchen Konfrontation, ich sage es ganz ehrlich, ich hätte es nicht durchgestanden. 246 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="247"?> Frage: Ja, wenn ich dazu noch eine Frage stellen kann. Klaus Boje sprach von gläubigen Menschen. Liegt vielleicht etwas anderes vor, was zwangsweise dazu gehört, da eigentlich in jeder Zivilgemeinschaft Disziplin der Beteiligten Vor‐ aussetzung dafür ist, dass das Ganze funktioniert. So dass eine grundsätzliche Kritik innerhalb dieser Zivilgemeinschaft gar nicht möglich ist, sondern nur das Verlassen dieser Gemeinschaft? Oder also Neudefinition von Zielen hat ja nur zu bestimmten Zeiten stattgefunden. Und darüber mit (…) Harich, Stickel (…), da ging es ja um Zielbestimmungen für eine Gesellschaft, die dann ihren Lauf nahm und in diesem Lauf überhaupt gar nicht zu ändern war. Also, ich hab das Empfinden, es war gar nicht zu ändern. Könnte es sein, dass diese selbstver‐ ständliche Disziplin in einer solchen Zivilgemeinschaft unser Handeln bestimmt hat? Rita Schober: Na sicher doch - wir waren - sicher hat sie das bestimmt. Aber ich will da auch diesen Begriff der Gläubigkeit nicht ganz ausschalten. Das ist es sicher, denn ich meine, jede Orientierung auf eine mehr oder weniger utopische, nicht heute realisierbare, in ihren Endzielen, Zielsetzung hat natürlich, oder setzt voraus das Festbinden daran, eine gewisse gläubige Haltung, das glaube ich schon. Und je schlechter es wurde, sag ich jetzt mal, um so mehr wuchs natürlich dieses Sich-Fest‐ halten wahrscheinlich an diesen Gläubigkeitserinnerungen, nehme ich an (…) Also, ich habe vorhin gesagt, dass ich zur Zeit mich gerade mit dem II. Kaiser‐ reich sehr intensiv beschäftigte. Da kommt ja zum Schluss auch die Frage, warum der Napoleon von 67 an, gewisse Liberalisierungsinitiativen selbst ergreift. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, in den Erklärungen, die da in den Büchern, die ich gelesen habe, gegeben werden, haben mich nicht befriedigt. Ich glaube, der Hauptgrund ist folgender und der trifft dann eben auch auf die DDR zu: Man kann nicht auf die Dauer ein ganzes Volk gewissermaßen von der Initiative an den politischen Ent‐ scheidungen ausschalten, an den Entscheidungen überhaupt ausschalten. Ich habe mehrfach mit dieser Frage in diesem Zusammenhang mich beschäftigt und ich glaube, das ist auch ein Hauptgrund mit gewesen. Letztendlich waren wir von den politischen Entscheidungen mehr oder weniger doch vollkommen ausgeschaltet. Und man kann nicht die individuelle Initiative so behindern, irgendwann, nach einer bestimmten Zeit von Jahren funktioniert dieses System nicht mehr. Bei Na‐ poleon hat es nicht mal ganz 20 Jahre gedauert, also noch weniger. Aber diese Erkenntnis, dass es Freiräume geben musste und diese Erkenntnis, dass gewisser‐ maßen Eigeninitiativen überhaupt in den Weg geleitet werden müssen, das ist ja bei unseren "Obersten“ (nicht deutlich leserlich D. R.) seinerseits glaube ich, nie richtig angekommen. Ich glaube, diese Erkenntnis haben sie nie gehabt, im Ge‐ genteil. Die konnten sie wahrscheinlich auch gar nicht haben. Das hat ja doch diese Verdrossenheit und dieses - es war doch so - also, da hat, das geschieht meiner 247 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="248"?> 62 Interview 1995 Mutter ganz recht, wenn ich mir die Finger erfriere, warum kauft sie mir keine warmen Handschuhe? Dies war letztlich die Haltung eines ganzen Volkes in einem Staat, wo alles bis hinunter zur Klofrau auf dem Alex eben gewissermaßen eine Staatsrepräsentation war. Und wenn das dort nicht klappte, da klappte eben auch der Staat nicht. Das ist nämlich die umgekehrte Seite, das jeder kleinste Fehler, der individuelles Versagen war, selbstverständlich sich ummünzte in ein Versagen des Gesamtsystems. Das ist die andere, die Kehrseite einer solchen Art des Umganges mit unten. Ich sag es jetzt mal so.“ 62 Es gibt kaum eine andere Selbstaussage Rita Schobers, in der ihr Denken in Hierarchien so deutlich zum Ausdruck kommt wie hier. Außerdem weicht sie Fragen nach Systemfehlern mitunter aus, indem sie in ihren Argumenten auf eine persönliche Ebene oder auf die der Gruppe der Parteiführung übergeht. Ihre eigene Haltung sieht Rita Schober vor allem in Bezug auf die letzten vier Jahre der DDR, seit der Perestroika-Ära in der Sowjetunion kritisch: In der Notiz zur Parteiversammlung im November 1989 heißt es wörtlich: „ICH: Diskrepanz, was ich dachte, empfand gegenüber dem äußeren Anschein, der weiter aufrecht erhaltenen blieb.“ In großen roten Lettern folgt: „MEINE FEHLER: SCHWEIGEN gegenüber der Kreisleitung - falsch verstandene Parteidisziplin, fehlender Mut.“ Sie kommentiert diesen Satz, der sich auf ihre Arbeit in der übergeord‐ neten Parteileitungshierarchie, der Kreisleitung auf Universitätsebene bezieht, so, dass sie es für zwecklos hielt, dort Kritik zu üben, denn dort waren die Sit‐ zungsabläufe streng reglementiert und alle Redner stets vorher bestimmt. In roter Schrift folgt dann aber, auch als Zeichen ihrer ‚Opposition’: „ (…) habe aber Jubelreden mehrfach abgelehnt.“ Eine solche Ablehnung sind die kleinen, kaum wahrgenommenen Widerstände, auf die Rita Schober 1989 gern verweist. Ebenso die Schamgefühle, die sie beschlichen haben und von denen sie nun berichtet, wenn die „führenden Genossen geschwiegen haben.“ Ihre Grundhaltung fasst sie - wiederum in roter Schrift hervorgehoben - als „Zuschauerhaltung“ zusammen. Aufschlussreich ist der folgende Satz, der etwas von ihrer Schweige-Motivation zu erkennen gibt: „Wer nichts sagt, kann nichts falsch ma‐ chen! Auch diese Haltung war falsch.“ Rita Schober wollte immer alles richtig machen! Als Maßstab galten ihr dabei stets diejenigen, die politisch und institutionell das Sagen hatten. Dabei verstand sie das in der DDR verbreitete Spiel, sich in verschiedenen wichtigen Netz‐ werken zu bewegen, die Nähe zu bestimmten einflussreichen Personen zu su‐ chen, damit auch diskursiv in Andeutungen umzugehen, und sich gegebenen‐ 248 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="249"?> falls genauso zurückzuziehen, wenn diese in „Ungnade“ gefallen waren. Im Grunde sind dies die gleichen Handlungsmuster, die Rita Schober bereits in ihrer Jugend angelernt hatte. Die Gesprächspartner, alles Kollegen von Rita Schober aus der DDR, insis‐ tieren im Interview 1995 jedoch weiter auf tieferliegenden Ursachen für das Scheitern der DDR. Dabei geht es ihnen vor allem um die Frage der Kompetenz in gesellschaftspolitischen Fragen, nicht allein bei einzelnen Individuen, son‐ dern insgesamt bei dem „Personal“, mit dem die DDR aufgebaut und entwickelt werden sollte: „Zwischenbemerkung: Ja. Vielleicht sollte man es sich bei der Analyse - ich sage es so provokatorisch - sich nicht so einfach machen: sozial zu delegieren auf den verknöcherten Apparat. Für mich war ein Schlüsselwort bei Ihrer Aus‐ führung: Ich fühlte, dass ich nicht genügend Kompetenz hatte, politische Kom‐ petenz, nicht? Möglicherweise auch an Hand Ihrer eigenen Biographie, wie emanzipiert, trotz Ihrer großen Entwicklung, waren Sie denn poli‐ tisch eigentlich? Konnten Sie auch politisch nur sein und das geht si‐ cherlich auch Hand in Hand mit der Inkompetenz des Systems, die ei‐ genen Probleme zu lösen. (Hervorhebung D.R.) Aber ich sehe, das wird keine Wasserscheide zwischen der sogenannten neuen Intelligenz im Sozialismus und den Führern dieser Leute im Politbüro. Ich sehe da gewisse Parallelen, die waren auch sehr fleißig, auch sehr ehrgeizig, sehr akribisch, haben versucht, auf den verschiedensten Gebieten ihre Arbeit mit hohem inneren Einsatz zu tun und dennoch ist es gescheitert. Also ich denke, vielleicht sollte man nochmals selbst‐ kritisch nachdenken, inwiefern auch Ihre Generation und auch die Leute, die am Mitschwimmen waren, die Grenzen hatten auf Grund der fehlenden bür‐ gerlichen Kultur letztlich. Rita Schober Da haben Sie sicherlich Recht. Zwischenbemerkung: Ja, und das finde ich interessant. Ich habe es auch immer erlebt als eigene tiefe Schwäche. Die Schwäche dieses Systems war meine eigene Schwäche auch. Und ich habe mal darüber nachgedacht, habe auch wie viele versucht, irgendwie mit meinem Arbeiten, meinem Denken, Fühlen daran rum‐ zudrehen, aber ich fühlte mich selbst so schwach, so inkompetent, einzugreifen letztlich, dass ich in dieser, also mir dieser Hilflosigkeit von 89 eine Alternative zu entwickeln, eigentlich schon lang, lang vorher innerlich bewusst war. Ich hab sie auch nicht gehabt. Obwohl ich sozusagen aus dieser Emigrantenfamilie kam, Remigrantenfamilie und natürlich auch diese starken Identifikationspunkte hatte, die Sie auch geschildert haben. Dennoch war da irgendwie auch - wie bei 249 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="250"?> meinen Eltern - letztlich eine unwahrscheinliche Inkompetenz, politisch sich als autonome Wesen in die Gesellschaft einzumischen mit ganz eigenen Stand‐ punkten, politische Strategien zu entwickeln sozusagen, wie ein Politiker in einer bürgerlichen Gesellschaft das kann. Rita Schober: Also, da würde ich Ihnen sicher zustimmen, das ist wahrscheinlich gar nicht zu vermeiden. Ich habe, wissen Sie, was in meiner Beurteilung stand auf jedem Lehrgang? Mangelndes Selbstbewusstsein. Und das habe ich viele Jahre ge‐ habt, und ich habe als junge Wissenschaftlerin an der Universität sehr schwere Kämpfe über Jahre gehabt, mit der ganzen Gruppe um Werner Krauss. Aus einem einfachen Grund, Krauss und Klemperer waren also nicht befreundet. Es war ei‐ gentlich eine Katastrophe. Beide Opfer des Nazismus, mit anderen Vorausset‐ zungen, aber das ist völlig unwichtig. Beide eigentlich hätten sie an einem Strang ziehen müssen. Aber Krauss sah in Klemperer eine andere Wissenschaftstradition, wie Lukács eine andere Theorie hatte und hielt es für ein Verhängnis, dass er über‐ haupt gewissermaßen nun wieder lehrte und dass diese falsche idealistische Wis‐ senschaftstradition nun eine junge Generation nun auch noch gewissermaßen ein‐ stimmte. Und nun war ich bei Klemperer, und dies war ganz schrecklich. Und ohne dieses fürchterliche Weib hätte der Klemperer, der sonst ziemlich hilflos war, viele Fragen in seiner Institutsverwaltung gar nicht regeln können. Und sein Zorn (d. h. der von Krauss) ergoss sich auf mich. Und jahrelang habe ich also unter diesem Trauma gelebt, um gewissermaßen die Anerkennung von Krauss zu gewinnen. Dass er mich dann 52 dafür vorgeschlagen hat, war eine ganz andere Frage. Er meinte, für eine Edition wird es schon reichen. Meine größte Auszeichnung war, als er mir 73 zu meinem Wertungsartikel, den ich damals veröffentlicht habe, einen Brief schrieb. Und das war eigentlich mehr für mich, als die Akademiezuwahl, denn, nur in diesem Artikel voll anerkannt usw. Also, sicher haben Sie insofern recht, aber ich komme auch aus einer Familie, wo mein Großvater sagt, als ich zur Ersten Kommunion ging: ‚Was, ein Seidenkleid, das schickt sich für uns nicht, wir sind arme Leute’. Also: Baumwollstrümpfe und Wollkleid. Das streift man natürlich nicht so schnell ab. Aber wissen Sie, ich habe dann doch in den späteren Jahren eigentlich eine ge‐ wisse Sicherheit gewonnen. Allerdings auch durch eine gewisse internationale An‐ erkennung und auch durch die Anerkennung von Krauss, das muss ich ganz ehrlich sagen. Das hat sich dann gegeben, aber damit ist noch lange nicht, das war dann wohl, wissenschaftlich war das erledigt. Einfach, seit der Dante-Konferenz war die Frage erledigt.“ Rita Schober geht auf die eigentlich gestellte Frage nach ihrer politischen Kom‐ petenz nicht wirklich ein, sondern „flüchtet“ sich in die wissenschaftliche Ebene. 250 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="251"?> 63 Frau Mohmann konnte sich in einem Telefonat mit der Herausgeberin nicht an eine solche Kommunikation mit Rita Schober erinnern. Auch wenn sie den Mitdiskutanten Recht gibt, sie umschifft die Frage und scheint ihr nicht gewachsen. In dem späteren Interview von 1996/ 97 erinnert sie jedoch genau diese Frage nach der sozialen Herkunft derjenigen, die in der DDR die Führungseliten bildeten und betont die Bedeutung des kleinbürgerli‐ chen Milieus. Aber auch hier folgen daraus keine Schlüsse im Sinne der Frage‐ stellung nach der gesellschaftspolitischen Kompetenz bzw. nach einem mögli‐ chen Systemfehler, der von den Fragestellern darin vermutet wurde, dass in der DDR auf professionelle, ausgebildete Politikwissenschaftler und Politiker in der DDR weitgehend verzichtet wurde und dass die marxistisch-leninistische Ideo‐ logie bzw. die Doxa, die als solche in der DDR verbreitet wurden, einen engen Rahmen für jede sachliche Arbeit gesetzt hatten. Das Interview, von den Kulturwissenschaftlern der HU 1995 initiiert, kon‐ frontierte Rita Schober also mit Fragen, die sie sich selbst so nie gestellt hätte. Ihre Antworten auf die spontan vorgetragenen Bemerkungen und Fragen sind insofern besonders aufschlussreich, als sie sich auf diese nicht vorbereiten konnte. Das Interview war deshalb eine wichtige Erfahrung, bei der das Ge‐ schehen von ihr gedeutet und sortiert wurde. Dass Rita Schober nicht alle vor‐ getragenen Deutungen beibehielt, belegen Bedenken, die sie Sylvia Mohrmann vom Institut für Kulturwissenschaft etwas später mitteilte, wie eine Telefonnotiz belegt. Sie lassen sich im Einzelnen nicht rekonstruieren. Allerdings liegt eine Abschrift des Interviews im Nachlass vor, auf der Rita Schober mit dem Datum Oktober 2007 einige Korrekturen anfügt, die allerdings keine wesentlichen in‐ haltlichen Modifikationen beinhalten. Worauf sich die Bedenken 1995 bezogen, bleibt insofern unklar. 63 Aus den überlieferten Materialien Rita Schobers geht, bei aller Reflexion und dem Versuch den Niedergang der DDR und des Sozialismus zu verstehen, eine gewisse Hilf- und Ratlosigkeit hervor, die auch zu Formulierungen von Allge‐ meinplätzen führen. In der handschriftlichen Notiz zur Vorbereitung auf die Parteileitungssitzung im November 1989 vermerkt sie unter der Überschrift „Wohin der Weg? “: „im Fach: wissenschaftliche konzeptionelle Leitung in Sektion, Durchsetzung des Leistungsprinzips, unbürokratische, ungewöhnliche Lösungen. Politisch: Was für eine Partei? SED oder Kommunistische Partei? Problem bzw. was heißt moderner humanistischer Sozialismus? Chance: 2. Phase des sozialistischen Revolutionszyklus positiv zu lösen.“ Rita Schober bleibt in Bezug auf Gesell‐ schaftsvorstellungen dem Marxismus treu. 251 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="252"?> 64 Interview 1995 65 HU UA, NL Schober, Karton Nr. 6/ 1 66 Brief vom 6.12.1991 an Francis Cloudon. HU UA, NL Schober, Karton Nr. 7/ 2 Mögen manche Sätze von Rita Schober eine Art „Verabschiedung“ von der Idee des Sozialismus in der DDR als Interpretation zulassen, so überwiegen doch solche Passagen, die auf eine Relativierung jeder Kritik hinweisen. So antwortet sie auf die Fragen nach möglichen fehlenden politischen Kompetenzen als Sys‐ temfehler der DDR 1995: „Und ich muss Ihnen jetzt trotzdem doch noch eins sagen: Hätten Sie, wenn Sie wissen, wie viele Dinge heute laufen, die Entwicklung 89 so entwickeln wollen oder wären Sie vielleicht doch nicht auch der Ansicht gewesen, dass wir eine andere DDR wollten? “ Rita Schober verteidigt mit solchen Worten ihr Leben und ihr Lebenswerk, vor allem den Aufbau der Romanistik in einem untergegangen Staat. 1995 hört sich das wie folgt an: „Ich möchte die Jahre auch für mich nicht streichen. Ich glaube, es ist immer noch besser, viele Jahre selbst - mit Verzicht auf vieles - auf ein menschliches Ziel hin zu leben. Ich meine, für mich persönlich habe ich doch eine, eine Perspektive des Lebens gehabt, und die Perspektive war eine bessere Welt. Und ich möchte nicht nur leben, um Geld zu machen, Schnitzel zu essen und nach Mallorca zu fahren und reicher zu werden, also das kann nicht der Sinn des Lebens sein, also da muss ich wieder anfangen mit meiner katholischen Prägung. Ich hatte, ich hatte irgendwo ein Ziel, ich wollte ein guter Mensch werden und ich wollte, wollte eben eine gute Welt und dem nun ein Leben geopfert zu haben, und wenn Sie so wollen, es dafür eingesetzt zu haben, betrachte ich nach wie vor nicht als ein verfehltes Leben, mit allem was man falsch gemacht hat (…).“ 64 Der Sturz Gorbatschovs trifft Rita Schober schwer: “Seit heute früh ist nichts mehr wie es war: Gorbatschov ist gestürzt worden, hoffentlich lebt er noch. (…) und nun bricht die große Weltpolitik mit einem Donnerschlag wieder ein.“ Mit diesen Worten wendet sie sich an Michelle Campagnolo (SEC) in einem Brief vom 19.8.1991. 65 „Manchmal fragt man sich, was aus der Welt noch werden soll. Eines ist sicher, die Probleme, die die Ideale des Sozialismus einmal auf den Plan gerufen haben, sind nach wie vor ungelöst. Im Gegenteil. Es sind im Weltmaßstab neue hinzugekommen. Es kann nicht gerecht sein, dass die einen im Reichtum ersticken und über Milliarden verfügen und die andern verhungern. Aber wo ist die Lösung? Das unter der Dominanz der SU unternommene Experiment in den Ostblockstaaten im Feuer einer ständigen Systemauseinandersetzung und des kalten Krieges war es jedenfalls auch nicht. Und der Gewinn des kalten Krieges durch die USA erweist sich wohl fast als Pyrrhussieg.“ 66 Nachdenklichkeit und der Glaube an eine sozial gerechtere Gesellschaft 252 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="253"?> durchziehen alle Briefe der 1990er Jahre und ihr Credo, das sie 2008 anlässlich ihres 90. Geburtstages verliest. (Kapitel 4 Teil I) Das Interview von 1997/ 98 endet mit einer grundlegenden Kritik der neuen Verhältnisse: „Die Zerstörung aller Werte, und die Veränderung des Grundlebens‐ gefühls in der Gegenwart bestimmt durch Angst, bestimmt durch soziale Unsicher‐ heit, die machen es um so dringender, sich doch mit Lebenswegen zu beschäftigen, die die Grundfragen des Menschen immer wieder stellen; Liebe, Treue, Ehrlichkeit, Freundschaft, Sauberkeit, aber auch der Kampf in einer sozialen Umwelt, die dem entgegensteht. Und ich glaube, eine solche Literatur, die brauchen wir auch heute noch.“ Rita Schober war durch den Umbruch 1989/ 90 mit sinnweltlichen Fragen ihres Lebens, insbesondere die Zeit der DDR betreffend, in der sie erst eine politische und ideologische Überzeugung entwickelt hatte, konfrontiert. Rita Schober kam mit 27 Jahren, ideologisch weitgehend „unbelastet“, in die SBZ und sie war nach absolvierter steiler wissenschaftlicher Karriere emeritierte Professorin im Alter von 71 Jahren als die DDR unterging. In der DDR war eine solche wissenschaft‐ liche Karriere nicht ohne systemkonforme politische und ideologische Stellung‐ nahmen möglich. Der Umbruch hat Irritationen hervorgerufen und auch ins‐ besondere diese Einheit von wissenschaftlichen und politischen, ideologischen Aspekten der Karriere auf den Prüfstand gestellt. Rita Schober durchlief dabei eine Phase von Selbstbefragungen und suchte nach Erklärungen für das Schei‐ tern der DDR. Konnte sie den Untergang des Staatsgefüges mit seinen kritik‐ würdigen Verkrustungen verkraften, den Untergang des Ideals nicht. Nur so konnte Rita Schober ihr Lebenswerk „retten“. Am „Ende“ steht das Festhalten an diesem Ideal, das mit Trotz und in der Hoffnung auf Einvernehmen vorge‐ tragen wird: eine friedliche und gerechte Gesellschaft! Wer mag dem nicht zu‐ stimmen! Mit einer solchen Zustimmung aber verband Rita Schober indirekt auch die Aufforderung, ihrem Lebenswerk zuzustimmen bzw. dieses anzuer‐ kennen, denn an diesem Ideal hatte sie ihre Arbeit moralisch ausgerichtet. Dem Marxismus war Rita Schober seit den ersten Tagen der DDR offen ge‐ genüber getreten. Einerseits hatte sie das Interesse für philosophische Fragen bereits in ihrer Schulzeit entdeckt und andererseits sah sie in dem mit dem Mar‐ xismus verbundenen Wertekatalog keinen Widerspruch zu ihrer katholischen Erziehung und zu ihrer Sozialisation in einer nicht privilegierten Schicht. Wenn man die Bestandteile des Marxismus betrachtet, wie sie in der DDR als Einheit zur Doktrin geworden waren, so hat bei Rita Schober nach ihrem dritten Umbruch am meisten derjenige Bestand behalten, der sich auf die Gesellschafts‐ analyse des Kapitalismus bezog. Der Marxismus als wissenschaftliche Methode (siehe Punkt 4) und vor allem die materialistische Weltanschauung (siehe Punkt 253 2. Erfahrungen mit Systemumbrüchen des 20. Jh. und das Schreiben der Vita <?page no="254"?> 3) waren hingegen ihrer Prüfung unterzogen worden. Sie konnten nicht ohne Kritik und nicht ohne Zweifel an ihrer Richtigkeit überdauern. Manche dieser Zweifel waren bereits zuvor virulent. Wenn Rita Schober - wie eingangs belegt - im Untergang der DDR den Ver‐ lust ihrer Heimat sah, dann meinte sie damit jenen Ort, an dem sie ihr gesell‐ schaftspolitisches Ideal ausgebildet hatte und wo sie meinte, in Einklang mit diesem Ideal zu arbeiten und zu leben. Dort war ihr der soziale Aufstieg und die Integration in eine politisch definierte Mehrheitsgesellschaft gelungen, dort war sie gesellschaftlich anerkannt und geehrt. Dort war sie zu einer Autorität avan‐ ciert. Dies alles verband sie, auch emotional, mit diesem Staat. Da sich Rita Schober vor allem über ihre Arbeit definierte und Arbeit in der DDR stets als ein Teil der gesamtgesellschaftlichen Politik angesehen war, gab es für Rita Schober - wie für manche anderen auch - kein Heimatgefühl, das nicht an den Staat geknüpft gewesen wäre. Ihr Lebenswerk bleibt auch deshalb mit der DDR verbunden. In ihren Rückblicken auf ihr Leben ordnete sie die DDR jedoch mit zuneh‐ mendem Abstand zum Jahr 1990 immer häufiger in eine Kontinuitätserzählung ein, bei der ihre Wertvorstellungen zum Maß für die Beurteilung verschiedener Lebensetappen avancierten. Dabei wurden Kindheit und Jugend, samt der ka‐ tholischen Erziehung aufgewertet und die DDR relativiert. Sie sprach immer häufiger von einem Credo, auch wenn es um die DDR ging. Dieses Credo ordnete die DDR in ein religiös-katholisch fundiertes Werteschema ein, das als ein ei‐ nigendes Band ihr Leben zu umschließen schien. Rita Schober hat ihre ideologischen und politischen Überzeugungen selbst als einen Glauben bezeichnet und es ist deshalb kein Zufall, dass sie ihre politischen Überzeugungen auch auf ihrem letzten großen Ehrenkolloquium als Glaubens‐ bekenntnis vortrug. Es steht in Übereinstimmung mit den in der Kindheit und Jugend tief verinnerlichten Moralgeboten. Insofern ist der Versuch, im Alter an die religiöse Erziehung ihrer Kindheit und Jugend anzuknüpfen nur folgerichtig. Aber es ist ein Versuch, der ihr nur in Teilen gelang. In Kapitel 3 wird versucht zu erkunden, welche Rolle Glauben und Religion in Rita Schobers Werdegang gespielt haben und wie sich beides mit ihrer mar‐ xistischen Überzeugung verband oder/ und wie sich Religion und marxistische Überzeugung in ein widersprüchliches Verhältnis verwandelten. 254 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="255"?> 67 HU UA, NL Schober, Karton Nr. 15 3. Religiöser Glaube und politisch-weltanschauliche Bildung Am 8.4.1968 schreibt Rita Schober in einer Selbsteinschätzung: „In den ersten Jahren meiner Hallenser Tätigkeit, vor allem aber durch meinen späteren Mann (Eheschließung 1950), der 1945 aus dem KZ Dachau nach Rumburg zurückgekehrt war, und mit dem ich gemeinsam aussiedelte, durch die Hilfe meiner Parteigruppe - ich war 1946 der SED beigetreten - formte sich allmählich meine marxistische Weltanschauung. Die entscheidendste Etappe auf diesem Entwicklungsweg war der Besuch des Dozentenlehrgangs an der Parteihochschule 1948 und meine nachfol‐ gende Zusammenarbeit als erster Prorektor für Studenten an der Hallenser Uni‐ versität mit den verantwortlichen Genossen der Sowjetischen Militäradministra‐ tion (SMAD) und der Universitätsleitung. Ich habe mich seither bemüht, meinen Weg als Genosse in allen mir übertragenen Funktionen und Aufgaben und auch in meiner wissenschaftlichen Arbeit ehrlich und gradlinig zu gehen. Und da ich wäh‐ rend meines eigenen Studiums erlebt hatte, wie begrenzt und letztlich unwissen‐ schaftlich (Sic! D.R.) unsere Ausbildung gewesen war, bemühte ich mich, vor allem meinen Studenten die Augen für die Richtigkeit und wissenschaftliche Überlegen‐ heit des Marxismus zu öffnen. Die Erarbeitung einer marxistischen Methode auf meinem Fachgebiet ohne direkte Anleitung ist mir nicht leicht gefallen. Ich habe alle meine Kraft daran gesetzt, aber ich habe Jahre dazu gebraucht.“ 67 Diese Selbstdarstellung ihrer marxistischen Schulung hatte eine institutio‐ nelle Ausrichtung, auch wenn aus den Unterlagen nicht klar wird, in welchem Zusammenhang sie geschrieben und an wen sie gerichtet war. Nach allem, was aus ihrer Kindheit und Jugend bekannt ist, lässt sich schluss‐ folgern, dass Rita Schober zunächst mit einem teilweise naiven und strengen Katholizismus aufwuchs, der die Grundlage ihres Wertesystems bildete. Mora‐ lische Argumentationen lassen sich in ihrem ganzen Leben deutlich erkennen. Auch ihr politisches Ideal war davon geprägt, denn die - etwas simpel anmu‐ tenden - Aussagen in den Briefen zum Verlust ihres Glaubens an eine sozial gerechte Gesellschaft, basieren auf moralischen Kategorien. Ihre marxistische Weltanschauung, die sie sich in der DDR erarbeitete, stand, wie schon erwähnt, ihren Moralvorstellungen aus der Jugend nicht entgegen. Dies wird besonders dann deutlich, wenn sie von ihrem Mann Robert spricht. Die öffentlichen Aus‐ sagen zu ihrem Mann stehen für mehr als für den Ausdruck persönlicher Wert‐ schätzung. In ihm sah sie die Verbindung von Moral und kommunistischem Engagement. Er, der weniger Gebildete, hatte ihr unter den neuen gesellschaft‐ lichen Bedingungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der SBZ durch 255 3. Religiöser Glaube und politisch-weltanschauliche Bildung <?page no="256"?> 68 Evamaria Engel (Hrg.). Was ein Jahrtausend sei, lass mich´s bedenken. Edition Bodoni, Berlin 1999 69 Manuskript aus dem nicht archivierten Nachlass diese Verbindung etwas voraus. In einem kleinen Beitrag für einen Band zur Jahrtausendwende 68 , der die Form eines an ihren Sohn Hans gerichteten Briefes hatte, schreibt sie im Jahr 2000: „ Du fragst, was mich im Rückblick auf dieses zwanzigste Jahrhundert, in dem ich zu Ende des ersten Weltkrieges in Rumburg in Nordböhmen geboren wurde, persönlich am stärksten geprägt hat. Wenn man von den historischen Etappen, die ich durchlebt habe: Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit in der CSR, Besetzung der Sudeten durch das nationalsozialistische Deutsche Reich, Zweiter Weltkrieg, Aussiedlung und Heimatverlust, SBZ und DDR, Zusammenbruch des sozialistischen Lagers, Wende, BRD-Neue Bundesländer - und den damit verbundenen Erschütterungen und Sozialisationsschüben absieht, so war das persönlich Entscheidendste für mich meine Begegnung mit Deinem Vater, denn sie hat meine gesamte Weltsicht grundlegend verändert. (…) Durch einen Zufall traf er den Jugendfreund wieder, der ihn 1938 verraten hatte und durch die Um‐ stände nun seinerseits in eine schwierige Lage geraten war. Robert hätte sich rächen oder auch nur wegsehen können. Er tat das Gegenteil, er verzieh nicht nur, er half ihm. Dieses Verhalten wurde für mich zu einer Art Grunderlebnis. Ich war katho‐ lisch erzogen und Moral bedurfte für mich bis dahin der Stütze der Religion. Der von den Aufklärern gestellten Frage nach der Möglichkeit einer laizistischen fun‐ dierten Moral stand ich skeptisch gegenüber. Robert wußte sicher nichts von dieser Frage und auch nichts von Kants kategorischem Imperativ, aber er trug ihn in sich, weil die Grundlage seines Tuns eine andere Art „religio“ war, der Wunsch und der Wille mitzuhelfen, eine bessere und gerechtere Welt aufzubauen. Das war die Mitte, aus der heraus er lebte, die sein ganzes Wesen und seinen Umgang mit den Men‐ schen in allen Lebenslagen bestimmte. (…) Seine saubere politische Haltung ent‐ sprach seiner menschlichen Gradlinigkeit und Verläßlichkeit, kurz, er war, schlicht gesagt, ein g u t e r Mensch im vollen Sinne des Wort (…).“ 69 Vergeben und Verzeihen, Hilfsbereitschaft und soziale Gerechtigkeit bilden einen Wertekanon ab, der Rita Schober 1946, als sie noch wenig politisch gebildet und engagiert war und vom Marxismus keine Ahnung hatte, an der Seite eines Mannes, den sie für seine Integrität - auch vor dem Hintergrund ihres eigenen Weges - bewunderte, leitete. Mit diesen moralischen Wertmaßstäben und ihrem scharfen Verstand ausgerüstet, hat sie sich den politisch-ideologischen Studien von Marx, Engels, Lenin und Stalin gewidmet. Von letzterem ist in den Erinne‐ rungen diesbezüglich keine Rede mehr. Es wurde bereits deutlich, dass der Dozentenlehrgang an der Parteihoch‐ schule 1948 in Kleinmachnow von Rita Schober immer wieder als zentrale Er‐ 256 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="257"?> 70 Leo Kofler gehört zu denjenigen, die in der Nachkriegszeit an der MLU Soziologie lehrten. Später floh er aus der DDR. Siehe die Geschichte des Instituts für Soziologie und ihre Emeriti. www.uni-halle.de Letzter Zugriff: 15.3.2018 fahrung auf ihrem politisch-weltanschaulichen Bildungsweg thematisiert wird. Über ihre theoretischen Voraussetzungen bzw. das Fehlen derselben erzählt sie in dem Interview von 1995 freimütig. Die Frage eines Teilnehmers der Runde war eigentlich, ob es überhaupt möglich ist, „mit lauter Aufsteigern eine neue Gesellschaft zu organisieren (…) „an welchen Stellen, bist du vielleicht ins Zwei‐ feln gekommen, ob mit dieser - ich sage es mal - mit so einer Mannschaft das Schiff überhaupt irgendwo ankommen kann, weil die Kompetenz nicht aus‐ reichte, lauter Unteroffiziere über andere Leute, die - wie es so schön heisst - von tuten und blasen irgendwie keine schimmernde Ahnung haben (…) Ir‐ gendwie wurde immer Kampfkraft erhöht, besinne ich mich. Keiner wußte so genau, was das ist. Und hat es nicht Indizien dafür gegeben, dass vielleicht die kleinen Leute ungeeignet sind, das zu machen? Ist dir so etwas unterge‐ kommen? “ Rita Schober antwortet: „Ja, ich muss sagen, aber relativ spät. Aber das hat auch einen Grund: Ich war 1948 auf einem Sonderlehrgang an der Partei‐ hochschule für Dozenten des dialektischen und historischen Materialismus. Und da komme ich auf etwas sehr Frühes zurück, nämlich, was überhaupt meine Entwick‐ lung geprägt hat. Ich habe damals durch Kofler  70 - ich war dafür nicht ausgewählt worden, ich hatte dort eigentlich gar nichts zu suchen. ‚Rita, da musst du hin, da sind doch interessante Diskussionen.’ Und er hat es dann durchgesetzt, dass ich dann als Außenseiter an diesem Seminar teilnehmen durfte. Und in diesem Seminar waren „unbedarfte“ Leute wie: Georg Klaus, der jetzt gestorben ist, der Philosoph Wolfgang Harich, Kurt Hager, Ernst Hoffmann - also sehr viele Emigranten und es war eine ganz ungewöhnliche Art von Ausbildung: wir hatten die ganze Woche freie Studienzeit, die wir uns einteilen konnten wie wir wollten. Und einen Tag in der Woche gab es ein Seminar zu einem vorprogrammierten Thema, wo jeder von uns einen Vortrag halten musste. Ich hatte dann einen Vortrag Moral (Sic! D.R.) zu halten. Das war schlimm genug. Ich verstand so wenig aus der Theorie. Ich hatte also dort - sagen wir mal - Menschen kennengelernt, die aus der Emigration kamen und wirklich nicht dumm waren. Auch Hager war ein hochintelligenter Mann. Er war damals ja ein einfacher Journalist, und noch keineswegs also..(unleserlich D.R.) Noch ein junger - man konnte ja noch nicht sehen wie das wird, aber dass er hoch intelligent war, das war jedenfalls feststellbar. Und die anderen auch. Ich habe - muss ich sagen - auch etwas gesetzt auf die politische Integrität der politischen Führungsmannschaft. Dass muss ich sagen, weil ein gut Teil alte Emigranten waren oder Menschen, die im Lager gesessen hatten. So wie mein eigener Mann. Und die Integrität dieser Generation hatte ich, sah ich aus der Sicht auch meines persönli‐ 257 3. Religiöser Glaube und politisch-weltanschauliche Bildung <?page no="258"?> 71 In der Ulbrichtära ist die Linie seiner Politik noch mit Offenheit und einem Gehör für verschiedene Meinungen und Überzeugungen verbunden. Dies geben auch die Äuße‐ rungen der Diskutanten in dem Interview von 1995 wieder 72 Als Tapetenkutte wurde Kurt Hager bezeichnet, weil er auf Forderungen nach Über‐ tragung der Perestroika auf die DDR mit den Worten reagierte: „ Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren? “ Jedes Land wählt seine Lösung. In: Stern, 9.4.1987 und Neues Deutschland 10.4.1987, S. 8 chen Erlebnisses. (…) Das zweite war, dass ich aber doch auch sah, dass in den Ministerien ja nicht nur Deppen saßen, wenn ich etwas burschikos mich ausdrücken darf, wenn ich doch sehe, wer heute, mit welcher Sachkompetenz leiten kann, dann muss ich sagen, dass viele der Ministerien der DDR von Fachleuten geleitet wurden.“ Es ist nicht ganz klar, was sie mit „meinem persönlichen Erlebnis“ meint, vermutlich den Zweiten Weltkrieg und Faschismus, wie sie an anderen Stellen hervorhebt. In dem Brief an Kurt Hager aus den 1980er Jahren (siehe Punkt 6) schreibt sie auch ihm, dass er die „politische und moralische Instanz“ gewesen sei, vor der sie, Rita Schober, bestehen wollte. Das habe sie über die ganzen Jahre hinweg geprägt. Dies mutet einer Gläubigkeit an, die einer Verehrung der „Hei‐ ligen“ in der katholischen Religion ähnlich ist. Diese scheinen unangreifbar zu sein für Rita Schober, denn eigentlich ist gerade die Ideologiepolitik Kurt Hagers in den 1970er und 1980er Jahren nicht mit Toleranz und Akzeptanz differier‐ ender Standpunkte zur vorgegebenen Parteilinie in der Kulturpolitik besetzt. 71 Was Rita Schober, die sich retrospektiv als Anhängerin der Perestroika und von Gorbatschow zu erkennen gab, über die Aussagen Kurt Hagers zur Perestroika gedacht hat, die ihm den Namen ‚Tapetenkutte’ 72 einbrachte, ist nicht bekannt. Sie hat sich dazu nicht geäußert. Heilige sind nicht leicht zu stürzen. Es ist infolge solcher Positionen nur folgerichtig, dass Rita Schober in diesen Passagen auf eine Frage nach den Kompetenzen des Führungspersonals in der DDR mit moralischen Kategorien antwortet. Sie sieht im Rückblick, dass mora‐ lische und politische Integrität für ihre Bewertungsmaßstäbe eine fundierende Funktion hatten, wobei ganz besonders ihr Mann zu einer Art Prototyp avanc‐ ierte und - wie in Teil I beschrieben - zum moralischen Antlitz des (gesamten) Sozialismus aufsteigt. Wenn Rita Schober an zahlreichen Stellen ihrer Nieder‐ schriften die Adjektive „sauber“ und „ geradlinig“ einsetzt, so sind damit die für sie wichtigsten Attribute menschlicher Charaktere benannt, die zu einem Men‐ schenbild gehören, das sich dem Sozialismus verschreibt. Selbst in persönlichen Briefen an ihren Sohn sind ihre Wünsche mit diesen Vokabeln versehen, wobei der Vater stets als Vorbild fungiert. Das problematisch erscheinende Wort sauber, das an die nazistische Ideologie erinnert, ist auch in den von Walter Ulbricht 1958 erlassenen 10 Geboten der sozialistischen Moral und Ethik wie‐ 258 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="259"?> 73 Robert Havemann Gesellschaft. https: / / bildungsserver.berlin-brandenburg.de/ fileadmi n/ havemann/ docs/ material/ 1958_zehn_gebote.pdf Letzter Zugriff 22.7.2018 74 Das Schriftstück ist Teil des nicht archivierten Nachlasses. Zur Berufung für die Lehre im Fach Gegenwartskunde siehe das Dokument in Teil III derzufinden, die seit 1963 in das Parteiprogramm der SED aufgenommen worden waren. Das 9. Gebot hieß: „Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten.“ 73 Man kann also die Heirat mit Robert Schober nicht genug betonen, um Rita Schober zu verstehen. In ihrem Verständnis ist er das, was sie am Anfang der DDR - aufgrund ihrer fingierten Lebensgeschichte - nicht sein konnte: sauber, integer, gradlinig. Sie musste all das erst unter Beweis stellen und ihr Engage‐ ment für das neue Gesellschaftsprojekt glaubhaft und überzeugend vertreten, so wie man es von einer Antifa-Aussiedlerin erwartete. Keiner wusste das besser als sie selbst. Ihre Moralvorstellungen, die sich mit dem politischen Projekt des Aufbaus einer besseren Gesellschaft vertrugen und verbanden, gingen ihren theoretischen Überzeugungen von der Richtigkeit oder Überlegenheit des Mar‐ xismus voraus. Politische Überzeugungen musste sie sich - anders als ihr Mann, der aus einer Arbeiterfamilie stammte und im Dritten Reich Widerstand geleistet hatte - erst erarbeiten. Er, wie die anderen Widerstandskämpfer und Emi‐ granten, waren ihre Vorbilder und die politische und menschliche Integrität, die sich in ihren Augen mit deren Biographie verband, waren lange Zeit wichtiger bzw. überlagerten - zumindest in politischen Fragen - ihren intellektuellen Scharfsinn, mit dem sie hätte frühzeitiger die Mängel des Systems und vor allem die moralischen Verwerfungen der innerparteilichen Verfolgungen, des Miss‐ trauens und der intern geführten Prozesse und Ausschlüsse aus der Partei, das Kaltstellen von Kritikern, bereits in den 1950er Jahren, erkennen können. Ihre intellektuellen Fähigkeiten und die staatspolitisch legitimierten Doxa mit ihren Grenzen waren für Rita Schober in den ersten Jahren nicht immer leicht in Übereinstimmung zu bringen. Einen Einblick in die Zweifel und die inten‐ siven gedanklichen Auseinandersetzungen mit verordneten marxistischen Posi‐ tionen in den Anfangsjahren gibt ein Schriftstück vom Januar 1949. Das Thema ist die „Parteilichkeit der Wissenschaft“. Es handelt sich um eine Ausarbeitung, die sie aus freien Stücken, offensichtlich nach einer Diskussion in einem Kurs mit Kollegen, über den Marxismus-Leninismus anfertigte, um ihre Position zu korrigieren. Es könnte sein, dass dieser Kurs zu ihrer Tätigkeit als Lehrbeauf‐ tragte für „Gegenwartskunde“ an der Staatlichen Hochschule für Theater und Musik gehört, zu der sie der Minister für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft mit Wirkung vom 1. November 1948 berufen und verpflichtet hatte. 74 Ihre neu durchdachte Position teilte sie einer Teilnehmerin mit und übergab ihr das auf‐ 259 3. Religiöser Glaube und politisch-weltanschauliche Bildung <?page no="260"?> 75 Manuskript aus dem nicht archivierten Nachlass bewahrte, dreieinhalb Seiten umfassende Papier. Im Anschreiben heißt es: „Liebe Maria, die „Parteilichkeit der Wissenschaft“ hat mich noch nicht losgelassen. Wir haben auf der ganzen Heimfahrt noch darüber diskutiert und ich habe mir die Sache heute früh wieder überlegt und bin zum Schluß gekommen, daß ich mich geirrt habe und die Frage doch anders liegt. Da ich mich aber für das Ergebnis der gestrigen Diskussion verantwortlich fühle, möchte ich meinen Fehler korrigieren und Dir mitteilen, wie ich nun glaube, dass man die Frage sehen muß. (…)“ Das Papier endet mit dem folgenden zusammenfassenden Passus: „Parteilichkeit der Wissenschaft heißt also in diesem Sinne anderes als gesellschaftliche Wirksamkeit, als ein ihr als gesellschaftliches Phänomen naturnotwendig innewohnendes Ele‐ ment, da die Wissenschaft ja nur durch und in und mit der Gesellschaft existieren kann, ein Wirksamwerden für oder gegen den Fortschritt der Menschheit, wobei das Für oder Wider wesentlich bestimmt sein wird von der Stellung, die der einzelne Wissenschaftler selbst in dieser gesellschaftlichen Entscheidung eingenommen hat. Vielleicht aber fällt ihm diese Entscheidung leichter, wenn er sich der Tragweite seiner Verantwortung erst einmal wirklich bewußt geworden ist.“ 75 In diesem Schriftstück - mitsamt der Vorgeschichte - zeigt sich ein Dilemma von Intellektuellen in der DDR besonders deutlich: nämlich die Verwobenheit von fachlichen und politisch-ideologischen Fragen und Standpunkten. Fachliche mussten sich an letzteren messen, insbesondere in den Geistes- und Sozialwis‐ senschaften, die als Gesellschaftswissenschaften klassifiziert waren. Rita Schober hat diesen Zwang zur Einheit in ihren Konsequenzen nicht thematisiert. Auch in dem aufschlussreichen Papier der Parteileitungssitzung vom November 1989 arbeitet sie die Bilanz ihrer Standpunkte getrennt nach politischen Über‐ zeugungen und nach literaturtheoretischen Positionen ab. Sie sah dabei kaum, wo letztere durch die politisch-ideologischen Grenzziehungen eingeengt waren. Der Maßstab für Mut und „Opposition“ war für viele führende Gesellschafts‐ wissenschaftler die vorgegebene Parteilinie bzw. die Doxa der von der SED le‐ gitimierten Marxismusvorstellungen. 1989/ 90 konnte man deshalb zahlreiche Bekundungen von „Widerstand“ und „Opposition“ auch aus den Reihen von Wissenschaftlern hören und lesen, die lange Zeit Mitglieder der SED waren, die nur vor dem Hintergrund subtiler Praktiken der Kritik an diesen Doxa über‐ haupt zu verstehen waren. Für Außenstehende mussten diese unverständlich bleiben. Man hätte die Bedingungen und Funktionsweisen von Wissenschaft in der DDR kennen müssen, um diese Art des Selbstverständnisses als „Kritiker“ akzeptieren zu können. In diesen Kontext gehört auch die Selbsteinschätzung 260 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="261"?> 76 Nicharchivierter Nachlass von Rita Schober in ihren fachlichen Positionen, die sie als eine Art Opposition der kleinen Schritte in dem Papier zur Parteiversammlung 1989 vorträgt: „Die Bewertung der politischen Arbeit eines Genossen muss natürlich noch eine zweite Seite haben: die fachliche Arbeit.“ In dem Papier nimmt Rita Schober für sich in Anspruch, gegen Dogmatismus aufgetreten zu sein. Allerdings bezieht sie dies ausdrücklich auf ihre wissenschaftliche, nicht auf ihre, stets der Partei‐ disziplin folgenden politisch-ideologischen Arbeit. (Näheres dazu unter 4.) Im Interview von 1995 geht Rita Schober explizit darauf ein, dass sie selbst ihre Entwicklung und Haltung in vielen Fragen im Zusammenhang mit ihrer katholischen Erziehung sieht: „Aber das ist noch lange nicht die Kompetenz in gesellschaftlichen Fragen, und ich habe vorhin ganz am Anfang gesagt, ich bin streng katholisch erzogen und Katholizismus ist doch Magismus, und Katholi‐ zismus ist auch Gehorchen, und Katholizismus ist auch eingespurt sein auf Regeln und nicht ausweichen. Das hat mich sicher sehr lange geprägt und sicher auch anfällig werden lassen für bestimmte Observationen, die ich eingeübt hatte, schon als Kind. Die dann eigentlich eine Fortsetzung dessen waren. Also, ich sehe das im Rückblick heute mit meinen beinahe 77 Jahren schon in den Zusammenhängen. Aber man kann ja wahrscheinlich auch seiner Jugend und seiner Entwicklung nicht ohne weiteres entgehen.“ Rita Schober bewertet Religion hier in ihrer Funktion, ein in ihr tief verin‐ nerlichtes Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, das auf Anpassung ausge‐ richtet war, gestiftet zu haben. Es muss auch für sie selbst ein Kampf gewesen sein, in politischen Fragen Glauben durch Wissen zu ersetzen. So könnte man Rita Schobers harsche kritische Zurechtweisungen jüngeren Genossen gegen‐ über interpretieren, wenn diese ihre Überzeugungen mit den Worten „ich glaube“ einleiteten. „Glauben reicht nicht, man muss wissen“! So erinnert heute noch mancher die Einlassungen der gefürchteten Genossin Rita Schober. Auch darüber hinaus beschäftigt Rita Schober die Frage von Kirche bzw. Re‐ ligion im Sozialismus in der DDR. Betrachtet man einzelne Aussagen in ihren nach 1989/ 90 verfassten Texten bzw. in den Interviews, so lässt sich erkennen, dass Religion und Kirche häufige Themen waren, die ihre Selbstbefragungen begleiteten. Verwiesen sei auf die im Teil I enthaltene private Notiz, bei der die Partei (SED) als Partei Neuen Typus mit den Kirchenstrukturen verglichen wird, einschließlich ihrer Sanktionsme‐ chanismen; Parteistrafe also gleich Buße und der Anspruch „die Partei hat immer recht“ wird von Rita Schober dort mit dem des Papstes nach Unfehlbar‐ keit gleichgesetzt. 76 Beides deutet auf eine kritische Haltung zur Partei SED (der 261 3. Religiöser Glaube und politisch-weltanschauliche Bildung <?page no="262"?> 77 Auch ND genannt, war über viele Jahre das Zentralorgan der SED 78 HU UA, NL Schober, Karton Nr. 2/ 3 79 Neues Deutschland v. 8./ 9. April 2006, S. 17 PDS oder der Partei Die Linke gehörte sie nicht an) und zur Institution Kirche hin, die sie allerdings erst retrospektiv äußert. In der Wochenendausgabe vom 8./ 9. April 2006 der Tageszeitung „Neues Deutschland“ 77 erschien ein Interview von Hanno Harnisch. Rita Schober kannte den Interviewer und Autor des Artikels recht gut und sandte ihm am 5.3. einen Brief, in dem sie einige Stellen korrigierte und präzisierte. Nur ein Teil ist davon abgedruckt worden. Die folgenden Zitate sind dem Brief entnommen: 78 „Meine Bemerkung über die Fehler gegenüber kirchlich gebundenen Bürgern in der DDR. Ich weiß, dass die erste Enzyklika des „polnischen“ Papstes, Johannis Paul II., ein Manifest gegen das sozialistische Lager war. Auf Verständigung war sie nicht angelegt und schon gar nicht auf Wertegemeinschaft und ich weiß auch, dass man heute eine solche Position bei einer Privatperson als „reaktionäre Einstellung“ be‐ zeichnet. Aber ich meine, dass das Bekenntnis zum Atheismus nicht unbedingt als Grundvoraussetzung für ein Bekenntnis zum Sozialismus gefordert werden muß. Dieser Bedarf der Anerkennung der Marxschen Kapitalismusanalyse, deren Rich‐ tigkeit in Bezug auf Kapitalkonzentration, Profitmaximierung und den daraus fließenden gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen noch nie so offensichtlich ge‐ stimmt hat wie heute. Dieser Satz müsste also ebenfalls meine Werteaussage er‐ gänzen. Laß mich unter uns, noch einen zweiten Satz hinzufügen. Aber ebenso offen‐ sichtlich ist, dass mit dem Eintritt in das elektronische Zeitalter der Automatisie‐ rung, Computerisierung usw. und der dadurch bedingten fortschreitenden Entwer‐ tung menschlicher Arbeitskraft in vielen Bereichen die demographischen Fronten für die Lösung dieses Problems sich grundsätzlich verschoben haben. Die heutigen Arbeitslosenheere gehen weit über die soziale Schicht der Arbeiterschaft hinaus. Wie diese Massen sich ihr Leben nach dem Tode vorstellen, sollte man ihnen über‐ lassen.“ Im Artikel selbst heißt es, dass die Professorin es für einen großen Fehler, den wir in der DDR begangen haben, hält „dass wir nicht Möglichkeiten und Potenzen der Kirche oder des Glaubens einbezogen haben. Es ist eine Dummheit gewesen, die Ursprünge des Christentums nicht einmal zu reaktivieren für die neue Zeit. Unter den heutigen Bedingungen muss man sich sowieso fragen, wo ein mo‐ ralisches Zusammengehen geboten ist. Da kann die Kenntnis der Geschichte helfen, aber gelöst werden muss dieses Problem heute und in der Zukunft. Schriftsteller könnten dabei Protokollanten der dringendsten Gegenwartsprobleme sein, so wie dereinst Zola.“ 79 262 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="263"?> Rita Schober deutet hier an, dass der Marxismus als Weltanschauung nicht die unabdingbare Voraussetzung für ein gesellschaftliches Engagement zur Lö‐ sung gesellschaftlicher Probleme sei, eine Argumentation, die auch von anderen Marxisten vorgetragen worden ist. Ihre eigenen weltanschaulichen Zweifel mögen sie zu dieser Position geführt haben. Rita Schober fand in Angelika Klapper in den letzten Jahren ihres Lebens, besonders intensiv kurz vor ihrem Tod, eine willkommene Gesprächspartnerin über Religion. Es war wie ein Versuch, an Kindheitsmuster anzuknüpfen. Themen wie die Dreifaltigkeit spielten dabei eine Rolle und machten ihr aber auch deutlich, dass eine Rückkehr zu den als Kind erlernten, z. T. naiven Glau‐ bensvorstellungen, die sie von ihrer Mutter und Großmutter übernommen hatte, nicht möglich war. Dennoch hat Rita Schober auch in dem tiefgehenden Inter‐ view von 1995 Religion als Basis ihrer Werte und Grundlage von Handlungs‐ mustern thematisiert. Es liegt nahe, dass Rita Schober zu ihren Glaubensvor‐ stellungen der Jugendjahre nicht zurückgekehrt ist. Den nahenden Tod vor Augen, hätte sie wohl gern glauben und beten wollen, sie konnte es aber offenbar nicht. Doch die religiös geprägten Werte und Moralvorstellungen blieben und ermöglichten ihr auch, trotz der erlebten Irritationen, die mit dem Niedergang der DDR für sie verbunden waren, an ihrem Ideal festzuhalten. Fast trotzig trug sie es immer wieder vor, wie insbesondere ihre Briefe belegen. Ob man Rita Schober in den letzten Jahren ihres Lebens als Agnostikerin bezeichnen kann, ist nicht sicher. Auch der Tod ihres Sohnes, den sie als große Ungerechtigkeit empfand, hinderte sie an einer Rückkehr zum Glauben. Das Hadern, auch Zorn gegenüber dem Schicksal ist bekanntlich eine wichtige Trauerphase. Dennoch war Rita Schober dankbar für religiöse Zuwendung. Das Rilke Ge‐ dicht „Herr es ist Zeit“ hat ihr Angelika Klapper auf Bitten hin des Öfteren vorgetragen. So war der Wunsch Rita Schobers nach einem römisch-katholi‐ schen Begräbnis nach dem alten lateinischen Ritus für Eingeweihte keine allzu große Überraschung. Als sich herausstellte, dass ein solcher Ritus nur von den konservativen Piusbrüdern praktiziert werden würde, lehnte sie ab. Die Be‐ gräbnisfeier war weltlich. War vielleicht die lateinische Sprache und ein von ihr in der Kindheit und Jugend erlernter Ritus und damit der besagte Wunsch, an die Jugendjahre anzuknüpfen, der für sie nicht nur die religiöse Erziehung, son‐ dern auch die Heimat bedeutete, das Motiv für den Wunsch nach dem traditio‐ nellen katholischen Begräbnis? Nach der Absage an die Piusbrüder blieb so die weltliche „Aussegnung“, allerdings mit einem wichtigen religiösen Element: Angelika Klapper und Andreas Schober sprachen am Grab das „Vater unser“. Während das Ritual in der Trauerhalle noch mit dem weltlichen Leben Rita 263 3. Religiöser Glaube und politisch-weltanschauliche Bildung <?page no="264"?> 80 Alle Zitate aus der handschriftlichen Notiz in Vorbereitung der Parteiversammlung im November 1989 Schobers verbunden war und dieses würdigte, so ging es am Grab um eine Ze‐ remonie, die den Übergang in eine „andere Welt“ rituell begleitete. So stand das Gebet am Grab für Rita Schobers Hoffnung auf die Richtigkeit ihrer religiösen Vorstellungen vom Leben nach dem Tod. Wie diese genau aussahen, ist nicht bekannt. Genau dieses Ritual am Grab aber hat so manchen der zahlreichen Teilnehmer der Trauerfeier völlig überrascht. Denn viele ihrer Kollegen hatten Rita Schober als überzeugte Genossin und Marxistin kennengelernt. Dass Reli‐ gion für sie hätte ein Thema sein können, vermuteten sie nicht. Im Ausland war sie auch als „rote Rita“ bekannt. Dies galt, auch wenn befreundete Kollegen von der jedes Jahr zu Weihnachten aufgestellten Krippe im Hause der Schobers wussten, was jedoch mit der Heimatverbundenheit beider Schobers erklärt worden war. 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen Rita Schober hat sich frühzeitig nach dem Ende der DDR mit den von ihr zu‐ grunde gelegten theoretischen und methodischen Prämissen ihrer Arbeit aus‐ einander gesetzt. Im November 1989 betont sie in dem bereits zitierten Papier für die Parteiversammlung vor allem ihre Einstellungen gegen dogmatische Positionen, wenn es in der Vergangenheit um theoretische und wissenschaft‐ sorganisatorische Fragen ging. Sie führt hier die in den 1960er Jahren organi‐ sierte Realismus Konferenz, ihre Arbeiten zu Aragon und insbesondere ihre „differenzierte Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus“ an. Die Auflösung des Begriffs „sozialistischer Realismus als Regelkanon“, den kommunikationsthe‐ oretischen Ansatz gegen eine lineare Abbildtheorie, „die Betonung des Wer‐ tungscharakters der Kunst gegen den Gnoseologismus“ referiert sie als wichtige Indizien für ihre undogmatischen Positionen. Als Beispiel und Höhepunkte ihrer kritischen Auftritte erinnert sie ihre Rede anlässlich ihrer Ehrenpromotion an der HU, in der sie den Strukturalismus als Grunderlebnis beschrieb und den Satz formulierte: „Man muss einen Gedanken auch vom Gegenteil her durchdenken.“ 80 Insbesondere Rita Schobers letzter Sammelband „Auf dem Prüfstand“ aus dem Jahr 2003, der nicht nur ihre neuen Arbeiten zu Houellebecq, dem Autor, dem sie sich noch im hohen Alter verschrieben hatte, enthält, sondern auch eine Relektüre wichtiger eigener Arbeiten, ist ein Zeugnis selbstkritischen Nach‐ denkens. Er belegt, wie intensiv sie sich nach 1989 mit literaturwissenschaftli‐ 264 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="265"?> 81 Rita Schober. Editionsgeschichte als Rezeptionsgeschichte. In: Winfried Engler, Rita Schober (Hrg.). 100 Jahre Rougon-Macquart im Wandel der Rezeptionsgeschichte. Gunter Narr Verlag, Tübingen 1995, S. 17-52. Da der Text in Ausschnitten präsentiert wird, mussten einige Quellen ergänzt werden, die sich nur aus dem Gesamttext vollständig erschliessen lassen. Die formale Präsentation wurde davon nicht beeinträchtigt. D.R. 82 Emile Zola, Notes générales sur la marche de l’oeuvre. In: Les Rougon-Macquart, Édition de la Pléiade, Paris t.V.p.1739 83 Préface vom 1er juillet 1871 zu La fortune des Rougon. In: Les Rougon-Macquart a. a. O. t.1, p. 4 chen Arbeiten auseinandergesetzt hat, die von anderen, als den ihr eigenen theoretischen Voraussetzungen ausgegangen waren. Die Texte machen deutlich, wieweit Rita Schober dabei ihre vormaligen Grenzen selbst überschritt und wo sie ihre Positionen - unter den Bedingungen neuer Denkmöglichkeiten - ver‐ teidigte. Zu den wichtigen Texten, in denen ausführlich jeweils spezifische Seiten ihrer wissenschaftlichen Reflexionen thematisiert werden, gehören die folgenden Überlegungen, die auszugsweise präsentiert werden. 4.1 Editionsgeschichte als Rezeptionsgeschichte 81 Der folgende Text wurde bereits 1995 veröffentlicht. Es handelt sich um Aus‐ schnitte aus der Druckversion ihres Vortrags 1993, anlässlich des oben zitierten, gemeinsam mit Winfried Engler organisierten Kolloquiums an der FU. „Zwischen Plan und Publikation des Vorwortes zum ersten Roman vom 1. Juli 1871 (der Rougon-Maquart D. R.) liegt aber nun ein historisches Grunderlebnis: der Sturz des Kaiserreichs. Die Darstellung des ‚moment historique’, der mit seinen „lueurs troubles du moment“ symptomatischen Charakter für die „convulsion fa‐ tales de l’enfantement d’un monde“  82 hatte, also für bestimmte Tendenzen einer nach vorn offenen Geschichtsbewegung, wird so zum „tableau“ eines „cercle fini“, „d’un règne mort, d’une étrange époque et de honte.“  83 Die Bewegungsgesetze der Epochengeschichte können damit zum Paradigma universalgeschichtlicher Pro‐ zesse aufsteigen, auch wenn dieser Aspekt im Zyklus nicht narrativ entwickelt, sondern in symbolischen Bildern thesenhaft gesetzt wird. In einer auf Gesellschaftsdarstellung als zentrale Aufgabe eingeengten Auffas‐ sung von realistischer Literatur mußte diese Seite der von Zola für seinen Zyklus formulierten historischen Zielstellung als die wesentliche erscheinen und der Neu‐ igkeitscharakter der Rougon-Macquart hier gesucht werden. Und so habe ich ihn einseitig in der Thematisierung neuer Wirklichkeitsbereiche gesehen, wie der 265 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen <?page no="266"?> 84 Hans-Ulrich Gumbrecht, Zola im historischen Kontext. Für eine neue Lektüre des Rougon-Macquart-Zyklus, Wilhelm Fink Verlag, München, 1978, S. 18 85 Emile Zola, Ebauche de Germinal. In: La fabrique de Germinal. Dossier préparatoire de l’oeuvre, Colette Becker (éd.), SEDES, Paris, 1986, p. 256 86 Ferdinand Lion, Der französische Roman im neunzehnten Jahrhundert. Verlag Oprecht, Zürich, 1952. „Was Masse ästhetisch bedeutet, konnte man erst von Germinal ab über‐ sehen. Hiermit begann von einem neuen Objekt aus eine neue Ästhetik.“ S. 139 87 Hans Ulrich Gumbrecht, Zola im historischen Kontext, a. a. O., S. 18 88 „Aber mit dieser Scheinsoziologie, dieser Einteilung der Gesellschaft in Fette und Magere, hat Zola selbst den Aussagewert seiner Gestalten gemindert.“ Rita Schober, Nachwort zu Der Bauch von Paris, Rütten & Loening, 1957, S. 406 (…) 89 Rita Schober, Nachwort zu Pradies der Damen, Rütten & Loening, 1961 (2), S. 531 „Elendswelt des Proletariats,“  84 des Aufgreifens neuer ökonomischer Erscheinungen, wie der Kaufhäuser oder Hallen, der aggravierten sozialen Spannungen, wie der „lutte de capital et du travail“ in Germinal  85 oder der Darstellung der Masse als Masse - eine Neuheit von der, wie Ferdinand Lion sagt, eine ganz neue Ästhetik ausging  86 - kurz in der „Ausschöpfung der historischen Innovationsmöglichkeiten des Romans im letzten Drittel des 19. Jhs.“  87 Der diesen neuen sozialen Befunden in Metaphern und Autorinterventionen je‐ doch als Explikationsmodell zugrunde gelegte reduktionistische Biologismus konnte indessen nur auf Unverständnis stoßen. Wenn Zola in Le ventre die im Alltagsbewußtsein verankerte soziale Opposition: reich-arm, die, in marxistischer Sicht, an sich schon eine Verkürzung war, in Fette und Magere - also in eine bio‐ logische Metapher - umfunktionierte, so wurde dieses soziologische Konstrukt na‐ türlich ob seiner „Unwissenschaftlichkeit“ gerügt  88 und nicht in seiner mit der zum Zentralsymbol erhobenen Milieumetapher „ventre“ verknüpften einheitlichen Me‐ taphorik und dementsprechend auch besonderen poetischen Leistungsfähigkeit für den Roman erkannt. In Au bonheur des Dames wurde positiv gewertet, daß sich Zola in diesem Roman „trotz aller Beschränkung seiner gesellschaftlichen Einsicht“ zum ersten Mal in dem ganzen Zyklus nach eigner Auskunft, der „sozialen Frage“ als der „zentralen Frage des kommenden Jahrhunderts“ zugewandt hatte.  89 Wenn aber den mit aller Exaktheit und Offenheit differenziert im Roman be‐ schriebenen sozialen Katastrophen im Kleinhandel als Folgen des Kapitalkonzen‐ trationsprozesses im Großhandel in den biologischen Kreislaufbildern von dem alle Bereiche des Lebens durchwirkenden Wechsel von Leben und Tod als eines ewigen Grundgesetzes wiederum ein sozialdarwinistisches Erklärungsmuster beigegeben 266 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="267"?> 90 „Seine philosophische Ausdeutung der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten einer be‐ grenzten Epoche in ein ewig wirkendes Naturgesetz, in das Unwiderstehliche des Le‐ bens…. in diesem Kampf ums Dasein…hält nicht die Höhe seiner künstlerischen Dar‐ stellung.“ Ebenda S. 529 91 Hans Ulrich Gumbrecht, Zola im historischen Kontext a. a. O., vgl. S. 91 und S. 24 wurde, das als Sinngebungsangebot die in dem erzählten Vorgang angelegte Sozi‐ alkritik neutralisierte, so wurde dies natürlich negativ vermerkt.  90 Diese in allen Nachworten prinzipielle Kritik an dem von Zola seinen Romanen unterlegten „naturalistischen“ Weltbild resultierte hinsichtlich der ökonomischen Fragen natürlich aus der Auffassung, daß es sich um ein Unterschreiten der von Marx zu diesem Zeitpunkt in seiner Kapitalismusanalyse bereits vorgelegten neuen Einsichten in das Funktionieren der ökonomischen Mechanismen handelte. Dieses Defizit wurde auch von Gumbrecht angemerkt, der die innovatorische Leistung der Rougon-Macquart in seiner Abhandlung: Zola im historischen Kontext (für eine neue Lektüre des Rougon-Macquart-Zyklus), dezidiert in der „Umsetzung wissen‐ schaftlicher Erfahrungsschemata des 19. Jh. in einen neuen Typ des Romans“  91 sieht. Diese Feststellung trifft sich mit Zolas in den 70er Jahren gegebenen eigenen Einschätzung der von ihm initiierten neuen Richtung der Literatur, auch wenn er, diesen Anspruch zurücknehmend, immer wieder betont, nur eine Jahrhunderte alte Tradition der Wahrheitsdarstellung in der Kunst in zeitgemäßer Applikation fort‐ zusetzen. (…) Die marxistische Persönlichkeitstheorie hat erst spät den Menschen als bio-psycho-soziale Einheit zur Kenntnis genommen. Die primär sozial bedingte Struktur formations- und epochenspezifischer Charaktertypen wurde dadurch je‐ doch nicht in Frage gestellt. Nur wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse dominant das Wesen des Menschen und seine Verhaltensweisen bestimmten, hatte das sozia‐ listische Experiment, als Aufhebung ökonomischer Entfremdungsmechanismen begriffen, eine Chance, diese so zu verändern, daß ein Reich, „une cité de vérité et de justice“, Zolas Ziel der Universalgeschichte, möglich wurde. Wir wissen inzwischen, daß diese einseitig ökonomische Auffassung menschli‐ cher und sozialer Verhaltensbestimmtheit ein Irrtum war. Wenn die Psyche und die Handlungen des Menschen aber auch unwägbaren, durch die Ratio nicht zu steu‐ ernden, aus dem biologischen Wesen und dem Unterbewußtsein des Menschen her‐ rührenden Kräften ausgeliefert blieben, dann schien dieses Experiment von vorn‐ herein zum Scheitern verurteilt. Entdeckungen, wie sie die Tiefenpsychologie zutage gefördert hatte, waren deshalb nicht gefragt. Ausgewählte Schriften von Freud kamen nicht zufällig erst in den achtziger Jahren in die Buchhandlungen. Daß Zola mit Psychogrammen, wie er sie z. B. von Marthe Mouret in La conquête de Plassans oder von dem Sexualmörder Jacques in La bête humaine, von Erotomanen wie 267 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen <?page no="268"?> 92 Vgl. Rita Schober, Stil- und Sturkturfragen der Rougon-Macquart in: Ds., Von der wirk‐ lichen Welt in der Dichtung. Aufsätze zur Theorie und Praxis des Realismus in der französischen Literatur. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1970, S. 254, Vgl. auch die Germinalanalyse in: Rita Schober, Skizzen zur Literaturtheorie, Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1956, S. 135f. 93 Ebauche zu Germinal, in: Emile Zola. La fabrique de Germinal, a.a.O, p. 261 Muffat in Nana entworfen hatte, praktisch Entdeckungen der Tiefenpsychologie antizipierte, wurde nicht erkannt und schon gar nicht als innovatorische Leistung zur Erfassung des ganzen Menschen in seiner Mehrdimensionalität gewertet. Die Tiermetaphern, mit denen Zola die Bergarbeiter während des Streikzugs be‐ schreibt,  92 konnte aus dem gleichen Grund auch nicht als Versuch gesehen werden, Reaktionen von Massenhysterie in die Sprache der Fiktion umzusetzen, sondern sie wurden eher als verunglimpfende Verzerrung revolutionärer Aktion betrachtet. Und auch der mit diesen gleichen Metaphern verbundenen Affektstrategie („…il faut que le lecteur bourgeois ait un frisson de terreur“  93 ) bin ich nicht nachge‐ gangen. Insgesamt wurden die von Zola aus der französischen Wissenskonfiguration der Zeit aufgenommenen vererbungstheoretischen und physiologischen Vorgaben, seine sozialdarwinistischen Erklärungsmuster und seine naturphilosophischen An‐ schauungen in ahistorischer Weise nur in ihrer zeitbedingten Begrenztheit, nicht aber in ihrer Novität und in ihrer Leistungsfähigkeit für die Ermöglichung eines neuen Romantypus im Riesenwerk der Rougon-Macquart gewertet. Zum mythischen Substrat In einem weiteren Punkt enthalten die Nachworte aus der heutigen Sicht der Zo‐ laforschung ein unverzeihliches Defizit: in dem Verkennen der Tatsache, daß vor allem auf der Ebene der Beschreibungsmetaphorik ein den ganzen Zyklus durch‐ wirkendes mythisches System kodiert ist. Natürlich war bei der praktischen Arbeit an der Schlußredaktion der Übersetzungen, die ich im Zusammenwirken mit dem zuständigen Redakteur des Verlags vornahm, das Vorhandensein ganzer Bilder‐ ketten, rekurrenter Metaphern, leitmotivisch gebrauchter Fahnenwörter nicht zu übersehen. Gerade die Übersetzung solcher in verschiedenen Bereichen der Narra‐ tion eingesetzten Fahnenwörter, wie z. B. „le ruissellement“ in La curée, das zu dem für die thematische Achse „or“ eingesetzten Kreislaufbild gehörte, aber auch auf der Achse „chair“ erschien, mit einem diese Gleichsetzung deutlich machenden gleichen Lexem im Deutschen, oder die Übersetzung des dem Streikzug in Germinal unterlegten Klangbildes usw. bereiteten viel Mühe und Schwierigkeiten. Doch mit dem Erkennen dieser gestalterischen Verfahren und ihrer Beachtung in der Über‐ setzung war noch nicht ihre jeweilige besondere Funktion erfaßt. Da das Nachwort 268 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="269"?> 94 Friedrich Wolfzettel, Zwei Jahrzehnte Zola-Forschung, in: Romanisches Jahrbuch XXI (1970), S. 163 95 Ebenda S. 164 96 Rita Schober, „Reálité und „vérité“ bei Balzac und Zola, BRPh, 1(1961), S. 116-142 (1963), S. 127-138 auf die Analyse des Einzelromans orientiert war, wurde diese Funktion auch primär in diesem Rahmen gesucht und meist nur als kompositionelle Klammer erfaßt. Gumbrecht hat diese „Selbstgenügsamkeit“ der Einzelinterpretationen, in denen die auktorialen Diskurse und die Metaphorik zu „theoretischem und poetischem Bei‐ werk“ geraten und nicht als „Manifestationen epochenspezifischer Erfahrungs‐ schemata (…) in den Blick kommen“ entsprechend gerügt. Zweifelsohne blieben so Möglichkeiten, die das gesamte Werk durchwirkenden Kräfte als einheitsstiftende Instanzen in ihrer strukturellen und sinngebenden Bedeutung zu begreifen, unge‐ nutzt und ihr „mythischer“ Charakter unbedacht. Friedrich Wolfzettel hat in seiner 1970 vorgelegten Bibliographie raisonnée über zwei Jahrzehnte Zola-Forschung sicher als einer der ersten mit allem Nachdruck auf den in diese Richtung gehenden Neuansatz von Guy Robert in seiner Gesamt‐ darstellung: Emile Zola, Principes et caractères de son oeuvre, hingewiesen. Aber trotz seiner Feststellung, dass “die mythische Ebene in den meisten Romanen Zolas … inzwischen, besonders, seit den Forschungen Roberts, ein anerkanntes Phänomen ist…“  94 , verzeichnet er außer den aus den 50er Jahren stammenden Arbeiten Petri‐ conis, der die Bilderketten der „fissure“, der Fäulnis, des Feuers zu einer das ganze Werk durchziehenden und in La débâcle zum Weltuntergangsmythos aufgip‐ felnden Gesamtdeutung bündelt, und der relativ kurzen Studie von Philipp D. Walter, Prophetic Mythos in Zola  95 keine weitere speziell dieser Thematik gewid‐ mete Arbeit, obwohl offensichtlich eine Reihe der angeführten Arbeiten unter dem Symbolbegriff fassen, was heute als „mythe“ bezeichnet wird. Der aus meinem Artikel „Réalité und vérité bei Balzac und Zola (1961, 1963) zitierte Satz „Die Wahrheitsreligion mündet in die Naturreligion“  96 , der, im Zusammenhang dieser Bibliographie gelesen, auf ein ähnliches mythisches Substrat in der Theorie Zolas hinweist (ohne indes das Wort „mythisch“ zu gebrauchen) und die einheitsstiftende Funktion der naturphilosophischen Fundierung des Werkes hervorhebt, ist in meinem Aufsatz nicht auf die daraus für die Interpretation der literarischen Praxis zu ziehenden Konsequenzen befragt worden. Nein, mit Mythen hatte ich nichts im Sinn, schon gar nicht in den 50er Jahren (die genannte Studie war 1958 geschrieben worden). Vielleicht lag der Terminus zu nahe bei einem anderen, dem „Mythus“ und damit hatten wir gerade keine guten Erfahrungen gemacht. (…) 269 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen <?page no="270"?> 97 Hans Ulrich Gumbrecht, Zola im historischen Kontext, a. a. O., S. 91, Hans-Jörg Neu‐ schäfer, Populärromane im 19. Jahrhundert, München (UTB) 1976, S. 197. Gumbrecht relativiert diese Einschätzung Neuschäfers mit dem Hinweis, daß in die Konstitution „erfahrungsorientierender Mythen“ auch „heute nicht mehr akzeptable Wertungen le‐ bensweltlicher Phänomene … eingegangen sind“. Gumbrecht, Zola im historischen Kontext, a.a.O, S. 98 98 Roger Ripoll, Réalité et mythe chez Zola, 2 tomes, H. Champion, Paris 1981 99 Rita Schober, Für oder wider Zola, in: Abbild, Sinnbild, Wertung. Aufbau-Verlag Berlin, 1982 (2) S. 305 u. 415 Damit kommt Mitterand, wie Gumbrecht und vor ihm Neuschäfer, zu einem ähnlichen Schluß hinsichtlich der Gründe für die bleibende Wirkung und eigen‐ ständige Leistung Zolas. Er hat seinen Lesern „eingängige neue Schemata zum Verständnis ihrer Lebenswelt“ (Gumbrecht) vorgegeben, oder, wie es Neuschäfer formuliert, „den Bilderschatz einer modernen Mythologie“, doch einer neu geschaf‐ fenen Mythologie besonderer Art. „Denn seine mythischen Bilder sind gerade nicht verdeckend, sondern im Gegenteil aufschließend und erhellend. Sie reduzieren die moderne Welt nicht auf archetypische Muster, sondern sie machen sich umgekehrt archetypische Erfahrungsmuster zunutze, um die Bestandteile der modernen Welt und ihr Zusammenwirken dem allgemeinen Bewußtsein zugänglich zu machen und ihm ihre existentielle Bedeutung überhaupt erst vor Augen zu führen.“  97 Man könnte, anders gewendet, auch sagen, er hat modellhafte Sinnbilder geschaffen, die der Rezeptor nicht nur seinem Erfahrungsschatz hinzufügen, sondern die er auch, aus ihm schöpfend, immer wieder neu belegen und reaktivieren kann. Ripolls dialektische Sicht von „Réalité et mythe chez Zola“  98 scheint so der adä‐ quate Untersuchungsansatz zu bleiben. Auch Harald Weinrich, der anläßlich des Erscheinens der Winkler-Ausgabe in dem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung geschriebenen Artikel „Neue Leser für Zola“ meinte, man müsse diese „naturalis‐ tischen“ Romane heute „mit einer ästhetischen Einstellung wie gegenüber den großen Mythen der Antike“ lesen  99 , fügte der genannten Forderung den aus einer aktualisierenden Lektüreweise herrührenden Satz hinzu: „Die Rougon-Macquart … sind das großartige, in vielen Einzelzügen sorgfältig dokumentierte Sozialbild einer historisch interessanten Epoche (…), welch eine entlarvende Lektüre für die ge‐ schäftigen Gründer, Bauherren und Sanierungsträger unseres Jahrhunderts.“ Dem ist auch zwanzig Jahre später nichts hinzuzufügen. Weinrichs Satz spricht zugleich aus, was museale Aufbewahrung von Literatur von ihrem lebendigen Weiterleben und Wirken unterscheidet, nämlich ihre Fähigkeit - auf die auch die zitierten Zo‐ laspezialisten hingewiesen haben - immer wieder auf die eigenen Lebensfragen der Rezipienten bezogen werden zu können und so in ihren Erfahrungsschatz einzu‐ gehen. 270 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="271"?> 100 Rita Schober, Aragons „Semaine Sainte“ in: Von der wirklichen Welt in der Dichtung, a.a.O S. 323-351 101 An dieser Stelle folgen die Titel der Nachworte in der Rollen-Offset-Ausgabe, die hier nicht aufgeführt werden. D.R. Betrachtet man die Nachworte als Ganzes, so ist vielleicht folgendes zu sagen: Sie nur unter dem Aspekt der aus einer vierzigjährigen Forschung sichtbar gewor‐ denen Defizite zu verrechnen wäre sicher auch einseitig. Liest man sie in der chro‐ nologischen Folge ihrer Abfassung, so werden drei Phasen erkennbar: eine erste, in der die Realismus/ Naturalismus-Debatte am deutlichsten nachwirkte, eine zweite, die ungefähr 1960 einsetzt, und eine dritte mit Beginn der siebziger Jahre. Das Jahr 1960 stellt für die zweite Phase eine gewisse Wende dar. Von da an orientierten sich die Nachworte mehr und mehr auf die interpretatorische Arbeit am Text und wurden nicht mehr zur Verteidigung Zolas als eines realistischen Schriftstellers geschrieben. Der Einfluß von Lukács war zu diesem Zeitpunkt - wenn auch aus politischen Gründen - zurückgegangen. Die Brechtschen Auffas‐ sungen von einer realistischen Poetik gewannen an Boden, und ich selbst hatte in einem Aufsatz zu La Semaine Sainte Aragons  100 die grassierenden Vorstellungen von einem Ideologiecharakter gestalterischer Verfahren ad absurdum geführt. In einer dritten Phase liefen die Arbeiten an den letzten Nachworten zu La joie de vivre, Le docteur Pascal, L’argent sowie die Neuschrift des Nachwortes zu La curée und die Nachbesserungen der bereits fertigen Nachworte für die Winkler-Edi‐ tion parallel. Die Nachworte wurden durchgängig mit Titeln versehen, die auf die jeweils behandelte Problematik hinweisen sollten, sie wurden von literarisierenden „Aufhängern“ befreit, und der politische Appellcharakter eingestreuter ideologi‐ scher Wertungen wurde abgeschwächt. Die neuen Nachworte hoben sich schon vom Umfang her von den alten ab und erhielten mehr Artikelcharakter. Das Nachwort zu Le docteur Pascal wurde, wie schon vorher das zu L’oeuvre, in dieser anderen Form publiziert.  101 Sicher, Nachworte sind nicht primär für die disziplinäre oder interdisziplinäre wissenschaftliche Forschung geschrieben. Sie haben eine spezifische Funktion. In der pragmatischen Sicht der Verlage sollten sie in Anbetracht der gegebenen Be‐ dingungen unter anderem auch der Absicherung „gewagter“ Publikationsvorhaben dienen. Für die Schreiber waren sie oft einfach eine Gelegenheit, etwas über einen diese interessierenden literarischen Gegenstand zu veröffentlichen, weil die Publi‐ kationsmöglichkeiten literaturwissenschaftlicher Spezialarbeiten aus vielerlei Gründen (Verlagsprofile, Papierkontingente, geringe Interessentenzahl in einem kleinen Lande) beschränkt waren. Im kulturpolitischen Verständnis gehörten sie wohl eher zu einem Volksbildungsprogramm. Sie sollten dem Leser Informationen über literarische Zusammenhänge, Entstehungszeit der Werke und Biographien der 271 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen <?page no="272"?> 102 „Que venait-on faire sur la terre? Quel était le sens de cette existence exécrable…? “ Emile Zola, le docteur Pascal, in: Les Rougon-Macquart, Édition de la Pléiade, a.a.O, t.V,p.1210; vgl Winkler-Ausgabe, S. 489 103 Hans Robert Jauß, Werner Krauss - wiedergelesen, in: Lendemains 69/ 70, 18.Jg. (1993), S. 209. Der Aufsatz erschien im Rahmen des Dossier/ Atelier: Zum deutsch-französi‐ schen Verhätlnis: Werner Krauss, Michael Nerlich (ed.), S. 8-209 104 Emile Zola, Notes générales sur la marche de l’oeuvre, a. a. O. p. 1740 Autoren liefern. Ihr Umfang wurde von den Verlagen meist festgelegt. Sprachlich sollten sie den angezielten Durchschnittskonsumenten nicht überfordern. Ihre wichtigste Aufgabe war sicher, dem Leser in Form von Interpretationen ein Lektü‐ reangebot zu machen. Nun verrät aber jede Interpretation von dem ideologisch-theoretischen Vorver‐ ständnis des Interpreten, kurz von seinem Erwartungshorizont, mindestens ebenso viel wie von dem Werk selbst. Und mein Erwartungshorizont war geprägt durch eine realistische Poetik und eine Orientierung auf Marx. Andererseits ist jede In‐ terpretation - die man sicher von dem reinen Beschreiben struktureller Raster un‐ terscheiden muß - der Versuch, eine Lektüreachse oder eine begrenzte Anzahl von Lektüreachsen durch ein Werk zu legen, um es auf diese Weise zu einer oder meh‐ reren Sinngebungsmöglichkeiten zusammenzuschließen. Meine Lektüreachse war eine realitätsreferentielle, auf der die erkenntnistheoretischen Implikationen hin‐ sichtlich des in Anschlag zu bringenden Realitätsbegriffs nicht thematisiert wurden. Und in Bezug auf die Sinnsuche glaubte ich mich zumindest in der Zielrichtung mit Zola in Übereinstimmung. ‚Le docteur Pasca’l klingt in gewisser Beziehung aus mit der verzweifelten Frage Clothildes nach dem Sinn des Lebens.  102 Für einen De‐ konstruktivisten ist solcherlei Sinnsuche und Sinnkonstitution im Bereich der Li‐ teratur ein mehr als dubioses Unterfangen. Heute scheint vom Standpunkt einer bestimmten literaturwissenschaftlichen Richtung allein schon „die Frage nach der Lebensbezogenheit der Literatur und ihrem Verhältnis zur geschichtlichen Wirk‐ lichkeit obsolet geworden zu sein.“  103 Man muß also prüfen, ob der Leser mit diesen Nachworten auf einen Textsinn orientiert wurde, der in diametralem Gegensatz zu dem von Zola, zumindest seiner eigenen Theorie nach, intentionierten steht. Nimmt man Zolas Zwecksetzung seines Monumentalwerks, „dire la vérité humaine, démonter notre machine… faire voir le jeu des milieux“  104 ernst, dann muß eine realistische Lektüreweise zumindest erlaubt sein. Er wollte die Wahrheit schreiben: über den Menschen, eine Epoche und über seine Zeit. Wieweit die Herausarbeitung dieses Aspektes die Rezeption der Romane seitens der Leser befördert oder behindert, aufgeschlossen oder verdunkelt hat, ist schwer überprüfbar. Ob die Nachworte wegen dieser begrenzten Sicht und 272 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="273"?> 105 Martin Braun, Emile Zola und die Romantik - Erblast oder Erbe? Studium einer kom‐ plexen Naturalismuskonzeption, Erlanger romanistische Dokumente und Arbeiten, Bd. 10, Stauffenburg Verlag, Tübingen, 1993, hält eine solche „Ausgrenzung“ von vorn‐ herein für gerechtfertigt. S. 12 106 Das Werk war 1970 erschienen, erhielt 1977 bei Reclam Leipzig eine 2. Auflage und war von Rita Schober herausgegeben. Es handelte sich um eine kollektive Bearbeitung des tschechischen Originals, hrsg. von J. O. Fischer Prag 1960 (1964 in zweiter erweiterter Auflage erschienen.) 1994 fand ein Kolloquium in der Maison de France am Kudamm Berlin statt, das von Dorothee Röseberg in Zusammenarbeit mit der französischen Bot‐ schaft, dem damaligen Attaché für Universitätsfragen, Michel Cullin, organisiert worden war. Eine Reihe solcher Tagungen waren dem Thema Frankreich und die DDR gewidmet, die letzlich in den Band „Frankreich und das andere Deutschland“ einmün‐ deten. Er erschien 1999 im Stauffenburg Verlag, 2002 und in gekürzter Version im fran‐ zösischen Verlag L’Harmattan unter dem Titel „Images de la France en RDA. Une his‐ toire oubliée“ (2002) ihrer Grundorientierung aus dem nicht abreißenden wissenschaftlichen Dialog über diesen Autor auszugrenzen sind, muß die Forschung entscheiden.  105 Eines ist jedenfalls sicher: Zola ist auch heute noch ein Romancier, dessen un‐ gebrochene Wirkungskraft das nach Millionen Lesern zählende Interesse bezeugt. Und auf diese Rezeptionsgeschichte kommt es letztlich an, denn auf ihr beruht das eigentliche Leben der Texte als Werke.“ 4.2 Literaturgeschichte Der als Lehrwerk eingesetzte Überblick der französischen Literatur, den Rita Schober gemeinsam mit Jan O. Fischer herausgegeben hat, war Gegenstand einer kollektiven kritischen Reflexion im Jahr 1994. Es folgen Auszüge aus Rita Schobers Kommentar zu „Französische Literatur im Überblick“ 106 . „(…) Unser heutiger kritischer Rückblick erfolgt also aus einem Abstand von dreißig Jahren intensiver internationaler Forschung zur französischen Literatur und zu den Problemen der Literaturwissenschaft insgesamt. In dieser Zeit haben weltweit eine rasante methodische Entwicklung auf allen Gebieten der Literatur‐ betrachtung und eine anhaltende ganz neue Gesichtspunkte einbringende theore‐ tische Diskussion um die grundsätzliche Frage nach Möglichkeiten und Grenzen literaturhistorischer Darstellungen stattgefunden. Es ist eine Fülle von Detaildar‐ stellungen zu einzelnen Jahrhunderten und von Gesamtdarstellungen zur franzö‐ sischen Literaturentwicklung publiziert worden, die auf nicht mehr überschau‐ baren Einzeluntersuchungen zu Autoren, Gattungen, Perioden usw. beruhten und von ihnen flankiert wurden. 273 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen <?page no="274"?> Von einem solchen embarras de richesse konnte 1963-64, als dieses Projekt in Angriff genommen wurde, nicht die Rede sein, schon gar nicht wenn man nach einer marxistischen Darstellung, besser gesagt, nach dem, was damals dafür ge‐ halten wurde, Ausschau hielt. Der sich als marxistische Darstellung verstehende Manuel d’Histoire littéraire de la France, den Pierre Abraham und Roland Desné in den Éditions Sociales zwischen 1965 und 1982 herausbrachten, lag nicht vor, und die von der sowjetischen Akademie der Wissenschaften bis dahin erarbeiteten ersten beiden Bände einer geplanten Gesamtdarstellung der französischen Literatur kamen schon wegen ihrer Breite und ihrer anderen Wissenschaftstraditionen ver‐ pflichteten Anlage nicht in Frage. Als Adressatenkreis für eine Geschichte der französischen Literatur war an Stu‐ denten, Schüler, aber auch an ein breites Lesepublikum gedacht, ihnen allen sollte ein überschaubarer und auch bezahlbarer Überblick angeboten werden. Für die Neuerarbeitung eines solchen Abrisses reichten die in Berlin verfügbaren Kräfte in ihrer Konzentration auf Realismusproblematik, 19. Jahrhundert und in meiner Person zu dieser Zeit auf Boileau und Klassik einfach nicht aus. Hinzu kamen wegen der Devisenlage die Schwierigkeiten der Literaturbeschaffung, so daß an Texten zur französischen Gegenwartsliteratur praktisch nur die der in den Édi‐ tions Sociales verlegten sozialistischen Autoren verfügbar waren. Auf Grund eben dieser Literaturlage hatte Werner Krauss u. a. die eigenen Forschungen und die seiner Schüler auf das 18. Jahrhundert orientiert, weil durch die Bodenreform eine Fülle literarischer Werke des 17., 18., und frühen 19. Jahrhunderts aus den Schlös‐ sern in die öffentlichen Bibliotheken gelangt war und so eine wirkliche Forschungs‐ arbeit am Primärmaterial erfolgen konnte. So fiel die Wahl auf den von J. O. Fischer herausgegebenen kurzen Abriß, der zumindest der subjektiven Intention seiner Autoren nach den Versuch eines mar‐ xistischen Ansatzes darstellte. Da sich diese Absicht jedoch meist auf politisch-ide‐ ologische Wertungen und die Gewichtung der Autorenauswahl reduzierte, führte sie auch wegen der Kürze der Darstellung oft zu unvertretbaren Etikettierungen. Dies wurde, soweit es überhaupt möglich war, in der Bearbeitung abgeschwächt. Sie suchte sich auch in der Stillage oft allein schon durch die Wortwahl vom Original abzuheben. Die Vorbemerkung deutet dies an. Trotz aller Vorbehalte, die auch damals schon bei Herausgebern und Bearbeitern gegenüber dem „strucny nástin“ (gedrängter Überblick) vorhanden waren, die Aus‐ bildung forderte ein Handbuch, nicht als Grundlage - die stellten immer Vorle‐ sungen und Seminare dar - aber, als Nachschlagemöglichkeit. Denn man darf nicht vergessen, daß die Studenten französisch verfaßte Literaturgeschichten nicht kaufen konnten - sie waren nicht auf dem Markt - und die Möglichkeit, in Bibli‐ otheken vorhandene Werke zu fotokopieren, war nicht vorhanden. 274 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="275"?> Um jedoch dem Versuch Fischers einigermaßen gerecht zu werden, sollte man nicht vergessen, daß die Grundanlage durch das frühe Datum der Erstauflage 1960 geprägt war. Und das hieß für den historischen Kontext, in dem diese Arbeit ent‐ stand, in politischer Hinsicht: Kalter Krieg, d. h. Konfrontation zwischen Kommu‐ nismus und Antikommunismus; in ideologischer Hinsicht: Auseinandersetzung zwischen Marxismus und den ihn kritisierenden philosophischen Richtungen und in ästhetischer Hinsicht: die Debatte um Realismus, Formalismus und Avantgarde. Dieses historische Koordinatennetz beeinflußte die Auswahl und Wertungskriterien und die Perspektive der dadurch in gewisser Weise bedingten antithetischen Anlage. Bei jeder Literaturgeschichtsschreibung stellen sich drei Grundfragen: die der Periodisierung, die der konzeptionellen und Wertungskriterien, die der Stoffanord‐ nung und Auswahl. Zur Periodisierung Um das Problem der Periodisierung ist zu jener Zeit ernsthaft gestritten worden. Fischer selbst hat dazu mehrere Konferenzen mit ausländischer Beteiligung durch‐ geführt. Es ging um die Frage einer möglichen Vereinheitlichung der Periodisie‐ rungskriterien und damit um deren Charakter: Sollten Daten der allgemeinen Ge‐ schichte oder ästhetisch-literarische Eckdaten und Gesichtspunkte dominant sein? Die diesem Problem zugrunde liegende Primärfrage nach der Geschichtlichkeit des Literaturverlaufs, d. h., ob man überhaupt von einer Geschichte der Literatur sprechen könne und wenn, dann unter welchen Vermittlungen zum gesamthisto‐ rischen Prozeß und entsprechenden Bedingungen, stand nicht zur Diskussion. Die fundamentale Arbeit von H. R. Jauß zum Neudurchdenken dieses Problemkreises (Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, 1967) auf der Basis der Einbeziehung des gesamten Kommunikationssystems zwischen Produzenten und Rezipienten als Vermittlungsfeld zwischen Eigengeschichte der Literatur und Allgemeingeschichte, lag noch nicht vor, und der formalistische Ansatz der Eigen‐ bewegung und Selbstregulierung literarischer Strukturen war für die marxistische Auffassung der Literatur als einer Überbauerscheinung nicht annehmbar. Kurz, die Geschichtlichkeit der Literatur, ihre Bedingtheit durch den gesamten Geschicht‐ sprozeß stand außer Frage. Sie hätte konsequenterweise zur Gliederung nach all‐ gemeinhistorischen Perioden führen müssen. Diese erfolgte bei Fischer jedoch nur in dem Jahrhundertschema der Unterteile der großen Epochen bis zum 19. Jahr‐ hundert. (…) Insgesamt gesehen muß man sagen, daß die Periodisierungsgesichts‐ punkte in dem Abriß nicht einheitlich sind, daß historische, kulturgeschichtliche, literarische, ideologische Kriterien Epochenbezeichnungen zugrunde gelegt werden, daß sich die Gesamtanlage an die gängige Tradition hält und von einer innovato‐ rischen marxistischen Sicht in dieser Frage nicht die Rede sein kann, auch deshalb 275 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen <?page no="276"?> nicht, weil Geschichte primär auf politische Geschichte reduziert wird und die Ver‐ änderungen der ökonomischen Verhältnisse und sozialen Strukturen, kurz der Wandel des „Unterbaus“ und der damit verbundenen Literaturverhältnisse in ihrer Gesamtheit nicht wirklich einbezogen werden. (…) Die Gewichtung der Darstellung zugunsten des 19. und 20. Jahrhunderts hing mit verschiedenen Gründen zu‐ sammen: mit den Unterrichtsplänen (in der CSSR wie in der DDR), den eigenen Forschungen von Fischer und seinen Mitarbeitern, der Übersetzungspolitik der Ver‐ lage, in denen die großen Vertreter des kritischen Realismus eine entscheidende Rolle spielten, also überhaupt mit Wertungskriterien, wie dem Realismus als Wer‐ tungskategorie, die der Sicht auf die Literaturentwicklung zugrunde gelegt wurden. Zu den konzeptionellen Grundlagen und Wertungskriterien Für eine marxistisch intentionierte Literaturgeschichte war die ideologische Grund‐ lage der historische Materialismus mit seiner Globalsicht des Geschichtsverlaufs als einer Geschichte der Klassenkämpfe innerhalb der großen Gesellschaftsforma‐ tionen, deren Ablösung durch revolutionäre Prozesse erfolgte. Für diese Auffassung sprachen die Erfahrung der großen Französischen Revolution und der universal‐ geschichtliche Impuls der Oktober-Revolution ebenso wie die Bestätigung der Klas‐ senkämpfe in den revolutionären Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Hand in Hand mit der Theorie des Formationswechsels ging aber eine verkürzte Endzeit‐ sicht auf die Ablösung des kapitalistischen Systems einher. Da die Universalge‐ schichte in teleologischer Sicht als ein Fortschreiten der Menschheit zu einer hö‐ heren, das Individuum von bisherigen Verkrüppelungen freisetzenden Form der Vergesellschaftung gesehen wurde, mußten die auf diesem Wege miteinander rin‐ genden und konfrontierten Kräfte in progressive und reaktionäre, in Mächte des Aufstiegs und des Niedergangs auseinanderfallen. Und da die geschichtlichen Teil‐ prozesse der Überbauerscheinungen in einer vulgären, die Ideen von Marx verzer‐ renden und vor allem auch die Altersbriefe von Engels nicht berücksichtigenden Weise an dieses dichotome Schema der Allgemeingeschichte gebunden wurden, ge‐ riet vor allem auch die Interpretation der literarischen Produktion des 19. und 20. Jahrhunderts in den geradezu schicksalhaft erscheinenden Kreislauf von Aufstieg und Niedergang. Die Literatur ihrerseits, die die fortschreitende Disjunktion von Individuum und Gesellschaft, die sich potenzierende Selbstentfremdung und Ver‐ einzelung des Menschen, sein Zurückgeworfensein auf das isolierte Ich, sein Ver‐ sinken in Kontaktlosigkeit und Sprachlosigkeit diagnostizierte, schien die Auffas‐ sung zu begünstigen, dass mit der zunehmenden Enthumanisierung und Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen nicht nur ein Niedergang der be‐ stehenden Gesellschaft indiziert wurde, der das Individuum als Mithandelnden der 276 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="277"?> gesellschaftlichen Prozesse ausgrenzte und zu einem ohnmächtigen Beobachter der Vorgänge degradiert, zu einem Objekt, nicht einem Subjekt der Geschichte machte, das sich nur noch im isolierten Schreibakt seiner verlorenen Subjektivität verge‐ wissern konnte, sondern der zwangsläufige Verfall der an die rückschrittlichen sozialen Kräfte gebundenen Literatur. Die Arbeiten von Georg Lukács, die dieses Auf- und Abstiegsschema in jenen Jahren für die französische und deutsche Lite‐ raturentwicklung vertraten, übten sicher auch auf den vorliegenden Abriß ihren Einfluß aus in den ideologischen Wertungen, denen die Autoren des Jahrhunder‐ tendes und der 30er Jahre unterworfen wurden. Philosophisch gesehen mußte eine marxistisch intentionierte Literaturgeschichte sich zum dialektischen Materialismus bekennen, was in simplifizierender Form zur Ablehnung jeglicher idealistischen oder des Idealismus verdächtigen Philosophie geraten konnte. Als spezifische Zeiterscheinung spielte in den Nachkriegsjahren in dieser Hinsicht die Auseinandersetzung mit dem Existentialismus die entschei‐ dende Rolle. Sie konnte folglich auch nicht ohne Einfluß auf die Behandlung von Werken bleiben, die, so wie die Werke Sartres (Schober: S. 417-42 deutsch) oder Camus (Schober: S. 423-426, ebd.) vom Existentialismus beeinflußt waren: Ihre li‐ terarischen Leistungen werden zwar anerkannt, aber letztlich wegen ihrer philo‐ sophischen Orientierung von der ideologischen Gegenposition aus kritisch bewertet. Ihr Kardinalfehler ist entsprechend der Hauptforderung nach Darstellung des ge‐ sellschaftlichen Kausalnexus ihr in dieser Hinsicht ungenügender „Wahrheitsge‐ halt“. „Auch hier werden also die realen Widersprüche verschleiert“, heißt es mit Bezug auf Camus, „und die an den bestehenden Verhältnissen geübte Kritik bildet für die herrschende Ordnung keine Gefahr.“ (S. 426) Auf ästhetischem Gebiet war die zentrale Kategorie der Realismus, wie er kon‐ zeptionell wiederum vor allem von Lukács, aber auch in den sowjetischen Diskus‐ sionen entwickelt worden war. Das Übergewicht, das der Abriß umfangmäßig dem Kapitel „Romantik und Realismus“ gibt, hängt auch damit zusammen, daß in den Werken der kritischen Realisten wie Stendhal, vor allem aber Balzac, der Gipfel‐ punkt der Entwicklung des Realismus gesehen wurde. Und wie die marxistische Philosophie mußte sich in dieser Sicht auch der Realismus seiner „Gegner“ wie Formalismus, Dekadenz und Avantgarde erwehren. (…) Die zentrale Bestimmung der Literatur als einer spezifischen Form menschlicher Erkenntnis und der realistischen Literatur insbesondere als einer Wahrheit zutage fördernden Erkenntnisleistung war jedoch zu dieser Zeit in der marxistischen Äs‐ thetik noch ein Axiom. Mit dieser Auffassung hingen die Wertungsskala zu‐ sammen, an der die behandelten Werke gemessen wurden und ebenso die Bevor‐ zugung des sozialen Romans, speziell des großen Gesellschaftsromans und epochenbilanzierender Großzyklen wie der Comédie humaine oder der 277 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen <?page no="278"?> Rougon-Macquart. Die subjektive Erlebnis- und Erinnerungssicht einer Suche nach der verlorenen Zeit konnte in diesem Raster keine Spitzenposition einnehmen, auch wenn dem Autor bescheinigt wird, daß es sich bei ihm um „einen der bedeutendsten Romanciers des 20. Jahrhunderts“ (S. 362, deutsch in genauer Übersetzung des Ori‐ ginals) handle und „die von Proust angewandte psychologische Introspektion und die damit im Zusammenhang stehende Romantechnik (…) den modernen psycho‐ logischen Roman stark beeinflußt“ habe (ebd.). Die mit dem Realismuskonzept verbundene Totalitätsforderung grenzt diese Wertung wieder ein. „Auf Grund der durchgehend psychologischen Gestaltungsweise aus der Sicht und Erinnerung des erzählenden Subjekts werden jedoch die objektiven Gegebenheiten der historischen Entwicklung verdeckt, und das Ich der Gestalten wird, in seiner unerklärbaren Einmaligkeit über alles andere erhöht.“ (S. 362-362, deutsch übereinstimmend mit dem tschechischen Original) In dieser Kritik äußern sich natürlich auch die Vor‐ behalte gegenüber der Erlebniszeit Bergsons als „subjektiver“, nicht objektiver Zeit im Sinne der gnoseologischen Realismustheorie. Die volle ästhetische Innovations‐ leistung Prousts kann so nur bedingt sichtbar werden. Die im deutschen Text hin‐ zugefügte Schlußpassage (S. 363) kann die vorherige ideologische Schelte wahrlich nicht korrigieren: „ein Menschen Bild, das auf die Wiedergabe der ans Pathologische grenzenden psychischen Vorgänge eines vereinsamten, jeder aktiven Bindung an andere Menschen, vor allem aber jedweder gesellschaftlichen Ideale beraubten In‐ dividuums eingeengt war“ (S. 262). Nach der moralischen Funktionssetzung realistischer Literatur kam es aber auf die Vermittlung solcher Ideale im Interesse des menschlichen Fortschritts an. Di‐ daktisches instruire, Nachahmung und nicht Nachfolge im Sinne Kants, nicht selbsttätiges Aufarbeiten des kritisch oder auch nur einfach Gezeigten durch den Leser war das wirkungsstrategische Konzept der Realismustheorie. Daß diese kon‐ zeptionellen Grundlagen und Wertungskriterien die Auswahl und Einschätzung der Autoren beeinflußt haben und dass sie oft zu moralisierenden Ausstellungen, ideologischen Kurzurteilen und insgesamt zu einer den eigentliche ästhetisch-lite‐ rarischen Prozeß vernachlässigenden Darstellungsweise führen mußten, ist offen‐ sichtlich. Die Mängel, die die Kürze der Gesamtdarstellung hinsichtlich der Stoff‐ anordnung verursacht, sind dem gegenüber weniger gravierend. (…) Da es sich bei der Herausgabe von Fischers Literaturgeschichte um eine aus der Not der Situation geborene pragmatische Entscheidung handelte, hätte ich 1977 einer unveränderten 2. Auflage nie zugestimmt. Sie ist ohne mein Wissen und ohne meine Genehmigung vom Reclam-Verlag Leipzig gedruckt worden. Proteste gegen‐ über Verlag und Literaturamt konnten die Zurückziehung der Auflage nicht be‐ wirken. Der Hinweis auf den für die Herausgeberin durch diesen Nachdruck ent‐ stehenden wissenschaftlichen Schaden blieb ohne Gehör. Man wird aber aus den 278 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="279"?> genannten Gründen die Herausgabe der Literaturgeschichte meist nicht in meiner Publikationsliste finden.“ In der Diskussion zu einer von Danielle Roudnicky-Risterrucci 1995 vorge‐ nommenen Gegenlektüre wandte sich Rita Schober noch einmal der Frage zu, was eine marxistische Literaturbetrachtung sei: „Man muß doch sehen, daß die marxistische Literaturtheorie im Laufe der Jahre bis 1989 eine sehr wesentliche Entwicklung durchlaufen hat. Der Überblick stammt aus der Anfangszeit. Ich darf für mich in Anspruch nehmen, mich mit den Arbeiten von Jakobson und denen der Strukturalisten beschäftigt und auch darüber hinaus publiziert zu haben. Wir haben in Anlehnung daran ein Kommunikationsmodell in Anwendung gebracht, das das Jakobsonsche erweitert. Denn schließlich steht das Werk nicht nur in Be‐ ziehung zu seinem Autor als dessen Ausdruck und zum Publikum als seinem Adressaten, sondern selbstverständlich auch zu dem, wenn auch fiktiv erfaßten Gegenstand und damit zur Welt, in der der Autor lebt, und auf der anderen Seite natürlich auch zur literarischen Tradition. Das ist das eine, was man für das im Laufe der Jahre entwickelte und zugrunde gelegte theoretische Modell festhalten muß. Das zweite ist, daß der literarische Produktionsprozeß natürlich überformt ist auch von dem sekundären Kommunikationsprozeß, der Literaturkritik und Presse sowie Rezensionen und daß er auch den gesamten kulturellen Kommunikations‐ prozeß umfaßt wie ebenso die institutionellen Bedingungen, unter denen Literatur geschrieben und produziert und publiziert wird. (…) Für die mit französischer Li‐ teratur befaßten Wissenschaftler in der DDR ist andererseits feststellbar, daß sie aus Frankreich große Impulse empfangen haben. Wir in Berlin haben versucht, über die Auseinandersetzungen mit der Sprachtheorie zu nuancierteren ästheti‐ schen Positionen zu gelangen. Hinzu kommt - und das halte ich für etwas ganz Entscheidendes - das Abgehen von der ursprünglich primär auf Erkenntnis fest‐ gelegten Auffassung von Literatur. Nach dieser Auffassung wurde Literatur ein‐ geengt auf die Darstellung von wissenschaftlich erkannter und begründeter Wahr‐ heit. Mit diesem Abgehen von dem dominanten Erkenntnisaspekt tritt als subjektives Moment der Bewertungsstandpunkt in den Vordergrund. Diesen bringt der Autor als etwas ganz Einmaliges in das Realitätsverhältnis oder überhaupt in das Erleben der Menschen ein. Damit werden insgesamt der Wertungsaspekt der Literatur und damit ihr Subjektivitätsgehalt und ein Abgehen also von einem ob‐ jektiven Wiederspiegelungsvorgang betont. (…) Wir haben in der DDR seit den 70er Jahren wesentlich ausgearbeitetere, wesentlich differenziertere und ich glaube in einer ganzen Reihe von Fragen, die die ästhetische und literaturtheoretische Problematik betreffen, bereicherte Posi‐ tionen gehabt. Es war schließlich kein Zufall, daß die Literaturwissenschaftler der 279 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen <?page no="280"?> DDR in der Association Internationale de Littérature comparée, zu deren verschie‐ denen Leitungsgremien ich von 1970 bis 1988 gehörte, in den literaturtheoretischen Fragen eine angesehene Position hatten.“ 4.3 Zum Geleit der CD-ROM Ausgabe der Rougon-Macquart Der CD-ROM-Ausgabe von Emile Zolas zwanzig Romanen der Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich liegt die in deutscher Übertragung bei Rütten & Loening, Berlin (DDR) von 1952 bis 1976 erschienene, von mir herausgegebene und mit Nachworten und Anmerkungen ver‐ sehene Ausgabe zugrunde. Sie war nach dem Kriegsende 1945, aber auch seit 1925, die erste deutsche Neuausgabe. Da es in der Bundesrepublik keine Gesamtausgabe Zolas gab, erwarb der Artemis-Winkler-Verlag, München, 1974, noch vor Abschluß der Rütten & Loe‐ ning-Ausgabe, die Rechte für eine Lizenz-Ausgabe, die illustriert von Wilhelm M. Busch u. a. zwischen 1974 und 1977 erschien und zum Teil auch von dem Bertels‐ mann-Club, Gütersloh, und dem Buchclub Ex libris, Zürich, übernommen wurde. Eine Gesamtausgabe der Rougon-Macquart ist zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser CD-ROM im Buchhandel nicht mehr verfügbar. Die Romane der Reihe wurden durchgängig neu übersetzt, und zwar von ehe‐ maligen Studenten des romanischen Instituts der Humboldt-Universität, die bei Victor Klemperer und mir studiert hatten. Nur für Germinal ist die vorliegende Übertragung von Johannes Schlaf von 1925 als Grundlage verwendet worden und für ‚Die Beute’, eine Rohübersetzung von Hilda Westfahl, beide nach gründlicher Bearbeitung durch Hans Balzer, dem im Verlag für die Ausgabe verantwortlichen Redakteur. Im übrigen erfuhren die Übersetzungen aller Romane eine von Herrn Balzer, nach seinem Tode von Herrn Taubert, und mir in mehrwöchiger Arbeit durchgeführte sprachlich-stilistische Schlussredaktion zum Zwecke einer Homo‐ genisierung hinsichtlich Zolas stilistischen Besonderheiten. Die wissenschaftlichen Grundlagen dafür mussten aber von der Herausgeberin erst erarbeitet werden. Außerdem wurden bei besonders schwierigen sachlichen Fragen, z. B. Bergwerk (Germinal), Pferderennen (Nana), Börse (Das Geld), Speisen (Der Bauch von Paris) Fachleute zu Rate gezogen. In den Nachworten wird bisweilen auf Übersetzungs‐ probleme hingewiesen. Doch bei aller Sorgfalt hinsichtlich sachlicher Richtigkeit - Übertragung kann immer nur eine Annäherung sein, zumal bei einem Autor, der sowohl den Satzduktus als auch Klangmotive semiotisch einsetzt. Beides ist in der anderen Sprache oft schwer nachvollziehbar. Als Émile Zola (1849-1902) an die Vorbereitung seines großen Plans 1868 heran‐ ging, war er ein junger Autor und Journalist, der bisher vor allem durch die Pro‐ 280 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="281"?> vokationen seiner Literatur- und Kunstkritik aufgefallen war (1866 ‚Meine Haß‐ gesänge’ und ‚Mein Salon’, u. a. zu dem Roman ‚Germinie Lacerteux’ der Brüder Goncourt und zur Malerei Manets) und dessen eigenen Roman ‚Thérèse Raquin’ 1867 aber der führende Kritiker Louis Ulbach als „littérature putride“ (Verwesungs‐ literatur) verrissen hatte. In seiner, der zweiten Auflage der ‚Thérèse Raquin’ (1868) vorangestellten Antwort auf diesen Verriß bekannte sich Zola zu einer mit den Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft und Medizin Schritt haltenden Literatur, zur wissenschaftlichen Analyse - später wird er Experimentalmethode sagen - und zum „physiologischen“ Roman, d. h. zum „Studium der Temperamente und der weitreichenden Veränderungen des Organismus durch den Druck von Mi‐ lieu und Umständen. „Als literarisches Programm bedeutet dies: Wissenschaft als Basis; Beobachtung und Analyse als wissenschaftliche Methode, sowie Doppelbe‐ stimmtheit des Menschen durch natürliche Anlage und zeitspezifischen Einfluß des jeweiligen Milieus. Zugrunde lagen dieser Position im weiteren Sinne „ein uner‐ schütterlicher Szientismus und „Naturalismus“ im philosophischen Sinne, ver‐ bunden mit dem Positivismus Comtes und dem Determinismus Taines und den neuen diachronischen Wissenschaftsorientierungen, wie sie u. a. auch in der Evo‐ lutionstheorie Darwins zum Tragen kamen, kurz die entscheidenden neuen Er‐ kenntnisse, die die Wissenskonfiguration in dieser zweiten Hälfte des 19. Jh. be‐ reithielt.“ (R.Sch. Prüfstand 131) Zur unmittelbaren wissenschaftlichen Vorbereitung für seinen „großen Plan“ studiert und exzerpiert Zola noch ‚Die Physiologie der Liegenschaften von Letour‐ neau’ und ‚Die natürliche Vererbung’ von Doktor Lucas. Letztere resümiert er zu‐ sätzlich im Hinblick auf sein mögliches Romanpersonal. Zur Gliederung der Figu‐ renensembles entwickelt er eine „soziologische“ Aufschlüsselung der Gesellschaft in vier Schichten (er sagt mondes, Welten! ): Volk, Kaufleute, Bürgertum, Oberklasse und „un monde à part“ (eine besondere Welt), wozu Dirnen, Mörder, Priester und Künstler gehören. (…) Zola ist wirklich der erste, der als Romancier eine solche Riesenaufgabe plant, systematisch plant und auch durchführt. Der Sohn des begabten und erfolgreichen Kanalbauingenieurs hat offensichtlich die Fähigkeit zu planen und zu konstruieren „geerbt“. Für die Aufstiegs- und Niedergangsgeschichte seiner Familie hatte er ungefähr den Zeitraum einer Generation vorgesehen. Doch daß die historischen Entwick‐ lungen selbst - die Ereignisse der Jahre 1870/ 71: deutsch-französischer Krieg, Nie‐ derlage Frankreichs bei Sedan, Sturz des Kaiserreichs, Gründung der französischen Republik - sich zeitlich so eingrenzen würde, konnte er nicht vorhersehen, auch wenn er in der am 11. Juli 1871 geschriebenen Vorrede zum Eröffnungsroman der Reihe feststellt, dass er den „Sturz Napoleons“ stets als notwendiges Ende betrachtet 281 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen <?page no="282"?> habe, obwohl nicht zu hoffen war, dass er so schnell eintreten würde. „Nun habe er ihm den schrecklichen und notwendigen Ausgang für sein Werk gegeben“, d. h. als Nebeneffekt gewissermaßen das von ihm geplante Abstiegsprogramm für die zeit‐ typische Familiengeschichte als historische Realität bestätigt. Die geschichtlichen Ereignisse änderten aber nicht nur den Zeitrahmen, sondern vor allem Zolas Perspektive. Aus der für die Darstellung gewählten Zeitgeschichte wurde der Rückblick auf eine untergegangene Epoche oder wie Zola selbst sagt „das Bild eines toten Regimes, einer merkwürdigen Epoche des Irrsinns und der Schande.“ Schon 1872 entwirft Zola einen zweiten erweiterten Plan, worin z. B. ‚Der ‚Bauch von Paris’ auftaucht. Ungefähr bis zum ‚Totschläger’ hält er die ursprüngliche Rei‐ henfolge ein. In der ‚Beute’ werden dazu zwei Romane zusammengezogen. Doch aus den 1869 geplanten zehn Romanen werden am Ende insgesamt zwanzig und aus den ursprünglich für die Fertigstellung veranschlagten fünf Jahren schließlich dreiundzwanzig. Und je länger sich die Aufarbeitung der geplanten „Kapitel“ seiner Familiengeschichte hinzieht, desto mehr drängt sich die Gegenwart mit ihren Pro‐ blemen in die Vergangenheit. Neue Stoffkomplexe, z. B. die Bauern, die Börse, werden aufgenommen, der Stammbaum muß um neue Mitglieder erweitert werden, für mehrere Romane getrennt geplante Themen werden zu einem Roman zusam‐ mengeschlossen. Vor allem aber ändert sich mit den neuen Zeiterfahrungen Zolas eigene Grundeinstellung. Den historischen Rahmen wird er zwar mit dem vor‐ letzten Roman, dem ‚Zusammenbruch’ getreulich abschließen. Und die Art, seine Romane vorzubereiten, der Aufbau und die Gliederung, die grundsätzliche Faktur und die écriture ändern sich bis zum Schluß nicht. Die perspektivische Wende aber setzt mit dem Roman ‚Das Paradies der Damen’ 1883 ein. Zola erkennt die grundsätzlichen ökonomischen Veränderungen an den veränderten Erscheinungsformen der Industriegesellschaft im Zeitalter des frühen Monopolkapitalismus: Massenproduktion-Massenverkauf-Arbeitsmassen, aber auch an den verheerenden Folgen für den Kleinhandel, die kleinen Fabrikanten. Es ist kein Zufall, dass er in seiner Korrespondenz mehrfach darauf hinweist, dass jedes neue gesellschaftliche Phänomen, mit dem er sich beschäftigt, ihn auf den Sozialismus verweise, d. h. auf die sich aggravierenden sozialen Konflikte. Ausgezogen war er mit dem Vorsatz, mit der Gesellschaftskritik, wie mit einem Kainszeichen die Wunden der Zeit auszubrennen. Getreulich Comtes Grundsatz, dass allein Wissen die notwendige Voraussicht („savoir pour prévoir“) ermögliche, hatte er seine Hoffnung auf die Wissenschaft gesetzt. Abschwören wie Renan 1890 mit dem Buch ‚Die Zukunft der Wissenschaft’ wird er nicht, nach wie vor wird er sie unerschütterlich verteidigen, z. B. am 18. Mai 1893 in einer Rede anlässlich des Jahresbanketts der „Association générale des étudiants“. Aber zu dem Wissen muß für ihn nun gewissermaßen noch der „Glaube“, das Vertrauen in die Zukunft hin‐ 282 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="283"?> zukommen. Und so wird aus dem „Wissenschaftler“ des Experimentalromans der Prophet der Vier Evangelien. Die darin verkündeten vitalistischen lebensphiloso‐ phischen Lehren erweisen sich allerdings als Irrlehren. Sie sind nicht die Vollendung seines Lebenswerks, wohl aber seine realpolitische Aktion zur Verteidigung des un‐ schuldig verurteilten jüdischen Hauptmanns Dreyfus. Mit dem 1898 in der Zeitung ‚L’Aurore’ veröffentlichten, an den Präsidenten der Republik gerichteten Brief „J’accuse“ („Ich klage an“) tritt er in die Fußstapfen Voltaires zur Verteidigung von Wahrheit und Gerechtigkeit, wird er zum Wahrzeichen für aufrechte citoyen-Ge‐ sinnung. Mit diesem Bekennertum geriet er nach der Provokation seiner scho‐ nungslosen Gesellschaftskritik erneut ins Kreuzfeuer der Meinungen, diesmal vor allem der politischen. (…) Zolas Werk entsprach in dem inzwischen völlig veränderten literarischen Feld der Nachkriegsjahre und des heraufziehenden Faschismus trotz aller formalen Nachahmungen, die es in den unterschiedlich ausgerichteten, auf seinen und Bal‐ zacs Romanzyklus zurückgehenden Zyklenromanen fand, nicht mehr dem Zeitge‐ schmack. So wurde ihm in den Jahrzehnten nach dem ersten Weltkrieg weder in Frankreich, noch in Deutschland das ihm gebührende wissenschaftliche und ver‐ legerische Interesse entgegengebracht. Die erste wissenschaftliche Ausgabe der Rougon-Macquart gab, zunächst noch unter der Schirmherrschaft des bekannten Schriftstellers Armand Lanoux, Henri Mitterand in den Éditions de la Pléiade, Paris 1960-67, in fünf Bänden heraus. Mit‐ terand konnte in den umfangreichen, wissenschaftlichen Einführungen zu den ein‐ zelnen Romanen auch die in der Bibliothèque nationale vorhandenen dossiers nutzen, die Zola zur Vorbereitung eines jeden Romans angelegt hatte und deren Kenntnis natürlich für das Verständnis der Werke von größter Wichtigkeit war. 1966-1970 erschien, ebenfalls von Henri Mitterand herausgegeben, im Cercle du livre précieux die 15-bändige Ausgabe der Oeuvres complètes, die zum ersten Mal auch die bisher nicht veröffentlichten journalistischen Artikel Zolas aufnahm. Die komplette, hervorragend aufbereitete Korrespondenz Zolas ist erst zwischen 1978 und 2001 erschienen - die Briefe Zolas an die Mutter seiner Kinder, Jeanne Rozerot, hat die Familie allerdings selbst für diese Edition nicht frei gegeben. Die Vorberei‐ tungstexte (dossiers préparatoires) zu den einzelnen Romanen werden unter dem Titel ‚Die Werkstatt der Rougon-Macquart’ (La Fabrique des Rougon-Macquart) zur Zeit, betreut von Colette Becker, durch das am französischen Forschungszen‐ trum (CNRS) etablierte Zola-Zentrum publiziert. Zwei Bände, für die Romane bis einschließlich ‚Der Totschläger’, sind bereits fertig. Die bibliographischen Angaben zu diesen Zolas Werk betreffenden Publikationen, ergänzt um einige Sekundär‐ werke, finden sich im Anschluß an das Geleitwort. 283 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen <?page no="284"?> Parallel zu den wissenschaftlichen Textsicherungen seit 1960 setzte in Frankreich und international eine kaum mehr überschaubare wissenschaftliche Forschung zu Zolas Werk ein, die allerdings hinsichtlich vieler Problemstellungen überhaupt erst durch diese Materialaufbereitungen möglich wurde. 1952 stand für die geplante Ausgabe der Rougon-Macquart in deutscher Sprache als einzige annotierte französische Gesamtausgabe nur die von Maurice le Blond, dem Gatten von Denise, Zolas Tochter, zwischen 1927 und 1929 bei François Ber‐ nouard, Paris, in 50 Bänden herausgegebene Collection des Oeuvres complètes zur Verfügung. Sie war hilfreich, weil sie auch einige Auszüge aus den dossiers brachte, sowie die Vorarbeiten, den Stammbaum und Beispiele für die zeitgenössische Pres‐ sereaktion auf die einzelnen Romane. An Exaktheit und umfänglicher Information war sie mit den späteren Ausgaben nicht vergleichbar. Dennoch, ohne diese Edition wäre eine in den wesentlichen Materialvoraussetzungen gesicherte Annotierung der Romane in den Nachworten nicht möglich gewesen. Das 1952 gestartete Verlagsprojekt zu Zola sah zunächst nur die Publikation einer Auswahl von acht Romanen aus den zwanzig des Gesamtzyklusses vor. 1956 aber wurde es bereits in eine Gesamtedition überführt. Mit dieser Veränderung hängt z. T. die in der angeführten Tabelle ausgewiesene unterschiedliche Reihenfolge der einzelnen Romane der deutschen Ausgabe gegen‐ über der französischen zusammen. Das offensichtliche Vorziehen der bekannten Erfolgsromane sollte das Projekt natürlich bei den Lesern durchsetzen helfen. Manchmal gab es auch Verschiebungen durch Terminüberschreitungen bei den Übersetzungen. Die Veröffentlichung des Romans ’Das Geld’ als letzten der Reihe aber hatte andere Gründe. Dieser Roman behandelt bekanntlich den Konkurrenzkampf zweier Banken um die Vormachtstellung in der Finanzwelt, den Zola aus der Sicht seiner Zentralfigur Saccard als den Kampf des jüdischen Bankiers Gunderman gegen sein „katholisches“ Bankunternehmen interpretiert. Und in dieser Sicht fällt aus Sac‐ cards Munde immer wieder die Beschimpfung Gundermans als „sale juif “. Dass gerade solche Kurzsätze sich dem Leser, selbst unbewusst, im Kopfe festsetzen und vom Bewußtsein wie Tatsachen gespeichert werden, ist aus der modernen Wer‐ bungspsychologie hinlänglich bekannt. Was tun mit diesem Roman, angesichts solch möglicher ideologischer Vergiftungen und angesichts der jüngsten deutschen Geschichte? Der Roman wurde also immer wieder zurückgestellt, obwohl er ein Erfolgsroman war. Und als er zum Abschluß der Reihe endgültig gebracht werden musste, gab es ernsthafte Überlegungen, diese Sätze zu streichen - in einer Ausgabe, deren höchstes Ziel Texttreue war! Schließlich einigten wir uns mit dem Winkler-Verlag auf Texttreue, womit dem Nachwort die Aufgabe zufiel, den ver‐ 284 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="285"?> logenen, von dem eigenen Geschäftsinteresse Saccards gesteuerten Charakter dieser Beschimpfungen in der literarischen Interpretation deutlich zu machen. Bei solchen großen Werkausgaben war es üblich, Literaturwissenschaftler für die Herausgabe heranzuziehen. Ihre Einführungen, die den Autor in seiner Zeit vorstellen und das jeweilige Werk interpretieren und mit sachdienlichen Anmer‐ kungen versehen sollten, waren nicht für den literaturwissenschaftlichen oder li‐ teraturtheoretischen Fachdiskurs bestimmt, sondern dafür gedacht, den neu zu ge‐ winnenden, nicht aus dem Bildungsbürgertum kommenden Leserschichten den Zugang zur realistischen und humanistischen Weltliteratur zu erleichtern. Diese beiden Aspekte in Zolas Romanen herauszuarbeiten, war deshalb auch u. a. ein Anliegen der Nachworte zu den Rougon-Macquart - dies umso mehr, als Zola selbst sich mit der Bezeichnung Naturalismus für die von ihm initiierte literarische Rich‐ tung von dem gleichzeitig aufgekommenen Terminus Realismus distanzieren wollte, den Champfleury und Duranty für die von ihnen herausgegebene Zeitschrift ‚Le Réalisme’ zur Propagierung einer photographisch-mimetischen Abbildweise gewählt hatten. Man könnte den in den 50er, Anfang 60er Jahren in der DDR verwandten Rea‐ lismusbegriff mit der Kurzformel charakterisieren: Darstellung typischer Charak‐ tere unter typischen Umständen. Als klassisches Vorbild für diesen Realismus galt das Romanwerk Balzacs, das Friedrich Engels 1888 in einer Kurzanalyse in dem Brief an die englische Schriftstellerin Margaret Harkness als Musterbeispiel ange‐ führt hatte. „Er halte“, schrieb Engels, „Balzac (…) für einen weit größeren Meister des Realismus als alle Zolas passés, présents et à venir, (…).“ Diese Grundposition vertrat auch Georg Lukács, der entscheidende marxistische Literaturtheoretiker dieser Jahre. Lukács erkannte und analysierte treffsicher die literarischen Ver‐ änderungen, die sich gegenüber dem klassischen Realismus eines Balzac in den Werken Flauberts oder Zolas im Zusammenhang mit den geschichtlichen Verände‐ rungen vollzogen hatten, aber er bewertete sie vom Standpunkt eines festgeschrie‐ benen Literaturideals, das sich an den Vorbildern der deutschen Klassik orientierte. Lukács verstand unter einem idealen realistischen Kunstwerk ein organisches Ganzes, dessen Teile aufeinander bezogen und durch eine zentrale Handlung struk‐ turiert sind. Der dogmatische Einfluß von Lukács auf das literaturtheoretische Denken, der allerdings nicht ihm anzulasten war, ging zwar mit den 60er Jahren immer mehr zurück, aber in den beiden ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg eröffneten seine Arbeiten, angesichts der oft noch vorherrschenden bio‐ graphisch, psychologisierend oder gar noch klimatheoretisch orientierten Litera‐ turbetrachtung - seine die Literatur in die Geschichte integrierenden Analysen einen neuen Horizont. Diese Bindung an die Geschichte wurde allerdings beein‐ trächtigt durch eine in der damaligen marxistischen Gesellschaftstheorie vorherr‐ 285 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen <?page no="286"?> schende, verkürzte teleologische Sicht auf den weiteren Geschichtsverlauf, der durch ein bereits heraufziehendes sozialistisches Zeitalter geprägt schien. Hinzu‐ gefügt werden muß allerdings, dass eine solche Geschichtssicht sich nicht allein auf Lukács oder das Land beschränkte, in dem diese Zola-Ausgabe entstand, sondern weltweit Anhänger hatte und auch der prophetischen Vision des behandelten Autors selbst entsprach. Die parallel zu dieser teleologischen Geschichtssicht entwickelte Feststellung von dem unaufhaltsamen Niedergang des bürgerlichen Zeitalters, mit seiner fortschrei‐ tenden Verdinglichung und Selbstentfremdung der Individuen war in der Sicht von Lukács die objektive Begründung für die sich steigernde Erschwerung jeglicher re‐ alistischen, sprich die tatsächlichen gesellschaftlichen Vorgänge erfassenden lite‐ rarischen Darstellung. Wenn diese Entwicklung realistische Literatur auch nicht vollständig unmöglich machte, so konnten doch nur in subjektiv heroischer An‐ strengung einzelne Durchbrüche gelingen, wie z. B. in der deutschen Literatur bei Thomas Mann. Der sozialkritische Gesellschaftsroman war aus ideologischen Gründen von dieser Entwicklung besonders betroffen. Und auch Zolas Werk ist sowohl bei zeitgenössischen als auch späteren marxistischen Kritikern von diesem Verdikt betroffen. Diese zeitbedingten theoretischen Auffassungen haben natürlich auch ihre Spuren in den z. T. vor mehr als fünfzig Jahren begonnenen Nachworten hinter‐ lassen. Im Grund aber betrafen sie vor allem die teleologische Geschichtssicht, die jeweiligen ästhetischen Wertungen oder Rückspannungen auf Balzacs Vorbild, nie jedoch die sachlichen Ausführungen. Für die Winkler-Ausgabe wurde 1974 das Nachwort zu ‚Die Beute’ neu geschrieben. Geringfügige Korrekturen wurden so‐ wohl für diese, ebenso wie für die Rollen-Offset-Ausgabe vorgenommen. So wurden z. B. „Aufhänger“ am Anfang der Nachworte z. T. gestrichen und die Nachworte mit Titeln versehen. Nicht verändert jedoch wurden die in manchen Nachworten vorhandenen wechselseitigen Hinweise auf andere Romane und die dadurch be‐ dingten Wiederholung. Denn die Romane waren ja für den Einzelverkauf vorge‐ sehen und kamen nicht auf einmal als Gesamtausgabe heraus. Eine solche Überschneidungen tilgende Umarbeitung ist auch für diese CD-ROM-Ausgabe nicht vorgenommen worden, weil ihr historisch-dokumentari‐ scher Charakter dadurch zerstört würde. Mein erstes Nachwort zu ‚Das Glück der Familie Rougon’ zeigt zudem jedem, der einmal einen Blick in die Tagebücher meines verehrten Lehrers Victor Klemperer geworfen hat, deutlich den Einfluß seiner Diktion. Ich bin mir dessen vor allem für die ersten Nachworte eigentlich erst jetzt beim Wieder-Durcharbeiten nach Jahrzehnten bewusst geworden. Und auch sonst ist ein gewisser stilistischer Wandel feststellbar, der allgemein auch mit dem veränderten Sprachgebrauch in literaturgeschichtlichen Darstellungen zu tun hat. 286 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="287"?> 107 HU UA, NL Schober, Karton Nr. 2/ 3 108 Vgl. Hans-Otto Dill. Nekrolog der Leibniz Sozietät, veröffentlicht in : Junge Welt 9.1.2103. S. 5 109 Tagesspiegel 7. Juli 1998, S. 27 110 HU UA, NL Schober, Karton Nr. 15 Insgesamt hat sich die Arbeit an der Ausgabe fast fünfundzwanzig Jahre hinge‐ zogen. Natürlich haben sich theoretische Auffassungen, persönliche Vorausset‐ zungen und Kenntnisse in diesen Jahren verändert und damit auch mancher Blick auf einen bereits behandelten Roman. (…)“  107 Bei allen selbstkritischen Überlegungen ist jedoch klar, für Rita Schober blieb Literaturwissenschaft eine Gesellschaftswissenschaft. Aus dem Jahr 2007 ist von ihr der Satz überliefert: „Mich interessiert die Literatur als ein Seismograph der Gesellschaft.“ 108 Etwas ausführlicher konnten Leser des Tagesspiegels 1998 den Entwick‐ lungsprozess bzw. Veränderungen der literaturtheoretischen Positionen Rita Schobers verfolgen. Solche Veränderungen deuteten sich bereits seit den 1960er Jahren an. 1968 erschien Im Banne der Sprache. Dort setzte sie sich als eine der ersten in deutscher Sprache mit dem französischen Strukturalismus und der „Nouvelle Critique“ (speziell mit Roland Barthes) auseinander. An ihrer dadurch veränderten Realismus-Formulierung liegt ihr besonders viel: „Der Realismus eines Werkes ist nicht einfach eine Dingqualität des Textes, sondern einen Bezie‐ hungsqualität zwischen Text und Leser.“ Dieses undogmatische Plädoyer für die Kommunikationstheorie ordnete sich ein in die Ansätze der ostdeutschen Re‐ zeptionsästhetik, die eine eigenständige marxistische Perspektive parallel zur Konstanzer Schule entwickelt hatte. Nicht alle Ideen der marxistischen Litera‐ turbetrachtung seien falsch, erklärt Rita Schober: „Den Rekurs auf die Geschichte, den Rationalismus und die Dialektik, die auch den Ausschlag für mein Kommu‐ nikationsmodell gab, halte ich weiterhin für gültig.“ 109 In ihren doch zahlreichen Rückblicken auf ihr Leben und auf ihre wissen‐ schaftlichen Positionen kann man erkennen, dass Rita Schober zu allererst die auf Sprache und deren Analyse gerichtete Wissenschaftlerin geblieben ist. Es ist kein Zufall, dass zu den für sie wichtigsten Wissenschaftlern, denen sie be‐ gegnet ist, Sprachwissenschaftler wie Jakobson, Rita Lejeune und Iorgu Iordan gehören. Den Strukturalismus hat sie literaturtheoretisch, vor allem aber auch in seiner sprachwissenschaftlichen Grundlegung geschätzt. 1988 notierte sie in Vorbereitung auf ein Interview: „Und die Auseinandersetzung mit dem Struktu‐ ralismus hat mich gezwungen, meine wissenschaftlichen Fragestellungen kritisch zu reflektieren.“ 110 287 4. Wissenschaftliche Selbstreflexionen <?page no="288"?> Dieser Ansatz entsprach ihrem schon in der Ausbildungszeit und in der Prager Universität, vor allem im Lateinunterricht geschulten formal logischen Denken. Zum Marxismus fand sie - wie bereits deutlich wurde - erst später. Der in der Vita und in anderen Texten immer wieder Erwähnung findende Lehrgang für Dozenten an der Parteihochschule 1948 als ein Schlüsselerlebnis für ihre marxistische Schulung, konnte nur eine Initialerfahrung sein. Die Aus‐ einandersetzung mit dem Marxismus und der Frage nach einer marxistischen Methode der Literaturbetrachtung vollzog sich in einem längeren Prozess, zu‐ nächst in den 1950er Jahren unter dem Einfluss von Georg Lukács, dann aber, als Rita Schober an Selbstsicherheit gewonnen hatte, wandte sie sich teilweise dem Strukturalismus zu. Der Marxismus als Methode konnte in mehr oder we‐ niger engen Grenzen variieren. 5. Rita Schober und Victor Klemperer Rita Schober hat in ihrer wissenschaftlichen Laufbahn viel über Victor Klem‐ perer, mit dem sie auch eine Freundschaft verband, gesprochen und geschrieben. Sie hielt Laudationes zu seinen Lebzeiten, sprach an der TU Dresden als Emerita anlässlich seines 100. Geburtstages und war nach 1989, insbesondere ab 1996, als die Tagebücher Klemperers erschienen waren, stets gefragt für Vorträge und Interviews, wenn es um Victor Klemperer ging. Sie war und gilt weiterhin als seine berühmteste Schülerin. Im Folgenden soll diese Schülerschaft etwas näher betrachtet werden, schließlich erscheint das Bild doch widersprüchlich, denn Victor Klemperer war kein marxistischer Literaturhistoriker oder -theoretiker und politisch muss das Verhältnis beider nach den heutigen Kenntnissen nicht ganz ungetrübt gewesen sein. Sie selbst hat ihn stets hervorgehoben, wenn sie nach besonderen und für sie bedeutenden Begegnungen gefragt wurde. Es ist jedoch ebenso bekannt, dass sie methodisch und theoretisch ein marxistisches Herangehen an die Literatur‐ betrachtung anstrebte und sie insofern der Krauss-Schule näher stand. Sie litt unter den Zwistigkeiten zwischen den beiden berühmten Romanisten, wie sie besonders im Interview von 1995 deutlich machte. Sie selbst hat, wie bereits gesagt, eine positive Beurteilung ihrer Werke durch Krauss mehr geschätzt als die Wahl in die Akademie der Wissenschaften der DDR. Klemperer tolerierte Rita Schobers Eigenständigkeit bei der Beurteilung des Werkes Emile Zolas und ihrer theoretischen Positionen zum Naturalismus. Dies 288 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="289"?> bestätigt das Gutachten Klemperers zur Habilitationsschrift von Rita Schober, das im nicht archivierten Nachlass überliefert ist: „Gutachten zur Habilitationsschrift Dr. Schober ‚Emile Zolas Theorie des na‐ turalistischen Romans und das Problem des Realismus’. Die vorliegende Habilitationsschrift Dr. Schobers ist in mehrfacher Hinsicht wesentlich: 1. Die marxistisch-sowjetische Literaturtheorie, auf die sich die Verfasserin durchweg stützt, gibt eine Reihe fachlicher Bezeichnungen dem Roman‐ tischen, Realistischen, Naturalistischen, Typischen, einen entscheidend anderen Inhalt als den vordem und in den westlichen Ländern auch heute noch von ihnen ausgedrückten. Bei uns entsteht häufig Verwirrung da‐ durch, dass bei der Anwendung dieser Bezeichnungen nicht immer ein‐ deutig bei dem einen oder anderen Begriffsinhalt verharrt wird. Hier hat Frau Schober sehr genaue Analysen und Abgrenzungen vorgenommen und dadurch sich um die Literaturwissenschaft im allgemeinen verdient gemacht. 2. Zola hat seine Theorie des realistischen und naturalistischen Romans, des Romanhelden, Komposition usw. nicht nur generell und in zusammen‐ hängender Darstellung, sondern auch in zahlreichen Einzelkriterien teils entwickelt, teils von verschiedenen Seiten her beleuchtet. Indem die Ver‐ fasserin hierauf in dem Abschnitt „Die Auseinandersetzung mit dem li‐ terarischen Erbe“ Punkt um Punkt eingeht, erweitert sie den stofflichen Umkreis ihrer Untersuchung beträchtlich: man erhält Einblick vor allem in die Romankunst Balzacs, Stendhals und Georges Sands 3. Erweiterung des Themas um das Rein-Ästhetische hinaus ins Philoso‐ phische ergibt sich mit Selbstverständlichkeit, da der Theoretiker Zola von Taine und der Naturwissenschaft ausgeht. 4. Es stand längst fest, dass Zola nur unter Durchbrechung der eigenen Theorie zu bedeutender dichterischer Leistung gelangen konnte. Zum ersten Mal aber wird hier in genauer Analyse festgestellt, was bei der Verfehltheit des Ganzen dennoch an positiven und in die Zukunft wei‐ senden Elementen darin enthalten ist. Wohl ist Zolas „Kategorie der Wahrheit durch seinen Physiologismus weitgehend eingeschränkt“, aber es ist doch die Darstellung der Wahrheit in der Literatur“ für die er überall gegen jedes Ausweichen kämpft, „und die überwiegend realistische Praxis seiner Romane verlieh der naturalistischen Kategorie der Wahrheit doch wiederum ihr volles gesellschaftliches Gewicht.“ 5. Der theoretische Teil der Arbeit wird ergänzt durch die sehr ausführliche ebenso sachliche wie liebevolle Analyse des Germinal, in dem die Ver‐ 289 5. Rita Schober und Victor Klemperer <?page no="290"?> fasserin die Gipfelleistung Zolas, seine entscheidendste Annäherung an den (völlig für ihn, den Nichtmarxisten, nicht erreichbaren) marxistischen Sozialismus sieht. 6. Alle Ausführungen sind auf breite Zitate aus den angezogenen Schriften gestützt, die beigegebene Bibliographie ist sehr reichhaltig, besonders die einschlägigen französischen, deutschen und sowjetischen Publikationen scheinen vollzählig berücksichtigt. Nach alledem halte ich die vorgelegte Arbeit für wohlgelungen und für eine Bereicherung sowohl der Literaturwissenschaft im allgemeinen als der Spezi‐ alforschung auf dem Gebiet der französischen Literaturgeschichte und empfehle der Fakultät, sie als Habilitationsschrift anzunehmen. 16. Dezember 1953 (Prof. Dr. Dr. Klemperer)“ In einem Interview für eine Rundfunksendung im Jahr 1996 (Der Sender war nicht vermerkt), das als transkribiertes, maschinenschriftliches Manuskript im nicht archivierten Nachlass übermittelt ist, berichtet Rita Schober über Klem‐ perer als ihren Betreuer der Habilitationsschrift wie folgt: „Durch Klemperer bin ich nun natürlich in die Literaturwissenschaft zurückgekommen und das in die moderne Literatur. Aber es war so, daß Klemperer einen nicht irgendwie in eine Richtung gezwungen hat. Er war da sehr tolerant. Und mich haben eben in der damaligen Zeit die Auseinandersetzungen, die ja in der Literaturwissenschaft schon im Gange waren, in der Literaturtheorie interessiert. Und diese ganze Problematik um Realismus-Romantik und so weiter. Ich wollte ursprünglich über George Sand schreiben und hatte da auch schon viel gearbeitet. (…) Und durch diese Unterbre‐ chung mit der Schwangerschaft, und allem Drum und Dran, was daran hing, hat mich gehindert dieses Thema zu Ende zu führen, auf der anderen Seite eben gerade diese theoretische Problematik Verhältnis Romantik-Realismus, wofür es keine neuen, wie man ja nun wollte, marxistischen, und auch sich wünschte, Vorgaben gab. Ich bin damit nicht fertig geworden. Ich bin daran einfach gescheitert. (…) Aber Klemperer für den war das nicht umstritten, für Klemperer war klar, Flaubert und Zola waren für ihn größere Realisten als Balzac. (…) Flaubert war eigentlich für ihn der Höhepunkt. Und Sie wissen, dass die Lukácsche Theorielinie ganz anders lief, da gings ja von Balzac abwärts, nicht wahr. Und bei Flaubert war gerade der Wendepunkt zum Negativen. Bei Klemperer war er zum Positiven, zum großen Realismus. Aber die Auffassung, dass das eigentlich ein geklärtes Problem ist, und keine offene Frage, die hat Klemperer nicht gehindert zu akzeptieren, dass ich mich damit beschäftige, dass ich darüber schreibe und eine Schrift einreiche und die positiv bewertet hat. Das zeigt auch ein reifes Verhältnis im Umgang zu anderen Meinungen. Er hatte aber ein solches freies kritisches Verhältnis auch zu seinen 290 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="291"?> 111 Persönlicher, nicht archivierter Nachlass 112 Siehe ihre Beiträge zu den Symposien in der Maison de France am Kudamm. Vgl. FN 225 113 Manuskript S. 4 eigenen Meinungen und, das muss ich ehrlich sagen, habe ich sehr bewundert. Ein Mann, der im reifen Alter hingeht und bereit ist, Irrtümer seiner wissenschaftlichen Positionen zu überprüfen, einzugestehen, zu korrigieren und neu auszuarbeiten, das muss man sich erst mal suchen. Ich hoffe, dass ich davon etwas gelernt habe, denn ich habe nach 89 auch versucht, einige Dinge zu korrigieren, wo ich glaube, dass ich überspitzt formuliert habe und es auch publiziert habe. (…) Zur Betreuung: „Und die wissenschaftlichen Fragen wurden nicht besonders nun ausdiskutiert. Also er war nicht ein Mann, der nun schulbildend im theoretischen Sinne war, das war er nicht. Man hat von ihm als Schule gelernt in der Praxis, also durch seine Art des Vortrags, des Umgangs und so weiter. Aber nicht in dem er, sagen wir, Seminare abgehalten hätte, um seinen Nachwuchs theoretisch zu schulen, das hat Klemperer nie gemacht. Also insofern völlig anders als Werner Krauss.“ 111 Einerseits gibt Rita Schober hier deutlich zu erkennen, dass sie mit ihrer mar‐ xistisch orientierten literaturtheoretischen Ausrichtung auf Zola einer allge‐ meinen „Erwartung“ und Norm entgegenkam. Es ist schwer zu sagen, wie über‐ zeugt sie in den 1950er Jahren von der marxistischen Literaturbetrachtung wirklich war. Aus dem Text spricht eine gewisse Spannung in dieser Frage. Für die anvisierte Karriere war eine solche Hinführung jedoch unumgänglich. An‐ dererseits lobt sie jedoch Victor Klemperers Toleranz und seine Fähigkeit zur Selbstkritik. Wie von Rita Schober selbst in den späteren Jahren an dieser Stelle vermerkt, liegt es tatsächlich nahe, dass ihr Victor Klemperer in dieser Hinsicht im Alter ein Vorbild war, denn es ist auffällig, dass Rita Schober bereits früh in den 1990er Jahren eine kritische Sicht auf ihre eigenen Arbeiten öffentlich ge‐ macht hat. 112 Rita Schober hat Victor Klemperer als Menschen und als Wissen‐ schaftler geachtet, auch wenn sie seine idealistisch-neuphilologisch geprägten theoretischen Positionen nicht geteilt hat. Rita Schober spricht freimütig darüber, dass Victor Klemperer sich für sie mit dem Judendtum verband, was nicht ohne Probleme für sie geblieben sei. Gefragt nach dem Aussehen Klemperers, sagt sie: „Wenn Sie es nicht falsch auffassen, er war für mich ein jüdischer Gelehrtenkopf und zwar in einem bestimmten Alter, …. das sind sehr ausgeprägte Köpfe und das war er im positiven Sinne.“ 113 Sie erzählt, wie Klemperer sie gemaßregelt hätte, weil sie in einer Laudatio für ihn über seine Herkunft aus einer Rabbinerfamilie gesprochen hatte. „Willst du mir Ju‐ denlichter aufsetzen? “ Im Nachlass ist der Brief überliefert, den Rita Schober Klemperer daraufhin geschrieben hat: 291 5. Rita Schober und Victor Klemperer <?page no="292"?> 114 Nicht archivierter Nachlass, machinenschriftliches Dokument 115 Veröffentlicht in Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin 114 (2012), S. 110-112 „Lieber Victor, auf alles war ich gefaßt, nur nicht auf diese Ausstellungen! Es ist mir unbegreiflich, wie Du auf die Idee kommen kannst, dass ich „besondere Ju‐ denlichter“ auf Dein Bild setzen wollte. Und noch schlimmer ist, dass du glaubst, meine „antisemitische“ Einstellung auf zwei Seiten bekämpfen und entkräften zu müssen! (…) Versteh mich bitte recht: es geht nicht darum, dass ich das Wort Rab‐ biner weglasse und den Satz, man brachte ihn mit seiner Frau ins Judenhaus; selbstverständlich, wenn Du es so für besser hältst. (…) Aber, verzeih mir, ich habe überhaupt nicht daran gedacht, dass Dich das kränken könnte und es ist im allge‐ meinen üblich zu sagen, der Vater war das oder das (…) Victor, Victor, wie kannst du mir so etwas schreiben! (…)“ 114 Während Rita Schober für ihren Lehrer Preißig - wie gezeigt - schwärmte, war Klemperer für sie eher eine Vaterfigur, die sie noch dazu ob seiner schweren Vergangenheit im Dritten Reich verehrte. Die Geschichte um ihre ungeklärte Herkunft spielt dabei zusätzlich eine nicht unwesentliche Rolle. Insofern treffen sie die Vorwürfe schwer. Der letzte öffentliche Vortrag von Rita Schober war Victor Klemperer ge‐ widmet. Am 8.12.2011 sprach sie auf der wissenschaftlichen Konferenz mit dem Titel „Sprache zwischen Kommunikation, Ideologie und Kultur“ in der Leibniz-Sozietät zum Thema: „Zur Aktualität von Klemperers LTI.“ 115 Der folgende Auszug macht deutlich, wie Rita Schober bis zuletzt aktuelle gesellschaftliche Probleme verfolgte und sich eingemischt hat, wo sie es noch konnte. Die Aktualität von LTI sieht sie wie folgt: „Aber entscheidend war für Klemperer die Deformierung des gesprochenen Wortes. Solcherlei Gefährdung der Sprache galt es Einhalt zu gebieten. Was würde er wohl sagen, wenn er wüsste, dass zur Zeit in Berlin die Schüler der ersten Klasse zunächst nach dem Gehör schreiben lernen, um dann, wenn sie sich eigentlich schon an diese falschen Schreibweisen gewöhnt haben, in der dritten Klasse endlich mit der Erlernung der genormten Rechtschreibung zu beginnen. Angesicht solcher zweifelhaften pädagogischen Experimente und aller anderen Attacken auf die deutsche Sprache, z. B. Zerstörung des Satzbaus in den immer häufiger verwendeten SMS vor allem bei Jugendlichen, und nicht zuletzt der zu‐ nehmenden Verdrängung des Deutschen aus dem wissenschaftlichen Diskurs, be‐ sonders in den Naturwissenschaften, aber auch in den Geisteswissenschaften, ist es an der Zeit, Fragen der Sprache im öffentlichen Bewusstsein zu aktivieren. Erfreulicherweise mehren sich in den Tageszeitungen zumindest die Artikel zu den unübersehbaren sprachlichen Verlusten durch die fortschreitende Eliminierung 292 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="293"?> 116 Ebenda S. 111-112 des Deutschen aus der wissenschaftlichen Kommunikation. Ich verweise auf den Artikel von Burkhard Müller in der Süddeutschen Zeitung Nr. 263, S. 11 „Audienz‐ gerecht - Wer kommt schon um schlechtes Englisch zu hören? Deutsch als Wis‐ senschaftssprache? Eine vertrackte Frage“ und auf den Beitrag des Tagesspiegel am 2./ 3. Oktober 2011, S. 7 von dem Präsidenten der Freien Universität Prof. Dr. Peter-André Alt „Die sprachlose Forschung. Die internationale Wissenschaft ist sti‐ listisch verarmt. Das hat auch inhaltliche Folgen, denn Sprache formt und organi‐ siert den Intellekt.“ Wenn aber an dieser Universität die geisteswissenschaftlichen Fächer als „humanities-center“ und philosophische Vorlesungen als „Hegel-lec‐ tures“ angeboten werden, scheint die Auffassung des Präsidenten hinsichtlich des Sprachgebrauchs in seinem eigenen Hause wohl nicht ganz ernst genommen zu werden. Umso erfreulicher ist es, dass gerade anerkannte Sprachwissenschaftler, wie der Anglist Hans Joachim Meyer oder der Romanist Jürgen Trabant mit allem Nachdruck für den Erhalt des Deutschen als Wissenschaftssprache eintreten. Pro‐ fessor Meyer hat 2011 selbst seine Weihnachtsvorlesung an der ehrwürdigen Leo‐ poldina in Halle „Vom Sinn wissenschaftlicher Mehrsprachigkeit“ dieser Frage ge‐ widmet. Dass die Sprache im politischen Diskurs, wie es Klemperer in der Untersuchung der LTI nachgewiesen hat, zur Manipulierung und Verschleierung der Realitäten nach wie vor missbraucht wird und die Lingua der politischen Akteure der Gegen‐ wart ebenfalls wissenschaftlicher Untersuchungen bedarf, ist offensichtlich. Ein klassisches Beispiel für den sensiblen Bereich „Innere Sicherheit-Landesverteidi‐ gung“ brachte am 3. Dezember 2011 ein Editorial im Tagesspiegel von Ulrike Scheffer zu den Vorgängen in Afghanistan mit dem Titel Unser Krieg. Von der „Verteidigung Deutschlands am Hindukusch“ (der offiziellen Version des Einsatzes deutscher Soldaten in Afghanistan aus dem Munde von Schröders Verteidigungs‐ minister Peter Struck), über Formulierungen wie: „bewaffneter Konflikt“, „kriegs‐ ähnliche Zustände“ bis zu Angela Merkels Satz, Die Soldaten seien in Kämpfe ver‐ wickelt, „wie man sie im Krieg hat“, sind wir nun schlicht bei der Wahrheit angekommen: „Es ist Krieg“. Nein, fürwahr, Klemperers LTI als Untersuchung der politischen Sprache im Hinblick auf ihre ideologischen Implikationen ist nach wie vor aktuell und die LTI dafür ein Lehrbuch, das als obligate Lektüre in den Deutschunterricht der Schulen und Gymnasien gehört.“ 116 293 5. Rita Schober und Victor Klemperer <?page no="294"?> 117 Das Interview führte Aurélie Barjonet am 6. Juni 2003 im Zusammenhang mit ihrem Dissertationsvorhaben. Das transkribierte Interview-Manukript ist unveröffentlicht geblieben 118 Es wurde keine wissenschafltiche Netzwerkanalyse betrieben, da dies den Rahmen eines biographiewissenschafltichen Kommentars der Vita, die im Mittelpunkt steht, überschreiten würde 6. Rita Schobers politische Netzwerke in der DDR Um Rita Schobers Umbruch-Erfahrungen nach 1989/ 90 zu verstehen, muss auch nach ihrer Position in der DDR-Gesellschaft gefragt werden. In Kapitel 2 der Vita Teil I gibt es Andeutungen hierzu, aber ihr gesellschaftlicher Status in der DDR wird nur erkennbar, wenn auch ihre langanhaltend wirksamen politischen Netzwerke bedacht werden. Erst durch sie erhielt sie im System DDR die Weihe einer gefragten und mit hohen Ehren versehenen Vertreterin der „Elite“. Dies gilt, auch wenn der Begriff „Elite“ für die Intelligenz der DDR nicht zum offiziellen Sprachgebrauch gehörte. Aber es waren jene Netzwerke, die einen Teil der ihr zugeschriebenen und tat‐ sächlichen Macht und Deutungshoheit ausmachten. Sie setzte diese Bezie‐ hungen diskursiv und praktisch für die Durchsetzung ihrer Ziele und Interessen ein. Auch die Tatsache, dass sie, wie in Teil I selbst berichtet, dafür Sorge trug, dass die Romanistik als Fach einige Jahre nach der III. Hochschulreform wieder in einem eigenen Institut an der HU existent war, verweist darauf, dass diese Beziehungen durchaus auch für das Fachinteresse von Belang waren. Wenn Hans-Ulrich Gumbrecht, der zu denjenigen Romanisten gehört, die mit Rita Schober einen häufigen und freundschaftlichen Briefwechsel führten, in einem Interview für Aurélie Barjonet Rita Schobers Bedeutung vor allem in ihrem Ein‐ fluss auf die Literatur- und Kulturpolitik sieht, 117 dann mag er vielleicht an diese Netzwerke gedacht haben. Rita Schobers Wissen und ihr Rat waren über Jahre hinweg im ZK und im Politbüro des ZK der SED geschätzt und gefragt. Wie in den anderen Abschnitten des Teil II sind auch in den folgenden Pas‐ sagen die Selbstaussagen und die Korrespondenz, die Rita Schober im privaten nichtarchivierten und im archivierten Nachlass hinterlassen hat, die wichtigsten Quellen für die folgenden Darlegungen. 118 Insofern kann nicht der Anspruch auf eine vollständige Darstellung der sozialen oder politischen Netzwerke erhoben werden. 294 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="295"?> 6.1 Der Briefwechsel mit dem Politbüromitglied Kurt Hager Aus der zahlreichen Korrespondenz, die Rita Schober mit Führungskräften aus dem Parteiapparat unterhalten hat, fällt die mit Kurt Hager durch Regelmäßig‐ keit und eine gewisse Vertrautheit auf. Dieser Briefwechsel ist Teil des nicht archivierten Nachlasses. Er war ihr besonders wichtig und zugleich wusste sie um seine Brisanz. Kurt Hager und Rita Schober kannten sich, wie schon angedeutet wurde, aus dem Jahr 1948. In dem bereits zitierten Brief an Hanno Harnisch, gibt sie darüber Auskunft: „Ich habe ihn 1948 auf einem Lehrgang kennengelernt. Da hieß er noch Felix Albin und war erst kurz aus der Westemigration, wie man es bezeichnete, zurückgekehrt. Er war im Übrigen unter den Teilnehmern dieses Lehrgangs mit Abstand in Bezug auf Marx-Kenntnis der beste. Die Anekdote von 1960, die ich erzählt habe, verwandelte sich dann in den angesprochenen Mythos.“ Diese An‐ deutung bezieht sich auf die in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ (ND) im Jahre 2006 abgedruckte Passage zu den 1950er Jahren, als man in der DDR sehr prüde gewesen sei. „Da hat beispielsweise Kurt Hager ein Parteiverfahren be‐ kommen, weil er in Ahlbeck beim Nacktbaden erwischt wurde. Da wurde auch Zola ein bisschen runtergeputzt, und seinem deftigen Beschreiben der erotischen Bezie‐ hungen die ‚gesellschaftliche Relevanz’ abgesprochen.“ Die Korrespondenz mit Kurt Hager enthält neben zahlreichen Glückwunsch‐ schreiben anlässlich von Geburtstagen und Auszeichnungen eine ganze Reihe von fachwissenschaftlichen Berichten, die Rita Schober an Kurt Hager, meist auf dessen Bitte hin, ausgearbeitet hat. Kurt Hager bekam auch regelmäßig Referate und Veröffentlichungen der Romanistin zugesandt. Besonders interessant sind die Stellungnahmen Rita Schobers zu bestimmten virulenten und diskutierten Problemen, die den führenden Genossen mit fachlichen Argumenten ausstat‐ teten. Kurt Hager, der kurz nach dem mit Rita Schober gemeinsam besuchten Parteihochschullehrgang in Kleinmachnow 1949 eine Professur für Dialekti‐ schen und Historischen Materialismus im Institut für Philosophie der HU auf Geheiß der SED erhielt, war 1963 Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Leiter der Ideologischen Kommission des Politbüros geworden. Er, der Nicht‐ studierte, war zuvor schon im ZK der SED verantwortlich für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur. Zwei Beispiele, die damals zentrale wissenschaftliche und ideologische Fragen betrafen, die Realismus-Diskussion und der Strukturalismus, verdeutli‐ chen die enge Beziehung zwischen Rita Schober und Kurt Hager. An die Adresse Gen. Prof. Dr. Kurt Hager, Zentralkomitee der SED Abt. Wis‐ senschaften 102 Berlin, Kurstrasse ist folgendes Anschreiben gerichtet: 295 6. Rita Schobers politische Netzwerke in der DDR <?page no="296"?> „14. März 1969 Sehr verehrter Genosse Hager, lieber Kurt, beiliegend übersende ich Dir die gewünschte Kurzdarstellung zum Struktura‐ lismus. Ich hoffe, dass sie Dir in der vorliegenden Form nützt. Es war wirklich sehr schwierig, die Fülle der Probleme wenigstens in wesentlichen Zügen auf diesem begrenzten Raum darzustellen. Vier Seiten kosten meist mehr Mühe als vierzig. Deshalb habe ich mich auch etwas verspätet. Gleichzeitig erlaube ich mir, Dir den Essay-Band aus dem Mitteldeutschen Verlag zur Ergänzung mitzuschicken. Sollte eine Rückfrage notwendig sein, so stehe ich Dir jederzeit gern zur Verfügung. Ich hatte ja gehofft, auf diesem Gebiet oder, allgemeiner gesagt, auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft und Literaturtheorie in den nächsten Jahren verstärkt weiterarbeiten zu können. Aber offensichtlich ist ein solcher Einsatz Eurerseits für mich nicht geplant. Also werde ich mich bemühen, nach bestem Gewissen das übernommene Dekanat für die Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät mit einem sehr weinenden und einem nicht ganz lachenden Auge zu führen. In der Hoffnung, in einer erlebbaren Zukunft einmal die Freude zu haben, Dich persönlich wieder sprechen zu können, bin ich mit sozialistischem Gruß und herz‐ lichen persönlichen Wünschen Deine Rita Schober“. Es folgt eine sechs Seiten umfassende Ausarbeitung mit der Überschrift „Möglichkeiten und Grenzen der strukturalistischen Methode in den Gesell‐ schaftswissenschaften“. Sie wird wegen ihrer kulturpolitischen Brisanz integral abgedruckt: „Unter Strukturalismus versteht man eine vor allem in den letzten zehn Jahren in allen Humanwissenschaften - nach den USA und England nun insbesondere auch in Frankreich - in Mode gekommene Richtung, die sich zur Untersuchung ihres jeweiligen Gegenstandes der sogenannten strukturalistischen Methode be‐ dient. Diese Methode wurde zunächst von der allgemeinen Sprachwissenschaft entwi‐ ckelt. Saussures Scheidung zwischen der von den einzelnen Individuen gespro‐ chenen (aktualisierten) Sprache (parole) und der dafür bereitstehenden Allgemein‐ sprache (langue), lenkte die Aufmerksamkeit der Linguisten auf die Struktur des sprachlichen Zeichenvorrats in den verschiedensten Ebenen der Phonetik, der Mor‐ phologie, Syntax und Semantik. Die arbeitshypothetische Voraussetzung solcher Untersuchungen war die vorübergehende Außerachtlassung des Sprachträgers (des sprechenden Subjekts), sowie der durch die historische Entwicklung auftretenden Veränderungen und die Konzentration der Untersuchung auf die zwischen den Ele‐ menten der Sprache vorhandenen kombinatorischen Möglichkeiten, sowie ihre 296 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="297"?> strukturell bedingten notwendigen Zuordnungen und damit auf die Synchronie eines bestimmten Sprachzustandes. Die Prager Schule - mit Trubetzkoy und Jakobson an der Spitze - gelangte mit Hilfe dieser Methode auf dem Gebiet der Phonologie zu einer typologischen Be‐ schreibung der Sprachen, die eine exakte Vergleichung der so aufbereiteten sprach‐ lichen Lautsysteme gestattete. Die Anwendung bestimmter mathematischer Me‐ thoden wie der Häufigkeitsstatistik, der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Transformationstheorie, erlaubte die Einbeziehung weiterer sprachlicher Phäno‐ mene in die strukturalistische Untersuchung. Die so gewonnenen Erkenntnisse schufen erst von linguistischer Seite die notwendigen Voraussetzungen für die Ent‐ wicklung von Übersetzungsmaschinen, an der in den USA und in den letzten Jahren verstärkt auch in der SU gearbeitet wird. Der Sprachstrukturalismus nahm in diesen Ländern einen entsprechenden Aufschwung. Die Erfolge dieser Wissenschaftsmethode auf diesem Gebiet waren offensicht‐ lich. Zum ersten Mal wurde es möglich, mit Hilfe einer oft formalisierten Sprache exakte Beschreibungen von Sprachzuständen zu liefern. Die Verwirklichung eines alten Traumes der Humanwissenschaften, die Exaktheit der Naturwissenschaften zu erreichen, schien greifbar, falls die angewandte Methode auch in anderen Dis‐ ziplinen zu Ergebnissen führte. Den Beweis für diese Möglichkeit suchten Claude Lévi-Strauss in Zusammenarbeit mit Jakobson in den vierziger Jahren für die An‐ thropologie zu erbringen. Es gelang unter Außerachtlassung des konkreten Cha‐ rakters der jeweils ausgetauschten Objekte, die primitiver Völker als strukturell gleich mit ihren Verwandschaftsbeziehungen nachzuweisen und so neue Zusam‐ menhänge zwischen oft weit entfernten Stämmen aufzudecken. Näherliegend als die Ausdehnung des Strukturalismus auf die Anthropologie war seine Anwendung bei der Analyse „sprachlicher Kunstwerke“. Sie wurde von dem sogenannten New Criticism seit den 30er Jahren in den USA und England praktiziert. Jakobson selbst war ein Vorkämpfer einer strukturalistischen Poetik als Teildisziplin der Linguistik. Die Grenzen der Anwendungsmöglichkeiten der struk‐ turalistischen Methode und die ideologischen Hintergründe ihres dogmatischen Anspruchs, die einzig wissenschaftliche moderne Methode zu sein, wurden in der von ihr praktizierten Literaturkritik, unbeschadet ihrer relativen Berechtigung, Nützlichkeit und Anwendbarkeit für die Untersuchung der sprachlichen Mikro‐ strukturen vor allem in der gebundenen Sprache, bereits offensichtlich. Die strukturalistische Literaturkritik verzichtet bewußt auf jede Art ideologi‐ scher Bewertung der untersuchten Kunstwerke zugunsten ihrer wertfreien Be‐ schreibung und erklärt diese „Beschränkung“ zur prinzipiellen Voraussetzung wis‐ senschaftlicher Arbeit auf literaturkritischem Gebiet. Die damit geforderte Entideologisierung dieses wichtigen Wissenschaftsgebietes kann letztlich nur der 297 6. Rita Schobers politische Netzwerke in der DDR <?page no="298"?> 119 Die Schreibweise des Namens wurde durchweg korrigiert. D.R. herrschenden Klasse, Kultur und Literatur dienen und muß zu einer Abwertung des humanistischen Gehalts der Kunstwerke führen. Es ist kein Zufall, daß sich der New Criticism mit großem Eifer gerade der klassischen Literatur zuwandte: Shakes‐ peare in England, Corneille, Racine in Frankreich, und sie einer radikalen Neuin‐ terpretation unterzog. Hand in Hand damit geht eine Aufwertung des Spätsymbo‐ lismus, Modernismus (…) Zugleich begann unter dem Deckmantel des Strukturalismus erneut die Typo‐ logie der Tiefenpsychologie in die Literaturkritik ihren Einzug zu halten. Verfolgt man die Entwicklungslinie dieser Richtung der Literaturkritik zurück bis auf ihre Ursprünge, so weisen sie außer auf den Sprachstrukturalismus - vor allem auf die Abraumprodukte der deutschen Geisteswissenschaft von den Ge‐ stalttheorien Walzels bis zu Kaysers Wortkunstwerken, die Stilkritik und auf die russischen Formalisten als geistige Väter. Die notwendige Einschätzung dieser ide‐ ologischen Zusammenhänge von einem marxistischen Standpunkt hat Weimann in seinem Buch New Criticism gegeben (allerdings unter Ausklammerung des Sprachstrukturalismus und des russischen Formalismus). Als Philosophie verbirgt sich hinter dieser literaturkritischen Richtung meist der Existentialismus oder die Phänomenologie, sofern die strukturalistische Methode selbst nicht zu einer Art Neo-Positivismus aufgewertet wird. Dies geschieht vor allem häufig in den anderen Wissenschaftsgebieten, in die der Strukturalismus in Frankreich seit dem Anfang der sechziger Jahre in verstärktem Maße Eingang gefunden hat, wie in der Sozio‐ logie, der Philosophie, Ökonomie und Psychologie. Lucien Goldmann, Michel Fou‐ cault  119 , Louis Althusser und Jacques Lacan sind ihre repräsentativsten Vertreter. Die Gründe für diese Hinwendung zum Strukturalismus sind, wenn man allein die unterschiedliche ideologische Orientierung der vorgenannten Vertreter in Be‐ tracht zieht, sehr unterschiedliche. Zweifelsohne steckt bei einer Reihe von Wis‐ senschaftlern dahinter auch das Bemühen um exaktere Abbildung der untersuchten Erscheinungen, um eine formalisierte, gegenüber ideologischen Fehlinterpretati‐ onen „störfreie“ Wissenschaftssprache. Bei bürgerlichen Gelehrten ist diese „Flucht“ in den Strukturalismus zugleich ein indirektes Eingeständnis des Bankrotts der traditionellen Untersuchungsmethoden in den Humanwissenschaften und des Ver‐ sagens der bisherigen Modephilosophien, insbesondere des Existentialismus, sowie des Ausweichens vor dem Marxismus. Schließlich darf man nicht vergessen, daß sich viele Untersuchungen als strukturalistische ausgeben, die es in Wirklichkeit gar nicht sind und unter diesem Modewort längst abgebrauchte Forschungsrich‐ tungen aufzuwerten suchen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang zweifelsohne 298 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="299"?> das grassierende Umsichgreifen der Tiefenpsychologie aller Schattierungen in den verschiedensten Fachgebieten. Ernst zu nehmende Wissenschaftler wie Claude Lévi-Strauss kämpfen deshalb bereits um eine „Reinhaltung“ der strukturalistischen Methode und betonen zu‐ gleich, daß es sich dabei um eine Methode neben anderen handle, die die traditio‐ nellen Methoden, insbesondere die des historischen Herangehens an gesellschaft‐ liche Erscheinungen nicht ausschließt, sondern oft zur Voraussetzung hat oder ihrer nur vollen Nutzung der mit strukturalistischer Untersuchung gewonnenen Ergeb‐ nisse bedarf. Wie weit ein Hauptanliegen des Strukturalismus, durch eine Neuordnung be‐ kannter und gesicherter Fakten echte neue Zusammenhänge sichtbar zu machen und somit zu neuen Einsichten zu führen, auch auf die politische Ökonomie ange‐ wandt, zu tatsächlichen Ergebnissen führt, deren Erkenntnisse mit Hilfe einer viel umfassenderen Wissenschaftsmethode des dialektischen Materialismus erzielt wurden, müßte eine exakte Analyse von Althussers Hauptwerk ‚Relire le Capital’, ergeben. Diese Arbeit war mir leider bisher nicht zugänglich. Nach den mir be‐ kannten Rezensionen gibt es jedoch ernste Einwände. Vor allem Raymond Aron scheint Althusser in seinem Buch „D’une Sainte Famille à l’autre, essais sur les marxismes imaginaires“ (Gallimard 1969) einer scharfen Kritik unterzogen zu haben. Aber auch diese Arbeit habe ich noch nicht einsehen können. Aus der Kenntnis der allgemeinen Prinzipien der strukturalistischen Methode läßt sich je‐ doch wohl soviel sagen, daß sie für eine allseitige Untersuchung gesellschaftlicher Vorgänge zu starr und einseitig ist. Denn die strukturalistische Methode geht von folgenden Voraussetzungen aus: 1. die untersuchten Erscheinungen werden als ein Strukturganzes betrachtet, das sich seinerseits aus kleineren strukturellen Einheiten zusammensetzt, die vornehmlich auf binären Oppositionen beruhen, die ihrerseits komplemen‐ tären Charakter haben. 2. Der Strukturbegriff lenkt die Aufmerksamkeit auf die zwischen den Ele‐ menten vorhandenen Beziehungen, wobei der jeweilige konkrete Charakter der Elemente selbst uninteressant ist (denn die Vorbedingungen für ihre Be‐ handlung als Elemente einer gleichen Struktur ist ja ihre Austauschbarkeit! ) 3. Die gefundene Struktur muß auf die Gesamtheit der Fakten anwendbar und an ihnen verifizierbar sein. Die zwischen den Elementen aufgedeckten und bestehenden Beziehungen haben die Statik der strukturellen Einheit zur Vo‐ raussetzung. 4. Die Erfassung der Struktur setzt das Einhalten eines streng synchronischen Standpunktes voraus. 299 6. Rita Schobers politische Netzwerke in der DDR <?page no="300"?> 5. Die Struktur selbst hat „aktiven“ Charakter, d. h. sie determiniert die in ihrem Bereich liegenden Faktoren. Der Spielraum neu auftretender oder möglicher Varianten der vorhandenen strukturellen Einheiten wird durch den Cha‐ rakter der Struktur selbst begrenzt und ist mit Hilfe der Transformationsre‐ geln bestimmbar, d. h. es handelt sich um ein durchgängig determiniertes System. Die vorbehaltlosen Verteidiger des Strukturalismus möchten z. B. in der Kategorie des Strukturganzen, der Einheit eine erkenntnistheoretische Kategorie sehen, die den bisherigen Kategorien der Logik und Dialektik überlegen ist, da sie die Ge‐ samtheit der Erscheinungen eines Untersuchungsgegenstandes als strukturelle Ganzheit zu „denken“ gestatte. Tatsächlich ist der strukturalistische unité-Begriff ebenso wie die angewandten Untersuchungsmethoden nur für einfache Systeme brauchbar. Kompliziertere Systeme, wie z. B. gesellschaftliche Systeme in all ihren Aspekten sind damit nicht zu erfassen. Denn die Untersuchung der funktionellen Bezie‐ hungen ihrer Teilsysteme kann von dem konkreten Charakter dieser Teilsysteme und ihrer jeweiligen Bedeutung für das Gesamtsystem nicht abstrahieren, sondern hat sie vielmehr zur Voraussetzung, sie muß außerdem der Entwicklung der Teil‐ systeme wie des Gesamtsystems und der daraus möglicherweise resultierenden Verschiebungen innerhalb der Gesamtstruktur Rechnung tragen. Eine solche all‐ seitige Erfassung gesellschaftlicher Erscheinungen ist nur mit Hilfe des dialekti‐ schen und historischen Materialismus in ihrem Zusammenhang und in ihrer Ent‐ wicklung möglich. Die Dialektik als Methode ist auf Grund dieser Allseitigkeit auch der strukturalistischen überlegen und kann nicht durch sie ersetzt werden. Das bedeutet andererseits aber nicht, daß die strukturalistische Methode ihrer‐ seits innerhalb bestimmter begrenzter Bereiche nicht anwendbar ist und Resultate zutage fördert, die einer dialektischen Gesamtuntersuchung dienstbar gemacht werden können. Die streng synchronische Betrachtungsweise des Strukturalismus - die unter bestimmten Umständen die unabdingbare Voraussetzung für die Gewinnung neuer Einsichten sein kann - führt jedoch zu einer weiteren Eingrenzung der Anwend‐ barkeit der strukturalistischen Methode und in einer Reihe von Arbeiten zu offen‐ sichtlichen Fehlern. Selbst die Ausmittlung der relevanten synchronischen Quer‐ schnitte ist nur durch Einbeziehung der Diachronie und Beachtung der historischen Entwicklung zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten möglich. Auf Grund der Nichtbeachtung dieser Tatsachen konnte z. B. Garaudy, Foucault für dessen Arbeit Les Mots et les choses, die die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens als die Aufeinanderfolge dreier unterschiedlicher Denkstrukturen sieht, eine Reihe histo‐ rischer Fehler nachweisen. Nur die Manipulierung gewisser historischer Fakten 300 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="301"?> 120 Mit der Bezeichnung ‚Bann’ verweist Rita Schober auf ihr Buch: Im Banne der Sprache. Strukturalismus in der ‚Nouvelle Critique’, speziell bei Roland Barthes, das 1968 er‐ schienen war. hatte Foucault die Konstruktion seiner drei Stadien erlaubt (? ) Foucaults Arbeit bringt zugleich eine Reihe weiterer Fehler des zur Philosophie aufgeblähten Struk‐ turalismus und ihre ideologischen Hintergründe zutage. Für die Entstehung oder Veränderung der wissenschaftlichen Denkstrukturen à la Foucault spielen so „be‐ langlose“ Ereignisse wie z. B. die französische Revolution natürlich keine Rolle. Struktursysteme scheinen in einer Art fröhlicher Urzeugung zu entstehen als a pri‐ orische Existenzformen. Der „aktive“, nach den Regeln der Transformationstheorie „generierende“ Cha‐ rakter des Strukturganzen scheint Foulcault „sogar die Idee vom Menschen in der Forschung und im Denken überflüssig zu machen“. (Bann S. 13)  120 Und das sei auch höchste Zeit! Denn „dieser Humanismus“ sei „ das am meisten belastende Erbe“, dessen man sich endlich „entledigen“ müsse. (Bann, S. 14) Welche sehr realen po‐ litischen Hintergründe diese eine pseudowissenschaftliche Objektivität vorspie‐ lende „Enthumanisierung der geschichtlichen Prozesse“ tatsächlich hat, wurde schon von Sartre aufgedeckt. (Bann S. 15/ 16) Der Angriff gegen die Geschichte ist ein indirekter Angriff gegen den Marxismus. „Da man den Marxismus nicht ‚über‐ treffen’ kann, stellt man der Geschichte die Analyse der Strukturen entgegen.“ (Bann, S. 16/ 17) Daß diese Strukturanalyse in der Geschichte, Ökonomie, Sozial‐ wissenschaft und Philosophie letztlich auf eine Eskamotierung des Klassenkampfes als des Motors der Bewegung und damit des Charakters des herrschenden kapital‐ istischen Systems hinausläuft, ist auch von französischen Marxisten mehrfach he‐ rausgestellt worden. (neu: macht deutlich, welche ideologische Funktion diese bür‐ gerliche Philosophie zu erfüllen hat.“ ? ? ? ? ) Fazit: Die Anwendung strukturalistischer Untersuchungsmethoden kann für einzelne Gebiete nützlich und notwendig sein. Der Prätention des Strukturalismus, die allein selig machende Wissenschaftsmethode zu sein, muß entschieden entge‐ gengetreten werden, ebenso wie den direkten oder indirekten Angriffen gewisser Strukturalisten gegen den Marxismus. Rita Schober 13.3.69“ In einem Brief vom 4.3.1985 antwortet Rita Schober auf eine Bitte Kurt Hagers und sendet ihm als Hilfestellung für die Vorbereitung eines Referates folgende Ausarbeitung: „An das Mitglied des Politbüros, den Sekretär des ZK Genossen Prof. Dr. h. c. Kurt Hager 1020 Berlin Haus des Zentralkomitees der SED 301 6. Rita Schobers politische Netzwerke in der DDR <?page no="302"?> Sehr verehrter Genosse Hager, lieber Kurt, bitte, verzeih, daß ich mich erst mit Verspätung auf Deinen Wunsch hin melde, aber die Vorbereitung für die Gastvorlesungen in der Bundesrepublik und das Gast‐ semester in Österreich und mein etwas „vergrippter“ Zustand haben alle meine Kräfte in Anspruch genommen. Nun zur Literaturwissenschaft: Wenn ich Gespräche und Artikel der letzten Zeit richtig verstanden habe, gibt es Fragen hinsichtlich der Gültigkeit unserer Realis‐ mustheorie. Die von Gen. Prof. Hochmuth im vorigen Jahr angefertigte Bilanzierung der Entwicklung der Realismustheorie gibt meiner Ansicht nach einen guten Ein‐ blick in die Problemlage. Keinesfalls stehen wir, wie man aus dem Artikel von Gen. Prof. Weimann schlußfolgern könnte, in unserer Realismustheorie auf dem Stand‐ punkt der 50er Jahre. Schließlich hat Robert Weimann nicht zuletzt selbst eine ganze Menge Positives zu ihrer Ausarbeitung beigetragen. Berücksichtigt werden müßte, entgegen der einseitigen darstellungsästhetischen Konzeption, der Wirkungs-,Kom‐ munikations- und schließlich auch der rezeptionsästhetische Aspekt. Ich habe in dem Methodenartikel versucht (in Abbild-Sinnbild-Wertung), eine negative Ausgliede‐ rung jener Methoden zu beschreiben, die weder zum Realismus noch zum sozialisti‐ schen Realismus gehören und es scheint, daß sich dieser Ausgliederungsversuch in den praktischen Diskussionen bewährt hat. Ich glaube auch, daß man in der allge‐ meinen, positiven Bestimmung der Methode des sozialistischen Realismus (marx.-len. Weltanschauung und Humanisierungsfunktion) nicht viel mehr konkrete Faktoren anführen kann. Eine direkte pädagogische Zwecksetzung ist unter den heutigen Be‐ dingungen des internationalen Klassenkampfes und des erreichten gesellschaftlichen Entwicklungsniveaus bei uns nicht vertretbar. Wohl aber muß der Blick aufs Ganze der historischen und gesellschaftlichen Entwicklung als entscheidender Wertungsas‐ pekt in der literarischen Darstellung (oder künstlerischen Darstellung) gewahrt bleiben. Und hier schienen mir die berechtigten Einwände gegen eine Reihe neuerer Werke zu liegen. So z. B. auch gegen Christoph Heins „Fremden Freund“, aber ebenso wichtig wäre es, zu bedenken, warum dieses Buch nicht nur in der DDR offensicht‐ lich bereits Leserschichten erreicht hat, sondern warum es auch in eine ganze Reihe europäischer Sprachen übersetzt worden ist. Wichtig wäre die Analyse eines solchen Faktums als Indikation für bestimmte Bewußtseinszustände. Die erste Hälfte dieses Buches ist ein offensichtlich gelungenes Psychogramm eines bestimmten Teils der heutigen Generation der 40jährigen, zu der der Autor, wie aus dem ironischen Schlußkapitel nach meiner Ansicht deutlich wird, sich auch kritisch verhält. Aber dieser kritische Aspekt wird dadurch beeinträchtigt, daß der Leser auf Grund des Erzählten den Eindruck gewinnen muß, dieser Teil stünde repräsentativ für das Ganze, denn tatsächlich sind die einzig menschlichen Gestalten die etwas altmo‐ disch wirkenden Eltern. Ich plädiere mit meiner Kritik nicht für eine gewissermaßen 302 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="303"?> gleichgewichtige Verteilung von positiven und negativen Gestalten und ich bin auch nicht der Ansicht, daß nur positive Helden positive Wirkungen zu zeitigen ver‐ mögen, Empörung über Negatives kann, wenn ihre Richtung positiv gesteuert wird, oft zu viel nachhaltigeren Ergebnissen oder zu gründlicherem Umdenken führen. Aber diese Öffnung, die müßte im Ansatz sichtbar werden. Dazu hat Anna Seghers schon das Wichtigste gesagt, genauso, wie Balzac zu den langweiligen Engelge‐ stalten. Eine wichtige Frage ist die neue Qualität, die die Interferenz der Künste durch die heutige Entwicklung der Massenmedien erreicht hat. In diesem Punkt hat Robert Weimann recht. Wir sind auch nicht nur hinsichtlich der Medientheorie, sondern mit den Unter‐ suchungen zur Trivialliteratur und zu den Bandes dessinées im Rückstand. Sie sind aber für eine wissenschaftliche Analyse der tatsächlichen Lese- und Unterhal‐ tungsbedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten und der Ausarbeitung von Wir‐ kungsstrategien im Sinne der vorgenannten Humanisierungsfunktion entschei‐ dend. Beispielsweise glaube ich, daß der Erfolg des Hein-Buches u. a. auf dem ganz und gar nicht pathetischen Stil beruht. Ich kenne die Abneigung vor allem der jüngeren Generation z. B. aus meinen Erfahrungen mit den Studenten, womit kei‐ neswegs Verzicht auf Emotionen gemeint ist. Lieber Genosse Hager, vielleicht kann Dir bei Deiner Ausarbeitung der beilie‐ gende Vortrag zum Realismus nützlich sein. Die Marburger Universität hatte ja auf diesem Thema bestanden und der Vortrag ist natürlich auf dieses Publikum zuge‐ schnitten. Er hat im übrigen, wie aus dem Korrespondenzrücklauf ersichtlich ist, anscheinend eine positive Aufnahme gefunden. Für den Rest Deines Kuraufenthaltes wünsche ich Dir schöne, erholsame Tage und bin wie immer, vor allem auch mit herzlichem Dank für die Hilfe bei der Vorbereitung der Österreich-Reise, mit sehr herzlichen Grüßen Deine Rita Schober.“ Darüber hinaus war Kurt Hager ein Ansprechpartner für Probleme und An‐ liegen von Rita Schober. Wie sehr sie ihn verehrte, wird in mehreren Briefen deutlich. In einem undatierten Brief aus den 1980er Jahren heisst es: „Lieber Kurt! Darf ich diesmal alles Offizielle beiseite lassen? Ich möchte dir herz‐ lich danken für die lieben persönlichen Glückwünsche, für die hohe Auszeichnung, die doch ohne dich nie zustande gekommen wäre. die mich - ich sage es ganz ehrlich - nicht nur vollkommen überrascht, sondern ebenso unendlich gefreut, aber ein bißchen auch bedrückt hat. Hoffentlich schaffe ich es, den damit verbundenen Er‐ wartungen in meine Arbeit und Leistungsfähigkeit in den nächsten Jahren auch gerecht zu werden (…) hab nochmals ganz lieben Dank, du hast mit Deinem Beispiel 303 6. Rita Schobers politische Netzwerke in der DDR <?page no="304"?> 121 Zu langjährigen Beratern der ZK der SED in Bezug auf die Frankreichpolitik wirkte auch Jochen Dankert von der Akademie für Staat und Recht. Siehe dazu: Dorothee Röseberg. Frankreichwissen im außenpolitischen Dienst. Das Institut für Internationale Beziehungen an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR. In: Michel Grunewald et al. (Hrg.). France-Allemagne au XXe siècle - la production de savoir sur l’autre (vol 3), Peter Lang Verlag Bern u. a. 2013, S. 247-257 in Kleinmachnow mein Leben wesentlich mitgeprägt und warst auch in all diesen Jahren die politische und menschliche Instanz, vor der ich bestehen wollte. Das mußte ich Dir doch einmal sagen. In alter Verbundenheit.“ Es spricht einiges dafür, dass sich dieses Dankesschreiben auf die Auszeichnung Hervorragender Wissenschaftler des Volkes bezieht, die Rita Schober 1985 emp‐ fangen hat. Im Interview 1997/ 98 sagt sie, dass sie diese eigentlich nicht verdient habe. Aus den zahlreichen Schreiben von Kurt Hager geht hervor, dass auch er Rita Schober fachlich und politisch schätzte und auf ihre Meinung wert legte. Insgesamt lässt sich schlussfolgern, dass Rita Schober auch als „Politikbera‐ terin“ fungierte, obgleich es diese Begrifflichkeit in der DDR nicht gab. 121 6.2 Weitere Korrespondenz mit politischen Führungskräften Rita Schober wandte sich im Zusammenhang mit einer Dienstreise nach Graz an Hannes Hörnig, der 1984 Leiter der Abteilung Wissenschaft des ZK der SED war. In ihrem Brief formuliert sie gleich drei Bitten: Sie möchte ihren Mann Robert mit auf die Dienstreise nach Österreich nehmen, zur Vorbereitung auf ihren Vortrag in Graz möchte sie eine Dienstreise nach Westberlin in die Bib‐ liothek der TU unternehmen. Sie war 1979 bereits Emerita. Das Privatvisum wollte Rita Schober auch für den Bibliotheksbesuch nutzen, nicht zuletzt um die öffentlichen Verkehrsmittel unentgeltlich benutzen zu können. Sie scheute in diesem Zusammenhang nicht, Hannes Hörnig den Vorschlag zu unterbreiten, Michael Nerlich, den geschätzten Kollegen an der TU, für die Behörden zum Cousin zu befördern. Ähnliche Verhaltensmuster hatten ihr auch in ihrer Prager Zeit nach der Befreiung Dienste geleistet. Und schließlich bittet sie um Ein‐ flussnahme des ZK bei der Auswahl des Kurortes. Auch in diesem Brief an Hannes Hörnig ist ein Verweis auf das Büro Hager als eine Art Autoritätsnach‐ weis zu finden. Rita Schober spricht in ihrer Vita in Kapitel 2 über ihre Verdienste bei der Wiedergründung einer eigenständigen Sektion Romanistik, nachdem das Ins‐ titut zuvor - mit der III. Hochschulreform - aufgelöst und als ein Teil einer 304 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="305"?> 122 BStU, MfS AP 1717/ 63, 000002 großen Sektion Philologien/ Germanistik, später Anglistik/ Amerikanistik/ Romanistik aufgegangen war. Der Briefwechsel mit Vertretern des ZK der SED gibt Aufschlüsse darüber, dass und wie sie diese Entscheidung mit Hilfe ihrer Kontakte zur Führungsspitze der Partei durchsetzen konnte. Am 10. Juli 1978 wendet sich Rita Schober an Prof. Dr. Gregor Schirmer, den stellvertretenden Leiter der Abteilung Wissenschaften beim ZK der SED. „Sehr geehrter Genosse Schirmer, Im Nachtrag zu unserem Gespräch auf der Kreisleitungssitzung der Hum‐ boldt-Universität am Freitag, dem 30. Juni, erlaube ich mir, Dir die ausgearbeiteten Unterlagen für die Errichtung zweier Sektionen: Romanistik und Anglistik wie ab‐ gesprochen, zu überreichen und Dich nochmals auf diesem Wege um deine freund‐ liche Unterstützung zu diesen im Sinne der Effektivitätserhöhung notwendigen Maßnahmen zu bitten. Mit sozialistischem Gruss Prof. Dr. sc. phil. Rita Schober Als Anlagen : 1. Beschlussvorschlag f. d. Leitungssitzung beim Rektor: Vorlage zur Teilung der Sekt. Angl./ Amerik./ Romanistik einschl. 3 Anlagen 2. Entwurf des Rektoratsbriefes an den Minister“ Im Nachlass findet sich eine ganze Reihe anderer Briefe an politische Führungs‐ kräfte u. a. auch an Margot Honecker und Günter Mittag. 6.3 Rita Schober und die Staatssicherheit Die „Stasi-Akte Rita Schober“ 122 ist nicht sehr umfangreich. Sie beinhaltet ei‐ nerseits Aufzeichnungen von hauptamtlichen Mitarbeitern der Staatsicherheit, die der Anwerbung und Aufklärung von Rita Schober gewidmet waren und andererseits Aufzeichnungen, hier von Inoffiziellen Mitarbeitern aus ihrem weiteren Kollegenkreis, die ein Charakterbild von Rita Schober zusammen‐ tragen sollten; eine „übliche“ Praxis, um die Verlässlichkeit bei einer beabsich‐ tigten „Zusammenarbeit“ zu prüfen. Eine erste Kontaktaufnahme belegen die Akten in den 1950er Jahren. Dabei ist die Rede von zwei Besuchen der Genossen der Staatssicherheit in ihrem Haus in Niederschönhausen, am 18.5. und 27.5.1953, über die ein W. Nistler berichtet. 305 6. Rita Schobers politische Netzwerke in der DDR <?page no="306"?> 123 Die Namen sind in der Akte erwähnt 124 BStU, MfS Allg.P. 2474/ 81,000027 125 Ebenda 000030 Danach soll sie bereitwillig Auskünfte über Kollegen gegeben haben, sowohl über einige romanistische als auch über germanistische Kollegen, 123 die sie als „reaktionär“ betitelt hätte, die von ihren Überzeugungen bzw. Auftritten her „gegen unsere Entwicklung und gegen die Regierung“ gerichtet seien. Ähnliches betrifft Kollegen der Sinologie, die Schober als reaktionär und z. T. bürgerlich eingeschätzt habe. Nistler gibt an, dass Rita Schober ihre Bereitschaft zur Zu‐ sammenarbeit mündlich so begründet hätte: „Selbstverständlich, ich tue alles, denn es ist ja für unseren Staat, für unsere DDR“. Ein Besuch am Institut sollte folgen. Eine Verpflichtungserklärung von Rita Schober liegt in den Akten nicht vor. Eine weitere Aufklärung Rita Schobers durch die Staatsicherheit ordnete ein Hauptmann Arnold am 6.6.1974 an, um Rita Schober für eine konspirative Tä‐ tigkeit bei Angehörigen der Französischen Botschaft einzusetzen. Aber dazu kam es nicht. Was der Staatssicherheit Probleme machte, waren offensichtlich die Charakteristiken, die sie über Rita Schober in Auftrag gegeben hatte. 1953 (als sie im Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen tätig gewesen war) bescheinigte eine solche Charakteristik Rita Schober noch ein Auftreten, „wie es von einer Staatsfunktionärin und einer Kommunistin erwartet wird. Korrekt und verantwortungsbewußt. Selbst noch während ihrer schweren Er‐ krankung nahm sie von zu Hause aus ihren Dienst wahr und empfing Profes‐ soren und Verwaltungsmitarbeiter zur Erledigung dienstlicher Angelegen‐ heiten.“ 124 1961 und 1975 sahen solche Charakteristiken jedoch anders aus: Thematisiert werden vor allem „Liebesdinge“ und Rita Schober wird mit Bemerkungen über das Aussehen von Männern (auch in Vorlesungen und Seminaren) zitiert. Ein Thema war die Scheidung von ihrem Mann, zu dem sie zwar zurückgekehrt war, aber nicht aus Liebe, wie es heißt, sondern aus Rücksicht auf ihren Sohn. Eine Affäre zu einem jungen Arzt und ihr „aufreizendes“ Verhalten gegenüber jungen männlichen Mitarbeitern werden ausführlich geschildert. 125 Ein Bericht über Genossin Rita Schober aus dem gleichen Jahr stellt sie selbstverliebt, rechtha‐ berisch, autoritär und in gewisser Weise unberechenbar dar. Dies wird in der Einleitung zu der Aussage gebündelt: „R. S. verfügt über die Fähigkeit, in ver‐ blüffender Weise sich jeder Situation anzupassen, sei es auf wissenschaftlicher, politischer, sogar privater Ebene. Das geht soweit, dass sie z. B. am Ende einer Versammlung die Meinung aller Anwesenden meisterhaft zusammenfaßt und als ihre Meinung darlegt, auch wenn sie zu Anfang das genaue Gegenteil gesagt 306 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="307"?> 126 BStU, MfS, 000032 127 Die Namen sind im Original enthalten D.R. 128 Ebenda, 000041 hat, nicht aus Einsicht, was verständlich wäre, sondern indem sie beteuert, es sei immer ihre Meinung gewesen und die andren hätten nur schlecht gehört.“ Ähnliches wird ihr für die wissenschaftliche und pädagogische Arbeit nachge‐ sagt und am Beispiel von Lukács demonstriert, der lange ‚Gesetz’ war und dann in die Kritik kam, an der sich Rita Schober nach ihrer Behauptung, schon lange beteiligt gehabt hätte.“ 126 Kritik findet in den Berichten vor allem die Leitungs‐ tätigkeit von Rita Schober, bei der sie willkürlich bestimmte Kollegen bevor‐ zugen, über andere spotten und ein Klima der Angst verbreiten würde. Hierbei seien auch die Hinweise auf ihre prominenten Bekanntschaften beteiligt. „Man steigt ungemein in ihrer Achtung, wenn man hochgestellte Genossen kennt, sinkt aber wieder im Kurs, wenn man sich nicht ihrer zu bedienen gedenkt.“ Ein IM Cato, der Rita Schober offensichtlich aus der Parteileitung der Sektion An‐ glistik, Amerikanistik, Romanistik kannte, bestätigt in einer weiteren Charak‐ teristik vom 6.5.1975, die sich auf Gespräche mit ehemaligen Assistenten von Rita Schober beruft, „ daß sie als Institutsdirektor ein straffes Regime führte, daß die Assistenten zu ihrer unmittelbaren persönlichen Verfügung standen, bei allen Lehrveranstaltungen als Adjunkten anwesend waren. Sie hatte eine At‐ mosphäre geschaffen, in der sich alles um sie drehte, sie bestimmte die Linie, sie hatte das entscheidende Wort. Die Auswirkungen dieser Atmosphäre zeigen sich noch heute bei ihren Schülern, die zum Teil inzwischen selber Professoren geworden sind (…) 127 und eigentlich bei allen Romanisten. Bei Versammlungen in Partei, Gewerkschaft und in der Fachrichtung Romanistik, an denen sie teil‐ nimmt, orientiert sich alles auf sie, sie bestimmt in der Regel ohne Widerspruch die jeweilige Linie. Viele Genossen empfinden diese Atmosphäre selber als frag‐ würdig, haben aber nicht den Mut, offen dagegen anzugehen. Diese Atmosphäre hat wohl auch dazu geführt, daß Genn. Schober persönlich gekränkt ist, wenn ihre Verdienste nach ihrer Meinung nicht genügend gewürdigt werden.“ Er folgt dann ein Beispiel für dieses Verhalten anlässlich einer Parteileitungssitzung. Der Bericht endet mit folgender Einschätzung: „An diesem Ereignis wird m. E. ein Wesenszug von Genn. Schober deutlich: Eine gewisse menschliche Kälte, ein ausgeprägtes Prestigebewußtsein, die Nichtbereitschaft, die ihr widersprech‐ enden Argumente des anderen anzuerkennen, das Bestreben, stets in gewisser Weise im Mittelpunkt zu stehen. Das alles schafft zu vielen Mitarbeitern ein gewisses distanziertes Verhältnis, das nicht gerade durch menschliche Wärme gekennzeichnet ist. So ergibt sich aus meiner Sicht ein recht widersprüchliches Bild von Genn. Schober.“ 128 307 6. Rita Schobers politische Netzwerke in der DDR <?page no="308"?> 129 BStU, MfS AP 2474/ 81, 000098 Es gibt keine Hinweise dafür, dass es in den 1970er Jahren zu einer Zusam‐ menarbeit Rita Schobers mit der Staatssicherheit gekommen wäre. 1980 stellte man die Aufklärung ein, was mit dem Alter, dem schlechten Gesundheitszustand sowie ihrem Status als Emerita begründet wurde. Auch andere Beispiele belegen, dass die Staatssicherheit von kapriziös erscheinenden Personen als Mitarbeiter Abstand nahm. 129 Die Akte enthält keinen Hinweis auf die NSDAP-Mitgliedschaft Rita Scho‐ bers. Es wurde bereits darauf verwiesen, dass Rita Schober nach 2000 von den Ein‐ tragungen zu ihrer Person erstmals über die Publikation von Sonia Combe er‐ fahren hat, die - wie so manche Historiker - die Stasi-Akten als ungefilterte Quelle von Informationen mit „Wahrheitsanspruch“ verwandt hatte und damit entsprechende Empörung bei Rita Schober auslöste. Im Nachlass und in den Gesprächen mit engeren Freundinnen Rita Schobers ergaben sich jedoch keine Hinweise darauf, dass Rita Schober ihre Akte selbst eingesehen hätte. 7. Frau-Sein Das Thema Frau und wissenschaftliche Karriere wird von Rita Schober in ihrer Vita selten thematisiert. Es sind meist andere, die sie in den Interviews daraufhin ansprechen. Diese Haltung war in der DDR bei Frauen nicht selten verbreitet, was man mit der Tatsache bzw. der Annahme verbinden mag, dass es keine Frauenbewe‐ gung gab und eine vermeintliche Gleichberechtigung der Geschlechter ge‐ herrscht hat, was mit den hohen Zahlen an berufstätigen Frauen und dem Netz staatlicher Kinderbetreuungseinrichtungen belegt worden war. Die hohe Zahl berufstätiger Frauen verdeckt jedoch die Tatsache, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau in zentralen Feldern in der DDR ein Mythos geblieben ist. In der differenzierten Untersuchung „Frauen der Intelligenz. Akademikerinnen in der DDR. 1945 - 1975, von Gunilla-Friederike Budde, für die Rita Schober am 11.9. 2000 in einem Interview zur Verfügung gestanden hatte, wird nachge‐ wiesen, inwieweit die Frauenförderung in der DDR in einen Widerspruch zu ihren ideologischen und praktischen Voraussetzungen und Bedingungen geriet. Für Rita Schober war es unannehmbar, wissenschaftlich als Frau gefördert zu werden. „Ich wollte unbedingt habilitieren. Schon damit niemand mir später nachsagen konnte, die ist über die Partei oder als Frau zu ihrer Professur ge‐ 308 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="309"?> 130 Gunilla-Friederike Budde. Frauen der Intelligenz. Akademikerinnen in der DDR. 1945-1975. Vandhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, S. 184 kommen.“ 130 Frauenförderung im Sinne besonderer Bedingungen für Frauen, um wissenschaftliche Karriere zu machen, war für Rita Schober kein Thema. Den‐ noch muss die Aussage von Budde gerade für junge Frauen in der wissenschaft‐ lichen Entwicklungsphase relativiert werden: Die Tatsache, dass der Arbeits‐ platz gesichert und oft unbefristet war, trug wesentlich dazu bei, dass wissenschaftliche Qualifizierung und Mutterschaft vereinbart werden konnten. Es gibt in dem Nachlass nur sehr wenige überlieferte Aussagen, die sich auf Rita Schobers Mutter-Sein in Verbindung mit ihrer Karriere beziehen. Ihr Mann wird stets als verständnisvoller Ehepartner, der die Karriere gefördert habe, erwähnt. Im Gegensatz dazu steht das große Schweigen Rita Schobers über ihre Mutter, die den Sohn versorgte, im Haus wohnte, ebenso wie ihre Schwiegermutter. Warum spricht sie über diese Tatsachen nicht? Sie scheint sie auszublenden, bis zuletzt, als sie im Alter von 90 Jahren ihr Leben Revue passieren lässt, obwohl sie ganz sicher von dieser familiären Konstellation stark profitiert hatte. Nur durch sekundäre Erzählungen von Freundinnen lässt sich erahnen, dass Rita Schober ein schwieriges Verhältnis zu ihrer dominanten Mutter gehabt haben muss. Obgleich das Thema Frau-Sein in der Vita wenig thematisiert wird, ist auf‐ fällig, dass sich die Themen Kleidung und Schönheit durch viele der Pressear‐ tikel ziehen, die über Rita Schober geschrieben wurden und dies noch in einem Bericht über den Festakt zu ihrem 90. Geburtstag. Nicht zuletzt die Bilder von der „schönen Rita“ oder von der „bestangezogenen Professorin“ bestimmten mit ihren Ruf und verweisen darauf, dass Rita Schober ihr Frau-Sein zelebrierte. Viele männliche Kollegen erinnern ihre Person auch heute noch mit einem be‐ sonderen attraktiven Erscheinungsbild, nicht ohne ein Lächeln im Gesicht, so als ob sie „innere“ Bilder dazu abrufen könnten. Vorträge mit bestechender Logik und zugleich Charme vorgetragen schienen auch in der DDR unschlagbare Waffen im Kampf um Anerkennung zu sein, vor allem in einer Zeit, in der es anfangs keine institutionalisierte Frauenförderung gab. Im Interview von 1997/ 98 erzählt Rita Schober noch mit Freude, dass sie vor jeder Reise, vor jedem Kongress neue Kleidung kaufte und sich immer genau überlegte, was sie an‐ ziehen würde. Die Erinnerung daran, dass sich männliche Kollegen auf Kon‐ gressen zeitweilig mehr über ihre Hüte als über wissenschaftliche Themen aus‐ tauschten, begeisterte sie noch viele Jahre später. Dabei war sich Rita Schober vor allem auch bewusst, dass Kleidung und äußeres Erscheinungsbild als ein Statussymbol wahrgenommen werden. 309 7. Frau-Sein <?page no="310"?> 131 Interview von 1997/ 98 132 In der DDR waren „Kniggebücher“ offzielle Geschenke zur Jugendweihe. Die darin verbreiteten Verhaltenskodizes folgten nicht etwa einem Proletkult, sondern mühten sich um eine Adaption kleinbürgerlicher Regelvorschriften im zwischenmenschlichen Umgang und in ausgewählten Situationen. Vgl. Dorothee Röseberg. Wider den Prolet‐ kult. Anstandsbücher in der DDR zwischen Epochenumbruch und Erbeaneignung. In: Henning Krauss et al. (Hg.). Psyche und Epochennorm. Festschrift für Heinz Thoma zum 60. Geburtstag. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2005, S. 449-468 Der Spruch ihres Großvaters Tomaschek, der als Knecht auf einem Bauernhof sein Dasein verdiente, blieb in ihrem Gedächtnis eingebrannt: „Das passt sich nicht! Das passt sich nicht für uns! “ Sie erzählt, wie schon erwähnt, in mehreren Interviews (1995, 1997/ 98) dass sie zu ihrer Kommunion, nicht wie andere Mäd‐ chen, Seidenstrümpfe, sondern Baumwollstrümpfe hat tragen müssen (in man‐ chen Erzählungen ist es auch ein Baumwollkleid), weil sich Seide nicht mit ihren einfachen sozialen Verhältnissen vertragen hätte. Als sie einmal von reicheren Eltern einer Nachhilfeschülerin eingeladen worden war, hatte sie Mühe, die verschiedenen Bestecke richtig zu benutzen. 131 Solche mit Scham besetzten Er‐ fahrungen in ihrer Kindheit und Jugend bilden Hintergründe für das von Rita Schober mehrfach vorgetragene Ziel, diesem Milieu, den einfachen Verhält‐ nissen zu entkommen. Pelz, Schmuck und Hüte zeigten den Erfolg dieser Be‐ mühungen des sozialen Aufstiegs für sie an und sie gefiel sich darin. Es gefiel ihr vor allem auch, dass sie gefiel. So manchen Marxisten und Kommunisten aus dem westlichen Ausland, insbesondere nach 1968, erstaunte sie mit diesem Er‐ scheinungsbild, hatten sie sich doch eine Repräsentantin der DDR, mit der sie einen nicht an Äußerlichkeiten ausgerichteten Wertekatalog verbanden, anders vorgestellt. Rita Schober war in ihrem Habitus eine bürgerliche Erscheinung, die diesen Habitus gern und bewußt als Distinktion einsetzte und damit Auf‐ merksamkeit in einer auf Anpassung angelegten „Diktatur des Proletariats“ er‐ reichte, die in ihrem Verhaltenskodex eher kleinbürgerlich und wider den Pro‐ letkult ausgerichtet geblieben ist. 132 Wenn Rita Schober ihr Frau-Sein zelebrierte - noch dazu als Frau mit Deutungshoheit - dann hatte sie auch ein Betäti‐ gungsfeld, in dem sie ihre ästhetischen Vorlieben und Phantasien ausleben konnte. Ihre auffällige Kleidung, besonders in den 1950er / 1960er Jahren kann man auch als mehr oder weniger bewusst eingesetztes Zeichen für ein „An‐ derssein-Wollen“ interpretieren, zumal sie in den wichtigen Feldern der politi‐ schen und fachlichen Arbeit stets um Anpassung bemüht war. Kleidung und Mode waren für sie ein Feld „der kleinen Freiheiten“, das ihr soziale und ge‐ schlechtsspezifische Distinktionsmittel bot. Sie nutzte sie gern und ausgiebig. Gravierende Anerkennungsprobleme hat Rita Schober in ihrer wissenschaft‐ lichen Laufbahn als Frau nicht übermittelt und wohl auch nicht kennengelernt, 310 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="311"?> 133 Ulla Ruschaupt. Die Universität nach der II. Hochschulreform 1951. In: Zentrum für interdisziplinäre Frauenforschung der Humboldt-Universität (Hg.). Von der Ausnahme zur Alltäglichkeit. Frauen an der Universität Unter den Linden. Trafo Verlag, Berlin, S. 173-197 obwohl Rita Schober in den 50er und 60er Jahren eine der ersten und wenigen Frauen mit Ordinariat in der DDR war. Ulla Ruschhaupt hat die vier „Ausnah‐ meerscheinungen“ kurz porträtiert, die in den 50 Jahren bis Anfang der 60er Jahre an der Berliner Universität einen Lehrstuhl erhalten hatten: die Theologin Liselotte Richter (1950/ 51), Rita Schober (1957) als einzige Frau an der Philoso‐ phischen Fakultät sowie Ilse Claasen (1960) an der Veterinärmedizinischen Fa‐ kultät und Käthe Voderberg (1961) an der Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fa‐ kultät. 133 Die im Interview mit den Kulturwissenschaftlern der Humboldt-Universität 1995 berichteten „Probleme“ haben eher anekdotischen Charakter: „Ja, und nun haben Sie mich gefragt in der Universität, wie war das, Frauen und Männer. Nun ja, ich bin viele Jahre lang, in vielen Gremien immer die einzige Frau gewesen und die erste Zeit war es zweifelsohne so, dass die Herren vor allen Dingen in der Fakultät, wie soll ich denn sagen, diesen Status auch betonten. Es gab also welche, die sagten: "Guten Tag, gnädige Frau und küß die Hand, gnädige Frau", solche gab es auch, und da habe ich dann irgendwann, als es mir zu blöd wurde, habe ich gesagt, wissen Sie, das ist mir ganz angenehm, wenn Sie mir das am Ballsaal sagen, aber hier bin ich Ihre Kollegin. Und die Kollegen, die mich von früher kennen, wissen, dass das so zu mir passt und da hatte ich eigentlich dann auch Ruhe.“ Rita Schober verweist auf ihre akademischen Lehrer Preißig und Klemperer, die sie aufgrund ihrer Leistungen gefördert haben. Für beide spielte das Ge‐ schlecht - so Rita Schober - offensichtlich keine Rolle für die Frage, ob jemand Wissenschaftler werden kann. Sie bezeichnet dies als einen Glückumstand: „Aber das mit dem Durchsetzen, das war nicht so einfach. Wenn ich nicht das große Glück gehabt hätte, in Klemperer - meinem späteren Lehrer, Viktor Klemperer in Halle - einen Mann zu finden, der nun eine ganz andere Einstellung zu Frauen hatte. Für den gab es eigentlich das Problem, Frauen in die Wissenschaft ja oder nein, das gab es eigentlich für ihn nicht. Aus dem einfachen Grund, da er selbst mit einer - wenn ich so sagen darf, mit den alten Begriffen - „emanzipierten Frau“ gelebt hatte, sich durchgebissen hatte als junger Mann, sie sich durchgebissen hatte, und er ein Verständnis hatte, für eine Frau, die wissenschaftlich oder künstlerisch - das was seine Frau mehr - etwas leisten wollte. Also, er hat in keiner Art und 311 7. Frau-Sein <?page no="312"?> 134 Interview 1995 135 Vgl. Gunilla-Friederike Budde, S. 190 Weise mich behindert, im Gegenteil. Aber die Idee, an die Universität zu gehen, die danke ich eigentlich meinem Doktorvater. (…)“ 134 Für ihre Einstellung als wissenschaftliche Assistentin an der Universität in Halle waren, wie in Kapitel 2 Teil II dokumentiert, neben ihrer fachlichen Qua‐ lifikation vor allem politische Gründe maßgebend. Die ausgezeichneten Leis‐ tungen, die Rita Hetzer vorzuweisen hatte, wären unter den gegebenen gesell‐ schaftlichen Bedingungen in der SBZ allein nicht ausreichend gewesen. Und wenn Victor Klemperer, wie ebenfalls in Kapitel 2 zu lesen, notiert „mein Ver‐ trauen ist nicht ungebrochen, aber ich brauche sie“, dann ist dies auch als Hin‐ weis auf die engen Beziehungen der Schobers zu führenden Genossen der SED zu lesen. Die Leistungen und akademischen Verdienste Rita Schobers werden nicht geschmälert, wenn die universitäre Karriere dieser Frau auch in Zusam‐ menhang mit den aufgebauten persönlichen, vor allem politisch geprägten Netzwerken gesehen wird. Das Frau-Sein war dabei sekundär. In der Untersuchung von Gunilla-Friederike Budde fällt auf, dass Rita Scho‐ bers Werdegang nicht in eine Typologie von Karrierefrauen in der DDR hinein‐ passte und dass Rita Schober auch nicht als Vorzeige-Professorin galt, zumindest nicht in den 1960er Jahren, obwohl Rita Schobers Karriere partei- und staats‐ politisch bereits 1964 mit der Verleihung des Vaterländischen Verdienstordens in Bronze ein erstes Mal gekrönt worden war. Als solche hatte man vielmehr - Budde zu Folge - Liselotte Welskopf-Henrich ausgewählt, vor allem weil sie im Dritten Reich politischen Widerstand geleistet hatte. Sie war 1960 Professorin mit Lehrauftrag für Alte Geschichte an der HU und 1964, als erste Frau zum Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften gewählt worden. 135 Das bedeutet, dass die NSDAP- Mitgliedschaft von Rita Schober an bestimmten Stellen noch längere Zeit als „Hindernis“ wirkte. 8. Mühe und Glück, Glück und Mühe - Selbstgespräche ‚Que la vie en vaut la peine’, ‚Dass das Leben wert der Mühe sei’. Dieser Satz Louis Aragons zieht sich als selbstdefiniertes Leitmotiv und Credo durch das Leben von Rita Schober. Man kann ihn in zahlreichen Interviews für die Presse in der DDR finden, aber er wurde von Rita Schober auch nach 1989/ 90 zitiert, wenn es um ihre Lebensmaxime ging. Folglich schmückt er auch die Einla‐ dungskarte zum Festakt anlässlich ihres 90. Geburtstages im Senatssaal der 312 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="313"?> 136 Nicharchivierter Nachlass. Handschriftliche Notiz Humboldt-Universität, der von der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften und von Gerhard Schewe als ehemaligem Schüler-Kollegen an dieser Universität initiiert worden war. Auf der Einladung ist der Satz erweitert: „je dirai malgré tout que cette vie fut belle.“ (Ich werde sagen, trotz allem, dieses Leben war schön. Louis Aragon) In einer Vorbereitung auf eine Rundfunksendung im Jahre 1984, in der of‐ fensichtlich auch dieses Credo eine Rolle spielen sollte, schreibt sie stichpunkt‐ artig auf, wie sie diesen Satz interpretierte: „Widerschein des Kampfes, des Rin‐ gens um Durchsetzung der Vernunft, erfahren als Leid und Bitternis, als Verleumdung und Qual des Herzens, aber doch Liebe zum Leben und der Glaube an den Menschen. Schön war das Leben, was immer auch geschah.“ 136 Rita Schober sah in Aragons Gedicht ein Potential für ein optimistisches Credo. So mag man auch die von ihr selbst gewählte Musik während ihres Begräbnisses interpre‐ tieren: Wie im Vorwort bereits gesagt: Laut erschallte über den Gräbern der Gesang des zum Tode geweihten Cavadossi aus Tosca „Nie hab ich das Leben so geliebt“, das er nach der Liebeserklärung Toscas anstimmt. Mühe, Qual und Glück lagen für Rita Schober dicht beieinander: Sich be‐ mühen, sich anstrengen, um dem kleinbürgerlichen Milieu ihrer Kindheit und Jugend zu entwachsen; sich bemühen, die Beste zu sein, auch um den Erwar‐ tungen der Mutter zu entsprechen; ein wenig Liebe von ihr zu erfahren; sich um eine Hochschullehrerlaufbahn bemühen; die Mühe, sich nach dem Krieg, in neuen gesellschaftlichen Verhältnissen zu etablieren und dabei Teile ihrer Ver‐ gangenheit zu verdrängen und zu verschweigen. Es war auch Mühe, mit den tiefgehenden emotionalen Erschütterungen, insbesondere der Geschichte ihrer nicht geklärten Herkunft - und dem damit verbundenen Verhältnis zu ihrer Mutter - dem ungeklärten Tod ihres geliebten ersten Mannes, auf dessen Rück‐ kehr sie lange gehofft hatte und nicht zuletzt mit dem Tod ihres einzigen Sohnes umzugehen. Aus dem nicht archivierten Nachlass ist eine Notiz aus dem Jahr 1967 über‐ liefert, die darüber Aufschluss gibt, wie Rita Schober versuchte, diesen und an‐ deren Herausforderungen zu begegnen. Der Text ist mit dem Titel „Seelisches Tief ? “ überschrieben: „Kann man eigentlich vom seelischen Tief schlechthin spre‐ chen? Gibt es nicht ebenso viele Arten seelischer Tiefs wie Auslösungsmomente und dementsprechender möglicher Therapien? In meiner Jugend pflegte ich seelische Tiefs meist durch die Lektüre schwieriger lateinischer Autoren zu bekämpfen, wie Livius, Tacitus oder Horaz. Die Schwierigkeit des Textes erforderte höchste Kon‐ 313 8. Mühe und Glück, Glück und Mühe - Selbstgespräche <?page no="314"?> 137 Machinenschriftliche Notiz aus dem nicht archivierten Nachlass 138 Interview 1997/ 98 zentration und logisch klares Denken, die beste Therapie gegen gefühlsmäßige Tiefs. Heute haben sich mit den Ursachen auch die „Heilmittel“ verändert. Da die Tiefs heute meist aus dem beruflichen Sektor kommen und mit angespannter geistiger Arbeit oder Enttäuschungen über menschliche Unzulänglichkeiten verbunden sind, können zwei Stunden mit der Vorbereitung eines raffinierten Essens verbracht, ge‐ radezu Wunder wirken. Aber das ist nur ein „Rezept“ von vielen, manchmal ist es auch ein Spaziergang, der Zwang zur Konzentration am Steuer des Wagens, die seelische Inzuchtnahme durch die klare Linienführung Bachscher Musik oder ganz einfach eine Stunde der Besinnung und des Alleinseins. Aber noch immer ist auch heute das beste Heilmittel die Beschäftigung mit einem schwierigen wissenschaft‐ lichen Problem.“ 137 Noch im Interview von 1997/ 98 reagiert Rita Schober erstaunt, als ihr die Frage gestellt wird, ob es nicht ein Opfer gewesen sei, schon in der Jugend so viel gearbeitet zu haben. Sie antwortet: „Vielleicht würden ja andere sagen, das ist ja schrecklich, vom 14. Lebensjahr an schon so viel arbeiten, aber es war mir eigentlich ein Grundbedürfnis. Ich konnte eigentlich nie unbeschäftigt sein. Ich habe auch gelesen auch wie eine Leseratte. Aber arbeiten, ich muss sagen, jetzt erst auf die alten Tage, habe ich es auch gelernt, einmal auf der Terrasse zu sitzen nur den Vögeln zuzuhören und meine Blumen zu bewundern. Aber im Prinzip, also betrachte ich mein Leben erst dann als wirklich erfüllt, wenn ich geistig arbeiten kann. Ich habe immer weitergearbeitet, auch nach der Wende, ich habe mich be‐ müht, auch was Neues noch anzufangen, was ich früher nicht so im Programm hatte; also geistige Arbeit ist für mich natürlich Arbeit gewesen. Also ich habe mein ganzes Leben, vor allem als ich Professor war und Institutsdirektor bis in die 70er Jahre hinein, die Woche mindestens drei bis vier Nächte durchgearbeitet mit höchs‐ tens ein bis zwei Stunden Schlaf. Das konnte auch gar nicht anders gehen. Ich habe auch nicht Ferien gemacht, denn Ferien, das war die Zeit, wo ich geschlossen hin‐ tereinander wissenschaftlich arbeiten konnte. (…) Ich kenne eigentlich kein anderes Leben. Nein, das war für mich überhaupt kein Opfer. Das war eigentlich die Er‐ füllung meines Lebens, ich bin eigentlich immer am glücklichsten gewesen, wenn ich in meiner Ecke saß, in Prieros mit Blick auf den Wald, die Schreibmaschine klapperte auch nachts über den See, da wussten alle, die Schoberin arbeitet wieder. Da war ich selig, wenn ich richtig in Ruhe mal konzentriert arbeiten konnte. Also ein Opfer war mir das eigentlich nie.“ 138 314 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="315"?> 139 HU UA, NL Schober, Karton Nr. 7/ 2 In einem Interview für die Berliner Abendzeitung im Juli 1983, kurz nach der Verleihung des Ordens ‚Stern der Völkerfreundschaft’ in Gold, anlässlich ihres 65. Geburtstages, antwortet Rita Schober auf die Frage: „Und was ist nach Ihrer Meinung Glück? “ „Für mich, etwas schaffen zu können, die Welt ein Stückchen mitzubewegen und Menschen um sich zu haben, die man liebt und die zu einem halten.“ 139 Geistige Arbeit war Rita Schober ein Bedürfnis, aber sie bot ihr auch ein Handlungsmuster, mit dessen Hilfe sie ihre Wunden „therapierte“. In einem Brief nach 1989 bezeichnet sie in Anlehnung an Victor Klemperer ihre Arbeit als geistige Balancierstange in den schwierigen Zeiten, an der sie Halt findet. Persönliche und berufliche Wegbegleiter erlebten sie oft als hart und streng, sich selbst wie auch anderen gegenüber. Die „seelische Inzuchtnahme“, Erziehung, Kontrolle und Beschneidung von Gefühlen, all dies formte ihre Persönlichkeit und ließ nur selten deren Verwundbarkeit erkennen. Einige ihrer Sehnsüchte und Wünsche hat Rita Schober in Selbstgesprächen zu Papier gebracht. Aus solchen Selbstgesprächen, zu denen auch das oben zitierte gehört, geht eine ungestillte Sehnsucht nach Liebe hervor: Der bereits vorn zitierte Satz „Ich habe immer nur von den Brosamen der Liebe anderer gelebt“ bündelt eine Tragik, die Rita Schobers Leben durchzieht. Das Schreiben ihrer Vita konfrontierte sie mit dieser Tragik und von den Grenzen des für sie Sagbaren werden die Leser ihrer Vita Zeugen. 2006 zitiert sie Georg Trakl mit einem Satz, der ihr besonders wichtig war: „Unter Dornenbögen klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.“ So manche Gespräche mit den ihr vertrauten Freundinnen der letzten Jahre belegen, dass Rita Schober auf einem persönlichen Weg war, sich auch den tief‐ liegenden Wunden in ihrem Leben zu stellen. Nicht alles wollte und konnte sie davon öffentlich machen. Zu den Texten, die als Selbstgespräche schriftlich in ihrem nicht archivierten Nachlass überliefert sind, gehört der folgende vom Oktober 1983: „Unser Leben wird strukturiert durch Geschäftsbeziehungen und ich bin am Ende der Kette. Nun weiß ich endlich, wohin ich gehöre. Das Erfülltsein von dem anderen verdrängt jeden Gedanken. Ja, das Denken an etwas anderes selbst, wird als lästig, als störend empfunden, weil es von diesem inneren Verbundensein, dieser Zweisamkeit ablenkt, weil es Dich vereinzelt, zu‐ rückwirft in Dein eigenes ‚Ich’, und in das Außerhalb sein und gleichsam die Hülle sprengt des gemeinsamen Eingebundenseins. Ein solcher Zustand kann nicht dauern. Der Einbruch der Welt in diese Welt der Gefühle (… nicht leserliche Text‐ stelle D.R.) ist notwendig ihr Wandel, meist ihr Ende oder oft. Sie verlieren durch 315 8. Mühe und Glück, Glück und Mühe - Selbstgespräche <?page no="316"?> 140 Nicht archivierter Nachlass 141 Undatiertes Papier aus dem nichtarchivierten Nachlass 142 Undatiertes Papier aus dem nicht archivierten Nachlass diese raue Berührung mit der Außenwelt den Schmelz wie Schmetterlingsflügel, die ihres Zaubers beraubt sind. Vielleicht beruht auf der Sehnsucht nach der Wie‐ derherstellung dieses einmaligen Zustandes, in dem allein dem Menschen das Überschreiten des isolierenden Ich-Daseins in ein Wir-Dasein möglich ist, in ein unreflektiertes, erlebtes, nicht rational hergestelltes - der Grund für den geheim‐ nisvollen Zauber, den eine neue menschliche Begegnung, eine neue Beziehung aus‐ zustrahlen vermag! “ Am 20.7.1984 schreibt sie: „Alles, was zu sagen war, war gesagt. Wir konnten uns nur noch wiederholen… Und so stand ich hilflos vor den Trümmern dieses Abschieds, (meine Seele (Gott, wie pathetisch! ) weinte. Eine unsagbare Traurigkeit lähmte mein Denken, mein Fühlen, jede meiner Be‐ wegungen. Schlafen oder weinen können; die Arbeit wurde zur Qual - wenigstens allein sein dürfen - ich darf nicht! “ Zu den Selbstgesprächen gehört ein Text, der sich mit eigenen literarischen Versuchen auseinandersetzt: „Wenn man sich ein Leben lang mit anderer Leuten Literatur beschäftigt hat, juckt es einen eines Tages in - nein natürlich nicht im Finger! sondern in der Feder - einmal selbst etwas zu Papier zu bringen. Gott, so schwierig kann dies doch nicht sein. Aber, liebe Freunde, allen Erwartungen entgegen - es ist, es ist! “ 140 „Vorlesungsverzeichnisse - Telefonverzeichnisse: Anonyme Strukturen - Menschen uninteressant und die Frage der Geheimhal‐ tung - es soll auch Städte geben, die keine Telefonverzeichnisse haben. Dies ist besonders praktisch, denn so können die Amtsstuben und ihre Bewohner nicht in ihrer dringend notwendigen Ruhe gestört werden. Man ist sicher vor unliebsamen Anrufen! “ „Traumstädte Alpträume: Das Abitur nachholen, geliebte Tote, die zurückkehren, aber nie zu erreichen sind, wie Schemen gleiten sie durch den Tag der Wiederbegegnung. Das Erwachen nach solchen Träumen ist schmerzlich.“  141 „Ich habe mein Leben lang den Fimmel zur Vollkommenheit gehabt und darum ist vieles unvollkommen geblieben und während ich dies niederschreibe, stutze ich bereits, Fimmel? Und ich suche nach drei, vier neuen Ausdrücken, für dieses nicht ganz stilgerechte Wort. Ich sehe ein, von einem unheilbaren Leiden besessen zu sein. Meine Freunde haben darauf sehr unterschiedlich reagiert - ebenso wie meine Feinde, doch die Reaktionen letzterer sind nicht so verwunderlich.“  142 316 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="317"?> 143 HU UA, NL Schober, Karton Nr. 7/ 2 144 Interview 1988. Maschinenschriftliches Manuskript. HU UA, NL Schober, Karton Nr. 7/ 2 „Lebenswege sind immer ein Ineinandergreifen von objektiven Bedingungen und subjektivem Vermögen, von Zufällen und Entscheidungszwängen und ob indivi‐ duelle Dispositionen sich entfalten können, ist nicht nur eine Frage der entspre‐ chenden jeweiligen Anlagen, sondern in mindestens dem gleichen Maße ein Er‐ gebnis der Anforderungen, die an sie gestellt werden und des Spielraums der Betätigung, der sich ihnen erschließt.“  143 Für Rita Schober war die Humboldt-Universität die wichtigste Stätte ihres Wirkens. „Ich hatte das große Glück, an diese Universität zu kommen zu einem Zeitpunkt, da ein ganzes Ensemble hervorragender Wissenschaftler wie Wolfgang Steinitz, Alfred Meusel, Heinrich Deiters, um nur einige Namen aus der damaligen philosophischen Fakultät zu nennen, die schon nicht mehr unter uns weilen, da diese Wissenschaftler und Antifaschisten unter Einsatz ihrer ganzen intellektuellen und politisch-moralischen Kraft den Wiederaufbau dieser Universität voran‐ trieben, das wissenschaftliche Klima bestimmten und so auch die Entwicklung des jungen wissenschaftlichen Nachwuchses richtungsweisend einwirkten. Christa Wolf hat einmal in einem Gespräch im Präsidium des PEN-Zentrum der DDR gesagt, dass nach ihrer Meinung jede Biographie gewissermaßen einen ent‐ scheidenden Drehpunkt hat. Mein Wechsel von der Universität Halle an die Hum‐ boldt-Universität Berlin im Gefolge von Victor Klemperer war sicher in Bezug auf die äußeren Bedingungen, die meinen Lebensweg gesteuert haben, eben dieser ent‐ scheidende Drehpunkt.“ 144 Die Humboldt-Universität war die Stätte, an der sich der Kindheitstraum von Rita Schober, einmal Hochschullehrerin und Professorin zu werden, erfüllte. Auch deshalb blieb sie ihr im Innern verbunden, selbst als sie dort nicht mehr eingeladen war. Glücksmomente boten ihr auch ihre Reisen in die von ihr besonders geliebten Städte. Prag, Paris, Rom, Florenz und Moskau blieben für sie vor allem ver‐ bunden mit ihren Erinnerungen an ihren ersten Mann, den Kunsthistoriker Hans Hetzer, mit dem sie - auch durch ihre Studien des Italienischen - die Liebe zur Malerei und Musik teilte. Im Kapitel 2 und 3 der Vita Teil I erinnert Rita Schober ihre Reisen. Diese Texte lassen etwas von Glück und dem Erfüllt-Sein des Erlebens und der Fähig‐ keit zum ästhetischen Genuss erahnen. Derer gab es für sie viele: gutes Essen, guter Wein, Musik, aber vor allem schöne Sprache und Literatur. Manche Reisen unternahm sie mit Freunden der Familie und bis ins hohe Alter genoss sie deren Gesellschaft. Das Wochenendhaus in Prieros und das Haus am Erpenbeckring 317 8. Mühe und Glück, Glück und Mühe - Selbstgespräche <?page no="318"?> waren Orte der Feste, die Rita Schober gern selbst ausrichtete. Ihre Kochkünste und die Gediegenheit der Athmosphäre waren bei Freunden und Kollegen le‐ gendär. Rita Schober hat das Leben geliebt, bis zuletzt. 9. Anstelle eines Nachwortes Die Begegnung mit der Vita Rita Schobers und die Arbeit an ihrem persönlichen Nachlass haben einen vielschichtigen Reflexionsprozess der Herausgeberin ini‐ tiiert und begleitet. Von Anfang an war es nicht das Ziel, die von Rita Schober hinterlassenen Fragmente unkommentiert zu belassen. Ihr in der Vita gezeichnetes Selbstbild für die Nachwelt wurde dennoch auf unerwartete Weise von einigen Doku‐ menten des Nachlasses in Frage gestellt. Wie sollte damit umgegangen werden, wenn Authentizität der Selbstdarstellung ebenso gewahrt werden musste, wie die wissenschaftliche Redlichkeit und damit auch die Pflicht zur Aufklärung, zumindest eine solche, die sich archivalischen Dokumenten verpflichtet sieht. Die Aufteilung in zwei Teile schien zumindest eine Lösung zu sein, die all denen, die nur die Vita interessiert, die Möglichkeit bietet, diese ohne Kommentar zu lesen. Der im zweiten Teil präsentierte biographiewissenschaftliche Kommentar spiegelt einen intergenerationellen „Dialog“, in dem gleichsam ähnliche wie auch völlig unterschiedliche Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen von DDR-Realität und Nachwende-Erfahrungen eine Rolle spielen. Für eine Kultur‐ wissenschaftlerin ist die Thematisierung des Blickes, mit dem ein „Gegenstand“ betrachtet wird, Teil des notwendigen Methodensets. Aber in diesem Fall ver‐ banden sich damit ungeahnte Probleme, die zugleich neue Einsichten beför‐ derten. Es ergab sich zunächst die Frage: was darf preisgegeben werden und wie soll der Kommentar aussehen, wenn die Haltung, aus der heraus analysiert und kommentiert wird, von Respekt gegenüber der Person und vor ihrem Lebens‐ werk getragen ist. Für die politische Seite der Vita, insbesondere die NSDAP-Zu‐ gehörigkeit und die fiktive Geschichte als Grundlage ihrer Entnazifizierung, fiel die Entscheidung für die Veröffentlichung leicht. Die Aufbewahrung der Mate‐ rialien im Privatarchiv war zudem auch als ein Einvernehmen mit einer Veröf‐ fentlichung zu interpretieren. Ganz anders verhielt es sich mit der Geschichte um die Herkunft Rita Schobers und die damit verbundene ungeklärte Vater‐ schaft. Hätte sie sich nicht in den letzten Jahren ihres Lebens ihren Freundinnen 318 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="319"?> anvertraut, wäre dies wahrscheinlich im Dunkeln geblieben. Diese Bereitschaft zum Erzählen bildet aber nur einen Hintergrund für die Entscheidung, die per‐ sönlichen Teile der Vita zu veröffentlichen. Der andere ist wesentlicher, denn diese ungeklärte Herkunft, bzw. das Schweigen der Mutter wie auch der Moment ihrer Offenbarung müssen Verletzungen hervorgerufen haben, die die Persön‐ lichkeit Rita Schobers von ihrer Kindheit und Jugend her erschließen. Zu den wahrgenommenen schillernden Facetten Rita Schobers gehörte eine Unnahbar‐ keit ihrer Ausstrahlung, die sich jedem Anrufer in dem berühmten „Ich höre“ darbot, eine Unnahbarkeit, die im Kontrast zu der ebenso wahrgenommenen Hilfsbereitschaft und Zuneigung stand. In einer (auto)biographischen Schrift sind Persönlichkeit und Werk nicht zu trennen. Von dieser Position ausgehend mussten auch Charakter, Vorlieben und vor allem Sinnfragen entschlüsselt werden. Nimmt man diese Sicht ein, dann, erst dann sind die entscheidenden „Drehpunkte“ ihrer Biographie erkennbar, die anders als sie es selbst definiert, nicht in ihrem Wechsel von der Universität Halle nach Berlin an die HU liegen, sondern in ihrer Kindheit und Jugend mit den oben angesprochenen persönli‐ chen „Unklarheiten“ und den damit verbundenen emotionalen Verunsiche‐ rungen. Zusammen mit der erfundenen Spionagetätigkeit in der NSDAP, die ihr politisch den Weg für ihre wissenschaftlich-institutionelle Karriere ebnete, er‐ schließen sich wesentlich ihre Persönlichkeit und ihre Verhaltensweisen. Diese „Drehpunkte“ stellen sich am „Ende“ eines fast vierjährigen Arbeitsprozesses an der Herausgabe der Vita als Schlüsselmomente für das Verstehen der Vita dar. Um sie „kreist“ in gewisser Weise der Text in Teil II der Vita. Die Verstehensprozesse, die mit der Arbeit am Material zu dieser Autobio‐ graphie und dem Nachlass befördert wurden, betreffen auch die DDR. Als ich Anfang der 1970er Jahre an „ihrem“ Institut Französisch studiert habe, bin ich Rita Schober persönlich nicht begegnet. Aber jeden Tag führte der Weg an „ihrem“ Arbeitszimmer vorbei, an dem in großen Lettern ihr Name prangte und das noch in einer Zeit, als sie nicht mehr am Institut und das Zimmer von an‐ deren Professoren belegt war. Niemand wagte es das Schild zu entfernen. Als Assistentin in den 1980er Jahren gehörte es zu meinen Aufgaben, den leitenden Professoren unliebsame Anrufe bei Frau Professor Schober abzunehmen, was mir bei ihr den Namen „Kindchen“ einbrachte. Noch in den 1990er Jahren, als ich Rita Schober zu den Gesprächskreisen über „Frankreich und die DDR“ einlud, waren wir uns eher fremd. Dies verwundert nicht, kennt man Rita Schobers Denken in Hierarchien: Sie registrierte es als ungeheuerliche Neuheit, dass in den 1980er Jahren „schon“ Assistenten und Aspiranten in der Professorenmensa zugelassen waren. In ihren Wahrnehmungskreis als Kollegin gelangte ich erst wirklich 1997 mit der Berufung zur Universitätsprofessorin an der MLU in Halle, 319 9. Anstelle eines Nachwortes <?page no="320"?> an der für sie alles begonnen hatte. Von da an unterhielten wir persönliche Kontakte, meist telefonisch. Zu ihrem immer wieder eingeladenen Kollegen‐ kreis gehörte ich nicht. Diese kurzen Angaben mögen verdeutlichen, dass ich zu Rita Schober ein respektvolles, eher unbelastetes persönliches Verhältnis hatte, ohne ihr in ihren Positionen zu folgen. Zu verschieden waren unsere In‐ teressen und Auffassungen in fachlichen und auch politischen Fragen. Erst während der Beschäftigung mit der Vita und den Dokumenten in ihrem Nach‐ lass entwickelte sich eine „Nähe“, die so nicht zu erwarten war. Diese Nähe hat naturgemäß mit dem „Eintauchen“ in ein anderes Leben zu tun. Mehr als sie selbst kannte ich die widersprüchlichen Bilder von Rita Schober, mit denen jeder Romanist irgendwann konfrontiert worden war. Vor dem Hintergrund dieser Vorstellungen, einem Mix aus persönlicher und sekundär erworbener Erfah‐ rung, reicherten sich die Bilder über den Menschen Rita Schober mosaikartig an. Und es waren die Ungereimtheiten in ihrem Leben, die mir Anlass gaben, nach den Bedingungen zu fragen, in denen Schweigen, Anpassung, wider bes‐ seres Wissen Handeln, Verwerfungen in Kauf nehmen, Grenzen im Denken ak‐ zeptieren etc. Handlungsoptionen einer überaus intelligenten Frau waren um systemkonform zu leben. Ähnlich wie in dem Interview 1995 führten diese Fragen zur DDR als Gesellschaftsgefüge, das sich mir in diesen Zusammen‐ hängen in seinen fatalen Schwächen noch einmal, vor allem in Bezug auf die Bedingungen für das Denken und Schreiben von Geistes- und Sozialwissen‐ schaftlern, erschloss. Die Sicht mit dem Abstand von fast 70 Jahren nach der Gründung und von fast 30 Jahren nach dem Untergang der DDR provoziert Fragen, die über das hinausgehen, was Rita Schober als kritische Selbstbefragung in ihrer Vita vor‐ trägt. Für eine Kulturgeschichte der DDR ist die Frage relevant, welche Rolle Intellektuelle in diesem Staat gespielt haben bzw. spielen konnten. Über Dissi‐ denten ist früh und viel geschrieben worden. Ist Rita Schober nun aber proto‐ typisch für die Gründer-Generation der DDR-Intellektuellen, die das System über 40 Jahre hinweg getragen haben? Sie gehörte nicht zu jenen, die in der jungen DDR über die Arbeiter- und Bauern-Fakultäten ihre ersten akademi‐ schen Würden erworben haben und die „neue“ Intelligenz der DDR repräsen‐ tierten. Sie war auch keine Widerstandkämpferin, Antifaschistin oder Emig‐ rantin, die mit ihrer Biographie - per se - in den neuen Staat passten. Gleichwohl orientierte sie sich moralisch und politisch an ihnen. Aber sie hatte eine andere „Vorgeschichte“: Rita Schober kam aus einem „Randgebiet“ des Deutschen Rei‐ ches, eine Tatsache, die sie selbst erst spät thematisierte. Noch weniger ist über‐ liefert, dass sie über die Konsequenzen der Tatsache reflektierte, dass sie in ihrer Kindheit und Jugend 20 Jahre lang die tschechische Staatsbürgerschaft gehabt 320 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="321"?> und dabei einer kulturellen Minderheit angehört hatte. Das Etikett der „Aus‐ siedlerin“ zeigte erneut einen solchen „Außenseiterstatus“ an und war zudem bei vielen in der SBZ und in der jungen DDR negativ besetzt. Insofern ist es nahliegend, dass Rita Schober auch das Bedürfnis getrieben hat, sich der Mehr‐ heit bzw. der politisch definierten Mehrheit zuzuordnen. Solche Überlegungen sind in ihrer Vita kein Thema. Sie gibt diesen Umstand nur in einem Brief (Kap.2) vage zu erkennen. Dennoch, auch der erlebte Minderheitenstatus mag mehr oder weniger bewusst ein Antrieb gewesen sein, alles zu tun, um sich in den neuen Staat zu integrieren. Rita Schober war intelligent, fachlich kompetent und zugleich in politischen Dingen eifrig, auch vor dem Hintergrund der erfundenen Antifa-Geschichte. Sie wollte Karriere machen. Aber sie war auch erpressbar. Zugleich hatte sie im besetzten Sudetenland und aus der Zeit vor dessen Be‐ freiung Erfahrungen angeeignet, die ihr in der DDR, unter den Bedingungen einer neuen Diktatur, hilfreich sein konnten. Anpassung und Netzwerkbildung ebneten dort den Weg, wo er mit Hindernissen versehen war. Dies alles stellt sich als nahezu perfekter Mix für eine Karriere heraus. Am Anfang dieser Kar‐ riere ging es eher um politischen Eifer, in einer als moralisch für sich selbst legitimierten Gesellschaft anzukommen bzw. an einem Aufbauprojekt mitzu‐ wirken, das mit dem katholisch fundierten Wertekanon und den Erfahrungen einer sozial nicht Privilegierten in Übereinstimmung stand. Der Glaube an eine bessere Gesellschaft der ersten Jahrzehnte erhielt erst später ein Kenntnis- und Wissensfundament, das sich auf die damals kodifizierten Lehren von Marx, En‐ gels und Lenin berief. Dieser Glaube ging der Überzeugung voraus. Und - wie das Selbstzeugnis der letzten Jahre belegt - überlebte dieser Glaube, auch als Teile der wissenschaftlichen und politischen Überzeugungen abhanden ge‐ kommen waren. Es ist auch dieser Glaube, der es Rita Schober ermöglicht, eine Art Kontinuitätsbiographie zu schreiben. Allerdings ist dies mit Zurückhaltung zu formulieren, denn der fragmentarische Charakter lässt eigentlich keine tra‐ genden Schlüsse für die Vita zu. Dennoch umschließt der Glaube an eine bessere und gerechtere Gesellschaft ihre Autobiographie. Dies wird erst deutlich, wenn man auch den Nachlass Rita Schobers betrachtet. Dieser Glaube, als Hoffnung in moralischen Kategorien vorgetragen, entspricht dem Credo-Charakter ihres Lebensprojektes. Ein Vergleich einer solchen Biographie, an deren politischem Anfang eine NSDAP-Mitgliedschaft - so formal diese auch war - steht, mit dem Werdegang der in der DDR ansässigen Emigranten, die aus politischen Gründen oder als Juden Nazideutschland verlassen mussten, ist durchaus aufschlussreich. Of‐ fenbar bereitete eine solche NSDAP-Mitgliedschaft in der DDR mitunter we‐ niger Probleme als die Tatsache, z. B. Westemigrant gewesen zu sein. Was Rita 321 9. Anstelle eines Nachwortes <?page no="322"?> 145 Heike van Hoorn in einem Gespräch mit der Herausgeberin am 20. Oktober 2016 146 Kurt Hager. Erinnerungen. Faber & Faber, Berlin 1996, S. 183-184 Schober betrifft, so spielt eine Rolle, dass sie jung war und in der SBZ einen festen Willen zeigte, am Aufbau einer antikapitalistischen Ordnung mitzu‐ wirken. Antikapitalistische und antifaschistische Zielsetzungen wurden, so Heike van Hoorn, in der SBZ und in der frühen DDR oftmals gleichgesetzt. Bei der Beurteilung der Integrität von Personen spielte das Alter und meist eines der beiden Kriterien eine ausschlaggebende Rolle. Auch wenn sich ältere Ge‐ nossen öfter gegen eine zu schnelle positive Beurteilung von „belasteten“ Per‐ sonen stellten, in der Praxis und unter den gegebenen historischen Bedingungen war es meist so, dass man auf die jungen Genossen zählte, die zumindest eines der beiden Kriterien erfüllten. 145 Rita Schober konnte ihr Engagement für eine antikapitalistische Ordnung glaubhaft machen. Anders bei den Westemi‐ granten, denn ihnen gegenüber blieb das Misstrauen, Diener fremder, feindli‐ cher Mächte zu sein, in der DDR virulent. Der von Rita Schober verehrte Kurt Hager hat in seinen „Erinnerungen“ dazu aufschlussreich berichtet. Er bezieht seine Aussagen auf die 1950er Jahre: „ Durch die Prozesse und anderen Repressalien, die Agentenfurcht und die stän‐ digen Aufrufe zur Wachsamkeit ist ein giftiger Virus in die SED und die Gesell‐ schaft eingeimpft worden, der nicht wieder entfernt werden konnte und der im Laufe der Zeit den ganzen Organismus schwächte. Von diesem Zeitpunkt nahmen Wachsamkeit und Misstrauen einen immer größeren Platz ein, was sich schädlich auf das innerparteiliche Leben und das gesellschaftliche Klima aus‐ wirkte. Nun wird mir entgegengehalten: ‚Alles gut und schön, aber warum haben Leute wie Du dieses giftige Klima nicht verhindert? ’ Ich glaube, dass dies nicht geschah, weil wir stets unter Druck standen und immer wieder mit äußerer Einwirkung rechnen mußten. Die Bedrohung war real, und daher billigte ich die Aufforderungen zur Wachsamkeit. Zum anderen fehlte mir die Kraft - oder der Mut - diesem durch die Prozesse hervorgerufenen Klima entgegenzuwirken. Ich fühlte mich in dieser Zeit hilflos und einer dunklen Macht (Berija) ausgesetzt. (…)“ 146 Das stete Misstrauen gegenüber möglichen Feinden von innen und außen vergiftete nicht nur den Alltag in der DDR, sondern auch den Raum des Denkens. Wenn Rita Schober im November 1989 ihr Schweigen bedauerte oder sich für das Schweigen der „führenden Genossen“ schämte, dann berührte sie - ohne dies wirklich zu thematisieren - die Krankheit des ganzen Organismus. Einer Romanistin fällt die Parallele zum Jahr 1790 auf, als die Revolution in Frankreich in Gefahr schien; Bedrohung, real oder konstruiert, wurde auch da‐ 322 TEIL II NACHLESE AUS BIOGRAPHIEWISSENSCHAFTLICHER SICHT <?page no="323"?> 147 Hans-Joachim Maaz. Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft. C.H. Beck, München 2017 (2) mals zum Leitmotiv realer Politik und Feind, wer zum Feind erklärt war. Die ‚terreur’, die Terrorherrschaft von 1793, erwuchs aus dieser Angst vor Bedro‐ hung. Die DDR war ein Regime, in dem Prozesse abliefen, die weder mit rechts‐ staatlichen Prinzipien noch mit Respekt vor der Menschenwürde zu vereinbaren waren. Zu messen sind diese Verfehlungen nicht nur und in erster Linie an heute aktuellen Zuständen, sondern vor allem an dem selbst erhobenen Anspruch. Erst nach 1989 wurde das ganze Ausmaß dieser Verfehlungen erkennbar, das Rita Schober zur Kenntnis nahm und verurteilte. Dies alles bildete den Kontext, in dem Intellektuelle Ideen produzieren sollten und produzierten. Vor allem Ge‐ sellschaftswissenschaftler hatten mit Grenzziehungen im Denken zu kämpfen, die letztlich verhinderten, dass sich die DDR von innen hätte reformieren können. Auch daran ist die DDR gescheitert. Rita Schober schreibt eine Vita, die sie vor allem als Wissenschaftlerin zeigt. Mit ihr ist die Schreiberin am ehesten konform, trotz einiger Kritiken. Das ist ihre Domäne. Diese war in ihrem Selbstverständnis dominant. In zweiter Linie zeigt sie sich uns als Hochschullehrerin, aber eine Begeisterung für die Arbeit mit Studierenden kann sie nicht übermitteln. Die wissenschafts- und kulturpo‐ litische Arbeit hat ein weit größeres Gewicht in der Selbstdarstellung. Rita Schober als Genossin? Mit ihr geht die Autorin strenger ins Gericht und gesteht sich die Grenzen ihrer Fähigkeit zum Widerstand ein. Rita Schober präsentiert sich dem Leser darüber hinaus explizit und mehr noch implizit als Frau, seltener als Mutter und noch weniger als Großmutter und Urgroßmutter. In allen diesen Rollen tritt zweierlei deutlich zu Tage: Rita Schober hat mit dem Streben nach Anerkennung durch Leistung vielschichtige Anpassungsleis‐ tungen vollbracht und versucht, Emotionen in einem der Vernunft untergeord‐ neten Leben zu bändigen. Beide Vorgänge durchziehen ihr Leben, das sie in ihren Selbstgesprächen - trotz vieler Glücks- und noch mehr Erfolgsmomente - mit den Attributen Mühe und Leid charakterisiert. Damit verweist ihre Vita auf universellere Fragen, die sich auch auf den Preis jeder normopathischen Ge‐ sellschaft beziehen. Als solche bezeichnet der Psychoanalytiker und Psychiater Hans-Joachim Maaz unsere auf Erfolg und Leistung abgestellten Gemein‐ wesen. 147 Auch um sich dieses Preises zu vergewissern und ihn mit dem Nutzen abzuwägen, empfiehlt sich die Lektüre des vorliegenden Buches. 323 9. Anstelle eines Nachwortes <?page no="324"?> TEIL III DOKUMENTE Rumburk. Postkarte der Geburtsstadt Rita Tomascheks ( Juni 1918 Rumburg) <?page no="325"?> Bescheinigung über die Staatsbürgerschaft der Tschechoslovakischen Republik 1936 325 TEIL III DOKUMENTE <?page no="326"?> Reifezeugnis Rita Tomaschek (Seite. 1). Deutsches Staatsrealgymnasium in der Tsche‐ choslovakischen Republik. 17. Juni 1936 326 TEIL III DOKUMENTE <?page no="327"?> Reifezeugnis Rita Tomaschek (Seite 2). Deutsches Staatsrealgymnasium in der Tsche‐ choslovakischen Republik. 17. Juni 1936 327 TEIL III DOKUMENTE <?page no="328"?> Reifezeugnis Rita Tomaschek (Seite 3). Deutsches Staatsrealgymnasium in der Tsche‐ choslovakischen Republik. 17. Juni 1936 328 TEIL III DOKUMENTE <?page no="329"?> Zeugnis der Ersten Staatsprüfung. Deutsche wissenschaftliche Prüfungskommission für das Lehramt an Mittelschulen in Prag. Februar 1939 329 TEIL III DOKUMENTE <?page no="330"?> Bescheinigung über die bestandene Prüfung im ersten Staatsexamen und Zulassung zur zweiten Staatsprüfung. Prüfer: Prof. Dr. Theodor Hopfner (Latein) und Prof. Erhard Preißig (Französisch), Deutsche Karls-Universität Prag 31.3.1939 330 TEIL III DOKUMENTE <?page no="331"?> Seminarschein des Pädagogischen Seminars der Deutschen Karls-Universität in Prag 1943 331 TEIL III DOKUMENTE <?page no="332"?> Schreiben des Wissenschaftlichen Prüfungsamtes für das Lehramt an höheren Schulen an der Deutschen Karls-Universität in Prag 1944 332 TEIL III DOKUMENTE <?page no="333"?> Promotionsurkunde der Philosophischen Fakultät der Deutschen Karls-Universität Prag für Dr. Rita Hetzer. Februar 1945 333 TEIL III DOKUMENTE <?page no="334"?> Die Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone, ver‐ treten durch den Vizepräsidenten, bescheinigt Dr. Rita Hetzer die Zulassung zur Ausbil‐ dung für den Nachwuchs an Wissenschaftlern und Hochschullehrern, 16.12.1948 334 TEIL III DOKUMENTE <?page no="335"?> Das Ministerium für Volksbildung der DDR verlängert die Kandidatur für die wissen‐ schaftliche Lehre und Forschung 1949 335 TEIL III DOKUMENTE <?page no="336"?> Der Minister für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft der Landesregierung Sachsen-Anhalt erteilt Dr. Rita Hetzer einen Lehrauftrag für „Gegenwartskunde“ an der Staatlichen Hochschule für Theater und Musik in Halle (Saale). 17.2.1949 336 TEIL III DOKUMENTE <?page no="337"?> Antrag von Dr. Rita Schober auf Zuweisung eines Intelligenzheimes 1951 337 TEIL III DOKUMENTE <?page no="338"?> Antrag Victor Klemperers auf eine Dozentur für Dr. Rita Schober 1952 (Seite 1) 338 TEIL III DOKUMENTE <?page no="339"?> Antrag Victor Klemperers auf eine Dozentur für Dr. Rita Schober 1952 (Seite 2) 339 TEIL III DOKUMENTE <?page no="340"?> Antrag von Victor Klemperer auf eine Professur mit Lehrauftrag für Dr. Rita Schober 1952 340 TEIL III DOKUMENTE <?page no="341"?> Antrag Victor Klemperers auf Ernennung Dr. Rita Schobers zum Professor mit vollem Lehrauftrag und geschäftsführenden Institutsdirektor ab 1.9.1954 (Seite 1) 341 TEIL III DOKUMENTE <?page no="342"?> Antrag Victor Klemperers auf Ernennung Dr. Rita Schobers zum Professor mit vollem Lehrauftrag und geschäftsführenden Institutsdirektor ab 1.9.1954 (Seite 2) 342 TEIL III DOKUMENTE <?page no="343"?> Ernennung Dr. Rita Schobers zum Professor mit vollem Lehrauftrag durch das Staatsse‐ kretariat für Hochschulwesen der DDR 1954 343 TEIL III DOKUMENTE <?page no="344"?> Ernennung von Prof. Dr. Rita Schober zum Fachrichtungsleiter für die Fachrichtung Ro‐ manistik an der Humboldt-Universität Berlin durch den Staatssekretär für Hochschul‐ wesen der Deutschen Demokratischen Republik 1954 344 TEIL III DOKUMENTE <?page no="345"?> Die Zentralstelle für wissenschaftliche Literatur erteilt Dr. Rita Schober eine Sonderge‐ nehmigung zum Empfang wissenschaftlicher Literatur ohne Endgelt aus Westdeutsch‐ land und dem Ausland. 1955. Solche Sondergenehmigungen wurden immer wieder neu ausgestellt. 345 TEIL III DOKUMENTE <?page no="346"?> Berufung Prof. Dr. Rita Schobers zum Mitglied des Wissenschaftlichen Rates durch das Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED 1955 346 TEIL III DOKUMENTE <?page no="347"?> Antrag von Victor Klemperer und Kurt Baldinger auf ein Ordinariat für Prof. Dr. Rita Schober 1957 (Seite 1) 347 TEIL III DOKUMENTE <?page no="348"?> Antrag von Victor Klemperer und Kurt Baldinger auf ein Ordinariat für Prof. Dr. Rita Schober 1957 (Seite 2) 348 TEIL III DOKUMENTE <?page no="349"?> Berufung Prof. Dr. Rita Schobers zum Vorsitzenden des wissenschaftlichen Beirates für die Fachrichtung Romanistik beim Staatssekretariat für Hochschulwesen 1957 349 TEIL III DOKUMENTE <?page no="350"?> Urkunde zum Vaterländischen Verdienstorden in Bronze 1964 350 TEIL III DOKUMENTE <?page no="351"?> Urkunde zum Vaterländischen Verdienstorden in Silber 1968 351 TEIL III DOKUMENTE <?page no="352"?> Urkunde über den akademischen Grad Dr. sc. phil. 1970. Dieser Grad ersetzte in der DDR den akademischen Grad Dr. phil. habil., auch für Rita Schober, die 1954 habilitiert hatte. 352 TEIL III DOKUMENTE <?page no="353"?> Die Zollverwaltung der DDR gibt 1971 die Mitteilung über die Beschlagnahme von wis‐ senschaftlicher Literatur aus dem Ausland zur Kenntnis. Von solchen Bescheinigungen liegen mehrere im Nachlass vor. 353 TEIL III DOKUMENTE <?page no="354"?> Vereinbarung mit der Universitätsleitung über die weitere Lehr- und Forschungstätigkeit an der HU anlässlich der Emeritierung Prof. Dr. Rita Schobers 1978 354 TEIL III DOKUMENTE <?page no="355"?> Urkunde zum Vaterländischen Verdienstorden in Gold. 7. Oktober 1978 355 TEIL III DOKUMENTE <?page no="356"?> Berufung Prof. Dr. Rita Schobers zum Mitglied des Nationalkomitees für Literaturwis‐ senschaft der DDR bei der Akademie der Wissenschaften der DDR 1980 356 TEIL III DOKUMENTE <?page no="357"?> Antrag auf Erfassung Rita Schobers als bestätigter Reisekader durch den Minister für Hoch- und Fachschulwesen der DDR 1982. Diesem Antrag müssen zeitlich andere vo‐ rausgegangen sein, die im Nachlass nicht belegt sind. 357 TEIL III DOKUMENTE <?page no="358"?> Urkunde über die Verleihung des Ehrentitels ‚Verdienter Wissenschaftler des Volkes’ an Prof.em.Dr.sc. Rita Schober 1985 358 TEIL III DOKUMENTE <?page no="359"?> Ehrenurkunde anlässlich der 40jährigen Mitgliedschaft Rita Schobers in der SED 1986 359 TEIL III DOKUMENTE <?page no="360"?> Einladung des Generalsekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Erich Honecker zum Empfang anlässlich des 40. Jahrestages der DDR am 7.Oktober 1989 (Seite. 1) Einladung des Generalsekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Erich Honecker zum Empfang anlässlich des 40. Jahrestages der DDR am 7.Oktober 1989 (Seite. 2) 360 TEIL III DOKUMENTE <?page no="361"?> Einladung zum Empfang des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand an‐ lässlich seines Staatsbesuches in der DDR im Dezember 1989 361 TEIL III DOKUMENTE <?page no="362"?> Rita Schober während ihrer Dankesrede im Senatssaal der Humboldt-Universität anläss‐ lich des Ehrenkolloquiums zum 90. Geburtstag 2008 Foto: © JoDD von Schaffstein 362 TEIL III DOKUMENTE <?page no="363"?> Rita Schober bei ihrem letzten öffentlichen Vortrag. Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. 28. November 2011. Sie sprach über die Aktualität der LTI von Victor Klem‐ perer. Foto: © Rosemarie Gläser 363 TEIL III DOKUMENTE <?page no="364"?> Abbildungsverzeichnis Rumburk. Postkarte der Geburtsstadt Rita Tomascheks ( Juni 1918 Rumburg) 324 Bescheinigung über die Staatsbürgerschaft der Tschechoslovakischen Republik 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Reifezeugnis Rita Tomaschek (Seite. 1). Deutsches Staatsrealgymnasium in der Tschechoslovakischen Republik. 17. Juni 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Reifezeugnis Rita Tomaschek (Seite 2). Deutsches Staatsrealgymnasium in der Tschechoslovakischen Republik. 17. Juni 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Reifezeugnis Rita Tomaschek (Seite 3). Deutsches Staatsrealgymnasium in der Tschechoslovakischen Republik. 17. Juni 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Zeugnis der Ersten Staatsprüfung. Deutsche wissenschaftliche Prüfungskommission für das Lehramt an Mittelschulen in Prag. Februar 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Bescheinigung über die bestandene Prüfung im ersten Staatsexamen und Zulassung zur zweiten Staatsprüfung. Prüfer: Prof. Dr. Theodor Hopfner (Latein) und Prof. Erhard Preißig (Französisch), Deutsche Karls-Universität Prag 31.3.1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Seminarschein des Pädagogischen Seminars der Deutschen Karls-Universität in Prag 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Schreiben des Wissenschaftlichen Prüfungsamtes für das Lehramt an höheren Schulen an der Deutschen Karls-Universität in Prag 1944 . . . . . . . 332 Promotionsurkunde der Philosophischen Fakultät der Deutschen Karls-Universität Prag für Dr. Rita Hetzer. Februar 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Die Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone, vertreten durch den Vizepräsidenten, bescheinigt Dr. Rita Hetzer die Zulassung zur Ausbildung für den Nachwuchs an Wissenschaftlern und Hochschullehrern, 16.12.1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Das Ministerium für Volksbildung der DDR verlängert die Kandidatur für die wissenschaftliche Lehre und Forschung 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Der Minister für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft der Landesregierung Sachsen-Anhalt erteilt Dr. Rita Hetzer einen Lehrauftrag für „Gegenwartskunde“ an der Staatlichen Hochschule für Theater und Musik in Halle (Saale). 17.2.1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Antrag von Dr. Rita Schober auf Zuweisung eines Intelligenzheimes 1951 . 337 <?page no="365"?> Antrag Victor Klemperers auf eine Dozentur für Dr. Rita Schober 1952 (Seite 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Antrag Victor Klemperers auf eine Dozentur für Dr. Rita Schober 1952 (Seite 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Antrag von Victor Klemperer auf eine Professur mit Lehrauftrag für Dr. Rita Schober 1952 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Antrag Victor Klemperers auf Ernennung Dr. Rita Schobers zum Professor mit vollem Lehrauftrag und geschäftsführenden Institutsdirektor ab 1.9.1954 (Seite 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Antrag Victor Klemperers auf Ernennung Dr. Rita Schobers zum Professor mit vollem Lehrauftrag und geschäftsführenden Institutsdirektor ab 1.9.1954 (Seite 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Ernennung Dr. Rita Schobers zum Professor mit vollem Lehrauftrag durch das Staatssekretariat für Hochschulwesen der DDR 1954 . . . . . . . . . . . . . . . 343 Ernennung von Prof. Dr. Rita Schober zum Fachrichtungsleiter für die Fachrichtung Romanistik an der Humboldt-Universität Berlin durch den Staatssekretär für Hochschulwesen der Deutschen Demokratischen Republik 1954 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Die Zentralstelle für wissenschaftliche Literatur erteilt Dr. Rita Schober eine Sondergenehmigung zum Empfang wissenschaftlicher Literatur ohne Endgelt aus Westdeutschland und dem Ausland. 1955. . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Berufung Prof. Dr. Rita Schobers zum Mitglied des Wissenschaftlichen Rates durch das Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED 1955 346 Antrag von Victor Klemperer und Kurt Baldinger auf ein Ordinariat für Prof. Dr. Rita Schober 1957 (Seite 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Antrag von Victor Klemperer und Kurt Baldinger auf ein Ordinariat für Prof. Dr. Rita Schober 1957 (Seite 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Berufung Prof. Dr. Rita Schobers zum Vorsitzenden des wissenschaftlichen Beirates für die Fachrichtung Romanistik beim Staatssekretariat für Hochschulwesen 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Urkunde zum Vaterländischen Verdienstorden in Bronze 1964 . . . . . . . . . . . 350 Urkunde zum Vaterländischen Verdienstorden in Silber 1968 . . . . . . . . . . . . 351 Urkunde über den akademischen Grad Dr. sc. phil. 1970. Dieser Grad ersetzte in der DDR den akademischen Grad Dr. phil. habil., auch für Rita Schober, die 1954 habilitiert hatte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Die Zollverwaltung der DDR gibt 1971 die Mitteilung über die Beschlagnahme von wissenschaftlicher Literatur aus dem Ausland zur Kenntnis. Von solchen Bescheinigungen liegen mehrere im Nachlass vor. . 353 365 Abbildungsverzeichnis <?page no="366"?> Vereinbarung mit der Universitätsleitung über die weitere Lehr- und Forschungstätigkeit an der HU anlässlich der Emeritierung Prof. Dr. Rita Schobers 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Urkunde zum Vaterländischen Verdienstorden in Gold. 7. Oktober 1978 . . 355 Berufung Prof. Dr. Rita Schobers zum Mitglied des Nationalkomitees für Literaturwissenschaft der DDR bei der Akademie der Wissenschaften der DDR 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Antrag auf Erfassung Rita Schobers als bestätigter Reisekader durch den Minister für Hoch- und Fachschulwesen der DDR 1982. Diesem Antrag müssen zeitlich andere vorausgegangen sein, die im Nachlass nicht belegt sind. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Urkunde über die Verleihung des Ehrentitels ‚Verdienter Wissenschaftler des Volkes’ an Prof.em.Dr.sc. Rita Schober 1985 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Ehrenurkunde anlässlich der 40jährigen Mitgliedschaft Rita Schobers in der SED 1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Einladung des Generalsekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Erich Honecker zum Empfang anlässlich des 40. Jahrestages der DDR am 7.Oktober 1989 (Seite. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Einladung des Generalsekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Erich Honecker zum Empfang anlässlich des 40. Jahrestages der DDR am 7.Oktober 1989 (Seite. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Einladung zum Empfang des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand anlässlich seines Staatsbesuches in der DDR im Dezember 1989 361 Rita Schober während ihrer Dankesrede im Senatssaal der Humboldt-Universität anlässlich des Ehrenkolloquiums zum 90. Geburtstag 2008 Foto: © JoDD von Schaffstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Rita Schober bei ihrem letzten öffentlichen Vortrag. Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. 28. November 2011. Sie sprach über die Aktualität der LTI von Victor Klemperer. Foto: © Rosemarie Gläser . . . . . . . . . . . . . . . 363 366 Abbildungsverzeichnis <?page no="367"?> Sie stehen noch in vielen Bücherschränken: die deutschen Ausgaben der Rougon-Macquart von Émile Zola mit den Nachworten von Rita Schober. Aus Anlass des 100. Geburtstages der international bekannten Romanistin und Zolaforscherin erscheint erstmals ihre Vita. Wer war diese Frau, die fünf Staatsbürgerschaften hatte, die großen politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts erleben musste und in der DDR als eine der ersten Frauen Professorin wurde? Wie erinnert sie selbst nach 1989 ihr Leben? Dieses Selbstzeugnis wird mit bislang unveröffentlichten Dokumenten aus ihrem Nachlass und aus Archiven konfrontiert und kommentiert. Dabei geht es um die Frage: Wie schreibt man sein Leben nach tiefgreifenden gesellschaftlichen Brüchen? ISBN 978-3-8233-8227-0