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Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

0716
2018
978-3-8233-9229-3
978-3-8233-8229-4
Gunter Narr Verlag 
Lena Schönwälder

Die vorliegende Studie erforscht am Beispiel skandalöser Texte des 19., 20. und 21. Jahrhunderts systematisch literarische Schreibweisen, die beim Rezipienten einen Schockeffekt produzieren. Die untersuchten Werke (der Autoren G. Flaubert, O. Mirbeau, Sade und P. P. Pasolini, A. Nove und N. Ammaniti sowie Michel Houellebecq) werden nicht allein in Hinblick auf ihre formale Beschaffenheit befragt, sondern auch auf etwaige ethische Implikationen. Wirkungsmechanismen literarischer Provokation werden damit aufgezeigt und die Funktion einer Schockästhetik im gesellschaftlichen Diskurs offengelegt.

<?page no="0"?> lendemains edition lendemains 42 Lena Schönwälder Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq <?page no="1"?> Schockästhetik <?page no="2"?> edition lendemains 42 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel), Andreas Gelz (Freiburg) und Christian Papilloud (Halle) <?page no="3"?> Lena Schönwälder Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq <?page no="4"?> Gedruckt mit Unterstützung des ProPost-Doc-Programms des Forschungszentrums Historische Geisteswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-8229-4 Umschlagabbildung: © Lena Schönwälder Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 9 10 1 33 1.1 33 1.1.1 33 1.1.2 37 1.1.3 40 1.1.4 46 1.2 47 1.2.1 47 1.2.2 52 1.2.3 58 1.2.4 63 1.2.5 71 1.2.6 80 1.3 81 1.3.1 81 1.3.2 82 1.3.3 84 1.4 90 1.4.1 90 1.4.2 96 1.4.3 103 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Böses schreiben - böses Schreiben: Überlegungen zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Heinz Bohrer und das Böse als ästhetische Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Friedrich: Bohrer und Bataille revisited . . . . . . . Die Ästhetik des Bösen nach Peter-André Alt: Wiederholung, Transgression und Paradoxie . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Böse und Wirkungsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Böse und (ästhetische) Empfindungen . . . . . . . . . . Das Böse und (ästhetischer) Genuss . . . . . . . . . . . . . . . . Das Erhabene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ekel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Obszöne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Böse und ethische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorverständnis von Ethik und Moral . . . . . . . . . . . . . . . Das ethische Moment der ästhetischen Erfahrung . . . . Der ethical turn und narrative Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . Skandal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skandal: Zur Etymologie und Bedeutung des Begriffs . Literaturskandale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zu einer Poetik des Skandals oder: die Performativität des Skandals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 2 106 2.1 106 2.1.1 106 2.1.2 111 2.2 134 2.2.1 134 2.2.2 138 2.3 154 2.4 183 2.4.1 183 2.4.2 189 2.4.3 198 2.4.4 212 2.5 214 2.5.1 216 2.5.2 239 2.5.3 264 2.5.4 281 284 292 A. 292 B. 293 C. 294 D. 295 Textanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gustave Flaubert: Salammbô (1862) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »La bataille de Salammbô« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Un livre cruel«: Flauberts Schreibweisen der Grausamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Octave Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899) . . . . . . . . . . . . . Entstehung und Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Une monstruosité littéraire«: Le Jardin des supplices und das Prinzip der Dualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pier Paolo Pasolinis Salò o le 120 giornate di Sodoma und der Marquis de Sade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gioventù cannibale: Aldo Nove und Niccolò Ammaniti . . . . . Blut, Sex, Gewalt und Konsum: Die giovani cannibali und die letteratura pulp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aldo Noves Bagnoschiuma: Wenn der Freiheitskampf beim Duschschaum beginnt… . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niccolò Ammaniti und die Apokalypse in der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit zu den giovani cannibali . . . . . . . . . . . . . Michel Houellebecq . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Les Particules élémentaires (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La Possibilité d’une île (2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La Carte et le Territoire (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit zu den Romanen Michel Houellebecqs . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . P R IMÄR LIT E RATU R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . P HILO S O PHI S CHE UND ÄS THETI S CHE S CHR I F T EN , A BHANDLUNG E N H I S TO R I S CHE Q U E LL E N , K O R R E S P OND E NZ , I NT E R VI EW S UND L IT E RATU R K R ITIK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S E KUNDÄR LIT E RATU R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 <?page no="7"?> Meinen Eltern <?page no="9"?> Vorwort Diese Untersuchung entspringt dem Wunsch, Literatur und ihren Wirkungs‐ weisen näher auf den Grund zu gehen - im Besonderen dann, wenn sie aufreibt, erhitzt, provoziert, kurzum: schockiert. Es schien und scheint mir noch ein großes Faszinosum, dass das geschriebene Wort - eigentlich nicht mehr als Tinte auf Papier - so viel intellektuelle und emotionale Energie freisetzen kann. Ich erinnere mich noch bestens an ein Gespräch mit Prof. Dr. Christine Ott und Prof. Dr. Heidi Marek, in dem sie mir die Romane Michel Houellebecqs empfahlen. Neugierig kam ich dem nach und in der Tat enttäuschte Houellebecq nicht: Die Lektüre hinterließ mich fragend und irritiert. Davon ausgehend richtete ich meinen Blick auf die Literaturgeschichte, die eine Vielzahl an Texten kennt, die ihrerzeit und in der Folge die Leserschaft zu schockieren vermochten. Es folgte eine Reihe an nicht selten nervenaufreibenden Textlektüren, bei denen mich die Frage nach ihren Mechanismen umtrieb. Dabei zeigte sich, dass es nicht nur die brisanten Themen sind, die die Texte behandeln, sondern auch die Art und Weise, wie diese besprochen werden, die zu ihrer besonderen Wirkmacht bei‐ tragen. Die vorliegende Studie ist schließlich eine Auseinandersetzung mit der Frage nach der Macht der Literatur - nämlich die Macht zu bewegen und da‐ durch Denkprozesse anzuregen. Zu tiefem Dank bin ich Christine Ott verpflichtet, die mir in allen Fragen und Anliegen mit äußerst hilfreichen Ratschlägen und kritischen Anregungen stets zur Seite stand. Eine engagiertere Betreuung hätte ich mir nicht wünschen können: Ich habe mich stets auf das Beste gefordert und gefördert gefühlt. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Roland Spiller, der mir mit großem Interesse an der Fragestellung und wertvollen Anregungen begegnete. Ein herzlicher Dank gilt nicht zuletzt meinen Eltern, Anita und Eberhard Schönwälder, und meiner Familie, die mich stets unterstützt haben. Hilfreiche Anregungen habe ich auch im Austausch mit der Emmy-Noether-Nachwuchs‐ gruppe „Form und Emotion“ erhalten sowie in zahlreichen Gesprächen mit Dr. Francesco Giusti, Zsófia Török und lieben FreundInnen, die mich auf dem Weg begleitet haben. Besonders danken möchte ich auch dem Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften, das den Druck dieses Buchs großzügig fördert. <?page no="10"?> 1 Friedrich Schlegel: »Über das Studium der Griechischen Poesie [1795-1797]«. In: ders.: Kritische Schriften und Fragmente. Hg. von Ernst Behler und Hans Eichner. Bd. 1. [1794- 1797]. Paderborn: Schöningh 1988, S. 62-136, hier: S. 85. 2 »[ J’]affirme que l’inspiration a quelque rapport avec la congestion, et que toute pensée sublime est accompagnée d’une secousse nerveuse, plus ou moins forte, qui retentit jusque dans le cervelet« (Charles Baudelaire: »Le peintre de la vie moderne«. In: ders.: Curiosités esthétiques. L’Art romantique et autres œuvres critiques. Textes établis avec introduction, relevé de variantes, notes, bibliographie et sommaire biographique par Henri Lemaitre. Paris: Bordas 1990, S. 453-502, hier: S. 462). Der Bedeutung der »Chock‐ erfahrung« für die Poetik Baudelaires widmete sich eingängig Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«. In: ders.: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 111-164. Der »Chock« ge‐ stalte sich dabei als spezifisch moderne (Zeit-)Erfahrung, als nervöse Überreizung der Sinne angesichts einer sich stetig beschleunigenden Außenwelt. Einleitung [D]as Choquante, sei es abenteuerlich, ekel‐ haft oder gräßlich, [ist] die letzte Konvulsion des sterbenden Geschmacks. Friedrich Schlegel, Über das Studium der Griechischen Poesie (1795-1797) 1 »Choquant« benannte Schlegel im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Form der Literatur, der es vielmehr an »ästhetischer Energie«, denn am Schönen selbst gelegen sei. In abenteuerlichen, ekelhaften und grässlichen Bildern suche sie um der Interessantheit willen, stets intensivere Reize einzugeben. Noch heute han‐ delt es sich bei der literarischen bzw. künstlerischen Produktion von Schock‐ momenten um ein probates Mittel der Provokation, die dem Werk bzw. Autor nicht zuletzt eine größere Reichweite im öffentlichen literarisch-künstlerischen Feld verschafft. Ist das »Choquante« zwar bei Schlegel noch unweigerlich seiner eigenen Aufhebung durch Abstumpfung geweiht und damit tendenziell unpro‐ duktiv, wird spätestens im 19. Jahrhundert und den Avantgarde-Poetiken des 20. Jahrhunderts der künstlerisch generierte Schock bzw. der als produktiv ver‐ standene Schockzustand im Moment der Kreation zum Distinktionsmerkmal einer innovativen Kunst erhoben. In Baudelaires kunsttheoretischem Konzept von künstlerischer Kreation gestaltet sich der Moment der Inspiration als Ge‐ hirnschlag bzw. als Erschütterung der Nerven - eine besondere »Chockerfah‐ rung«, wie Walter Benjamin herausarbeitete. 2 Auf ähnliche Weise versteht <?page no="11"?> 3 »Nous la [l’inspiration] reconnaissons sans peine à cette prise de possession totale de notre esprit qui, de loin en loin, empêche que pour tout problème posé nous soyons le jouet d’une solution rationnelle plutôt que d’une autre solution rationnelle, à cette sorte de court-circuit qu’elle provoque entre une idée donnée et sa répondante (écrite par exemple). Tout comme dans le monde physique, le court-circuit se produit quand les deux ›pôles‹ de la machine se trouvent réunis par un conducteur de résistance nulle ou trop faible. En poésie, en peinture, le surréalisme a fait l’impossible pour multiplier ces court-circuits. Il ne tient et il ne tiendra jamais à rien qu’à reproduire artificiellement ce moment idéal où l’homme, en proie à une émotion particulière, est soudain empoigné par ce ›plus fort que lui‹ qui le jette, à son corps défendant, dans l’immortel« (André Breton: Manifestes du surréalisme. Paris: Jean-Jacques Pauvert 1962, S. 166). 4 »Schock«. In: Duden. Das Herkunftswörterbuch. Hg. von der Dudenredaktion. Mann‐ heim/ Zürich: Dudenverlag 4 2007, S. 735. 5 »choc«. In: Trésor de la langue française informatisé. URL: http: / / atilf.atilf.fr/ dendien/ scripts/ tlfiv5/ visusel.exe? 55; s=150441075; b=13; r=1; nat=assiste; (letzter Aufruf: 18.02.16). später auch André Breton Inspiration als geistigen Kurzschluss bzw. als Moment der plötzlichen Ergriffenheit, den es in der Kunst zu übersetzen und wirkungs‐ poetisch zu reproduzieren gilt. 3 Seien dies also das revolutionäre Programm der Surrealisten oder ferner das »théâtre de la cruauté« Antonin Artauds oder auch »Abject Art«: Es handelt sich dabei um Poetiken, die entweder den Moment der künstlerischen Inspiration selbst schon als schockhaften Reizimpuls fassen oder auf die gezielte Produktion von sensorisch-emotionalen Schockmomenten re‐ kurrieren. Der Begriff des »Schocks«, per definitionem »eine starke seelische Erschüt‐ terung« bzw. »eine Erschütterung des Nervensystems«, wurde dem Französi‐ schen entlehnt. 4 »Choc« meint neben seiner primären Bedeutung von »Stoß, Schlag, Erschütterung« vor allen Dingen auch »[é]motion violente et inattendue pouvant provoquer de grandes perturbations physiques et psychiques chez l’in‐ dividu«, bezeichnet also einen Gefühlszustand, der durch das Erleiden einer Aggression herbeigeführt wird; ferner wird »choc« vom Trésor de la langue française gleichsam spezifisch im Kontext der Kunstrezeption als »[é]motion intellectuelle frappant l’individu à la vue d’une œuvre artistique« definiert. 5 Der choc wird damit zum Schirmbegriff für einen heftigen, sowohl physischen bzw. psychischen als auch intellektuellen Gemütszustand. Das Verb »schocken« bzw. »schockieren« impliziert gleichwohl einen moralischen Normbruch: »belei‐ digen, bestürzt machen, sittlich entrüsten«. Inwiefern im Falle des Schocks bei der vom Trésor de la langue française geleisteten Definition tatsächlich von einer Einleitung 11 <?page no="12"?> 6 Emotion wird in der Psychologie allgemein hin als automatisierter Bewertungsprozess konzipiert, dessen Resultat Handlungsbereitschaften sind. Dieser verfolgt ein Schema, das mit dem Erkennen einer ungewöhnlichen Situation einsetzt, welche unmittelbaren Einfluss auf die Interessen oder das Wohl der erkennenden Person hat. Diese Situation wird bewertet hinsichtlich der vorhandenen Handlungsmöglichkeiten, welche wie‐ derum eine emotionale Reaktion auslösen, die sich somatisch, physiologisch sowie ex‐ pressiv bzw. mimisch äußern kann. Die Handlung - als Resultat der eigenen Bewertung der Situation - zielt auf eine Normalisierung eben dieser ab (vgl. Tilmann Habermas: »Emotionalisierung durch traurige Alltagserzählungen: Die Rolle narrativer Perspek‐ tiven«. In: Sandra Poppe [Hg.]: Emotionen in Literatur und Film. Würzburg: Königs‐ hausen & Neumann 2012, S. 65-87, hier: S. 66). Vgl. auch Klaus R. Scherer: »Emotions‐ prozesse im Medienkontext: Forschungsillustrationen und Zukunftsperspektiven«. In: Medienpsychologie 10, 4 (1998), S. 276-293, hier: S. 293. 7 Vgl. Martin Dornes: »Affekt«. In: Wörterbuch der Psychotherapie. Hg. von Gerhard Stumm und Alfred Prizt unter Mitarbeit von Martin Voracek und Paul Gumhalter. Wien/ New York: Springer, S. 6-7. Eine Klassifizierung der Empfindung bzw. des Zustands des Schocks ist im Übrigen problematisch. Tatsächlich finden sich nur in wenigen Nach‐ schlagewerken der Psychologie Einträge unter selbigem Lemma. Auch im Kontext der Kunst- und Literaturtheorie ist der Begriff selten in einschlägigen Lexika anzutreffen, was darauf hindeutet, dass es sich dabei um einen diffusen ästhetischen Begriff handelt, der noch nicht vollständig ausdefiniert wurde. Auch Metzlers Lexikon der Ästhetischen Grundbegriffe führt den »Schock« nicht als eigenständigen Begriff, sondern in Zusam‐ menhang mit »Schrecken« auf (s. Anm. 9). 8 Sigmund Freud: »Jenseits des Lustprinzips«. In: ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch Geordnet. Hg. von Anna Freud. Bd. 13. Jenseits des Lustprinzips/ Massenpsychologie und Ich-Analyse/ Das Ich und das Es. Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 1-69, hier: S. 31. 9 Vgl. Carsten Zelle: »Schrecken/ Schock«. In: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 5. Postmo‐ derne - Synästhesie. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2010, S. 436-446. Zuletzt auch Hanno Ehrlicher: »Schock und Schrecken. Formen avantgardistischer Traumatophilie«. In: Martin von Koppenfels/ Cornelia Zumbusch (Hg.): Handbuch Literatur & Emotionen. Berlin: De Gruyter 2016, S. 361-375. »Emotion«, wie sie die Psychologie versteht, 6 die Rede sein kann, ist sicherlich insofern problematisch, als er weniger den Basisemotionen bzw. Primäraffekten wie Interesse/ Neugier, Überraschung, Ekel, Freude, Ärger, Traurigkeit und Furcht zugerechnet, 7 denn als Zustand einer mit Angst oder Ekel bewerteten Situation psychischer Überlastung verstanden werden kann. Sigmund Freud spricht beispielsweise im Zusammenhang von traumatischen Neurosen von Schock als »ausgiebigen Durchbruch[s] des Reizschutzes«. 8 Im Kontext der Äs‐ thetik wiederum wird der Begriff des Schocks mit dem des Schreckens engge‐ führt. 9 Vor allen Dingen Karl Heinz Bohrer entwickelt in Anlehnung an die »Augenblicks«-Denker Nietzsche, Kierkegaard, Max Scheler, Carl Schmitt und Heidegger eine Theorie über die besondere Zeitstruktur moderner Literatur, die sich beispielhaft in der »Konzentration des Zeitbewußtseins auf einen ›gefähr‐ Einleitung 12 <?page no="13"?> 10 Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 43. 11 So heißt es in der Anklageschrift des Anwalts Ernest Pinard im Prozess gegen Flaubert: »Je soutiens que le roman de Madame Bovary n’est point moral. [...] Qui peut condamner cette femme dans le livre? Personne. Telle est la conclusion. Il n’y a pas dans le livre un personnage qui puisse la condamner. Si vous y trouvez un seul principe en vertu duquel l’adultère soit stigmatisé, j’ai tort. Donc, si, dans tout le livre, il n’y a pas un personnage qui puisse lui faire courber la tête; s’il n’y a pas une idée, une ligne en vertu de laquelle l’adultère soit flétri, c’est moi qui ai raison, le livre est immoral! « (»Le ministère public contre Gustave Flaubert. Réquisitoire de M. l’avocat impérial M. Ernest Pinard«. In: Gustave Flaubert: Œuvres. Édition établie et annotée par A. Thibaudet et R. Dumesnil. Bd. 1. Paris: Gallimard 1951, S. 615-633, hier: S. 632). lichen Augenblick‹« manifestiere. 10 Der künstlerisch produzierte Schrecken bzw. Schock wird zu einem intensiven Moment plötzlicher Entgrenzung und damit zu einem ästhetischen Schlüsselereignis. Im Kontext der Kunst sind demnach zwei Paradigmen des Schocks zu unter‐ scheiden, wobei ersteres die Ebene der Poeisis (Schock als Kreationsprinzip) und zweites die Ebene der Aisthesis, d.h. der Rezeption (Schock als Wirkziel), betrifft. Für die vorliegende Arbeit sollen jedoch jene Texte relevant sein, die weniger auf dem poetischen Prinzip der schockhaften Inspiration beruhen, als gezielt eben solche Schockmomente im Rezipienten provozieren wollen; d.h. die hier untersuchten Texte sollten formal und inhaltlich so beschaffen sein, dass von einer intentionalen Provokation ausgegangen werden kann. Dies schließt bei‐ spielsweise Texte aus, die mehr oder weniger unvorhergesehen einen Skandal provozierten, wie dies bei Flauberts Madame Bovary der Fall war. Das relative Novum des unpersönlichen Erzählens veranlasste das damalige Publikum zu einer Fehldeutung der Darstellungsabsicht: Die Erzählinstanz schien sich jegli‐ cher moralischer Beurteilung der ehebrecherischen Emma Bovary zu enthalten und damit implizit ihr verwerfliches Verhalten zu lizenzieren. 11 Die Absicht Flauberts bestand jedoch weniger in der Provokation denn in der Kreation eines neuen Erzählstils und er konnte sein Werk schließlich rehabilitieren, indem er Einleitung 13 <?page no="14"?> 12 So schreibt Flaubert in einem Brief an Louise Colet: »Ce qui me semble beau, ce que je voudrais faire, c’est un livre sur rien, un livre sans attache extérieure, qui se tiendrait de lui-même par la force interne de son style, comme la terre sans être soutenue se tient en l’air, un livre qui n’aurait presque pas de sujet ou du moins où le sujet serait presque invisible, si cela se peut.« (ders.: Correspondance. Éd. établie, présentée et annot. par Jean Brunau. Bd. 2. Juillet 1851-décembre 1858. Paris: Gallimard 1980, S. 31). Ferner rechtfertigt sich Flaubert in einer Notiz zu dem laufenden Prozess gegen ihn wie folgt: »Je suis accusé d’outrage ›envers la morale publique et religieuse & les bonnes mœurs‹. [Ma justification est dans mon livre. <Le voilà>. [Que mes] <Quand mes> juges [le lisent. &] l’auront lu ils seront convaincus que loin d’avoir fait un roman obscène et irreligieux, j’ai au contraire composé quelque chose d’un effet moral. La moralité d’une œuvre [d’art] <littéraire> consiste-t-elle dans l’absence de certains détails qui pris iso‐ lément peuvent etre incriminés? ne faut-il pas [avant tout] <plutot> considerer l’im‐ pression qui en resulte, la leçon indirecte qui en ressort? « (ders.: Madame Bovary. La censure et l’œuvre. Hg. von Élisabeth Brunet. Bd. 2. Rouen: Alinéa 2007, S. 43). Zu Madame Bovary als Skandalbuch s. auch Kapitel 1.2.1 Das Böse und (ästhetische) Emp‐ findungen. 13 Wenn ich von »Schockästhetik« bzw. »Ästhetik des Schocks« spreche, dann meine ich damit den Genitivus objectivus, d.h. eine Ästhetik, die ein Programm literarischer bzw. künstlerischer Provokation durch Schock verfolgt. darauf verwies, dass die moralische Botschaft eines Textes nur indirekt zu er‐ mitteln sei. 12 Für die Auswahl der hier besprochenen Texte ist in erster Linie die Grund‐ annahme maßgeblich, dass ein intendierter Normbruch vorliegt: Dieser kann einerseits die Ebene der formalästhetischen Gestaltung betreffen, d.h. er kann zum Beispiel durch Techniken der Montage, Dekonstruktion, Parodie, Kollage zustande kommen oder es können - wie im Falle Flauberts - durch spezifische Erzählstrategien provokative Dissonanzen mit gängigen stilistischen Normen erzielt werden. Andererseits kann sich der Normbruch jedoch gleichwohl auf den moralisch-ethischen Normbereich des Rezipienten beziehen. Gerade am Beispiel von Flauberts Madame Bovary lässt sich veranschaulichen, dass durchaus eine Innovation des literarischen Erzählstils intendiert war, doch das eigentliche Skandalon letztlich in der vermeintlichen Apologie des Ehebruchs bestand. Darauf basierend lässt sich die These aufstellen, dass das »Choquante« in seiner vollen Wirkmacht eigentlich erst zum Tragen kommt, wenn die im ersten Moment rein ästhetische Erfahrung in eine ethische übergeht. Um einer Schockästhetik 13 auf den Grund zu gehen, bedarf es demnach einer Untersu‐ chung sowohl der formalen Strukturen eines Werks als auch seines Darstel‐ lungsgegenstands. Nach dem Potential der Literatur zu fragen, den Rezipienten zu erschüttern, scheint selbst in Zeiten des postmodernen anything goes noch relevant. Der An‐ nahme, dass der moderne Mensch - durch (provokante, bisweilen grausame) Einleitung 14 <?page no="15"?> 14 Um nur einige zu nennen: Virginie Despentes (Baise-moi, 1994), Christine Angot (L’In‐ ceste, 1999), Catherine Millet (La vie sexuelle de Catherine M., 2001); im deutschspra‐ chigen Raum Thomas Bernhard und Charlotte Roche (Feuchtgebiete, 2008); im anglo‐ phonen Raum Bret Easton Ellis (American Psycho, 1991). Medienbilder und Kunsterzeugnisse mittlerweile übersättigt und unbeeindruckt - kaum noch zu überraschen, geschweige denn zu schockieren sei, scheint zu widersprechen, dass ein Großteil der gegenwärtig erfolgreichen Literatur vor allem mit Schockästhetiken arbeitet, wobei sich gerade dies als potentes Mar‐ ketinginstrument erweist. 14 Die mitunter prominentesten Beispiele sind die Ro‐ mane des französischen Autors und enfant terrible Michel Houellebecq. Die Ver‐ öffentlichung von nahezu jedem seiner Werke wurde von teilweise harschen Polemiken begleitet, insbesondere sein zweiter Roman Les Particules élémen‐ taires (1998) sowie der darauffolgende, Plateforme (2001). Dabei stellt sich vor allen Dingen die Frage, welcher Natur der Skandal rund um die Romane Hou‐ ellebecqs ist. Betrifft der Normbruch literaturspezifische Kriterien der formal‐ ästhetischen Gestaltung oder vielmehr die Ebene des Vermittelten? Auf den ersten Blick erweist sich im Falle Houellebecqs sicherlich das in seinen Texten inszenierte pessimistische Gesellschafts- und Menschenbild als brisant: Der Kulturpessimismus Houellebecqs ist in seinem Werk omnipräsent und weist die Welt, wie wir sie kennen, als verderbtes, korrumpiertes Gesellschaftskonstrukt aus, in dem das Individuum die Fähigkeit zur Liebe und Nähe verloren hat. In seinem ersten Roman, Extension du domaine de la lutte (1994) formuliert er die These, dass der Liberalismus zu einem unerbittlichen Kampf auf einer weiteren Ebene - die von ökonomischen Prinzipien bisher unberührt geblieben war - geführt habe, und zwar der der Sexualität: Es handele sich um eine Form der Merkantilisierung, die ein inkommensurables Gefälle zwischen Reich und Arm erzeuge, wobei letztere aufgrund ihres geringen (Attraktivitäts-)Kapitals un‐ weigerlich vereinsamen würden. Diese negative Anthropologie liegt auch den Romanen Les Particules élémentaires, La Possibilité d’une île (2005) und La Carte et le Territoire (2010) zugrunde und findet sich durch die Houellebecq’schen Protagonisten exemplifiziert. Für die vorliegende Arbeit ist jedoch von Interesse aufzuzeigen, inwiefern textspezifische Phänomene der Narration an der Pro‐ duktion rezeptionsgebundener Schockmomente beteiligt sind. Die Prüfung tex‐ tueller Emotionialisierungsstrategien erlaubt es ferner auch, im Kontext des Gesamtwerks Rückschlüsse auf deren Funktion zu ziehen. Geht es dabei um sensationalistische Publikumslenkung und strategische Selbstvermarktung, um die Affirmation des eigenen Autonomiestatus - oder wird die Schockästhetik dergestalt funktionalisiert, dass sie einer ethischen Reflexion zugutekommt? Die vorliegende Untersuchung hat es sich zum Ziel gesetzt, die Mechanismen aufzu‐ Einleitung 15 <?page no="16"?> 15 Arnim Regenbogen/ Uwe Meyer (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Ham‐ burg: Meiner 1998, S. 144. 16 Vgl. Peter-André Alt: »Wiederholung, Paradoxie, Transgression. Versuch über die lite‐ rarische Imagination des Bösen und ihr Verhältnis zur ästhetischen Erfahrung (de Sade, Goethe, Poe)«. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesge‐ schichte 79 (2005), S. 531-567; ders.: Ästhetik des Bösen. München: Beck 2010. decken, die die ästhetische mit der ethischen Erfahrung verschalten, und damit eine interpretatorische Sensibilität sowohl gegenüber der formalästhetischen Beschaffenheit des Textes als auch seines Bedeutungsgehalts zu entwickeln. Letztendlich liegt dem die Idee zugrunde, dass das Romanwerk Houellebecqs durchaus ethisch engagiert ist und fernab von postmoderner Sinnverweigerung einen Diskurs über einen in der Gegenwart problematisch gewordenen Begriff anstrengt, und zwar das Böse. Der Terminus »böse« meint in Analogie zur Polyvalenz des Begriffes »gut« das »Unheilvolle, Verderbenbringende, Zerstörerische, das Verdorbene, vor allem das sittlich Verwerfliche«, findet aber vor allen Dingen Verwendung bei der »Stigmatisierung des Krankhaften, des Untüchtigen, Schwachen, des Un‐ angenehmen, des Unzweckmäßigen«. 15 Geistesgeschichtlich ist das Böse wie‐ derum in der Vormoderne als ein selbstständiges Prinzip aufzufassen, das sich kontinuierlich im Widerstreit mit der ihm gegenübergestellten Macht des Guten befindet; damit handelt es sich gleichwohl um eine in den metaphysischen Denkstrukturen fest etablierte Grunderscheinung der Welt, die sich in der Al‐ legorie des Teufels personifiziert findet. 16 Mit dem Erscheinen der modernen Wissenschaften wurde jedoch die Idee des extramundanen, metaphysischen Bösen zum Verschwinden gebracht. Naturkatastrophen wie das Erdbeben von Lissabon 1755 provozierten angesichts ihrer fatalen Auswirkungen Zweifel an der Idee einer prästabilisierten Harmonie und der Gewissheit, in der besten aller möglichen Welten zu leben, wie es Leibniz noch 1710 in seinen Essais de théodicée formuliert hatte. Metaphysikkritik, Rationalismus und Aufklärung sollten einen irreversiblen konzeptualistischen Umschwung zeitigen und damit einherge‐ hend einen neuen Begriff des Bösen, das nun zunehmend innerweltlich verortet - und somit nicht länger als eine dem Menschen entzogene, überwirkliche Kraft verstanden - wird. Es erscheint nun vielmehr als anthropologisch begründet, als eine dem Menschen innewohnende okkulte Kraft bzw. eine krankhafte, na‐ türliche Neigung und wird damit zunehmend psychologisiert. Damit erweist Einleitung 16 <?page no="17"?> 17 Zur Unterscheidung von substantiellem Bösen und jenem, das ex negativo durch einen Mangel an Sein definiert wird vgl. Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen. Zur narrativen Modellierung der Transgression bei Laclos, Sade und Flaubert. Tübingen: Narr 1998 (=Romanica Monacensia 54), S. 9ff. 18 Norbert Kapferer: »Das ›Böse‹ in der (post)modernen Kultur. Zur Phänomenologie wissenschaftlicher, politischer, ethischer und ästhetischer Einlassungen«. In: Friedrich Hermanni/ Peter Koslowski (Hg.): Die Wirklichkeit des Bösen. Systematisch-theologische und philosophische Annäherungen. München: Fink 1998, S. 185-204, hier: S. 186. 19 Zum Bösen in der Literatur kann der Text des Überschreitungsdenkers Georges Bataille als exemplarisch gelten: Die Literatur und das Böse. Emily Brontë, Baudelaire, Michelet, Blake, Sade, Proust, Kafka, Genet. München 1987. Zur Geschichte des Bösen in Philo‐ sophie (und Literatur) vgl. Christoph Schulte: Radikal Böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche. München: Fink 2 1991; Carsten Colpe/ Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.): Das Böse. Eine historische Phänomenologie des Unerklärlichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993; Colin McGinn: Ethics, evil, and fiction. Oxford/ New York: Clarendon Press/ Oxford UP 1997; Friedrich Hermanni/ Peter Koslowski (Hg.): Die Wirklichkeit des Bösen. Systematisch-theologische und philosophische Annäherungen. München: Fink 1998; Rüdiger Safranski: Das Böse oder das Drama der Freiheit. Frankfurt am Main: Fi‐ scher 1999; María Pía Lara (Hg.): Rethinking evil. Contemporary perspectives. Berkeley: University of California Press 2001; Siegfried Reusch (Hg.): Das Böse. Stuttgart: Omega-Verl. 2003 (=Der blaue Reiter 17); Werner H. Ritter/ Jörg Schlumberger (Hg.): Das Böse in der Geschichte. Dettelbach: J.H. Röll 2003 (=Bayreuther historische Kollo‐ quien 16); Susan Neiman: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004; Erich Dauenhauer (Hg.): Das Böse als literarische Vorlage [Themenheft]. In: Walthari 44 (2005); Terry Eagleton: Das Böse. Aus dem Eng‐ lischen von Hainer Kober. Berlin: Ullstein 2011. sich auch aus heutiger Perspektive die Idee eines substantiellen Bösen 17 als problematisch. Wie Kapferer beobachtet, steht, moderner Wissenschaft zufolge, die Natur, auch wenn sie sich katastrophisch gebärdet, jenseits von »Gut und Böse«. Von »bösen Zeiten« oder von »bösen Zu‐ ständen« kann demzufolge nur mit Blick auf den menschlichen Verursacher sinnvol‐ lerweise und wissenschaftlich zulässig geredet werden [...]. In der wissenschaftlich »entzauberten Welt« (Max Weber) der Moderne gab es sonach für »Das Böse« keine Daseinsberechtigung mehr. Vereint im wissenschaftlichen Geist der Moderne schaffen Theologie und Philosophie gemeinsam den Teufel und seine höllischen Spießgesell‐ schaften ab. 18 Wenn im Folgenden der philosophische und vor allen Dingen literaturwissen‐ schaftliche Diskurs 19 über das Böse aufgerufen wird, dann weniger in dem Be‐ streben, den ontologischen Status des Phänomens des Bösen für die Gegenwart zu prüfen, als mit der Absicht, bestehende Theorien (vor allem über die Ästhetik des Bösen) für eine Untersuchung ästhetischer und ethischer Qualitäten eines Textes fruchtbar zu machen. Einleitung 17 <?page no="18"?> 20 Vgl. Karl Heinz Bohrer: »Das Böse - eine ästhetische Kategorie? « In: Merkur 39 (1985), S. 459-473; ders.: »Die Ästhetik des Bösen. Oder gibt es eine böse Kunst? « In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 536-550. 21 Vgl. Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen (s. Anm. 17). 22 P.-A. Alt: »Wiederholung, Transgression, Paradoxie« (s. Anm. 16); ders.: Ästhetik des Bösen (s. Anm. 16). 23 Grundlegend zur Beschaffenheit der ästhetischen Erfahrung vgl. H.R. Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt am Main 2 1984; ferner Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt am Main 1991. Zur Methodik der vorliegenden Arbeit Eine Studie zum Bösen als ästhetischem Phänomen nahm erstmals Karl Heinz Bohrer vor, wobei er sich besonders auf einen Text bezog, der diesbezüglich als paradigmatisch gelten kann: Flauberts Roman Salammbô (1862). 20 Um sich also dem Begriff einer Schockästhetik zu nähern, wird im ersten Teil der vorlie‐ genden Studie zunächst auf den literaturtheoretischen Diskurs über das Böse als ästhetische Kategorie nach Karl Heinz Bohrer zurückgegriffen, welcher durch die Überlegungen Sabine Friedrichs 21 und Peter-André Alts 22 ergänzt wird. Bohrers Konstrukt eines ästhetischen Bösen erweist sich in diesem Zusammen‐ hang insofern als fruchtbar, als er die spezifische Stimmung der schockartigen Entgrenzung als ein Produkt der literarischen Imagination versteht. D.h. er sucht, die besondere Wirkmacht eines Textes auf konkrete Vertextungsstrate‐ gien zurückzuführen, anstatt sie ausschließlich vom moralisch-ethischen Wert‐ gehalt des Dargestellten als Skandalon herzuleiten. Der Tatsache, dass sich die Absolutsetzung des Ästhetischen im Zusammenhang mit dem Phänomen des Bösen als problematisch erweist, sucht Friedrich insofern Rechnung zu tragen, als sie Bohrers Konzept mit Batailles Prinzip der Transgression kombiniert, um dergestalt sowohl semantische, inhaltliche Bestimmungen des Bösen innerhalb des Textes, als auch jene literarischen Strategien, die diese ästhetisch zersetzen und defigurieren, identifizieren zu können. Auch Alt versteht das Böse nicht als gänzlich ästhetisch verschränktes Konstrukt, sondern vielmehr als Reizphä‐ nomen, dessen Wirkmacht sowohl aus seiner moralischen Transgressivität als auch seiner ästhetischen Modellierung hervorgeht: Die Strukturfiguren der Wiederholung, Transgression und Paradoxie scheinen in diesem Zusammen‐ hang grundlegend für die literarische Konzeption des Bösen zu sein. Um sich in der Folge der Frage zu nähern, welcher Beschaffenheit die Emp‐ findungen tatsächlich sind, die das Böse als ästhetisches Phänomen bzw. eine auf Schock und Provokation ausgerichtete Schreibweise provozieren, wird das Augenmerk auf die Natur der ästhetischen Erfahrung 23 und der ästhetischen Empfindungen gelenkt. Im Zusammenhang mit einer Theorie der Schockäs‐ Einleitung 18 <?page no="19"?> 24 Hierbei wird der Fokus auf der Konzeption des Erhabenen nach Edmund Burke, Im‐ manuel Kant, Friedrich Schiller und François Lyotard liegen. 25 Der Ekel wird im 18. und 19. Jahrhundert vor allen Dingen als das Andere des Ästhe‐ tischen diskutiert, so z.B. bei Moses Mendelssohn oder bei Immanuel Kant. 26 In Karl Rosenkranz’ Ästhetik des Häßlichen (1853) wird das Obszöne (d.h. jegliche Dar‐ stellung des Geschlechtlichen), das nicht der moralischen Unterweisung untergeordnet ist, als hässlich abgestraft (vgl. Kap. 1.2.5). 27 Hannelore Schlaffer: »Jenseits von Schön und Hässlich. Der Ekel als Motiv der neuesten Kunst«. In: Neue Rundschau 111 (2000), S. 96-108, hier: S. 96. thetik ist es notwendig, besonders auf jene Erlebniskategorien zurückzugreifen, die bereits in der Antike, besonders aber im 18. und 19. Jahrhundert im Kontext einer Ästhetik des Hässlichen diskutiert wurden: das Erhabene, 24 den Ekel 25 und das Obszöne. 26 Die Theorie des Erhabenen bietet einen Ansatz, das Phänomen des Bösen in der Literatur auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive zu be‐ schreiben, da es sich sowohl im Fall des »klassisch« Erhabenen als auch in dem des Bösen um ein wahrnehmungsspezifisches Grenzphänomen handelt, das den Geist des Rezipienten herausfordert, der drohenden Überwältigung durch die Sinne standzuhalten. Besonders in der Moderne wird diese wirkungsästhetische Kategorie durch weitere Paradigmen ergänzt: Allgemein kann in den Medien eine Tendenz zum Ekelhaften und Obszönen verzeichnet werden, sei es Film, Kunst, Theater oder Literatur. Hannelore Schlaffer registriert gar einen »ästhe‐ tischen Stilwandel im Zeitalter der nicht-mehr-schönen Künste« 27 und führt insbesondere das Ekelhafte als kennzeichnendes Charakteristikum der Kunst des 20. Jahrhunderts an - was sich augenscheinlich im Werk Houellebecqs fort‐ setzt. Diese beiden Kategorien verbinden sich dabei nicht selten mit der Idee des Bösen, wie bei de Sade: Die obszöne Lust am Transgressiven und die dezidierte sprachliche Vergegenwärtigung von Leid, Qualen und Gewalt provozieren ge‐ rade den für den Rezipienten erlebten Schockmoment, in dem ein mora‐ lisch-ethisch bzw. theologisch begründetes Tabu berührt wird - und damit auch die Idee des Bösen. Eine Prüfung der Erlebniskategorien des Erhabenen, des Einleitung 19 <?page no="20"?> 28 Eine umfassende Studie zum Ekel in der Philosophie und den Künsten legt vor: Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main 1999; ferner die Sammelbände Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Ekel und Al‐ lergie. Berlin 1997 und Hermes A. Kick (Hg.): Ekel. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten. Hürtgenwald 2003. Zum Ekel in den bildenden Künsten vgl. auch die Dissertation von Claudia Reiß: Ekel. Ikonographie des Ausgeschlossenen. Dissertation. Duisburg-Essen 2007. 29 Zum Obszönen und der Pornographie vgl. Edgar Mertner/ Herbert Mainusch: Porno‐ topia. Das Obszöne und die Pornographie in der literarischen Landschaft. Frankfurt am Main/ Bonn 1970; Barbara Vinken (Hg.): Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart. München 1997. Zur Geschichte des Obszönen in der Literatur vgl. vor allem Ludwig Marcuse: Obszön. Geschichte einer Entrüstung. Zü‐ rich 1984; die Struktur des obszönen Zeichens in der Literatur des Mittelalters vgl. Wolf-Dieter Stempel: »Mittelalterliche Obszönität als Literarästhetisches Problem«. In: H.R. Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München 1968 (=Poetik und Hermeneutik 3), S. 187-205. Stempel liefert dabei jedoch Ergebnisse, die sich auch auf die Literatur aller Epochen übertragen lassen. 30 Vgl. Paul Ricœur: »Was ist ein Text? « In: ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1999). Aus dem Franz. u. hg. von Peter Welsen. Hamburg 2005, S. 79- 108. Ekels 28 und Obszönen 29 soll ein Dispositiv schaffen, sich dem Phänomen als einem literarischen, materiellen und damit auch sinnlich erfahrbaren Gegen‐ stand anzunähern und damit seine wirkungsästhetischen Qualitäten beschreib‐ bar zu machen. In einer Analyse der Wirkungspotentiale des »bösen Textes« erschöpft sich eine umfassende Betrachtung jedoch nicht. Geht man mit Gadamer und Ri‐ cœur 30 davon aus, der Text sei letztendlich das aus einem Kommunikationsbe‐ dürfnis entsprungene Produkt, das ein Autor innerhalb einer abstrakten Kom‐ munikationssituation an einen nicht näher bestimmten Empfänger/ Leser sendet, dann muss danach gefragt werden, welcher Natur diese Botschaft ist. Dies bedeutet auch: Welche Aussage über die Welt, ihre Referenz, wird ge‐ troffen? Und damit einhergehend: Welcher Natur ist das Böse, welches im Text inszeniert wird? In einer Untersuchung, der die Wirkungsästhetik als Selbst‐ zweck zugrunde liegt, können jene Aspekte nicht hinlänglich behandelt werden. Daher soll in dieser Arbeit nicht allein die Form Gegenstand der Untersuchung sein, sondern auch die Idee, die schließlich im Text entwickelt wird: und damit etwaige ethische Implikationen, die fern eines rein ästhetischen Konzeptes des Bösen transportiert werden. Die vorliegende Studie folgt damit grundsätzlich den Annahmen der Hermeneutik, um den im Text gegebenen Ideengehalt unter Berücksichtigung des historischen Kontexts und damit seiner außerliterari‐ schen Referenz adäquat entschlüsseln zu können. Eine Auseinandersetzung mit dem Text, die also sowohl nach den Sinnpotentialen als auch nach der Verfasst‐ Einleitung 20 <?page no="21"?> 31 Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink 1976. 32 Den Grundstein für die Theorie der literarischen Ethik legten Wayne C. Booth: The Company We Keep. An Ethics of Fiction. Berkeley, Calif.: University of California Press 1988; Martha C. Nussbaum: Love’s knowledge. Essays on philosophy and literature. New York 1990. Ferner zur narrativen Ethik vgl. Adrian Holderegger/ Jean-Pierre Wils (Hg.): Interdisziplinäre Ethik. Grundlagen, Methoden, Bereiche. Festgabe für Dietmar Mieth zum sechzigsten Geburtstag. Freiburg, Schweiz 2001 (=Studien zur theologischen Ethik 89); Karen Joisten (Hg.): Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen. Berlin 2007; Claudia Öhlschläger (Hg.): Narration und Ethik. München 2009 (=Ethik - Text - Kultur 1). Zum Zusammenhang von ethischer und ästhetischer Erfahrung grundlegend: Christoph Wulf/ Dietmar Kamper/ Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Ethik der Ästhetik. Berlin 1994; Gerhard Hoffmann/ Alfred Hornung (Hg.): Ethics and Aesthetics. The Moral Turn of Postmodernism. Heidelberg 1996; Bernhard Greiner/ Maria Moog-Grünewald: Etho-Po‐ ietik. Ethik und Ästhetik im Dialog: Erwartungen, Forderungen, Abgrenzungen. Bonn 1998; Marcus Düwell: Ästhetische Erfahrung und Moral. Zur Bedeutung des Ästhetischen für die Handlungsspielräume des Menschen. Freiburg/ München 1999; Dietmar Mieth/ Dominik Bertrand-Pfaff/ Regina Ammicht-Quinn (Hg.): Erzählen und Moral. Narrati‐ vität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik. Tübingen 2000; Susanne Krepold/ Chris‐ tian Krepold (Hg.): Schön und gut? Studien zu Ethik und Ästhetik in der Literatur. Würz‐ burg 2008. heit des Textes (und folglich den Mitteln, mit denen der Rezeptionsakt seitens des Lesers in Hinblick auf Wirkung und Reflexion gelenkt werden kann) fragt, ist daher auch mit Isers 31 Modell der Rezeptionsästhetik vereinbar: Welcher Be‐ deutungsgehalt erschließt sich dem Leser und wie kann er von jenem reflexiv nachvollzogen werden? Stellt sich gar eine Form der ethischen Erfahrung ein, die dem Leser Rückschlüsse auf und Erkenntnisse über seinen eigenen Bezugs‐ horizont erlaubt? Ziel ist es demnach, die Wirklichkeitsreferenz zu betrachten, d.h. die Möglichkeit ethischer Implikationen, und zudem die spezifisch literari‐ schen Mittel aufzudecken, die eine solche ethische Lektüre befördern können. 32 Dies erlaubt darüber hinaus auch, die Grenzen einer solchen Lektüre zu be‐ stimmen, d.h. jenen Moment zu lokalisieren, an dem eine Form des »inkom‐ mensurablen Bösen« auftritt, das nicht mehr aufhebbar ist und sich damit dem von Bohrer skizzierten präsentischen Phänomen des ästhetischen Bösen annä‐ hert. Einleitung 21 <?page no="22"?> 33 Besonders in den letzten Jahren bestand vermehrt Interesse an einer Theorie des Skan‐ dals. Grundlegend für das Verständnis der Mechanismen des Skandals sind: Sighard Neckel: »Das Stellhölzchen der Macht. Zur Soziologie des politischen Skandals«. In: Leviathan 14 (1986), S. 581-605; Steffen Burkhardt: Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. Köln 2006; Kristin Bulkow/ Christer Petersen (Hg.): Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung. Wiesbaden 2011; Andreas Gelz/ Dietmar Hüser/ Sabine Ruß-Sattar (Hg.): Skandale zwischen Moderne und Postmoderne. Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgres‐ sion. Berlin/ Boston 2014. Spezifisch zum Literaturskandal sind folgende Titel hervor‐ zuheben: Stefan Neuhaus/ Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle - Funktionen - Folgen. Göttingen 2007; Andrea Bartl/ Martin Kraus (Hg.): Skandalautoren. Zu reprä‐ sentativen Mustern literarischer Provokation und Aufsehen erregender Autoreninszenie‐ rung. 2 Bde. Würzburg 2014. Ferner wird es für die vorliegende Arbeit notwendig sein, auf den Begriff und die Theorie des Skandals 33 zurückzugreifen. Dieser lässt sich in seiner Drama‐ turgie als ein dem Theater nicht unähnlicher, mehrschrittiger, öffentlicher Kom‐ munikationsprozess zwischen einem Skandaliertem, einem Skandalierer und einem Publikum beschreiben. Auslöser für einen Skandal ist dabei stets ein tat‐ sächlich vorliegender oder lediglich angenommener Normbruch seitens einer Person, einer Gruppe oder Institution, welcher in der Folge publik gemacht wird und öffentliches Ärgernis erregt. Die Theorie des Skandals ist im Kontext der vorliegenden Arbeit deswegen so fruchtbar, weil sie systematisch Aspekte, die die Wirkungsästhetik betreffen, mit ethikbezogenen vereint. Nicht nur ist ein Skandal als öffentliche Inszenierung zu verstehen, die den Mechanismen der Schaulust gehorcht, sondern er kann gleichsam als Normenbarometer fun‐ gieren, indem er aufzeigt, welche Themen und Normen im öffentlichen Be‐ wusstsein besonders sensibel sind. Übertragen auf die Literatur ermöglicht ein solches Verständnis von der Dynamik des Skandals, Rückschlüsse auf den Status der Literatur im Allgemeinen zu ziehen. Gerät ein literarisches Werk öffentlich unter Beschuss, indiziert dies einerseits, welche Art der Normverletzung vor‐ liegt, andererseits aber auch, welchen Einfluss Literatur und Kunst generell in der Öffentlichkeit haben bzw. welchen Status sie genießen. Zur Textselektion Im Rahmen dieser Arbeit sollen Texte untersucht werden, die als paradigmatisch für eine »böse Schreibweise« gelten können. Im Titel dieser Arbeit sind dabei bereits wichtige Momente in der Literaturgeschichte benannt. Zunächst sollen literarische Erzeugnisse der Ecole du mal des 19. Jahrhunderts, genauer: Texte von Gustave Flaubert und Octave Mirbeau, betrachtet werden, da diese einer‐ seits den Wandel markieren, der sich innerhalb des literarischen Diskurses über das Böse vollzogen hat: und dies sowohl auf der Ebene der Wirkungsästhetik Einleitung 22 <?page no="23"?> als auch auf der des Inhalts. Die Literatur sucht, sich in Ablehnung der bürger‐ lichen Moral einen autonomen Bereich zu erschließen. Andererseits erlaubt eine Analyse eben dieser Texte, die Systematiken einer Schockästhetik weiter aus‐ zudifferenzieren, welche sich dann auf das Werk Michel Houellebecqs über‐ tragen lassen. Somit soll zunächst am Beispiel von Gustave Flauberts Salammbô Bohrers These zum ästhetischen Bösen nachvollzogen werden. Gleichermaßen sollen jedoch auch die Grenzen einer solchen Deutung aufgezeigt werden - und dies auch unter Berücksichtigung von Sabine Friedrichs Überlegungen zur Ima‐ gination des Bösen. Von besonderem Interesse werden im Zuge einer textanaly‐ tischen Betrachtung des Gegenstandes vornehmlich auch narratologische As‐ pekte sein - insbesondere der narrateur impassible. Dabei soll aufgezeigt werden, inwiefern die Narration bzw. die Erzählsituation und der im Text ver‐ handelte Gegenstand interagieren und in Abhängigkeit voneinander ein spezi‐ fisch literarisches Böses hervorbringen. Bei Flauberts Roman Salammbô handelt es sich gewiss um einen bereits umfassend diskutierten Text, für den ich in diesem Kontext keine Neuinterpretation vorschlage. Dennoch soll der Roman die Referenzfolie für die folgenden Analysen darstellen, da die durch Bohrer und Friedrich bereits durchexerzierte Interpretation mit Schwerpunkt auf den äs‐ thetischen Qualitäten des Textes gleichwohl für eben jene Dimension des lite‐ rarischen Werks im Allgemeinen sensibilisiert. Doch findet sich dieser Ansatz zusätzlich durch Aspekte der narrativen Ethik sowie der Theorie des Ekels und des Skandals komplementiert. Ein weiterer Text, den ich im Rahmen dieser Untersuchung in Hinblick auf thematische Schwerpunkte und Wirkungsästhetik untersuchen möchte, ist Oc‐ tave Mirbeaus dekadenter Roman Le Jardin des supplices (1899). Mehr noch als Flauberts Salammbô lässt sich diesem Werk eine ausnehmend aggressive Wir‐ kungspoetik zuschreiben, die auf den ersten Blick sämtliche positiven ethisch-moralischen Werte in ihr Gegenteil verkehrt und im Raum des Litera‐ rischen ein neues Regime des Bösen in Kraft treten lässt. Wirkungsästhetisch besteht der Auftrag des Romans zunächst in der Irritation des Lesers durch eine Initiation in den Raum des Sadistischen, Obszönen und Ekelhaften. Zugleich wird aber auch eine Aussage über die Natur des Menschen getroffen, eine Idee des Bösen verhandelt, die als Teil der menschlichen Natur verstanden wird. Wie die Schock- und Ekelstrategien Mirbeaus verwendet werden, um eine Reflexion philosophisch-anthropologischer Natur zu befördern, soll im Zuge dieser Ana‐ lyse berücksichtigt werden. Als Urvater der Schockästhetik kann sicherlich Alphonse-Donatien-François Marquis de Sade gelten. Sein unvollendeter Roman Les 120 Journées de Sodome, den er während seiner Gefangenschaft in der Bastille verfasste, diente als Vor‐ Einleitung 23 <?page no="24"?> 34 Dem Film wurde in mehreren europäischen Ländern der Prozess gemacht. U.a. wurde der Produzent Alberto Grimaldi wegen Obszönität angeklagt und der Film auch in Deutschland von mehreren Amtsgerichten umgehend für rund ein Jahr beschlagnahmt. 1987 wurde der Film jedoch erneut auf den Index gesetzt, sodass er nach wie vor nicht im Fernsehen gezeigt werden darf (vgl. Stefan Volk: »Skandalfilm ›Die 120 Tage von Sodom‹: Brechreiz bundesweit«. In: Spiegel online [01.02.2016], unpag. URL: http: / / www.spiegel.de/ einestages/ pasolinis-skandal‐ film-salo-oder-die-120-tage-von-sodom-a-1073759.html [letzter Aufruf: 25.03.2016]). lage für Pier Paolo Pasolinis letzten Film Salò o le 120 giornate di Sodoma (1975), welcher ob seiner schonungslosen Darstellung von Folter, Exzess und Grau‐ samkeit zunächst bis 1978 beschlagnahmt wurde. 34 Pasolini transportiert die Sade’sche Schockästhetik in das Medium des Films - welches gegenüber dem der Schrift den Vorzug hat, mehrere Sinneskanäle unmittelbar anzusprechen -, um dergestalt in aller Drastik die Anarchie der Macht vorzuführen. Die Liber‐ tinage de Sades wird ihm zur Allegorie des Faschismus und ferner des vom Konsumismus beherrschten Italiens. Eben diese visuelle Umsetzung einer ori‐ ginär literarischen Schockästhetik mit den Mitteln der Filmkunst wird sich in‐ sofern als besonders interessant erweisen, als Pasolini den modus operandi des Films bereits poetologisch mitreflektiert. So wie auch Sade den Leser zu einem ›empathisch‹ engagierten Teilnehmer an der Lektüre zu machen sucht, so stellt auch Pasolini eine Komplizenschaft zwischen dem Zuschauer und den Figuren des Films her. Eine Untersuchung des Films vor dem Hintergrund der literari‐ schen Vorlage, auf der er basiert, soll aufzeigen, dass es Pasolini nicht nur um die Provokation des Publikums ging, sondern dass ihm dabei durchaus an der Formulierung einer ethischen Botschaft gelegen war: Das Bild, das er dabei vom Menschen, seinem Körper und seiner Sexualität sowie von gesellschaftlichen Mechanismen und Machtgefügen zeichnet, antizipiert dabei schon in gewisser Weise Positionen, die auch Houellebecq in seinen Romanen beziehen wird. Die Analyse von Schockstrategien der Literatur (und des Films) soll nicht nur auf diachroner Ebene, sondern auch auf synchroner Ebene vorgenommen werden. Zwei Jahre bevor Houellebecqs Roman Les Particules élémentaires er‐ schien, wurde beim Verlag Einaudi eine Anthologie von Erzählungen, nämlich der Band Gioventù cannibale. La prima antologia dell’orrore estremo, veröffent‐ licht. Diese war das erste literarische Zeugnis einer neuen Autorengeneration, die sich von der nach wie vor durch Italo Calvino beherrschten Höhenkamm‐ literatur bewusst verabschiedete und vielmehr eine neue blutrünstige Ästhetik entwickelte: die sogenannte letteratura pulp (in Anlehnung an den 1994 er‐ schienenen Kultfilm Pulp Fiction von Quentin Tarantino). Repräsentativ für diese Literatur sind einerseits exzessive Gewaltdarstellungen, andererseits ein spielerischer Umgang mit diversen Genres der Popkultur sowie eine starke Me‐ Einleitung 24 <?page no="25"?> dienbezogenheit. Aldo Nove und Niccolò Ammaniti waren unter anderem als Autoren an der Anthologie Gioventù cannibale beteiligt und publizierten im gleichen Jahr jeweils eigene Erzählsammlungen: Noves Woobinda o altre storie senza lieto fine und Ammanitis Fango. Sowohl Woobinda als auch Fango erweisen sich als paradigmatisch für die Poetik der »giovani cannibali«. Anhand einer detaillierten Analyse von Noves Eingangserzählung Il bagnoschiuma und Am‐ manitis Kurzroman L’ultimo capodanno dell’umanità soll jedoch gezeigt werden, dass die effekthascherische Schockästhetik der »cannibali« durchaus einem ge‐ sellschafts- und medienkritischen Impetus folgt. Die Werke sowohl Pasolinis als auch die der letteratura pulp markieren dabei einen Moment in der Zeitge‐ schichte, in dem sich die Kunst in Protest gegen die Konsumgesellschaft wendet, sich aber gleichzeitig als Teil eben dieser erweist. Schließlich sollen also die bereits erwähnten Romane Houellebecqs unter‐ sucht werden. Im Zentrum steht dabei die Frage, welcher Schockstrategien sich Houellebecq auf individuelle Weise bedient. Gegenstand der Analyse soll dabei zunächst sein Roman Les Particules élémentaires sein, der zu seinen wohl wirk‐ mächtigsten Werken zählt. Eine Untersuchung dieses Romans halte ich in diesem Zusammenhang für besonders lohnend, da Houellebecq hier thesenartig eine radikal negative Anthropologie ausformuliert, welche gemeinhin als die wohl skandalträchtigste Qualität seiner Romane verhandelt wird. In der Tat wird eine Analyse des Textes jedoch erweisen, dass die besondere Wirkmacht des Romans nicht allein auf die Brisanz des énoncé zurückzuführen ist, sondern dass sie gleichwohl Resultat spezifischer narrativer (Schock-)Strategien ist. Stetige Stil-, Perspektiv- und Diskurswechsel veruneindeutigen den Darstellungsge‐ genstand dergestalt, dass der Leser zu einer intensiven, engagierten und vor allen Dingen auch reflektierten Lektüre angeregt wird. Auf den ersten Blick wohl weniger enragiert, doch auf ähnliche Weise pessimistisch, präsentiert sich Houellebecqs Dystopie La Possibilité d’une île. Auch diese mutet zunächst wie eine deutlich formulierte Absage an die Menschheit an, doch erweist sich bei näherer Betrachtung auch diese als ambivalent: So zielt der Roman darauf ab, traditionelle Bezugshorizonte zu zersetzen, moralisch zu destabilisieren und dergestalt zum Gegenstand der kritischen Reflexion zu machen. Dass gerade diese Unbestimmtheit besonders provokativ wirkt, soll ferner ein Vergleich mit Cormac McCarthys dystopischem Roman The Road verdeutlichen. Der 2010 erschienene Künstlerroman La Carte et le Territoire wiederum ist in Hinblick auf seine romanesken Vorgänger wohl weniger aggressiv und vermag aufgrund seiner vordergründigen Reflexion des Status des Künstlers und der Kunst zunächst minder ergiebig in Hinblick auf eine Untersuchung von Schock‐ strategien scheinen. Doch versäumt Houellebecq auch hier nicht, der Welt den Einleitung 25 <?page no="26"?> 35 Paradigmatisch hierzu Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire« (vgl. Anm. 2). Ferner untersucht Rémi Astruc unter Berücksichtigung von Baudelaires Kon‐ zept des komisch-grotesken Taumels die Literatur des 20. Jahrhunderts in Hinblick auf den »choc comique«: ders.: Vertiges grotesques. Esthétiques du choc comique. Roman, théâtre, cinéma. Paris: Champion 2012. 36 Hierzu beispielsweise die Monographie von Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrea‐ lismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotographie, Film. München: Beck 2006, darin das Kapitel »Schockästhetik: Der surrealistische Film 1927-1930«, S. 194-201. gewohnt pessimistischen Spiegel vorzuhalten - und dies auf besonders zy‐ nisch-parodistische Art und Weise. Die Besonderheit des Romans ist wohl auch, dass Houellebecq sich selbst als Figur auftreten lässt, um sich schließlich auf grausame Art und Weise töten zu lassen. Der Mord an der Figur »Michel Hou‐ ellebecqs« markiert dann auch den Wendepunkt, an dem die Geschichte in eine(n) Krimi(-Parodie) umschlägt und im Zuge dessen die Frage nach dem Ur‐ sprung des Bösen aufgeworfen wird. Mehr noch als in Les Particules élémentaires scheint hier eine Schreibweise des Bösen, wie sie bei Flaubert und Mirbeau aus‐ gemacht werden kann, anzitiert zu werden; sie durchläuft dabei aber einen »postmodernen« Umgestaltungsprozess, der sie zersetzt, dekonstruiert, neu‐ konfiguriert und dadurch gewissermaßen ihre Mechanismen offenlegt. Inwie‐ fern die Romane Houellebecqs vor dem Hintergrund der Literatur der Moderne und Postmoderne einer Autonomieästhetik verpflichtet sind oder vielmehr am ethical turn partizipieren, soll im Rahmen dieser Untersuchung diskutiert werden. Zweifelsohne ließe sich eine Vielzahl weiterer Texte einer solchen Untersu‐ chung unterziehen, darunter Werke E.A. Poes, E.T.A. Hoffmanns, Huysmans, Oscar Wildes, Célines, André Bretons, Georges Batailles’, Bret Easton Ellis’, Will Selfs - um nur einige zu nennen. Notwendigerweise musste sich die hier vor‐ genommene Auswahl auf exemplarische Momente der (jüngeren) Literaturge‐ schichte beschränken. Doch die im Theorieteil entwickelte Methode der Text‐ analyse bietet ein Modell nicht nur zur Untersuchung der hier betrachteten Werke, sondern lässt sich gleichermaßen auf andere Texte anwenden. Forschungsstand Tatsächlich ist »Schockästhetik« in Zusammenhang mit Kunst ein geläufiger Begriff, besonders im Kontext von moderner Literatur (so z.B. Baudelaire) 35 oder von Avantgarde-Poetiken (wie die des Surrealismus). 36 Auch im Kontext der Gegenwartsliteratur findet der Begriff Erwähnung, so z.B. in Sarina Schnatwin‐ kels Monographie zu den Romanen von Bret Easton Ellis (Das Nichts und der Einleitung 26 <?page no="27"?> 37 Sarina Schnatwinkel: Das Nichts und der Schmerz. Erzählen bei Bret Easton Ellis. Biele‐ feld: transcript 2014. Schnatwinkel setzt den Schwerpunkt jedoch insgesamt auf emo‐ tionspsychologische Aspekte von Narration und Lektüreerfahrung, d.h. die Möglich‐ keiten der Leserlenkung durch »die Darstellung von fehlenden Affekten und Emotionen in literarischen Texten« (ebd., S. 13). Die Schockästhetik findet innerhalb des Kapitels »Affektloses Erzählen - Lust und Qual« Erwähnung (vgl. ebd., S. 206). 38 Für einen Überblick zu den verschiedenen Interpretationsansätzen in Bezug auf Sa‐ lammbô s. Kap. 2.1. 39 Jacques Neefs: »Allegro Barbaro, la violence en prose«. In: Modern Language Notes 128 (2013), S. 744-760. 40 Stefan Bub: »Die getöteten Kinder und die Ästhetik des Bösen«. In: arcadia 49, 2 (2014), S. 352-367. Schmerz. Erzählen bei Bret Easton Ellis, 2014). 37 Doch eine so bezeichnete Syste‐ matik ästhetischer Schockerfahrung sowie eine umfassende Studie von litera‐ rischen Strategien, die eben solche auslösen, liegt in diesem Sinne noch nicht vor. Indem die vorliegende Arbeit also methodisch auf bestehende Diskurse über das (ästhetische) Böse, Wirkungsästhetik, literarische Ethik und Skandaltheorie zurückgreift, sucht sie, sich dem Begriff der Schockästhetik und einer Syste‐ matik von literarischen Strategien der Provokation sowohl theoretisch als auch praktisch zu nähern. Zu Flauberts Roman Salammbô liegt bereits eine Reihe an Untersuchungen vor, 38 allen voran natürlich die für den hier thematisierten Aspekt der Schock‐ ästhetik und des Phänomens des Bösen relevanten Studien von Karl Heinz Bohrer und Sabine Friedrich. Im Zusammenhang mit der Ästhetik des Bösen in selbigem Roman erschienen auch jüngst Beiträge von Jacques Neefs 39 und Stefan Bub. 40 Die vorliegende Studie wird im Wesentlichen den bestehenden Ansätzen folgen, wobei diese um Aspekte der Skandaltheorie sowie der narrativen Ethik ergänzt werden. Als Neuerung ist jedoch zu betrachten, dass das Werk im Kon‐ text dieser Arbeit mit denen Mirbeaus, Noves, Pasolinis und Houellebecqs in Beziehung gesetzt wird, um Parallelen und Unterschiede aufzuzeigen, die in dieser Form noch nicht untersucht worden sind. Im Jahre 1993 wurde die Zeitschrift Cahiers Octave Mirbeau gegründet, im Rahmen derer bereits eine Vielzahl an Artikeln zum literarischen Opus Mirbeaus veröffentlicht wurden. Außerhalb des Publikationsorgans der Société Octave Mirbeau ist die Anzahl an Publikationen zu dem hier untersuchten Text, Le Einleitung 27 <?page no="28"?> 41 Z.B. Martin Schwarz: Octave Mirbeau. Vie et œuvre. The Hague/ Paris 1966; der Sam‐ melband Pierre Michel/ Georges Cesbron (Hg.): Octave Mirbeau. Actes du colloque in‐ ternational d’Angers du 19 au 22 septembre 1991. Angers 1992; Markus Krist: »Eroto‐ logie. Liebe als böse Natur in Octave Mirbeaus Le Jardin des supplices (1899)«. In: Andreas Gelz/ Markus Krist/ Rolf Lohse/ Richard Waltereit (Hg.): Liebe und Logos. Bei‐ träge zum 11. Nachwuchskolloquium der Romanistik (Berlin/ Potsdam, 8.-11.6.1996). Bonn 1996, S. 173-185; ferner findet der Roman Erwähnung in Lucie Bernier: La Chine littérarisée. Impressions - expressions allemandes et françaises au tournant du XIXème siècle. Bern/ New York 2001; Florian Beckerhoff: Monster und Menschen. Verbrecherer‐ zählungen zwischen Literatur und Wissenschaft (Frankreich 1830-1900). Würzburg 2007. 42 Vgl. Achim Geisenhanslüke: Die Sprache der Infamie. Literatur und Ehrlosigkeit. Mün‐ chen: Fink 2014, S. 188-193. 43 So zum Beispiel in Adelio Ferrero: Il cinema di Pier Paolo Pasolini. Venezia: Marsilio Editori 1977; Gary Indiana: Salò or The 120 Days of Sodom. London: British Film Institute 2000; Serafino Murri: Pier Paolo Pasolini. Salò o le 120 giornate di Sodoma. Torino: Lindau 2001; Hervé Joubert-Laurencin: Salò ou les 120 journées de Sodome de Pier Paolo Paso‐ lini. Chatou: Les Éditions de La Transparence 2012. 44 Klaus Theweleit: Deutschlandfilme. Godard. Hitchcock. Pasolini. Filmdenken & Gewalt. Frankfurt am Main: Stroemfeld 2003. 45 Zum Vergleich zwischen Sades Roman und Pasolinis Film vgl. Sabine Hauer/ Peter Themm: »De Sade, der Faschismus und der Film: Pier Paolo Pasolinis Salò oder die 120 Tage von Sodom«. In: Ralf Schnell (Hg.): Gewalt im Film. Bielefeld: Aisthesis 1987, S. 71- 93; Sabine Kleine: Zur Ästhetik des Häßlichen. Von Sade bis Pasolini. Stuttgart/ Weimar: Metzler 1998; Horst Albert Glaser: »Sades Les 120 journées de Sodome und Pasolinis Salò o le 120 giornate di Sodoma - ein Vergleich«. In: Sabine Kleine (Hg.): Sade und... Essays von Horst Albert Glaser aus dreißig Jahren. Mit zahlreichen Illustrationen und Bei‐ trägen von Michel Delon und Sabine Kleine. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2000, S. 142- 162; Stefan Zweifel/ Michael Pfister: Shades of Sade. Eine Einführung in das Werk des Marquis de Sade. Berlin: Matthes & Seitz 2015, bes. S. 153-159. Jardin des supplices, jedoch überschaubar. 41 Erwähnung findet der Text in Alts Ästhetik des Bösen und auch in Achim Geisenhanslükes Monographie Die Sprache der Infamie. 42 Im Rahmen dieser Arbeit soll die Diskussion um den Roman aktualisiert werden, der in vielerlei Hinsicht paradigmatisch für das äs‐ thetische Programm der Dekadenzliteratur ist. Doch in seinem Bestreben, dem Menschen ein schockierendes Abbild seiner Natur und Welt aufzuzeigen, weist er bereits auf zukünftige Literaturen, vor allen Dingen auch die Romane Hou‐ ellebecqs, voraus. Wie auch bei Flaubert handelt es sich bei Pasolini um einen Autor und Re‐ gisseur, zu dessen Werken (sowohl filmisch als auch literarisch) bereits gear‐ beitet wurde. Auch sein letzter Film Salò o le 120 giornate di Sodoma fand und findet in der Wissenschaft nach wie vor Beachtung. 43 Umfassend setzt sich be‐ sonders Klaus Theweleit mit dem Aspekt des Faschismus in Pasolinis Film aus‐ einander. 44 Im Rahmen dieser Arbeit soll vor allen Dingen die filmische Umset‐ zung der Schockästhetik Sades in Salò Beachtung finden, 45 wobei gleichwohl Einleitung 28 <?page no="29"?> 46 Das Problem des Zuschauerengagements besprach auch jüngst Paolo Russo: »Beyond Perverse Allegiance: The Problem of Viewer’s Engagement in Pier Paolo Pasolini’s Salò or The 120 Days of Sodom«. In: Senses of Cinema 77 (December 2015), unpag. URL: http: / / sensesofcinema.com/ 2015/ pier-paolo-pasolini/ viewers-engagement-in-salo/ #fnref-25837-8 (letzter Aufruf: 16.03.16). 47 Marino Sinibaldi: Pulp. La letteratura nell’era della simultaneità. Roma 1997 (=Interventi 34); Filippo La Porta: La nuova narrativa italiana. Travestimenti e stili di fine secolo. Nuova edizione ampliata. Torino 1999; Stefania Lucamante (Hg.): Italian Pulp Fiction. The New Narrative of the Giovani Cannibali writers. London 2001; besonders hervorzu‐ heben ist der Titel von Irina O. Rajewsky, die die italienische Literatur der 80er und 90er Jahre in Hinblick auf intermediale Bezüge untersucht: dies.: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne. Von den Giovani scrittori der 80er zum Pulp der 90er Jahre. Tübingen 2003. 48 Zu Nove vgl. Rita Gagliano: »Il protagonista-consumatore e la merce-segno: Il percorso iper-consumistico di Aldo Nove nel Bagnoschiuma«. In: Narrativa 20/ 21 (2001), S. 285- 296; Eugenio Bolongaro: »Appunti per una rilettura dei cannibali: Avanguardia, pubb‐ lico ed etica in Bagnoschiuma di Aldo Nove«. In: Moderna 9 (2007), S. 183-201; Martine Bovo: »Aldo Nove, de Woobinda à Superwoobinda: l’éthique du trash et ses limites«. In: Cahiers d’études italiennes 11 (2010), S. 73-89. Zu Ammanitis Fango, besonders L’ultimo capodanno dell’umanità vgl. Olaf Grabienski: »›Cazzo che elettroshock! ‹ - Die Erzäh‐ lungen Niccolò Ammanitis«. In: Felice Balletta/ Angela Barwig (Hg.): Italienische Er‐ zählliteratur der Achtziger und Neunziger Jahre. Zeitgenössische Autorinnen und Autoren in Einzelmonographien. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang 2003, S. 431-441; Valerio Ferme: »Note su Ammaniti e il Fango di Fine Millennio«. In: Narrativa 20/ 21 (2001), S. 321-335; Sabine Schrader: »›La testa gli esplose‹ - Körper und Medien in den Texten der Giovani scrittori der 1990er Jahre«. In: Walburga Hülk, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.): (Post-)Gender. Choreographien/ Schnitte. Bielefeld: transcript 2006, S. 85- 100. ihre unterschiedlichen Funktionen sowie die Umdeutungsprozesse, die Pasolini vornimmt, herausgearbeitet werden sollen. Verfahren der Zuschauerbzw. Leseraktivierung 46 und die Frage nach den Möglichkeiten einer ethischen Er‐ fahrung durch visuelle Grenzerfahrungen (oder diesen zum Trotz) stehen dabei im Mittelpunkt. Diese Arbeit sucht damit insofern einen neuen Blickwinkel auf Pasolinis Salò zu bieten, als dieser in Bezug zu Texten des 19., 20. und 21. Jahr‐ hunderts gesetzt wird, um Parallelen aufzuzeigen, die so noch nicht erarbeitet wurden. Die literarische Bewegung der giovani cannibali kann in gewisser Weise als repräsentativ für einen Trend der Kunst der 90er Jahre gelten. So erschienen in den Folgejahren nach der Veröffentlichung des Sammelbands Gioventù canni‐ bale mehrere Studien, die diesem literarischen Zeitgeist-Phänomen Rechnung zu tragen suchten. 47 Zu Aldo Noves und Ammanitis Erzählsammlungen liegen bisher vornehmlich kleinere Beiträge vor, die vor allen Dingen den Aspekt der im Text abgebildeten Konsumgesellschaft besprechen. 48 Im Kontext dieser Ar‐ beit sollen jedoch bereits vorgenommene Interpretationen durch Überlegungen Einleitung 29 <?page no="30"?> 49 Julia Pröll: Das Menschenbild im Werk Michel Houellebecqs. München 2007. 50 Constanze Alt: Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart. Bret Easton Ellis’ American Psycho, Michel Houellebecqs Elementarteilchen und die deutsche Gegenwartsliteratur. Berlin 2009. zu der Bedeutung des Textes im europäischen Vergleich ergänzt werden. Beson‐ ders die Gegenüberstellung mit den Romanen Houellebecqs wird sich dabei als aufschlussreich erweisen. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei letzterem um einen äußerst me‐ dienpräsenten Autor handelt, überrascht es wenig, dass besonders in den letzten Jahren eine Reihe an Publikationen zu seinen Werken erschienen ist. Dass sich in seinem Falle gar von einem »Phänomen« sprechen lässt, bestätigen diverse Titel, die es sich zum Ziel setzen, eben diesem analytisch auf den Grund zu gehen, darunter z.B. der von Thomas Steinfeld herausgegebene Sammelband Das Phänomen Houellebecq (2001), die 2005 erschienene Monographie Houelle‐ becq non autorisé: enquête sur un phénomène von Denis Demonpion, ferner Do‐ minique Noguez’ Titel Houellebecq, en fait (2003) oder auch der von Murielle Lucie Clement und Sabine van Wesemael herausgegebene Band Michel Houel‐ lebecq sous la loupe (2007) sowie der vornehmlich an literaturpraktischen und ästhetischen Aspekten interessierte Sammelband von Sabine van Wesemael und Bruno Viard (Hg.), L’unité de l’œuvre de Michel Houellebecq. Paris 2013. Houel‐ lebecq, der zunächst als enfant terrible den Literaturmarkt aufmischte, wurde damit auch zunehmend Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. Dass sich sein Œuvre nicht allein in einer aggressiven Provokationsgeste und der Vulga‐ rität des Obszönen erschöpft, sondern darüber hinaus über einen gewissen Ide‐ enreichtum philosophischer Natur verfügt, legen Publikationen wie Dietmar Horsts Houellebecq der Philosoph: ein Essay (2006) und Julia Prölls Monographie Das Menschenbild im Werk Michel Houellebecqs: die Möglichkeit existenzorien‐ tierten Schreibens nach Sartre und Camus  49 dar. Letztere stellt - wie der Titel impliziert - eine Verbindung zum Existentialismus Sartres und Camus’ her, die Aufschluss über das Gesellschaftsbild gibt, welches Houellebecq in seinen bis einschließlich 2005 veröffentlichten Romanen transportiert. Wie eben jenes Ge‐ genwartsporträt sich im Vergleich zu anderen Werken der internationalen Ge‐ genwartsliteratur verhält, untersucht Constanze Alt. 50 Größer angelegte Unter‐ suchungen, die sich mit dem von Houellebecq gezeichneten Welt- und Gesellschaftsbild (vornehmlich auch im Roman Les Particules élémentaires) auseinander setzen, liegen damit bereits vor - und im Fall Julia Prölls auch in national literaturhistorischer Perspektive. Damit wird auch ein Diskurs über intertextuelle bzw. diachrone Beziehungen des Houellebecq’schen Œuvres er‐ öffnet, der es erlaubt, nicht nur einen thematischen, sondern auch stilistischen Einleitung 30 <?page no="31"?> 51 Jochen Mecke: »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literaturskan‐ dals«. In: Giulia Eggeling/ Silke Segler-Meßner (Hg.): Europäische Verlage und romani‐ sche Gegenwartsliteraturen. Profile, Tendenzen, Strategien. Tübingen: Narr 2003, S. 194- 217. 52 Susanna Frings: »A la recherche de l’homme perdu«. Literarische Ethik in den Romanen von Jean Echenoz, Jean-Philippe Toussaint und Michel Houellebecq. Heidelberg: Winter 2014 (=Studia romanica 183). Zusammenhang zwischen den Werken Houellebecqs und Schriftstellern wie Lautréamont oder H.P. Lovecraft (vgl. Murielle Lucie Clément, Michel Houelle‐ becq révisité. L’écriture houellebecquienne) oder Émile Zola und der realistischen bzw. naturalistischen Schule (Rita Schober, Auf dem Prüfstand. Zola - Houelle‐ becq - Klemperer. Berlin 2003) herzustellen. Auch Jochen Mecke stellt in seinem Aufsatz »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literatur‐ skandals« eine Beziehung zwischen den Erzählstrategien Houellebecqs und denen Flauberts bzw. Balzacs her. 51 Seine Überlegungen zum »Stil der Indiffe‐ renz« sollen auch im Rahmen dieser Arbeit aufgegriffen und weiter vertieft werden. Ein Novum ist es jedoch, konkret nach der Natur des Houellebecq’schen li‐ terarischen Bösen bzw. nach den Funktionen und Formen von Schockstrategien zu fragen und dies unter Berücksichtigung von Verfasstheit und Wirkung sowie von ethischen Implikationen. Neu ist dabei auch, sein Œuvre mit einer literari‐ schen Tradition in Verbindung zu bringen, die Bohrer einst die »Schule des Bösen« taufte bzw. durch einen komparatistischen Vergleich auf synchroner Ebene zur italienischen und amerikanischen Literatur und Filmkunst in Bezie‐ hung zu setzen. In Bezug auf die Möglichkeit einer literarischen Ethik im Werk Houellebecqs (u.a.) hat Susanna Frings 52 jüngst ein Werk veröffentlicht, dem weniger die Annahme eines absoluten Pessimismus zugrunde liegt, als vielmehr die Diagnose eines »retour au roman« und gleichbedeutend damit der Möglich‐ keit einer kritischen Weltbesprechung im Raum der Literatur, die dem Leser das Angebot der ethischen Erfahrung macht. Ihr Ansatz einer literarischen Ethik, der nach den Bedeutungspotentialen für den Leser fragt, kann damit auch im Rahmen dieser Arbeit nutzbar gemacht werden. Während also für Houellebecqs Romane Extension du domaine de la lutte, Les Particules élémentaires, Plateforme und La Possibilité d’une île durchaus bereits (größere) Publikationen vorliegen, ist der preisgekrönte Roman La Carte et le Territoire (natürlich auch aufgrund seiner relativen Neuheit) bisher nur in klei‐ Einleitung 31 <?page no="32"?> 53 Und dies vor allen Dingen in Hinblick auf die Aspekte der Autofiktion sowie die Künst‐ lerthematik: z.B. Bruno Viard: »La Carte et le territoire, roman de la représentation: entre trash et tradition«. In: Lendemains 142/ 143 (2011), S. 87-95; Jutta Weiser: »Der Autor im Kulturbetrieb: Literarisches Self-Fashioning zwischen Selbstvermarktung und Ver‐ marktungsreflexion (Christine Angot, Frédéric Beigbeder, Michel Houellebecq)«. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 123, 3 (2013), S. 225-250; Françoise Grauby: »Artiste et écrivain dans La carte et le territoire de Michel Houellebecq«. In: French Review 87, 2 (2013), S. 105-117; Dominique Rabaté: »L’écrivain mis à mort par ses personnages mêmes«. In: Dominique Viart/ Laurent Demanze (Hg.): Fins de la litté‐ rature. Bd. 2. Historicité de la littérature contemporaine. Paris: Colin 2012, S. 221-232; Andreas Gipper: »Die Kunst des Porträts und das Porträt des Künstlers in Michel Hou‐ ellebecqs Roman La carte et le territoire«. In: Angela Fabris/ Willi Jung (Hg.): Charak‐ terbilder. Zur Poetik des literarischen Porträts. Festschrift für Helmut Meter. Bonn: Bonn U. P. 2012, S. 711-726. 54 Betül Dilmac: »Von Körper-Bildern und Zerstückelungen: Zu thematisch-poetologi‐ schen Text-Bild-Beziehungen in Michel Houellebecqs La carte et le territoire und zur Autofiktion als Aktionskunst«. In: Teresa Hiergeist/ Laura Linzmeier/ Eva Gillhuber/ Sabine Zubarik (Hg.): Corpus. Beiträge zum XXIX. Forum Junge Romanistik in Erlangen (13.-16.03.2013). Frankfurt a. M.: Peter Lang 2014, S. 151-162. 55 Christine Ott: »Literatur und die Sehnsucht nach Realität. Autofiktion und Medienref‐ lektion bei Michel Houellebecq, Walter Siti und Giuglio Minghini«. In: dies./ Jutta Weiser (Hg.): Autofiktion und Medienrealität. Kulturelle Formungen des postmodernen Subjekts. Heidelberg: Winter 2013, S. 210-231, hier: S. 227-228. neren Beiträgen 53 zur Sprache gekommen, darunter u.a. »Von Körper-Bildern und Zerstückelungen: Zu thematisch-poetologischen Text-Bild-Beziehungen in Michel Houellebecqs La carte et le territoire und zur Autofiktion als Aktions‐ kunst« von Betül Dilmac 54 sowie Christine Ott: »Literatur und die Sehnsucht nach Realität. Autofiktion und Medienreflexion bei Michel Houellebecq, Walter Siti und Giulio Minghini«. 55 Die vorliegende Arbeit kann damit auch neueren Entwicklungen innerhalb des Houellebecq’schen Œuvres Rechnung tragen. Es wird damit insofern eine Lücke geschlossen, als Verfahren der literarischen Provokation in Hinblick auf Funktion und Wirkungsweise sowohl in syn‐ chroner als auch diachroner Perspektive aufgedeckt werden. Damit kann schließlich ebenfalls eine Aussage über den Status der Gegenwartsliteratur bzw. über einen wichtigen Trend eben dieser getroffen werden. Einleitung 32 <?page no="33"?> 56 Peter-André Alt: »Wiederholung, Paradoxie, Transgression« (s. Anm. 16), S. 537. 57 Ebd. 1 Theoretische Vorüberlegungen 1.1 Böses schreiben - böses Schreiben: Überlegungen zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik 1.1.1 Karl Heinz Bohrer und das Böse als ästhetische Kategorie Die Literatur des 18. und insbesondere 19. Jahrhunderts scheint den sich voll‐ ziehenden Umwertungsprozess der Kategorie des Bösen zu belegen: Die Tat‐ sache, dass sich Gattungen wie die des Schauerromans besonderer Beliebtheit erfreuen, bescheinigt den Reiz am Abseitigen. Darüber hinaus erfährt das Böse in den Werken einflussreicher und viel diskutierter Autoren wie de Sade, Cho‐ derlos de Laclos, Lautréamont, Baudelaire, Flaubert oder Huysmans unbe‐ streitbar eine fundamentale Radikalisierung - und Positivierung. Der Titel von Baudelaires skandalträchtigem Gedichtband Les Fleurs du mal vermag bereits exemplarisch die zunehmende Annäherung der Kategorie des Schönen und der des Bösen zu veranschaulichen. Hinzu kommt, dass - wie Peter-André Alt ver‐ merkt - ein »Wechsel im Register der Darstellung« zu beobachten ist: eine He‐ rauslösung des Bösen aus dem metaphysischen Gefüge und eine Verlagerung in die Innerlichkeit, in die Psyche des Menschen. Es vollzieht sich eine Anreicherung der Kategorie des Bösen, die durch den Vorgang der Inklusion dichter als zuvor in ein Netzwerk von Nachbarbegriffen - Trieb, Gewalt, Häßlichkeit - integriert wird. Das Böse gewinnt über seine Einschließung in einer seelischen Topographie eine Vielfalt von Merkmalen und Qualitäten, die es auf neue Weise ubiquitär werden läßt. Die Omnipräsenz des Bösen ist fortan nicht mehr jene des Teufels, sondern die der Eigenschaften des Individuums. 56 Die Psychologisierung und die damit einhergehende »Invisibilisierung« 57 des Bösen offenbart scheinbar vollkommen neue Potentialitäten einer ›bösen Kunst‹, die sich den traditionellen Funktionalisierungs- und Darstellungsver‐ fahren verweigert und das Böse so auf neue Art und Weise ästhetisch erfahrbar macht. Karl Heinz Bohrer nahm die im Vergleich zu anderen europäischen Litera‐ turen deutlich radikalere Entwicklung der französischen Literatur zum Anlass, <?page no="34"?> 58 Karl Heinz Bohrer: »Das Böse - eine ästhetische Kategorie? « (s. Anm. 20). 59 Karl Heinz Bohrer: »Die Ästhetik des Bösen« (s. Anm. 20). 60 Schiller diskutiert hier die Frage, ob und warum ein per se hässliches oder widriges Sujet im Kunstwerk über die zunächst instinktive Abwehrreaktion hinaus auch positive Lustgefühle im Rezipienten zu erwecken vermag. Das scheinbar paradoxe Phänomen des Gefallens am Missfälligen (oder hier: Tragischen) wird über den bereits von Lukrez bemühten Vergleich mit einem Schiffbruch mit Zuschauern aufgelöst: Die ästhetische Distanz - in der Metapher das Wissen um die eigene körperliche Unversehrtheit - erlaubt eine ästhetische Betrachtung des Tragischen bzw. Missfälligen. So kann der Betrachter über Schrecken und Angst hinaus gleichermaßen von dem Dargestellten fasziniert sein. 61 Bohrer: »Die Ästhetik des Bösen« (s. Anm. 20), S. 539. 62 Ebd. das Phänomen des Bösen in der Kunst einer Revision zu unterziehen. In den Aufsätzen »Das Böse - eine ästhetische Kategorie? « (1985) 58 und »Die Ästhetik des Bösen: Oder gibt es eine böse Kunst? « (2007) 59 argumentiert er auf Basis einer Konzeption des Bösen, die es weniger als ethisches denn als ästhetisches Phänomen fasst. Es geht ihm dabei zuvorderst um eine Ablösung der Kategorie des Bösen vom ›Stigma‹ des Ethischen, welches verhindere, dass die Tendenzen der literarischen Moderne in ihrem vollen Potential erfasst werden könnten. Bohrer bemüht sich zunächst um die Klärung der Frage, warum ein an sich missfälliger Gegenstand einen Reiz ausübt. Dabei bezieht er sich zunächst u.a. auf Schillers Schrift Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), 60 um die Verwandtschaft der Kategorie des Bösen zu jener des Tragischen herauszustellen und so die rezeptions- und produktionsästhetischen Qualitäten des Bösen hervorzuheben, da sich auch bei der Betrachtung des bösen Gegen‐ stands das Gefühl der Erhabenheit über den Schrecken oder auch der Reiz des Erschreckens einstellen könne. Eben diese Qualitäten seien auf der inhaltlichen Ebene nicht zu finden, d.h. allein die provokante Beschreibung eines bösen In‐ halts könne nicht die eigentümliche Faszinationskraft des Bösen erklären. Viel‐ mehr sei der Ursprung des Gefallens am Bösen im Reiz der Stimmung, der Atmo‐ sphäre zu lokalisieren; es handele sich um die Herstellung einer Atmosphäre, einer Stimmung des Unerklärbaren, des außerhalb sozialer Koordinaten Seienden. Die Herstellung des Bösen qua Phantasie des Unend‐ lich-Vagen. Das ist unser eigentliches Thema: die mögliche Beteiligung der künstler‐ ischen Phantasie am Bösen, nicht bloß das nicht leugbare Faktum böser Inhalte in der Literatur. 61 Es geht also um die Schaffung eines - wie Bohrer es mit Rekurs auf Kierkegaard formuliert - Zustands »radikalästhetischer Stimmung«, 62 in dem mora‐ lisch-ethische Werte abwesend sind und das Böse allein durch seine schiere 1 Theoretische Vorüberlegungen 34 <?page no="35"?> 63 Edgar Allan Poe: Selected tales. Penguin/ Godfrey Cave ed. London, New York 1994, S. 360. 64 Vgl. Bohrer: »Das Böse - eine ästhetische Kategorie? « (s. Anm. 20), S. 463. Präsenz die Phantasie vereinnahmt. Dies veranschaulicht er anhand einer Pas‐ sage aus E.A. Poes The Imp of the Perverse, die in besonderer Weise die präsen‐ tische Wirkmacht des Reizes am Bösen illustriere: We stand upon the brink of a precipice. We peer into the abyss - we grow sick and dizzy. Our first impulse is to shrink from the danger. Unaccountably we remain. By slow degrees the sickness and dizziness and horror become merged in a cloud of un‐ namable feeling. By gradations, still more imperceptible, the cloud assumes shape, as did the vapour from the bottle out of which arose the genius in the Arabian Nights. But out of this our cloud upon the precipice’s edge, there grows into palpability a shape, far more terrible than any genius or any demon of a tale, and yet it is but a thought, although a fearful one, and one which chills the very marrow of our bones with the fierceness of the delight of its horror. It is merely the idea of what would be our sensations during the sweeping precipitancy of a fall from such a height. And this fall - this rushing annihilation - for the very reason that it involves that one most ghastly and loathsome of all the most ghastly and loathsome images of death and suffering which have ever presented themselves to our imagination - for this very cause we do now the most vividly desire it. 63 Die Leistung des Künstlers bestehe nun in der Generierung einer Stimmung, welche Resultat der Imagination sei. Die Literatur produziere dann ein ästheti‐ sches Böses, wenn sie - wie in Poes Darlegung der Gedanke des Absturzes, »this rushing annihilation« - das eigentümlich lustvolle Gefühl der Entgrenzung er‐ möglicht, den Leser also in eben einen solchen Zustand zu versetzen vermag: Und es sei erst die Verfasstheit des Textes, die Sprechweise, die jenes ästhetische Böse kreiert, das jeglichen Zeitbezug sprenge und in seiner Plötzlichkeit jene Vorstellung des »Unendlich-Vagen« auslöse, die laut Bohrer charakteristisch für es sei. Halten wir also fest: Das ästhetisch Böse zeichnet sich durch das Vorherr‐ schen einer besonderen Stimmung, seine Momenthaftigkeit, die Absenz jegli‐ cher ethischen Bezüge, die Möglichkeit der Bewusstseinsentgrenzung aus. Es handelt sich dabei nicht um einen Inhalt, der per se als »böse« zu bezeichnen wäre, sondern um eine Imagination, die erst durch ihre besondere semantische Organisation, d.h. ihre Verfasstheit, generiert werde. 64 Dieser Konzeption des Bösen liegt damit also ein Ästhetikbegriff zugrunde, der gemäß dem Prinzip der aisthesis, d.h. der sinnlichen »Wahrnehmung«, den Akzent auf die Erlebnisqualitäten, d.i. die Intensität und Plötzlichkeit, des Phä‐ nomens verlegt. Es wird damit die ästhetische Dimension betont, d.h. eine Lek‐ 1.1 Böses schreiben - böses Schreiben 35 <?page no="36"?> 65 Arnim Regenbogen/ Uwe Meyer (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe (s. Anm. 15), S. 72. 66 Vgl. Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur (s. Anm. 23), S. 39. Zur Unterscheidung von kontemplativer, korresponsiver und imaginativer ästhetischer (Natur-)Erfahrung: »Das menschliche Gefallen an der Natur hat im Lauf der Zeit viele Erklärungen gefunden. Drei Grundmodelle sind es, denen sie auf immer neue Weise entsprechen. [...] Im ersten Modell ist die Wahrnehmung des Naturschönen ein Akt der kontemplativen Abwendung von den Geschäften des Lebens, im zweiten ein Akt der korresponsiven Vergegenwärti‐ gung der eigenen Lebenssituation, im dritten ein Akt der imaginativen Deutung des Seins in der Welt.« (Ebd., S. 18). Doch betont Seel auch, dass der Akt der ästhetischen Wahrnehmung letztendlich nicht entweder dem korresponsiven oder der imaginativen bzw. dem kontemplativen Modus entspricht, sondern dass alle drei Formen gleicher‐ maßen ineinander spielen. 67 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz. Berlin: Suhrkamp 2012; ders./ Joachim Schulte: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main 2004. 68 Marcus Düwell: »Ästhetische Erfahrung und Moral«. In: Dietmar Mieth/ Dominik Bert‐ rand-Pfaff/ Regina Ammicht-Quinn (Hg.): Erzählen und Moral. Narrativität im Span‐ nungsfeld von Ethik und Ästhetik. Tübingen 2000, S. 11-35, hier: S. 17. türe befördert, die den Text zuvorderst als Kunstwerk begreift, das außerhalb des lebenspraktischen Bezugs rezipiert wird. Damit trägt er der Auffassung von »Ästhetik [als] Theorie reiner Anschauung des ästhetischen Gegenstandes, der keiner Nützlichkeitsbeziehung, sondern in erster Linie um der Anschauung selbst willen gegeben ist«, 65 Rechnung. Dabei vollzieht sich für den Leser, was Martin Seel in Bezug auf die Wahrnehmung des Naturschönen neben der kor‐ responsiven und imaginativen als »kontemplative ästhetische Erfahrung« be‐ schreibt: Der Wahrnehmende distanziert sich im Moment der Kontemplation vom wahrgenommenen Gegenstand, der ihm nunmehr ohne Referenz und (Zeit-)Bezug zur Außenwelt in all seiner ›Materialität‹ erscheint. 66 Es wird also ein Effekt erzielt, den man mit Gumbrecht auch »präsentisch« nennen könnte. 67 Das Böse ist also insofern als eine ästhetische Kategorie beschreibbar, als es im Kunstwerk der ästhetischen Erfahrung zugänglich gemacht wird. Und diese hat »eine reflexive Dimension, insofern sie uns mit möglichen Sichtweisen der Welt, mit Erlebnisweisen und Empfindungsqualitäten konfrontiert«. 68 Doch damit sich ein solcher Präsenzeffekt einstellt, muss der wahrgenommene Ge‐ genstand bzw. das rezipierte Werk von einer bestimmten Beschaffenheit sein. Konkret in Bezug auf den literarischen Text als Kunstwerk bedeutet dies: Es muss bestimmte Schreibweisen geben, Techniken der literarischen Praxis - oder um mit Bohrer zu sprechen: »semantische Organisationen« von sprachlichen Zeichen -, die das böse Sujet inkommensurabel machen. »Inkommensurabel« insofern, als es nicht mehr als Komplementärkraft des Guten verstanden werden 1 Theoretische Vorüberlegungen 36 <?page no="37"?> 69 So heißt es bei Kapferer: »Vorerst blieben die Bemühungen um eine ›Theorie des Bösen‹ programmatische Entwürfe und kamen über vage Andeutungen nicht hinaus.« (Nor‐ bert Kapferer: »Das ›Böse‹ in der (post)modernen Kultur« [s. Anm. 18], S. 200). 70 Erich Dauenhauer (Hg.): Das Böse als literarische Vorlage (s. Anm. 19), S. 39f. Für den hier zitierten Beitrag ist kein Autorenname angegeben. Daher ist im Nachweis lediglich der Name des Herausgebers verzeichnet. 71 Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen (s. Anm. 17). 72 So z.B. in der 1957 erschienenen philosophischen Abhandlung L’Érotisme. kann und so im Kontext des Gesamtwerks durch eine ethisch positivierende Interpretation aufhebbar wäre. Mit Bohrers Theorie des Bösen als ästhetischer Kategorie wird der Fokus also auf die Darstellungsebene gelegt, was zunächst eine von ethischen Aspekten unvorbelastete Perspektive eröffnen soll. Dieser Versuch, das Böse aus einem ethisch-moralisch und metaphysisch konstruierten Bezugssystem herauszu‐ lösen und im Rahmen der Ästhetik theoretisch neu zu begründen, ist jedoch nicht ganz unproblematisch - strittig ist er vor allen Dingen aufgrund der Un‐ bestimmtheit des von Bohrer entwickelten Begriffs. 69 Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, inwiefern das Böse überhaupt als rein ästhetische Kategorie ohne ethischen Bezugsrahmen gedacht werden kann. So heißt es auch im Themenheft Das Böse als literarische Vorlage, hg. von Erich Dauenhauer: »Die Annahme eines referenzlosen Bösen ist allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten belastet. Schon die Annahme selber setzt eine göttliche Perspektive voraus. Weiterhin widerspricht das Apriori aller real- und geistesgeschichtlichen Erfahrung. […] ohne Referenz ist auch kein ästhetisch Böses denkbar.« 70 Selbst wenn der (kun‐ dige) Rezipient dem Werk mit dem Kant’schen »interesselosen Wohlgefallen« begegnet, was impliziert, dass ein Bewusstsein über die ästhetische Differenz vorhanden ist, bleibt fraglich, inwiefern diese »göttliche Perspektive« tatsäch‐ lich eingenommen werden kann. 1.1.2 Sabine Friedrich: Bohrer und Bataille revisited Auch Sabine Friedrich 71 unterzieht die Theorie Bohrers einer eingehenden Re‐ vision. In Ihrer Untersuchung zur Imagination des Bösen unternimmt sie den Versuch, die Theorie Bohrers mit der These der »dépense improductive« - der unproduktiven Verausgabung - George Batailles zu kombinieren bzw. auf Basis beider Theorien narrative »Modellierungen der Transgression« bei Laclos, Sade und Flaubert aufzudecken. Bataille, der sich u.a. in seinem Aufsatz La Littérature et le mal gleichfalls mit der Schule des Bösen auseinandersetzt, setzt das Phä‐ nomen des Bösen in Bezug zur Transgression, welche er auch in seinen übrigen Schriften zum Gegenstand der Untersuchung erhebt. 72 Das Konzept der Trans‐ 1.1 Böses schreiben - böses Schreiben 37 <?page no="38"?> 73 Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen (s. Anm. 17), S. 23. 74 Von einer vollständigen Aufhebung kann jedoch nicht die Rede sein: Die Überschrei‐ tung eines Verbots setzt dessen Kenntnis voraus. »Das Verbot und die Verletzung des‐ selben gehören aufs engste zusammen, denn durch die Überschreitung wird das Tabu paradoxerweise nicht negiert bzw. zurückgenommen, sondern findet in ihr eine Art souveräner Bestätigung« (Ansgar Nünning [Hg.]: Metzler Lexikon Literatur- und Kul‐ turtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart 5 2013, S. 55). 75 Vgl. Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen (s. Anm. 17), S. 23. 76 Ebd., S. 26. 77 Seine »Heterologie« entwickelt Bataille vornehmlich in den Schriften L’Anus solaire und La Structure psychologique du fascisme. Eine bündige Beschreibung des Bataille’‐ schen Heterogenen liefert auch Friedrich, wobei sie herausstellt, dass der Begriff des Heterogenen nicht eindeutig bestimmt ist, sondern durchaus ambivalente Strukturen aufweist. D.h. einerseits definiert es sich als das Andere des Homogenen, andererseits als »Kombination zweier gegensätzlicher Phänomene, wie des Hohen, Tragischen, mit dem Niederen, Komischen, Anstoßenden« (vgl. ebd., S. 30-32, hier: S. 31). 78 Ebd., S. 30. gression ist mit einem kulturanthropologischen Ansatz zu beschreiben. Archa‐ ische Gesellschaften zeichnen sich durch die Ausbildung zweier Bereiche aus: einen produktiven Bereich der Arbeit, welcher - um sein Fortbestehen zu ga‐ rantieren - mit Verboten belegt ist, sowie einen Bereich der nutzlosen Veraus‐ gabung, der rituellen »sinnlosen Energieverschwendung«, welcher der Trieb‐ eindämmung dient. 73 In diesem Zusammenhang sind rituelle Opferungen beispielsweise als solche Verausgabungshandlungen zu verstehen, da sie die Lust an der Gewalt, die normalerweise aus dem rationalen Bereich der Produk‐ tivität ausgegrenzt wird, in momentaner Aufhebung 74 des Tabus kanalisieren und in der Überschreitung ekstatisch als das Heilige erfahrbar machen. 75 Im Christentum ist der Begriff des Heiligen jedoch nicht länger an den Mo‐ ment der Ekstase, der Lust und der Gewalt gekoppelt. Der Bereich der Sexualität, der für Bataille jedoch unauflösbar mit der Erfahrung des Heiligen verbunden ist, wird vollständig ausgegrenzt, die Transgression wird nur noch als »Sünde« begriffen. Besonders problematisch wird die Erfahrung der Transgression dann in der Moderne mit dem Tod Gottes, denn die Überschreitung setzt schließlich das Anerkennen einer metaphysischen Kraft voraus; die Sünde kann nicht mehr Sünde sein, wenn sie sich nicht auf etwas Göttliches bezieht: »Die Transgression öffnet sich in die Leere, die der Tod Gottes hinterlassen hat«. 76 Das Transgressive manifestiert sich nunmehr im Heterogenen: 77 Damit meint Bataille vornehmlich die »›niedere[n]‹ Phänomene, die von der homogenen - bürgerlichen - Welt als ekelerregend und anormal ausgegrenzt werden«. 78 Damit lässt sich nun der Bogen zum Bösen schlagen, welches per definitionem auch die abgründigen, tabuisierten, als krankhaft und moralisch verwerflich stigmatisierten Gegen‐ 1 Theoretische Vorüberlegungen 38 <?page no="39"?> 79 Georges Bataille: La Littérature et le mal. In: ders. : Œuvres complètes. Bd. 9. Paris: Gal‐ limard 1993, S. 169-316, hier: S. 246. 80 Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen (s. Anm. 17), S. 32f. 81 Ebd., S. 42. stände bezeichnet. Für Bataille markiert das Böse jedoch - neben der Erotik - einen Bereich der Überschreitung. Es agiert, wie er in La Littérature et le mal anhand der Werke Sades veranschaulicht, als »Entfesselung der Leiden‐ schaften« (»déchaînement des passions«) 79 und somit als das Andere der Ver‐ nunft, als Kraft, die vorherrschende Diskurse zerlegen und revoltieren kann, indem es präexistente rationalistische Diskurse (das Homogene) aufgreift und gleichzeitig zersetzt. Darin besteht laut Friedrich auch der Ertrag der Theorie der Transgression für eine Konzeption des Bösen, wie es sich in der Ecole du mal manifestiert: Durch die transgressive Dynamik werden die zugrundeliegenden Begriffe entsub‐ stantialisiert und ihre Scheinhaftigkeit bloßgelegt. Das impliziert jedoch zugleich, daß sich das transgressive Böse nur auf der Kehrseite derjenigen Diskurse entfalten kann, deren Grenzen es zugleich sprengt. Die Transgression entfaltet sich in Form der De‐ konstruktion, und aus der Dekonstitution tradierter Diskurse konstituiert sich ein ambivalentes, substitutives Böses. 80 Friedrich zufolge bietet Bataille damit jedoch nur ein Sprungbrett, um auch die ästhetische Dimension des Bösen beschreibbar zu machen, an der es Bohrer gelegen war (ohne dabei jedoch - wie bereits hervorgehoben wurde - konkrete Ansätze zu liefern, wie sich dieses ästhetische Böse genau formiert). Der Be‐ rührungspunkt beider Theorien liegt im Moment der Ekstase, die bei Bohrer jedoch als Intensität bzw. imaginative Entgrenzung gedacht wird. Während Ba‐ taille also die Ästhetik des Bösen größtenteils ausklammert - dabei jedoch einen inhaltlichen Ansatz zur Erfassung des Phänomens des Bösen bietet -, »lehnt Bohrer sozialhistorische oder funktionshistorische Erklärungen literarischer Konstrukte grundsätzlich ab, weil diese dadurch nicht als autonome ästhetische Akte verstanden würden«. 81 Friedrich sucht nun, einen »Mittelweg« einzuschlagen, indem sie ihre Text‐ analysen dreischrittig ausrichtet: Zunächst geht es ihr um eine inhaltliche Ana‐ lyse des Bösen auf der histoire-Ebene, d.h. sie sucht, das im Text repräsentierte Konzept des Bösen zu klassifizieren, z.B. als Profanation oder Sünde, und seine strukturelle Bedeutung für den Gesamthandlungsverlauf herauszuarbeiten. Im Zuge der Betrachtung der histoire-Ebene soll zudem Bohrers Theorie insofern fruchtbar gemacht werden, als die Semantiken des Bösen im Text identifiziert werden. In einem zweiten Schritt gelte es nun, die Diskursebene einer Unter‐ 1.1 Böses schreiben - böses Schreiben 39 <?page no="40"?> 82 Ebd., S. 43. 83 Ebd., S. 47. suchung zu unterziehen, d.h. das Augenmerk liege nun auf der Ebene der Ver‐ textungsstrategien. Die »Figurationen des Bösen«, die sich inhaltlich be‐ schreiben lassen, unterscheidet sie hier deutlich von einer »transgressiven Bewegung«, »die sich nun nicht mehr auf ein diskursiv bestimmbares Böses als Objekt der Darstellung bezieht, sondern die durch die spezifischen ästhetischen Inszenierungsverfahren die Kehrseite, die Prämissen bzw. die blinden Stellen des Diskurses, welcher der Figuration des Bösen zugrunde liegt, aufdeckt«. 82 Das, was also zunächst mithilfe tradierter Diskurse beschreibbar ist, wird in seiner defigurativen Potenz aufgedeckt, wodurch sich eine neue Form des Bösen konstituiert, ein ästhetisches Böses, welches wie das Heterogene Batailles Frag‐ mente bestehender Diskurse rekonfiguriert. Mit ihrem Beitrag verleiht Friedrich Bohrers Theorie des Bösen als ästheti‐ sche Kategorie ein deutlich festeres Fundament, indem sie sie mit Bataille und der Diskursanalyse in Verbindung bringt. Demgemäß ist das Böse bei Friedrich vor allen Dingen ein aggressives Konstrukt, das subversiv bestehende Diskurse unterläuft und damit vielleicht dem Konzept der Literatur als Gegendiskurs des frühen Foucault nahekommt. Die Methodik, die sie zur Analyse eines ästheti‐ schen Bösen entwickelt, revidiert überdies Bohrers Theorie insofern, als das böse Sujet hier miteinbezogen wird - was eine Notwendigkeit zu sein scheint. Sie verweist auf die Ambiguität des Begriffes der »Ästhetik des Bösen«, der per se schon zweierlei impliziert: Geht es um die Ästhetisierung des Bösen oder ist die Ästhetik selbst böse? So argumentiert sie bezüglich der Schule des Bösen: »Einerseits wird immer wieder betont, daß es nicht um die dargestellte Thematik des Bösen geht, sondern um den Status der Fiktion; andererseits aber ist für den Kanon der Ecole du mal doch zunächst ein inhaltliches Kriterium entscheidend. Laclos, Sade und Flaubert werden dieser Tradition zugerechnet, weil sie etwas Böses darstellen.« 83 1.1.3 Die Ästhetik des Bösen nach Peter-André Alt: Wiederholung, Transgression und Paradoxie Die Unmöglichkeit, die Ästhetik des Bösen als autonome, von moralisch-ethi‐ schen Referenzen freigestellte Kategorie zu denken, betont auch Peter-André Alt. Hier verortet Alt auch die Problematik des Bohrer’schen Ansatzes: Wie kann ein (literarisches) Phänomen - das Böse - überhaupt als solches wahrge‐ 1 Theoretische Vorüberlegungen 40 <?page no="41"?> 84 Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen (s. Anm. 16), S. 533f. 85 Ebd., S. 535. 86 Ebd., S. 536. 87 Damit meint Alt »Zuschreibungsleistungen kultureller Diskurse, die das Unbekannte als Böses positionieren« (ebd.). Also ein Böses, was in Abhängigkeit von aktuellen kul‐ turellen Faktoren zu denken ist, und damit ein historisch variables Böses bzw. Fremdes ist. 88 Ebd. nommen werden, wenn es, um in seiner Evidenz zum Tragen zu kommen, der Überschreitung eines moralisch-ethischen Bezugs bedarf ? Anders als oft nahegelegt, stellt die Ästhetik des Bösen keine Autonomieästhetik dar. Die Akte der Entgrenzung, die sie produziert, sind nur dort wahrnehmbar, wo die Grenze, die sie überschreiten, bewußt gehalten wird. Auch der böse Text sieht sich, so scheint es, durch das moralische System beherrscht, das er negiert. 84 Alt verweist - wie die Mehrheit von Bohrers Kritikern - darauf, dass ein solcher Ansatz, der die Ästhetik und den Autonomieanspruch absolut setze, die Bedeu‐ tung des Rezeptionsaktes, der auch Reflexionen moralischer Natur involviert, verkenne; es gelte, »die Autonomie, die das Böse im Prozeß der literarischen Imagination und ihrer Modellierung durch die Fiktion gewinnt, von der mora‐ lischen Prägung, die in der ästhetischen Erfahrung mitwirkt« 85 , zu unter‐ scheiden. Demgemäß sucht Alt, dies in seiner Untersuchung der Ästhetik des Bösen insofern zu berücksichtigen, als er voraussetzt, dass in der ästhetischen Wirkung zuallererst ein »herausfordernder, regelwidriger Grundzug durch die Verletzung moralischer Normen« 86 zu Tage tritt, d.h. die ästhetische Wirkung des Bösen beruht auf der Alteritätserfahrung des vermittelten Gegenstands bzw. seiner Fremdheit sowohl als das kulturell vermittelte »Andere« 87 als auch das a-historische, »objektiv« fremdartige Böse, das sich im Text ästhetisch als »Pri‐ mitivismus, Gewalt, Barbarei, Terrorismus« 88 modelliert. Die besondere Leis‐ tung der Literatur seit dem 18. Jahrhundert liege aber nun besonders im Spiel von Alterität und Identität bzw. in der Familiarisierung eines primär als fremd‐ 1.1 Böses schreiben - böses Schreiben 41 <?page no="42"?> 89 Dieser Trend lässt sich vornehmlich an der zunehmenden Anzahl von Verbrecherer‐ zählungen ablesen (u.a. bei Balzac, Maupassant, Huysmans, Zola) und dem wachsenden Interesse an der Verbrecherpsyche, wobei zunehmend von Interesse war, aufzudecken, wie das vormals als »monströs« Begriffene nunmehr auch als dem Menschen Inhä‐ rentes verstanden werden kann. Auch Foucault hebt die Besonderheit dieser Entwick‐ lung vor: »Cette curiosité pour le criminel n’existait absolument pas au XVIIe siècle où il s’agissait simplement de savoir si l’inculpé avait réellement fait ce qu’on lui reprochait. Ceci établi, le tarif était fixe. La question : Qui est cet individu qui a commis ce crime? est une question nouvelle.« (Michel Foucault: »Entretien sur la prison: le livre et sa méthode«. In: ders.: Dits et écrits. 1954-1988. Édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald. Bd. II. 1970-1975. Paris: Gallimard 1994, S. 740-753, hier: S. 750). Auf diese neuartige Entwicklung unter Berücksichtigung Foucaults verweist auch Florian Beckerhoff: Monster und Menschen. Verbrechererzählungen zwischen Literatur und Wissenschaft (s. Anm. 41), S. 10. 90 Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen (s. Anm 16), S. 537. 91 »Der Blitzschlag deutet bereits in den ersten beiden Fassungen indirekt auf eine ›böse‹, die Tugend bestrafende Natur hin« (Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen [s. Anm. 17], S. 114). artig empfundenen Bösen. 89 Und eben dies sei die Grundlage der eigentümlichen Wirkung des Bösen, die zwischen Andersartigkeit und Intimität, zwischen Ab‐ stoßung und Anziehung oszilliere. Strukturelle Formprinzipien, in denen sich die Alterität des Bösen textuell modellieren lasse, seien Alt zufolge wiederum die »Muster[n] der Paradoxie, der Zweideutigkeit und Wiederholung, des Ex‐ zesses und der Grenzverletzung« 90 . Dass es sich dabei um grundlegende Strukturmuster handelt, die das Böse im Text formal konstituieren, sucht er mittels einer Analyse paradigmatischer li‐ terarischer Texte zu veranschaulichen. So sei der Roman Justine, ou les Malheurs de la vertu (1791) des Marquis de Sade ein Beispiel dafür, wie sich das Struktur‐ prinzip der Wiederholung als grundlegend für die Imagination des Bösen er‐ weise. Das Motiv der verfolgten Unschuld dient in diesem Werk der Pervertie‐ rung sämtlicher gültiger Moralcodes: Die mit vierzehn Jahren verwaiste Justine wird ein ums andere Mal zum Opfer von Misshandlung, Folter und Demütigung, ohne dass sie sich dabei durch das Festhalten an der Tugend jemals aus dem brutalen Kreislauf der ihr widerfahrenden Grausamkeiten befreien könnte. In der Welt, die hier gezeigt wird, siegt allein das Laster: Während ihre Peiniger sowie ihre tugendlose Schwester Juliette (deren Geschichte in Histoire de Juliette, ou les Prospérités du vice, 1796 erzählt wird) trotz (oder gerade wegen) ihrer ruchlosen Grausamkeiten sozial aufsteigen und prosperieren, wird Justine am Ende vom Blitz erschlagen und die Tugend damit endgültig als vergeblich ab‐ gestraft. 91 Die Unausweichlichkeit des Bösen, der naturhafte Trieb zum Verbre‐ chen, die die Basis der Sade’schen Philosophie bilden, fänden nun ihre Entspre‐ chung in der narrativen Organisation des Werkes: 1 Theoretische Vorüberlegungen 42 <?page no="43"?> 92 Peter-André Alt: »Wiederholung, Paradoxie, Transgression« (s. Anm. 16), S. 541. 93 Damit wendet er sich explizit gegen die Deutung, die Roland Barthes, Georges Bataille und Hartmut Böhme vorschlagen (vgl. Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola. Paris 1980 [1971]; Georges Bataille: Die Literatur und das Böse. Emily Brontë, Baudelaire, Michelet, Blake, Sade, Proust, Kafka, Genet [s. Anm. 19]; Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt am Main 1988, S. 279-307). 94 Peter-André Alt: »Wiederholung, Paradoxie, Transgression« (s. Anm. 16), S. 542. 95 Vgl. Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen (s. Anm. 17), S. 114. 96 Vgl. Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen (s. Anm. 16), bes. S. 239-310. 97 »Mephisto ist der Kuppler und Beobachter, der Treiber und Bremser, der keine ge‐ schlossene Gestalt gewinnt, sondern aus unterschiedlichen Identitätselementen zu‐ sammengesetzt scheint, deren Bricolage-Charaker die historisch gewachsene Vielfalt mythischer Inszenierungen des Bösen vor Augen führt.« (Peter-André Alt: »Wieder‐ holung, Paradoxie, Transgression« [s. Anm. 16], S. 553). Dem Spiel der ewigen Reproduktion [des Bösen] gleicht das ästhetische Prinzip der Erzählung, das die Protagonistin in identischen Situationen der moralischen Gefähr‐ dung zeigt. Monoton sind nicht nur die Erfahrungen, die Sades Heldin durchläuft; monoton ist auch die Sprache, die Orgien, Vergewaltigungen, Folterungen und Mord‐ taten mit durchgehender Nüchternheit und Kälte schildert. 92 Alt betont hier, es sei eben nicht die Geste der Überschreitung, 93 die bei Sade die Erzählung bestimme, sondern »die serielle Logik automatisierter Wiederho‐ lung«. 94 Eine Beobachtung, die auch Sabine Friedrich macht, obgleich sie mit dem Transgressionsmodell Batailles arbeitet. 95 Damit wird die Wiederholungs‐ struktur als essentielles Formkriterium des Bösen im literarischen Text etabliert, wie Alt auch an weiteren Werken (Blake, Barlach, Sartre, Mann, Mirbeau, Süß‐ kind, Huysmans, Sacher-Masoch, Wilde) nachzuweisen sucht. 96 Erst durch die narrative Reproduktion des Ereignisses, die Unendlichkeit und Unausweichlich‐ keit suggerierende Repetitio wird der Gegenstand wahrhaft »böse«. Auf die Be‐ deutsamkeit dieser Feststellung wird in den folgenden Kapiteln noch detail‐ lierter einzugehen sein. Neben die Wiederholungsstruktur treten darüber hinaus die Formen der Pa‐ radoxie und der Transgression als konstitutive Grundfiguren des Bösen. Erstere ließe sich besonders an Goethes Mephisto veranschaulichen, der als Exemplum des Heterogenen (nicht im Bataille’schen Sinne), des unsteten, permanent im Wandel begriffenen Nicht-Greifbaren das Böse als Paradoxie erfahrbar macht. Mephisto könne sich nur durch widersprüchliche Begrifflichkeiten und Bestim‐ mungen definieren, ohne dabei jemals eine konkrete Gestalt zu gewinnen (und dies sowohl auf begrifflich-konzeptueller Ebene als Vertreter des Prinzips des »malum« sowie auf rein textueller Ebene, insofern als Mephisto wortwörtlich die Gestalt wechselt). 97 Damit wird das durch Mephisto inkarnierte Prinzip des 1.1 Böses schreiben - böses Schreiben 43 <?page no="44"?> 98 Friedrich resümiert unterschiedliche historische Ansätze, den ontologischen Status des Bösen zu definieren: Dazu zählt einerseits die Bestimmung des Bösen als mit dem Guten konkurrierendes Prinzip (damit wird es substantiell gedacht) bzw. als Nicht-Sein (und somit ex negativo als Privation). Daneben tritt der Versuch, das Böse in Unabhängigkeit von dem traditionellen Dualismus von Gut und Böse als »okkulte[n] Macht« zu fassen, die sich »jeder rationalen Erfaßbarkeit entzieht. Das Böse erscheint hier als ein Schau‐ dern verursachendes, unergründbares Phänomen, das sich nicht präzise diskursiv de‐ finieren, sondern nur auf eine sehr diffuse Weise erahnen und metaphorisch um‐ schreiben läßt. Das Böse steht für das inkommensurable ›ganz Andere‹« (Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen [s. Anm. 17], S. 10). 99 Peter-André Alt: »Wiederholung, Paradoxie, Transgression« (s. Anm. 16), S. 557. 100 Vgl. ebd., S. 560. 101 E. A. Poe: Selected tales (s. Anm. 63), S. 313. 102 Ebd., S. 313. Bösen weniger in dualistischer Abhängigkeit zum Guten, oder auch ex negativo gedacht, sondern vielmehr als irrationale Kraft, die die Regeln der Logik und traditionelle diskursive Bestimmungen unterläuft. 98 Anders als die ›konventio‐ nelle‹ Allegorie des Teufels (und damit der Sünde) gewinne Goethes Mephisto eine neue subversive Potentialität, die sich in der Figur der Paradoxie modelliert: »Die ästhetische Erfahrung des Bösen vermittelt sich über die Dekonstruktion jeglicher Kohärenz im Entwurf einer Multipersonalität, welche die paradoxe Beschaffenheit des Höllenboten als Spielart seiner auf neue Art bedrohlichen Ubiquität ausweist«. 99 Das dritte Grundmodell, das Alt vorschlägt, ist schließlich die Transgression, die Überschreitungsgeste. Wie auch Bohrer sich schon auf Edgar Allan Poe be‐ rief, verweist er im Zusammenhang damit auf dessen Erzählung The Black Cat (1843), welche die Transgressionsbewegung exemplarisch veranschauliche. In der Retrospektive erläutert ein verurteilter Krimineller kurz vor seiner Hinrich‐ tung seinen Werdegang vom vormals verantwortungsbewussten Ehemann und liebevollen Tierliebhaber zum kaltblütigen, grausamen Mörder. Die Ich-Per‐ spektive gestattet somit einen beunruhigenden Blick in die Tiefen der Verbre‐ cherpsyche bzw. in die Genese des Verbrecherbewusstseins, welche sich in einer kontinuierlichen Überschreitungsbewegung vollzieht und so mit dem novel‐ listischen Grundmuster der dramatischen Zuspitzung korrespondiert. 100 Der an‐ fangs noch sittsame Protagonist verfällt dem Alkohol und verliert im Zustand der Trunkenheit zunehmend die Beherrschung - bis er eines Tages seinen Lieb‐ lingskater Pluto zu quälen beginnt. Es treibt ihn dabei eine dem Erzähler zufolge primitive, menschliche Kraft (»one of the primitive impulses of the human heart«) an, der Geist der Perversität (»spirit of perverseness«). 101 Bewegt von diesem Geist, Böses zu tun, bringt er den Kater schließlich kaltblütig (»in cold blood«) 102 um, woraufhin kurze Zeit später ein Kater auftaucht, der bis auf einen 1 Theoretische Vorüberlegungen 44 <?page no="45"?> 103 Ebd., S. 318. 104 Vgl. Peter-André Alt: »Wiederholung, Paradoxie, Transgression« (s. Anm. 16), S. 558. 105 Ebd., S. 560. kleinen hellen Fleck am Hals dem toten Kater bis zum Verwechseln ähnlich sieht. Die anfängliche Zuneigung, die er dem Tier entgegenbringt, wandelt sich jedoch schnell in Hass und in die Unmöglichkeit, die mahnende Präsenz des Katers ertragen zu können. Durch die permanente Anwesenheit des Tieres wortwört‐ lich in den Wahnsinn (»madness«) getrieben, ergreift der Protagonist schließlich eine Axt, um dem Kater den Garaus zu machen, doch wirft sich seine Frau schützend dazwischen und wird somit zum Opfer des rasenden Erzählers, der ihr besessen von einer »rage more than demoniacal« den tödlichen Axthieb verabreicht. 103 Sofortig setzt er alles daran, die Leiche seiner Frau zu verstecken und beglückwünscht sich selbst ob seiner exzellenten Idee, sie im Keller des eigenen Hauses einzumauern. Zwar leicht irritiert angesichts des Verschwin‐ dens des Katers, der seit dem Mord an seiner Frau nicht mehr gesehen ward, doch selbstsicher aufgrund seiner kriminellen Gewitztheit, tritt der Erzähler auch dann noch selbstbewusst auf, als die Polizei unangekündigt sein Haus zu durchsuchen beginnt. Zunächst scheint das ›Grab‹ im Gemäuer übersehen zu werden, doch werden die Anwesenden bald eines klagenden Lautes aus der Kellerwand gewahr. Man macht sich unverzüglich daran, die Wand aufzubre‐ chen und schließlich wird so die Leiche mitsamt dem Kater, den der Erzähler versehentlich mit eingemauert hatte, gefunden. Wie aus der Nacherzählung der Kurzgeschichte ersichtlich wird, vollzieht sich die Bewegung des Bösen in einer graduellen Transgressionsbewegung: Folter des einstmals geliebten Katers Pluto, Mord an eben jenem und schließlich Mord an der Ehefrau. Und diese Transgression sei notwendigerweise an einen moralischen Normhorizont gebunden, 104 da jede Überschreitung einer Grenze bedarf, um überhaupt als solche wahrgenommen zu werden. Diese Limitie‐ rungen, meint Alt zudem, scheinen in The Black Cat kontinuierlich neu gesetzt, nur um schließlich wieder überschritten zu werden. Deutlich werde hier auch, worin der Unterschied zu der Wiederholungsfigur besteht, die das Œuvre Sades charakterisiert: Das Böse bleibt bei Poe auf ein Gutes bezogen. »Anders als bei Sade bleibt das Böse in Poes Geschichte an eine Grenzverletzung und Grenz‐ überschreitung geknüpft. Wo Sades Helden die Geltung der Moral programma‐ tisch negieren und moralische Selbstverpflichtung im Zeichen zynischer Ver‐ nunft als die sexuell unbefriedigendste Form des menschlichen Egoismus deuten, bleibt die gute Gegenwelt des Bösen bei Poe in Kraft.« 105 Die eigentüm‐ liche Korrespondenz von moralischer Transgression und formal-struktureller Überschreitungsbewegung der Novelle macht das Böse ästhetisch erfahrbar 1.1 Böses schreiben - böses Schreiben 45 <?page no="46"?> bzw. nachvollziehbar - es lässt sich in diesem Sinne vom Bösen als ästhetischem Phänomen sprechen. 1.1.4 Zwischenfazit Das Konzept Bohrers bringt den Vorteil, das Phänomen des Bösen nicht allein als abstrakte, ethische Kategorie zu begreifen, sondern vielmehr als spezifisch literarisches Produkt. Gleichzeitig ist eben jener Moment der Absolutheit des imaginativen Bösen einer, der sich vor allem durch seine Gegenwärtigkeit, durch die Präsenz der Stimmung auszeichnet und sich so theoretisch der Theorie Ge‐ orges Batailles annähert, der das Böse in Relation zur Transgression und zur unmittelbar-instantanen, ekstatischen Erfahrung setzt. Dass dieser Ansatz je‐ doch auch durchaus problematisch ist, haben die zahlreichen Kritiker Bohrers hinlänglich erläutert. Friedrich versucht demnach, das Konzept Bohrers mit dem Batailles zu kombinieren, indem sie zunächst Semantiken des Bösen im Text beschreibt und analysiert, um schließlich spezifische Vertextungsstrategien auf‐ zudecken, die diese inhaltlichen, textuellen Bestimmungen des Bösen defigu‐ rieren. Das damit in seiner Ganzheitlichkeit beschriebene literarische Phänomen des »ästhetischen Bösen« versteht sie als subversives, spezifisch literarisches Produkt, das bestehende Diskurse unterläuft und dekonstruiert. Auf ähnliche Weise versucht auch Alt, das Böse als spezifisch literarisches Phänomen zu be‐ schreiben, welches im Wesentlichen auf drei Grundmodelle zurückzuführen ist: Das literarische Böse manifestiert sich ihm zufolge in den Strukturmustern der Wiederholung, der Paradoxie und der Transgression. Das Böse in seiner Evidenz ist das Resultat einer Imaginationsleistung, bei der ein moralisch-ethisch vor‐ geschriebener Bedeutungskern erst durch kreative Formgebung zur Entfaltung kommt. Wie aus den Analysen sowohl Alts als auch Friedrichs deutlich wird, kann jedoch mitnichten von einem rein ästhetischen Bösen im Sinne einer au‐ tonomen Kategorie gesprochen werden. Vielmehr bezeichnet »ästhetisch« in diesem Zusammenhang den Status des relevanten Repräsentationsgegenstands (Ästhetik des Bösen als Ästhetisierung des Bösen) sowie die Tatsache, dass es sich um ein ›Kunstprodukt‹ handelt, das nicht allein von außerliterarischen moralisch-ethischen Wertvorstellungen abhängig ist und ausschließlich daraus seine Wirkmacht bezieht, sondern durch kreativ-imaginative Formgebung in der Literatur erst seinen besonderen Reiz entwickelt. Dieses Konzept des »äs‐ thetischen Bösen« vor dem Hintergrund literarisch-künstlerischer Provoka‐ tions- und Schockstrategien erweist sich als besonders relevant für jene Lite‐ ratur, die noch ihren Autonomiestatus zu beweisen hat. Besonders für Flaubert und Mirbeau, die noch gegen den an die Kunst herangetragenen Anspruch der 1 Theoretische Vorüberlegungen 46 <?page no="47"?> 106 Jean-Baptiste Du Bos: Réflexions critiques sur la poësie et sur la peinture. Genève: Slatkine 1967 [1719], S. 7. 107 Freilich begegnet nicht nur in der antiken Tragödie eine rezipientenorientierte Affekt‐ poetik, sondern auch in der Rhetorik: Neben docere sind auch delectare und movere erklärte Wirkziele der Redekunst. 108 Vgl. Simone Winko: »Emotion«. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart 2013, S. 158-159. 109 H.R. Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (s. Anm. 23), S. 79. moralischen Unterweisung anschrieben, zeigt sich eine Untersuchung spezifi‐ scher Strukturen, die den potentiell brisanten Darstellungsgegenstand in seiner ästhetischen Wirkmacht freisetzen, als besonders fruchtbar. 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 1.2.1 Das Böse und (ästhetische) Empfindungen L’art de la Poësie & l’art de la Peinture ne sont jamais plus applaudis que lorsqu’ils ont réüssi à nous affliger. 106 Jean-Baptiste Du Bos, Réflexions critiques sur la poësie et sur la peinture Nur wenn ein Kunstwerk in der Lage ist, uns zu betrüben, handelt es sich um ein wirklich gelungenes Kunstwerk, heißt es in den Réflexions critiques (1719) von Jean-Baptiste Du Bos. Damit wird die wirkungsästhetische Dimension des Kunstwirkens betont, die bereits in der aristotelischen Poetik fest verankert ist: die Ebene der Affekte bzw. der ästhetischen Empfindungen oder auch der Emo‐ tionen. Schon die antike Tragödie suchte, durch das Hervorrufen von phobos und eleos die Katharsis zu effektuieren, 107 und auch für die Literatur des 18. Jahrhunderts wurde das sentiment essentiell: Man denke dabei nur an Rousseaus Julie, ou la Nouvelle Héloïse (1761), Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) oder Samuel Richardsons Pamela, or Virtue Rewarded (1740). Gewiss wurde die Betonung des Emotionalen - besonders als Wirkziel der Dichtung - im Zuge der Ausbildung einer Autonomieästhetik zunehmend in Verruf gebracht, sodass es nunmehr in den Bereich der Trivialliteratur verbannt wurde. 108 Wie H.R. Jauß diesbezüglich bemerkt, »wird […] weithin ästhetische Erfahrung erst dann als genuin angesehen, wenn sie allen Genuß hinter sich gelassen und sich auf die Stufe ästhetischer Reflexion erhoben hat«. 109 Und dieser Genuss besteht gerade auch in der emotionalen Lektüre, im »selbst- und realitätsvergessene[n] Auf‐ 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 47 <?page no="48"?> 110 Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 2002, S. 14. 111 So ist bei Rainer Warning die Fiktion eine Form des »Als-ob-Handelns«, eine Form des »spielerische[n] Handeln[s]« (Rainer Warning: »Der inszenierte Diskurs. Bemer‐ kungen zur pragmatischen Relation der Fiktion«. In: Dieter Heinrich/ Wolfgang Iser [Hg.]: Funktionen des Fiktiven. München 1983 [=Poetik und Hermeneutik 10], S. 183- 206, hier: S. 191). Auch Kendall L. Walton bezeichnet den Raum der Fiktion als Ort des Spiels, an dem der Rezipient simulativ am imaginierten Geschehen teilhat: Er koexistiert mit fiktiven Gegenständen, Figuren, Sachverhalten in einer »make-believe world« (Kendall L. Walton: »Fearing Fictions«. In: The Journal of Philosophy 75 [1978], S. 5-27, hier: S. 19). 112 Vgl. z.B. Henrike F. Alfes: Literatur und Gefühl: emotionale Aspekte literarischen Schreibens und Lesens. Opladen: Westdt.- Verl. 1995; Evelyne Keitel: Von den Gefühlen beim Lesen. Zur Lektüre amerikanischer Gegenwartsliteratur. München 1996 (=American studies 71); Ingrid Kasten (Hg.): Machtvolle Gefühle. Berlin 2010; Claudia Benthien/ Anne Fleig/ Ingrid Kasten (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln 2000 (=Lite‐ ratur, Kultur, Geschlecht. Kleine Reihe 16); Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. Würzburg 2005; Clemens Schwender: Medien und Emotionen. Evolutionspsychologische Bausteine einer Medientheorie. Wies‐ baden 2 2006 (=DUV Sozialwissenschaft); Sandra Poppe (Hg.): Emotionen in Literatur und Film. Würzburg 2012 (=Film - Medium - Diskurs 36). gehen des Lesers in der Welt der Fiktion«, 110 in der spielerischen Partizipation an der fiktiven Welt. 111 So zeichnet sich besonders in den letzten Jahren ein neues Interesse an sprachlichen Kodierungen von Emotionen in der Literatur ab und den Möglichkeiten der Kunst, im Rezipienten eine emotionale Reaktion abzu‐ rufen. 112 Relevant für eine Ästhetik des Bösen wird diese Dimension des Kunstschaf‐ fens im Zusammenhang mit dem eigentümlichen Wirkungspotential des Bösen, das ihm allein schon durch das subversive Moment der Grenzüberschreitung eingeschrieben ist. Die Skandalerfolge der Schriftsteller Baudelaire (Les Fleurs du mal, 1857), Flaubert (Madame Bovary, 1857; Salammbô, 1862), Lautréamont (Les Chants de Maldoror, 1869) und J.-K. Huysmans (A rebours, 1884) belegen die außerordentliche Wirkung, die ihre Werke auf das bürgerliche Publikum haben sollten: rechtliche Strafverfolgung aufgrund von Beleidigung der öffentlichen Moral und/ oder Zensur. Wenn sich Flaubert von dem Vorwurf, mit Madame Bovary den Ehebruch zu befürworten, freisprechen konnte, dann nur mit dem Verweis darauf, dass es im Gegenteil um eine »excitation à la vertu par l’horreur du vice« ginge, und der Verfasser kaum dafür angeklagt werden könne, dass er 1 Theoretische Vorüberlegungen 48 <?page no="49"?> 113 Jules Sénard: »Plaidoirie du défenseur M e Sénard«. In: Gustave Flaubert: Œuvres. Édition établie et annotée par A. Thibaudet et R. Dumesnil. Bd. 1. Paris: Gallimard 1951, S. 634- 681, hier: S. 634. Der Argumentation Sénards zufolge kommt dem Text Flauberts damit die gleiche Funktion wie der vituperatio der antiken Rhetorik zu. Ferner beruft sich Sénard, Flauberts Anwalt, auf das ›Realismus-Programm‹ Stendhals, das jener in seinem Roman Le Rouge et le noir mithilfe der vielzitierten Spiegelmetapher formuliert: »Eh, monsieur, un roman est un miroir qui se promène sur une grande route. Tantôt il reflète à vos yeux l’azur des cieux, tantôt la fange des bourbiers de la route. Et l’homme qui porte le miroir dans sa hotte sera par vous accusé d’être immoral! Son miroir montre la fange, et vous accusez le miroir! Accusez bien plutôt le grand chemin où est le bour‐ bier, et plus encore l’inspecteur des routes qui laisse l’eau croupir et le bourbier se former.« (Stendhal: Le Rouge et le noir. Chronique de 1830. Préface, commentaires et notes de Michel Crouzet. Paris 1997, S. 362). Die dem Versuch, das Hässliche und Obs‐ zöne in der Kunst zu legitimieren, zugrundeliegende Argumentationslogik (einerseits die moralische Unabhängigkeit der Kunst, andererseits der Wahrheitsanspruch eben dieser) bringt Elisabeth Ladenson mit dem Diktum »dirt for art’s sake« auf den Punkt (vgl. dies.: Dirt for art’s sake. Books on Trial from Madame Bovary to Lolita. Ithaca/ London: Cornell UP 2007). 114 Evelyne Keitel: Von den Gefühlen beim Lesen (s. Anm. 112), S. 10. Emma vertritt gegen‐ über dem kritisch-reflektierenden, ästhetisch gebildeten Lesen das »gefühlsbetonte« Lesen, das von »Naivität« und »Unwissen« zeugt (ebd.). Wenn wie im Fall Emmas dieses jedoch zu der Tatsache führt, dass nur noch Enttäuschung angesichts der gegenüber dem Literarischen als defizitär empfundenen Realität verspürt wird, dann lässt sich von einer pathologischen Form des Lesens sprechen. Zur Pathologie des Lesens vgl. auch: Thomas Anz: Literatur und Lust (s. Anm. 110), S. 11-16. die Realität so abbilde, wie sie ist. 113 Tatsache ist, dass sein Werk als anstößig empfunden wurde. Dem ließe sich sicherlich hinzufügen, dass die Kunst dabei in ihrer Autonomie verkannt wird, d.h. dass jene Leser, die sich ob der vermeint‐ lich unmoralischen Botschaft des Werkes entrüsten, nicht über die erforderliche ästhetische Distanz im Rezeptionsakt verfügen: ein Zeugnis von »literarischer Inkompetenz«, welche im Falle Flauberts von der Protagonistin Emma mit ihrer romantisch-verklärenden Lesesucht selbst veranschaulicht wird. 114 Das emotionale Lesen bildet damit wohl den Gegenpol zu der »göttlichen Perspektive«, der es nach Bohrer bei der Lektüre bedarf. Wenn bei ihm das Böse als ästhetische Kategorie erscheint, die einen positiven Lustgewinn durch ima‐ ginative Entgrenzung ermöglicht, dann wird auch hier der ›bösen Literatur‹ das Vermögen zugestanden, den Rezipienten zu bewegen - doch das hierbei resul‐ tierende Vergnügen ist intellektueller Art. Es setzt geradezu voraus, dass Emo‐ tionen moralischer Natur ausgeschaltet werden. Und erneut muss daher gefragt werden: Wie kann sich auch der geübteste, literarisch gebildete Leser einer spontanen affektiven Reaktion auf den vorstellbar gemachten Gegenstand er‐ wehren? Kann überhaupt vom »Bösen« gesprochen werden, wenn es nicht zu‐ allererst intuitiv, emotional und spontan als solches wahrgenommen wird? Alt 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 49 <?page no="50"?> 115 Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen (s. Anm. 16), S. 531. verneint dies entschieden: »[D]er sich im literarischen Text vollziehenden Auf‐ hebung der ethischen Wertung steht die Unausweichlichkeit eben dieser Wer‐ tung im Akt der Rezeption gegenüber«. 115 Ohne dabei allzu sehr vorauszu‐ greifen, soll dies kurz anhand eines Gedichtes Baudelaires veranschaulicht werden, und zwar »A celle qui est trop gaie«, welches zu den »Pièces condam‐ nées« gehört, die nach dem Prozess um die Fleurs du mal aus der ursprünglichen Fassung getilgt wurden. Dieses mutet zunächst wie ein klassischer Lobgesang auf die Schönheit der Geliebten an, schlägt jedoch bald um in eine Gewaltima‐ gination, bei der das lyrische Ich die als allzu belastend empfundene Reinheit der Geliebten in einer als lustvoll erlebten Mordphantasie zu vernichten sucht: Ta tête, ton geste, ton air Sont beaux comme un beau paysage; Le rire joue en ton visage 4 Comme un vent frais dans un ciel clair. […] Les retentissantes couleurs Dont tu parsèmes tes toilettes Jettent dans l’esprit des poètes 12 L’image d’un ballet de fleurs. Ces robes folles sont l’emblème De ton esprit bariolé; Folle dont je suis affolé, 16 Je te haïs autant que je t’aime! Quelquefois dans un beau jardin Où je traînais mon atonie, J’ai senti, comme une ironie, 20 Le soleil déchirer mon sein; 1 Theoretische Vorüberlegungen 50 <?page no="51"?> 116 Charles Baudelaire: Les Fleurs du mal. Édition établie par John E. Jackson. Préface d’Yves Bonnefoy. Paris: Le Livre de Poche Classiques 1999, S. 216f. Et le printemps et la verdure Ont tant humilié mon cœur, Que j’ai puni sur une fleur 24 L’insolence de la Nature. Ainsi je voudrais, une nuit, Quand l’heure des voluptés sonne, Vers les trésors de ta personne, 28 Comme un lâche, ramper sans bruit, Pour châtier ta chair joyeuse, Pour meurtrir ton sein pardonné, Et faire à ton flanc étonné 32 Une blessure large et creuse, Et, vertigineuse douceur! À travers ces lèvres nouvelles, Plus éclatantes et plus belles, 36 T’infuser mon venin, ma sœur! 116 Als »böse« ist hier wohl der nach moralisch-ethischen Maßstäben unmotivierte Gewaltakt zu qualifizieren, den das lyrische Ich imaginiert. »Brisanz« gewinnt die hier vorstellbar gemachte Mordphantasie durch ihre besondere Verfasstheit: Der Kontrast von zunächst traditionell anmutendem Lobpreis auf die Schönheit und Unschuld der Geliebten mit der Erörterung der starken Aggression, die diese (wider Erwarten) im lyrischen Ich freisetzt, verleiht dem Gedicht eine besondere Pointiertheit. Im Grunde der Dramaturgie von Poes The Black Cat nicht unähn‐ lich inszeniert Baudelaire hier die Pervertierung der ursprünglich reinen Liebe 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 51 <?page no="52"?> 117 Auch hier wird der Gewaltakt als Transgression erfahrbar gemacht: Richtet sich die Aggression des lyrischen Ich zunächst gegen die unbefleckte, schöne Natur, zielt sie schließlich auf die Geliebte selbst. 118 Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen (s. Anm. 16), S. 530. 119 Dass es sich hierbei auch um eine durchaus bewusste Provokation handelt, legt die editorische Notiz nahe, die dem Gedicht nachträglich hinzugefügt wurde: »Les juges ont cru découvrir un sens à la fois sanguinaire et obscène dans les deux stances. La gravité du Recueil excluait de pareilles plaisanteries. Mais venin signifiant spleen ou mélancolie, était une idée trop simple pour des criminalistes. Que leur interprétation syphilitique leur reste sur la conscience« (»Note de l’éditeur«. In: Ch. Baudelaire: Les Fleurs du mal [s. Anm. 116], S. 217). Claude Pichois bemerkt hierzu in seinem Kom‐ mentar, dass weder die Anklageschrift noch das Urteil eine »interprétation syphili‐ tique« enthielten. Der Vorwurf belief sich ausschließlich auf Verletzung der öffentlichen Moral. Diese Notiz ließ Baudelaire selbst hinzufügen und encouragiert damit jene sy‐ philitische Deutung des Gedichts als obszönen Text (vgl. Claude Pichois: »Dossier«. In: Charles Baudelaire: Œuvres complètes. Texte établi, présenté et annoté par Claude Pi‐ chois. Bd. 1. Paris: Gallimard 1975, S. 1133). 120 Bohrer: »Das Böse - eine ästhetische Kategorie? « (s. Anm. 20), S. 463. in Hass und sadistische Lust bzw. expliziert einen Zustand, in dem sich Liebe und destruktive Wollust vereinen (»Je te haïs autant que je t’aime«, V. 16). 117 Und besonders provokant ist in diesem Zusammenhang eben genau das Moment der Lust, das der Gewaltimagination eingeschrieben ist: »vertigineuse douceur! « (V. 33) Der emphatische Ausdruck der Lust am Bösen präsentiert das Abseitige als Quell des Vergnügens. Was auf der rationalen Ebene als verwerf‐ lich gelten muss, wird auf der sprachlichen Ebene positiv besetzt, und zwar affektiv mit Zeichen der Lust. Der Mord ist schwindelnde Süße, die dem Opfer zugefügte Wunde schön. Bei der Lektüre dieses Gedichts realisiert sich, was Alt eine »unsaubere Mischung« nennt: »Das klandestine Sympathisieren mit dem Verbrechen, das Verständnis für das Laster und die Lust am Schrecklichen bilden kombinierte Einstellungen, die durch die Koexistenz von Emotion und Urteil zustandekommen«. 118 Die Provokation 119 des Textes liegt vornehmlich im Ein‐ satz der »Rhetorik des Bösen als des Schönen,« 120 welche zum Nachvollzug des als lustvoll vorstellbar gemachten Bösen animiert - unabhängig von der Tat‐ sache, ob vom Leser ein reales »klandestines Vergnügen« am dargestellten Ge‐ genstand selbst empfunden wird. 1.2.2 Das Böse und (ästhetischer) Genuss Das Verflüssigen der Grenzen zwischen Abstoßung und Anziehung, das Inei‐ nanderwirken von scheinbar gegensätzlichen Emotionen ist wohl eines der be‐ sonderen Merkmale der Wirkungsästhetik des Bösen. Der Text transportiert eine explosive Mischung, der im Rezeptionsakt verschiedene Bereiche an‐ 1 Theoretische Vorüberlegungen 52 <?page no="53"?> 121 H.R. Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (s. Anm. 23), S. 88f. 122 Dass die Problematik v.a. des Hässlichen in der Kunst zu einem bedeutsamen Gegen‐ stand des kunsttheoretischen Diskurses geworden ist, belegen die zahlreichen Abhand‐ lungen zu diesem Thema, darunter Fontenelles Réflexions sur la Poétique (1678), Lessings Laokoon (1766), Schillers Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegen‐ stände (1794), Kants Kritik der Urteilskraft (1790), Schlegels Über das Studium der grie‐ chischen Poesie (1795/ 97), Rosenkranz’ Ästhetik des Hässlichen (1853), Baudelaires L’Art romantique (1868), Nietzsches Die Geburt der Tragödie (1872) und Adornos Ästhetische Theorie (1970). 123 Aristoteles: Poetik (Griechisch / Deutsch). Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 11. spricht: das moralische Bewusstsein und das Lustempfinden. Wollte man dies in Freud’schen Termini ausdrücken, könnte man von einem Gefühlsamalgam der Unbehaglichkeit sprechen, bei dem das normativ regulierende Über-Ich und das nach Lust strebende Es in ein Spannungsverhältnis treten. Dieses Lustge‐ fühl muss dabei zweifelsohne nicht von sinistrer Natur sein bzw. von ver‐ drängten Wünschen herrühren, sondern kann unterschiedlichen Quellen ent‐ springen. H. R. Jauß definiert drei basale Kategorien der ästhetischen Erfahrung bzw. des »[ä]sthetisch genießenden Verhalten[s]«: 1) Poeisis, d.h. der Genuss des »produzierende[n] Bewußtsein[s] im Hervorbringen von Welt als seinem ei‐ genen Werk«; 2) Aisthesis, d.h. der Genuss, der im »Ergreifen der Möglichkeit, seine wahrnehmende der äußeren wie der inneren Wirklichkeit zu erneuern« bzw. im »genießende[n] Aufnehmen des ästhetischen Gegenstands als ein ge‐ steigertes, entbegrifflichtes oder - durch Verfremdung […] - erneuertes Sehen« ruht; 3) Katharsis, d.h. der Genuss der eigenen durch das Werk erweckten Af‐ fekte, des »Selbstgenusses im Fremdgenuss« und der damit verbundenen Frei‐ setzung von der Lebenswelt bzw. der spielerischen Identifikation mit dem äs‐ thetischen Gegenstand und der Freiheit, sich über die vom Werk definierten Handlungsnormen ein Urteil zu bilden. 121 Für den Rezeptionsakt sind dabei na‐ türlich die Formen der Aisthesis und Katharsis relevant. Es erweist sich, dass ein Gegenstand, der per definitionem nicht schön, wahr oder gut ist, durchaus ästhetischen Genuss vorbringen kann. Das nur scheinbare Paradox des Gefallens an per se missfälligen Sujets wird schon in Aristoteles’ Poetik thematisiert und besonders seit dem 18. Jahrhundert im kunsttheore‐ tisch-philosophischen Diskurs vielfältig diskutiert und reflektiert. 122 In der Po‐ etik heißt es: »Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erbli‐ cken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.« 123 Und gelöst wird dieses Paradox dadurch, dass dem Menschen das Nachahmen und der Wunsch zu lernen angeboren ist, sodass die Nachahmung auch eines widrigen Gegen‐ 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 53 <?page no="54"?> 124 Vgl. ebd., S. 11f. 125 Vgl. H.R. Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (s. Anm. 23), S. 73. 126 Nicolas Boileau: L’Art poétique. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Au‐ gust Buck. München: Fink 1970, S. 84. 127 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Gerhard Lehmann. Stuttgart 1995, 1. Teil, Abschnitt I, 2. Buch, § 48, S. 243. 128 Holger Funk: Ästhetik des Hässlichen. Beiträge zum Verständnis negativer Ausdrucks‐ formen im 19. Jahrhundert. Berlin 1983, S. 13. standes in der Kunst Interesse und Neugier erweckt und ein jeder Mensch Freude daran hat zu lernen, welcher Qualität das vorgestellte Sujet ist. 124 Es ist das Er‐ freuen an der gelungenen Nachahmung und die Wissenslust, die auch das Häss‐ liche in der Kunst zu einem genießbaren Sujet macht. Wie Jauß in Anlehnung an Augustins Confessiones bemerkt, sind Lust (voluptas) und Fürwitz (curio‐ sitas) die Triebfedern der Augenlust (concupiscentia oculorum), wobei curiositas auf das Widrige ausgerichtet ist. 125 Andererseits ist es die schöne »Form« des vorgestellten Gegenstands bzw. die »Mittelbarkeit« des Mediums Kunst selbst, die zu gefallen vermag (und damit gemäß Aristoteles den Gefallen an der gelungenen Nachahmung bezeichnet). Im ›Zerrspiegel‹ der Kunst verliert das missfällige Sujet seine repulsive Wir‐ kung, wird gleichsam ästhetisiert und durch künstlerische Formgebung neut‐ ralisiert. So hebt auch Boileau im Art poétique (1674) hervor: Il n’est point de Serpent, ni de Monstre odieux, Qui par l’art imité ne puisse plaire aux yeux. D’un pinceau delicat l’artifice agreable Du plus affreux objet fait un objet aimable. (Chant III, V. 1-4) 126 So wird auch Kant in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) eben dies als besondere Leistung der Kunst hervorheben: »Die schöne Kunst zeigt eben darin ihre Vor‐ züglichkeit, daß sie Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt. Die Furien, Krankheiten, Verwüstungen des Krieges, u. dgl. können, als Schädlichkeiten, sehr schön beschrieben, ja sogar als Gemälde vor‐ gestellt werden«. 127 Die Kunstdifferenz erlaubt demnach eine »unschädliche« Darstellung und Betrachtung des widrigen Gegenstands; im Kunstwerk findet sich das Hässliche durch die »dialektische Prozessualität der metaphysischen Idee des Schönen« aufgehoben. 128 Aisthetisch besteht der Reiz des Hässlichen und Bösen also im kontemplativen Genießen der gelungenen künstlerischen Form und der Befriedigung der curiositas, der Neugier und der Faszination am Miss‐ fälligen. Und wenn aisthetischer Genuss »Renovation der inneren und äußeren Wirklichkeit« durch »erneuertes Sehen« bedeutet, ist Bohrers Konzept des 1 Theoretische Vorüberlegungen 54 <?page no="55"?> 129 David Hume: »Of Tragedy«. In: ders.: Essays, moral, political, and literary. Edited and with a Foreword, Notes and Glossary by Eugene F. Miller. Indianapolis: Liberty Classics 1987, S. 216-225, hier: S. 217. Zwar erkennt er Du Bos’ These, dass die menschliche Seele der emotionalen Agitation bedürfe, als durchaus partiell zufriedenstellend an, jedoch nicht als hinreichend gültig. Dies begründet er damit, dass ein Gegenstand, der uns in der Realität ängstigt, schockiert, verärgert usf., nicht - wie bei der Tragödie - Vergnügen bereiten würde und uns ein unbewegter Seelenzustand in einem solchen Fall bei weitem angenehmer wäre. Hume plädiert vielmehr für einen Umwandlungs‐ prozess (»conversion«), der im Zuschauer durch die kunstvolle »eloquence« und »force of expression« der kunstvollen Rede effektuiert werde: Negative Empfindungen werden dergestalt in positive überführt. Zu Humes Essay (und ferner Boileau, Diderot, Fonte‐ nelle, Addison, Burke) vgl. Herbert Dieckmann: »Das Abscheuliche und Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts«. In: H.R. Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München 1968 (=Poetik und Hermeneutik 3), S. 271-317. 130 Vgl. zu horror vacui auch: Thomas Anz: »Unlust und Lust am Ekelhaften in Literatur und Kunst«. In: Hermes A. Kick (Hg.): Ekel. Darstellung und Deutung in den Wissen‐ schaften und Künsten. Hürtgenwald 2003, S. 148-159, hier: S. 155f. 131 Hume: »Of Tragedy« (s. Anm. 129), S. 216. 132 René Descartes: Die Leidenschaften der Seele. Französisch-Deutsch. Hg. von Klaus Ham‐ macher. Hamburg 1984 (=Philosophische Bibliothek 345), Article 94, S. 146. Bösen als »Sinnentzug im Entsetzen« und Grenzerfahrung gleichfalls dieser Kategorie des ästhetischen Erlebens zuzuordnen. Kathartisch ist dann jene Lust, die das Subjekt anlässlich seiner eigenen Er‐ regbarkeit empfindet. Es ist die Lust, bewegt zu werden. Katharsis ist - wie oben bereits erwähnt - das Wirkziel der Tragödie: Durch die Erregung der Affekte phobos und eleos ist das Tragische überhaupt erst möglich; ihr Gelingen hängt eben genau von ihrer (emotionalen) Wirkung ab. In seinem Essay XXII Of Tra‐ gedy (Essays: Moral, Political, and Literary, 1742-54) greift David Hume die Ar‐ gumentation des bereits zitierten Abbé Du Bos auf, »that nothing is in general so disagreeable to the mind as the languid, listless state of indolence, into which it dalls upon removal of all passion and occupation«. 129 Es sei dem Menschen ein Grundbedürfnis, zu spüren; nichts ist dem Menschen größere Qual als innere Leere und es ist der horror vacui, die Angst vor dieser Leere, die ihn emotionale Agitation und große Passionen suchen lässt. 130 Je mehr »sorrow, terror, anxiety, and other passions« der Zuschauer von einer Tragödie empfange, desto mehr Vergnügen bereite sie ihm. 131 Dies lässt sich mit Descartes auf die Formel bringen: »on prend naturellement plaisir à se sentir émouvoir à toutes sortes des Passions«. 132 Diese Form des ästhetischen Genusses bezeichnet Hans Blu‐ menberg als Modus der »inneren Distanz«, bei dem das Subjekt auf »die pure 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 55 <?page no="56"?> 133 »Siebte Diskussion«. In: H.R. Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphäno‐ mene des Ästhetischen. München 1968 (=Poetik und Hermeneutik 3), S. 629-649, hier: S. 647. 134 Ebd., S. 646. 135 »In den Leiden des Märtyrers, die künstlerisch dargestellt werden, mag der fromme Betrachter immer zugleich die Anwartschaft auf himmlische Glorie wahrnehmen, die noch in der ausgefallensten Ungeheuerlichkeit nur ihren Preis hat, der dem Glaubenden gar nicht als zu hoch erscheinen kann. Die Möglichkeit des Genusses liegt in einer Implikation, die die Unmittelbarkeit zum dargestellten Gegenstand aufhebt.« (ebd., S. 646). 136 Ebd., S. 647. 137 Dieser Metapher widmet Blumenberg eine gesamte Monographie und sucht darin nachzuzeichnen, wie sie ausgehend von der Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein in Literatur und Philosophie Verwendung findet. Vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt am Main 1979; Franca Janowski: »Dulcendo naufragii. Das Motiv des Schiffbruchs im »Infinito« von Giacomo Leo‐ pardi«. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 45 (1995), S. 334-348 und Carsten Zelle: »Schiffbruch mit Zuschauer. Über einige popularphilosophische Parallelschriften zu Schillers ›Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen‹«. In: Jahr‐ buch der deutschen Schillergesellschaft 34 (1990), S. 289-316. Funktion seiner Vermögen« und »nicht auf die Gegenstände und deren Spezi‐ fizität« bezogen bleibt. 133 Innerhalb der Diskussion über Grenzphänomene des Ästhetischen in der fort‐ geschrittenen Neuzeit schlägt dieser insgesamt drei Modelle des ästhetischen Genusses vor, der dem Rezeptionsakt des »gegenständlich Häßlichen, Schau‐ rigen, Abscheulichen und Deformierten« innewohnen kann. 134 Neben dem be‐ reits erwähnten Modell der inneren Distanz und dem des Martyriums 135 verweist er auf den Modus der »äußere[n] Distanz des Zuschauers, der sich in seiner eigenen Unbetroffenheit erfährt und so seine Situation genießt«. 136 Das Wissen des Zuschauers oder Lesers um die eigene Unversehrtheit bzw. das Bewusstsein für die Fiktivität des vorgestellten Gegenstands begründet die Möglichkeit, auch ein missfälliges Sujet - eben weil es dem Subjekt nicht realiter begegnet - als »schön« bzw. als (ästhetisch) »lustvoll« zu empfinden. Auf diese Überlegung psychologisch-ästhetischer Natur verweisen auch schon Fontenelle, Hume (wenn auch nur, um diesen kritisch zu erweitern), Hobbes, Shaftesbury, Diderot und Schiller, vornehmlich in seinen Schriften Über die tragische Kunst und Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. Tatsächlich geht dies zu‐ rück auf die berühmte Metapher des Schiffbruchs 137 mit Zuschauer in De rerum natura, II, 1-4 des römischen Philosophen Lukrez. Gegenstand ist die Vorstel‐ lung eines im rauen Meer untergehenden Schiffes - ein Spektakel, das vom Dichter-Ich in sicherer Ferne vom Ufer aus lustvoll betrachtet wird: 1 Theoretische Vorüberlegungen 56 <?page no="57"?> 138 Hierbei handelt es sich um die Übersetzung nach Karl Ludwig von Knebel (T. Lucretius Carus: Von der Natur der Dinge. Übersetzt von Karl Ludwig von Knebel. Frankfurt am Main 2 1960, S. 47). Im Lateinischen Original lautet die Passage wie folgt: »Suave, mari magno turbantibus aequora ventis / e terra magnum alterius spectare laborem; / non quia vexari quemquast iucunda voluptas, / sed quibus ipse malis careas quia cernere suavest.« 139 Vgl. H.R. Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (s. Anm. 23), S. 85f. 140 Vgl. Zelle: »Schiffbruch mit Zuschauer« (s. Anm. 137), S. 290f. 141 Friedrich Schiller: »Ueber die tragische Kunst«. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Riedel. Bd. 5. Erzählungen. Theoretische Schriften. München: Deutscher Ta‐ schenbuch Verlag 2004, S. 372-393, hier: S. 372. 142 Ebd. Süß ist’s, anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde Auf hochwogigem Meer vom fernen Ufer zu schauen; nicht, als könnte man sich am Unfall andrer ergötzen, sondern dieweil man es sieht, von welcher Bedrängnis man frei ist. 138 Der Zuschauer ergötzt sich am Schrecklichen, weil es ihm - da er sich in sicherer Entfernung weiß - seine eigene Unversehrtheit bewusst macht. Und dieses Be‐ wusstsein wiederum ermöglicht den objektivierenden Blick auf die eigenen Af‐ fektionen: Das Subjekt wird sich in seinen Empfindungen selbst zum Gegen‐ stand der genießenden Betrachtung. 139 Freilich stieß der Topos des Schiffbruchs mit Zuschauer besonders auch bei Philosophen der Aufklärung auf Ablehnung (so bei Voltaire und Marmontel), nicht zuletzt aufgrund des misanthropischen Tenors der Bildlichkeit, die dem Menschen eine scheinbar schadenfreudige Schaulust zuschreibt. 140 So konze‐ diert auch Schiller: »Ein Meersturm, der eine ganze Flotte versenkt, vom Ufer aus gesehen, würde unsere Phantasie ebenso stark ergötzen, als er unser füh‐ lendes Herz empört«. 141 Er räumt jedoch ein: »es dürfte schwer sein, mit dem Lucrez zu glauben, daß diese natürliche Lust auf einer Vergleichung unsrer ei‐ genen Sicherheit mit der wahrgenommenen Gefahr entspringe.« 142 Nichtsdesto‐ trotz wurde die Schiffbruchsmetapher des Lukrez zum paradigmatischen Aus‐ druck einer ästhetischen Grundhaltung, die die Basis einer genussvollen Rezeption des Schrecklichen, Entsetzlichen und Hässlichen im Kunstwerk bildet. Das Modell der inneren und äußeren Distanz liefert damit einen Ansatz, die Paradoxie der Schreckenslust aufzulösen und findet ihr Echo in der Theorie des Erhabenen, in der sich erstmals ein ästhetisches Interesse auch an originär missfälligen Gegenständen in der Kunst artikulieren sollte. 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 57 <?page no="58"?> 143 Edmund Burke: A Philsophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful. Hg. von Adam Phillips. Oxford (England)/ New York 1990, S. 36. 144 »I say the strongest emotion, because I am satisfied the ideas of pain are much more powerful than those which enter on the part of pleasure« (ebd.). 145 »When danger or pain press too nearly, they are incapable of giving any delight, and are simply terrible; but at certain distances, and with certain modifications, they may be, and they are delightful, as we every day experience« (ebd., S. 36f.). 146 »In this case the mind is so entirely filled with its object, that it cannot entertain any other, nor by consequence reason on that object which employs it« (ebd., S. 53). 1.2.3 Das Erhabene Zu den mitunter einschlägigsten Traktaten bezüglich des Erhabenen zählt wohl Edmund Burkes A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sub‐ lime and Beautiful (1757). So observiert er: Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime; that is, it is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling. 143 Das Sublime bzw. Erhabene wird hervorgebracht durch Gegenstände jeglicher Art, die die Idee des Schmerzes oder der Gefahr transportieren und damit im Subjekt die stärkste Empfindung hervorbringen, derer es fähig ist. 144 Dass dieser Schmerz bzw. »terror« gleichzeitig Lust erzeugt, vermag unter bestimmten Be‐ dingungen - nämlich der (ästhetischen) Distanz (d.h. Unbetroffenheit im wahren Leben) - der Fall sein. 145 Verwunderung (»astonishment«) stellt sich als höchste Empfindung ein, die durch das Erhabene hervorgebracht wird: Das menschliche Gemüt ist in einem solchem Moment derartig von dem Objekt seiner Betrachtung erfüllt, dass es zur Wahrnehmung eines anderen nicht mehr in der Lage ist und es auch an der vernunftmäßigen Reflexion des betrachteten Objekts scheitert. 146 Burke entwickelt quasi einen Katalog an Qualitäten des Er‐ habenen und Ideen bzw. Empfindungen, die damit verbunden sind. So ist Un‐ klarheit (»obscurity«) - und damit einhergehend auch Vagheit - entscheidendes Merkmal des das Gefühl des Erhabenen generierenden Objekts. Eine jede Vor‐ stellung von Gefahr gewinnt durch den Schleier der Unbestimmtheit ein Mo‐ ment des Entsetzens. In den Künsten ist Burke zufolge daher auch die Literatur in höchstem Maße geeignet, das Gefühl des Erhabenen durch Abstraktion und Auslassung einzugeben, da sie in der mimetischen Repräsentation einer Vor‐ 1 Theoretische Vorüberlegungen 58 <?page no="59"?> 147 »[…] the most lively and spirited verbal description I can give, raises a very obscure and imperfect idea of [such] objects; but then it is in my power to raise a stronger emotion by the description than I could do by the best painting. This experience con‐ stantly evinces. The proper manner of conveying the affections of the mind from one to another, is by words; there is a great insufficiency in all other methods of commu‐ nication« (ebd., S. 55f.). 148 Ebd., S. 65. 149 Ebd., S. 67. 150 Vgl. Gerhard Schweppenhäuser: Ästhetik. Philosophische Grundlagen und Schlüsselbe‐ griffe. Frankfurt am Main 2007, S. 85. 151 »The ideas of eternity, and infinity, are among the most affecting we have, and yet perhaps there is nothing of which we really understand so little, as of infinity and eternity« (Edmund Burke: A Philosophical Enquiry [s. Anm. 143], S. 57). 152 Ebd., S. 68. 153 Es ist darüber hinaus augenscheinlich, dass die Sade’sche Ästhetik der Wiederholung mit dem modus operandi der Erhabenheitsästhetik konform geht. stellung oder eines Gegenstands stets hinter dem Gemälde zurückbleibt. 147 Mit dem Begriff der Unklarheit verknüpft sich dann auch konkreter die Idee der Dunkelheit (»darkness«) bzw. allgemeiner der Beraubung (»privation«). Da‐ runter subsumieren sich ferner die Termini der Leere (»vacuity«), der Einsam‐ keit (»solitude«) und Stille (»silence«), welche in analoger Weise den Zustand einer Privation (sei es von Licht oder Substanz) bezeichnen. 148 In gleichem Maß sind Weite (»vastness«) und die Vorstellung von Unend‐ lichkeit (»infinity«) Quellen der erhabenen Angstlust, übersteigen sie doch die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung: Infinity has a tendency to fill the mind with that sort of delightful horror, which is the most genuine effect, and truest test of the sublime. There are scarce any things which can become the objects of our senses that are really, and in their own nature infinite. But the eye not being able to perceive the bounds of many things, they seem to be infinite, and they produce the same effects as if they were really so. 149 Naturerscheinungen wie Ozeane, Berge oder Sternenhimmel, Sonnenaufgänge etc. wurden in diesem Zusammenhang zu klassischen Topoi des Erhabenen, da sie dem menschlichen Subjekt übermächtig und gigantisch erscheinen. 150 Und es sind gerade die Vorstellungen von Unendlichkeit, die den Menschen an die Grenzen des für ihn sinnlich Erfassbaren führen, und damit zu den bewe‐ gendsten erhabenen Ideen überhaupt zählen. 151 Darüber hinaus kann der Ein‐ druck von Unendlichkeit durch Gleichförmigkeit (»uniformity«) und Sukzes‐ sion (»succession«) erweckt werden, d.h. durch Aneinanderreihung des Immergleichen wird die Vorstellung einer künstlichen Unbegrenztheit (»artifi‐ cial infinite«) erzeugt. 152153 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 59 <?page no="60"?> 154 Kant: Kritik der Urteilskraft (s. Anm. 127), Erster Teil, I. Abschn., 2. Buch, § 25, S. 143. 155 Vgl. ebd., Erster Teil, I. Abschn., 2. Buch, § 25. 156 Ebd., Erster Teil, I. Abschn., 2. Buch, § 28, S. 160. 157 Ebd., Erster Teil, I. Abschn., 2. Buch, § 28, S. 161. 158 Ebd., Erster Teil, I. Abschn., 2. Buch, § 23, S. 135. Den Wirkungsspielraum bzw. die Wirkungsweisen des Erhabenen, die Burke in seiner Philosophical Enquiry absteckt, wurden dann auch für den deutschen Idealismus fruchtbar gemacht und von Kant und Schiller wiederaufgegriffen. Ähnlich wie Burke definiert Kant in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) das Er‐ habene als »das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist«. 154 Er stellt damit also auch eine Beziehung zum Unbegrenzten, zum Enormen, Unendlichen her und definiert dabei zunächst das »mathematisch« Erhabene, welches eine räumliche Ausdehnung bzw. eine quantitative Unbegrenztheit bezeichnet (z.B. eben Ozeane, das Weltall, Berge etc.). 155 Davon grenzt Kant das »dynamisch« Erhabene der Natur als Macht ab, der der Mensch zunächst unterlegen ist, doch in sicherer Distanz durchaus als ästhetisch reizvoll zu empfinden vermag: Kühne überhängende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Don‐ nerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstö‐ rerischen Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung […] u. dgl. machen unser Vermögen zu widerstehen, in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden […]. 156 Auf den schrecklichen Moment, in dem sich der Mensch als »Naturwesen« 157 als physisch unterlegen erkennen muss, folgt der Augenblick der »negativen Lust«, 158 die in dem Vermögen besteht, sich als »Vernunftwesen« über jene Überwältigung erhaben zu fühlen. Denn das menschliche Gemüt zeigt sich ver‐ mittels der Vernunft dem sinnlichen Vermögen der Einbildungskraft überlegen, was sich darin manifestiert, dass der Mensch die Idee der Unendlichkeit, die als solche nicht darstellbar ist, überhaupt denken kann (§ 26). Damit zeichnet sich auch eine deutliche Akzentverlagerung bezüglich der Begrifflichkeit des Erha‐ benen ab, die sich bereits bei Burke ablesen lässt, welcher weniger von einem erhabenen Gegenstand (als Seinsmerkmal eines Objekts) als vielmehr von einem Gefühl des Erhabenen spricht. Was vormals der Dingwelt zugeschrieben wurde, wird bei Kant allein dem Subjekt attribuiert: »das eigentlich Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft: welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen läßt, rege gemacht und 1 Theoretische Vorüberlegungen 60 <?page no="61"?> 159 Ebd., Erster Teil, I. Abschn., 2. Buch, § 23, S. 136. 160 Friedrich von Schiller: »Vom Erhabenen«. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Riedel. Bd. 5. Erzählungen. Theoretische Schriften. München 2004, S. 489-512, hier: S. 489. 161 Ebd., S. 489f. 162 Ebd., S. 492. ins Gemüt gerufen werden«. 159 Das Erhabene wird somit zur Chiffre der Selbst‐ affirmation und des Triumphes der Vernunft über die Kreatürlichkeit des Natur‐ menschen. Ähnlich konzipiert auch Schiller in Anlehnung an Kant das Erhabene als se‐ kundäre Lust, die in der Überlegenheit des Vernunftmenschen gegenüber seiner Machtlosigkeit als physisches Naturwesen besteht: »Erhaben nennen wir ein Objekt, bei dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken, unsre ver‐ nünftige Natur aber ihre Überlegenheit, ihre Freiheit von Schranken fühlt; gegen das wir also physisch den kürzeren ziehen, über welches wir uns aber mora‐ lisch, d. i. durch Ideen erheben.« 160 Schillers Ausführungen zum Erhabenen ba‐ sieren auf der Grundannahme, dass der Mensch als Sinnenwesen von zwei maßgeblichen Trieben geleitet wird - und zwar einerseits dem »Vorstellungs‐ trieb« bzw. »Erkenntnistrieb« und dem »Selbsterhaltungstrieb« andererseits. Diese setzen ihn in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Natur, welches für den Menschen spürbar wird, »wenn es die Natur an den Bedingungen fehlen läßt, unter welchen wir zu Erkenntnissen gelangen« bzw. »wenn sie den Bedin‐ gungen widerspricht, unter welchen es uns möglich ist, unsre Existenz fortzu‐ setzen«. 161 Moralisch unabhängig kann sich der Mensch dann fühlen, wenn er sich einerseits mehr denken kann als unter den naturgegebenen Bedingungen erkenntlich ist; andererseits kann er sich kraft des Willens über die naturge‐ bundenen Begierden hinwegsetzen. Solche Objekte, die sich dem Erkenntnis‐ trieb widersetzen, sind jene, die die Idee der Unendlichkeit implizieren; jene, die hingegen dem Selbsterhaltungstrieb trotzen, sind »furchtbare« Gegenstände, die »den Bedingungen unsers Daseins widerstreite[n]«. 162 Damit nimmt Schiller eine Unterscheidung vor, die im Grunde jener Kants vom mathematisch und dynamisch Erhabenen entspricht, jedoch terminologisch bei ihm als »Theore‐ tischerhabenes« und »Praktischerhabenes« gefasst wird. Letzteres bezeichnet er auch als Erhabenes der Macht, für das sich eine weitere Unterscheidung an‐ bietet, die den verschiedenen Beziehungsarten Rechnung trägt, in denen sich das Subjekt zum Gegenstand des Erhabenen befinden kann: das Kontemplativ- und Pathetischerhabene. Zur ersten Kategorie zählen jene Objekte, die zwar eine Naturmacht darstellen (wie ein Meeressturm, Gewitter, ein Vulkan etc.), die je‐ doch erst vermittels der Einbildungskraft auf den Selbsterhaltungstrieb bezogen 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 61 <?page no="62"?> 163 Ferner zählen zu dieser Form des kontemplativen Erhabenen auch abstraktere Para‐ digmen wie das »Außerordentliche«, das »Unbestimmte«, »Stille«, »Leere«, »Un‐ durchdringlichkeit« und »Finsternis« (vgl. ebd., S. 505-508). Der Schrecken entsteht erst in der Vorstellungskraft wie im Fall der Finsternis: Kann das Subjekt nichts sehen, wird es auf seine Einbildungskraft zurückgeworfen, welche - quasi in Alarmbereit‐ schaft - potentielle Bedrohungen imaginiert. 164 Ebd., S. 509. 165 Vgl. Walter Reese-Schäfer: »Lyotard, Jean-François«. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart 2013, S. 449-450, hier: S. 450. 166 Jean-François Lyotard: »Das Erhabene und die Avantgarde«. In: Merkur 38 (1984), S. 151-164, hier: S. 158. werden müssen und damit erst in der Vorstellung des Subjekts furchtbar werden. 163 Das Pathetischerhabene hingegen ist das Leiden selbst - das im ersten Fall ja gleichsam hinzugedacht werden muss -, genauer: die »Vorstellung eines fremden Leidens, verbunden mit Affekt und mit dem Bewußtsein unser innern moralischen Freiheit«. 164 Doch ähnlich wie Burke und auch Kant macht Schiller die Bedeutsamkeit der Distanz als Bedingung für das Gefühl des Erhabenen gel‐ tend, ohne welche ein ästhetisches Urteil unmöglich ist. Die traditionelle ästhetische Debatte um das Erhabene, wie sie von Burke begründet und von Kant und Schiller fortgeführt wurde, wird schließlich erst im 20. Jahrhundert von Jean-François Lyotard wiederaufgegriffen. Dabei beruft er sich vornehmlich auf die Kant’sche Definition des Erhabenen, um sie in Bezug auf die bildnerische Kunst der Avantgarde einer radikalen Neuinterpretation zu unterziehen. 165 Das Nicht-Darstellbare, d.h. das Versagen der Einbildungskraft als Mittler zwischen Sinnlichkeit und Ratio, absolute Begriffe wie Unendlichkeit darzustellen, wird bei Lyotard zum Kernbegriff und zum »negative[n] Zeichen […] für die Unermeßlichkeit der Macht der Ideen«. 166 Die Gemeinsamkeit von moderner und postmoderner Kunst der Avantgarde liegt ihm zufolge daher in dem Streben, dem Unverfügbaren »Raum« zu gewähren. Im Rückgriff auf Hei‐ deggers »Ereignis«-Begriff konzipiert Lyotard das Nicht-Darstellbare als ein »es geschieht«, ein gegenwärtiges Ereignis in all seiner Blöße, und das Erhabene als Schockmoment der doppelten Beraubung: einer primären Beraubung des Ereig‐ nisses selbst, die Schrecken erzeugt, und einer sekundären Beraubung der Dro‐ hung, die sich als Erleichterung entäußert. Sein Kommentar zur avantgardisti‐ schen Kunst lautet wie folgt: Angespornt durch die Ästhetik des Erhabenen, können und müssen die Künste, wel‐ ches auch immer ihre Materialien sind, auf der Suche nach intensiven Wirkungen von der Nachahmung lediglich schöner Vorbilder absehen und sich an überraschenden, ungewöhnlichen und schockierenden Kombinationen versuchen. Und der Schock par 1 Theoretische Vorüberlegungen 62 <?page no="63"?> 167 Ebd., S. 159f. 168 Kant: Kritik der Urteilskraft (s. Anm. 127), 1. Teil, 1. Abschn., 2. Buch, §48, S. 243. 169 Moses Mendelssohn: »VII. Den 14. Februar. 1760. Zwey und achtzigster Brief«. In: Gesammelte Schriften. Kommentare und Anmerkungen von Eva J. Engel. Bd. 5. Rezen‐ sionsartikel in Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759-1765). Stuttgart-Bad Cann‐ statt 1991, S. 131. excellence ist, daß es geschieht, daß etwas geschieht und nichts, daß die Beraubung suspendiert ist. 167 Lyotard rehabilitiert damit den Begriff des Erhabenen im Kontext einer Ästhetik der Postmoderne, die sich dem Versuch verschreibt, das schiere Faktum der Existenz eines Nicht-Fassbaren aufzuzeigen. 1.2.4 Der Ekel Eine Theorie des Erhabenen löst das scheinbare Paradoxon des Wohlgefallens an per se missfälligen Gegenständen auf und beschreibt dabei gleichsam ästhe‐ tische Wirkungsweisen schauerlicher Gegenstände, die, wie im Vorigen be‐ schrieben, unterschiedlicher Natur sein können. Die dergestalt provozierten Primäraffekte wie Schaudern, Angst, Überwältigung etc. sind dabei ästhetisch genießbar. Tatsächlich findet sich jedoch vor allen in den Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts recht einhellig ein Affekt vom ästhetisch Bekömmlichen ausge‐ schlossen: der Ekel. So bei Kant: »nur eine Art Häßlichkeit kann nicht der Natur gemäß vorgestellt werden, ohne alles ästhetische Wohlgefallen, mithin die Kunstschönheit, zugrunde zu richten: nämlich diejenige, welche Ekel er‐ weckt.« 168 Kant zufolge handelt es sich also um eine Form der ästhetischen Ag‐ gression, die nicht mehr aufhebbar ist. Auch Moses Mendelssohn stimmt dem zu und findet folgende Begründung: Hier zeigen sich schon handgreifliche Ursachen, warum der Eckel von den unange‐ nehmen Empfindungen, die in der Nachahmung gefallen, schlechterdinges ausge‐ schlossen sey. Vors erste, ist der Eckel eine Empfindung, die in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit nach, blos den allerdunkelsten Sinnen, als dem Geschmack, dem Ge‐ ruche und dem Gefühle zukommen, und diese Sinne haben überhaupt nicht den ge‐ ringsten Antheil an den Werken der schönen Künste. Die Nachahmung in den Künsten arbeitet blos für die deutlichere Sinne, für das Gesicht und das Gehör. Das Gesicht aber, hat keine eigene ekelhafte Gegenstände; […]. 169 Der Ekelaffekt berührt im Unterschied zu ›edleren‹ Empfindungen wie Angst, Schauder, Wut etc. die »allerdunkelsten Sinne«, die gegenüber dem durch den Kunstgebrauch geadelten Sehsinn und Gehör als Kontaktsinne deutlich ›leib‐ 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 63 <?page no="64"?> 170 Ebd., S. 132: »Die widrige Empfindung des Eckels aber erfolgt, vermöge des Gesetzes der Einbildungskraft auf die blosse Vorstellung in der Seele, der Gegenstand mag für würklich gehalten werden, oder nicht. Was hilfts dem beleidigten Gemüthe also, wenn sich die Kunst der Nachahmung noch so sehr verräth? Ihre Unlust entsprang nicht aus der Voraussetzung, daß das Uebel wircklich sey, sondern aus der blossen Vorstellung desselben, und diese ist wirklich da. Die Empfindungen des Eckels sind also allezeit Natur, niemals Nachahmung.« 171 Annette Kluitmann: »Es lockt bis zum Erbrechen. Zur psychischen Bedeutung des Ekels«. In: Forum der Psychoanalyse 15 (1999), S. 267-281, hier: S. 268. 172 Konrad Paul Liessmann: »›Ekel! Ekel! Ekel - Wehe mir! ‹. Eine kleine Philosophie des Abscheus«. In: Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Ekel und Allergie. Berlin 1997 (= Kursbuch 129), S. 101-110, hier: S. 102. 173 Vgl. Claudia Reiß: Ekel. Ikonographie des Ausgeschlossenen (s. Anm. 28), S. 13f. 174 Winfried Menninghaus: »Ekel. Vom negativen Definitionsmodell des Ästhetischen zum ›Ding an sich‹«. In: Robert Stockhammer (Hg.): Grenzwerte des Ästhetischen. Frankfurt am Main 2002, S. 44-57, hier: S. 47. 175 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung (s. Anm. 28), S. 15. gebundener‹ sind. Für Mendelssohn ist der Ekel nicht abstrahierbar; allein die Vorstellung eines ekelerregenden Gegenstands genüge, um selbigen hervorzu‐ rufen. 170 Tatsächlich handelt es sich beim Ekel um einen Primäraffekt (wie Angst, Trauer, Freude, Überraschung, Wut), d.h. »[s]ein mimischer Ausdruck ist dem Menschen von Geburt an verfügbar«. 171 Doch zeichnet er sich wohl besonders durch seine Körperbezogenheit und Intensität aus, wie Liessmann bemerkt: »Kein Affekt kommt, im wörtlichen Sinn, so aus den Tiefen der Eingeweide des Menschen wie der Ekel; und kein Affekt wird, metaphorisch gewendet, so sehr zum Indiz einer metaphysischen Misere wie der Ekel.« 172 Obgleich er sich dergestalt zunächst als immediater und leibgebundener Af‐ fekt präsentiert, kommen ihm diverse Funktionen und Wertigkeiten zu, je nachdem in welchem Kontext er manifest wird. Zu differenzieren sind hier die Ebene der Ästhetik, der Physis, der Philosophie und der Ethik. 173 Ästhetisch ist der Ekel, wie aus Kants und Mendelssohns Bemerkungen ersichtlich wurde, vor allen Dingen der Gegenpol des Schönen, »Kehrseite des ästhetischen goût«, der das ästhetisch Genießbare transzendiert. 174 Gleichzeitig ist er aber nicht nur das »schlechthin Andere[s]« des Ästhetischen, sondern auch »eigenste Tendenz des Schönen«: 175 Wie Menninghaus vorführt, kann ein Zuviel an Schönem zum Überdrussekel führen, der sich einstellt, wenn nach der Sättigung durch einen als positiv (schön) bewerteten Reiz dessen Fortbestehen oder Übermaß als un‐ angenehm empfunden wird. Gleich einer Süßigkeit, derer man zuviel isst, wird 1 Theoretische Vorüberlegungen 64 <?page no="65"?> 176 Vgl. ebd., S. 40-50 (»Das Schöne als Vomitiv«). Menninghaus bezieht sich hier auf äs‐ thetische Überlegungen Mendelssohns, Karl Wetzels, Kants, Lessings u.a. Mit Rekurs auf Adorno bemerkt er, dass Kitsch mitunter ein Beispiel dafür liefert, dass der Exzess an Schönem gleichsam in etwas Missfälliges umschlagen kann (vgl. ebd., S. 47). 177 Ebd., S. 46. 178 Winfried Menninghaus: »Ekel« (s. Anm. 171), S. 47f. 179 Friedrich Schlegel: »Über das Studium der Griechischen Poesie [1795-1797]« (s. Anm. 1), S. 85. 180 Werner Kübler: »Gedanken über Ekel aus ernährungspsychologischer Sicht«. In: Hermes A. Kick (Hg.): Ekel. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten. Hürtgenwald 2003, S. 15-25, S. 19. Vgl. auch Claudia Reiß: Ekel. Ikonographie des Ausgeschlossenen (s. Anm. 28), S. 13. 181 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung (s. Anm. 28), S. 8. 182 Ferner zu Lebensekel am Beispiel von Sartres Roman La Nausée (1938) vgl. Ulrich Diehl: »Lebensekel, Sinnkrise und existentielle Freiheit. Philosophische Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres Roman Der Ekel«. In: Hermes A. Kick (Hg.): Ekel. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten. Hürtgenwald 2003, S. 67-82. 183 Claudia Reiß: Ekel. Ikonographie des Ausgeschlossenen (s. Anm. 28), S. 13. das in geringen Mengen Schmackhafte unbekömmlich. 176 Damit ist »das Schöne [ist] an sich selbst zugleich das (tendenziell) Ekelhafte; es ist aus sich heraus von der Gefahr bedroht, sich unversehens als ein Vomitiv zu erweisen.« 177 Jedoch wird der Ekel bereits am Ende des 18. Jahrhunderts im Kontext von Sensualismus und den frühromantischen Erlebnispoetiken gleichsam zum Maximalreiz pro‐ moviert. 178 Friedrich Schlegel diagnostizierte dabei das Choquante, »sei es aben‐ teuerlich, ekelhaft oder gräßlich« als grundlegende Tendenz der Kunst, die immer stärkere Effekte zu provozieren sucht. 179 Physisch ist der Ekel wie bereits erwähnt ein angeborener Primäraffekt, der ferner körperliche Reaktionen wie Würgen und Erbrechen hervorrufen kann. Auslöser können dabei vor allem potenziell schädliche Gegenstände wie Ver‐ dorbenes oder giftige Lebensmittel sein. 180 In der Philosophie kommt dem Ekel spätestens seit Nietzsche und Sartre eine besondere Wertigkeit zu. In Anlehnung an ersteren nennt Menninghaus den Ekel ein »spontanes und besonders kräft‐ iges Nein-Sagen«, welches sich in diesem Fall gegen das Dasein selbst richtet. 181 Der Lebensekel bzw. Lebensüberdruss ist damit durchaus der Melancholie und dem ennui anverwandt. 182 Schließlich lässt sich darüber hinaus von einem mo‐ ralischen Ekel sprechen, also einem »Abwehrgefühl gegen Handlungen, die als der sittlichen Moral widersprechend angesehen werden«. 183 Das eigentlich Ge‐ genständliche des physischen Ekels wird demnach auf der ethischen Ebene zum moralisch Verwerflichen und damit Anstößigen abstrahiert. Der Ekelaffekt in seiner besonders heftigen Spontaneität kommt in all seiner Intensität eigentlich erst zum Tragen, wenn der Ekelreiz als aufdringlich emp‐ 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 65 <?page no="66"?> 184 Bei Freud ist der Ekel das Resultat einer Verdrängung des eigentlich Lustvollen, des Triebes. Dieser wird damit normalisiert; vgl. Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fliess 1987-1904. Hg. von Jeffrey Moussaieff Masson. Frankfurt am Main 1986, S. 301-305 und ders.: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Frankfurt am Main 1991. Ferner zu Freud und seiner psychoanalytischen Konzeption des Ekels vgl. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung (s. Anm. 28), S. 287ff.; Kluitmann: »Es lockt bis zum Erbrechen« (s. Anm. 171), S. 271f. Kristeva wiederum stellt die Theorie des »Abjekten« auf: »abjekt« (nach frz. abject) sind jene Gegenstände, die im Menschen eine eigentümliche Mischung von heftiger Abwehr bei gleichzeitiger Faszination her‐ vorrufen. Diese Gegenstände sind solche, die das Ich zugunsten der eigenen Subjekt‐ konstitution von sich abspalten muss (das Ich kann sich erst in der Differenz konstitu‐ ieren); diese Abspaltung glückt jedoch nicht vollständig. Das Abjekte ist »Folge einer unvollständigen Abgrenzung, welche Ambiguität erzeugt und die Trennlinie zwischen Ich und Anderem, Innen und Außen verwischt« (Ansgar Nünning [Hg.]: Metzler Le‐ xikon Literatur- und Kulturtheorie [s. Anm. 74]), S. 2). Vgl. Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection. Paris 1980. 185 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung (s. Anm. 28), S. 13f. 186 Claudia Reiß: Ekel. Ikonographie des Ausgeschlossenen (s. Anm. 28), S. 16ff. funden wird. Der Ekel kann damit gleichsam als Abstoßung eines in seiner un‐ mittelbaren Intimität als unerträglich empfundenen Gegenstands beschrieben werden. Indessen kann dieser Gegenstand aber nicht nur reinen, ungetrübten Abscheu hervorrufen, sondern durchaus auch faszinieren. In diesem Sinne ist Ekel bei Freud und Kristeva eine Form der Verdrängung bzw. Abspaltung urei‐ genster Triebe - eine Verdrängung, die sich das Ich zur Selbsterhaltung bzw. zur Subjektkonstitution selbst auferlegt hat. 184 Somit lässt sich der Ekel mit Men‐ ninghaus wie folgt verstehen als die heftige Abwehr (1) einer physischen Präsenz bzw. eines uns nahe angehenden Phänomens (2), von dem in unterschiedlichen Graden zugleich eine unterbewußte Attraktion bis offene Faszination ausgehen kann (3). 185 Ferner wird er von Reiß weiter ausdifferenziert in Ekel erster Ordnung und Ekel zweiter Ordnung. 186 Ekel erster Ordnung bezeichnet dabei den »gemeinschafts‐ bildenden Ekel«, welcher durch Objekte ausgelöst wird, die kollektiv als ekel‐ 1 Theoretische Vorüberlegungen 66 <?page no="67"?> 187 Claudia Reiß: Ekel. Ikonographie des Ausgeschlossenen (s. Anm. 28), S. 18. Sie beruft sich damit auf Eming, der den Ekel erster Ordnung als relativ konsensfähiges Kollektivphä‐ nomen bezeichnet: »Den Ekel als eine ›starke Empfindung‹ zu verstehen bedeutet, ihn als einen Sinnenreiz mit begleitendem inneren Erleben zu thematisieren, der innerhalb einer Theorie der Empfindungen auf ›Ekelobjekte‹ wie ›Schleim, Blut, Verwesendes‹ bezogen ist, so daß der Ekel an Ekliges gebunden bleibt. Nennen wir diese Art von Ekel einen Ekel erster Ordnung, weil er etwas an den Dingen in der Welt anspricht, das per se - also von allen Mitgliedern einer Gemeinschaft - als eklig empfunden wird. (Knut Eming: »Zur Bedeutung des Ekel-Affekts in der Antike«. In: Hermes A. Kick [Hg.]: Ekel. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten. Hürtgenwald 2003, S. 97-121, hier: S. 98). Einerseits ist Ekel also als Empfindung notwendigerweise sub‐ jektgebunden und damit nicht objektiv, doch andererseits kann er als gemeinschaftli‐ cher, durch die Kultur definierter ›Gruppenaffekt‹ gleichsam als »gesellschaftliches Ordnungsinstrument gegen eine Hierarchiegefährdung als gemeinsames Urteil festge‐ schrieben« werden (Claudia Reiß: Ekel. Ikonographie des Ausgeschlossenen [s. Anm. 28], S. 17). Doch ist gleichfalls darauf zu verweisen, dass der Ekel trotz seiner relativen Universalität von Kultur zu Kultur variieren kann. So bemerkt Kluitmann: »Zwar wird Ekel in allen Kulturen erlebt, doch verändern sich die Auslöser des Ekels, seine Intensität und die Bedeutung, die er als soziales Signal hat [...] in Abhängigkeit von der histo‐ risch-gesellschaftlichen Entwicklung, von kulturell spezifischen Phantasien, Vorstel‐ lungen und Erfahrungen« (Kluitmann: »Es lockt bis zum Erbrechen« [s. Anm. 171], S. 268). 188 Aurel Kolnai: Ekel, Hochmut, Hass. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Hg. von Axel Honneth. Frankfurt am Main 2007, S. 23-38. erregend empfunden werden. 187 Einen eindrucksvollen und umfassenden Ka‐ talog relativ universaler Ekelobjekte erstellte der österreichisch-britische Philosoph Aurel Kolnai in seinem 1929 erschienenen Essay »Der Ekel«. Als Ge‐ genstand des Ekels benennt er Objekte, die den folgenden Kategorien ange‐ hören: a) dem »Erscheinungskreis der Fäulnis«, d.h. der Verwesung und Zer‐ setzung; b) dem Bereich der Exkremente, d.h. die »Zersetzungsprodukte des Lebens«, sowie c) der Kategorie der körperlichen Ausscheidungen; ferner ver‐ weist er auf d) den Ekeltyp des Klebens, d.h. alles, was dort haften bleibt, wo es nicht bleiben soll; e) ekelerregende Tiere, vor allem Insekten; f) Speisen, im Besonderen, weil diese im Übermaß genossen zum Überdrussekel führen; g) der menschliche Leib, wenn dieser als aufdringlich, physisch zu nah in all seiner Körperlichkeit empfunden wird; h) den Ekel vor dem »wuchernden Leben«, der »üppigen Fruchtbarkeit«, d.h. »das Geistig-Ekelhafte der Idee formlos schäum‐ ender Vitalität, qualitätsgleichgültiger Drauflosproduktion von Keimen und Brut«; i) den Bereich der Krankheit und »körperlichen Verwachsenheit«, d.h. der Ekel vor dem deformierten menschlichen Körper. 188 Gleichwohl liefert Kolnai einen Apparat an moralisch Ekelerregendem, der sich auf die folgenden Kategorien reduzieren lässt: a) den Überdrussekel; b) in Analogie zum physi‐ schen Ekel ein Übermaß an oder falscherorts entfalteter Vitalität; c) die unge‐ 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 67 <?page no="68"?> 189 Ebd., S. 39-47. Vgl. auch Claudia Reiß: Ekel. Ikonographie des Ausgeschlossenen (s. Anm. 28), S. 18. 190 Vgl. ebd., S. 19. Damit setzt sie sich von Eming und Menninghaus ab, die den Ekel zweiter Ordnung vielmehr im Sinne Nietzsches definieren als »Ekel vor dem Ekel […], der sich nicht vor den üblichen Ekelobjekten ekelt, sondern ein Ekel vor der Ordnung ist, die durch den Ekel aufgerichtet wird« (Eming: »Zur Bedeutung des Ekel-Affekts in der Antike« [s. Anm. 184], S. 98). 191 So entzündet sich der Lebensekel Sartres Protagonisten Antoine Roquentins an gänzlich alltäglichen Gegenständen bzw. in trivialen Kontexten, die ihm mit einem Mal in all ihrer Fremdheit erscheinen. So z.B. im Café, während er das Gesicht der Kellnerin Madeleine betrachtet: »Je regardais ses grandes joues qui n’en finissaient pas de filer vers les oreilles. […] Alors la Nausée m’a saisi, je me suis laissé tomber sur la banquette, je ne savais même plus où j’étais; je voyais tourner lentement les couleurs autour de moi, j’avais envie de vomir. Et voilà: depuis, la Nausée ne m’a pas quitté, elle me tient« ( Jean-Paul Sartre: La Nausée. Paris 1972, S. 37). 192 Zu den Wirkungsweisen des Ekels in der (bildenden) Kunst vgl. Claudia Reiß: Ekel. Ikonographie des Ausgeschlossenen (s. Anm. 28), S. 23-27. ordnete, ungezähmte Sexualität; d) die Lüge; e) die Falschheit bzw. Untreue und f) die moralische Weichheit. 189 Diese Objekte (sowohl physisch-materieller als auch moralischer Natur) fallen damit in den Bannkreis zumindest größtenteils kollektiv empfundener Ekelempfindungen und gehören damit dem Ekel erster Ordnung an. Reiß grenzt demgegenüber den Ekel zweiter Ordnung ab, den der sogenannte Lebensekel konstitutiert. 190 Da dieser deutlich diffuser, weniger an konkrete Gegenstände gebunden ist, gilt er gleichsam als subjektiv und indivi‐ duell variabel. 191 Wie eingangs mit Rekurs auf Kant und Mendelssohn erläutert wurde, besteht die vordergründige Problematik des Ekelaffektes in seiner scheinbaren Nicht-Ästhetisierbarkeit. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Ekel das ästhetische Spiel mit der Fiktion durchbreche, in jedem Fall stets Natur, nie aber Kunst sei. Tatsächlich ist der durch Kunst erzeugte Ekel anderer Natur als der realiter produzierte. 192 Wahrnehmungssubjekt und Kunstrezipient fallen hier in eins, doch in der Regel weiß letzterer um die Tatsache, dass er sich einer Fiktion ausliefert und hat in gewissem Maß die Kontrolle darüber, inwieweit er sich ihr aussetzt. Das Ekelobjekt ist in dieser Situation nicht physisch präsent, sondern lediglich in der Nachahmung. Das Kunstwerk fungiert quasi als Vermittler zwi‐ schen Rezipient und Ekelobjekt; das dem Ekelaffekt zugrundeliegende Gefühl von überwältigender Nähe wird durch das Kunstwerk hergestellt. Es scheint naheliegend, dass gewisse Schlüsselreize auch in der Mimesis der Fiktion wirken: So wird eine besonders plastische bildliche Darstellung eines verwe‐ senden Leichnams oder die ausnehmend detaillierte Schilderung einer stink‐ enden, schmutzigen Kloake auch in der Vorstellung eine Form des Ekels er‐ 1 Theoretische Vorüberlegungen 68 <?page no="69"?> 193 Ebd., S. 25. 194 Vgl. Anz: »Unlust und Lust am Ekelhaften in Literatur und Kunst« (s. Anm. 130). Zu zwei Formen der Ekellust, nämlich die Lust, die in der christlichen Mortifikation besteht, oder die Lust am Abseitigen, vgl. Julius Krebs: »Ekellust«. In: Hans Magnus Enzens‐ berger (Hg.): Ekel und Allergie. Berlin: Rohwolt 1997, S. 88-99. 195 Anz: »Unlust und Lust am Ekelhaften in Literatur und Kunst« (s. Anm. 130), S. 151. 196 Ebd., S. 152. zeugen. Somit ist für den Künstler wiederum in gewisser Weise absehbar, wie das Kunstwerk wirken wird: Sofern Ekelobjekte, die in der Regel als kollektiv ekelhaft gelten, in der Darstellung nachgeahmt werden, kann davon ausge‐ gangen werden, dass sie auf ähnliche Weise auf den Rezipienten einwirken, wie sie dies in der Realität tun. Wie Reiß herausstellt, lassen sich somit »phänome‐ nologische Motivketten des Ekels erster Ordnung« detektieren, welche beson‐ ders effektiv den Ekelaffekt zu produzieren vermögen. 193 Gleichsam vermag Kunst aber sicherlich auch moralischen Ekel hervorzurufen, indem sie ethisch fragliche Handlungen an Ekelzuschreibungen koppelt. In der Moderne und Postmoderne scheint die Position, wie sie noch Kant und Mendelssohn u.a. vertraten, kaum noch adäquat: Längst gilt Ekelerregendes nicht mehr als Ausschlusskriterium für künstlerisch Wertvolles und ästhetisch Genießbares. Genres und Strömungen wie die gothic novel, Dekadenz, Natura‐ lismus und Expressionismus, das »théâtre de la cruauté« oder auch abject art in den bildenden Künsten - um nur ein paar Beispiele zu nennen - belegen, dass Kunst und Ekelmotive sich nicht gegenseitig ausschließen. Vielmehr liegt der Schluss nahe, dass in Anbetracht der Ubiquität von Gewalt, Elend und Sexualität sowohl in den Künsten als auch der gegenwärtigen Popkultur (ein Trend, der sich seit den 90er Jahren fortsetzt) eine vollständige Integration, gar Abstump‐ fung von Ekelreizen stattgefunden hat. Thomas Anz lotet die Möglichkeiten des Genusses von Ekelhaftem in der Literatur und Kunst aus und macht dabei gleichsam die Theorie des Erhabenen für ein besseres Verständnis der Wir‐ kungsweisen des Ekelhaften nutzbar. 194 Analog zu den Kategorien des Tragi‐ schen und Entsetzlichen kann der menschliche Geist seine Stärke auch an der Kategorie des Ekelhaften erproben, sich über die drohende Reizüberwältigung erhaben zu fühlen: »Gelingt es dem Subjekt, sogar noch diesem Angst- und Ekelgemisch [gemeint ist das Beispiel eines verwesenden Leichnams] standzu‐ halten, kann es den Stolz seiner Autonomie um so mächtiger erfahren.« 195 Eine weitere Möglichkeit der positiven Umwertung des Ekelhaften in der Kunst ist aber vor allen Dingen die moralische Lust, d.h. das »Gefühl der Er‐ leichterung, der Genugtuung oder sogar des Triumphes, wenn die Guten siegen und die Bösen vernichtet werden«. 196 In diesem Sinne lizenziert moralische Ver‐ 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 69 <?page no="70"?> 197 Hans Richard Brittnacher: »Erregte Lektüre - der Skandal der phantastischen Lite‐ ratur«. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 44 (1994), S. 1-17, hier: S. 11. 198 Nicht auszuschließen ist dabei gleichsam die sadistische Lust, die der Rezipient theo‐ retisch empfinden kann: »Unabhängig davon, ob aggressive Bedürfnisse angeboren oder erworben sind, steht fest, daß es sie gibt. Und sie lassen sich vor allem dann be‐ friedigen, wenn die Leser oder Zuschauer vor schrecken- oder ekelerregenden Vor‐ gängen sich nicht mit dem Opfer, sondern mit den Tätern identifizieren.« (Anz: »Unlust und Lust am Ekelhaften in Literatur und Kunst« [s. Anm. 130], S. 153). 199 Vgl. ebd. 200 Ebd., S. 156. werflichkeit eine besonders schauderliche Zelebrierung des Ekelhaften, sofern es um dessen Zerschlagung geht. Brittnacher beobachtet in Bezug auf die phan‐ tastische Literatur, dass sich diese genau jenes Prinzip aneignet: Die Phantastik rehabilitiert jene Mittel, die die Aufklärung gerade aus dem Repertoire zivilen Verhaltens verbannt hatte. Der Horror vereinfacht: Er macht das Böse so wi‐ derlich, daß das vermeintlich Gute mit gutem Gewissen so böse wie das Böse werden darf. Der Ekel berechtigt zu einem hemmungslosen, befreienden Gewaltbacchanal der Opfer, in dem das Ekelhafte zerschlagen, zertreten, verbrannt oder in die Luft ge‐ sprengt wird. 197 Ähnlich dem Prinzip der Katharsis kommt es so zu einer Triebabfuhr: Durch die Kunst können Aggressionen kanalisiert und sublimiert werden, welche sich umso wirkungsvoller entladen, je schauderlicher und ekelerregender die ge‐ schilderte Bannung des Bösen ist. 198 Generell können Ekelmotive letztlich für eine Affektsteigerung instrumentalisiert werden. So wird die detaillierte Be‐ schreibung des geschundenen Leichnams des Hippolyte in Racines Phèdre gleichsam den Schauder und Jammer um seinen tragischen Tod erhöhen. Analog verhält es sich mit dem Märtyrertod, der umso imposanter wirkt, je größer die Qualen im Diesseits sind. 199 Letztlich liegt eine der großen Attraktionen des Ekelhaften aber auch in seiner Reizstärke, eben genau in der Tatsache, dass er mit einer solchen, nahezu un‐ erträglichen Intensität auf das Subjekt einwirkt. Hier kommt wieder Du Bos’ Maxime zum Tragen, der zufolge es uns ein unermessliches Vergnügen bereitet, von der Kunst bewegt, gar betrübt zu werden. Die Seele genießt es, sich in Agi‐ tation zu sehen und dies sogar im Ekel, denn »[s]chlimmer als Schrecken oder Ekel ist […] der Horror vacui, die emotionale Leere«. 200 Somit wohnen sogar dem Ekelhaften gewisse ästhetische Qualitäten inne, wobei es in seinen Wir‐ kungsweisen dem Erhabenen ähnlich ist. Trotzdem sind dem Ekelhaften als äs‐ thetische Kategorie gewisse Grenzen gesetzt, wie Brittnacher bemerkt: 1 Theoretische Vorüberlegungen 70 <?page no="71"?> 201 Brittnacher: »Erregte Lektüre - der Skandal der phantastischen Literatur« (s. Anm. 197), S. 11. 202 Ludwig Marcuse: Obszön. Geschichte einer Entrüstung (s. Anm. 29), S. 11. Die unhintergehbare Verpflichtung des narrativen Diskurses auf das Prinzip der Suk‐ zession muß die phantastische Prosa um die ersehnte skandalöse Wirkung bringen. Die hyperbolische Darstellung des Abartigen und die ausufernde Beschreibung seiner Vernichtung enden unweigerlich in einer repetitiven Suada des Unappetitlichen. Der Ekel kennt - das ist sein ästhetisches Manko - keine Innovation, sondern bestenfalls Verstärkung durch das wiederholte Herabsetzen von Hemmschwellen. Doch sind diese schon im ersten Ekelaffekt gefallen. 201 Gerade in der Literatur ist die Darstellung des Ekelhaften an die Sukzession der Narration gebunden. Ist eben einmal der Ekel auf den Plan gerufen worden, so kennt er keine (ästhetische) Steigerung mehr, sondern nur noch die Wiederho‐ lung, welche letztendlich den ursprünglich wirksamen Reiz abnutzen wird. Damit ist auch der Ekel als Anderes des Ästhetischen und Maximalaffekt nur vorübergehend ästhetisch wirksam. 1.2.5 Das Obszöne Dem Ekel bzw. dem Ekelobjekt als Wirkungskategorie in gewisser Weise an‐ verwandt ist auch das Obszöne. Zwar handelt es sich hierbei im Unterschied zum Ekel nicht um einen Primäraffekt, sondern vielmehr um ein Zuschrei‐ bungsphänomen, das ihm jedoch in seiner Wirkungsweise durch die Intensität der produzierten Emotionen (die bisweilen gar den Ekel involvieren können) nahekommt. Was dabei ganz konkret obszön eigentlich ist, erweist sich als schwer fassbar. So lauten Ludwig Marcuses einleitende Worte zum Vorver‐ ständnis des Obszönen in seiner Monographie Obszön. Geschichte einer Entrüs‐ tung wie folgt: »Das lehrt die lange Geschichte: obszön ist, wer oder was ir‐ gendwo irgendwann irgendwen aus irgendwelchem Grund zur Entrüstung getrieben hat. Nur im Ereignis der Entrüstung ist das Obszöne mehr als ein Gespenst.« 202 Dieses obszöne »wer oder was« betrifft dabei vornehmlich den Sexual- oder Fäkalbereich und kennt laut Duden eine Vielzahl an Synonymen: anrüchig, anstößig, anzüglich, doppeldeutig, frivol, nicht salonfähig, pikant, pornographisch, schamlos, unanständig, zweideutig; dreckig; nicht stubenrein, schlüpfrig, schmutzig, zotig; ordinär; unflätig; vulgär; schweinisch, säuisch. Zwar lässt es sich mit einer Vielzahl von Begriffen be- und umschreiben, bleibt aber dennoch im Kern schwer greifbar - nicht zuletzt, da es sich um eine äußerst subjektive Erlebniskategorie handelt, die sich kaum empirisch fassen lässt. Es 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 71 <?page no="72"?> 203 Ebd., S. 11. 204 Stefan Morawski: »Art and Obscenity«. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 26 (1967), S. 193-207, hier: S. 204. 205 So apologetisch der Aufsatz sich gegenüber den betreffenden literarischen Texten auch verhält und damit zunächst eine vermeintliche Toleranz an den Tag legt, endet er doch in einer Verteufelung der Pornographie, die untrüglich als Symptom einer moralisch erkrankten Gesellschaft auftrete: »What is needed is to cure the causes, not the symp‐ toms. This means an effective and sustained curtailment of the range and influence of pornography to the point of its complete eradication.« (ebd., S. 206). sei »eine Gleichung mit mindestens sechs Unbekannten«, so Marcuse, was je‐ doch besonders auch die Justiz in der Vergangenheit nicht davon abgehalten hat, sich an einer Definition zu versuchen. 203 Zweifellos ist das Obszöne (in der Kunst) historisch wandelbar: Die Texte, derer sich Marcuse annimmt - Friedrich Schlegels Lucinde (1799), Flauberts Madame Bovary (1857) und Baudelaires Fleurs du mal (1857), D.H. Lawrences Lady Chatterley’s Lover (1960), Henry Mil‐ lers Tropic of Cancer (1934) -, sind indessen längst in den Kreis kanonischer Höhenkammliteratur aufgenommen worden. Laut Stefan Morawski in einem Aufsatz mit dem Titel »Art and Obscenity« aus dem Jahre 1967 erklärt sich dies durch die zunächst falsche Rezeption der betreffenden Texte: Es handele sich um ein Missverständnis zwischen einem Werk, das im Grunde nicht den ge‐ ringsten Angriff auf die sexuelle Imagination ausübe, und einer Leserschaft, die es nach nicht-ästhetischen Standards gemäß ihren eigenen moralischen Tabus beurteilen würde. So erläutert Morawski, dass das obszöne Zeichen durchaus nicht mit einem Mangel an Literarizität einhergehe und führt aus, wie es künst‐ lerisch transformiert, quasi neutralisiert werden könne, indem es im Medium der Sprache symbolhaften Charakter erhält, ästhetisiert, intellektualisiert und poetisiert wird. 204 Die Werke Millers und Lawrences dürften nicht in Hinblick auf die explizite Darstellung sexueller Handlungen hin gelesen werden, sondern in Hinsicht auf den poetischen und philosophischen Gehalt, der sie von der gemeinen Pornographie absetze. 205 Hier wird die Problematik des Obszönen in der Kunst ganz deutlich: Es bedarf dessen Rechtfertigung (poetischer, inhalt‐ lich-struktureller, philosophischer Natur), um den Kunstcharakter nicht einzu‐ büßen. Ist es dergestalt nicht plausibilisierbar, driftet das Obszöne ab in die Por‐ nographie, die wie folgt definiert wird: gesteigerte Form der erotischen Lit. mit ästhetisch, kompositorisch, stilistisch und lit. wertlosen, ausführl. Beschreibungen geschlechtl. Vorgänge (Geschlechtsverkehr, Se‐ xualpraktiken, Perversionen), ohne jeden qualifizierten Kunstanspruch mit der zent‐ ralen Wirkungsabsicht sexueller Stimulierung und daher stets unoriginell, monoton in Wiederholung und Steigerung (›Nummerndramaturgie‹) und das schickliche Maß 1 Theoretische Vorüberlegungen 72 <?page no="73"?> 206 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner 8 2001, S. 634f. 207 Edgar Mertner/ Herbert Mainusch: Pornotopia. Das Obszöne und die Pornographie in der literarischen Landschaft (s. Anm. 29), S. 88. 208 Darauf verweist auch Thomas Anz: Die sexuelle Lust am literarischen Text bereitet vorwiegend Unbehagen. Am Beispiel von Manfred Jurgensens Beschwörung und Erlö‐ sung. Zur literarischen Pornografie (Bern/ Frankfurt am Main/ New York 1985) zeigt Anz, dass bei der Analyse aufklärerischer Pornographie meist hauptsächlich nach dem Er‐ kenntniswert allein gefragt wird (vgl. Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Un‐ glück beim Lesen [s. Anm. 110], S. 214). Auch in Barthes Essay Le Plaisir du texte wird die sexuelle Lust - wenngleich auch die von ihm konzipierte jouissance als Hingabe an den Text erotisch konnotiert ist - ausgespart (Roland Barthes: Le Plaisir du texte. Paris: Éd. du Seuil 1982; vgl. Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen [s. Anm. 110], S. 207). 209 Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen. Hg. von Dieter Kliche. Ditzingen 2015, S. 223. des noch vertretbaren Geschmacks zum Obszönen hin übersteigend. […] Auch die Lit. kann sehr wohl in kompositorisch vertretbarem Maß und aus dem ehrl. Streben nach Erfassung des ganzen Menschen in Einzelszenen (›Stellen‹) zu e. erot. Realismus in der Darstellung des Sexuellen gelangen, aber sie wird die Darstellung der Sexual‐ sphäre stets nur als Mittel zum Aufzeigen menschl. Befindlichkeit, nicht aber als Selbstzweck oder in nur triebsteigernder Absicht benutzen. 206 Das Pornographische ist also nicht-literarisch und verfolgt eine andere Wir‐ kungsstrategie als das obszöne Kunstwerk; es will nichts anderes als die kör‐ perliche Erregung: »Sie verlangt nicht vergrößerte geistige Anstrengung, sie will entspannen. Sie lebt geradezu von der Verleugnung und Tabuisierung des Geistigen.« 207 Doch diese Form der körperlichen Lust am Text ist eine nicht-äs‐ thetische und von literaturwissenschaftlicher Warte aus zunächst problemati‐ sche Lust. 208 In Karl Rosenkranz’ 1853 erschienener Ästhetik des Häßlichen ist diese Form der Erregung gänzlich verpönt: »Alle Darstellung der Scham und der Geschlechtsverhältnisse in Bild oder Wort, welche nicht in wissenschaftli‐ cher oder ethischer Beziehung, sondern der Lüsternheit halber gemacht wird, ist obszön und häßlich« (meine Hervorhebung). 209 Pikante Darstellungen des Se‐ xuellen sind also nur dann lizenziert, wenn sie einem höheren Zweck dienen, so z.B. in der Satire der korrigierenden Belehrung. Dass aber gerade diese kre‐ atürliche Lust weitestgehend ausgeblendet wird, muss theoretisch widersinnig erscheinen, wenn es doch die Literatur ist, die die höchsten Empfindungen her‐ vorzurufen vermag: Generationen von Lesern Shakespeares und Schillers und Byrons und Dostojewskis danken den Meistern ungeheure Steigerungen der Emotionen. Mit Ausnahme der se‐ xuellen? Indem die sogenannten Liberalen leugneten, daß die große Literatur die ero‐ tische Phantasie stachle, verdeckten sie höchst illiberal einen ihnen unbequemen Zu‐ 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 73 <?page no="74"?> 210 Ludwig Marcuse: Obszön. Geschichte einer Entrüstung (s. Anm. 29), S. 39. 211 Die wesentlichen Unterschiede zwischen Kunst und Pornographie bringen Mertner und Mainusch übrigens wie folgt auf den Punkt: Erstens erhebe die Pornographie Wahr‐ heitsanspruch auf die von ihr dargestellten Praktiken, während die Kunst vielmehr eine Möglichkeit von Wahrheit in der Fiktion durchspiele. Es werde also ein unterschiedli‐ ches Realitätsverhältnis etabliert. Zweitens müsse die Pornographie ewiglich möglichst neue, wirksame Reize entwickeln, um einer Abnutzung vorzubeugen, da ihre raison d’être eben in der Reizeingebung bestünde, während Kunst sich der Emotionalisierung nur als Mittel zu einem höheren Zwecke bediene. Drittens ziele Kunst niemals auf di‐ rektes Handeln ab (auch wenn sie vernünftiges Handeln qua Reflexion anempfehlen will), während Pornographie quasi die sofortige Befriedigung der durch sie erweckten Begierden verfolge. (Vgl. Edgar Mertner/ Herbert Mainusch: Pornotopia. Das Obszöne und die Pornographie in der literarischen Landschaft [s. Anm. 29], S. 124f.). 212 Es ist jedoch darauf zu verweisen, dass neben einer derartigen Aufwertung der Porno‐ graphie zur Transgressionsliteratur sie in der Postmoderne aber vor allen Dingen Ge‐ genstand der feministischen Kritik wurde. Die in der Pornographie inszenierte Welt makelloser, permanent kopulierender Körper - der stets potente Mann und die stets willige Frau - scheint in Hinblick auf ihre Rollenzuschreibungen problematisch: Die Frau werde im Zuge der der Pornographie eigenen Oberflächenästhetik auf ihren Status als Objekt der Lust und Aggression reduziert (vgl. Peter Gorsen: Sexualästhetik. Grenz‐ formen der Sinnlichkeit im 20. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 157; Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen [s. Anm. 110], S. 218). Diese Position vertrat u.a. die amerikanische radikalfeministische Soziologin Andrea Dworkin (Pornography - Men Possessing Women, 1981). stand der Dinge. Sie wollten unter keinen Umständen den Boden der Tradition verlassen, die vorschrieb: das Geschlechtliche ist nur zugelassen, wenn es im poeti‐ schen Äther verdunstet. 210 Dass das Faktum des Obszönen im Kunstwerk nach wie vor problematisch ist und eine Unterscheidung von obszön und pornographisch vorgenommen wird, zeigt die bereits zitierte, relativ aktuelle Definition von Pornographie aus dem Jahre 2001. 211 In der Postmoderne schließlich wächst das Interesse im Besonderen an de Sade und die pornographische Kunst (man verzeihe das vermeintliche Oxy‐ moron) wurde damit quasi zu einer neuerlichen Erkenntnisquelle promoviert. 212 Auch hier sei erneut auf Bataille verwiesen, der einerseits mit seinen Sach‐ schriften L’Érotisme (1957) und La Littérature et le mal (1957), andererseits aber auch mit seinem sogenannten obszönen Prosawerk (L’Histoire de l’œuil, 1967; Madame Edwarda, 1956; Ma Mère, 1966; Le Petit, 1963; Le Mort, 1967) den Bereich der Sexualität und des Obszönen (neben dem Bösen) als Raum der Überschrei‐ tung und Verausgabung herausarbeitete, der in scharfer Opposition zur Herr‐ schaft der Vernunft in der modernen Gesellschaft steht. Susan Sontag stellt denn in ihrem Aufsatz »Die pornographische Phantasie« (1968) auch fest, dass die der 1 Theoretische Vorüberlegungen 74 <?page no="75"?> 213 Susan Sontag: »Die Pornographische Phantasie I + II«. In: Akzente 17 (1968), S. 77-95; 169-190, hier: S. 90. Pornographie attestierte Eindeutigkeit der Wirkungsabsicht indessen gar nicht so transparent ist, wie stets angenommen: Die körperlichen Empfindungen, die ungewollt im Leser erweckt werden, enthalten etwas, das die ganze Erfahrung seiner Menschlichkeit - und seiner Grenzen als Per‐ sönlichkeit und als Körper - betrifft. In Wahrheit ist die Eindeutigkeit der Intention in der Pornographie unecht. Nicht hingegen die Aggressivität, die in dieser Intention zum Ausdruck kommt. Was in der Pornographie Endzweck zu sein scheint, ist ebenso sehr ein Mittel von alarmierender und bedrückender Konkretheit. Der Endzweck frei‐ lich ist weniger konkret. Die Pornographie ist […] ein Zweig der Literatur, der auf Desorientierung, auf psychische Verwirrung, ausgerichtet ist. 213 Sontag trifft hier eine Aussage über die Wirkungsweisen der Pornographie (und sicherlich auch des obszönen Zeichens), die sich mit den Schlüsselbegriffen »Aggressivität« und »Unausweichlichkeit« auf den Punkt bringen lässt. Implizit ist damit ausgedrückt, dass die Pornographie die Überwindung der ästhetischen Differenz sucht und naturgegebene körperliche Reaktionen aktivieren will, die nicht der Verstandeskontrolle unterliegen. Und damit ist der basalste aller Be‐ reiche des Menschen angesprochen: das Andere der Ratio, die Sexualität. Diese jedoch wird im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang nicht frei ausgelebt, sondern durch Regeln und Konventionen reguliert, die sich zu Tabus ver‐ 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 75 <?page no="76"?> 214 Vgl. Stefan Neuhaus: »Tabu und Tabubruch im erotischen Film«. In: Michael Braun (Hg.): Tabu und Tabubruch in Literatur und Film. Würzburg 2007, S. 137-150, hier: S. 139. Darüber hinaus stellt Neuhaus mit Rekurs auf Foucaults Histoire de la sexualité die regulative Funktion des Diskurses über Sexualität heraus: »Begierden werden heute reguliert, indem sie in pornographische und erotische Filme ausgelagert werden. Dass heute in der Darstellung von Sexualität auf der Leinwand keine Tabus mehr zu gelten scheinen, bedeutet nicht, dass sie ihre Geltung innerhalb der Gesellschaften, in denen die Filme zu sehen sind, verloren haben. In diesem Sinne kann man mit Foucault von einer ›geschwätzigen Sexualität‹ sprechen, die nicht dazu dient, gesellschaftliche Macht zu subvertieren, sondern zu stützen.« (ebd., S. 147). Das Obszöne dient in diesem Sinne der Psychohygiene, wie Willemsen bemerkt: »In der Ökonomie des psychologischen Haushalts hat die ›obszön‹ genannte Phantasie kathartische Funktion. Das ›obszöne‹ Bild tritt in Träumen, in Angst- und Lustzuständen, in Wahn, Wut und Langeweile, es tritt als fixe Idee im Bewußtsein auf, es erfüllt, so sagt man, eine hygienische, ja selbst‐ therapeutische Funktion und bildet damit in der Bilderwelt des Seelenlebens eine ähn‐ liche Größe wie Bordelle, Sexshops, Straßenstrichs und Pornokinos in der männlich orientierten Psychohygiene der Gesellschaft.« (Roger Willemsen: »Über das Obszöne«. In: Barbara Vinken [Hg.]: Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obs‐ zönen in der Gegenwart. München 1997, S. 129-147, hier: S. 133-134). dichten. 214 Gesellschaftliche Tabus wiederum bestimmen die Schamgrenzen, die im Falle des obszönen Zeichens überschritten werden. Dieser ›Übergriff‹ auf den Rezipienten gestaltet sich in Hinblick auf die In‐ tensität auf vergleichbare Weise wie bei den anderen Grenzphänomenen des Ekels oder des Grausam-Erhabenen. Doch unterscheidet sich das obszöne Zei‐ chen in seiner Substanz von z.B. dem ekelauslösenden Gegenstand. Die kritische Grenze wird beim Ekelaffekt meist erst durch Akkumulation semantisch ver‐ wandter Bedeutungsträger erreicht, während das obszöne Zeichen bereits für sich allein als Signal stehen kann. Diese Beobachtung trifft Wolf-Dieter Stempel in seinem Aufsatz »Mittelalterliche Obszönität als literarästhetisches Problem« (1968). Ob seiner Transparenz sei der betreffende Passus in ganzer Länge zitiert: Obszönität wird aber auch, und hierin unterscheidet sie sich merkmalhaft von den Vergleichsphänomenen [Grausamkeit, Ekel], in der Substanz fassbar. Erhält z.B. ein komplexer Akt der Grausamkeit ein einziges sprachliches Zeichen (foltern), so liegt diesem ein synthetisches Urteil zugrunde, das aus der Distanz gewonnen wird. Die verschiedenen Aspekte des Vorgangs werden verarbeitet auf einen Nenner gebracht. Maximalnenner, bei welchem die größtmögliche Distanz erreicht wird, ist grausam, eklig, obszön (er war grausam, der Anblick war ekelerregend usw.). Der erzielte Abstand bemißt sich natürlich nach dem Grad der Synthese, sowie nach der Anschaulichkeit des gewählten Ausdrucks (cf. crever les yeux im Unterschied zu blenden), doch ge‐ schehen diese Regulierungen innerhalb der jeweils gegebenen Distanzspanne. Die Vorstellung des Zuhörers oder Lesers wird dementsprechend nur schwach affiziert, 1 Theoretische Vorüberlegungen 76 <?page no="77"?> 215 Wolf-Dieter Stempel: »Mittelaterliche Obszönität als Literarästhetisches Problem« (s. Anm. 29), S. 190. die der Phantasie vermittelte Anregung zur gedanklichen Entfaltung des Vorgangs bleibt gering. Anders im Fall der Obszönität, wo das synthetische Zeichen eines ent‐ sprechenden Vorgangs Signal für eine intensivere gedankliche Detaillierung sein kann, die auf Grund eines über die Intimität verhängten Tabus je nachdem insgeheim erwünscht oder als Zumutung abgewiesen werden kann. Die kritische Anfälligkeit des synthetischen Zeichens für skabröse Inhalte erweist sich auch daran, daß es, von anderen Möglichkeiten der Kaschierung abgesehen, oft in eine Abstraktion zweiten Grades erhoben wird, indem der gewählte Ausdruck, z.B. für den Beischlaf, in einem größeren semantischen Bereich angesiedelt wird (cf. afrz. faire l’uevre ›das Werk tun‹ u.ä.) und das Gemeinte sich nur indirekt auf dem Weg über den Kontext bestimmen läßt. Diese Erscheinung, bei der der Abstand zum signifié nicht sekundär verändert, sondern überhaupt überlagert wird von einem semantischen Gefälle, ist z.B. bei der Darstellung von Grausamkeit oder Häßlichkeit kaum wahrzunehmen oder erreicht dort jedenfalls nicht die gleiche Bedeutung; sie gilt in besonderem Maße auch für die Bezeichnung von einzelnen Dingen der Intimsphäre (Körperteile, körperliche Funk‐ tionen usw.), wofür die anderen Grenzbereiche insgesamt nur wenig Analoges bieten. Daraus folgt zugleich ein wichtiger Unterschied in der semantischen Strukturierung: während z.B. bei Häßlichkeit, Ekelhaftigkeit die kritische Grenze erst quantitativ er‐ reicht wird, ohne daß die einzelnen Bestandteile der Beschreibung (wie z.B. krumme Nase) selbst schon auf die Grenze verweisen, besitzt das obszöne Detail (z.B. con) unter gegebenen Umständen bereits einen kritischen Eigenwert; die Summierung kann also hier sozusagen im Sinne einer offenen Reihe erfolgen, dort ist sie geschlossen, bis der kritische Grad vorliegt. 215 Das obszöne Detail kann demnach einen höheren Grad der Involvierung erfor‐ dern, je nachdem wie direkt bzw. indirekt es beschaffen ist und in welchem Kontext es auftritt. Während der ekelerregende Gegenstand quasi stets nur er selbst ist und auf sich selbst verweist, kann Obszönität gleichermaßen im Un‐ eigentlichen verborgen sein, quasi im Hinterhalt lauern. Es kann aber darüber hinaus auch in seiner schieren Präsenz wirken, ist irreduzibel, sofern es sich in seiner Isoliertheit dem Rezipienten aufdrängt. Obszönität ist, wie eingangs beschrieben, ein Zuschreibungsphänomen. Zwar können inhaltlich Bereiche benannt werden, die das Obszöne betrifft (Sexualität, Fäkalbereich etc.), doch muss ein obszönes Zeichen eben nicht notwendiger‐ weise einen Gegenstand bezeichnen, der diesen Domänen angehört. So können Körperfunktionen oder Geschlechtsorgane auf völlig unanstößige Weise be‐ sprochen werden, z.B. in einer medizinischen Abhandlung. Im Umkehrschluss 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 77 <?page no="78"?> 216 Dass es keine per se obszönen Gegenstände gibt, betont auch Matthew Kieran: »The paradigmatic kinds of obscenity manifest a variety of features which are marks of the obscene: subject matter of bodily functions, sex, violence and death; certain kinds of interest taken up in such subject matter; a lack of self-restraint being sought or elicited in the audience or viewer; treating persons as objects; public indecency. Whilst it is right to take such features as potential markers, none of them capture obscenity’s fun‐ damental character. With respect to representations it is crucial to bear in mind that it is not the predominant subject-matter per se of obscenity, sex, death and violence, which give rise to the judgment of obscenity. Rather, in the case of representations, obscenity concerns the ways in which such subject matter is treated in order to solicit or elicit certain kinds of responses from us. Moreover it cannot be that a judgment of obscenity is applied to anything and everything that we cognitively-affectively respond to as being morally prohibited.« (Matthew Kieran: »On Obscenity. The Thrill and Repulsion of the Morally Prohibited«. In: Philosophy and Phenomenological Research 64 [2002], S. 31-55, hier: S. 43-44). So fügt er seiner Definition von Obszönität noch das Moment des moralisch Nicht-Lizenzierten hinzu. Als Beispiel für die obszöne Darstellung eines Nicht-Obszönen nennt er ein Beispiel aus Monty Pythons The Meaning of Life, genauer die Restaurantszene, in der sich in deutlicher Überzeichnung ein schwer Übergewich‐ tiger bis zum buchstäblichen Platzen überfrisst. In Anbetracht des an den Tag gelegten Mangels an Etikette und der zur Schau gestellten maßlosen Gier verkomme der Akt des Essens zur obszönen Geste (vgl. ebd., S. 35). kann dann ein per se kaum anzüglicher Gegenstand in der Darstellung zum Stein des Anstoßes werden. 216 Zutreffender wäre es also gegebenenfalls, von einem Modus der obszönen Darstellung zu sprechen, der in der konkreten Umsetzung auf unterschiedliche Weise realisiert werden kann. Und dabei ist es der Dar‐ stellung des Ekelhaften oder Grausamen in gewisser Weise diametral entgegen gestellt: Denn während beispielsweise die zerlegende, detaillierte Schilderung einer brutalen Schlacht durch die Aneinanderreihung blutiger Einzelheiten den kritischen Punkt des Nicht-Mehr-Erträglichen erreichen kann, ist es möglich, 1 Theoretische Vorüberlegungen 78 <?page no="79"?> 217 So stellt Stempel fest: »die […] Monotonie tötet das Interesse an dem Einzelvorgang ab und verkehrt es in Überdruß, weshalb sich die Satire dieses Verfahrens [mehrfache Wiederholung des gleichen obszönen Vorgangs] bedient« (Stempel: »Mittelalterliche Obszönität als Literarästhetisches Problem« [s. Anm. 29], S. 203). In der Diskussion zu besagtem Aufsatz bemerkt auch Jauß: »gerade die Häufung und insistierende Darstel‐ lung sexueller Vorgänge wirkt abstumpfend, und nach der dritten Wiederkehr des glei‐ chen Schemas kann man allenfalls noch lachen. Das eigentliche Obszöne muß man wohl dort suchen, wo durch isolierende Ostentation eine ästhetisch distanzierte, freie Re‐ zeption verhindert wird und ein Zwang entsteht, das Sexuelle so hinzunehmen, als sei es wirklich.« (»Fünfte Diskussion: Lässt sich das Obszöne ästhetisieren? «. In: H.R. Jauß [Hg.]: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München 1968 [=Poetik und Hermeneutik 3], S. 611-617, hier: S. 613). Doch ist, wie ich denke, auch hier vorstellbar, dass die detaillierte Zerlegung (und damit Anhäufung) z.B. einer se‐ xuellen Handlung eben besonders aufgrund ihrer Detailliertheit und damit Intimität erst den kritischen Punkt erreicht. 218 Der folgende Abschnitt bezieht sich auf Stempel: »Mittelalterliche Obszönität als Lite‐ rarästhetisches Problem« (s. Anm. 29), S. 201ff. dass im Falle des obszönen Zeichens die kaum variierende Wiederholung des Anrüchigen zur Entkräftung der Obszönität beiträgt. 217 In Bezug auf die »Kleinstruktur der Obszönität« macht Stempel ferner - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - aufschlussreiche Beobachtungen, die die Wir‐ kungsweisen bzw. die Beschaffenheit des obszönen Zeichens beleuchten. 218 Ers‐ tens kann es isoliert und damit durch den Zusammenhang nicht motiviert oder aber funktionalisiert als strukturgebendes Element auftreten (z.B. Decameron I, 4, wo das Erotische Grundlage für die pointierte Auflösung der Novelle ist). Überdies stellt sich zweitens die Frage nach der Aktualisierung des Zeichens, d.h.: Auf welcher Diskursebene tritt es auf ? Ist es beispielsweise Teil der Rede, dann wird es als Gegenstand der Reflexion distanzierend entschärft; als Teil des récit tritt es dem Rezipienten jedoch ungleich unmittelbarer gegenüber. Auf der histoire-Ebene wiederum kann es distanzschaffend wirken, wenn sich die Ge‐ schichte in zeitlicher Distanz zu der Lebenswelt des Lesers abspielt oder aber im umgekehrten Fall deutlich nähestiftend, wenn sie in der Gegenwart des Rezi‐ pienten angesetzt ist. Insgesamt sind sämtliche Kunstgriffe, die den Eindruck von Präsenz und Unmittelbarkeit erwecken sollen (z.B. historisches Präsens als Tempus der unmittelbaren Vergegenwärtigung) dazu geeignet, das obszöne Zei‐ chen in die Nähe des Rezipienten zu rücken. Und schließlich wird, wie bereits erwähnt, relevant, wie sich das Verhältnis von Beschreibung bzw. Zerlegung und zeitraffendem récit gestaltet. Drittens kann das obszöne Zeichen in der Sonderform der Metapher auftreten, welche das eigentlich Gemeinte durch Zweideutigkeit verhüllt. Auch Rosenkranz empfiehlt die Metapher als adäquate 1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik 79 <?page no="80"?> 219 »Um das Obszöne zu mildern, wendet der Geist die List der Zweideutigkeit an, d.h. der mehr oder weniger verdeckten Anspielung auf unvermeidliche zynische Verrichtungen oder auf die geschlechtlichen Verhältnisse des Menschen. Die Zweideutigkeit ist ein indirektes Anschauen dessen, was uns Scham einflößt.« (Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen [s. Anm. 209], S. 226f.). 220 An dieser Stelle ließe sich noch einmal zurück verweisen auf das bereits zitierte Gedicht »A celle qui est trop gaie« Baudelaires, dem durch die editorische Randnotiz nachträg‐ lich eine weitere Sinnebene hinzugefügt wird. 221 »Fünfte Diskussion: Lässt sich das Obszöne ästhetisieren? « (s. Anm. 217), S. 616. 222 Sandra Schwab: Das Obszöne im Roman Feuchtgebiete. Tabubruch oder Stilmittel? Ham‐ burg 2014, S. 16. Form der Verschleierung, die das eigentlich Obszöne dem Betrachter entrückt. 219 Doch kann sie paradoxerweise gerade dadurch effektsteigernd wirken, z.B. durch die plötzliche Anreicherung eines vermeintlich harmlosen Sinnes durch ein weiteres, pikantes Signifikat. 220 Somit ist das obszöne Zeichen nicht einfach auf krudes, eigentliches Sprechen zu reduzieren, sondern im Gegenteil ließe sich mit Preisendanz die These aufstellen: »je größer der literarische Aufwand ist, desto mehr kann das Sexuelle im Leser zum factum brutum werden«. 221 Letztlich aber bleibt das Obszöne im Grunde diffus bzw. historisch und kul‐ turell variabel. Die hier angestellten Ausführungen sind natürlich nicht ex‐ haustiv, führen aber die besondere Problematik des Werturteils »obszön« vor. An dieser Stelle kann Sandra Schwab sicherlich zugestimmt werden, wenn sie schreibt: »Vielleicht ist obszön kein ontologisch zu bestimmender Wert, sondern ein ästhetisches Urteil wie gut oder hässlich, um nur zwei Beispiele zu nennen.« 222 1.2.6 Zwischenfazit Um sich einer Schockästhetik als rezeptionsästhetischem Phänomen zu nähern, ist es unerlässlich, die Theorie über ästhetische Erfahrung und (ästhetische) Empfindungen heranzuziehen. Für die vorliegende Untersuchung sind dabei ästhetische Grenzerfahrungen relevant, die den Rezipienten im Kunstgenuss sowohl sinnlich als auch geistig ›überfordern‹. In diesem Zusammenhang ist der Diskurs über das Erhabene als Erlebniskategorie aufgerufen worden, der auch noch in der Gegenwartsliteratur Anwendung finden kann: Der Ekel und das Obszöne manifestieren sich als moderne Formen des Erhabenen, insofern sie Momente größter emotionaler bzw. sinnlicher Intensität darstellen, die es für den Rezipienten zu bewältigen gilt. Für die Analyse der hier diskutierten Texte ist damit maßgeblich, inwiefern diese ästhetische Grenzerfahrungen produ‐ zieren: Welcher Art ist der durch den Text produzierte Effekt, d.h. wird Ekel bzw. 1 Theoretische Vorüberlegungen 80 <?page no="81"?> 223 Niklas Luhmann/ Robert Spaemann: Paradigm lost. Niklas Luhmanns Herausforderung der Philosophie. Über die ethische Reflexion der Moral. Rede: laudatio. Frankfurt am Main 1990 (=Suhrkamp Taschenbuch 797), S. 19. 224 Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1989, S. 360. 225 Vgl. Düwell: »Ästhetische Erfahrung und Moral« (s. Anm. 68), S. 22. Abscheu induziert oder wird durch einen Bruch mit der bienséance das sittliche Empfinden und das Schamgefühl des Lesers verletzt? Oder soll - wie es bei‐ spielsweise die proklamierte Wirkungsabsicht de Sades ist - das obszöne Zei‐ chen gar der Erregung des Lesers dienen? Und ferner: Sind die kunstvermittelten Erfahrungen noch assimilierbar bzw. geistig-reflexiv zu bewältigen (wie es die Theorie des Erhabenen vorsieht) oder sollen sie den Leser bzw. Zuschauer aus dem ästhetischen Kunstraum des interesselosen Wohlgefallens herausführen? Besonders auch für Pasolini, Nove, Ammaniti und Houellebecq stellt sich dabei die Frage, ob die Schockproduktion die Reflexion befördert, indem sie zum emo‐ tional engagierten Nachvollzug anregt, oder ob sie eine reflexive Verhandlung der von den Texten vorgestellten Problemzusammenhänge sogar behindert. 1.3 Das Böse und ethische Implikationen 1.3.1 Vorverständnis von Ethik und Moral Berührungsängste, die in der Vergangenheit in der Literaturkritik in Bezug auf ethische Implikationen von Kunst aufkamen, sind vermutlich weitestgehend auf ein diffuses Verständnis der Begrifflichkeiten von Moral und Ethik zurückzu‐ führen. In der Tat aber sind die beiden Begriffe nicht miteinander gleichzusetzen. Mit Niklas Luhmann lässt sich vielmehr die folgende Differenzierung vor‐ nehmen: Ethik ist die »Beschreibung der Moral« 223 bzw. die »Reflexionstheorie der Moral«. 224 Die Moral bezeichnet also den normativen Bereich der sittlichen Lebensführung, d.h. den präskriptiven Normenapparat. Die Ethik wiederum dient als Beschreibungsorgan eben dieser. Ihr liegt die Frage »Wie soll ich leben? « zugrunde. Diese Distinktion lässt sich Marcus Düwell zufolge auch mit den Begrifflichkeiten der »Strebensethik« und »Sollensethik« vornehmen: Ers‐ tere ist zukunftsorientiert und beschäftigt sich mit der Frage nach einem guten und gelungenen Leben, wohingegen die Sollensethik den Bereich der mora‐ lisch-normativen Fragen selbst darstellt. 225 Die Moral benennt damit also die »Artikulierung [der ethischen] Ausrichtung in Normen«, welche sich »durch ihren Universalitätsanspruch sowie durch einen Zwangscharakter 1.3 Das Böse und ethische Implikationen 81 <?page no="82"?> 226 Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer. Aus dem Französischen von Jean Greisch. Mün‐ chen 1996, S. 208. 227 Die Verbindlichkeit moralischer Normen lässt sich Düwell zufolge in Anlehnung an Alan Gewirth (Reason and Morality, 1978) bzw. Klaus Steigleder (Grundlegung der nor‐ mativen Ethik, 1999) über das »principle of generic consistency« begründen: Die Hand‐ lungsfähigkeit eines jeden beruht auf der Anerkennung des Anderen bzw. der Tatsache, dass dieser über die gleichen Rechte verfügt wie man selbst (vgl. Düwell: »Ästhetische Erfahrung und Moral« [s. Anm. 68], S. 24). 228 Susanna Frings: »A la recherche de l’homme perdu« (s. Anm. 52), S. 37. 229 In einem Artikel der Frankfurter Rundschau vom 8. September 1992 tritt Bohrer für die unüberbrückbare Differenz von Ästhetik und Ethik ein: Karl Heinz Bohrer: »Unüber‐ setzbare Sprache der Kunst: Die symmetrisch nicht faßbare Differenz von Ethik und Ästhetik«. In: Frankfurter Rundschau (8. September 1992), S. 18. 230 Zum Konnex von Ethik und Ästhetik der Sammelband Christoph Wulf/ Dietmar Kamper/ Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Ethik der Ästhetik (s. Anm. 32); Josef Früchtl: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung (s. Anm. 32); Gerhard Hoffmann/ Alfred Hornung (Hg.): Ethics and Aesthetics. The Moral Turn of Postmoder‐ nism (s. Anm. 32); Bernhard Greiner/ Maria Moog-Grünewald: Etho-Poietik. Ethik und Ästhetik im Dialog: Erwartungen, Forderungen, Abgrenzungen (s. Anm. 32); Marcus Dü‐ well: Ästhetische Erfahrung und Moral. Zur Bedeutung des Ästhetischen für die Hand‐ lungsspielräume des Menschen (s. Anm. 32); Dietmar Mieth/ Dominik Bertrand-Pfaff/ Regina Ammicht-Quinn (Hg.): Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik (s. Anm. 32); Susanne Krepold/ Christian Krepold (Hg.): Schön und gut? Studien zu Ethik und Ästhetik in der Literatur (s. Anm. 32) . aus[zeichnen]«. 226 Die ethische Grundprämisse des geglückten Lebens impli‐ ziert dabei natürlich gleichsam die Verantwortung gegenüber dem Anderen. 227 Während die Moral also präskriptiv ist, involviert der Begriff der Ethik die »Selbstbefragung des Individuums« in Hinblick auf geglückte Lebensführung »mit seiner unumgänglichen Verantwortung«. 228 1.3.2 Das ethische Moment der ästhetischen Erfahrung Nachdem Überlegungen zu den (wirkungs-)ästhetischen Qualitäten des Bösen angestellt worden sind und im Zuge dessen die Schwierigkeit angedeutet wurde, die von Bohrer geforderte absolute Distanz zum Phänomen des Bösen einzu‐ nehmen, soll nun ein ›gemäßigtes‹ Konzept von Ästhetik erarbeitet werden, das vielmehr genuin ethische Aspekte der ästhetischen Erfahrung inkludiert. In einem solchen Verständnis sind Ethik und Ästhetik nicht zwei einander aus‐ schließende Extrempole, 229 sondern greifen ineinander. 230 Eine »dem ästheti‐ schen Bereich inhärente Ethik« erläutert Wolfgang Welsch in seinem Beitrag 1 Theoretische Vorüberlegungen 82 <?page no="83"?> 231 Wolfgang Welsch: »Ästhet/ hik. Ethische Implikationen und Konsequenzen der Äs‐ thetik«. In: Christoph Wulf/ Dietmar Kamper/ Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Ethik der Ästhetik. Berlin 1994 (=Acta humaniora), S. 3-22, hier: S. 5. 232 Ebd., S. 6. 233 Ebd. 234 Ebd. 235 In Anlehnung an Adornos Ästhetische Theorie und dem Anspruch, dem Heterogenen gegenüber Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, formuliert Welsch die Idee einer wahr‐ haft »freien« Kunst, die »die Möglichkeit des Selbstseins vor Augen führ[t]«. Es ginge darum, entgegen der Überbetonung der Form klassischer Ästhetiken und der Sublima‐ tion des Unmittelbar-Sinnlichen, auch dem vermeintlich Rohen (dem Heterogenen, nicht Überformten und dadurch ursprünglich Echten und Freien) Aufmerksamkeit und damit Gerechtigkeit zukommen zu lassen (ebd., S. 12f., hier: S. 14). zur »Ästhet/ hik«. 231 Er führt hier vor, wie die aisthesis in ihrer Doppelfunktion als reflexive, erkenntnisfördernde Wahrnehmung einerseits und sinnenhafte Empfindung andererseits immer schon einem vitalen Imperativ gehorcht: »Sie dient dem Leben, dem Sich-am-Leben-Erhalten und Überleben - noch nicht dem guten Leben«. 232 Denn während die Empfindung durch die Eingebung von Lust- und Unlustgefühlen eine vitale Schutzfunktion vor allem Schadhaften bei gleich‐ zeitiger Bewertung von dem Körper Bekömmlichem übernimmt, fungiert auch die Wahrnehmung auf ähnliche Weise zugunsten »der Erkenntnis des Nützli‐ chen oder Schädlichen, Zuträglichen oder Abträglichen und der Auslösung eines entsprechenden Verhaltens«. 233 Und diese Vitalfunktion der aisthesis gehe dem »elevatorischen Imperativ« der reflexiv-distanzierten Lust des ästhetischen Wohlgefallens immer schon voraus. 234 Welsch plädiert in Abgrenzung zu einer paradoxerweise sinnenfeindlichen Ästhetik, wie sie im 18. Jahrhundert von Baumgarten und Schiller entworfen wurde, hingegen für eine Ästhetik der Ge‐ rechtigkeit 235 bzw. eine Ästhet/ hik oder »Kultur des blinden Flecks«: [Die Kultur des blinden Flecks] wäre eine Kultur, die prinzipiell für Ausschlüsse, Ver‐ werfungen, Andersheiten sensibel wäre. Sie verschriebe sich nicht einem Kult des Sichtbaren, Evidenten, Glänzenden, Prangenden - nicht also dem gegenwärtigen Ästhetisierungstrubel -, sondern dem Verdrängten, den Leerzonen, den Zwischen‐ räumen, der Alterität. Dem würde sich ihre Aufmerksamkeit nicht nur in ästhetischen, sondern ebenso in lebensweltlichen, sozialen, politischen Kontexten zuwenden. [...] Denn das genannte ästhetische Bewußtsein macht an der Grenze der Kunstsphäre nicht Halt. Es überträgt sich vielmehr - analog - auch auf die Lebensverhältnisse, auf soziale und lebensweltliche Konstellationen. Und es tut das konsequent und legitim. Anders gesagt: Auch die hier zuletzt skizzierte Ästhetik ist eine Ästhet/ hik. Ebenso 1.3 Das Böse und ethische Implikationen 83 <?page no="84"?> 236 Ebd., S. 20f. 237 Vgl. Düwell: »Ästhetische Erfahrung und Moral« (s. Anm. 68), S. 17. 238 Ebd., S. 17. 239 Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität. Frank‐ furt am Main: Suhrkamp 1985, S. 281. wie für ästhetische Konstellationen ist sie für lebensweltliche Verhältnisse einschlä‐ gig. 236 Eine Ästhetik, die nicht rigoros das Geistig-Reflexive der Wahrnehmung und damit die Selbstbezüglichkeit der Form überprivilegiert, sondern offen ist für das Roh-Sinnenhafte ist auch gleichsam eine Ästhet/ hik - also eine Erfahrung, der das Moment des Ethischen bereits eingeschrieben ist. Wie im Vorfeld bereits unter Berücksichtigung von Martin Seels Konzeption von ästhetischer Erfahrung erläutert wurde, ist diese stets in gewisser Weise an die Lebenswelt des wahrnehmenden Subjekts gebunden. Kunst kann sich die außerliterarische Wirklichkeit verfremdend, überzeichnend, karikierend, stili‐ sierend, poetisierend etc. anverwandeln, doch ein Bezug bleibt in gewisser Weise erhalten bzw. wird durch den Rezipienten erst hergestellt. 237 Sie aktiviert der‐ gestalt eine Reflexion über die Lebenswelt des Wahrnehmungssubjekts und enthält damit einen ethischen Impetus: »Die ästhetische Erfahrung hat eine re‐ flexive Dimension, insofern sie uns mit den möglichen Sichtweisen der Welt, mit Erlebniswelten und Empfindungsqualitäten konfrontiert. Daher ist die äs‐ thetische Erfahrung immer auch mit einem emotional engagierten Erfahrungs‐ vollzug verbunden.« 238 In der aisthesis verquicken sich demnach Sinnlichkeit, Empfindung und Reflexivität. Ästhetischer Genuss ist weniger eine rein intel‐ lektuelle Tätigkeit als ein Beieinander welt- und selbstbezogener Impulse. Und letztendlich ist es überhaupt erst die ästhetische Erfahrung, die ethische Refle‐ xionen ermöglicht, denn Kunst ist eben nicht ausschließlich ein rein theore‐ tisches Konstrukt, das im Reiz der Imagination besteht: »Das gelungene Werk führt die Erfahrenden nicht aus der Welt ihrer Erfahrung heraus oder setzt sie von dieser frei: es gibt ihnen die Freiheit, sich zu ihrer Erfahrung erfahrend zu verhalten. Der ästhetische Vollzug einer Erfahrung gewährt einen Spielraum gegenüber der angeeigneten Erfahrung, der im Prozeß dieser Erfahrung durch‐ gehend wirksam bleibt.« 239 1.3.3 Der ethical turn und narrative Ethik Seit den 1980er, im Besonderen den 1990er Jahren wird eben jene Potentialität des geschriebenen Textes neu erkundet: Die ethische Bedeutungsdimension der 1 Theoretische Vorüberlegungen 84 <?page no="85"?> 240 Vernon W. Gras: »The Recent Ethical Turn in Literary Studies«. In: Mitteilungen des Verbandes deutscher Anglisten 4 (1993), S. 30-41, hier: S. 30. 241 In der Tat handelt es sich bei der Diskussion um den Konnex von Kunst und Moral um eine alte. Bereits in der Antike wird durch Platon der Literatur die »ethische Funktion im Sinne einer Systemstabilisierung von Staat und Erziehungswesen« zugewiesen (Ansgar Nünning [Hg.]: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie [s. Anm. 74], S. 181). Durch die Jahrhunderte wird sich die Polemik erhalten. Niklas Luhmann stellt gar die These auf, dass es »[m]it gar astrologischer Regelmäßigkeit […] in den 80er Jahren eines jeden Jahrhunderts zu einer […] Ethikwelle« komme (Niklas Luhmann/ Robert Spaemann: Paradigm lost; Niklas Luhmanns Herausforderung der Philosophie [s. Anm. 223], S. 10). 242 Vgl. Robert Eaglestone: »Navigating an Ancient Problem: Ethics and Literature«. In: European Journal of English Studies 7 (2003), S. 127-136, hier: S. 128. 243 Martha C. Nussbaum: »Perceptive Equilibrium. Literary Theory and Ethical Theory«. In: dies.: Love’s knowledge. Essays on philosophy and literature. New York 1990, S. 168- 194, hier: S. 191. Literatur rückt nunmehr wieder in den Fokus. Dieser ethical turn vollzog sich vor allem im angloamerikanischen Raum als Antwort auf das spielerische any‐ thing goes der Postmoderne: Der ethical criticism sei Vernon W. Gras zufolge das »centripetal product of postmodernism«, quasi die Antwort auf ein zuneh‐ mendes Sehnen nach Sinnstiftung innerhalb einer Welt, die sich durch Kontin‐ genzerfahrungen, die Inkommensurabilität von Werten und einen absoluten Relativismus auszeichne. 240 Die Wiederbelebung 241 eines wertekritischen und ethisch orientierten Dialogs über Kunst gestaltet sich damit im Wesentlichen als Alternative zu Ansätzen wie Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus. 242 Der amerikanische Literaturwissenschaftler Wayne C. Booth sowie die neu‐ aristotelische Philosophin Martha C. Nussbaum u.a. machten eine Auffassung von Literatur stark, der zufolge Texte gleichsam Modelle ethischen Verhaltens abbilden: literary theory can improve the self-understanding of ethical theory by confronting it with a distinctive conception or conceptions of various aspects of human ethical life, realized in a form that is the most appropriate one for their expression. Insofar as great literature has moved and engaged the hearts and minds of its readers, it has established already its claim to be taken seriously when we work through the alter‐ native conceptions. 243 Die Literatur wird in dieser Anschauung gleichsam zum Artikulationsorgan ethischer Theorie, in dem moralische Normen und Werturteile vor allen Dingen auch emotional nachvollzogen werden. Wayne C. Booth konzipiert Literatur als 1.3 Das Böse und ethische Implikationen 85 <?page no="86"?> 244 So implizieren Booth zufolge die unterschiedlichen Werke eines Autors stets »different versions, different ideal combinations of norms« (Wayne C. Booth: The Rethoric of fic‐ tion. Chicago/ London 2 1983, hier: S. 71). 245 Wayne C. Booth: »Are Narrative Choices Subject to Ethical Criticism? «. In: James Phelan (Hg.): Reading narrative. Form, ethics, ideology. Columbus 1989, S. 57-78, hier: S. 73. 246 Vgl. Walter Haug: »Das Böse und die Moral. Erzählen unter dem Aspekt einer narrativen Ethik«. In: Adrian Holderegger/ Jean-Pierre Wils (Hg.): Interdisziplinäre Ethik. Grund‐ lagen, Methoden, Bereiche. Festgabe für Dietmar Mieth zum sechzigsten Geburtstag. Freiburg, Schweiz 2001, S. 243-268, hier: S. 268. 247 Claudia Öhlschläger: »Narration und Ethik. Vorbemerkung«. In: Claudia Öhlschläger (Hg.): Narration und Ethik. München 2009 (=Ethik - Text - Kultur 1), S. 9-21, hier: S. 13. 248 Zur Differenzierung der einzelnen Bedeutungsdimensionen des Begriffs vgl. Karen Jo‐ isten: »Möglichkeiten und Grenzen einer narrativen Ethik. Grundlagen, Grundpositi‐ onen, Anwendungen«. In: dies. (Hg.): Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen. Berlin 2007 (=Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderband 17), S. 9-21, hier: S. 11- 12; Öhlschläger: »Narration und Ethik« (s. Anm. 247), S. 11. Ausdruck der moralischen Anschauungen eines impliziten Autors. 244 Dem ge‐ genüber steht die Unausweichlichkeit des moralischen Urteils seitens des Lesers, der - wie indeterminiert der Text in Bezug auf didaktische Inhalte auch sein mag - stets und unweigerlich um Erkenntnis und Verständnis bemüht sei: Regardless of whether we surrender to a given fictions’s world in blissful identification or virtuously maintain a nice critical distance, we after all experience what we expe‐ rience. Even those fictions that openly reject all human or pragmatic appeals, even those aggressively plotless works that seem made up entirely of verbal experimenta‐ tion, offer an experience that changes the live of their readers, those readers who engage themselves sufficiently to find a life in the works. 245 Hier wird auch besonders deutlich, dass der ethical criticism im Grunde gleichsam eine Rezeptionsästhetik ist. 246 Das ethische Potential eines Textes ausschöpfen zu wollen setzt gleichermaßen die Bereitschaft des Lesers voraus, sich auf eine solche Lesart einzulassen - eben jene Leser, »who engage them‐ selves sufficiently to find a life in the works«. Auf dem »Befund, dass ethische Beurteilungen ihrem problematischen Ver‐ ständnis nach in literaturwissenschaftlichen Analysen kaum zu vermeiden sind, wenn man ästhetische, historische oder gesellschaftskritische Urteile in die In‐ terpretation mit einbeziehen möchte«, fußt dann auch der Ansatz der narrativen Ethik, die vor allen Dingen im germanophonen Raum erarbeitet wurde. 247 Der Begriff der »narrativen Ethik« 248 kann dabei erstens das erzählende Besprechen von Problemen ethischer Natur meinen; zweitens die Analyse von erzählend bzw. narrativ vermittelten moralischen Gegenständen, d.h. von typisch didak‐ 1 Theoretische Vorüberlegungen 86 <?page no="87"?> 249 Joisten: »Möglichkeiten und Grenzen einer narrativen Ethik« (s. Anm. 248), hier: S. 11. Vgl. auch ebd., S. 12. 250 Vgl. Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Frank‐ furt am Main 5 2012; vgl. Joisten: »Möglichkeiten und Grenzen einer narrativen Ethik« (s. Anm. 248), S. 12. 251 Alasdair C. MacIntyre: After Virtue. A Study in Moral Theory. London 2013, S. 246. 252 Stephanie Waldow: »Mich kümmert’s, wer spricht. Literaturwissenschaft als ethischer Dialog«. In: Christine Lubkoll/ Oda Wischmeyer (Hg.): ›Ethical Turn‹? Geisteswissen‐ schaften in neuer Verantwortung. München 2009 (=Ethik - Text - Kultur 2), S. 119-134, hier: S. 125. 253 Norbert Meuter: »Identität und Empathie. Über den Zusammenhang von Narrativität und Moralität«. In: Karen Joisten (Hg.): Narrative Ethik. Das Gute und das Böse er‐ zählen. Berlin 2007 (=Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderband 17), S. 45-59, hier: S. 47. tischen Erzählformen wie Exempla, Märchen, Erzählungen etc.; drittens aber wird damit ein grundlegender Aspekt der Ethik selbst bezeichnet. Die Ethik sei narrativ strukturiert, d.h. »Handeln und (Er)Leben des Menschen [lassen] sich mittels der Narrativität deuten«. 249 Dem liegt die anthropologische Annahme zugrunde, dass der Mensch sich selbst, die Welt und ihre Zusammenhänge durch das Erzählen zu verstehen sucht. Dies impliziert einerseits das immer schon narrative Sein des Menschen, dessen eigentliche Essenz in der Geschichtlichkeit selbst liegt bzw. in seinem »Verstricktsein in Geschichten«. 250 Mit Alasdair Ma‐ cIntyre ist das Leben selbst bereits narrativ strukturiert: »Stories are lived before they are told - except in the case of fiction.« 251 Andererseits involviert dies gleichsam den sinnkonstituierenden Nachvollzug durch das Erzählen selbst als Kommunikations- und Verstehenspraxis. Schreiben und Lesen sind, wie Waldow mit Rekurs auf Foucault (v.a. L’Herméneutique du sujet, 1981-1982) he‐ rausstellt, Praktiken der Selbstsorge: Einerseits kann sich das Subjekt im Schreiben einer Erzählung veräußern, sich überhaupt erst konstituieren, indem es zu sich selbst und dem Geschriebenen in ein reflexives Verhältnis tritt; an‐ dererseits ist das Schreiben gleichsam der Ort der Begegnung mit dem Anderen, des (Erfahrungs-)Austausches. Mit Foucault gesprochen sei damit die Selbst‐ sorge im Sinne der Subjektkonstitution eine »genuin ethische Aufgabe und Lesen und Schreiben sind letztlich ethische Handlungen«. 252 In dieser grund‐ sätzlichen Kommunikativität des Erzählens bzw. in der damit begründeten Mög‐ lichkeit des Perspektivwechsels liegt das ethische Potenzial der Kunst: »selbst wenn sie [Narrationen] noch so eng an der Realität orientiert sind, bilden sie diese doch nie einfach ab, sondern entwerfen eigene und neue Perspektiven. […] Eine Geschichte ist eine Möglichkeit, die Welt anders zu sehen und sogar: eine andere Welt zu sehen.« 253 Damit ist die Fiktion (genauer: die Erzählung) ein imaginativer Erfahrungsraum, in dem sich das Subjekt selbst erproben kann. 1.3 Das Böse und ethische Implikationen 87 <?page no="88"?> 254 Im Grunde ist narrative Ethik damit auch an das hermeneutische Prinzip des Verstehens als »primäre Weise der Weltzuwendung« gebunden. Nicht umsonst bringt Frings daher theoretische Grundannahmen der Hermeneutik (Gadamer, Jauß) und der literarischen Anthropologie (W. Iser) mit den Thesen einer narrativen Ethik in Verbindung, vgl. Su‐ sanna Frings: »A la recherche de l’homme perdu« (s. Anm. 52), S. 25. Freilich gilt es im Zusammenhang mit Schreiben zur Selbstsorge hinzuzufügen, dass Lesen und Schreiben als (selbst-)therapeutische Handlungen nicht unmittelbar gleichzusetzen sind mit lite‐ rarischer Produktion und Rezeption. Die ethische Dimension der Literatur als Kunst‐ form ist weniger augenscheinlich als im Fall des therapeutischen Schreibens, das zual‐ lererst der Selbsterkundung dient und damit primär pragmatischen Zwecken unterstellt ist. Diesen Hinweis verdanke ich Dietrich Scholler. 255 In gewisser Weise entspricht dies den Überzeugungen J. Hillis Millers, demzufolge die eigentliche Ethik des Lesens in der Erkenntnis besteht, dass ein Text in seiner konkreten Bedeutung unabschließbar und niemals definitiv ist. Die dekonstruktivistische Über‐ zeugung, dass der Text sich permanent selbst aktualisiert, wird hier einer mora‐ lisch-ethischen Überlegung zugrunde gelegt (vgl. J. Hillis Miller: »Is There an Ethics of Reading? « In: James Phelan [Hg.]: Reading narrative. Form, ethics, ideology. Columbus 1989, S. 79-101, zu Miller vgl. Gras: »The Recent Ethical Turn in Literary Studies« [s. Anm. 240]; Ansgar Nünning [Hg.]: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie [s. Anm. 74], S. 182). 256 Susanna Frings: »A la recherche de l’homme perdu« (s. Anm. 52), S. 40-41. Literatur als Kommunikation(sprozess) ist qua natura dem ethischen Bestreben um Austausch, Erkenntnis, (Selbst-)Erprobung und Behauptung dienlich. 254 Genau wie auch ein das Ästhetische verabsolutierender Ansatz unhaltbar bzw. nur eingeschränkt anwendbar scheint, so ist aber auch diese literaturthe‐ oretische Herangehensweise problematisch, wenn sie absolut gesetzt wird. Zwar mag es, wie vor allem in Bezug auf Bohrer schon diskutiert wurde, kaum realistisch erscheinen, im Besonderen in Konfrontation mit ästhetischen Grenz‐ phänomenen frei von moralischen Urteilen zu bleiben und die Pose des distanz‐ ierten Dandys einzunehmen. Doch ist es sicherlich gleichermaßen heikel, einen im Grunde didaktischen Anspruch an einen jeden Text stellen zu wollen (auch wenn Booth sicherlich insofern Recht gegeben werden kann, dass selbst ein postmoderner Text, der keinen mimetischen Wirklichkeitsbezug mehr her‐ stellen will, trotzdem noch eine gewisse ›ethische‹ Erfahrung produzieren kann: Indem er letztendlich auf die Kontingenz und Arbitrarität alles Zeichenhaften und die Vergeblichkeit der Sinngebung verweist…). 255 Den literarischen Text also als »Handlungsanweisung« zu lesen, wie es eine literarische Ethik nach Booth und Nussbaum vorschlägt, scheint kaum eine Alternative zu den ausschließlich das ästhetische Spiel überprivilegierenden Theorien darzustellen, denn bei einem solchen Ansatz würde wiederum, wie Frings sicherlich zu Recht kritisiert, »das Moralische dem Ästhetischen klar über[ge]ordnet«. 256 Dennoch soll hier 1 Theoretische Vorüberlegungen 88 <?page no="89"?> 257 Dietmar Mieth: »Literaturethik als narrative Ethik«. In: Karen Joisten (Hg.): Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen. Berlin 2007 (=Deutsche Zeitschrift für Philoso‐ phie. Sonderband 17), S. 215-233, hier: S. 217. durchaus als Grundannahme etabliert werden, dass dem Akt des Lesens ein ethisches Moment inne ist. Konkret bedeutet dies im Zusammenhang mit dem hier diskutierten Phä‐ nomen des Bösen und des ästhetischen Schocks: Es sollen sowohl ästhetische Qualitäten literarischer Grenzphänomene in Hinblick auf ihre formale, seman‐ tische Beschaffenheit und kreative Ausgestaltung herausgearbeitet werden, als auch in Bezug auf ihre ethischen Implikationen. Wenngleich die Wirkungen eines Textes/ Kunstwerks bisweilen unabsehbar sind und natürlich von der tat‐ sächlichen Rezeptionseinstellung des konkreten Lesers abhängen, so können bestimmte literarische Strategien dennoch gezielt zur Erzeugung eines be‐ stimmten Effekts eingesetzt werden. Demnach kann gefragt werden: Welche Wirkungen, Stimmungen, (ästhetischen) Emotionen werden generiert? Und: Wie ist der Text beschaffen, dass diese Wirkungen, Stimmungen, (ästhetischen) Emotionen erzeugt werden? Dies schließt also in der Reflexion einerseits den Text in seiner Materialität, aber auch den Leser als fühlendes, denkendes Subjekt mit ein. Andererseits darf mit Rekurs auf die Theorie des ethical criticism aber auch wieder legitim nach den ethischen Implikationen eines Textes gefragt werden: Der ästhetische Taktstock des Erzählens impliziert und intendiert Wirkungen in starker (Schock, Sympathie) oder in schwächerer Form. Dies kann dazu benutzt werden, eindeutige Werthorizonte zu sichern, oder diese zu erschüttern oder auch den Rezipienten dazu aufzufordern, Wertorientierungen selbst zu finden. Da der Autor aber ästhetischen Gesetzen folgt, auch dann, wenn er ein experimentelles Regelfin‐ dungsspiel aufzieht, kann man ihn nicht unmittelbar bei moralischen Implikationen greifen, aber man darf der Interpretation eines Werkes durchaus zumuten, auch diese moralischen Implikationen zu erhellen. 257 Es geht also darum, auch in der durch Poststrukturalismus und Dekonstrukti‐ vismus geprägten Postmoderne die ethische Dimension eines Textes nicht aus‐ zuklammern. In diesem Sinne kann auch das Böse wieder zum Gegenstand der Reflexion werden: Gibt es heute überhaupt noch ein Böses und ein Verständnis von Sünde? Oder ist alles dem totalen Relativismus und ästhetischen Spiel ver‐ fallen? Es soll im Folgenden demnach eine Lesart befördert werden, die mög‐ lichst beiden Aspekten Rechnung trägt und dabei sowohl Text als auch Leser als Konstanten der Interpretation ausgeglichen mit einbezieht. Denn unsere Ima‐ ginationsbegabung ermöglicht uns die fiktive Erprobung unserer Überzeu‐ 1.3 Das Böse und ethische Implikationen 89 <?page no="90"?> 258 Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer (s. Anm. 226), S. 201. gungen und eben auch ihre Korrektur bzw. Modifikation. Literatur kann ästhe‐ tischen Genuss bereiten, aber - wenn dieses Angebot durch den Leser angenommen wird - auch handlungsweisend sein. Mit Paul Ricœur lässt sich daher festhalten: [I]m irrealen Bereich der Fiktion erforschen wir unablässig neue Bewertungsweisen für Handlungen und Figuren. Die Gedankenexperimente, die wir im großen Labora‐ torium der Einbildung durchführen, sind auch Forschungsreisen durch das Reich des Guten und des Bösen. Etwas umzuwerten, möglicherweise sogar abzuwerten bedeutet immer noch, es zu bewerten. Das moralische Urteil ist nicht abgeschafft, es ist vielmehr selbst den der Fiktion eigenen imaginativen Variationen unterstellt. Dank dieser Be‐ wertungsübungen im Bereich der Fiktion kann die Erzählung letzten Endes ihre Er‐ schließungs- und Verwandlungsfunktion gegenüber dem Empfinden und Handeln des Lesers in der Phase der Refiguration der Handlung durch die Erzählung ausüben. [meine Hervorhebung] 258 Vielleicht kann nicht präzise festgeschrieben werden, was das Böse konzeptuell ist, insofern ein festes Koordinatensystem über den Unterschied von Gut und Böse geliefert würde, doch kann die Literatur dahingehend befragt werden. Dies ist letztlich auch ein Anliegen, das an die hier untersuchten Texte herangetragen wird: Sind Flauberts und Mirbeaus Texte allein Ausdruck eines Autonomiestre‐ bens bzw. dient die provokative Schockästhetik allein der Freisetzung ästheti‐ scher Energie oder ist darüber hinaus ein ethisches Interesse zu verzeichnen? Ähnliche Fragen lassen sich auch für Nove, Ammaniti und Houellebecq formu‐ lieren: Sind Anleihen bei Splatter, Pornographie und Trash ausschließlich effi‐ ziente Marketingstrategien und postmodernes Spiel oder verbirgt sich dahinter gleichwohl eine humanistisch ausgerichtete und gesellschaftskritische Bot‐ schaft? 1.4 Skandal 1.4.1 Skandal: Zur Etymologie und Bedeutung des Begriffs Der Versuch einer Definition des Bösen hat erwiesen, dass seine Funktionalität als kategorialer Begriff problematisch ist. Er bezeichnet weder ein rein ethisches Konzept (mit all seinen philosophischen und theologischen Implikationen), noch ein ästhetisches. Dementsprechend schwer objektivierbar gestaltet sich eine Klassifikation eines Textes/ Kunstwerks oder auch eines dargestellten In‐ 1 Theoretische Vorüberlegungen 90 <?page no="91"?> 259 Vgl. Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Hg. von Gun‐ ther Drosdowski. Bd. 1. Mannheim/ Wien/ Zurich 2 1989, S. 677. 260 Ausführlich zu profanen, religiösen und moralischen Konnotationen des Begriffs »Skandal« vgl. Steffen Burkhardt: Medienskandale (s. Anm. 33), S. 60-73. Ferner zur vor allen Dingen biblischen Bedeutungsgeschichte des Begriffs vgl. Martina Wagner-Egel‐ haaf: »Autorschaft als Skandal. Matthäus - Pasolini - Stadler«. In: Deutsche Vierteljah‐ resschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 84 (2011), S. 585-615. halts als »böse«. Es bleibt demgemäß stets zu differenzieren, ob der Text selbst eine provokante Wirkung hat (und ihm damit eine subversive, normenzerset‐ zende Kraft eignet) oder ob jener Reflexionen über das Wesen des Bösen anstellt. Bezieht sich der Text auf ethisch-moralische Vorstellungswelten, die dem Leser bekannt sind oder setzt er diese außer Kraft? Kurz: Gibt es in der Kunst über‐ haupt noch ein Böses und wenn ja, welcher Art? Im gegenwärtigen Zeitalter des anything goes, der ultimativen Abstumpfung, drängt sich die Frage nach dem Status des Bösen bzw. nach dem ethischen Wert dieses Begriffs nahezu auf. Ohne dabei die im Vorfeld angestellten Überlegungen zum Bösen und der Literatur als nichtig erklären zu wollen, soll im Folgenden jedoch ein weiterer Begriff ein‐ geführt werden, der Aspekte ethischer Natur (Reflexion über Normen und Werte, gesellschaftlicher Status und Wert der Kunst) mit jenen ästhetischer (Schaulust, ästhetische Erfahrung und Emotionen) zu subsumieren vermag: der Skandal. Wörtlich bedeutet der Begriff zunächst »Ärgernis«, »Aufsehen« und wurde dem Französischen scandale entlehnt, das wiederum auf das Lateinische scan‐ dalum zurückgeht. Dieses leitet sich jedoch von griechisch skándalon (σκάνδαλον) ab, was so viel bedeutet wie »Fallstrick«, »Ärgernis«, »Anstoß«, und von dem ebenfalls griechischen Begriff skandalēthron (σκάνδάληθρου), welcher eine »Auslösevorrichtung in einer Tierfalle« bezeichnet. 259 Skandalon meint dabei den Stein des Anstoßes, der dem ursprünglichen Wortsinn nach die Tierfalle zuschnappen lässt und an dem sich im übertragenen Sinne die (öffent‐ liche) Empörung entzündet. Wie Steffen Burkhardt erläutert, dehnte sich der ursprüngliche Wortsinn »Stellhölzchen einer Falle« qua pars pro toto zunächst auf den der Falle aus, um gleichsam metaphorisch gebraucht zu werden, wie eine Komödie des Aristophanes (um 445-385 v. Chr.) belegt. Im religiösen Be‐ reich (zwar auch in der altgriechischen Bibelübersetzung des Alten Testaments, aber vor allem im Neuen Testament) wird der Begriff in seiner lateinischen Übersetzung scandalum gleichfalls in der Bedeutung »Falle« verwendet. Diese wird jedoch erweitert auf »Hindernis« und ferner »Ursache des Verderbens«. 260 In der Tat ist der Konnex von religiösen Konnotationen des Begriffs »Skan‐ dalon« mit einer religiös-theologischen Konzeption des Bösen augenscheinlich: 1.4 Skandal 91 <?page no="92"?> 261 Steffen Burkhardt: Medienskandale (s. Anm. 33), S. 66f. 262 Als das gefährdende Element scheint es mir auch durchaus in einem Analogieverhältnis zu Batailles Heterogenem zu stehen. 263 Steffen Burkhardt: Medienskandale (s. Anm. 33), S. 71. 264 Frank Bösch: »Kampf um Normen: Skandale in historischer Perspektive«. In: Kristin Bulkow/ Christer Petersen (Hg.): Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Auf‐ merksamkeitserzeugung. Wiesbaden 2011, S. 29-48, hier: S. 31. 265 Steffen Burkhardt: »Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal: Eine Typologie öffentlicher Empörung«. In: Kristin Bulkow/ Christer Petersen (Hg.): Skandale. Struk‐ turen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung. Wiesbaden 2011, S. 131- 155, hier: S. 131. 266 Ein solcher Normbruch kann dabei unterschiedlicher Natur sein. Es muss sich nicht zwangsläufig um einen auch gesetzlich zu ahndenden Verstoß handeln, sondern um einen Bruch sozialer Normen. Es werden meist sensible Werte und Moralvorstellungen berührt, bisweilen Tabus. Doch der Normbruch ist dabei nicht mit einem Tabubruch gleichzusetzen. Friedrich bemerkt dazu: »Skandale sind häufig als Folge von Tabubrü‐ chen gedeutet worden. Ein solcher Zusammenhang liegt nahe, ist aber nicht zwangs‐ läufig. Natürlich ist zu erwarten, dass ein öffentlich gemachter Tabubruch einen Skandal zur Folge hat, aber sicher ist das nicht. Wo das Brechen von Tabus zum konventionellen Standard wird, reduziert sich diese Wahrscheinlichkeit. Umgekehrt ist längst nicht jedes skandalierte Verhalten gleich ein Tabubruch« (Hans-Edwin Friedrich: »Literaturskan‐ dale. Ein Problemaufriss«. In: Hans-Edwin Friedrich [Hg.]: Literaturskandale. Frankfurt am Main/ New York 2009, S. 7-27, hier: S. 12). So fungiert das σκάνδαλον (skandalon) als Stein des Anstoßes, Fels des Strauchelns, zur Bezeichnung von Verderblichem, Anstößigem, Schädlichem wie der Anbetung von Götzenbildern und Götzendienst oder wird in einem weiteren Sinne auch als Anlass zum Fall durch eigene Schuld und Verführung zur Sünde verwendet - kurzum: das σκάνδαλον (skandalon) bezeichnet Gesetzesübertretungen aller Art und die Ursache allen Unheils per se. Es wird zu einem leeren Signifikanten, zu einem vereinheitlich‐ enden Zeichen für alles, was das System gefährdet. Das σκάνδαλον (skandalon) wird zu einem Platzhalter für das der Ideologie der religiösen Gruppe im Weg Stehende. Es ist der Weg in die Verdammnis und bildet eine Art biblische Achse des Bösen, die zu überschreiten mit göttlicher Bestrafung geahndet wird. 261 Das Skandalon wird hier explizit mit dem Bösen in Beziehung gesetzt. 262 Analog verhält es sich dann mit den moralischen Implikationen, über die der Begriff verfügt: »Der Skandal ist das, woran die Moral Anstoß nimmt«. 263 Bösch zufolge bezeichnet der Skandal damit zweierlei, und zwar zum einen das Ärgernis er‐ regende Moment als solches (also das Skandalon) sowie den »Vorgang der Er‐ regung selbst«. 264 In der Tat handelt es sich bei einem Skandal bzw. bei der Skandalisierung um einen »Kommunikationsprozess«, dem ein mehrschrittiger Mechanismus zugrunde liegt, 265 der in der Regel durch einen Normbruch 266 ini‐ tiiert wird. 1 Theoretische Vorüberlegungen 92 <?page no="93"?> 267 Bösch: »Kampf um Normen: Skandale in historischer Perspektive« (s. Anm. 264), S. 33. 268 Sighard Neckel: »Das Stellhölzchen der Macht« (s. Anm. 33), S. 585. In Anlehnung an die Forschungsliteratur kann »von einem Skandal im ana‐ lytischen Sinne« dann die Rede sein, wenn folgende drei Bedingungen erfüllt sind: a) Ein »praktizierter oder angenommener Normbruch« wird von einer Person, einer Gruppe oder einer Institution begangen; b) in der Folge wird eben dieser Normbruch an die Öffentlichkeit gebracht und c) erregt Ärgernis bei einem breiten Publikum. 267 In der Tatsache, dass ein Skandal ohne Öffentlichkeit quasi nicht existieren kann, manifestiert sich denn auch seine Theatralität: Der publik gemachte Skandalruf drängt den Skandalierten in das Scheinwerferlicht des öffentlichen Diskurses, welcher sich vor dem empörten, in seinen Werten gekränkten Publikum zu verantworten hat. Betrachtet man die Rollen, die in einem Skandalprozess besetzt werden, in Hinblick auf ihre Funktionalität, lassen sich diese mit Sighard Neckel in seiner Studie zum politischen Skandal auf ins‐ gesamt drei, die sogenannte Skandal-Triade, bringen: Denn schiebt man nur die jeweils besonderen Kulissen des Skandals zur Seite, ent‐ kleidet man die Darsteller ihrer historischen Kostüme, bleiben immer dieselben Ak‐ toren auf der Bühne zurück: der Skandalierte (der einer Verfehlung von öffentlichem Interesse öffentlich bezichtigt wird), der Skandalierer (einer, der diese Verfehlung öf‐ fentlich denunziert) sowie ein, oder besser: mehrere Dritte, denen über das, was zum Skandal geworden ist, berichtet wird und die daraufhin eine wie auch immer geartete Reaktion zeigen. 268 Die von Neckel betonte Analogie zum Theater stellt auch Wagner-Egelhaaf he‐ raus, wenn sie aufzeigt, dass der Skandal in seinen Grundstrukturen der Poetik des klassischen Dramas in wesentlichen Punkten entspricht: Im I. Akt wird die Normalität überraschend gestört - das wäre im klassischen Drama die Exposition. Im II. Akt zeigen sich die Normbrecher und deren Opfer in Person - im klassischen Drama entspräche dies der Steigerung. Im III. Akt, auf dem Höhepunkt, der Peripetie, explodiert das Geschehen, indem es in die interaktive, symbolische Sphäre eintritt. Im IV. Akt findet ein Prozess der Reinigung und der Selbstvergewis‐ serung statt; der Transgressor wird bestraft und Reformen werden beschlossen. Im klassischen Drama käme diese Phase dem retardierenden Moment gleich. Im V. Akt schließlich kehrt Normalität in Gestalt reformierter Normvorgaben ein, die das System 1.4 Skandal 93 <?page no="94"?> 269 Martina Wagner-Egelhaaf: »Autorschaft und Skandal. Eine Verhältnisbestimmung«. In: Andrea Bartl/ Martin Kraus (Hg.): Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literari‐ scher Provokation und Aufsehen erregender Autorinszenierung. Bd. 1. Würzburg 2014 (=Konnex 10,1), S. 27-46, hier: S. 36. Diese literaturwissenschaftlich geprägte Struktur‐ analyse in Akten korrespondiert damit im Wesentlichen mit den unterschiedlichen Phasen des Skandals, die Friedrich detektiert: »Latenz- und Schlüsselereignisphase«, »Aufschwungphase«, »Etablierung und Lösung«, »Abschwungs- und Rehabilitations‐ phase« (Friedrich: »Literaturskandale« [s. Anm. 266], S. 11). Wagner-Egelhaaf bemerkt überdies, dass im Verlaufsprozess des Skandals nicht nur eine gesamte Dramenpoetik enthalten ist, sondern diesem darüber hinaus ein gewisses narratives Moment zu eigen ist, denn »Skandale erzählen nämlich Geschichten […]. Solange noch jemand etwas Neues zum Fall des Skandals zu sagen hat, ihm also noch ein neues Kapitel hinzufügt oder vielleicht auch nur noch Aspekte, gibt es ihn noch; wenn das nicht mehr der Fall ist, dann ist der Skandal tot, zu Ende erzählt« (Wagner-Egelhaaf: »Autorschaft und Skandal« [s. Anm. 269], S. 36). 270 Friedrich: »Literaturskandale« (s. Anm. 266), S. 11. 271 Vgl. Martin Kraus: »Zur Untersuchung von Skandalautoren. Eine Einführung«. In: Andrea Bartl/ Martin Kraus (Hg.): Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literari‐ scher Provokation und Aufsehen erregender Autorinszenierung. Bd. 1. Würzburg 2014 (=Konnex Bd. 10,1), S. 11-26, hier: S. 18. 272 Kurt Imhof: »Medienskandale als Indikatoren sozialen Wandels. Skandalisierungen in den Printmedien im 20. Jahrhundert«. In: Kornelia Hahn (Hg.): Öffentlichkeit und Of‐ fenbarung. Eine interdisziplinäre Mediendiskussion. Konstanz 2002, S. 73-98, hier: S. 74. vor zukünftigen Störungen schützen sollen, bis sich der nächste Skandal ankündigt. Dramentechnisch wäre das ironischerweise die Katastrophe. 269 Eine solche Analogie lässt sich sogar gewissermaßen bis zum Wirkziel der Tra‐ gödie aufrechterhalten. Während die durch das Dramenstück effektuierte Ka‐ tharsis den Zuschauer von Negativaffekten reinigt, dient auch der Skandal einer Art Säuberung, denn: Skandale machen sichtbar, was in einer Gesellschaft problematisch ist, indem sie Normverstöße und Verletzungen von Werten offen legen. Sie scheinen anzuzeigen, dass es mit einer Gesellschaft nicht zum Besten steht. Dass Skandale als solche über‐ haupt entstehen können und nicht vielmehr unter den Teppich gekehrt werden, zeigt jedoch an, dass Selbstreinigungskräfte am Werk sind. 270 Damit wären gleichermaßen die Funktionen des Skandals benannt: Er kann ei‐ nerseits als Normenbarometer 271 fungieren, indem er zunächst aufzeigt, dass in irgendeiner Form ein Normverstoß vorliegt, und weiterhin indiziert, welche Normen dies betrifft. In historischer Perspektive kann die Anzahl und Natur von Skandalisierungen gleichermaßen Aufschluss über »Moralisierungswellen« 272 geben, und damit über Schwellenmomente und Umbruchphasen innerhalb einer Gesellschaft, die Werte in einem öffentlichen Diskurs thematisiert, diskutiert, 1 Theoretische Vorüberlegungen 94 <?page no="95"?> 273 Vgl. Friedrich: »Literaturskandale« (s. Anm. 266); Bösch: »Kampf um Normen: Skandale in historischer Perspektive« (s. Anm. 264), S. 33. Ferner indizieren Skandale den Grad der Liberalität von Gesellschaften: »Skandale sind zudem ein Gradmesser dafür, wie frei Öffentlichkeiten in unterschiedlichen historischen Epochen und Kulturen waren. Denn Skandale setzen ein gewisses Maß an Pluralismus, Meinungsfreiheit und Partei‐ bildungen voraus« (Bösch: »Kampf um Normen: Skandale in historischer Perspektive« [s. Anm. 261], S. 38). 274 Kraus: »Zur Untersuchung von Skandalautoren« (s. Anm. 271), S. 12. 275 Zum Sündebock-Ritual als sozialem Mechanismus vgl. René Girard: Le Bouc émissaire. Paris 1982. Ferner legt Viertmann eine Studie zu Sündenbock-Erzählungen in den mo‐ dernen Medien vor: Christine Viertmann: Der Sündenbock in der öffentlichen Kommu‐ nikation. Schuldzuweisungsrituale in der Medienberichterstattung. Wiesbaden 2015. 276 Vgl. ebd., S. 32. 277 Ebd., S. 94. 278 Friedrich: »Literaturskandale« (s. Anm. 266), S. 13. Normverstöße sanktioniert und gleichermaßen neue Werte erschließt und alte aktualisiert. 273 Es ist dabei nicht von der Hand zu weisen, dass der Skandal mit‐ unter ein soziales Ritual darstellt, in dem sich durch »eruptive[n] Entladung angestauter Spannungen« die Gesellschaft selbst reinigt. 274 Und diese Energie richtet sich auf den Skandalisierten, der gleichsam als Sündenbock  275 fungieren kann. Ein Sündenbock, der per definitionem erst qua Projektion und Transfer zu einem solchen wird, 276 kann dabei völlig unschuldig der Sünden sein, die er repräsentiert; der Skandal fußt jedoch in der Regel auf einem realen Verstoß, auch wenn dieser erst durch Zuschreibung seitens des Skandalierers publik bzw. problematisierend zum Gegenstand des öffentlichen Interesses gemacht wird. Doch wird ein Skandal im öffentlichen Raum über die Medien ausgetragen, welche als Kommunikationsorgane entscheidend zur Gestaltung der »Ge‐ schichte« beitragen. Dabei fungieren sie quasi als impliziter Autor, der be‐ stimmte Fakten bzw. Aspekte selektiert, hyperbolisch ausschmückt, stärker ge‐ wichtet als andere und insgesamt prägend auf die Darstellung einwirkt. Dabei kann die öffentliche Abstrafung des Skandalierten »durch Moralisierung, Ver‐ kürzung oder Negativismus« deutlich harscher ausfallen, als dies der ursprüng‐ liche Regelverstoß tatsächlich erfordern würde. 277 Dass die Medien in diesem Zusammenhang eine solche Einflussmacht haben, verweist auf die Funktion des Skandals als sogenanntes »Mediennarrativ«: »Eine multidimensionale Ereignissequenz wird auf eine spezifische Form ge‐ bracht und dabei zum einen um einzelne Elemente verkürzt, zum anderen mit Sinn angereichert.« 278 In diesem Sinne lassen sich durch Skandalforschung 1.4 Skandal 95 <?page no="96"?> 279 »Auf die kürzeste Formel gebracht sind resonante Enthüllungen abhängig von der De‐ finitionsmacht des Skandalierers, des medialen Skandalvermittlers und des Skandal‐ isierten. Die jeweilige Definitionsmacht wiederum ist abhängig vom situativen mora‐ lischen Kapital, über das diese Akteure verfügen, sowie von den aktualisierbaren Norm- und Wertbeständen in der Gesellschaft« (Imhof: »Medienskandale als Indikatoren sozialen Wandels« [s. Anm. 272], S. 84-85). 280 Imhof bemerkt hierzu: »Skandalisierungen […] verweisen auf die Grenzlinien zwischen dem Öffentlichen und dem Geheimen sowie dem Öffentlichen als dem Politischen und privat(wirtschaftlich)en Interessen, die zum Bauplan der Moderne gehören« (ebd., S. 94). Ferner zu Medienskandalen bzw. zur Differenzierung von medialisierten Skandalen und Medienskandalen siehe Burkhardt: »Skandal, medialisierter Skandal, Medien‐ skandal: Eine Typologie öffentlicher Empörung« (s. Anm. 265). 281 Vgl. Bösch: »Kampf um Normen: Skandale in historischer Perspektive« (s. Anm. 264), S. 36-39. 282 Spezifisch zum Kunstskandal siehe Heinz Peter Schwerfel: Kunstskandale. Vom Tabu zum Meisterwerk. Köln 2000. 283 Vgl. Imhof: »Medienskandale als Indikatoren sozialen Wandels« (s. Anm. 272), S. 82f. gleichfalls die »Definitionsmacht« 279 von Medien erkennen und ferner ihre »Funktionslogiken« und inneren Arbeitsmechanismen erschließen. Somit ist eine Geschichte des Skandals gleichsam eine Geschichte der Medien einerseits und der Öffentlichkeit 280 andererseits, wie Bösch feststellt. 281 Skandalisierungen können dabei in verschiedenen Kontexten stattfinden, besonders häufig in den Medien vertreten sind dabei Skandale im Bereich der Politik, der Religion, aber auch der Massenkultur und natürlich der Kunst 282 (einschließlich der Lite‐ ratur). 283 Im Folgenden soll der spezifische Fall des Literaturskandals näher be‐ leuchtet werden. 1.4.2 Literaturskandale Der Literaturskandal ist für die vorliegende Studie natürlich von besonderem Interesse und soll nun in Anlehnung an aktuelle Forschungsliteratur näher aus‐ definiert werden. Dass Literatur es vermag, Skandale zu produzieren, ist nicht schwer nachzuweisen. Nicht zuletzt die Texte, die im Folgenden besprochen werden sollen, belegen genau dies. Ladenthin geht so weit, den Konnex zwi‐ schen (moderner) Literatur und Skandal als einander bedingend zu bezeichnen: [D]er Skandal in der alteuropäischen Vormoderne [war] ein Sündenfall der Literatur […], während er in der Moderne der Ernstfall ist. Zugespitzt kann man formulieren, dass die Literatur der Moderne schlechthin Skandal ist. Der Skandal ist notwendiges 1 Theoretische Vorüberlegungen 96 <?page no="97"?> 284 Volker Ladenthin: »Literatur als Skandal«. In: Stefan Neuhaus/ Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle - Funktionen - Folgen. Göttingen 2007, S. 19-28, hier: S. 19. 285 Vgl. Teresa Hiergeist: »Totgesagte leben länger. Der Literaturskandal als kulturelle Praxis anhand von Gustave Flauberts Madame Bovary und Catherine Millets La vie sensuelle de Catherine M.«. In: Andrea Bartl/ Martin Kraus (Hg.): Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literarischer Provokation und Aufsehen erregender Autorinsze‐ nierung. Bd. 1. Würzburg 2014 (=Konnex Bd. 10,1), S. 235-255, hier: S. 250. 286 »Zu skandalträchtigen Differenzierungsstrategien gehört eben auch die emotionale Aktivierung des Lesers - d.h. eine Schockästhetik: »Moderne Literatur entsteht erst und nur, wenn ein Text gegen geltende Regeln verstößt. […] Literatur legt es darauf an, Weltbilder, Gewohnheiten, Üblichkeiten, Erkenntnisregeln zu zerstören. Sie zerstört sie aber nicht begrifflich durch neue Erkenntnisse, sondern anschaulich, d.h. ästhetisch, satirisch, so dass diese Zerstörung nicht wieder heil gemacht werden kann. Daher rührt auch die heftige Reaktion des Publikums: Der geistig-sinnliche und zuweilen körper‐ liche Gesamthaushalt einer Person wird getroffen. Die Lektüre de Sades führt zur Übel‐ keit.« (Ladenthin: »Literatur als Skandal« [s. Anm. 284], S. 21-22). Wesensmerkmal moderner Literatur, liegt im Begriff der Moderne eingeschlossen und ist daher ein Qualitätsmerkmal moderner Literatur. 284 In der Tat scheint dies insofern nachvollziehbar, als der Blick auf die Historie von Skandalisierungen in und rund um die Kunst bzw. Literatur zu belegen scheint, dass die für die Moderne charakteristischen Avantgarde-Poetiken vor allen Dingen auf Provokation, Regelbrüchen mit konventionell gewordenen Kunstzwängen und Innovation beruhen (Dada, Expressionismus, Futurismus, Surrealismus, etc.). Dass er dies historisch in der Moderne lokalisiert, hängt na‐ türlich mit der allgemeinen Emanzipation der Kunst im 19. Jahrhundert zu‐ sammen, die ausgehend von der Romantik nunmehr ihre Autonomie von mo‐ ralisch-didaktischen Zwängen behauptet. 285 Eine »Regelpoetik«, wie sie noch das 17. und 18. Jahrhundert kennt, wird mitunter zum ›Stein des Anstoßes‹ für eine Kunst, die sich modern wissen will. 286 Sei dies in der Romantik, im l’art pour l’art oder auch im Symbolismus und der Dekadenzliteratur: Es gilt stets, das Konventionelle zu überwinden. Damit wird die Literaturgeschichte im Prinzip 1.4 Skandal 97 <?page no="98"?> 287 Dabei handelt es sich um Termini, die in der Rhetorik verwendet werden, um das Prinzip stilistischer Variation zu bezeichnen: Assmann benennt damit zwei »stilträchtige[n] Strategien«, sich durch Respektieren einer gegebenen Norm entweder einer Gruppe anzuschließen (opting in) oder durch Divergenz seine Originalität und Unabhängigkeit gegenüber der Gruppe zu markieren (opting out); Aleida Assmann: »›Opting in‹ und ›opting out‹. Konformität und Individualität in den poetologischen Debatten der eng‐ lischen Aufklärung«. In: Gumbrecht, Hans Ulrich und Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Ge‐ schichte und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt am Main 1986, S. 127-143, hier: S. 128. Vgl. auch Ulla Fix/ Andreas Gardt/ Joachim Knape (Hg.): Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung [Rhetoric and Stylistics. An International Handbook of Historical and Systematic Research]. Bd. 2. Berlin: de Gruyter 2009, S. 1317. 288 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tü‐ bingen 2015, S. 458. 289 Friedrich: »Literaturskandale« (s. Anm. 266), S. 16ff. 290 Vgl. ebd., S. 17. auf die Opposition von »opting in« und »opting out« 287 formelhaft verkürzt, d.h. also um das Leitprinzip der Anpassung einerseits und der Differenz andererseits. Diese Differenz kann dabei unterschiedlicher Natur sein. Zunächst kann sie den Stil und die technè des literarischen Kunstbetriebs als solchen betreffen. Es werden damit Streitfragen um die Möglichkeiten und die Regeln der Kunst be‐ rührt, so z.B. kann man Flauberts Roman Madame Bovary anführen, der laut Auerbach insofern revolutionär scheinen muss, als er (und so auch die realisti‐ sche Kunst im Allgemeinen) »breitere[r] und sozial tieferstehender[r] Men‐ schengruppen zu Gegenständen problematisch-existentieller Darstellung« pro‐ moviert und damit bis dato gültige Stilgrenzen überschreitet. 288 Der Skandal berührt also Normen innerhalb des literarisch-künstlerischen Felds und fällt damit in die von Friedrich etablierte Kategorie des autonomen Literaturskandals, d.h. also von Skandalen, die die Streitfrage über die Grenzen und die Natur der Kunst betreffen. 289 Zu dieser Kategorie zählt er darüber hinaus auch den Auto‐ renstreit, der nicht selten einem Geltungsbedürfnis entspringt und nicht zwangsläufig rein literarische Streitpunkte betreffen muss. Als weiteres Beispiel mag dabei sicherlich auch bereits die Querelle des Anciens et des Modernes im 17. Jahrhundert gelten, bei der die rückwärtsgewandte Poetik der französischen Klassik unter Beschuss durch die an Stoffen der Gegenwart interessierten Mo‐ dernen geriet. Hier wurde auch nicht zuletzt die Literatur selbst instrumenta‐ lisiert, um die eigene Position deutlich zu machen: Stein des Anstoßes im wahrsten Sinne des Wortes war ohne Zweifel die Verlesung Charles Perraults Lehrgedichts »Le siècle de Louis le Grand« (1687). Darüber hinaus lassen sich mit Friedrich gleichfalls Werke zu dieser Kategorie rechnen, die den Skandal als Sujet thematisieren, 290 so z.B. Fontanes Effi Briest oder auch ein relativ aktuelles 1 Theoretische Vorüberlegungen 98 <?page no="99"?> 291 Ebd. 292 Zur skandalösen Autoreninszenierung siehe der Sammelband Andrea Bartl/ Martin Kraus (Hg.): Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literarischer Provokation und Aufsehen erregender Autoreninszenierung (s. Anm. 33), im Besonderen die darin enthal‐ tene Einführung von Kraus: »Zur Untersuchung von Skandalautoren. Eine Einführung« (s. Anm. 271), S. 11-26; weiterhin zu Autorschaft und Skandal u.a. am Beispiel von Pasolini vgl. Wagner-Egelhaaf: »Autorschaft und Skandal« (s. Anm. 269). 293 Friedrich: »Literaturskandale« (s. Anm. 266), S. 18. 294 Vgl. ebd., S. 19f. Beispiel aus der italienischen Literatur: Persecuzione von Alessandro Piperno. Ein gesonderter Fall des autonomen Literaturskandals ist weiterhin der Auto‐ renskandal, d.h. die »öffentliche Inszenierung von Künstlern als Skandalon«. 291 Dies betrifft vor allen Dingen auch Autoren, die im Folgenden besprochen werden, so natürlich einerseits Pier Paolo Pasolini und andererseits Michel Houellebecq, die ebenfalls als Personen des öffentlichen Lebens im Mittelpunkt des Interesses stehen. 292 Dass dabei die bewusste Selbstinszenierung als Skan‐ dalfigur gleichermaßen zu einer kalkulierten Marketingstrategie werden kann, ist einleuchtend. Dem autonomen stellt Friedrich dann den heteronomen Literaturskandal ge‐ genüber, welcher vorliegt, »wenn Normkonflikte zwischen dem literarischen Feld und anderen unterschiedlichen Feldern, seien es Religion, Politik, Wirt‐ schaft oder Justiz, zu Skandalen führen«. 293 Zu dieser Kategorie zählen also all jene Werke, die aufgrund von Verstößen gegen sittlich-moralische Normen in Verruf geraten sind. Welche Aspekte im Spezifischen dies betrifft, vermögen die Zensur, wenn nicht gar die Klageschriften der Justiz zu indizieren. Paradebei‐ spiele für diese Form des Literaturskandals stellen dabei natürlich de Sades 120 Journées de Sodome, Lautréamonts Les Chants de Maldoror, Baudelaires Fleurs du mal, Flauberts Madame Bovary usf. dar; es handelt sich um Werke, denen ent‐ weder faktisch (also durch die Justiz) oder im öffentlichen Diskurs (in der Lite‐ raturkritik, im Zeitungswesen, öffentlichen Foren etc.) der Prozess gemacht wurde. Vornehmlich gerät die Literatur dabei mit der sittlichen Moral in Kon‐ flikt, d.h. der Skandalruf ging und geht nicht selten mit dem Vorwurf der Obs‐ zönität einher. So lässt sich Ludwig Marcuses historische Kulturgeschichte des Obszönen (Obszön. Geschichte einer Entrüstung, Erstausgabe 1962) gleicher‐ maßen als Skandalgeschichte des Literaturbetriebs lesen. Besonders konflikt‐ geladen ist sicherlich auch die Konstellation von Literatur und Religion oder Politik. 294 Es fällt nicht schwer, Beispiele zu nennen, die demonstrieren, wie die Literatur mit Vorstellungen und Werten religiöser Natur kollidiert. Besonders brisant ist dabei wohl der Skandal um den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie, auf den wegen seines Werkes The Satanic Verses 1989 durch 1.4 Skandal 99 <?page no="100"?> 295 Vgl. auch Wagner-Egelhaaf: »Autorschaft und Skandal« (s. Anm. 269), S. 31. 296 Wie hier in einem Leserbrief des 12. Aprils 1990 im New York Review of Books, abrufbar unter: http: / / www.nybooks.com/ articles/ archives/ 1990/ apr/ 12/ help-salman-rushdie/ ? pagination=false (letzter Zugriff: 15.07.2015). Die deutsche Übersetzung der Satanischen Verse sollte dann auch 1990 beim neu gegründeten Artikel 19 Verlag erscheinen. 297 Vgl. Friedrich: »Literaturskandale« (s. Anm. 266), S. 15. 298 Ebd., S. 11. 299 Ebd., S. 22. den iranischen Geistlichen Ajatollah Chomeini ein Kopfgeld für dessen Tötung ausgesetzt wurde. 295 Bei muslimischen Fundamentalisten geriet er wegen Got‐ teslästerung in Verruf; ein Verbot des vermeintlich blasphemischen Textes wurde gefordert. Jedoch zeigt - dies hebt auch Wagner-Egelhaaf hervor - der Skandal um Rushdie und die Satanic Verses gleichermaßen auf, wie die Rollen neu verteilt werden können: So wurden die Skandalierer, also die extremisti‐ schen Muslime, im Anschluss an die Affäre wiederum selbst zu Skandalisierten: Es organisierte sich das Salman Rushdie Defence Committee, welches sich öf‐ fentlich für Artikel 19 des Grundrechts, d.i. das Recht der freien Meinungsäu‐ ßerung, stark machte. 296 Damit wurde Rushdie zu einer Symbol- und Märtyrer‐ figur, deren Schicksal an die Autonomie der Literatur und eines der grundlegenden Menschenrechte gemahnt. Es wiederholt sich quasi ein bereits im 19. Jahrhundert ausgefochtener Kampf um die Unabhängigkeit der Kunst: eine Schlacht, die man sicherlich bereits gewonnen glaubte. Beide Formen, d.h. sowohl autonome als auch heteronome Literaturskandale, lassen sich sowohl vor als auch nach der 1800-Schwelle nachweisen. Und so wie der Skandal im Allgemeinen als Normbarometer zu fungieren vermag, so kann auch der Literaturskandal auf Funktionen und Potenzen der Literatur verweisen. Zum einen verweist die potentielle Skandalträchtigkeit der Literatur auf ihre Wirkmacht und Stellung in der Gesellschaft. Es leuchtet ein, dass sie, um in der Lage dazu zu sein, die Leserschaft zu skandalisieren, überhaupt erst rezipiert und für relevant erachtet werden muss. 297 Zudem ist es notwendig, dass sie dabei einen relativ autonomen Status innehat und nicht durch beispielsweise Zensur »weichgespült« und konsensfähig gemacht wird. Friedrich verweist darauf, dass paradoxerweise totalitär ausgerichtete Gesellschaften besonders skandalfrei sind: Dies liege aber vor allen Dingen daran, dass öffentliche Medienorgane der Propaganda und Konservierung totalitären Gedankenguts dienen und es damit von höchster Priorität sei, die Ideologien möglichst unhinterfragt zu lassen. 298 Zum anderen kann Literatur selbst gesellschaftliche Normen »reflektier[en], »bestätig[en], »bekämpf[en]« und damit aktiv zu deren Transformation bei‐ tragen. 299 Dies setzt natürlich gleichermaßen voraus, dass ein starker Bezug von Literatur zur gesellschaftlichen Realität des Lesers als gegeben betrachtet wird. 1 Theoretische Vorüberlegungen 100 <?page no="101"?> 300 Vgl. Timo Airaksinen: »Scandal as a relic«. In: Homo oeconomicus XVI (1999), S. 7-20. 301 Ladenthin: »Literatur als Skandal« (s. Anm. 284), S. 25. 302 Ebd. 303 Wie Moritz darlegt, zielen Verleger nicht selten auf eine besonders pikante Promotion, die das Werk als skandalträchtig bewirbt. Dennoch seien Skandale nur eingeschränkt kalkulierbar und entstünden eher zufällig: »Nirgendwo […] sitzen in deutschen Ver‐ lagen gegenwärtige Marketinghaie, die mit blutunterlaufenen Augen Skandalbücher aus der Taufe heben und gezielt lancieren. Ihr Wissen, dass sich Buchverkäufe durch Zeitungsdebatten und angekündigte einstweilige Verfügungen massiv steigern lassen, verführt nicht automatisch dazu, permanent Skandale zu schaffen« (Rainer Moritz: »Wer treibt die Sau durchs Dorf ? Literaturskandale als Marketinginstrument«. In: Stefan Neuhaus/ Johann Holzner [Hg.]: Literatur als Skandal. Fälle - Funktionen - Folgen. Göttingen 2007, S. 54-62, hier: S. 58). Dass vor allem das Publikum, das es zu skandalisieren gilt, nur annähernd berechenbar ist, betont auch Hiergeist. Die An‐ nahme, jeder Skandalruf münde unweigerlich in einer öffentlichen Schlammschlacht, degradiere den Rezipienten auf die Rolle einer unreflektierten Marionette, »als lebend‐ iger Werbeträger, als Rädchen in der Kommerz-Maschinerie« (Hiergeist: »Totgesagte leben länger« [s. Anm. 285], S. 236). Ein solches Vermögen der Literatur, Skandale zu produzieren, wird in der Postmoderne nunmehr in Frage gestellt. Airaksinen 300 und auch Ladenthin gehen soweit zu behaupten, dass der Literaturskandal theoretisch tot sei: Die Postmoderne war der Grabstein beim Tod des Skandals. Sie erklärte die repressive Toleranz nicht zum Faktum […] sondern zum Gebot. Die Verweigerung von jeglichem Normativen nahm der Literatur den Gegenstand. Denn wenn kein Weltbild Geltung hat, ist auch keines mehr zu zerbrechen. Wenn jede Moral kulturell relativ ist, kann man keine mehr der Unsittlichkeit überführen. 301 Im »Zeitalter der Nicht-mehr-schönen-Künste« sei ein Skandal aufgrund von Normenpluralität, dem Toleranzimperativ und Quasi-Totalabstumpfung gar nicht mehr möglich. Doch die Praxis widerlegt dies augenscheinlich. So räumt er ein: »Allerdings ist die Postmoderne eben nur ein begrenztes Konstrukt. Global sind die kulturellen Konstrukte nicht so plural, wie Relativitätstheore‐ tiker es behaupten«. 302 In der Tat scheint es fast so, als hätten sich Skandale gerade in den letzten Jahren nahezu multipliziert, nicht zuletzt durch Sensa‐ tionsberichterstattung und bewusst provokantes Marketing. 303 Aus dem litera‐ rischen Bereich seien dabei nur ein paar Namen genannt: Thomas Bernhard, Martin Walser, Bret Easton Ellis, Catherine Millet, Christine Angot, Charlotte Roche und natürlich Michel Houellebecq. Hiergeist löst das Paradoxon von Ge‐ sellschaften, die trotz vermeintlicher (Werte-)Liberalität besonders viele Skan‐ dale produzieren, indem sie den (Literatur-)Skandal als anachronistisches Kol‐ lektivritual identifiziert, das trotz historisch wandelbarer Grundbedingungen gemeinschaftsstiftende Funktionen übernimmt. In einem Vergleich von Flau‐ 1.4 Skandal 101 <?page no="102"?> 304 Ebd., S. 249. 305 Dies kann natürlich nur für einen Literaturskandal gelten, bei dem das Skandalon ein tatsächliches Werk darstellt. Skandale, die sich auf die Autorenfiguren und deren Pri‐ vatleben beziehen, haben wohl weniger mit einem Kampf um die Freiheit der Literatur zu tun. Wenn sich ein Michel Houellebecq in Interviews gewollt islamophob gibt und damit Kritik auf sich zieht, betrifft das kaum den Status der Literatur. 306 Hiergeist: »Totgesagte leben länger« (s. Anm. 285), S. 252. berts Madame Bovary und Catherine Millets L’Histoire sexuelle des Catherine M. (2001) arbeitet sie folgende Invarianten heraus: 1. Der Skandaldiskurs zielt auf die Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion ab. 2. Ihm wohnt mit seiner Anlehnung an die Sündenbockstruktur eine starke symbolische Aufladung inne. 3. Er perpetuiert längst überholte Werte einer vormo‐ dernen Gesellschaftsstufe, ohne dass die Akteure hierin eine Zeitwidrigkeit erkennen würden. 4. Er ist durch einen hohen Grad an Emotionalität gekennzeichnet. 304 Und während im 19. Jahrhundert dieser Ritus noch der Behauptung der Auto‐ nomie des Literaturbetriebs diente, setzt sich dieser Kampf in der Postmoderne symbolisch fort, obgleich er de facto obsolet erscheint. Wie der bereits erwähnte Fall Rushdie bereits zeigte, kann dabei das Rollenspiel neu besetzt werden: Der vormals Skandalierte wird zur Galionsfigur eines Freiheitskampfes erkoren, steht nunmehr für den Erhalt eines mühsam erkämpften Rechts. 305 Ob die Be‐ drohung der Kunstautonomie in einem solchen Fall real ist oder nicht, das Skandalritual mache vielmehr einen Raum der Freiheit verfügbar, der sich von der Banalität des Alltags absetze: Indem Mitglieder einer Gemeinschaft die Autonomie des literarischen Feldes zeleb‐ rieren, inszenieren sie dieses als heiligen Raum der Evasion und Transgression, der sich von der profanen Alltagsordnung distinktiv abhebt. So gesehen übernimmt der Skandal die Funktion der Sakralisierung des Literaturbetriebs, wobei der Autor die Rolle des Propheten, seine Verteidiger die der Priester, seine Gegner die der Häretiker einnehmen. 306 Hier lässt sich dann auch unschwer eine Parallele zu Bataille und seiner Kon‐ zeption der Literatur als Raum der Transgression erkennen. Die Literatur (und Kunst im Allgemeinen) behaupte sich damit kontinuierlich als Alternativraum, der sich nicht den Regeln des sozialen Gefüges des realen Lesers bzw. Rezi‐ pienten unterzuordnen habe. Dieser Ansatz, der den postmodernen Literaturskandal als anthropologische Konstante und gemeinschaftsstiftendes Ritual zu definieren sucht, scheint mir äußerst lohnend, aber nicht erschöpfend. Denn - um noch einmal auf Friedrichs 1 Theoretische Vorüberlegungen 102 <?page no="103"?> 307 Ebd., S. 252f. Einschränkung zurückzukommen - wir mögen uns zwar in einem Zeitalter be‐ finden, in dem vermeintlich »anything goes«, doch gibt es dennoch Themen, die berühren und provozieren, und Literatur, die aufrütteln und anecken will. Auch wenn der Rezipient natürlich die Bereitschaft aufbringen muss, sich durch die Kunst erregen zu lassen (oder eben nicht, da wären wir bei den von Hiergeist betitelten »Atheisten des Skandals«, also jene, die »sich selbst in eine Metapo‐ sition […] katapultieren«, um »ihre eigene Unabhängigkeit von gesellschaftli‐ chen Modellen zu demonstrieren« 307 ), reagiert er dennoch äußerst selten rein leidenschaftslos und ästhetisch. Auch der professionalisierte Leser, der dem Text eine kritische Distanz entgegenbringt, wird kaum völlig unbewegt den Gewalt‐ imaginationen eines Bret Easton Ellis’ folgen können. Literaturskandale folgen nicht nur dem mehr oder weniger unbewussten Bedürfnis, die Literatur bzw. Kunst als sakralen Raum der Überschreitung zu markieren, sondern verweisen punktuell gleichermaßen auch auf prekäre Themen, die gegebenenfalls nicht allein kunstspezifisch, d.h. von poetischer Natur sind, sondern dem sozialen, politischen, religiösen etc. Bereich entstammen. Sofern es sich nicht ausschließ‐ lich um einen Skandal um die Autorenperson selbst handelt (z.B. heikle Aus‐ sagen in einem Interview), können wir bei einem skandalträchtigen Text also durchaus fragen: Warum erregt er die Gemüter und was genau stellt das Skan‐ dalon dar? 1.4.3 Überlegungen zu einer Poetik des Skandals oder: die Performativität des Skandals Wie bereits erläutert wurde, ist dem Skandal eine gewisse Theatralität zu eigen; er ist ein Kommunikationsprozess, bei dem stets die gleichen Rollen verteilt bzw. Funktionen erfüllt werden. Es handelt sich dabei im Zusammenhang mit Lite‐ ratur nicht nur um einen hilfreichen Begriff, weil er ein Modell für einen ge‐ sellschaftlichen Prozess bezeichnet, sondern auch, weil er gleichermaßen Funk‐ tionen und Formen der literarischen Kommunikation transparent macht. Der Autor ist Erzeuger einer literarischen Botschaft, welche (aus diversen denkbaren Gründen) von einem Empfänger, d.h. Rezipienten bzw. Leser als anstößig emp‐ funden wird. Der Text ist ihm ein Skandalon und diese Empörung wird vor und von einer größeren Rezipientenschaft geteilt. Als Folge dieses öffentlichen Skandaldiskurses steht einerseits die endgültige Abstrafung des Werkes und des Autors (im 19. Jahrhundert war die ›Höchststrafe‹ wohl Zensur und Verbot, d.h. ein Titel konnte komplett vom Buchmarkt verbannt werden; heute ist dies in 1.4 Skandal 103 <?page no="104"?> 308 Robert Weninger: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. München 2004, S. 9. Vgl. auch Kraus: »Zur Untersuchung von Skandalautoren« (s. Anm. 271), S. 23. 309 Ebd., S. 22-23. 310 Ebd., S. 22. westlichen Kulturen kaum denkbar, jedoch kann ein Werk durchaus noch als »nicht-literarisch« bzw. gar »Schund« abqualifiziert werden) oder aber die symbolische Beförderung des Autors zur Galionsfigur der künstlerischen Au‐ tonomie oder auch zum »Warner und Mahner«, der Missstände in den öffent‐ lichen Diskurs bringt. 308 Zwar kann ein solcher Literaturskandal mehr oder we‐ niger zufällig entstehen, so eben z.B. der Fall Madame Bovary, dessen Ausmaße sicher nur annähernd erahnt werden konnten. Doch sollte der Aspekt der In‐ tentionalität durchaus nicht vernachlässigt werden. Natürlich kann ein litera‐ risches Werk bewusst kontrovers gestaltet werden; der Autor kann es sich zum Ziel setzen, auf möglichst effektvolle Weise problematische, heikle Themen zu thematisieren. Und hierin schlummert auch das kreative Potential des Skandals: »In der Provokation von Aufregung, der öffentlichen Infragestellung gesell‐ schaftlicher Ordnungsmuster, dem Überraschen mit neuen ästhetischen An‐ sätzen und der Anregung von Diskursen können wesentliche Ansprüche mo‐ derner Künstler gesehen werden«, 309 die natürlich auch der Selbstinszenierung und Aufmerksamkeitssteigerung dienen. Die intentionale Provokation ist ein performativer Gestus, der auf der Schaubühne des Medienskandals inszeniert wird. 310 Andererseits wird damit potentiell ein Austausch über Werte und Normen incentiviert, der einer Wertetransformation bzw. -aktualisierung zu‐ gute kommen kann. Eine Poetik des Skandals umfasst also einerseits die Ebene der (Rezeptions-)Ästhetik und diesbezüglich die wirkungsästhetisch effekt‐ vollen Kunstmittel bzw. Textstrategien, derer sich ein Schriftsteller bedienen kann, um den Rezipienten affektiv zu treffen. Die ästhetische Erfahrung kommt einem Sinnenschock gleich, der das Skandalon des Textes ausmachen kann. Andererseits vermag eine Poetik des Skandals aber gleichermaßen ein soziales Engagement seitens des Autors zu implizieren, der im und durch das Kunstwerk strittige, heikle, provokante Themen problematisierend bespricht. Der literari‐ sche Text kann also gleichsam als »ethische Handlung« verstanden werden, die dem Rezipienten wiederum eine Form der »ethischen Erfahrung« ermöglicht. Der Begriff des Skandals bietet also den Vorteil, dass er systematisch die un‐ terschiedlichen Aspekte von (Wirkungs-)Ästhetik einerseits und Ethik ande‐ rerseits umfasst, die der Diskurs über - lapidar formuliert - »böse Literatur« involviert. Statt von einer Ästhetik des Bösen soll in der Folge vielmehr von einer Ästhetik bzw. Poetik des Skandals die Rede sein. Darüber hinaus lässt sich 1 Theoretische Vorüberlegungen 104 <?page no="105"?> 311 Vgl. Wolfgang Iser: »Die Appellstruktur der Texte«. In: Rainer Warning (Hg.): Rezep‐ tionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Fink 1975, S. 228-252. das Kommunikationsmodell des Skandals auch auf den Text selbst übertragen. Die außerfiktionale Kommunikationssituation kann dabei innerfiktional ge‐ spiegelt werden. Hierbei wird zunächst nach dem Skandalon gefragt: Worin be‐ steht der Normverstoß und wie wird dieser inszeniert? Der Begriff des Norm‐ verstoßes muss dabei weiter ausdifferenziert werden: Wird er bereits im Text als Transgression markiert (also in der Welt des Textes als Verstoß gedacht) oder wird er zum Stein des Anstoßes im eigentlichen Sinne erst im Kontakt mit der außerfiktionalen Bezugswelt des Lesers? Ferner: Wie verhält sich dabei die Er‐ zählinstanz? Wird sie selbst zum Skandalierer, d.h. inszeniert sie den Normver‐ stoß als transgressiv oder enthält sie sich einer Wertung? Und: Wie wird das Publikum »besetzt«? Sind »Leerstellen« 311 vorhanden, d.h. wird der (reale) Leser zu einer (emotionalen, engagierten) Lektüre angeregt? Welche Appellstrukturen enthält der Text? In diesem Zusammenhang kann es auch interessant sein, das Figureninventar zu überprüfen: Sind innerfiktional »Zuschauerfiguren« vor‐ handen, die die beobachtende Position des realen Lesers spiegeln und damit gegebenenfalls die Rezeption lenken? Dies sollen mitunter Leitfragen für die im Folgenden vorgenommene Textanalyse sein, um damit die spezifischen Wir‐ kungsweisen, aber auch kontextgebundenen Funktionen der hier relevanten ›skandalträchtigen‹ Texte möglichst umfassend darlegen zu können. 1.4 Skandal 105 <?page no="106"?> 312 Gustave Flaubert: Correspondance. Éd. établie, présentée et annotée par Jean Bruneau. Bd. 3. Janvier 1859-décembre 1868. Paris: Gallimard 1991, S. 170. 2 Textanalysen 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 2.1.1 »La bataille de Salammbô« Oui, on m’engueulera, comptes-y. Salammbô 1° embêtera les bourgeois, c’est-à-dire tout le monde; 2° révoltera les nerfs et le cœur des personnes sensibles; 3° irritera les archéo‐ logues; 4° semblera inintelligible aux dames; 5° me fera passer pour pédéraste et anthro‐ pophage. Espérons-le ! Gustave Flaubert, À Ernest Feydeau, 17. Au‐ gust 1861 312 Im Jahre 1862 erscheint sechs Jahre nach der Veröffentlichung von Madame Bovary Flauberts großer historischer Roman Salammbô, der gleichfalls die Ge‐ müter der Leser erhitzen sollte. Wie Flaubert in einem Brief an Ernest Feydeau einräumt, ist ihm die potentielle Skandalträchtigkeit seines Werkes durchaus bewusst, gar intendiert. Und tatsächlich sollte er sich in einigen der Punkte be‐ stätigt sehen: Die Radikalität seiner Gewaltimaginationen würde die (bourge‐ oise) Leserschaft schockieren, seine romaneske Rekonstitution des antiken Kar‐ thagos wiederum Kritik seitens der Archäologie auf den Plan rufen. Neben durchaus favorablen Reaktionen seitens u.a. Georges Sands, der Gebrüder Gon‐ court und Théophile Gautiers, waren jedoch vor allem zwei Kritiken besonders harsch: Einerseits der in drei Artikeln (des 8., 15. und 22. Dezembers) im Con‐ stitutionnel erschienene Kommentar Sainte-Beuves sowie der in der De‐ zember-Ausgabe der Revue contemporaine 1862 erschienene Aufsatz des Archä‐ ologen Guillaume Froehner. Insbesondere letzterer kritisierte die vermeintlich unwissenschaftliche Vorgehensweise Flauberts im Umgang mit archäologischen und historischen Quellen und Kenntnissen über eine bis dato kaum erforschte Episode der vorchristlichen Geschichte. Flaubert antwortete auf beide Kritiken mit ausführlichen Stellungnahmen, in denen er sich gegen die an ihn gerichteten <?page no="107"?> 313 Vgl. Joseph Jurt: »Literatur und Archäologie: Die ›Salammbô‹-Debatte«. In: Brigitte Winklehner (Hg.): Literatur und Wissenschaft. Begegnung und Integration. Eine Fest‐ schrift für Rudolf Baehr. Tübingen 1987 (=Romanica et Comparatistica 6), S. 101-117, hier: S. 106. Der Artikel erläutert die Kontroverse zwischen Froehner und Flaubert in Hinblick auf das Paradigma der Wissenschaftlichkeit, in diesem Fall Flauberts Versuch, die archäologische Quellenarbeit in seinen Schaffensprozess miteinzubeziehen. 314 So beginnt Sainte-Beuves Kritik mit den Worten: »Après le succès de Madame Bovary, après tout le bruit qu’avait fait ce remarquable roman et les éloges mêlés d’objections qu’il avait excités, il semblait que tout le monde fût d’accord et unanime pour demander à M. Flaubert d’en recommencer aussitôt un autre, qui fît pendant au premier et en partie contraste. On aurait voulu que cette vigueur de pinceau, cette habileté à tout sonder, cette hardiesse à tout dire, il les eût transportées et appliquées à un autre sujet également actuel, également vivant, mais moins circonscrit, moins cantonné et resserré entre un petit nombre de personnages peu estimables ou peu aimables.« (C. A. Sainte-Beuve: »Salammbô par M. Gustave Flaubert«. In: Nouveaux lundis IV (1885), S. 31-95, hier: S. 31f.) Zu Erwartungshorizont des kontemporären Publikums und Rezep‐ tion des Romans siehe ferner Daniel Mortier: »Réflexions sur la réception du roman«. In: Daniel Fauvel/ Yvan Leclerc (Hg.): Salammbô de Flaubert. Histoire, fiction. Paris 1999, S. 147-158. 315 So schreibt er in einem Brief an Maurice Schlésinger im Dezember 1959, noch während er an Salammbô arbeitet: »A propos d’un mot ou d’une idée, je fais des recherches, je me livre à des divagations, j’entre dans des rêveries infinies; et puis, notre âge est si lamentable, que je me plonge avec délices dans l’antiquité. Cela me décrasse des temps modernes.« (A Maurice Schlésinger. [Décembre 1859]. In: Gustave Flaubert: Salammbô. Préface de Henri Thomas. Introduction et notes de Pierre Moreau. Paris 1970, S. 482). 316 Vgl. Jurt: »Literatur und Archäologie: Die ›Salammbô‹-Debatte« (s. Anm. 313), S. 103. Ferner wird deutlich, wie akribisch Flaubert sich mit den Quellen auseinandergesetzt hat, wenn er nahezu jedem Vorwurf seitens Froehner mit den von ihn konsultierten Nachweisen begegnet. 317 Ebd., S. 104. Vorwürfe verteidigte. Den Antwortbrief an Froehner fügte er tatsächlich auch einer späteren Ausgabe von Salammbô hinzu. 313 Allein die Sujetwahl musste überraschen: Nach Madame Bovary erwartete man sich ein weiteres Werk, das gleichermaßen eine im zeitgenössischen Frank‐ reich angesiedelte Intrige präsentieren würde. 314 Doch Flaubert suchte bewusst ein Sujet, das zeitlich und örtlich möglichst entlegen sein sollte. 315 So recher‐ chierte er intensiv die Geschichte der punischen Kriege und der Söldnerauf‐ stände, die Sitten und Riten des antiken Karthagos, konsultierte dabei die Welt‐ geschichte des Polybius sowie Michelets Histoire romaine. Und was er nicht über Quellen erschließen konnte, entnahm er der Bibel als Zeitzeugnis oder zeitge‐ nössischen Reiseberichten. Dabei berief er sich gleichermaßen auf seine eigenen Erkundungen der Ruinen Karthagos. 316 Diese »induktive Methode« 317 des hy‐ pothetischen Ergänzens wurde ihm schließlich angekreidet. Für Froehner waren damit die Grenzen des Vermögensbereichs der Literatur überschritten: »Les ro‐ 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 107 <?page no="108"?> 318 Guillaume Froehner: »Le roman archéologique en France«. In: Revue contemporaine 11, 30 (1862), S. 853-870, hier: S. 854. 319 Ebd., S. 866. 320 Vgl. Jurt: »Literatur und Archäologie: Die ›Salammbô‹-Debatte« (s. Anm. 313), S. 108, 110; Neefs fasst die Kritik an dem Roman konzis zusammen in: ders.: »Salammbô, textes critiques«. In: Littérature 15 (1974), S. 52-64. Sainte-Beuve kritisiert die Figur des Mâtho als weder historisch noch wahrscheinlich: »il est aussi hors de la nature que de l’his‐ toire« (Sainte-Beuve: »Salammbô par M. Gustave Flaubert« [s. Anm. 314], S. 57). Ähn‐ lich fabulös muss laut Froehner die Hochzeit Salammbôs erscheinen, die ihm zufolge drei verschiedene historische Traditionen amalgamiert (vgl. Froehner: »Le roman ar‐ chélogique« [s. Anm. 318], S. 862; vgl. Jurt: »Literatur und Archäologie: Die ›Sa‐ lammbô‹-Debatte« [s. Anm. 313], S. 110; vgl. Neefs: »Salammbô, textes critiques« [s. Anm. 320], S. 63). 321 Vgl. Sainte-Beuve: »Salammbô par M. Gustave Flaubert« (s. Anm. 314), S. 52. manciers, mécontents de leurs ressources restreintes ou épuisées, ont plus d’une fois empiété sur le domaine de la science«. 318 Salammbô sei lediglich ein »bric-à-brac confus et ennuyeux qui n’est pas de la science et n’est pas non plus du roman«. 319 Die großen Streitpunkte bezüglich des Romans waren also einer‐ seits die Frage nach dem Zusammenhang von Fiktion und Wissenschaftlichkeit bzw. nach der Abgrenzung der jeweiligen Zuständigkeitsbereiche, die Frage nach Aktualität und Brisanz des Stoffes (man erwartete sich ein realistisches Werk) und darüber hinaus die vraisemblance der Intrige bzw. der Figuren. 320 Es entbrannte damit also ein veritabler Literaturstreit, bei dem sich Flaubert ge‐ zwungen sah, die Vorwürfe in Bezug auf seine Vorgehensweise zu widerlegen. Die Kritik richtet sich darüber hinaus jedoch auch auf die spezifische Lese‐ erfahrung, die der Roman zeitigt. So steht das Romankolorit im Zeichen radi‐ kaler Alterität: Handlung, Ort, Dekor scheinen »étrange et bizarre«. 321 Bei Gau‐ tier wird diese Fremdartigkeit noch positiv als visionäre Zeitreise qua Imagination bewertet: La lecture de Salammbô est une des plus violentes sensations intellectuelles qu’on puisse éprouver. Dès les premières pages, on est transporté dans un monde étrange, inconnu, surchauffé de soleil, bariolé de couleurs éclatantes, étincelant de pierreries au milieu d’une atmosphère vertigineuse, où se mêlent aux émanations des parfums les vapeurs du sang. Le spectacle de la barbarie africaine, avec ses magnificences bi‐ zarres, ses idoles bestiales, ses cultes féroces, son symbolisme difforme, sa stratégie de belluaire […] se déroule devant vous dans un éblouissement de lumière, comme si les rideaux du passé s'écartaient brusquement tirés par une main puissante, découv‐ 2 Textanalysen 108 <?page no="109"?> 322 Théophile Gautier: »Salammbô, par M. Gustave Flaubert«. In: Moniteur officiel (22.12.1862). http: / / flaubert.univ-rouen.fr/ etudes/ salammbo/ sal_gau2.php (letzter Aufruf: 11.09.15). 323 Sainte-Beuve: »Salammbô par M. Gustave Flaubert« (s. Anm. 314), S. 71. 324 An anderer Stelle heißt es: »Jamais il ne s’est reculé de son œuvre assez pour se mettre au point de vue de ses lecteurs« (ebd., S. 82). 325 George Sand: »Lettre, Salammbô«. In: La Presse (27.01.1863). URL: http: / / flau‐ bert.univ-rouen.fr/ etudes/ salammbo/ sal_san.php (letzter Aufruf: 12.09.2015). rant un théâtre où le décor des siècles a été laissé en place, au lieu de retourner au magasin de l’éternité. 322 Gleichsam wird hier aber auf den Leseakt selbst verwiesen, der quasi zur Tour de force wird. Und dies nicht zuletzt aufgrund der höchst schauerlichen Grau‐ samkeit, die Flaubert vornehmlich in den Schlachten-Szenen inszeniert. Und Sainte-Beuves Kritik gibt Flauberts Vermutung, man würde ihn nach Salammbô für einen Päderasten und Kannibalen halten, im Grunde Recht, wenn er ihn ob seiner sadistischen Schreibweise anklagt: il invente, sur la fin de ces funérailles, des supplices, des mutilations de cadavres, des horreurs singulières, raffinées, immondes. Une pointe d’imagination sadique se mêle à ces descriptions, déjà bien assez fortes dans leur réalité. Il y a là un travers qu’il faut absolument oser signaler. Si j’avais affaire à un auteur mort, je dirais qu’il y a peut-être chez lui un défaut de l’âme; mais comme nous connaissons tous M. Flaubert comme très vivant, que nous l’aimons et qu’il nous aime, qu’il est cordial, généreux, bon, une des meilleures et des plus droites natures qui existent, je dis hardiment: il y a là un défaut de goût et un vice d’école. La peur de la sensiblerie, de la pleurnicherie bour‐ geoise l’a jeté, de parti pris, dans l’excès contraire: il cultive l’atrocité. L’homme est bon, excellent, le livre est cruel. Il croit que c’est une preuve de force que de paraître inhumain dans ses livres. (meine Hervorhebung) 323 In seiner grausamen Anschaulichkeit, in der imaginativen Übersteigerung einer in sich bereits grausamen Realität liege der »défaut de goût«, den Sainte-Beuve beanstandet. Flaubert wird hier zum grausamen, gar unmenschlichen (»inhu‐ main«) Erzähler, dem es an Empathie für den Leser fehle. 324 Eine solche Scho‐ nungslosigkeit wird ihm denn auch andernorts attestiert, so z.B. bei George Sand, doch erkennt sie diese als eine durch das Sujet bedingte Notwendigkeit an. Als Vergleich zieht sie niemand geringeren als Dante heran, dem Flaubert in seiner schrecklichen Vorstellungskraft kaum nachstehe: »Son imagination est aussi féconde, sa peinture est aussi terrible que celle du Dante. […] Il n’épargne pas davantage les délicatesses du spectateur, parce qu’il ne veut point farder l’horreur de sa vision. Il est formidable comme l’abîme.« 325 Und wenn sich dem 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 109 <?page no="110"?> 326 Joachim Küpper: »Erwägungen zu Salammbô«. In: Brunhilde Wehinger (Hg.): Konkur‐ rierende Diskurse. Studien zur französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Zu Ehren von Winfried Engler. Stuttgart 1997 (=Zeitschrift für Französische Sprache und Literatur 24), S. 269-310, hier: S. 269. 327 Vgl. ebd., S. 269f. Inwiefern Salammbô mit eben jener Tradition des historischen Romans bricht, diskutiert auch Georg Lukàcs: Der historische Roman. Berlin 1955. Die Tatsache, dass Salammbô keinen teleologischen Bezug zur zeitgenössischen Lebenswelt herstellt, kritisiert übrigens auch schon Sainte-Beuve: »Le roman historique suppose nécessai‐ rement un ensemble d’informations, de traditions morales, de données de toutes sortes nous arrivant comme par l’air, à travers les générations successives. […] L’Antiquité, au contraire, ne comporte pas, de notre part, le roman historique proprement dit, qui suppose l’entière familiarité et l’affinité avec le sujet« (Sainte-Beuve: »Salammbô par M. Gustave Flaubert« [s. Anm. 314], S. 80). Ferner zu Salammbô als historischem Roman: Niklas Bender: »Pour un autre Orient: Flaubert et Michelet face à l’Histoire«. In: Modern Language Notes 122 (2007), S. 875-903; Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Mo‐ derne. Frankfurt am Main 2009. 328 Das ist letztendlich auch die Position, die Bohrer in Bezug auf den Text einnimmt. 329 Eine konzise Gegenüberstellung der beiden Lesarten des Romans findet sich bei Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen (s. Anm. 17), S. 173-178. 330 Salammbô als Roman im Zeichen der Alterität untersuchen u.a. Lawrence R. Schehr: »Salammbô as the novel of alterity«. In: Nineteenth-Century French Studies 17 (1989), S. 326-341; ders.: Figures of Alterity. French Realism and Its Others. Stanford 2003; Alain Toumayan: »Violence and Civilization in Flaubert's Salammbô«. In: Nineteenth-Century French Studies 37 (2008), S. 52-66. zartbesaiteten Leser nun die Haare aufstellen würden, dann nur, weil es dem Erzähler gelungen sei, ein Bild von außerordentlicher Lebhaftigkeit zu kreieren. So waren die Reaktionen auf Flauberts zweiten großen Roman von Beginn an gespalten, wenn sie auch allesamt die außerordentliche Intensität der Dar‐ stellung anerkennen. Auf ähnliche Weise divergieren die Lesarten, die die Lite‐ raturkritik hervorgebracht hat bzw. die Blickpunkte, unter denen der Roman untersucht wurde. So bemerkt Küpper, »[w]ie ein erratischer Block steht Sa‐ lammbô da im Kontext des Œuvres seines Autors, aber auch der anderen Texte der Zeit und entzieht sich bis auf den heutigen Tag allen Einordnungen.« 326 So steht der Text einerseits in der Tradition des historischen Romans, bricht aber gleichsam mit dem Modell, für das Walter Scott Pate steht, indem er geschichts‐ philosophische Prämissen von Kontinuität und Fortschritt ausblendet. 327 Ande‐ rerseits präfiguriert Salammbô die ästhetizistische Grundposition der Deka‐ denzliteratur und wird in seiner Inkommensurabilität paradigmatisch als ästhetisches Konstrukt lesbar. 328 Es existieren damit quasi zwei Interpretations‐ achsen, die unterschiedliche Aspekte des Romans privilegieren. 329 Im ersten Ansatz wird die radikale Alterität 330 der Inszenierung eines mythologischen Kosmos betont; Karthago als Schauplatz wird damit zum Evasionsraum, der sich 2 Textanalysen 110 <?page no="111"?> 331 Die mythische Dimension des Textes untersuchen die Studien: Stuart Barnett: »Divi‐ ning Figures in Flaubert’s Salammbô«. In: Nineteenth-Century French Studies 21 (1992/ 93), S. 73-87; Bernard Masson: »Salammbô ou la barbarie à visage humain«. In: Revue d’histoire littéraire 81 (1981), S. 585-596; Hans Peter Lund: »Salammbô de Flaubert: art et mythe«. In: Revue Romane 28 (1993), S. 59-74. Ferner zur Inszenierung des Mythos in Salammbô und gleichsam zu dessen Dekonstruktion vgl. vor allem Küpper: »Erwä‐ gungen zu Salammbô« (s. Anm. 326). Außerdem analysiert Gisèle Séginger, wie sich der Roman einer modernen Geschichtsdeutung versperrt, in: dies.: Flaubert. Une poétique de l’histoire. Strasbourg 2000. 332 Friedrich: Die Imagination des Bösen (s. Anm. 17), S. 176. Ansätze, den Text als Codierung spezifischer Diskurse des 19. Jarhunderts zu lesen, bieten: Jeanne Bem: »Modernité de Salammbô«. In: Littérature 40 (1980), S. 18-31; Anne Green: Flaubert and the Historical Novel. Salammbô reassessed. Cambridge: Cambridge UP 1982; François Laforgue: »›Sa‐ lammbô‹: les mythes et la révolution«. In: Revue d’histoire de la France 85, 1 (1985), S. 26-40. 333 Dies soll vornehmlich unter Bezugnahme auf die Thematik der Gewalt Geschehen. Weitere Aspekte, die irritierend wirken könnten, wie die Funktion und Bedeutung der Liebesgeschichte zwischen Mâtho und Salammbô, werden in der Folge nicht relevant sein. dem Verständnis des modernen rationalen Bewusstseins versperrt. 331 Dem zweiten Ansatz zufolge wird Salammbô als »Allegorie des zeitgenössischen Frankreichs« lesbar. 332 Der Roman erscheint in diesem Licht vor allem als Verar‐ beitung und Transposition konkreter geschichtlicher Erfahrungen aus dem von Revolutionen erschütterten Frankreich. Für die vorliegende Untersuchung ist natürlich das dem Text inhärente Schockpotential von eminentem Interesse. Die außerordentliche Rezeptionsge‐ schichte des Werkes zeigt, dass es als livre cruel bis heute zu verstören, scho‐ ckieren und irritieren vermag. Die unterschiedlichen Gesichtspunkte, die in dieser Hinsicht maßgeblich erscheinen, sollen näher beleuchtet werden, sodass das Reizpotential des Textes einerseits auf textueller Ebene lokalisiert werden kann: Worin besteht das inhaltliche Skandalon des Textes und wie wird dieses literarisch (d.h. mit welchen stilistischen Mitteln) gestaltet? Und letztendlich: Welche Normen sind betroffen und werden sowohl poetisch als auch moralisch neu verhandelt? 333 2.1.2 »Un livre cruel«: Flauberts Schreibweisen der Grausamkeit Der Roman setzt ein mit einem ausschweifenden Festgelage des Söldnerheers, das für Karthago den Punischen Krieg entschieden hatte, in den Gärten des Hamilcars. Von Beginn an wird die Szene durch die Exotik des Ambientes be‐ herrscht, eine Stimmung der rohen Ausgelassenheit, des sich steigernden Rau‐ sches. Die Söldner, die mit wachsender Trunkenheit gleichsam aggressiver 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 111 <?page no="112"?> 334 Nachweise für dem Roman entnommene Zitate erfolgen fortan im Fließtext und werden abgekürt mit »S«. Zitiert wird nach der folgenden Ausgabe: Gustave Flaubert: Sa‐ lammbô. Préface de Henri Thomas. Introduction et notes de Pierre Moreau. Paris 1970. werden (»A mesure qu’augmentait leur ivresse, ils se rappelaient de plus en plus l’injustice de Carthage«; S 47), 334 erhitzen sich gegen Karthago, das sie nicht für ihre militärischen Dienste entlohnt hatte. Die sich im Rausch schürende Ag‐ gression richtet sich schließlich gegen Hamilcar, der stellvertretend für das kar‐ thagische Volk als Sündenbock fungiert: »Ils se souvinrent d’Hamilcar. Où était-il? Pourquoi les avoir abandonnés, la paix conclue? […] Leur haine inas‐ souvie retombait sur lui: et il le maudissaient s’exaspérant les uns les autres par leur propre colère.« (S 52) Die Gewaltbereitschaft, die sich wie eine Kontagion von einem zum anderen überträgt, eruptiert schließlich in einem veritablen Blutrausch: […] il se fit un rassemblement sous les platanes. C’était pour voir un nègre qui se roulait en battant le sol avec ses membres […]. Quelqu’un cria qu’il était empoisonné. Tous se crurent empoisonnés. Ils tombèrent sur les esclaves; une clameur épouvan‐ table s’éleva, et un vertige de destruction tourbillonna sur l’armée ivre. Ils frappaient au hasard, autour d’eux, ils brisaient, ils tuaient: quelques-uns lancèrent des flambeaux dans les feuillages; d’autres, s’accoudant sur la balustrade des lions, les massacrèrent à coups de flèches; les plus hardis coururent aux éléphants, ils voulaient leur abattre la trompe et manger de l’ivoire. (S 52f.; meine Hervorhebung) In zwei kurzen Sätzen beschreibt Flaubert hier den plötzlichen Übergang von Agitation in eine Massenpanik, oder besser: einen Massenblutrausch: »Quel‐ qu’un cria qu’il était empoisonné. Tous se crurent empoisonnés.« Der hier im Parallelismus vorgeführte Wechsel des Numerus (aus »il« werden »tous«) mar‐ kiert den sprichwörtlichen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt: Die ohnehin angespannte, gewaltbereite Menge lässt sich willig vom Rausch der Zerstörung (»vertige de destruction«) hinfort tragen. Bezeichnend für Flauberts Erzählstil ist hier die (Wahrnehmungs-)Perspektive, welche weitestgehend un‐ bestimmt bleibt bzw. mit der der Menge korrespondiert. Die Distanz, die durch ein auktoriales Einmischen des Erzählers erzeugt würde, wird dergestalt redu‐ ziert. Gleichwohl entspricht die Undeterminiertheit der Passage (»Quelqu’un«, »tous«) im Grunde der Massenwahrnehmung, dem kollektiven Empfinden. Es folgt ein entfesselter, manischer Blutrausch: »ils frappaient au hasard«, »ils brisaient, ils tuaient«. Stilistisch setzt sich die Sogwirkung des Gewalt‐ rauschs in einer längeren Periode um, die in ihrer enumerativen Ausgestaltung die plötzliche Allgegenwart der Gewalt markiert. Die interne Fokalisierung, d.h. die Adaption der Söldnerperspektive, erlaubt dem Leser hier die »Einfühlung« 2 Textanalysen 112 <?page no="113"?> bzw. die Partizipation am rauschhaften Gelage, die eine auktoriale bzw. externe Erzählposition in dieser Form kaum gewährleistet würde. Die Schändung des Gartens Hamilcars gipfelt schließlich in einem finalen Akt der Transgression, der Tötung der heiligen Fische der Barca: Mais ils aperçurent un petit lac, divisé en plusieurs bassins par des murailles des pierres bleues. L’onde était si limpide que les flammes des torches tremblaient jusqu’au fond, sur un lit de cailloux blancs et de poussière d’or. Elle se mit à bouillonner, des paillettes lumineuses glissèrent, et de gros poissons, qui portaient des pierreries à la gueule, apparurent vers la surface. Les soldats, en riant beaucoup, leur passèrent les doigts dans les ouïes et les apportèrent sur les tables. C’étaient les poissons de la famille Barca. Tous descendaient de ces lottes primordiales qui avaient fait éclore l’œuf mys‐ tique où se cachait la Déesse. L’idée de commettre un sacrilège ranima la gourmandise des Mercenaires; ils placèrent vite du feu sous des vases d’airain et s’amusèrent à regarder les beaux poissons se débattre dans l’eau bouillante. (S 54) Das Bild, das Flaubert von den heiligen Fischen zeichnet, ist ein ästhetisch wohl komponiertes: Sie schwimmen in einem mit weißen Steinen und Goldstaub ausgelegtem Becken, sind selbst mit Edelsteinen verziert. Der Gedanke, diese erhabenen Geschöpfe nun zu braten, erfüllt die Söldner mit »gourmandise«, mit Gier und Fresslust, und voll sadistischer Lust beobachten sie die sich im Todes‐ kampf windenden Fische. In dieser Szene wird erstmals konkret ein Gewaltakt mit dem Paradigma der Lust konfiguriert. Die bewusste Transgression (»L’idée de commettre un sacrilège ranima la gourmandise«), die in der sadistischen Tötung der heiligen Tiere besteht (denn sie lebend in das kochende Wasser zu geben ist besonders qualvoll), wird zu einem ästhetisch ansprechenden, schönen Schauspiel (»beaux poissons«). Damit fungiert die Eingangsszene quasi als amuse-gueule, das in vielerlei Hinsicht auf das Kommende vorbereitet. Im darauffolgenden Kapitel »A Sicca« verlässt das vorerst mit Goldstücken vertröstete Söldnerheer Karthago, um in Sicca sein Lager aufzurichten. Auf dem Marsch durch das karthagische Umland offenbart sich ihnen ein schauerlicher Anblick: Eine Vielzahl gekreuzigter Löwen säumen die Felder. Ils marchaient dans une sorte de grand couloir bordé par deux chaînes de monticules rougeâtres, quand une odeur nauséabonde vint les frapper aux narines, et ils crurent voir au haut d’un caroubier quelque chose d’extraordinaire: une tête de lion se dressait au-dessus des feuilles. (S 75) Auch hier folgt die Erzählung wieder der Wahrnehmung des Söldnerheers, dessen Blick damit auch der Leser adaptiert. Das Tableau wird graduell ausge‐ breitet: Noch bevor überhaupt der über Blätter eines Johannisbrotbaums ra‐ 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 113 <?page no="114"?> 335 Dieses Phänomen hat Auerbach quasi exemplarisch nachgewiesen in seinem »Rea‐ lismus«-Kapitel »Im Hotel de la Mole«. (ders.: Mimesis [s. Anm. 288], S. 422-459). gende Löwenkopf erblickt wird, kündet ein widerwärtiger Gestank - der, wie sich in der Folge erweisen wird, von der Verwesung der Tiere hervorrührt - von der außergewöhnlichen Entdeckung, die die Söldner machen werden: Ils y coururent. C’était un lion, attaché à une croix par les quatre membres comme un criminel. Son mufle énorme lui retombait sur la poitrine, et ses deux pattes antérieures, disparaissant à demi sous l’abondance de sa crinière, étaient largement écartées comme les deux ailes d’un oiseau. Ses côtes, une à une, saillissaient sous sa peau tendue; ses jambes de derrière, clouées l’une contre l’autre, remontaient un peu; et du sang noir, coulant parmi ses poils, avait amassé des stalactites au bas de sa queue qui pendait toute droite le long de la croix. Les soldats se divertirent autour; ils l’appelaient consul et citoyen de Rome et lui jetèrent des cailloux dans les yeux, pour faire envoler les moucherons. (S 75) Was sie zunächst nur zu sehen glaubten, bestätigt sich nun: Die Söldner finden einen ans Kreuz geschlagenen Löwen vor sich. Und so wie sich die Barbaren dem Tier nähern, so tut dies auch der Blick, der den Darstellungsgegenstand nun in allen Details registriert: die auf die Brust hinab gesunkene Schnauze, die enorme Mähne, die die wie Flügel gespreizten Vorderläufe halb bedeckt; das Blut, das wie Stalaktiten von seinem Schwanz tropft. Auch hier ist die Darstel‐ lung durchaus nicht neutral, sondern eignet einer gewissen Poetizität, die dem schrecklichen (und an sich Widerwillen erregenden) Tableau - wenn auch subtil - eine besondere Erhabenheit verschafft. Zwar folgt hier der Blick der Wahr‐ nehmung der Söldner, d.h. es herrscht quasi Simultaneität zwischen Leser- und Figurenperspektive. Doch qualitativ erfolgt die Beschreibung der Szenerie kaum aus der Perspektive der Barbaren. Hier tritt das für Flaubert quasi charakteris‐ tische Phänomen der Polyphonie auf, bei der sich Figuren- und Erzählstimmen überblenden. 335 Dies wird besonders deutlich am spezifischen Darstellungs‐ modus, konkreter den Vergleichen, derer sich der Erzähler bedient, um sein Bild zu zeichnen: Die Vorderpfoten sind ausgebreitet »comme les deux ailes d’un oiseau« und das herab rinnende Blut formt »des stalactites«. Dabei handelt es sich um Bilder poetischer Natur, die kaum den Barbaren zuzuordnen sind, son‐ dern einem eloquenten Erzähler, der dergestalt den per se schaurigen Anblick eines verwesenden toten Löwen ästhetisiert. Nicht zuletzt klingt dabei natürlich in gewissem Maße auch die Thematik der Passion Christi an. In diesem Sinne scheint der gemarterte Körper des Tieres als groteskes Abbild der Christusfigur - ein Bild, das in der Folge noch durch das »divertissement« der Barbaren, die 2 Textanalysen 114 <?page no="115"?> 336 Bohrer: »Das Böse - eine ästhetische Kategorie? « (s. Anm. 20), S. 471. 337 Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen (s. Anm. 17), S. 208. den Löwen mit Steinen bewerfen, pervertiert wird. Die symbolischen Anklänge dieser Szene laden nun sicherlich dazu ein, nach potenziellen allegorischen Be‐ deutungsebenen zu fragen. Auf das Fehlen eben dieser verweist Bohrer in seinem Aufsatz von 1985. Das Bild des erhabenen Raubtiers, das nicht zuletzt für Wildheit, Mut und Stärke steht, im Zustand der Verwesung sei ein macht‐ volles, doch eines, das schweigt. Durch die Abstraktion dieses spannungsvollen Tableaus werde »jedoch keine Reflexion gewonnen, die im Gefühl der Trauer um die entstellte Natur endete«. 336 Ihm zufolge handele es sich vielmehr um eine Umkehrung des christlichen Symbols des Kreuzes als um eine Blasphemie: Im Grunde werde das im Christentum bedeutungsvolle Symbol entleert. Inwiefern das Löwenopfer ein tatsächlich sinnloses ist, erweist sich in der Folge. Der Blick, der sich auf den gekreuzigten Löwen richtete, wird hier nicht verweilen. Er schwenkt in die Ferne und mit einem Mal eröffnet sich eine schaurige Perspektive: Cent pas plus loin ils en virent deux autres, puis tout à coup parut une longue file de croix supportant des lions. Les uns étaient morts depuis si longtemps qu’il ne restait plus contre les bois que le débris de leurs squelettes; d’autres à moitié rongés tordaient la gueule en faisant une horrible grimace; il y en avait d’énormes, l’arbre de la croix pliait sous eux et ils se balançaient au vent, tandis que sur leur tête des bandes de corbeaux tournoyaient dans l’air, sans jamais s’arrêter. Ainsi se vengeaient les paysans carthaginois quand ils avaient pris quelque bête féroce; ils espéraient par cet exemple terrifier les autres. Les Barbares, cessant de rire, tombèrent dans un long étonnement. »Quel est ce peuple, pensaient-ils, qui s’amuse à crucifier les lions! « (S 75f.) Es offenbart sich eine Armada gekreuzigter Löwen, die sich allesamt in unter‐ schiedlichen Verwesungsstadien befinden, einige bereits skelettiert, andere zer‐ nagt, die Schnauze zu entsetzlichen Fratzen verzerrt. Damit bedient sich Flaubert hier natürlich quasi universeller Ekelmotive, die dem Bereich der Verwesung angehören. Noch wirksamer gestaltet sich das Tableau jedoch durch den Hin‐ weis auf die Sinnlosigkeit dieses Zerstörungswillens: Die Kreuzigung der Löwen ist ein fragwürdiger Racheakt der karthagischen Bauern, die damit andere Raub‐ tiere abzuschrecken glauben. Hier wird die Entleerung des Kreuzsymbols quasi komplettiert, wie Friedrich bemerkt: »Die Verwesung der Löwen negiert die Auferstehung, und die Vervielfältigung der gekreuzigten Löwen steht dem Ge‐ danken der Einzigartigkeit der Kreuzigung entgegen.« 337 Ihre Deutung korri‐ giert die Annahme Bohrers, es handele sich um ein Außerkraftsetzen der christ‐ 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 115 <?page no="116"?> 338 Ebd. Dass das Kreuz ein von Flaubert häufig bemühtes Symbol darstellt und ihm in‐ nerhalb seines Gesamtœuvres eine besondere Bedeutung zukommt, zeigt Barbara Vinken: »Die Ironie des Flaubertschen Werkes liegt darin, dass es illustriert, wie die Brutalität der Geschichte im Namen des Heilsversprechens, als politische Theologie nämlich, immer und immer wieder nur die Figur des Kreuzes nachzeichnet. Die hoff‐ nungslose Figur des Kreuzes in der Geschichte zu lesen und im Text zu stellen, ist Auf‐ gabe der Literatur. Der Ausfall des Versprechens macht die Passion derer, die sie er‐ leiden, in ihrer ganzen Nutzlosigkeit, Perversität oder Verrücktheit um ein verzweifeltes Maß reiner«, Barbara Vinken: »Kreuz«. In: dies./ Cornelia Wild (Hg.): Arsen bis Zucker. Berlin 2010, S. 173-175, hier: S. 174. lichen Symbolik, insofern, als sie darauf hinweist, dass der christliche Bezugshorizont erst einmal Bestand haben muss, bevor er negiert werden kann. So argumentiert sie, dass trotz der ästhetischen Sperrung des Gegenstands ge‐ genüber einer historisch-christlichen Deutung dennoch der Versuch geleistet würde, »in Salammbô die symbolische Welt des Christentums doch blasphe‐ misch zu evozieren«. 338 Funktional kommt damit der Szene eine besondere Bedeutung zu: Einerseits relativiert sie die Barbarei der Söldner in dem Maße, dass diese, nachdem sie im vorangehenden Kapitel im Gewaltrausch den Garten des Hamilcar schändeten, nun selbst vor Entsetzen erstarren. Auf diese Weise wird die Opposition zwi‐ schen den sogenannten Barbaren und den vermeintlich zivilisierten Karthagern nivelliert. Andererseits wirkt die Szene vorbereitend auf die den Söldneranfüh‐ rern bevorstehende Kreuzigung nach der Niederlage im Engpass: »Mais Ha‐ milcar voulut d’abord montrer aux Mercenaires qu’il les châtierait comme des esclaves. Il fit crucifier les dix ambassadeurs, les uns près des autres, sur un monticule, en face de la ville.« (S 437). Ähnlich wie die karthagischen Bauern lässt auch Hamilcar die Söldner zu demonstrativen Zwecken ans Kreuz nageln. Innerfiktional wird das Tableau der gekreuzigten Löwen quasi zum Vorzeichen des grausamen Todes, der die Barbaren erwartet. Als Repräsentant des Todes fungiert das Bild des Löwen schlussendlich auch, als die letzten Überlebenden des Söldnerheers nach der Schlacht am Engpass von Löwen verzehrt werden. Erneut wird ein Schreckensbild der Verwesung evoziert: Sur l’étendue de la plaine, des lions et des cadavres étaient couchés, et les morts se confondaient avec des vêtements et des armures. A presque tous le visage ou bien un bras manquait; quelques-uns paraissaient intacts encore; d’autres étaient desséchés complètement et des crânes poudreux emplissaient des casques; des pieds qui n’a‐ vaient plus de chair sortaient tout droit des cnémides, des squelettes gardaient leurs manteaux; des ossements, nettoyés par le soleil, faisaient des taches luisantes au milieu 2 Textanalysen 116 <?page no="117"?> 339 Friedrich bemerkt, dass die Schlachtszenen im Grunde nicht wesentlich zum Fortgang der Handlung beitragen, sie »sind austauschbar […] und unterscheiden sich kaum von‐ einander« (Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen [s. Anm. 17], S. 183). du sable. Les lions reposaient, la poitrine contre le sol et les deux pattes allongées, tout en clignant leurs paupières sous l’éclat du jour, exagéré par la réverbération des roches blanches. D’autres, assis sur leur croupe, regardaient fixement devant eux; ou bien, à demi perdus dans leurs grosses crinières, ils dormaient roulés en boule, et tous avaient l’air repus, las, ennuyés. Ils étaient immobiles comme la montagne et comme les morts. (S 454f.) In der quasi zeugmatischen Zusammenfügung »des lions et des cadavres étaient couchés« figuriert die symbolische Konjunktion des Bildes des Löwen und der Idee der Zerstörung bzw. des Todes. Inmitten von partiell erhaltenen Leichen‐ teilen, Skeletten, verstaubter und verdreckter Kleidung und Waffen ruhen die Löwen gesättigt, müde und gelangweilt wie nach einem Festmahl. Sind sie in der Kreuzigungsszene noch selbst Gegenstand der Verwesung, werden sie hier zum Todbringer, obgleich offengelassen wird, wie genau die übrigen Söldner zu Tode gekommen sind. Flaubert beschränkt sich hier auf die Beschreibung des »Danach«; der Leser erfährt lediglich von Narr’Havas Unternehmen, die sich stetig vermehrenden Löwen in die Nähe des Engpasses zu treiben, um nach einiger Zeit einen Boten auszusenden und zu sehen, »ce qui restait des Barbares« (S 454). So wird der Vorstellungskraft überlassen, die Agonie des Todeskampfes, die dem Bild der Zerstörung und Verwesung vorausgeht, kreativ zu ergänzen. Sicherlich einer der bemerkenswertesten Aspekte des Romans ist die detail‐ lierte Versprachlichung der Schlachten, die in Länge und Intensität an die Grenzen des sprichwörtlichen guten Geschmacks rühren. Nicht zuletzt auf‐ grund der Darstellung exzessiver Grausamkeit stieß Flaubert mit Salammbô auf Unmut. Die Schlachtenszenen sind zahlreich, doch soll im Folgenden repräsen‐ tativ die Schlacht am Makar beleuchtet werden. 339 Nachdem es zeitweilig so schien, als könnten die Barbaren gegen das karthagische Heer bestehen, nachdem Kugeln pfiffen, Schwerter klirrten, Menschen erdrückt, zermalmt, erstochen, zerschlagen wurden, ruft Hamilcar seine zu ultimativen Kriegsma‐ schinen gerüsteten Elefanten auf den Plan. Mit Spießen, Panzern und an den Stoßzähnen mit scharfen Klingen bestückt stürmen diese nun die Barbaren: Afin de mieux résister les Barbares se ruèrent, en foule compacte; les éléphants se jetèrent au milieu, impétueusement. Les éperons de leur poitrail, comme des proues de navire, fendaient les cohortes; elles refluaient à gros bouillons. Avec leurs trompes, ils étouffaient les hommes, ou bien les arrachant du sol, par-dessus de leur tête ils les livraient aux soldats dans les tours, avec leurs défenses, ils les éventraient, les lançaient 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 117 <?page no="118"?> 340 Dass Flaubert Anleihen bei den benachbarten Künsten der Malerei und des Theaters macht, hebt Dominique Jullien hervor, die Flauberts Poetik als Ästhetik der »Tableaux vivants« bezeichnet: »In Salammbô [...] the text is governed by a principle analogous to the tableau vivant, pulling the novel in the direction of the spectacular arts - painting and theater. The tableau vivant, combining theater, painting, photography, and sculp‐ ture, appears to be a kind of nexus, at the intersection of various genres and media which Flaubert sought either to emulate or to rival in his writing.« (dies.: »›Quelque chose de rouge‹: On the aesthetics of tableaux vivants in Salammbô«. In: Modern Lang‐ uage Notes 128, 4 [2013], S. 761-784, hier: S. 762). 341 Albert Thibaudet: Gustave Flaubert. Paris: Gallimard 1963, S. 267. en l’air, et de longues entrailles pendaient à leurs crocs d’ivoire comme des paquets de cordages à des mâts. Les Barbares tâchaient de leur crever les yeux, de leur couper les jarrets; d’autres, se glissant sous leur ventre, y enfonçaient un glaive jusqu’à la garde et périssaient écrasés; les plus intrépides se cramponnaient à leurs courroies; sous les flammes, sous les balles, sous les flèches, ils continuaient à scier les cuirs, et la tour d’osier s’écroulait comme une tour de pierre. Quatorze de ceux qui se trouvaient à l’extrémité droite, irrités de leurs blessures, se retournèrent sur le second rang; les Indiens saisirent leur maillet et leur ciseau et l’appliquant au joint de la tête, à tour de bras, ils frappèrent un grand coup. Les bêtes énormes s’affaissèrent, tombèrent les unes par-dessus les autres. Ce fut comme une montagne; […]. Cependant les autres, comme des conquérants qui se délectent dans leur extermination, renversaient, écrasaient, piétinaient, s’acharnaient aux cadavres, aux débris. (S 254f.; meine Hervorhebung) Auch hier erweist sich die Erzählstimme als peintre eines ausnehmend blutigen Tableaus. 340 Die Wirkmacht des Bildes liegt dabei sicherlich erstens in der schieren Fülle an Details begründet, dem fast schon klinischen Voyeurismus, der den Blick auf scheinbar jede blutige Einzelheit richtet. Zweitens ist die Formung des Darstellungsgegenstands im Modus des Poetischen ein effektiver Faktor, der die besondere Qualität der Passage ausmacht. Erneut bedient sich der Erzähler mehrfach des Vergleichs, um das Kriegsgeschehen zu verbildlichen, in diesem Fall zunächst einer Schiffsmetapher. Wie ein Schiffsbug das Meer so teilt die Elefantenherde die Soldatenmenge, und die Gedärme der aufgeschlitzten Bar‐ baren hängen wie Taue von Masten. Dieses letzte Bild ist besonders markiert durch das für Flauberts Stil charakteristische et de mouvement, das innerhalb von Aufzählungen und Beschreibungen meist das »détail final destiné à faire jaillir comme une fusée le trait inattendu qui doit rester dans la mémoire« ein‐ leitet. 341 Zur Effizienz der Deskription trägt dabei das überraschende Vergleichs‐ moment bei bzw. die Relation der beiden Vergleichskomponenten, die gleich‐ zeitig unverhältnismäßig und doch erstaunlich akkurat scheint. Das Ekelmotiv der Gedärme wird durch die Analogie in den Bereich des Poetischen gehoben, 2 Textanalysen 118 <?page no="119"?> 342 Sainte-Beuve: »Salammbô par M. Gustave Flaubert« (s. Anm. 314), S. 88. 343 Man kann lediglich von einer kleinschrittigen Dramaturgie sprechen, die sich auf ein‐ zelne Sequenzen beschränkt. Z.B. Flauberts Konstruktionen mit einem et de mouve‐ ment, wie oben erläutert, setzen punktuell Akzente. So auch Friedrich: »Eine endlose Kette von Überschreitungen folgt dicht aufeinander, so daß in diesen Kampfszenen - ähnlich wie in den Sadeschen Orgien - kein Spannungsaufbau auszumachen ist; sie bestehen aus einer Aneinanderreihung von kleinen, gleichgearteten Spannungsein‐ heiten« (Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen [s. Anm. 17], S. 185). wo es mit der fast schon banalen Natur des Bildspenders kollidiert. Auch wenn es heißt, die Elefanten stürzten sich in die Menge »comme des conquérants qui se délectent dans leur extermination«, wird der Darstellungsgegenstand durch die Bildlichkeit des Vergleichs modifiziert: Im Bild des zerstörerischen Eroberers kondensiert sich gleichsam die Idee der lustvollen Zerstörungswut. Damit liegt das außerordentliche Wirkungspotential zum Teil in der Poetisierung be‐ gründet, d.h. in der Aufladung grausamer, missfälliger oder ekelerregender Ge‐ genstände mit besonderen, ungewohnten Semantiken. Aber auch in strukturell-syntaktischer Hinsicht ist diese Passage repräsen‐ tativ, und zwar in Hinblick auf die schiere Fülle an Details, die enumerative Strukturierung der Beschreibungen des Kriegsgeschehens. Bereits Sainte-Beuve kommentierte in Bezug auf die zahlreichen deskriptiven Passagen (vornehmlich der Landschaft, der Sitten etc.) in Salammbô: Les descriptions étant la partie capitale du livre, j’en dois dire quelques mots. Elles ont de l’exactitude, du relief, parfois de la grandeur africaine, en ce qui est du paysage, mais, en tout, bien de la monotonie. J’y voudrais plus de gradation, et qu’on y observât la perspective naturelle. Je ne m’accoutumerai jamais à ce procédé pittoresque qui consiste à décrire à satiété, et avec une saillie partout égale, ce qu’on ne voit pas, ce qu’on ne peut raisonnablement remarquer. 342 Sainte-Beuves Feststellung lässt sich problemlos ohne die kritische Wertung auf die Gewaltszenen übertragen. Den Deskriptionen ist eine gewisse Überdeter‐ miniertheit zu eigen; das erzählerische Kameraauge folgt nicht mehr dem Prinzip natürlicher Wahrnehmung, sondern erfasst mit klarer Präzision jedes noch so kleine, schaurige Detail. Und diese werden akkumuliert, ohne dass dabei eine erkennbare Gradation bzw. Dramaturgie verfolgt würde. 343 So finden sich zahlreiche Aneinanderreihungen semantisch wenig unterscheidbarer Begriffe, wie hier im Zitat »renversaient, écrasaient, piétinaient, s’acharnaient«, vier Verben in asyndetischer Aufzählung, die allesamt die Idee der Zerstörung trans‐ portieren. Damit folgt Flaubert dem Prinzip der Horizontalität bzw. einer - wie Friedrich es in Anlehnung an Klaus Dirscherl nennt - »Gestik des Erwei‐ 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 119 <?page no="120"?> 344 Ebd., S. 187. 345 Küpper: »Erwägungen zu Salammbô« (s. Anm. 326), S. 290. Dieses Faktum untermauert gleichwohl Küppers These, dass der Roman nicht als exotische Evasion zu lesen ist. Freilich bezieht er sich vornehmlich auf die deskriptiven Passagen, die der Evokation von couleur locale dienen, doch lässt sich dies auch auf die Beschreibungen der Schlachten etc. übertragen. terns«. 344 Sie rekurriert dabei gleichsam auf die Untersuchung Wolf Dieter Stem‐ pels zur mittelalterlichen Obszönität (vgl. Kap. 1.2.5 Das Obszöne), der die strukturelle Verschiedenheit des obszönen Zeichens und der Grausamkeit he‐ rausstellte. Letztere werde erst durch Wiederholung sprachlicher Zeichen der Gewalt zum Grenzphänomen (und hier finden sich auch in gewisser Weise P.-A. Alts Überlegungen zur Wiederholung als Strukturfigur des literarischen Bösen bestätigt, sofern es als Konstituens einer transgressiven bzw. provokativen Ima‐ gination betrachtet wird), während das obszöne Signum meist bereits isoliert über entsprechende Wirkmacht verfügt. Der Stein des Anstoßes besteht quasi in der Übersättigung des Lesers, der kontinuierlichen Reizung, ja fast Überstra‐ pazierung seiner Vorstellungskraft. Wie Küpper bemerkt, erzeugen die »Des‐ kriptionen nicht Illusion, sondern Irritation«. 345 Im imaginativen Nachvollzug stellt sich eine Form des Überdrussekels ein. In der Tat arbeitet Flaubert - wie auch teils bereits nachgewiesen wurde - mit dem Reizpotential ›klassischer‹ Ekelmotivik, so z.B. in den Schlachten‐ szenen. Es ist aber im Besonderen eine Figur, die sowohl durch ihre bereits im Stadium des Verfalls begriffene Physis, als auch die moralische Fragwürdigkeit den Abscheu des Lesers einlädt: der Suffet Hannon, Mitglied des Hohen Rates Karthagos und (ehemaliger) Heerführer. Bereits sein erster Auftritt im Kapitel »A Sicca« ist einprägsam. Eine Sänfte wird in das Lager der Söldner getragen und, sobald sich der Vorhang öffnet, wird zunächst nur ein Kopf sichtbar: Mais les courtines de pourpre se relevèrent; et l’on découvrit sur un large oreiller une tête humaine tout impassible et boursouflée; les sourcils formaient comme deux arcs d’ébène se rejoignant par les pointes; des paillettes d’or étincelaient dans les cheveux crépus, et la face était si blême qu’elle semblait saupoudrée avec de la râpure de marbre. Le reste du corps disparaissait sous les toisons qui emplissaient la litière. Les soldats reconnurent dans cet homme ainsi couché le suffète Hannon, celui qui avait contribué par sa lenteur à faire perdre la bataille des îles Ægates; (S 85) Das Bild, das hier gezeichnet wird, ist plastisch: Sichtbar wird aus der Perspek‐ tive der Söldner (und damit auch für den Leser), auf einem Kissen thronend, das scheinbar körperlose, aufgedunsene, bleiche, doch mit Goldpailletten verzierte Haupt des Hannon. Gleichwohl sind die ersten Assoziationen, die mit ihm in 2 Textanalysen 120 <?page no="121"?> 346 Dass Flaubert sich bevorzugt tierischer Vergleiche bedient, nicht zuletzt um die »bêtise humaine« zum Ausdruck zu bringen, ist hinlänglich bekannt. In der zitierten Passage wird Hannon weiterhin mit einem Ochsen verglichen und ferner im Roman mit einem Nilpferd (S 178). Zur Tiermetaphorik im Roman vgl. Göran Blix: »Entre les dieux et les animaux: Salammbô et la bête humaine de Flaubert«. In: Modern Language Notes 128 (2013), S. 723-743. Verbindung gebracht werden, sein kriegerischer Misserfolg, seine Langsamkeit und Habgier. Damit stehen der Pomp seines Auftritts sowie seine tatsächliche Fama von Beginn an in einem Missverhältnis. Sobald Hannon schwankend von Sklaven zu Boden gelassen wird, offenbart sich auch sein Körper, der nun in den Blick des Erzählers gerät: Il avait des bottines en feutre noir, semées de lunes d’argent. Des bandelettes, comme autour d’une momie, s’enroulaient, à ses jambes, et la chair passait entre les linges croisés. Son ventre débordait sur la jaquette écarlate qui lui couvrait les cuisses; les plis de son cou retombaient jusqu’à sa poitrine comme des fanons de bœuf, sa tunique où des fleurs étaient peintes, craquaient aux aisselles; il portait une écharpe, une cein‐ ture et un large manteau noir à doubles manches lacées. L’abondance de ses vêtements, son grand collier de pierres bleues, ses agrafes d’or et ses lourds pendants d’oreilles ne rendaient que plus hideuse sa difformité. On aurait dit quelque grosse idole ébau‐ chée dans un bloc de pierre; car une lèpre pâle, étendue sur tout son corps, lui donnait l’apparence d’une chose inerte. Cependant son nez, crochu comme un bec de vautour, se dilatait violemment, afin d’aspirer l’air, et ses petits yeux, aux cils collés, brillaient d’un éclat métallique. Il tenait à la main une spatule d’aloès, pour se gratter la peau. (S 86) Schien er bereits in der Beschreibung seines Antlitzes Anzeichen von Siechtum aufzuweisen (Unbeweglichkeit, marmorne Blässe, Aufgedunsensein), so wird hier vollends ein Bild menschlicher Fäulnis entworfen. Ein jedes Detail seiner Erscheinung kündet vom Moder des Todes, von der Verwachsenheit des Körpers mit all seinem wuchernden Fleisch. Wie bei einer Mumie sind seine Beine um‐ wickelt; ein Hautausschlag lässt ihn wie etwas Unbelebtes (»chose inerte«) wirken. Und all dieses faulende Fleisch kontrastiert aufs schärfste mit seinem edlen Geschmeide, welches, anstatt sein voranschreitendes Dahinsiechen zu kaschieren, seine Unförmigkeit (»difformité«) im Gegenteil noch betont, gera‐ dezu unappetitlich in den Vordergrund drängt. Sogar im durch den Erzähler gewählten tierischen Vergleich mit einem Geier gemahnt er noch an den Tod (schließlich handelt es sich um einen Aasfresser). 346 Die Geschichte Hannons im Roman ist dabei gleichsam eine der körperlichen und politischen Dekadenz. Hannon, der sich durch den Erfolg Hamilcars bedroht sieht, wird schließlich bei 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 121 <?page no="122"?> 347 So handelt Hannon hier nicht aus militärischem Kalkül, sondern aus dem schieren Ver‐ langen heraus, Hamilcar zu übertrumpfen: »Hannon, par désir d’humilier son rival, ne balança pas. Il cria de sonner les trompettes, et toute son armée se précipita sur les Barbares.« (S 437) 348 Dass der ekelhafte Körper in der klassischen Ästhetik vor allen Dingen eine Deforma‐ tion des »klassisch-ästhetisch codierten« Körpers ist, weist Menninghaus nach. Dabei sind zwei binäre Oppositionen maßgeblich für die Unterscheidung zwischen ekelerre‐ gend und schön, und zwar »Glattheit vs. Unebenheit« und »Ganzheit vs. Lostren‐ nungen«. Vgl. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Emp‐ findung (s. Anm. 28), bes. S. 76-159, hier: S. 80. dem letzten Versuch, entgegen Hamilcars Befehlen einen Angriff auf das Bar‐ barenheer einzuleiten, 347 das Nachsehen haben und von den übermächtigen Söldnern zusammen mit dreißig anderen Karthagern ans Kreuz geschlagen werden. In diesem letzten Moment des Todes wird Hannons Missgestalt noch einmal in aller Plastizität vorgeführt: Ils arrachaient ce qui lui restait de vêtements - et l’horreur de sa personne apparut. Des ulcères couvraient cette masse sans nom; la graisse de ses jambes lui cachait les ongles des pieds; il pendait à ses doigts comme des lambeaux verdâtres; et les larmes qui ruisselaient entre les tubercules de ses joues donnaient à son visage quelque chose d’effroyablement triste, ayant l’air d’occuper plus de place que sur un autre visage humain. Son bandeau royal, à demi dénoué, traînait avec ses cheveux blancs dans la poussière. Ils crurent n’avoir pas de cordes assez fortes pour le grimper jusqu’au bout de la croix, et ils le clouèrent dessus avant qu’elle fût dressée, à la mode punique. Mais son orgueil se réveilla dans la douleur. Il se mit à les accabler d’injures. Il écumait et se tordait, comme un monstre marin que l’on égorge sur un rivage, en leur prédisant qu’ils finiraient tous plus horriblement encore qu’il serait vengé. (S 439) Hier ist Hannon mit all seinen Geschwüren, Wülsten und Verwachsungen wohl das komplette Gegenteil des ebenmäßigen, ästhetischen Körpers 348 und trägt kaum noch menschliche Züge, wird gar in seinem letzten Aufbegehren einem Seeungeheuer angeglichen. Sogar seine Tränen wirken grotesk-übermensch‐ lich. Zuletzt wird er sich tatsächlich bis zur Unkenntlichkeit auflösen; es bleibt nichts zurück als totes, zerfetztes Gewebe: »Hamilcar eut de la peine à recon‐ naître Hannon. Ses os spongieux ne tenant pas sous les fiches de fer, des portions de ses membres s’étaient détachées, - et il ne restait à la croix que d’informes débris« (S 441). In Hannons körperlicher Degeneration figuriert jedoch gleich‐ sam seine moralische Verworfenheit und stellvertretend die Karthagos. Barbara Potthast erläutert, wie sowohl Hamilcar als auch Hannon für gegensätzliche Prinzipien stehen, welche sich darüber hinaus qua Analogie auf das zeitgenös‐ sische Frankreich übertragen lassen: 2 Textanalysen 122 <?page no="123"?> 349 Barbara Potthast: Die Ganzheit der Geschichte. Historische Romane im 19. Jahrhundert. Göttingen 2007, S. 174. 350 »Il [Hannon] offrit de livrer Hamilcar, puis ils entreraient dans Carthage et seraient rois tous les deux« (S 438). Inwiefern Hannon an dieser und anderer Stelle zur Zielscheibe der Flaubert’schen Ironie wird, zeigt Suzanne Hélein-Kloss: »Discours ironique et ironie romantique dans Salammbô de Gustave Flaubert«. In: Symposium 40 (1986), S. 16-40, hier: S. 20-22. 351 Stefan Bub: »Die getöteten Kinder und die Ästhetik des Bösen« (s. Anm. 40), S. 356. Hanno und Hamilcar, beide reich, grausam und falsch, bereiten auf ihre jeweilige Weise den Untergang des punischen Staates vor - Hanno durch Verweichlichung, Krankheit und militärisches Unvermögen, Hamilcar durch Fähigkeiten und das Ziel, mit seinem Sohn ein neues eigenes Karthago zu gründen. Die Suffeten stehen für zwei aufeinanderfolgende Epochen menschlicher Entrechtung und Unterdrückung, der überzüchtete, kranke Hanno für die Privilegierten des Ancien régime, der vitale, er‐ folgreiche Hamilcar für die Bourgeoisie der kapitalistischen Industriegesellschaft. 349 Damit wird die Figur gleichsam als Geschichtsallegorie sowie Prototyp des spä‐ teren dekadenten Aristokraten à la des Esseintes lesbar. Korruption und Gier werden am Beispiel Hannons als moralisch zu verwerfende Laster bloßgelegt, wenn auch auf eine subtile, für Flaubert charakteristische Art und Weise. Der Erzähler enthält sich einer direkten Wertung, doch führt seine Figuren durch Ironisierung und Ridikülisierung vor. Dies beginnt einerseits bei der in die Gro‐ teske abdriftenden Überzeichnung von Hannons körperlichen Gebrechen und setzt sich schließlich in der Inszenierung seiner moralischen Duplizität fort: Gibt er sich einerseits als Patriot aus, so wird er später beim Versuch, um sein Leben zu feilschen, Hamilcar und sein Vaterland verraten. 350 Die Figur des Hannon fungiert damit als reizstarkes Ekelobjekt par excellence, das jedoch nicht aus‐ schließlich für sich selbst steht, sondern gleichsam auf einen allegorischen Be‐ deutungskern verweist. Als Gipfelpunkt der Grausamkeit kann wohl eine der meist diskutierten und kommentierten Szenen des Romans gelten: die Kindesopferung »als extremste widernatürliche Zumutung« 351 in dem Kapitel »Moloch«. Den Karthagern, deren Versorgungswege sowie Wasserzufuhr von den Barbaren gekappt wurden, droht der Hungertod, sollte nicht baldigst ein Regenschauer zumindest dem Durst Abhilfe schaffen. Die Göttin Tanit, Patronin der Stadt Karthago, scheint nunmehr machtlos. In ihrer Verzweiflung beschließen die Karthager, dass zu deutlich drastischeren Mitteln gegriffen werden müsse, um die Götter Karthago milde zu stimmen: Les Dieux, indignés contre la République, allaient sans doute poursuivre leur venge‐ ance. On les considérait comme des maîtres cruels, que l’on apaisait avec des suppli‐ 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 123 <?page no="124"?> 352 Barbara Potthast zufolge belegt diese Szene die Überzeitlichkeit des kapitalistischen Bewusstseins, das - da anthropologische Konstante - auch die antik-mythische Vor‐ stellungswelt beherrscht: »Flauberts geschichtspessimistische Vorstellung, daß die Welt zu allen Zeiten ein gigantischer, von Habgier, Machthunger, Grausamkeit und Falsch‐ heit regierter Kampfplatz ist, bezieht auch das Übersinnliche ein: da es keine göttliche Kraft zu geben scheint, bilden die Menschen die Götter nach ihren Zwecken und er‐ heben durch sie das Gesetz des Stärkeren, der den Schwächeren unterdrückt, zur Sak‐ ralität, die den gesellschaftlichen Dauerkrieg legitimiert.« (Barbara Potthast: Die Ganz‐ heit der Geschichte [s. Anm. 349], S. 184). Ferner zur Präsenz moderner Diskurse in Salammbô vgl. Jeanne Bem: »Modernité de ›Salammbô‹« (s. Anm. 332). cations et qui se laissaient corrompre à force de présents. Tous étaient faibles près de Moloch-le-Dévorateur. L’existence, la chair même des hommes lui appartenaient; - aussi, pour la sauver, les Carthaginois avaient coutume de lui en offrir une portion qui calmait sa fureur. On brûlait les enfants au front ou à la nuque avec des mèches de laine; et cette façon de satisfaire le Baal rapportant aux prêtres beaucoup d’argent, ils ne manquaient pas de la recommander comme plus facile et plus douce. Mais cette fois, il s’agissait de la République elle-même. Or, tout profit devant être racheté par une perte quelconque, toute transaction se réglant d’après le besoin du plus faible et l’exigence du plus fort, il n’y avait pas de douleur trop considérable pour le Dieu, puisqu’il se délectait dans les plus horribles et que l’on était maintenant à sa discrétion. Il fallait donc l’assouvir complètement. (S 384f.) Die in dieser Passage inszenierte Verquickung verschiedenartiger (genauer: my‐ thisch-religiöser und rationalistisch-ökonomischer) Diskurse führt zu deren ironischer Zersetzung und lässt das im Folgenden erbrachte Kindesopfer noch monströser erscheinen. Der zunächst mythischen Überhöhung des Gottes Mo‐ loch (»Tous étaient faibles près de Moloch-le-Dévorateur. L’existence, la chair même des hommes lui appartenaient«) und dem damit verbundenen Glauben an dessen Verfügungsgewalt steht das erstaunlich moderne kapitalistische Streben 352 nach Reichtum gegenüber (»tout profit devant être racheté par une perte quelconque, toute transaction se réglant d’après le besoin du plus faible et l’exigence du plus fort«). Indem der Flaubert’sche Erzähler sich jeglichen Kom‐ mentars enthält und stattdessen die Perspektive der Karthager adaptiert, legt er gleichzeitig das prekäre Fundament des Glaubens bloß; religiöse Riten werden hier als durch Habgier motivierte Handlungen entlarvt (»et cette façon de sa‐ 2 Textanalysen 124 <?page no="125"?> 353 In der Tat ließe sich mit Küpper gar die These aufstellen, dass die Götter nichts weiter als Projektionen sind. Der Mythos werde nicht selten durch den Handlungsverlauf wi‐ derlegt, so z.B. wenn Mâtho den zaïmph entwendet, dessen Berührung als Simulakrum des Göttlichen eigentlich den Tod bringen müsste, doch Mâtho nicht stirbt. Gleichsam indiziere der »Register-Wechsel« der Karthager vom Tanit-Kult zum Moloch-Mythos, dass Mythos fiktionsimmanent vor allen Dingen als Erklärungsmodell fungiert: »Die Götter existieren nicht. Sie sind Vorstellungen, entworfen für die Bedürfnisse der Ohn‐ mächtigen, die den Mächtigen zweckdienlich sind, um ihre Macht (ihr eigenes Leben, das ihres Geschlechts) aufrechtzuerhalten.« (Küpper: »Erwägungen zu Salammbô« [s. Anm. 326], S. 280). 354 Zur Ironie dieser Passage vgl. auch Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen (s. Anm. 17), S. 202. 355 Hélein-Kloss schlägt die folgende Deutung vor: In Anlehnung an Culler verweist sie auf den grundsätzlich prekären Charakter kausaler Konjunktionen wie »car« oder »parce que« bei Flaubert, da diese meist dazu dienen, Klischees und Allgemeinplätze zu reproduzieren. Und auch hier sei das kausale Komplement die Umkehrung eines tatsächlichen Realitätsverhältnisses (im Gegenteil sei es leichter, Dinge zu sagen als zu tun) und stifte in Relation zu dem Sachverhalt, auf den es sich bezieht - nämlich das Opfer -, einen »non-sens scandaleux« (Hélein-Kloss: »Discours ironique et ironie ro‐ mantique dans Salammbô de Gustave Flaubert« [s. Anm. 350], S. 32). Auch Deppmann kommentiert diesen Passus. Er macht auf die grundsätzliche Ambiguität des kausalen Nebensatzes aufmerksam: Es sei nicht klar, wessen Stimme der eigentliche Urheber sei. Handelt es sich um einen Erzählerkommentar, der die Handlungen der Figuren zu er‐ klären sucht, oder ist es vielmehr erlebte Rede, die das Bewusstsein der Figuren reflek‐ tiert? Die Frage sei im Grunde nicht entscheidbar (vgl. Jed Deppmann: »History with style: the impassible writing of Flaubert«. In: Style 30 [1996], S. 28-49, hier: S. 32). 356 Bohrer: »Das Böse - eine ästhetische Kategorie? « (s. Anm. 20), S. 470. tisfaire le Baal rapportant aux prêtres beaucoup d’argent«). 353 Die Ironie, die die Ältesten Karthagos trifft, ist augenscheinlich, 354 doch rückt sie das folgende Ge‐ schehen nicht nur in die mythische Perspektive des archaischen Glaubens, son‐ dern ebenso in die des rationalistischen Kalküls und der Profitgier. Denn gerade die Präsenz dieses dezidiert modernen Diskurses lässt eine rein mythische Lek‐ türe der Opferungsszene nicht zu. So steht der kommende Massenmord im Zeichen des unsagbar Grausamen und gleichsam des Unsagbaren: »Alors les Anciens décrétèrent le sacrifice par une périphrase traditionnelle, - parce qu’il y a des choses plus gênantes à dire qu’à exécuter« (S 385). Der ironische Kommentar auf die Kausalitätsprinzi‐ pien 355 der Ältesten wird in Hinblick auf die Narration des eigentlichen Opfers gleichsam poetologisch lesbar. So beobachtet Bohrer: »Dieser Satz scheint ent‐ scheidend zu sein; er muß nämlich als ein Selbstkommentar Flauberts zu seiner eigenen Methode gelesen werden, denn Flauberts langsame Darstellung des Opferritus verläuft synchron mit der Sache selbst«. 356 Die tatsächliche Ver‐ sprachlichung des unsäglichen Opfers wird zum eigentlichen transgressiven 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 125 <?page no="126"?> 357 Vgl. Bub: »Die getöteten Kinder und die Ästhetik des Bösen« (s. Anm. 40), S. 357. 358 Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen (s. Anm. 17), S. 200. Akt; das Skandalon ist erst der sprachliche und imaginative Nachvollzug des Unaussprechlichen. Indessen destruiert dieser Kommentar jedoch erneut die mythische Referenzbasis des Opfers, indem er aufdeckt, dass auch innerfiktional ein vages Bewusstsein für die Ungeheuerlichkeit des Dekrets vorhanden ist. 357 Gleichermaßen vorbereitend wirkt auch die Szene, in der Hamilcar versucht, seinen eigenen Sohn vor der Kindesopferung zu bewahren, indem an seiner statt ein Sklavenjunge als Hannibal ausgegeben werden soll. Der mehr oder weniger zufällig aufgegriffene Junge wird gewaschen, eingekleidet, parfümiert und mit Schmuck behangen, was dieser in seiner jugendlichen Naivität zunächst genießt (»[l]’enfant souriait, ébloui par ces splendeurs«; S 388f.). Doch wird Hamilcar vom Vater des Kindes, »un homme d’apparence abjecte«, »un de ces misérables vivant au hasard dans la maison« (S 389), unterbrochen. Die Szene gestaltet sich in der Folge wie ein »Hugosche[s] Melodrama«. 358 Der Sklave weiß um Hamil‐ cars Vorhaben und appelliert an dessen Mitgefühl, und der Suffet scheint einen Moment tatsächlich von der Vaterliebe des Sklaven bewegt zu sein: »›Est-ce tu vas le? ...‹ Il [l’esclave] n’eut pas la force d’achever, et Hamilcar s’arrêta, tout ébahi de cette douleur. Il n’avait jamais pensé, - tant l’abîme les séparant l’un de l’autre se trouvait immense, - qu’il pût y avoir entre eux rien de commun.« (S 389). Dies wird jedoch brüsk dementiert, wenn es weiter heißt: »Cela même lui parut une sorte d’outrage et comme un empiétement sur ses privilèges. Il répondit par un regard plus froid et plus lourd que la hache d’un bourreau; l’esclave, s’évanouissant, tomba dans la poussière, à ses pieds, Hamilcar enjamba par-dessus.« (S 389f.) Hamilcar bleibt angesichts des Kummers seines Gegen‐ übers unbewegt und kalt, lässt gar unmittelbar darauf seine farceske Inszenie‐ rung des leidenden Vaters zur Komplettierung seiner Täuschung vor Publikum folgen, welche im Kontrast zum wahrhaftigen Leiden des Sklaven umso graus‐ amer wirkt, beweist sie doch einerseits sein zwielichtiges Kalkül und anderer‐ seits seine Doppelmoral. Angesichts dieses Ausbruchs von Leidenschaftlichkeit können sich auch die Priester Molochs, für die er sich verstellt, nur wundern: »[Ils] s’étonnaient que le grand Hamilcar eût le cœur si faible. Ils en étaient presque attendris« (S 390). Doch genau vor diesem Hintergrund scheint dann der Abschluss der Szene umso überraschender. Im Verlauf der gesamten Episode verhält sich Hamilcar unempathisch und kalt gegenüber dem unschuldigen Sklaven und verschont ihn allein aus Angst, die Götter könnten aus Zorn über seine Täuschung Rache an Hannibal üben, nicht aus einem Gefühl der Mensch‐ 2 Textanalysen 126 <?page no="127"?> 359 »Il songea ensuite à se défaire de l’esclave pour être bien sûr qu’il ne parlerait pas; mais le péril n’était point complètement disparu, et cette mort, si les Dieux s’en irritaient, pouvait se retourner contre son fils« (S 391). 360 Vgl. Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen (s. Anm. 17), S. 200. lichkeit heraus. 359 Doch nachdem es Hamilcar gelungen ist, seinen Sohn in Si‐ cherheit zu bringen, zeigt er sich ganz untypisch in einem Moment der Zärt‐ lichkeit: Comme une mère qui retrouve son premier-né perdu, il se jeta sur son fils; il l’étreig‐ nait contre sa poitrine, il riait et pleurait à la fois, l’appelait des noms les plus doux, le couvrait de baisers; le petit Hannibal, effrayé par cette tendresse terrible, se taisait maintenant. Hamilcar s’en revint à pas muets, en tâtant les murs autour de lui; et il arriva dans la grande salle, où la lumière de la lune entrait par une des fentes du dôme; au milieu, l’esclave, repu, dormait, couché de tout son long sur les pavés de marbre. Il le regarda, et une sorte de pitié l’émut. Du bout de son cothurne, il lui avança un tapis sous la tête. (S 392) Wie Friedrich beobachtet, muss diese unvorhergesehene Demonstration von »pitié« den Leser überraschen, was wiederum die Frage nach der Funktion dieser Passage aufwirft. Einerseits dient sie natürlich der Charakterisierung Hamilcars, andererseits jedoch der impliziten Markierung des Opferungsritus als zwar religiös-mythisch legitimen, doch auch als im in exotischer Ferne ge‐ legenen Karthago grausam empfundener Akt. 360 Doch darüber hinaus bietet diese Episode unter wenigen anderen im Roman die Möglichkeit der Identifi‐ kation bzw. Einfühlung in eine ansonsten von Grausamkeit, Habgier und Fremd‐ heit beherrschte, fiktionale Welt. Es ist zunächst das Leiden des Sklaven, das dem Geschehen eine emotionale Dimension der individuellen Tragik verleiht. Und somit ist auch der Leser angehalten, die Figur in all ihrem Verhängnis zu begreifen - so wie es auf der Ebene der histoire schließlich nach anfänglicher Kälte auch Hamilcar tut. Damit ist diese Episode in gewisser Weise auch meta‐ fiktional lesbar, indem sie vorführt, wie der Identifikationsprozess des Lesers funktioniert. Hamilcar fungiert als Stellvertreter für den Rezipienten, der sich mit dem Leid des Vaters/ Sklaven zu identifizieren beginnt, und somit mensch‐ liche Regungen wie Mitleid in das Geschehen hineinprojiziert und gleichsam ein Bewusstsein für die Schwere der Gräueltat auf den Plan ruft. Der Rezep‐ tionsakt selbst wird damit als Kommunikation zwischen einer ›Leserfigur‹ (Ha‐ milcar) und einer ›Textfigur‹ (Vater) gespiegelt. Die eigentliche Opferungsszene gestaltet sich dann als schauerliches Spek‐ takel, das sich über einige Seiten erstreckt. Ganz Karthago versammelt sich um eine erzene Statue, die als Simulakrum den Gott Moloch-le-Dévorateur reprä‐ 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 127 <?page no="128"?> 361 Die Arme der riesenhaften Baal-Statue sind beweglich und von Menschenhand be‐ dienbar. Im Rumpf befindet sich eine Art Brennofen, welcher wiederum über sieben Fächer verfügt. Diese werden mit unterschiedlichen Opfergaben (Mehl, Turteltauben, ein Affe, ein Widder, ein Schaf, eine gegerbte Lederhaut) befüllt, bis auf die letzte: »La septième case restait béante« (S 399). sentiert. Wie nicht anders zu erwarten wäre, wird die Vorbereitung des Rituals und die Vorrichtung der Opferungsmaschinerie 361 (die Götterstatue selbst) ge‐ nauestens beschrieben. Zunehmend macht sich eine Form der kultischen Eks‐ tase breit, die Spannung steigt an: »Plusieurs s’évanouirent; d’autres devenaient inertes et pétrifiés dans leur extase. Une angoisse infinie pesait sur les poitrines. […] le peuple de Carthage haletait, absorbé dans le désir de la terreur« (S 398). In gewisser Weise wird hier das Eingangskapitel gespiegelt, nur dass es dieses Mal die Karthager sind, die dem »désir de la terreur« erliegen: Peu à peu, des gens entrèrent jusqu’au fond des allées; ils lançaient dans la flamme des perles, des vases d’or, des coupes, des flambeaux, toutes leurs richesses; les off‐ randes, de plus en plus, devenaient splendides et multipliées. Enfin, un homme qui chancelait, un homme pâle et hideux de terreur, poussa un enfant; puis on aperçut entre les mains du colosse une petite masse noire; elle s’enfonça dans l’ouverture ténébreuse. Les prêtres se penchèrent au bord de la grande dalle, - et un chant nouveau éclata, célébrant les joies de la mort et les renaissances de l’éternité. […] Les bras d’airain allaient plus vite. Ils ne s’arrêtaient plus. Chaque fois que l’on y posait un enfant, les prêtres de Moloch étendaient la main sur lui, pour le charger des crimes du peuple, en vociférant: »Ce ne sont pas des hommes, mais des bœufs! « et la multitude à l’entour répétait: »Des bœufs! des bœufs! « […] Les victimes, à peine au bord de l’ouverture, disparaissaient comme une goutte d’eau sur une plaque rougie, et une fumée blanche montait dans la grande couleur écarlate. Cependant, l’appétit du Dieu ne s’apaisait pas. Il en voulait toujours. Afin de lui en fournir davantage, on les empila sur ses mains avec une grosse chaîne pardessus, qui les retenait. […] on en mit d’autres, et il était impossible de les distinguer dans le mouvement vertigineux des horribles bras. Cela dura longtemps, indéfiniment jusqu’au soir. Puis les parois intérieures pri‐ rent un éclat plus sombre. Alors, on aperçut des chairs qui brûlaient. Quelques-uns même croyaient reconnaître des cheveux, des membres, des corps entiers. […] com‐ plètement rouge comme un géant tout couvert de sang, il [Moloch] semblait, avec sa tête qui se renversait, chanceler sous le poids de son ivresse. […] On aurait dit que les murs chargés de monde s’écroulaient sous les hurlements d’épouvante et de volupté mystique. (S 400f.) Der Ritus des Menschenopfers (und gleichsam dessen Darstellung) ist aus mo‐ derner Perspektive zweifelsohne ein Tabubruch, somit also ein Skandalon, der 2 Textanalysen 128 <?page no="129"?> 362 Dieser Passus im Besonderen gibt Culler Anlass, die Opferungsszene ironisch zu lesen, nicht zuletzt, weil der Leser in Anbetracht des zur Anschauung kommenden Hand‐ lungsgegenstands einer (affektiven) Distanzierung bedürfe (vgl. Jonathan D. Culler: Flaubert. The uses of uncertainty. Ithaca 1985, S. 298). Auch Hélein-Kloss detektiert in der Passage der Kindesopferung deutliche Ironiemarker, z.B. die ihr zufolge groteske Götzenstatue: »comment prendre au sérieux un dieu qui, outre son appétit gargantu‐ esque, se présente comme une préfiguration exagérée de la formule bergsonienne du comique: la rencontre, non pas du mécanique et l’humain, mais celle bien plus ›hé‐ naurme‹ du mécanique et du surhumain? « (Hélein-Kloss: »Discours ironique et ironie romantique dans Salammbô de Gustave Flaubert« [s. Anm. 350], S. 32). Auch in der Wiederholung des Wortes »boeuf« - als tendenziell bedeutungsschwangerer Begriff im Flaubert’schen Universum - sieht sie ein komisches Moment. Friedrich kritisiert jedoch nachvollziehbarerweise die von Hélein-Kloss geleistete Interpretation als zu stark des‐ ambiguierend, insofern die mythische Perspektive dergestalt ausgeschlossen werde (vgl. Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen [s. Anm. 17], S. 203). 363 Friedrich bemerkt, dass gerade diese Auslassung besonders suggestiv wirkt, indem sie den Leser zur imaginativen Ergänzung anrege (vgl. ebd., S. 206) - ähnlich wie das ei‐ gentliche Zutodekommen des eingekesselten Söldnerheers im Engpass vom Leser in der Vorstellungskraft ergänzend nachvollzogen werden muss. jedoch in Hinblick auf den diegetischen Rahmen des Romans, d.h. die zeitliche Entlegenheit des exotisch-archaischen Karthagos, die den modernen morali‐ schen Bezugshorizont ungültig macht, nicht zwingend als solcher markiert ist. Im mythischen Bewusstsein wird nicht mehr zwischen Gottheit und Simu‐ lakrum unterschieden und die Kindesopferung geschieht damit im Zeichen des Götterwillens (»Cependant, l’appétit du Dieu ne s’apaisait pas. Il en voulait tou‐ jours.«) 362 Gleichwohl findet sich die mythisch-religiöse Perspektive, die hier im Modus der internen Fokalisierung adaptiert wird, ironisch gebrochen. Nun ist das Ritual bereits im Voraus als durch Habgier motiviert entlarvt worden und zudem wird nicht zuletzt durch die vorherige Beschreibung des »Opferappa‐ rats« deutlich, dass es sich um eine Projektion handelt, wenn der Götzenstatue ein unersättliches Verlangen zugeschrieben wird, denn schließlich wird das »mouvement vertigineux des horribles bras« von Menschenhand erzeugt. Eine derartige Brechung der religiös-mythischen Perspektive löst demnach das Ge‐ schehen aus seinem archaisch-fremdartigen Kontext heraus, in dem sich der Opferungsritus über den Glauben legitimiert. Auch die Absenz einer moralisch wertenden Erzählerinstanz und die beson‐ dere Semantik, die in der Kombination der Sinneinheit »sadistisches Opfer« und »Festgelage« besteht, trägt zu der Grausamkeit der Szene bei. Zwar scheint der Erzähler im ersten Moment ein letztes Tabu zu wahren, wenn er den tatsächli‐ chen Moment ausspart, in dem das erste Kind verbrennt (»Les prêtres se pen‐ chèrent au bord de la grande dalle, - et un chant nouveau éclata«). 363 Doch so wie das karthagische Volk in frenetischer Ekstase immer blutrünstiger wird, so 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 129 <?page no="130"?> 364 Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne (s. Anm. 327), S. 151. 365 »Puis les fidèles arrivèrent dans les allées, traînant leurs enfants qui s’accrochaient à eux« (S 402). 366 Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne (s. Anm. 327), S. 184. Vinken kom‐ mentiert, dass die wenigen Momente der Empathie, d.h. der affektiven Teilnahme sei‐ tens der Figuren, erstens selten und zweitens ironischerweise den vermeintlichen Bar‐ baren zuzuschreiben sind (so auch bei der Löwenkreuzigung). Sie würden damit zur »Stimme der Menschlichkeit« (ebd.). Dass gerade die rohen Barbaren als fiktionale Be‐ wertungsinstanz auftreten und damit den Leserblick spiegeln, ist Friedrich zufolge eine »raffinierte erzähltechnische Strategie, um das Monströse implizit zu markieren« (Sa‐ bine Friedrich: Die Imagination des Bösen [s. Anm. 17], S. 207). 367 Vgl. Bub: »Die getöteten Kinder und die Ästhetik des Bösen« (s. Anm. 40), S. 359. wird dies auch der Blick der Erzählinstanz (»Alors, on aperçut des chairs qui brûlaient. Quelques-uns même croyaient reconnaître des cheveux, des membres, des corps entiers.«) So betont Vinken, dass es weniger der schiere Detail‐ reichtum sei, als die Kunst der anschaulichen, lebhaften Beschreibung, die den Leser affiziere: Die Lektüre dieser Marter ist ja nicht deswegen unsäglich, weil man sich ruhig einer anatomischen Betrachtung hingibt, oder sich wundert, zu was die Menschen so fähig sind, sondern weil einem vor Grauen schlecht wird und man vor Mitleid fast stirbt. Was der Erzähler an leidenschaftlicher Parteinahme und an moralischem Urteil aus‐ spart, legt er in die Kunst der Beschreibung. 364 Der Erzähler verweigert sich einer Wertung der beschriebenen Gräueltat, wäh‐ rend durch die detaillierte Beschreibung und dramaturgische Ausgestaltung des wachsenden Blutrauschs gleichsam ein Sog der Gewalt kreiert wird, der Leseakt und die beschriebene Handlung synchron verlaufen lässt. Während zu Beginn ein Mann taumelnd und »pâle et hideux de terreur« hervortritt und noch zö‐ gerlich das erforderliche Opfer erbringt, werden später Bürger Karthagos ihre sich verzweifelt an sie klammernden Kinder wortwörtlich in den Tod schleppen. 365 Der dargestellte Voyeurismus, der sadistische Rausch, die Faszi‐ nation an der blutigen Tat werden so - Bohrer zufolge - zum Sinnbild des Le‐ seakts selbst: die Begierde nach dem Entsetzlichen oder »le désir de la terreur« (S 398). So wie die Barbaren »béants d’horreur« (S 403) das Blutbad der Kar‐ thager beobachten, wird auch der Leser zum entsetzten Zeugen. Erneut fun‐ gieren hier fiktionsimmanent Zuschauerfiguren als »Rückenfigur des Lesers«, 366 sodass sich der Rezeptionsakt durch den Text selbst metaästhetisch reflektiert findet. 367 Wird also der blutige Taumel als Abbild des Lesevorgangs gedeutet, dessen Sinn auf die Evokation einer »ästhetisch-emotionalen Imagination« beschränkt 2 Textanalysen 130 <?page no="131"?> 368 Bohrer: »Das Böse - eine ästhetische Kategorie? « (s. Anm. 20), S. 470. 369 Ebd., S. 471. 370 Vgl. Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen (s. Anm. 17), S. 43. 371 Diese Lesart wird u.a. von Susanne Dürr: »Functions of Violence in Flaubert’s Sa‐ lammbô«. In: Michael Hensen/ Annette Pankratz (Hg.): The Aesthetics and Pragmatics of Violence. Passau 2001, S. 211-224, hier: S. 214, vorgelegt. ist, schlösse dies eine allegorische Interpretation der Passage aus. 368 Bohrer fol‐ gert also: Wenn das ethnologisch-historiographische Wissen über solch imaginierte Welten nicht mehr als ein exotisch fernes, sondern gleichzeitiges für den Leser imaginiert wird, wenn gleichzeitig aber die traditionellen Sinngebungen menschlicher Existenz angesichts solcher Semantik des Entsetzens nicht mehr funktionieren, dann tritt der Fall ein, der sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts wiederholen wird: eine allego‐ rische Lösung ist nicht in Sicht; sie zu erzwingen wäre eine Fehldeutung. Es handelt sich um ein Schweigen der bösen Bilder: um die Strategie kontinuierlicher Sinnver‐ weigerung. 369 Obgleich es nachvollziehbar scheint, dass ein ursprünglich inhaltliches Böses erst durch die ästhetische Formgebung im Kunstwerk sein transgressives Po‐ tential entfalte, bleibt zu untersuchen, inwiefern das ästhetische Böse, wie Bohrer es konzipierte, als ein positives, von moralisch-ethischen Wertvorstel‐ lungen unabhängiges Phänomen gedacht werden kann. Wie am Beispiel der Kindesopferung in Salammbô vorgestellt, lässt sein Konzept keine allegorische Lesart zu; wie auch Sabine Friedrich herausstellt, wird so der historische Kon‐ text, in dem das Werk verfasst wurde, nahezu vollständig ausgeblendet, 370 sodass eine Deutung des Romans als Diskurs über die im 19. Jahrhundert vorherr‐ schenden Kollektivängste, und zwar erstens die Angst vor dem ethnisch ›An‐ deren‹, zweitens die Angst vor den sozial niedrigen Klassen und drittens - auf einer persönlichen, erotischen Ebene - die Angst vor dem »Weib«, ausge‐ schlossen wird. 371 Die Möglichkeit, die Gewalt beispielsweise als Spiegel des von (politischen) Krisen zerrütteten Frankreichs zu lesen, würde damit negiert. Jedoch sensibilisiert eine solche Lesart für die ästhetischen Qualitäten des Textes, dessen Wirkung auf konkrete Gestaltungsmomente zurückzuführen ist: die Poetisierung der Grausamkeit im geschlossenen Arrangement des künstler‐ ischen Tableaus, die Überreizung und Übersättigung der Imagination in der sprachlichen Vergegenwärtigung, die Zersetzung sinnstiftender Bezüge durch zerstörerische Ironie und schließlich die Haltung der impassibilité, die der Er‐ zähler annimmt und damit jeglicher moralischen Rückversicherung den Boden entzieht. Das »désir de la terreur« der Figuren erweist sich gleichermaßen als 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 131 <?page no="132"?> 372 »Flaubert à Sainte-Beuve.« In: Flaubert: Salammbô (s. Anm. 334), S. 486-496, hier: S. 493f. 373 Ebd., S. 490. ästhetisches Programm des barbarischen Erzählers. Wie bereits der Prozess um Madame Bovary bewies, sollte gerade dieser Ausfall einer kommentierenden und damit vermittelnden Erzählerfigur besonders irritierend und provozierend wirken. Mit Flauberts Freispruch vom Vorwurf der Unsittlichkeit wurde gleichsam ein Präzedenzfall für die Autonomie der Kunst geschaffen - ein Kon‐ flikt, dem er sich mit Salammbô ebenfalls ausgesetzt sah. Der Literaturstreit, der um den Roman entbrannte, verhandelte letzten Endes die Frage, was die Kunst darf - und was nicht. Die Polemik betrifft dabei sowohl kunstspezifische (wie die Debatte mit Sainte-Beuve belegt) als auch außerliterarische bzw. wissen‐ schaftliche Streitpunkte (wie in der Auseinandersetzung mit Froehner). Trotz sorgfältiger Recherche und einem prononcierten Interesse an der Historizität der Ereignisse erlangt die Prämisse des Ästhetischen bei Flaubert obersten Stel‐ lenwert, wie in seiner Verteidigungsschrift deutlich wird: Cependant, d’après toutes les vraisemblances et mes impressions à moi, je crois avoir fait quelque chose qui ressemble à Carthage. Mais là n’est pas la question. Je me moque de l’archéologie! Si la couleur n’est pas une, si les détails détonnent, si les mœurs ne dérivent pas de la religion et les faits des passions, si les caractères ne sont pas suivis, si les costumes ne sont pas appropriés aux usages et les architectures au climat, s’il n’y a pas, en un mot, harmonie, je suis dans le faux. Sinon, non. Tout se tient. 372 In seiner besonderen Fremdartigkeit ist die in Salammbô inszenierte Welt vor allem ein ästhetisches Konstrukt, das zuvorderst dem Prinzip der Harmonie und nicht der Historizität folgt. Nichtsdestotrotz lässt der Text gleichsam Reflexionen ethischer Natur zu. Wenn der ironische Erzähler seine Figuren subtil ihrer Duplizität überführt und den religiös-mythischen Diskurs in seiner Brüchigkeit bloßlegt, klingt ein mo‐ dernes Bewusstsein an, das die meist nur implizit zum Ausdruck gebrachte bêtise des Menschen auf einer überzeitlichen Ebene verstanden wissen will. Den Uni‐ versalcharakter bzw. die vraisemblance seiner Darstellungen betont Flaubert gleichfalls in der Verteidigungsschrift (hier auf das Beispiel des Ältestenrats be‐ zogen): »Vous me demandez où j’ai pris une pareille idée du Conseil de Car‐ thage? Mais dans tous les milieux analogues par les temps de révolution, depuis la Convention jusqu’au Parlement d’Amérique.« 373 In diesem Sinne ist die Om‐ nipräsenz der Grausamkeit sicherlich nicht nur als ästhetisch reizvolles Kon‐ strukt zu verstehen, sondern ebenso als Reflexion über die conditio humana schlechthin. Dass die »Barbarei« sich als Leitprinzip des Romans erweist, in dem 2 Textanalysen 132 <?page no="133"?> 374 Jacques Neefs: »Allegro Barbaro, la violence en prose« (s. Anm. 39), hier: S. 760. 375 Gustave Flaubert: Correspondance. Bd. 1. Janvier 1830- juin 1851. Éd. établie, présentée et annotée par Jean Bruneau. Paris: Gallimard 1973, S. 347-352, hier: S. 350. ein jeder gleichermaßen am Blutrausch teilhat, hebt sie ebenso auf die Ebene der anthropologischen Universalität. Die barbarie de l’Antiquité wird quasi in eine barbarie humaine übersetzt. Jacques Neefs schreibt hierzu: C’est cette double passion de la »terreur« que Flaubert a extraite de l’Antiquité, terreur des autres, des ennemis, de soi, de la création d’ennemis, pour la projeter dans une sorte d’universalité. Le mirage de l’Antiquité lui permettait de penser et d’exposer d’une manière tout à fait inédite la capacité de destruction qui anime l’humanité, dans sa pluralité rassemblée en une sorte de cohue, à travers le temps. 374 Die Teilhabe des Menschen am Prinzip der Destruktion - oder auch in Freud’‐ schen Termini: das Thanatos-Prinzip - findet sich dann auch ästhetisch umge‐ setzt. Denn die von Flaubert praktizierten Strategien der Leseraktivierung zwingen den Rezipienten selbst zur Komplizenschaft, sind geradezu eine Einla‐ dung, sich der Sogwirkung des Textes hinzugeben und ebenso am Rausch der Gewalt zu partizipieren. Flauberts Roman Salammbô hat, wie bereits erläutert wurde, ein großes Echo provoziert. Zwar dürfte der Roman sicherlich auch auf den modernen Leser befremdlich und in seiner exzessiven Grausamkeit schockierend wirken, doch stellte der Text seinerzeit vor allen Dingen noch ein Skandalon dar, da der au‐ tonome Status der Kunst ein nach wie vor prekärer war. So ist bei Flaubert die Imagination der Gewalt als ästhetische Grenzerfahrung auch Ausdruck des Strebens nach der Souveränität des Kunstwerks, welches fernab jeglichen mora‐ lisch-didaktischen Nutzens allein dem ästhetischen Schein verpflichtet ist. In der Radikalität seiner Darstellungsmodi artikuliert sich demnach ein Emanzi‐ pationsstreben, denn letztendlich bleibt die Kunst - und damit auch der Künstler - allein dem Schönen verpflichtet: »On reproche aux gens qui écrivent en bon style de négliger l’Idée, le but moral; comme si le but du médecin n’était pas de guérir, le but du peintre de peindre, le but du rossignol de chanter, comme si le but de l’Art n’était pas le Beau avant tout.« 375 2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862) 133 <?page no="134"?> 376 Der französische Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus wurde 1894 wegen vermeintli‐ chen Hochverrats an das Deutsche Kaiserreich verurteilt. Das auf unzulässiger Beweis‐ führung und Falschaussagen beruhende Urteil wurde jedoch angefochten - zunächst allerdings mit geringem Erfolg. Auch nach Ermittlung des tatsächlichen Verräters - Ferdinand Walsin-Esterházy - sah man zunächst von einer vollständigen Rehabilitie‐ rung in Militärkreisen ab. Der jüdische Dreyfus wurde im öffentlichen Raum Ziel‐ scheibe antisemitischer Hetze, während seine Verteidiger verfolgt, erpresst, bedroht wurden. Vor allem Zola sollte sich in seiner Streitschrift »J’accuse…« (13. Januar 1898), ein offener Brief an den damaligen Präsidenten der Französischen Republik Félix Faure, für Dreyfus aussprechen und das Versagen der Justiz und die Parteilichkeit der Presse an den Pranger stellen. Auch Mirbeau ergriff Partei für den mittlerweile zum Politikon gewordenen Dreyfus. 2.2 Octave Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899) 2.2.1 Entstehung und Rezeption Aux Prêtres, aux Soldats, aux Juges, aux Hommes, qui éduquent, dirigent, gouver‐ nent les hommes, je dédie ces pages de Meurtre et de Sang. Octave Mirbeau, Widmung, Le Jardin des supplices Bei dem Roman Le Jardin des supplices handelt es sich um ein Patchwork dreier in verschiedenen Bearbeitungen bereits veröffentlichter Skizzen, die 1899 in ihrer Gesamtheit als Einzeltitel erschienen. Die Veröffentlichung des neben dem Journal d’une femme de chambre (1900) wohl bekanntesten Romans Mirbeaus fällt damit zeitgeschichtlich in die Phase der Dreyfus-Affäre 376 und literaturge‐ schichtlich in die Blütezeit der Dekadenz. Der erste Teil mit dem Titel »Front‐ ispice« inszeniert die abendliche Zusammenkunft von Intellektuellen, die über den Reiz und die Natur des Mordens philosophieren. Die Szene, die thematisch auf die beiden weiteren Teile des Romans vorausdeutet, setzt sich aus Versatz‐ stücken der Aufsätze »L’école de l’assassinat« (erschienen in Le Figaro am 23. Juni 1889), »La Loi du meurtre« (vom 24. Mai 1892 in L’Écho de Paris), »Diva‐ gations sur le meurtre« (veröffentlicht in Le Journal am 31. Mai 1896) und »Après dîner« (in L’Aurore am 29. August 1898) zusammen. Das »Frontispice« stellt die Rahmenerzählung für den folgenden Teil der Erzählung, »En mission«, dar, nämlich die Geschichte des namentlich nicht weiter definierten Ich-Erzählers, ein heuchlerischer Opportunist, der nach einigen Fehlschlägen in der Politik unter dem Deckmantel einer wissenschaftlichen Expedition als vermeintlicher 2 Textanalysen 134 <?page no="135"?> 377 Timothy Brook/ Jérôme Bourgon/ Gregory Blue: Death by a thousand cuts. Cambridge, Mass. 2008, S. 152. 378 Vgl. Pierre Michel: »Le Jardin des supplices: du cauchemar d’un juste à la monstruosité littéraire«. In: Octave Mirbeau: Le Jardin des supplices. Hg. von Pierre Michel. Le Bou‐ cher 2003, S. 3-31, hier: S. 5. 379 Ebd., S. 6. Embryologe nach Sri Lanka reist. Auf der Überfahrt macht er die Bekanntschaft der exzentrischen, doch faszinierenden Engländerin Clara, die auch im dritten Teil des Romans eine eminente Rolle einnehmen wird. Auch dieser mittlere Teil wurde bereits im Vorfeld als eigenständiger und in sich abgeschlossener Text in reduzierter Form veröffentlicht; eine erste Skizze erschien 1893 in L’Écho de Paris, eine zweite ausgearbeitete Fassung 1895 im Gaulois. Der dritte Teil des Romans bzw. zweite Teil der Binnenerzählung mit dem Titel »Le Jardin des supplices« bildet dann das eigentümliche Szenario einer Initiation in die fremd-exotische, grausame Welt des chinesischen Lustgartens ab, bei der Clara nunmehr als bewanderte, sadistisch-lüsterne Führerin - und »anti-Beatrice par excellence« - fungiert. 377 Ein Tableau von außerordentlicher Grausamkeit folgt dem nächsten, bis schließlich sowohl Clara als auch die Erzählung selbst einen Höhepunkt in dem »supplice de la cloche« finden, nach dem der Roman einen Abschluss findet. Auch dieser Teil wurde zweimalig im Vorfeld veröffentlicht: zunächst 1897 und später 1898 unter dem Titel »Fragments«. Der dezidiert fragmentarische Charakter des Gesamtwerks konterkariert jeg‐ liche Form der Kontinuität und untergräbt damit gleichsam den Wahrheitsan‐ spruch, den der realistische bzw. naturalistische Roman in der Tradition Balzacs oder Zolas noch zu gewährleisten suchte. Mirbeau verfolgt nicht nur thematisch eine dekadente Ästhetik, sondern übersetzt diese gleichsam in ein komposito‐ risches Strukturprinzip. In Übereinstimmung mit der übergeordneten Thematik des Verfalls, der Perversion und der Degeneration zerfällt auch der Roman in seiner epischen Breite in einzelne Fragmente. 378 Gleichsam macht der Text An‐ leihen bei verschiedensten Subgenres und Textgattungen, es mischen sich une discussion mondaine sur »la loi du meurtre«, des chroniques d’humour noir, une caricature hautement farcesque des mœurs politiques de la Troisième République, une ›histoire‹ d’un amour dévastateur […], un récit de voyage exotique autant d’initia‐ tique, une parabole de la condition humaine, l’évocation poétique et picturale d’»or‐ gies florales«, et, pour finir, le grand-guignol sado-masochiste du bagne de Canton et une scène de frénésie sexuelle de nature à choquer les Pères-la-pudeur et à hérisser les ligues de vertu […]. 379 2.2 Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899) 135 <?page no="136"?> 380 Michel Delon: »Notice«. In: Octave Mirbeau: Le Jardin des supplices. Hg. von Michel Delon. Paris 2 1991, S. 305-311, hier: S. 306-310. 381 Lucien Muhlfeld zit. nach Michel Delon: »Notice« (s. Anm. 380), S. 308. Der Roman zeichnet sich dabei primär durch seine Hybridität und Ambiguität aus, was - wie sich erweisen wird - nicht nur kompositorisch seinen Ausdruck findet, sondern auch konsequent auf Motivik, Figurenkonzeption und Ideenwelt übertragen wird. Es bieten sich für die Deutung des Gesamtwerks unterschiedliche Lektüre‐ achsen an. Im Dossier der von Michel Delon besorgten Ausgabe des Jardin des supplices werden kontemporäre Rezensionen gegenübergestellt, nämlich die B. Guinaudeaus (1. Juli 1899 in L’Aurore), die Pierre Quillards (1. Juli des gleichen Jahres im Mercure de France) und die Lucien Muhlfelds (5. August 1899 in der Revue bleue). 380 Ersterer setzt den Akzent auf den revolutionären Charakter des Werks bzw. die darin zum Ausdruck kommende Kritik an den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen der Zeit, während Quillard den Roman unter der äs‐ thetischen Prämisse bzw. der des schöpferischen Ingeniums betrachtet. Muhl‐ feld wiederum betont den moralischen Charakter des Werkes, das er als poeti‐ sche Studie über die Natur des Menschen liest: Il y a dans ce jardin des coins forts périlleux. Les très jeunes gens feront sagement de ne point s’y aventurer, et même les jeunes filles, et, plus généralement, les personnes qui n’ont pas assez lu pour savoir lire, pour comprendre, au-delà du détail immédiat et qui peut choquer, la morale qui plane […]. Mais à l’égard de tout lecteur averti, Le Jardin des supplices est un livre moral, et même édifiant. 381 Dieser Deutung liegt eine Warnung zugrunde: Nur wer den Roman tatsächlich zu lesen weiß, wird sich über die immediate Gefahr, die in seinem Schockpo‐ tential besteht, erheben und ferner den ethischen Gehalt erkennen können. In der Tat wurde der Roman sowohl beim Publikum als auch in Künstler‐ kreisen äußerst positiv aufgenommen. Trotz seiner bisweilen extrem sadisti‐ schen Gewaltdarstellungen blieb er relativ skandalfrei, obgleich der Text 1899 in sämtlichen Bibliotheken der belgischen Stadt Bruges beschlagnahmt wurde. Wie auch Flaubert sich gezwungen sah, auf die Vorwürfe seiner Kritiker zu re‐ agieren, so empörte sich Mirbeau über das Verbot seines Romans in dem Artikel »À un magistrat« (1899). Er mokiert sich über die gesellschaftlichen Instituti‐ onen und die Zensur, der sein obszön-schreckliches Werk zum Opfer gefallen ist, und entlarvt dabei in Abwandlung der Stendhal’schen Spiegelmetapher die sittliche Empörung als die Unfähigkeit zu ertragen, die eigene Verderbtheit vor‐ gehalten zu bekommen: 2 Textanalysen 136 <?page no="137"?> 382 Octave Mirbeau: »À un magistrat«. In: ders.: Les Écrivains. Paris 1926, S. 177-184, hier: S. 183. 383 Vgl. Reg Carr: »L’anarchisme d’Octave Mirbeau dans son œuvre littéraire: Un essai de synthèse«. In: Pierre Michel/ Georges Cesbron (Hg.): Octave Mirbeau. Actes du colloque international d’Angers du 19 au 22 septembre 1991. Angers 1992, S. 63-73. 384 Vgl. Patrick Avrane: »Freud rate Mirbeau«. In: Europe 839 (1999), S. 44-54. Mais j’entends d’ici l’homme de la Justice, de la Loi et de la Morale me répondre: — À quoi bon tout cela? … Et tu t’époumones, mon cher, sans raison… Tu sais bien quel est ton crime… Ton crime, ce n’est pas d’offenser l’ingénuité des petites filles ou d’attenter à la pudeur des vieilles courtisanes… Non… ton crime — et il est impardonnable, et il mérite les châtiments les plus exemplaires — c’est de mettre la Société en face d’elle-même, c’est-à-dire en face de son propre mensonge, et de mettre aussi les in‐ dividus en face des réalités! 382 Dass in der Tat eine harsche Gesellschaftskritik intendiert ist, belegt nicht zuletzt die dem Roman vorangestellte Widmung, die sich an die autoritären Instituti‐ onen der Gesellschaft richtet. Immerhin tat sich Mirbeau auch als politisch en‐ gagierter Anarchist hervor, dem es vor allen Dingen um eine Befreiung des In‐ dividuums von gesellschaftlichen Repressalien ging. 383 Neben dem explizit politischen Engagement, das dem Text eingeschrieben ist, erweist sich jedoch auch die extreme Gewaltimagination als wirkmächtiges Spezifikum des Textes. Eine Anekdote vermag dies zu veranschaulichen: Im Jahre 1909 wird Sigmund Freud einen Artikel mit dem Titel »Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose« veröffentlichen, in dem er den Fall des soge‐ nannten »Rattenmannes« schildert. Tatsächlich berichtete der Patient Ernst Lehrs von einer Zwangsvorstellung, die ihn unablässig heimsuchte, seitdem er einen Hauptmann davon erzählen gehört habe: und zwar eine in China ge‐ bräuchliche Form der Strafe, bei der einem Menschen ein Gefäß am Hintern angebracht wird, in das Ratten eingelassen werden, welche sich dann in Er‐ mangelung eines weiteren Fluchtorts in das Gesäß des Opfers bohren. Erst sehr viel später wird sich herausstellen - nämlich im Jahre 1971 -, dass es sich dabei nicht um eine Erinnerung des Patienten an ein tatsächliches Ereignis, sondern an eine Passage aus Le Jardin des supplices handelt, genauer: »le supplice du rat«, von dem im Folgenden noch die Rede sein wird. 384 In welchem Maße die Literatur zu einer veritablen hantise werden kann, belegt dieser Fall damit auf anschaulichste Weise. Im Folgenden soll nun also beleuchtet werden, wie der Text selbst beschaffen ist, um eine solche - zwar nicht repräsentative, doch nichtsdestotrotz beachtungswürdige - Reaktion hervorzurufen. 2.2 Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899) 137 <?page no="138"?> 385 Nach Pierre Michel: »Le Jardin des supplices: du cauchemar d’un juste à la monstruosité littéraire« (s. Anm. 378), S. 3-31. 386 Zitiert wird nach der folgenden Ausgabe: Octave Mirbeau: Le Jardin des supplices. Hg. von Pierre Michel. Paris 2003, S. 43. Nachweise werden im Folgenden im Fließtext mit »JDS« abgekürzt. 387 Vgl. Florian Beckerhoff: Monster und Menschen. Verbrechererzählungen zwischen Lite‐ ratur und Wissenschaft (s. Anm. 41), S. 157. 2.2.2 »Une monstruosité littéraire« 385 : Le Jardin des supplices und das Prinzip der Dualität Das »Frontispice« als erster Teil der Erzählung inszeniert einen Dialog zwischen Intellektuellen (»des moralistes, des poètes, des philosophes, des médecins«), 386 die nach einem abendlichen Diner die inhärent gewalttätige Natur des Men‐ schen vor dem Hintergrund der folgenden These diskutieren: »le meurtre est la plus grande préoccupation humaine, et […] tous nos actes dérivent de lui« ( JDS 43). Und dies geschieht mit einer gewissen Beiläufigkeit, die in Anbetracht der Ernsthaftigkeit des Diskussionsgegenstands einen fast komischen Effekt er‐ zeugt: »Ayant copieusement dîné, ils disputaient sur le meurtre, à propos de je ne sais quoi, à propos de rien, sans doute.« ( JDS 43) Der Kommentar des auk‐ torialen Erzählers enthebt die Debatte ihrer Ernsthaftigkeit, 387 derer auch die einzelnen Redner entbehren, insofern sie eine ästhetisch distanzierte Haltung zum Sujet einnehmen (so äußert ein Mitglied der Académie des sciences morales et politiques die obere These »[a]vec un calme d’âme aussi parfait que s’il se fût agi d’exprimer une opinion sur les mérites de cigare«; JDS 43). Und tatsächlich werden hier Wissenschaftsdiskurse mit der histoire verschaltet, die darauf ab‐ zielen, das Töten bzw. den Tötungstrieb nicht als eine Aberration zu verstehen, sondern es zu normalisieren. So stimmt ein »savant darwinien« lebhaft zu, wenn es heißt, der Mord sei Grundlage jeglichen menschlichen Handelns; dies sei gar eine »vérité éternelle«. Er führt aus: puisque le meurtre est la base même de nos institutions sociales, par conséquent la nécessité la plus impérieuse de la vie civilisée… S’il n’y aurait plus de gouvernements d’aucune sorte, par ce fait admirable que le crime en général, le meurtre en particulier sont, non seulement leur excuse, mais leur unique raison d’être… ( JDS 44) Er identifiziert damit Verbrechen im Allgemeinen und das Töten im Besonderen als Basis zivilisierter Gesellschaften und als Regierungsgrundlage überhaupt. Er elaboriert diese These und nimmt in der Folge Freuds Konzept von Eros und Thanatos vorweg: 2 Textanalysen 138 <?page no="139"?> 388 Markus Krist: »Erotologie. Liebe als böse Natur in Octave Mirbeaus Le Jardin des sup‐ plices (1899)« (s. Anm. 41), hier: S. 178. 389 So beobachtet Krist: »Hier zeigt sich nun das Verhältnis von Wissensdiskurs und Nar‐ ration, das für Mirbeaus Roman insgesamt konstitutiv ist: Erzählen ist die Exemplifi‐ zierung einer wissenschaftlichen These, und das heißt, die Narration ist hier generell exemplarisches Erzählen« (ebd., S. 179). le meurtre se cultive suffisamment de lui-même… A proprement dire, il n’est pas le résultat de telle ou telle passion, ni la forme pathologique de la dégénérescence. C’est un instinct vital qui est en nous… qui est dans tous les êtres organisés et les domine, comme l’instinct génésique… Et c’est tellement vrai que, la plupart du temps, ces deux instincts se combinent si bien l’un par l’autre, se confondent si totalement l’un dans l’autre, qu’ils ne font, en quelque sorte, qu’un seul et même instinct, et qu’on ne sait plus lequel des deux nous pousse à donner la vie et lequel à la reprendre, lequel est le meurtre et lequel est l’amour. ( JDS 44f., meine Hervorhebung) Der Tötungstrieb (oder bei Freud der Todestrieb bzw. Zerstörungstrieb) wird als Vitalinstinkt konzipiert, der wie der Fortpflanzungstrieb (bei Freud der Lebens‐ trieb bzw. Eros) jedes (menschliche) Wesen beherrscht. Der Mord wird einerseits als Vitalfunktion sowie als dessen Gegenteil, mit dem es jedoch untrennbar bis zur totalen Verschmelzung verbunden ist, gedacht. Darüber hinaus wird bereits das Thema der sadistischen Lust bzw. der Lust am Töten, d.h. der Gewalt als Sexualität eingeführt. Das Frontispiz bildet damit »das wissenschaftliche und theoretische Setting, in das sich dann die narrativen Partien des Romans ein‐ klinken«. 388 Im Folgenden wird es also primär darum gehen, diese grundlegende These diskursiv zu exemplifizieren - so wie auch der eingebettete récit des namenlosen Erzählers der eigentlichen Romanhandlung, der schließlich ebenso das Wort ergreifen wird, die im »Frontispice« erläuterte Thematik zu illustrieren scheint. 389 Ein »philosophe aimable et verbeux« der Sorbonne wird die Ubiquität des Verbrechens und des Mordimpulses postulieren (»je ne crois pas qu’il existe une créature humaine qui ne soit - virtuellement du moins - un assassin«; JDS 46) und beobachtet recht treffend, dass eine Vielzahl vermeintlich kultivierter, gemeinschaftsstiftender Tätigkeiten im Grunde der Befriedigung eines ur‐ sprünglichen, gewaltsamen Zerstörungstriebes dienen: L’escrime, le duel, les sports violents, l’abominable tir aux pigeons, les courses de taureaux, les exercices variés du patriotisme, la chasse… toutes choses qui ne sont, en réalité, que des régressions vers l’époque des antiques barbaries où l’homme - si l’on peut dire - était, en culture morale, pareil aux grands fauves qu’il poursuivait. Il ne faut pas se plaindre d’ailleurs que la chasse ait survécu à tout l’appareil mal transformé 2.2 Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899) 139 <?page no="140"?> 390 So wird in der Folge auch ein M. Grimaux erwähnt (vgl. JDS 51). Dabei handelt es sich um einen Chemieprofessor, der Dreyfus öffentlich verteidigte und aufgrund seines En‐ gagements verfemt wurde und seinen Lehrstuhl verlor. Eine weitere außerfiktionale Begebenheit, die sich erwähnt findet, ist der dreifache Mord des Ägypten-stämmigen Abenteurers Henry Pranzinis an einer Kurtisane, dem Zimmermädchen und deren Tochter 1887 (vgl. JDS 58). Nicht zuletzt wird das Geschehen natürlich durch Referenzen auf tatsächliche Institutionen zeitlich und örtlich aktualisiert, wie die Sorbonne, die Tageszeitung Petit Journal etc. de ces mœurs ancestrales. C’est un dérivatif puissant, par où les »esprits cultivés et les natures policées« écoulent, sans trop de dommages pour nous, ce qui subsiste toujours en eux d’énergies destructives et de passions sanglantes. ( JDS 50) Ein Großteil sämtlicher traditioneller Kulturaktivitäten wird damit als originär barbarisch und regressiv entlarvt; sie bilden gar die Basis allen gemeinschaftli‐ chen Zusammenlebens, da sie ein Ventil für die dem Menschen inhärente Ag‐ gression bilden. Diese gleichsam überzeitliche Beobachtung wird zudem an eine außerliterarische Referenz gekoppelt, nämlich die Dreyfus-Affäre: »L’affaire Dreyfus nous en est un exemple admirable, et jamais, je crois, la passion du meurtre et la joie de la chasse à l’homme, ne s’étaient aussi complètement et cyniquement étalées…« ( JDS 51) Die vermeintliche Exemplarität der geschil‐ derten Zusammenkunft, die u.a. durch die Anonymität der Gesprächsteilnehmer und die Unbestimmtheit der Zeit (»un soir«, JDS 43) gewährleistet wird, findet sich somit zum Teil aufgehoben, indem Anspielungen auf historische Ereignisse und Personen der außerfiktionalen Realität in den Text miteingebunden werden. 390 Diese Aktualisierung des Geschehens unterläuft das Primat ästheti‐ scher Verschränkung und offenbart ein durchaus kritisches Bewusstsein, was bereits durch die Widmung indiziert wurde. Nachdem nun also zunächst der biologistische Blick (repräsentiert durch den »savant darwinien«) sowie die anthropologische, ›kulturwissenschaftliche‹ Perspektive (repräsentiert durch den Philosophen) auf das Phänomen des Tö‐ tens dargeboten wurden, ergreift der Dichter das Wort und thematisiert das poetische Interesse an »ces états d’esprit anormaux« ( JDS 54), in denen der Mensch der schieren Lust am Morden erliegt. Er qualifiziert dabei seinen eigenen Redebeitrag auch nicht als philosophische Argumentation, sondern als Erzäh‐ lung: »Mais je ne philosophe plus, je raconte… Vous tirerez du récit que je vous ai promis toutes les conséquences anthropologiques qu’il comporte, si vraiment il en comporte…« ( JDS 55) Er beginnt nun mit der bildlichen und rhetorisch äußerst wirksamen Rezitation einer Begebenheit, in der er auf einer Zugfahrt von Lyon Gesellschaft von einem korpulenten, grobschlächtigen Mann be‐ kommt, der in ihm einen augenblicklichen Abscheu (»un invincible dégoût«) 2 Textanalysen 140 <?page no="141"?> 391 Der Dichter ist ein versierter Erzähler: »Ce jeune homme avait une assurance dans les manières, un mordant dans la voix, qui nous fit un peu frissonner.« ( JDS 55) Er setzt kunstvolle Pausen, um die Dramatizität seiner Erzählung zu steigern: »en conteur qui sait ménager ses effets, il fit une pause…« ( JDS 56). auslöst. Es folgt eine ausnehmend plastische Beschreibung des schlafenden Mannes, dessen überbordendes Fleisch im Rhythmus des Zuges erzittert und in seiner Ungefälligkeit den Blick des Erzählers bannt. Jenen überkommt jedoch mit einem Mal ein plötzlicher Wahn, gleich einer fixen Idee (»Quelle folie sou‐ dain me traversa l’esprit? ... En vérité, je ne sais…«; JDS 56): Ihn überkommt der spontane Impuls, den schlafenden Mann zu erwürgen: »Mes mains allaient, toutes seules, vers le cou de cet homme, toutes seules, je vous assure, ardentes et terribles… Je sentais en moi une légèreté, une élasticité, un afflux d’ondes nerveuses, quelque chose comme la forte ivresse d’une volupté sexuelle« ( JDS 56). In dem Moment, als der schlafende Mann des Erzählers Hände um seine Kehle spürt, erwacht er und erstarrt vor Schreck: »A chaque minute, l’épouvante grandissait dans le regard de l’homme qui, peu à peu, se révulsa […] Quand le train s’arrêta, l’homme ne descendit pas […] Il était mort! … Je l’avais tué d’une congestion cérébrale« ( JDS 57). Zunächst figuriert hier der imp of the perverse Poes und Baudelaires - das spontane Erwachen eines Gewaltimpulses (»folie«, »afflux d’ondes nerveuses«, »forte ivresse«, »volupté«), der einen Moment der Entgrenzung ermöglicht - sodass auch hier die imaginative Lust an der Über‐ schreitung implizit thematisiert wird. Darüber hinaus präsentiert sich diese Szene als Lektüreschlüssel, der antizipatorisch auf die Funktion und Wirkmacht der kommenden Erzählung selbst und die der Literatur sui generis verweist. Die kunstvolle 391 Vergegenwärtigung in der Narration wirkt dezentrierend, beun‐ ruhigend - sowohl auf die innerfiktionalen Zuhörer als auch den Leser selbst, dessen etwaige Reaktion von ersteren vorweg genommen wird: »Ce récit avait produit un grand malaise parmi nous… et nous nous regardions avec stupeur… L’étrange jeune homme était-il sincère? ... Avait-il voulu nous mystifier? ... Nous nous attendions une explication, un commentaire, une pirouette… Mais il se tut« ( JDS 57). Der Erzähler, der sich nunmehr als einer der Zuhörer identifiziert, spiegelt quasi den Rezeptionsprozess des Gesamtwerks, der hier in einer mise en abyme illustriert wird. Beunruhigung, Verblüffung und Ratlosigkeit ob eines Texts, dessen Bedeutung sich nicht eindeutig erschließen lässt. Im Anschluss an diese beunruhigende Anekdote ergreift nun der namenlose Erzähler des eigentlichen récit das Wort. »[U]n homme, à la figure ravagée, le dos voûté, l’œil morne, la chevelure et la barbe prématurément toutes grises« ergänzt das Themenspektrum um ein weiteres zentrales Motiv, das auf die Bin‐ 2.2 Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899) 141 <?page no="142"?> 392 Freilich handelt es sich hier um eine fragmentarische Form des récit enchâssé: Die Rah‐ menhandlung wird am Ende des Romans nicht wieder aufgegriffen. So verfällt bei Mir‐ beau auch das Modell von Rahmen- und Binnenerzählung in eine dekadente Form. 393 Ausführlich zum Thema der femme fatale im 19. Jahrhundert und Fin de siècle vgl. u.a.: Carola Hilmes: Die Femme Fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Lite‐ ratur. Stuttgart 1990; Sandra Walz: Tänzerin um das Haupt. Eine Untersuchung zum My‐ thos »Salome« und dessen Rezeption durch die europäische Literatur und Kunst des Fin de siecle. München 2008; Mario Praz: La carne, la morte e il diavolo nella letteratura ro‐ mantica. Firenze 1988; Annemarie Taeger: Die Kunst, Medusa zu töten. Zum Bild der Frau in der Literatur der Jahrhundertwende. Bielefeld 1987; Gerd Stein (Hg.): Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1985; Gerd Stein (Hg.): Femme fatale - Vamp - Blaustrumpf. Sexualität und Herrschaft. Frankfurt am Main 1985; Claudia Bork: Femme fatale und Don Juan. Ein Beitrag zur Motivgeschichte der literarischen Verführergestalt. Hamburg 1992. 394 So heißt es ganz ähnlich in einem Eintrag Baudelaires Journal Mon cœur mis à nu: »La femme est le contraire du Dandy. Donc elle doit faire horreur. / La femme a faim, et elle veut manger; soif, et elle veut boire. / Elle est en rut, et elle veut être f... / Le beau mérite! / La femme est naturelle, c’est-à-dire abominable. / Aussi est-elle toujours vulgaire, c’est-à-dire le contraire du Dandy.« (Charles Baudelaire: »Mon Cœur mis à nu«. In: Œuvres complètes. Hg. von Marcel A. Ruff. Paris: Éditions du Seuil 1968, S. 630). Aus‐ führlich zu Parallelen zwischen Le Jardin des supplices und Baudelaires Œuvre - im Besonderen in Bezug auf die Konzeption von Weiblichkeit - vgl. Fabien Soldà: »Octave Mirbeau et Charles Baudelaire. Le Jardin des supplices ou Les Fleurs du Mal revisitées«. In: Cahiers Octave Mirbeau 4 (1997), S. 216-222. nenerzählung, 392 genauer die Protagonistin Clara, vorbereitet ( JDS 57f.): das der femme fatale. Der von den Vorrednern elaborierte Konnex von Leben und Tod, Eros und Thanatos, wird nunmehr an das Prinzip der Weiblichkeit geknüpft: »La femme a en elle une force cosmique d’élément, une force invincible de de‐ struction, comme la nature… Elle est à elle toute seule toute la nature! ... Étant la matrice de la vie, elle est, par cela même, la matrice de la mort« ( JDS 61). Tatsächlich greift Mirbeau hier traditionelle Diskurse über Weiblichkeit im 19. Jahrhundert auf, indem er die Frau mit Naturhaftigkeit und Zerstörung assozi‐ iert. 393 In dieser Gleichung klingt nicht zuletzt Baudelaire an, dessen Konzeption von fataler Weiblichkeit als Folie sichtbar bleibt. 394 Tatsächlich ist Clara eine mustergültige Inkorporation dieses Bildkomplexes, welcher im Verlauf des Romans weiterentwickelt wird. Der Protagonist be‐ gegnet der exzentrischen Engländerin zuerst auf der Überfahrt nach China, wo sie noch als mystische Schönheit auftritt, die eng mit Natur und Vegetation ver‐ bunden ist. Es wird das Urbild von Weiblichkeit überhaupt evoziert, nämlich die biblische Eva: Eve des paradis merveilleux, fleur elle-même, fleur d’ivresse, et fruit savoureux de l’éternel désir, je la voyais errer et bondir, parmi les fleurs et les fruits d’or des vergers 2 Textanalysen 142 <?page no="143"?> 395 In dem Verfahren, Begriffspaare oxymorisch gegenüberzustellen, könnte ebenfalls eine Verbindung zu Baudelaire hergestellt werden. Man denke nicht zuletzt an »Hymne à la Beauté«, in der Baudelaire seinem Schönheitsbegriff anhand binärer Oppositionspaare entwickelt (Satan-Dieu, Ange-Sirène, Ciel-Enfer usf.). 396 Elena Real: »L’imaginaire fin-de-siècle dans Le Jardin des supplices«. In: Pierre Michel/ Georges Cesbron (Hg.): Octave Mirbeau. Actes du colloque international d’Angers du 19 au 22 septembre 1991. Angers 1992, S. 225-233, hier: S. 229. 397 »[A]vec des étirements de souple animal, elle m’expliqua« ( JDS 143). 398 Tatsächlich appropriiert sich Clara dem männlichen Prinzip zugerechnete Eigen‐ schaften. So zeigt Real, wie die Rollen von Erzähler/ Mann/ Aktivität und Clara/ Frau/ Passivität invertiert werden (vgl. Real: »L’imaginaire fin-de-siècle dans Le Jardin des supplices« [s. Anm. 396], S. 228). Clara stellt fest: »Dire que je ne suis qu’une femme… une toute petite femme… une femme aussi fragile qu’une fleur… aussi délicate et frêle qu’une tige de bambou… et que, de nous deux, c’est moi l’homme… et que je vaux dix hommes que toi! « ( JDS 217). primordiaux, non plus dans ce moderne costume de piqué blanc, qui moulait sa taille flexible et renflait de vie puissante son buste, pareil à un bulbe, mais dans la splendeur surnaturalisée de sa nudité biblique. ( JDS 110) Natürlich ist Eva bereits der Archetypus der femme fatale, provoziert ihre Ver‐ führung durch die Schlange doch die Vertreibung des Menschen aus dem Para‐ dies. Während Clara zu Beginn hauptsächlich anziehend wirkt, so wird später im Roman vor allen Dingen die Ambiguität ihrer Erscheinung in den Vorder‐ grund treten: Ihr Lächeln ist zugleich das unschuldige eines Kindes und das einer Prostituierten (»un étrange sourire d’enfant et de prostituée«; JDS 147), sie ist »fée des charniers« und »ange des décompositions et des pourritures« 395 ( JDS 228) und auch in Trauer ist ihr Auftreten ambig: »[…] et ses yeux […] expri‐ maient une grande tristesse. Et il y avait en vérité une pitié ardente, à la fois combative et miséricordieuse. Sous les lourds cheveux d’or brun, son front se barrait d’un pli d’ombre, ce pli qu’elle avait dans la volupté comme dans la dou‐ leur« ( JDS 130). Die Figur der Clara wird damit essentiell durch das Prinzip der Dualität bestimmt. Wie Elena Real beobachtet, konstituiert sie sich durch die Übereinanderschichtung von Gegensatzpaaren: »le féminin est reconstruit à partir de matériaux hétéroclites qui font de la femme le lieu de l’antithétique et du mélange: mélange de couleurs antithétiques (rouge-et-vert), mélange des règnes (végétal-animal), mélange des sexes (masculin-féminin).« 396 Sie ist so‐ wohl »femme-fleur«, »femme-animal« 397 als auch »femme androgyne« bzw. »femme-homme« 398 und damit die Konkretisierung eines komplexen, hetero‐ genen Gedankenkonstrukts. 2.2 Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899) 143 <?page no="144"?> 399 Dass die beiden Hauptfiguren des Romans ihre Psychologie betreffend eigentlich »inf‐ ractions au code de la ›vraisemblance‹« darstellten, erläutert Michel: »Ces deux per‐ sonnages donnent ainsi l’impression de résulter d’un collage de traits de caractère con‐ sidérés comme incompatibles dans la vulgate psychologique propre aux romans: ils sont donc, au sens littéral du terme, des monstres, c’est-à-dire des êtres composites, voire disparates« (Michel: »Le Jardin des supplices: du cauchemar d’un juste à la monstruosité littéraire« [s. Anm. 378], S. 8; S. 9). Der Erzähler beispielsweise scheint insofern inkon‐ gruent zu sein, als er sich noch im ersten Teil gleichgültig gegenüber der Natur zeigt (»La nature […] est, toujours et partout, semblable à elle-même. Son principal caractère est qu’elle manque d’improvisation. Elle se répète constamment«, JDS 107), sich im zweiten Teil jedoch als äußerst eloquenter Kenner exotischer Vegetation erweist. Na‐ türlich erinnert diese erste Lamentatio über die Monotonie der Natur an einen spezifi‐ schen dekadenten Intertext, nämlich an Huysmans’ À rebours. 400 Der Erzähler entwickelt mit der Zeit einen regelrechten Hass, der ihn die einstige Schönheit der Angebeteten vergessen lässt: »Son bavardage, sa voix m’irritaient. Depuis quelques instants, je ne voyais même plus sa beauté. Ses yeux, ses lèvres, sa nuque, ses lourds cheveux d’or, et jusqu’aux ardeurs de son désir, et jusqu’aux luxures de son péché, tout, en elle, me semblait hideux, maintenant. Et de son corsage entr’ouvert, de la nudité rose de sa poitrine où, tant de fois, j’avais respiré, j’avais bu, j’avais mordu l’ivresse de si grisants parfums, montait l’exhalaison d’une chair putréfiée, de ce petit tas de chair putréfiée, qu’était son âme…« ( JDS 236f.). Auch der frenetische Höhepunkt, den Clara im Anschluss an den »supplice de la cloche« findet, erinnert an einen Exorzismus: »j’assistai à un spectacle effrayant et dont il m’est impossible de rendre l’infernal fré‐ missement. Criant, hurlant, sept femmes, tout à coup, se ruèrent aux sept verges de bronze. […] Alors, ce fut autour de l’Idole une clameur démente, une folie de volupté sauvage, une mêlée de corps si frénétiquement étreints et soudés l’un à l’autre qu’elle prenait l’aspect farouche d’un massacre et ressemblait à la tuerie, dans leurs cages de fer, de ces condamnés, se disputant le lambeau de viande pourrie de Clara! ... Je compris, en cette atroce seconde, que la luxure peut atteindre à la plus sombre terreur humaine et donner l’idée véritable de l’enfer, de l’épouvantement de l’enfer…« ( JDS 264f.). Gleichzeitig präsentiert sich Clara hier auch als Hysterikerin par excellence, vgl. Pierre Michel: »Octave Mirbeau et l’Hystérie«. In: Arlette Bouloumié (Hg.): Ecriture et maladie. »Du bon usage des maladies«. Paris 2003, S. 72-84. In der Tat ist sie als Figur eine Monstrosität 399 und je weiter der Erzähler mit ihr in den Garten der Qualen vordringt, umso dämonischer scheint sie ihm: 400 In dem Maße, wie Clara in sadistische Ekstase verfällt, so distanziert sich der Protagonist von ihr und dem schauerlichen Spektakel, das sich ihm offenbart. Ihre eigentliche Unmöglichkeit manifestiert sich wohl am krassesten, als der Erzähler gar ihren Wirklichkeitsstatus anzuzweifeln scheint: Existe-t-elle réellement? ... Je me le demande, non sans effroi… N’est-elle point née de mes débauches et de ma fièvre? ... N’est-elle point une de ces impossibles images, comme en enfante le cauchemar? […] Ne serait-elle pas autre chose que mon âme, sortie hors de moi, malgré moi, et matérialisée sous la forme du péché? ( JDS 246f.) 2 Textanalysen 144 <?page no="145"?> 401 Krist: »Erotologie. Liebe als böse Natur in Octave Mirbeaus Le Jardin des supplices (1899)« (s. Anm. 41), S. 182. 402 Aufgewachsen in einem kleinbürgerlichen Händlermilieu, regiert von moralisch zwei‐ felhaften Sozialmaximen, zeichnet sich der Erzähler vor allen Dingen durch seine »lâ‐ cheté« und Passivität aus. Im Unterschied zu seinem skrupellosen Politiker-Kompagnon Eugène Mortain ist er nicht ausschließlich schlecht bzw. »radikal böse«, wie es in der Terminologie Kants zu nennen wäre, sondern vielmehr fehlt ihm Schneid und Durch‐ setzungsvermögen: »Mais la persévérance dans le mal est ce qui m’a le plus manqué. Non que j’éprouve de tardifs scrupules de conscience, des remords, des désirs passagers d’honnêteté; c’est en moi, une fantaisie diabolique, une talonnante et inexplicable per‐ versité qui me forcent, tout d’un coup, sans raison apparente, à délaisser les affaires mieux conduites, à desserrer mes doigts de dessus les gorges les plus âprement étreintes. Avec des qualités de premier ordre, un sens très aigu de la vie, une audace à concevoir même l’impossible, une promptitude exceptionnelle même à le réaliser, je n’ai pas la ténacité nécessaire à l’homme d’action. Peut-être, sous le gredin que je suis, y a-t-il un poète dévoyé? ... Peut-être un mystificateur qui s’amuse à se mystifier soi-même? « ( JDS 77). 403 Vgl. Martin Schwarz: Octave Mirbeau. Vie et Œeuvre (s. Anm. 41), S. 114. Sie wird damit zu einer veritablen Chimäre, ein unmögliches Wesen, das in seiner Grausamkeit und unersättlichen Wollust die Grenzen des Vorstellbaren sprengt. Clara, als »Agentin der Grausamkeit«, repräsentiert sowohl die Natur als auch die Frau schlechthin, welche in sich das Prinzip des Todes und des Lebens vereint und gleichsam Ursprung alles Bösen ist. 401 Der Erzähler fungiert dabei als Mittlerfigur, aus dessen Perspektive der Leser das Geschehen verfolgt. So ist die wachsende Entfremdung des Protagonisten gleichsam Spiegel der Entfremdung des Lesers mit dem Text und seiner Welt. Des Erzählers Entsetzen angesichts der unermesslichen Grausamkeit Claras dient als innerfiktionaler Marker des Schreckens - ein Verfahren, das an Flaubert erinnert. In Analogie zu dem Blick der Barbaren, der der impliziten Kommen‐ tierung des Geschehens dient, kommt der Perspektive des Ich-Erzählers gleichsam eine rezeptionslenkende Funktion zu. Dies wirkt umso effektiver, da der Erzähler keinesfalls als moralisch integre Person charakterisiert wird. 402 In der Tat ist der Protagonist weniger Agens als Reflektor und seine Initiation wird dergestalt zu der des Lesers. Strukturell gliedert sich diese Initiationsreise in die beiden Teile »En mission« und »Le Jardin des supplices«, wobei ersterer eher vorbereitenden Charakter hat, da die eigentlichen Protagonisten der Romanhandlung in »Le Jardin des supplices« vorgestellt und anekdotisch bereits eingeführte Themen aufgegriffen und ausgeschmückt werden. 403 So schwärmt auf der Überfahrt ein Offizier von der Effizienz einer von ihm erfundenen Kugel, die er selbst »la fée Dum-Dum« ( JDS 119) tauft, welche geeignet ist, eine Vielzahl an Menschen mit einem Schlag zu töten. Verklärt scheint sie ihm gar ein »conte d’Edgar Poe, un rêve de Thomas 2.2 Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899) 145 <?page no="146"?> 404 »Mais sapristi! Nous sommes logiques avec notre état d’universelle barbarie… […] Nous vivons sous la loi de la guerre… Or, en quoi consiste la guerre? … Elle consiste à mass‐ acrer le plus d’hommes que l’on peut, en le moins temps possible… Pour la rendre de plus en plus meurtrière et expéditive il s’agit de trouver des engins de destruction de plus en plus formidables… C’est une question d’humanité… et c’est aussi le progrès moderne…« ( JDS 121). 405 Dies korrespondiert ebenfalls mit der Funktion Claras als Anti-Beatrice, die den Pro‐ tagonisten nicht in das Paradies hinauf, sondern in das Inferno hinab führt. 406 Krist verweist auf die interne Strukturierung des zweiten Teils durch Erzählsequenzen, die die Transgressionsbewegung Claras und des Erzählers nachzeichnen. Diese Hand‐ lungsbewegung wiederum korrespondiert mit der Raumkonzeption: »Der Raum fun‐ giert hier als eine Sequenz von Stationen, in der jede neue Station zu einer neuen Grenzüberschreitung im Widerspiel von Clara und Ich-Erzähler führt« (Krist: »Eroto‐ logie« [s. Anm. 41], S. 181). 407 Vgl. ebd., S. 183. de Quincey« ( JDS 119), womit natürlich qua intertextueller Referenz ein litera‐ risch-künstlerisches Bezugssystem aufgerufen wird, das hier jedoch vielmehr einen komischen Effekt produziert. Die »Rhetorik des Bösen als des Schönen«, d.h. des Mordens als schöne Kunst, hat hier eine ironisch distanzierende Funk‐ tion, wird doch durch die Namensgebung »Dum-Dum« die Euphorie des Offi‐ ziers, welcher als Repräsentant des Militärs und damit der Regierung fungiert, ridikülisiert. Wenn dieser also über die besondere Produktivität der neu entwi‐ ckelten Kriegsmaschinerie philosophiert und den dadurch gewonnenen Fort‐ schritt als humanitäre Leistung lobt, führt Mirbeau implizit die Paradoxa der westlichen Militärpolitik vor. 404 Der zweite Teil »Le Jardin des supplices« stellt nun den sowohl metaphori‐ schen als auch räumlichen Abstieg 405 in den Garten der Lüste dar, der sequen‐ zenhaft durch narrative Episoden strukturiert wird. 406 Diese Sequenzen mar‐ kieren gleichsam das Skandalon des Textes, nämlich die (zum Teil im Medium der Narration distanzierten) Gewaltimaginationen: »le supplice des verges de fer« (Tod durch glimmende Ruten), »le supplice de la caresse« (Tod durch Mas‐ turbation), die »Trois-amies«-Episode, in der Clara ausgehungerte Häftlinge foltert, »le supplice du rat« und »le supplice de la cloche« (das Opfer wird so lange unter einer enormen Glocke festgebunden, bis es stirbt). Krist verzeichnet hier eine Transgressionsbewegung, die im »supplice de la cloche« einen Höhe‐ punkt findet. 407 Tatsächlich kann jedoch von Überschreitung im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein: Denn in einem diegetischen Universum, in dem sich das Töten vollkommen naturalisiert findet, in dem die Lust am Morden und Eros untrennbar miteinander verquickt sind, kann eine Grenze, die überschritten wird, nur schwerlich ausgemacht werden. Zwar werden fiktionsimmanent die einzelnen Schreckenstableaus durch die Zuschauerfigur des Ich-Erzählers als 2 Textanalysen 146 <?page no="147"?> 408 Vgl. ebd., S. 182. Skandalon markiert 408 (»mes paupières alourdies […] s’étaient presque fermées, à l’horreur de ce récit«, JDS 167; »J’étais muet d’épouvante«, JDS 172). Zudem werden sie durch die wachsende Phrenesie Claras, die sich in einem ekstatischen Höhepunkt entladen wird, einer strukturellen Steigerungsfigur eingegliedert. Doch lassen sich die einzelnen Episoden semantisch kaum unterscheiden, da sie lediglich immer gleiche Varianten der sadistischen Folterlust präsentieren. Beispielhaft sei hier zunächst auf eine von Clara erzählte Folterszene ver‐ wiesen - nämlich das bereits erwähnte »supplice de la caresse« -, das gänzlich im Zeichen der erregten Agitation steht: J’ai vu un homme qui avait violé sa mère et l’avait ensuite éventrée d’un coup de couteau. Il parait, du reste, qu’il était fou… Il fut condamné au supplice de la caresse… Oui, mon chéri… Est-ce admirable? ... On ne permet pas aux étrangers d’assister à ce supplice qui, d’ailleurs, est très rare aujourd’hui… Mais nous avions donné de l’argent au gardien qui nous dissimula, derrière un paravent… Annie et moi, nous avons tout vu… Le fou - il n’avait pas l’air fou - était étendu sur une table très basse, les membres et le corps liés par de solides cordes… la bouche bâillonnée… de façon à ce qu’il ne pût faire un mouvement, ni pousser un cri… Une femme, pas belle, pas jeune, au masque grave, entièrement vêtue de noir, le bras nu cerclé d’un large agneau d’or vint s’age‐ nouiller auprès du fou… Elle empoigna sa verge… et elle officia… Oh! chéri! … chéri! ... Si tu avais vu! ... Cela dura quatre heures, pense! ... quatre heures de caresses effroyables et savantes, pendant lesquelles la main de la femme ne se ralentit pas une minute, pendant lesquelles son visage demeura froid et morne! ... Le patient expira dans un jet de sang qui éclaboussa toute la face de la tourmenteuse… Jamais je n’ai rien vu de si atroce, et ce fut si atroce, mon chéri, qu’Annie et moi nous nous évanouîmes […] Clara se tut, l’esprit sans doute retourné aux impures et sanglantes images de cet abominable souvenir… ( JDS 166f.) Claras Erregung in der sprachlichen Vergegenwärtigung des voyeuristischen Akts manifestiert sich hier vor allem in Exklamationen (»Oh! chéri! ... chéri! «, »Si tu avais vu! «) und rhetorischen Fragen (»Est-ce admirable? «), die einerseits der emphatischen Emotionsbekundung dienen, andererseits eine appellative Funktion haben und zum imaginativen Nachvollzug anregen sollen. Auch hier werden ekelerregende Details mit eingeflochten (das spritzende Blut), das be‐ sonders verstörende Moment dieser Erzählung liegt wohl aber einerseits im dargestellten Gegenstand selbst (die Verkehrung eines eigentlich mit körper‐ lichem Vergnügen assoziierten Akts in eine todbringende Folter) sowie in der sadistischen Lust, die dieser Clara bereitet. Und schließlich findet sich hier ein 2.2 Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899) 147 <?page no="148"?> weiteres Mal die Wirkungsweise der grausamen Erzählung (und damit implizit auch die des literarischen Textes) indirekt reflektiert: Die durch die Narration erregte Clara versinkt erneut in der Erinnerung an das Gesehene, während der Erzähler vor Schrecken den Blick abwendet (vgl. JDS 172). Eine weitere markante Passage des Textes bildet die Episode des »supplice du rat«. Zunächst erblickt der Erzähler einen bis zur Unkenntlichkeit entstellten Körper, der auf einer Bahre abtransportiert wird: »une sorte de paquet de chair sanglante, une sorte d’être humain, dont la peau, coupée en lanières, traînait sur le sol, comme des guenilles. […] cette plaie hideuse qui, pourtant, avait été un homme« ( JDS 200). Dieser Anblick von zerstörter Menschlichkeit kontrastiert wiederum scharf mit der paradiesischen Vegetation des Foltergartens (»autour de nous […] un fourmillement nuancé, une palpitation carnée, lactée, nacrée, et si tendre et changeante, qu’il est impossible d’en rendre, avec des mots, la douceur infinie et le charme inexprimablement édénique…«; JDS 200). In der Tat folgt hierauf eine äußerst detaillierte (und vor allem fachkundige) Beschreibung üppiger, farbenfroher Pflanzen und Blumen, in deren Mitte sich ein sonderbarer Anblick auftut: Et, de cet enchantement floral, se dressaient des échafauds, des appareils de crucifi‐ xion, des gibets aux enluminures violentes, des potences toutes noires au sommet desquelles ricanaient d’affreux masques de démons; hautes potences pour la stran‐ gulation simple, gibets plus bas et machinés pour le dépècement des chairs. Sur les fûts de ces colonnes de supplice, par un raffinement diabolique, des calystégies pu‐ bescentes, des ipomées de la Daourie, les lophospermes, des coloquintes enroulaient leurs fleurs, parmi celles des clématites et des atragènes… Des oiseaux y vocalisaient leurs chansons d’amour… Au pied d’un de ces gibets, fleuri comme une colonne de terrasse, un tourmenteur, assis, sa trousse entre les jambes, nettoyait de fins instru‐ ments d’acier avec des chiffons de soie; sa robe était couverte d’éclaboussures de sang, ses mains semblaient gantées de rouge. ( JDS 201f.) Tatsächlich handelt es sich dabei um ein für den Roman zentrales Tableau, in dem sich das Prinzip der Untrennbarkeit von Gut und Böse, Tod und Leben, Schön und Hässlich kondensiert. Wie Michel Delon in seinem Vorwort zu Le Jardin des supplices bemerkt, nimmt Mirbeau Baudelaires programmatischen 2 Textanalysen 148 <?page no="149"?> 409 Vgl. Michel Delon: »Préface«. In: Octave Mirbeau: Le jardin des supplices. Hg. von Michel Delon. Paris 1988, S. 7-37, hier: S. 33. Tatsächlich wird das Bild der »fleurs du mal« als das Sinnbild schlechthin aller Zusammenhänge zwischen Tod, Liebe, Weiblichkeit und Natur entwickelt. So erweitert der Henker das oben zitierte Tableau um den Konnex von Femininität und naturhafter Triebhaftigkeit: »Il cueillit une renoncule qui, près de lui, au-dessus du gazon, balançait mollement son capitule d’or, et, avec des délicatesses infinies, lentement, amoureusement, il la fit tourner entre ses gros doigts rouges où le sang séché s’écaillait par places: ›Est-ce pas adorable? […] C’est tout petit, tout fragile… et c’est toute la nature, pourtant… toute la beauté et toute la force de la nature… Cela renferme le monde… Organisme chétif et impitoyable et qui va jusqu’au bout de son désir! ... Ah! les fleurs ne font pas de sentiment, milady… Elle font l’amour […] Elles ne pensent qu’à ça… Et comme elles ont raison! ... Perverses? ... Parce qu’elles obéissent à la loi unique de la Vie, parce qu’elles satisfont à l’unique besoin de la Vie, qui est l’a‐ mour? […] La fleur n’est qu’un sexe […] Ces pétales merveilleux… ces soies, ces ve‐ lours… ces douces, souples et caressantes étoffes… ce sont les rideaux de l’alcôve… les draperies de la chambre nuptiale… le lit parfumé où les sexes se joignent… où ils passent leur vie éphémère et immortelle à se pâmer d’amour. Quel exemple admirable pour nous! ‹« ( JDS 213f.). Auch diese absolute Sexualisierung der Blume entbehrt nicht einer gewissen Komik, zumal die Rede des Henkers in einer »extase burlesque« ( JDS 214) hervorgebracht wird. Und doch liegt vermutlich gerade in der Pervertierung des Bildes der Blume in ein obszönes Zeichen das aggressive Wirkungspotential des Textes. 410 Vgl. Pierre Michel: »Le Jardin des supplices: entre patchwork et ›soubresauts d’épou‐ vante‹«. In: Cahiers Octave Mirbeau 3 (1996), S. 46-72. Titel, Les Fleurs du mal, wörtlich. 409 Unzählige raffinierte Blumen nähren sich von dem Blut, das die Opfer auf den Folterinstrumenten verströmt haben, und sind gleichsam eins geworden mit der todbringenden Maschinerie. Hier kon‐ kretisiert sich erneut die dynamische Dialektik des Gegensätzlichen, die die ge‐ samte Existenz im Mirbeau’schen Universum bestimmt: das Böse, das das Schöne hervorbringt und vice versa. 410 Der Henker, der friedlich nach getaner Arbeit am Fuße der Galgen weilt, er‐ weist sich als äußerst eloquent und sein sehnsuchtsvolles Plädoyer für die hohe Kunst des Tötens wirkt nahezu farcesk. So stilisiert er sich zum versierten Ar‐ tisten: Sein letztes Opfer (der Mann auf der Bahre, den Clara und der Erzähler zuvor erblickt hatten) habe kaum »l’honneur d’un si beau travail« ( JDS 203) verdient, er habe »des choses véritablement sublimes« ( JDS 207) erfunden, da‐ runter sein »chef-d’œuvre« ( JDS 208), »le supplice du rat«. Zwar zeugt diese Szene durchaus auch von schwarzem Humor, doch die Verkehrung der Zeichen, die in der Umdeutung, gar Entleerung der Begriffe des Schönen und Erhabenen besteht, wirkt beunruhigend. Roy-Reverzy argumentiert in Bezug auf diese Epi‐ sode: Il ne s’agit pas là seulement d’une variation sur la beauté du crime mais, plus insi‐ dieusement, d’une élimination du beau par le laid et du laid par le beau: le lecteur perd 2.2 Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899) 149 <?page no="150"?> 411 Éléonore Roy-Reverzy: »D’une poétique mirbellienne: Le Jardin des supplices«. In: Ca‐ hiers Octave Mirbeau 3 (1996), S. 30-45, hier: S. 39. 412 Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen (s. Anm. 16), S. 274. pied, est contraint d’abandonner tout critère puisque ce n’est plus ni beau, ni laid, ni sublime, ni grotesque, ni atroce, ni comique. La portée profonde de ce sublime du laid et de la cruauté est peut-être, au-delà de la ruine des catégories esthétiques, dans l’avènement d’une autre poétique, une poétique moderne qui se nourrit de celles qui l’ont précédée et les renvoie dos à dos […]. 411 Roy-Reverzy zufolge geht demnach aus der Destruierung bestehender ästheti‐ scher Kategorien eine neue, moderne Poetik hervor, die das bisher Dagewesene revolutioniert. In den Termini Bohrers wäre dies wahrscheinlich gleichermaßen als imaginative Sprengung traditioneller Bezugsrahmen zu verstehen. Bei dem als »chef-d’œuvre« vorgestellten Gegenstand handelt es sich nun - wie bereits erwähnt - um das »supplice du rat«, welches erneut in der Figu‐ renrede distanziert wird. Und tatsächlich ist diese Sequenz kaum unterscheidbar von jenen, die ihr vorangehen. Ähnlich wie zuvor Claras Erzählungen zeichnet sich auch diese durch die agitierte, emphatische Sprache aus: Ah! vous voyez… Je ne vous le fais pas dire… Et je suis fier de l’intérêt que vous prenez à mon supplice… Mais attendez… Le rat pénètre, par où vous savez… dans le corps de l’homme… en élargissant de ses pattes et de ses dents… le terrier… Ah! ... ah! ... ah! ... le terrier qu’il creuse frénétiquement, comme de la terre. Et il crève étouffé, en même temps que le patient, lequel, après une demi-heure d’indicibles, d’incomparables tor‐ tures, finit, lui aussi, par succomber, à une hémorragie… quand ce n’est pas, à l’excès de la souffrance… ou encore à la congestion d’une folie épouvantable… Dans tous les cas, milady… et quelle que soit la cause finale à cette mort, croyez que c’est extrême‐ ment beau! ( JDS 211) Auch diese Erzählung zeichnet sich durch Exklamationen und phatische An‐ reden aus, die die sadistische Lust des Erzählers markieren. Zumindest stilistisch bleiben sie ununterscheidbar; sie erscheinen als Varianten ein und derselben Idee. Und so argumentiert auch Alt, dass die dem Roman zugrundeliegende Strukturfigur die der Wiederholung sei, denn das sadistische Begehren ist letzt‐ endlich eines, das vollständig dem Trieb unterliegt, dessen Unerfülltheit not‐ wendigerweise seine eigene Existenz bedingt. »Die seriellen Muster der von Mirbeau gelieferten Beschreibungen bilden den Ausdruck für die Unmöglich‐ keit, Ekstase anders als in der permanenten Reproduktion zu erfassen. In seiner sterilen Kunstsprache spiegelt der Roman den schalen Charakter einer orgias‐ tischen Erfahrung, die allein in der Wiederholung offenbar werden kann.« 412 2 Textanalysen 150 <?page no="151"?> 413 Als sie wiedererwacht, haucht sie geschwächt: »je suis bien ainsi… je suis pure ainsi… je suis toute blanche… toute blanche comme une anémone« ( JDS 267). Dass aber auch diese unschuldige, reine Seite genauso Bestandteil der Figur ist wie die verderbte, ani‐ malische, suggeriert auch der sprechende Name »Clara« - »clair« (vgl. Real: »L’ima‐ ginaire fin-de-siècle dans Le Jardin des supplices« [s. Anm. 396], S. 226). 414 So bemerkt Ki-Paï, eine Angehörige des Bordells, in das sich Clara nach ihrem Zusam‐ menbruch flüchtet: »Et ce sera à recommencer! ... Ce sera toujours à recommencer! […] Dans huit jours, je vous conduirai comme ce soir, tous les deux, sur le fleuve, rentrant du Jardin des supplices… Et dans huit années encore, je vous conduirai pareillement sur le fleuve, si vous n’êtes pas parti et si je ne suis pas morte! « ( JDS 268f.) 415 »Nous laissâmes l’allée circulaire sur laquelle s’embranchent d’autres allées sinuant vers le centre, et qui longe un talus, planté d’une quantité d’arbustes rares et précieux, et nous prîmes une petite sente qui, dans une dépression du terrain, aboutissait direc‐ tement à la cloche.« ( JDS 200). Und es ist nicht zuletzt die Idee der Zirkularität, die sowohl die Universalität als auch Unvergänglichkeit des Thanatos-Prinzips belegt: Sowohl Raumals auch Handlungsstruktur folgen dem Prinzip der Kreisförmigkeit. Auf der Ebene der Diegese wiederholen sich nicht nur einzelne Sequenzen, sondern der Roman als solcher findet sich im Grunde unabgeschlossen, denn Claras Zusammenbruch ist nur ein vorläufiger: Die durch die orgiastische Ekstase geläuterte 413 Clara wird nur allzu bald erneut dem korrumpierenden, unersättlichen Trieb er‐ liegen. 414 Auf Ebene der Raumkonzeption wiederum ist der Garten selbst wie ein Trichter angelegt, in dessen Zentrum sich die Glocke befindet. 415 Damit erinnert der Garten der Qualen einerseits ganz offensichtlich an Dantes Inferno, das vom äußersten Rand über die Höllenkreise zum Zentrum - Satans Rumpf - führt. Andererseits schließt die Raumkonzeption den Garten als Mikrokosmos ab, der damit eine Abbildfunktion erhält. So kommt der Erzähler schließlich zu fol‐ gender Erkenntnis: Et l’univers m’apparaît comme un immense, comme un inexorable jardin des sup‐ plices… Partout du sang, et là où il y a plus de vie, partout d’horribles tourmenteurs qui fouillent les chairs, scient les os, vous retournent la peau, avec des faces sinistres de joie… Ah oui! le jardin des supplices! ... Les passions, les appétits, les intérêts, les haines, le mensonge; et les lois, et les institutions sociales, et la justice, l’amour, la gloire, l’héroïsme, les religions, en sont les fleurs monstrueuses et les hideux instru‐ ments de l’éternelle souffrance humaine… Ce que j’ai vu aujourd’hui, ce que j’ai en‐ tendu, existe et crie et hurle au-delà de ce jardin, qui n’est plus pour moi qu’un sym‐ bole, sur toute la terre… J’ai beau chercher une halte dans le crime, un repos dans la mort, je ne les trouve nulle part… ( JDS 248f.) Die schrecklichen Ereignisse, derer er im Garten der Qualen Zeuge wurde, werden ihm schließlich zum Symbol der Existenz und des Kosmos selbst. Das 2.2 Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899) 151 <?page no="152"?> 416 Dabei artikuliert sich nicht zuletzt eine Kritik am Kolonialismus, die das westliche Ex‐ pansionsstreben als bürokratisierte Barbarei entlarvt. So bemerkt der Henker: »Le sno‐ bisme occidental qui nous envahit, les cuirassés, les canons à tir rapide, les fusils à longue portée, l’électricité, les explosions… que sais-je? ... tout ce qui rend la mort collective, administrative et bureaucratique… toutes les saletés de votre progrès, enfin… détruisent peu à peu, nos belles traditions du passé« ( JDS 207). Vgl. auch Lucie Bernier: La Chine littérarisée (s. Anm. 41), S. 107. 417 Vgl. ebd., S. 109. Erlebte ist schließlich Allegorie einer allgemeinmenschlichen »sauvagerie«. Denn ähnlich wie bei Flaubert sowohl die Söldner als auch die Karthager glei‐ chermaßen dem »désir de la terreur« erliegen, kann das vermeintlich Fremde und Barbarische des exotischen Chinas zunächst schwerlich von der Grausam‐ keit der westlichen, zivilisierten Welt unterschieden werden. Tatsächlich wird China jedoch zu einer Art romantischem Gegenbild zur Hypokrisie des Okzi‐ dents, der seine Barbarei unter dem Deckmantel der Effizienz, Kultiviertheit und Zivilisiertheit zu maskieren sucht. 416 Mirbeau greift dabei kontemporäre Vor‐ stellungen vom fremden, archaischen China auf und lässt diese als Kontrastfolie für den heuchlerischen Westen wirken. So lässt Mirbeau Clara als Sprachrohr fungieren, wenn sie den okzidentalen Verlust des Naturzustandes anprangert: Vois comme les Chinois, qu’on accuse d’être des barbares, sont au contraire plus ci‐ vilisés que nous; comme ils sont plus que nous dans la logique de la vie et dans l’har‐ monie de la nature! ... Ils ne considèrent point l’acte d’amour comme une honte qu’on doit cacher […] Vois aussi comme tout l’art occidental y perd qu’on lui ait interdit les magnifiques expressions de l’amour. Chez nous, l’érotisme est pauvre, stupide et gla‐ çant… il se présente toujours avec des allures tortueuses de péché, tandis qu’ici, il conserve toute l’ampleur vitale, toute la poésie hennissante, tout le grandiose frémis‐ sement de la nature… Mais toi, tu n’es qu’un amoureux d’Europe… une pauvre petite âme timide et frileuse, en qui la religion catholique a sottement inculqué la peur de la nature et la haine de l’amour… Elle a faussé, perverti en toi le sens de la vie… ( JDS 162) Die Entfremdung vom Naturzustand scheint, in diesem Licht betrachtet, wie ein Verlust essentieller Vitalkräfte und damit wie eine Fehlentwicklung. China in seiner Andersartigkeit wird Mirbeau damit einerseits zum Symbol radikaler Al‐ terität, andererseits jedoch des Eigenen, des Menschen im Naturzustand. 417 Gleichsam wird auch die Funktion der Kunst benannt: nämlich den freien Aus‐ 2 Textanalysen 152 <?page no="153"?> 418 In gewisser Weise antizipiert Mirbeau Bataille, dem die Erotik und die Literatur glei‐ chermaßen zum in der Modernität einzig möglichen Raum der Überschreitung und Verausgabung werden. druck des Eros, der als »grandiose frémissement de la nature« erscheint. Im »érotisme« der Literatur ruht die ganze Fülle natürlicher Vitalität. 418 Die aggressive Wirkungspoetik, die Mirbeau in seinem Werk entfaltet, be‐ steht zuvorderst in der Zersetzung und Ambiguierung bestehender Begriffe und Konzepte. Diese untersteht dabei einerseits dem Bedürfnis nach radikaler Selbst‐ affirmation der Kunst, die zum Raum eines entfesselten Eros wird und damit zum wahren Ort der Freiheit. Andererseits führt diese jedoch Paradoxien vor, die die moderne Gesellschaft durchdringen. Das grausame Menschenbild, das Mirbeau zeichnet, wirkt in diesem Sinne umso provokanter, da es nicht allein als eine vor exotischer Kulisse illustrierte Alteritätsvorstellung vorgeführt, son‐ dern gleichsam als Eigenes, Universales gedacht wird. Die Entfaltung traditio‐ neller dekadenter Thematiken wie die Zusammenhänge von Thanatos und Eros (wie sie sich in der Figur der Clara konkretisiert), Perversion, Degeneration und die Ästhetik des Hässlichen geschieht nicht allein vor dem Hintergrund selbst‐ zweckhafter Reizsteigerung, sondern auch um ihrer skandalösen Wirkung willen, die letztendlich einer radikalen Gesellschaftskritik untersteht. In diesem Sinne wird Mirbeau gleichsam selbst zum Mahner bzw. Skandalierer, der Miss‐ stände westlicher Regierungs- und Autoritätsinstitutionen an den Pranger stellt und okzidentale Hypokrisie bloßlegt. Und die Literatur wird zum Ort, in dem die dem Menschen inhärente Grausamkeit sinnlich erfahrbar wird. Die Eleva‐ tion des Abseitigen zum Universalen wird zu einem revolutionären Gestus, der dem Schön-Guten, das nunmehr als heuchlerische Vorstellung und Selbsttäu‐ schung erscheint, eine Absage erteilt. Und so lässt sich Claras Lied »Trois amis« sicherlich auch als literarische Poetik bzw. »Poetik des Skandals« lesen: J’ai trois amies. La première a l’esprit mobile comme une feuille de bambou. […] J’ai trois amies. La seconde a une abondante chevelure qui brille et se déroule en longues guirlandes de soie. […] J’ai trois amies. Les cheveux de la troisième sont nattés et roulés sur sa tête. […] Toujours elle gronde et grogne. Ses seins et son ventre exhalent l’odeur du poisson. Elle est malpropre en toute sa personne. […] Et celle-là je l’aime parce qu’il y a quelque chose de plus mystérieusement attirant que la beauté: c’est la pour‐ riture. La pourriture en qui réside la chaleur éternelle de la vie, En qui s’élabore l’é‐ ternel renouvellement des métamorphoses! ( JDS 176f.) 2.2 Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899) 153 <?page no="154"?> 419 Roland Barthes: »Sade - Pasolini«. In: ders.: Œuvres complètes. Édition établie et pré‐ sentée par Éric Marty. Bd. III. 1974-1980. Paris: Éditions du Seuil 1995, S. 391-392, hier: S. 391. Ursprünglich erschien der Artikel in Le Monde des 16. Juni 1976. 2.3 Pier Paolo Pasolinis Salò o le 120 giornate di Sodoma und der Marquis de Sade Ce qui touche, ce qui a de l’effet, dans Salò, c’est la lettre. [...] Vous voyez tout: l’assiette, l’étron, le barbouillage, le paquet d’aiguilles (acheté à l’Upim de Salò), le grain de la po‐ lenta; comme on dit, rien ne vous est épargné (devise même de la lettre). À ce point de ri‐ gueur, ce n’est finalement pas le monde peint par Pasolini qui est dénudé, c’est notre re‐ gard: notre regard mis à nu, tel est l’effet de la lettre. Dans le film de Pasolini (ceci, je crois, lui appartenait en propre) il n’y a aucun symbolisme: d’un côté une grossière analogie (le fascisme, le sadisme), de l’autre la lettre, minutieuse, insistante, étalée, lé‐ chée comme une peinture de primitif; l’allé‐ gorie et la lettre, mais jamais le symbole, la métaphore, l’interprétation [...]. Roland Barthes, »Sade - Pasolini« 419 Roland Barthes’ Urteil über Pier Paolo Pasolinis Filmadaption von de Sades Les 120 Journées de Sodome fällt in Bezug auf dessen filmische Bearbeitung der Sa‐ de’schen Philosophie harsch aus. Den allegorischen Transfer der Sade’schen Libertinage auf den Faschismus hält Barthes für eine »grossière analogie«; was der Film gegenüber einer symbolischen, interpretativen Sprache privilegiere, sei die Materialität der Bilder, die schiere Wirkungskraft der lettre, des Buchstabens, des Zeichens, was letztendlich nicht auf die Welt, die es zu beschreiben sucht, verweise, sie enthülle, sondern allein den Blick des Zuschauers demaskiere. Barthes’ gewiss kaum anerkennende Kritik Pasolinis’ Salò o le 120 giornate di Sodoma benennt dennoch treffend die besondere Qualität bzw. Leistung des Werks: Der Film involviert den Zuschauer auf drastische Weise, stellt sein Durchhaltevermögen auf die Probe, zwingt ihn, Bilder zu ertragen, die derartig schockieren, dass das Zuschauen selbst zu einer Tortur wird, und reflektiert dabei eben jenen Akt des Sehens, des Zuschauens mit. In der Tat wird der vo‐ 2 Textanalysen 154 <?page no="155"?> 420 Pier Paolo Pasolini: »Abiura dalla ›Trilogia della vita‹«. In: ders.: Trilogia della vita. Il Decameron, I racconti di Canterbury, Il fiore delle mille e una notte. A cura di Giorgio Gattei. Milano: Mondadori 1987, S. 7-11. Die »Abiura« wurde darüber hinaus weiterhin in den Lettere luterane Pasolinis inkludiert: Pier Paolo Pasolini: Lettere luterane. Torino: Einaudi 1976, S. 71-76. Zu Pasolinis »Abiura dalla Trilogia della vita« vgl. auch Vittorio Russo: »L’Abiura dalla ›Trilogia della vita‹«. In: Modern Language Notes 108, 1 (1993), S. 140-151. yeuristische, komplizenhafte Blick nicht nur der Figuren, sondern auch des Zu‐ schauers auf brisante Weise inszeniert. Kaum ein anderer Film zwingt das Pub‐ likum derart rigoros zu einer unerwünschten Komplizenschaft. Pasolinis letzter Film folgte auf seine Trilogia della vita (Il Decameron, 1971; Racconti di Canterbury, 1972; Il fiore delle Mille e una notte, 1974), von der sich Pasolini nach Vollendung jedoch distanzierte. Die in der Trilogie inszenierte naive, archaische und vitale Sexualität schien ihm in der Retrospektive das Pro‐ dukt einer Beeinflussung durch Staat und Macht, das vorherrschende Klima einer zunehmenden Liberalisierung. Gleichwohl stellte sie Pasolini zufolge den Versuch dar, der rapiden Entfaltung der Massenmedien die Vision unschuldiger, unkorrumpierter Körper entgegenzustellen. So heißt es in der Abiura dalla »Tri‐ logia della vita«: Io abiuro dalla »Trilogia della vita«, benché non mi penta di averla fatta. Non posso infatti negare la sincerità e la necessità che mi hanno spinto alla rappresentazione dei corpi e del loro momento culminante, il sesso. [...] Ora tutto si è rovesciato. Primo: la lotta progressista per la democratizzazione espressiva e per la liberalizzazione sessuale è stata bruscamente superata e vanificata dalla decisione del potere consumistico di concedere una vasta (quanto falsa) tolleranza. Secondo: anche la »realtà« dei corpi innocenti è stata violata, manipolata, manomessa dal potere consumistico: anzi, tale violenza sui corpi è diventato il dato più macroscopico della nuova epoca umana. Terzo: le vite sessuali private (come la mia) hanno subito il trauma sia della falsa tolleranza che della degradazione corporea, e ciò che nelle fantasie sessuali era dolore e gioia, è divenuto suicida delusione, informe accidia. [...] Sto dimenticando com’erano prima le cose. Le amate facce di ieri cominciano a ingiallire. Mi è davanti - pian piano senza più alternative - il presente. Riadatto il mio impegno ad una maggiore leggibilità (»Salò«? ). 420 Pasolinis Faszination an der Ursprünglichkeit vitaler Sexualität und unschul‐ diger Naivität (die er einstmals dem Proletariat, vor allen Dingen jenem, das in den borgate romane lebte, inhärent glaubte) weicht einer bitteren Desillusionie‐ rung ob der irreversiblen Korrumpierung des Körpers durch den konsumisti‐ schen Staat. Zurück bleibt Pasolini zufolge allein die »realtà dei corpi innocenti 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 155 <?page no="156"?> 421 Pasolini wurde mit dem eigenen PKW überrannt. Festgenommen wurde der 17-jährige Stricher Pino Pelosi, der sich zu der Tat bekannte. Indizien ließen jedoch Zweifel an der Aussage Pelosis aufkommen und deuteten hin auf die Verwicklung weiterer Personen in den Mord. Jenes Geständnis sollte Pelosi Jahre später widerrufen und zunächst an‐ geben, im Auftrag Unbekannter gehandelt zu haben, die ihn unter Androhung des Todes zu einem Geständnis gezwungen hätten, nur um sein Schuldbekenntnis schließlich ganz zu widerrufen. Vgl. Enzo Siciliano: Pasolini. Leben und Werk. Mit einem Vorwort von Christoph Klimke, aus dem Italienischen von Christel Galliani. München: List 2000, S. 9-32. 422 So heißt es in dem Erlass des »Ministero del Turismo e dello Spettacolo«. Ein Faksimile des Originaldokuments ist abrufbar auf cinecensura.com. URL: http: / / cinecensura.com/ sesso/ salo-o-le-120-giornate-di-sodoma/ (letzter Aufruf: 03.01.2016). 423 Indessen handelt es sich bei Salò nicht um Pasolinis einziges Werk, das der Zensur unterliegen sollte. Sowohl seine Romane Ragazzi di vita und Una vita violenta als auch Filme wie Porcile, Teorema und die Trilogia della vita gerieten wegen pornographischen Inhalts unter Beschuss. [...] violata, manipolata«. Salò mit seiner Darstellung exzessiver Gewalt und sa‐ distischer Sexualität ist damit gleichsam als Ausdruck der angesichts der Dege‐ neration der Konsumgesellschaft empfundenen Verzweiflung zu verstehen. Und in der Tat wurde Salò zu einem veritablen Skandalfilm, und dies auf zweifache Weise: Zum einen wurde der Film erst drei Wochen, nachdem Pasolini auf grausame Art und Weise am Strand von Ostia in der Nacht vom ersten auf den zweiten November 1975 ermordet wurde, auf dem Pariser Filmfestival am 22. November uraufgeführt. Das Erscheinen von Salò wurde damit von der Kunde des tragischen Tods Pasolinis begleitet, dessen konkrete Umstände bis heute als umstritten gelten. 421 Zum anderen wurde der Film nach seiner Veröf‐ fentlichung aufgrund seiner schonungslosen Inszenierung von Gewalt und Se‐ xualität zur Zielscheibe medialer Kritik und fiel der Zensur anheim. Die Aus‐ strahlung und Verbreitung des Films wurde verboten mit der folgenden Begründung: »il film nella sua tragicità porta sullo schermo immagini così aber‐ ranti e repugnanti di perversioni sessuali che offendono sicuramente il buon costume e come tali sopraffanno la tematica ispiratrice del film sull’anarchia di ogni potere«. 422 Pasolini reiht sich damit in die Riege der hier vorgestellten Au‐ toren ein, deren Werke aufgrund ihrer Anstößigkeit zumindest zeitweise kriti‐ siert, zensiert oder gar verboten wurden. 423 Darüber hinaus fand der Film auch in intellektuellen Kreisen keinen großen Anklang; nicht nur der bereits zitierte Roland Barthes, sondern auch Italo Calvino äußerten sich kritisch in Bezug auf 2 Textanalysen 156 <?page no="157"?> 424 Calvinos Artikel »Sade è dentro di noi« erschien am 30. November 1975 im Corriere della sera. Selbiger wurde in englischer Übersetzung wiederabgedruckt in Italo Calvino: »Sade is within us«. In: Beverly Allen (Hg.): Pier Paolo Pasolini. The Poetics of Heresy. Saratoga/ Calif: ANMA Libri 1982, S. 107-111. So klagt Calvino: »First of all, the idea of situating Sade’s novel in the times and places of the Nazi-fascistic republic seems the worst possible one from all points of view. The horror of that past which is in the memory of so many who lived it cannot serve as background to a symbolic and imagi‐ nary horror constantly outside the probable such as is present in Sade’s work« (ebd., S. 109). Calvinos Urteil gab Alberto Moravia wiederum Anlass zu einer unmittelbaren Replik - in Verteidigung Pasolinis -, ebenfalls im Corriere della sera (»Sade per Pasolini un sasso contro la società«. In: Corriere della sera [06.12.1975]). 425 Der Roman ist damit aufs penibelste durchorganisiert. Auffällig ist dabei besonders die Privilegierung der Zahl Vier: Es gibt vier Teile, und auch die Figuren werden in Viererbzw. Achtergruppen (zwei mal vier) eingeteilt. Cryle bemerkt diesbezüglich: »Not only is the recurrence of the foursquare not a matter of chance, we might add, it provides the novel with an architectural principle [...] whose very role seems to be to preclude the random or the unexpected« (Peter M. Cryle: »Taking Sade Serially: Les Cent vingt journées de Sodome«. In: SubStance 20, 1 [Issue 64] [1991], S. 91-113, hier: S. 94). Auch Bataille kommentierte Sades ›Zahlenobsession‹ in La Littérature et le mal: »Seule l’é‐ numération interminable, ennuyeuse, avait la vertu d’étendre devant lui le vide, le désert, auquel aspirait sa rage (et que ses livres étendent encore devant ceux qui les ouvrent).« (Georges Bataille: La Littérature et le mal [s. Anm. 79], S. 250). 426 Damit respektiert Pasolini gleichfalls die Repräsentativität der vier Herren als symbo‐ lische Vertreter der herrschenden Klassen: il Duca als Vertreter der Nobilität, il Mon‐ signore als Teil des Klerus, Sua Eccelenza als Vertreter des Rechtswesens und il Presi‐ dente als Repräsentant des Finanzwesens. die von Pasolini etablierte Analogie zwischen Sadismus und Faschismus. 424 Die Kritiken beliefen sich in diesem Fall vornehmlich auf den Vorwurf einer Fehl‐ lektüre bzw. Fehlinterpretation des Sade’schen Programms der Libertinage und seiner Philosophie. In der Tat aber richtet sich Pasolini sowohl formal als auch inhaltlich stark nach dem literarischen Modell der 120 Journées de Sodome. Der Aufbau des Films orientiert sich auf nahezu identische Weise an dem des Basistexts. In Sades 120 Journées steht strukturell die Zahl 4 im Mittelpunkt, 425 eine Symbolik, die Paso‐ lini übernimmt. So gibt es bei Sade vier Herren (le Duc de Blangis, le président de Curval, l’évêque de..., Durcet), vier Erzählerinnen (»les historiennes«), vier Töchter, die an einen der jeweiligen Herren verheiratet werden, vier »An‐ standsdamen« (»les duègnes«) und acht sogenannte Ficker (»les fouteurs«); als Opfer werden sowohl acht Mädchen als auch acht Jungen erwählt. Im Film Pa‐ solinis wird diese Verteilung weitestgehend respektiert; so finden sich hier gleichfalls vier Herren (il Duca, il Monsignore, Sua Eccelenza, il Presidente), 426 vier »narratrici« bzw. Erzählerinnen (genau genommen handelt es sich um drei Erzählerinnen und eine Pianistin, die die Erzählungen musikalisch begleitet), 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 157 <?page no="158"?> 427 Donatien-Alphonse-François de Sade: Les 120 Journées de Sodome ou l’école du liberti‐ nage. Préface de Gilbert Lély. Paris: Union Générale d’Éditions 1975, S. 42. Im Folgenden werden Zitate des Werks im Fließtext mit dem Kürzel »120JS« nachgewiesen. 428 Joubert-Laurencin rechnet darüber hinaus die Schlussszene der Folterung aufgrund seiner dramaturgischen Disparatheit als einen weiteren »cercle invisible«, also als im‐ plizit markierten, eigenständigen Höllenkreis. Vgl. Hervé Joubert-Laurencin: Salò ou les 120 journées de Sodome de Pier Paolo Pasolini (s. Anm. 43), S. 81. 429 Horst Albert Glaser: »Sades Les 120 journées de Sodome und Pasolinis Salò o le 120 gi‐ ornate di Sodoma - ein Vergleich« (s. Anm. 45), S. 157. vier Töchter, vier Soldaten und vier Kollaborateure (»collaborazionisti«) und vier Prostituierte (»ruffiane«). Der Figurenapparat Sades wird von Pasolini also im Großen und Ganzen erhalten. Auch die Makrostruktur des Films entspricht jener der 120 Journées de So‐ dome. Sade gliedert das Werk in vier Teile - der erste Teil präsentiert »les cent cinquante passions les plus simples«, 427 der zweite Teil 150 der »passions plus singulières et d’un ou plusieurs hommes avec plusieurs femmes« (120JS 42), der dritte Teil wiederum handelt von den »cent cinquante manies des plus crimi‐ nelles et des plus outrageantes aux lois« (120JS 42) und der vierte schließlich von den »cent cinquante passions meurtrières« (120JS 405) -, welche wiederum in Perioden von dreißig Tagen untergliedert werden (Sade adaptiert in Ab‐ wandlung damit das Modell von Boccaccios Decameron). Pasolini erhält zwar die makrostrukturelle Gliederung der Handlung in vier Teile - den ersten Teil bildet bei ihm das »Antinferno«, den zweiten der »Girone delle manie«, den dritten den »Girone della merda« und den dritten schließlich den »Girone del sangue« -, 428 doch nimmt er - ähnlich wie auch Mirbeau dies tat - durch die Identifizierung der einzelnen Teile als Höllenkreise eine klare Umdeutung ethi‐ scher Natur vor. Qua intertextueller Referenz auf Dantes Divina Commedia wird die Handlung vielmehr als Höllenabstieg markiert: »Was Sade als Beschreibung irdischer Möglichkeiten verstanden wissen will, gerät Pasolini zur fiktiven To‐ pographie eines Infernos - eines Infernos, das freilich Wirklichkeit und zwar historisch verbürgte Wirklichkeit sein soll.« 429 Somit kommt dem Dante-Zitat eine Kommentarfunktion zu, sodass der Sade’sche Katalog aberranter Passionen in einem moralisch-ethischen Referenzrahmen reaktualisiert wird. Dass Sade im Unterschied zu Pasolini vielmehr eine Utopie entfesselter Lust imaginiert, wird deutlich, wenn man die Gestaltung des Raums betrachtet. Schauplatz der orgiastischen Entfesselung ist das entlegene Schloss Silling in‐ mitten des Schwarzwaldes, sodass sich die Teilnehmer sowie Opfer völlig von 2 Textanalysen 158 <?page no="159"?> 430 »[O]n avait choisi une retraite écartée et solitaire, comme si le silence, l’éloignement et la tranquillité étaient les véhicules puissants du libertinage [...]. Il fallait, pour y par‐ venir, arriver d’abord à Bâle; on y passait le Rhin, au-delà duquel la route se rétrécissait au point qu’il fallait quitter les voitures. Peu après, on entrait dans la Forêt-Noire, on s’y enfonçait d’environ quinze lieues par une route difficile, tortueuse et absolument impraticable sans guide. [...] il devenait difficile de pouvoir parvenir à Silling, nom du château de Durcet. Dès qu’on avait passé la charbonnerie, on commençait à escalader une montagne presque aussi haute que le mont Saint-Bernard [...]. Il faut près de cinq grosses heures pour parvenir à la cime de la montagne, laquelle offre là une autre espèce de singularité qui, par les précautions que l’on prit, devint une nouvelle barrière si tellement insurmontable qu’il n’y avait plus que les oiseaux qui pussent la franchir. Ce caprice singulier de la nature est une fente de plus de trente toises sur la cime de la montagne [...]. Durcet a fait réunir ces deux parties, qui laissent entre elles un précipice de plus de mille pieds de profondeur, par un très beau pont de bois, que l’on abattit dès que les derniers équipages furent arrivés: et, de ce moment-là, plus aucune possibilité quelconque de communiquer au château de Silling.« (120JS 57ff.) Schloss Silling ist kaum zugänglich, nur durch extreme Anstrengungen zu erreichen. In gewisser Weise erinnert die Reise der Libertins an jene Candides, der zusammen mit seinem Begleiter Cacambo nur durch Zufall und unter größten Strapazen Voltaires Utopie Eldorado er‐ reichen kann. Schloss Silling scheint vor dem Hintergrund der Utopien der Zeit wie ein pervertiertes Eldorado. 431 Andrejs Petrowski: Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer. Problematische In‐ dividualität in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts. Heidelberg: Winter 2002, S. 219. Zu Sades Les 120 Journées de Sodome als utopischem Entwurf vgl. besonders: ebd., S. 195-213; Horst Albert Glaser: »Sades 120 Tage Utopie«. In: Literaturmagazin 3 (1975), S. 54-71; ders.: »Sades Les 120 journées de Sodome« (s. Anm. 45), S. 150. 432 Joubert-Laurencin betont die Omnipräsenz des Todes als das den Film bestimmende Motiv bzw. als Fixpunkt jeglicher Perspektive: »Le sentiment de la mort environnante, que tout est vu depuis la mort ou par les yeux d’un mort, ou que tous les vivants de cette villa sinistre sont morts depuis le début est, dans Salò, assez prégnant.« (ders.: Salò ou les 120 journées [s. Anm. 43], S. 89f.). Den Tod finden die Opfer damit nicht erst am Ende des Films, nachdem sie unerträgliche Qualen erlitten haben, sondern bereits zu Beginn bei Eintritt in das von Pasolini erdachte Inferno der faschistischen Libertinage. der Außenwelt isoliert finden. 430 Der vollständig hermetisch abgeriegelte Ort wird gleichsam zum symbolischen Raum der Ausschweifung, in dem andere Gesetze gelten als in der Außenwelt: »Burg Silling stellt einen ästhetisch-uto‐ pischen Gegenstaat zur Wirklichkeit dar, der ein vollständiges, geschlossenes und autonomes Universum zu sein beansprucht«. 431 Pasolini übernimmt eben‐ falls die Anlage des Ortes von Sade, d.h. ein Großteil der Handlung (ausge‐ nommen das »Antinferno« als Exposition) spielt sich in einer abgelegenen Villa nahe der Minirepublik Salò, in den Jahren 1943 bis 1945 die Hauptstadt der »Re‐ pubblica Sociale Italiana« Mussolinis, ab. Auf ähnliche Weise wird auch hier der abgeschlossene Raum zu einem hermetisch abgeriegelten Ort der Regel- und Zügellosigkeit, ein Ort der Qualen, der Ausschweifung und des Todes. 432 So heißt es, wenn das Reglement von Il Duca verlesen wird: »Deboli creature incatenate, 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 159 <?page no="160"?> 433 Abgesehen von der Pianistin, die unbewegt in die Tiefe blickt. Dass sie im Unterschied zu den Erzählerinnen offenbar keinen Gefallen an den Reglements findet, die die Herren verlesen, deutet bereits auf ihren Entschluss voraus, am Ende den Freitod zu wählen. 434 Ferner zu den verschiedenen Ebenen, auf denen der Film lesbar wird, vgl.: A. Robert Lauer: »A Revaluation of Pasolini’s Salò«. In: Comparative Literature and Culture 4, 1 (2002), unpag. destinate al nostro piacere, spero non vi siate illuse di trovare qui la ridicola libertà concessa dal mondo esterno. Siete fuori dai confini di ogni legalità. Nes‐ suno sulla terra sa che voi siete qui. Per tutto quanto riguarda il mondo, voi siete già morti.« Dass sich die Opfer ausgehend von diesem Moment dem Joch der Libertinage unterworfen finden, wird gleichwohl in der Gestaltung des Büh‐ nenbilds anschaulich umgesetzt: Die unbewegten Herren und kühl bis kokett lächelnden Erzählerinnen 433 blicken erhaben vom Balkon der Villa hinab auf die versammelten Jugendlichen, während sie von dem Verlust der »ridicola libertà« künden. Nunmehr treten die Opfer unumwunden ein in den ersten Höllenkreis, den »Girone delle manie«, aus dem sie sich nicht mehr befreien können. Auch hier ist wie bei Sade kein Entkommen denkbar, die Außenwelt findet sich voll‐ ständig ausgeschlossen (und nur angelegentlich dringen Motorengeräusche von Fliegern und Kriegslaute durch die Fenster der Villa und bezeugen die Existenz jener externen Welt, die für die Opfer verloren ist). Durch einerseits die Adaption verschiedener Elemente, die im Sade’schen Text bereits existieren, doch andererseits die Modifikation und Rekonfiguration eben dieser eröffnen sich für den Film verschiedene Bedeutungsdimensionen: 434 Erstens wird das Thema des Ursprungstexts inklusive dessen Implikationen aufgerufen, d.h. die utopistische Vision von totalitärer Macht und Libertinage, die Vorstellung von der vollständigen Entfesselung der Leidenschaften, wie sie Sades dekadente Feudalherren des Ancien Régime exemplifizieren. Durch die Reaktualisierung des Stoffes im faschistischen Norditalien der Jahre 1943 bis 1945 stellt Pasolini jedoch zweitens genau jene Analogie zwischen Faschismus und Sadismus her, die Barthes und Calvino kritisierten. Theweleit stellt diesbe‐ züglich fest: Heißt: die Greuel, die de Sade dem französischen Feudaladel zuschreibt, werden von Pasolini weitergeschrieben oder weiter zugeschrieben: der italienischen Bourgeoisie, dem italienischen Faschismus und dem deutschen Faschismus, speziell der SS, von der Pasolini in einem dem Film später hinzugefügten gesprochenen Vorwort sagt, sie habe in der Tat all jene Greuel verübt, die de Sade in seinem Roman beschreibt; das sind alle denkbaren Verbrechen, die das bürgerliche Gesetzbuch festhält wie auch alle se‐ xuell-kriminellen Perversionen, die de Sade in seinem Roman auflistet, und das sind 2 Textanalysen 160 <?page no="161"?> 435 Klaus Theweleit: Deutschlandfilme. Godard. Hitchcock. Pasolini (s. Anm. 44), S. 168. 436 Überdies schreibt Pasolini in La Divina Mimesis: »L’Inferno che mi son messo in testa di descrivere è stato semplicemente già descritto da Hitler« (ders.: La Divina Mimesis. Torino: Einaudi 1975, S. 38). 437 Vgl. Theweleit: Deutschlandfilme. Godard. Hitchcock. Pasolini (s. Anm. 44), S. 170. 438 Pasolini zit. nach Adelio Ferrero: Il cinema di Pier Paolo Pasolini (s. Anm. 43), S. 143. bei de Sade nicht weniger als 4 mal 150, verteilt auf die verschiedenen Perioden der Gewaltfeier, die de Sades Helden organisieren, also sechshundert an der Zahl. 435 Dass in dieser Identifizierung von Faschismus und Sadismus auch im Beson‐ deren der deutsche Nationalsozialismus mitgedacht wird, 436 wird durch die Re‐ ferenz auf den italienischen Ort Marzabotto erkenntlich. Im »Antinferno« wäh‐ rend der Jagd auf die Opfer, die später in die Villa der Herren verschleppt werden, wird ein Ortsschild mit dem Namen eben jener Stadt in der Emilia-Romagna eingeblendet. Dort trug sich de facto im Jahre 1944 ein Massaker durch deutsche Soldaten zu, die unter dem Kommando des Sturmbannführers Walter Reder neunzig Zivilisten erschossen. 437 Drittens formuliert Pasolini damit jedoch nicht nur eine Kritik am Faschismus Italiens bzw. am konkret historischen Faschismus per se, sondern lotet gleichsam auf einer überzeitlichen Ebene die Zusammen‐ hänge von Macht, Totalitarismus und Gewalt aus. Dass Pasolinis Überdruss an der Konsumgesellschaft des Italiens der Nachkriegszeit gleichsam in Salò seinen Ausdruck findet, deutet sich bereits in der Abiura dalla »Triliogia della vita« an. Pasolini stellt in gewisser Weise auch einen Konnex zwischen Macht, Gewalt und Konsum her. So bemerkt er in einem Interview im Rahmen der Biennale in Venedig 1974: In effetti la tolleranza al posto della repressione diretta e poliziesca, è stata una deci‐ sione del potere: lo stesso potere che ha deciso l’inutilità di valori come la Chiesa, la Patria, la Famiglia, la Moralità del risparmio, ecc., in quanto dannosi all’espansione economica e alla figura ideale del consumatore. La tolleranza in campo sessuale ha allargato enormemente i mercati, perché essa è una componente essenziale della »mentalità del consumo«, in cui il soggetto deve essere moderno, laico e quindi anche sessualmente libero: tutti elementi di quell’ideologia neo-edonistica che è tipica della dittatura consumistica totalitaria in quanto totalizzante (e quindi molto più totalitaria, in realtà, dei vecchi fascismi, i quali rendevano retorici e terroristici dei valori che tuttavia, in una società contadina o paleoindustriale, erano reali). 438 Pasolini zufolge ist der Toleranz-Imperativ moderner Gesellschaften vor allen Dingen im Bereich der Sexualität analog zu direkter Unterdrückung nur ein staatliches Machtregulativ, das zugunsten der Durchsetzung einer »neo-hedo‐ nistischen« Ideologie zur Schaffung eines idealen Konsumenten beiträgt. Die 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 161 <?page no="162"?> 439 Pasolini: La Divina Mimesis (s. Anm. 436), S. 32f. 440 Gary Indiana: Salò or The 120 Days of Sodom (s. Anm. 43), S. 79. Diktatur des Konsumismus sei gar noch totalitärer als die des Faschismus, habe jener sich doch noch real existente Werte anverwandelt. Dieser Bezug artikuliert sich im Film in der Prekarisierung der Sexualität, die nicht mehr länger als un‐ schuldig gedacht werden kann, und damit einhergehend der Problematisierung der Macht, die den menschlichen Körper zu einem Objekt macht, über das will‐ fährig verfügt werden kann. In dieser aktualisierenden Perspektive ließe sich die Szene des koprophagen Banketts wohl gleichsam als Metapher der Kon‐ sumgesellschaft lesen. Ein jeder der Anwesenden wird zum Verzehr der gesam‐ melten Exkremente gezwungen; die Herren tun dies mit Gusto, während die Opfer gequält das Gesicht verziehen. Ein jeder wird damit zum mehr oder we‐ niger konsentierenden Teil eines stets arbeitenden Konsumapparats, dessen Symbol für Pasolini das der Scheiße ist: Non mi fu difficile accorgermi che in realtà tutta quella gente, lungo le strade del loro mondo di impiegati, di professionisti, di operai, di parassiti politici, di piccoli intellet‐ tuali, in realtà correvano come matti dietro una bandiera. [...] Si trattava, in realtà, di uno straccio, che sbatteva e si arrotolava ottusamente al vento. Ma, come tutte le bandiere, aveva designato nel suo centro, scolorito, un simbolo. Osservai meglio, e non tardai ad accorgermi che quel simbolo non consisteva in nient’altro che in uno Stronzo. 439 Indiana interpretiert eben auf Basis dieser Metapher Pasolinis jenen Akt der Koprophagie als Bild des Kapitalismus: The salient point of Salò’s banquet is not whether we believe the shit is real, but the fact that everyone has to eat it, regardless of this placement in the hierarchy; those at the top are obliged to demonstrate sophisticated connoisseurship of this most rarefied of meals, and to scoff at the disgust of those below them, like aristocrats amused by a peasant’s aversion to caviar. In this connection, Pasolini’s characterisation of the scene as a metaphor for the consumer society and its processed foods doesn’t sound entirely frivolous. As a model of capitalism, in fact, the consumption of one’s own and other people’s waste could not be more precise, suggesting as it does the exhaustion of less toxic forms of nourishment as well as a reversion to cannibalism. Everyone in the villa is eating everyone else, supposedly to give them ›strength for the battle ahead‹. 440 Die Koprophagie, die bei Sade vielmehr eine Leidenschaft und Form der Trans‐ gression darstellt, wird hier in eine Metapher für das konsumistische Italien 2 Textanalysen 162 <?page no="163"?> 441 Dies ist auch die Antwort Pasolinis in einem Interview mit Gideon Bachmann auf die Frage nach der Bedeutung des skatologischen Motivs: »that the producers, the manu‐ facturers, force the consumer to eat excrement. All these industrial foods are worthless refuse« (Gideon Bachmann/ Pier Paolo Pasolini: »Pasolini on de Sade: An Interview during the Filming of ›The 120 Days of Sodom‹«. In: Film Quarterly 29, 2 [1975/ 76], S. 39-45, hier: S. 45). 442 So verläuft ein Dialog zwischen l’Eccelenza und il Presidente wie folgt: »Il principio di ogni grandezza sulla terra è stato totalmente e lungamente inzuppato di sangue e ancora - amici miei - se la memoria non mi tradisce - sì è così: senza spargimento di sangue non si dà perdono... senza spargimento di sangue! Baudelaire... - Spiacente eccellenza, ma devo farle notare che il testo da lei recitato non è Baudelaire, bensì Nietzsche ed è tratto precisamente da ›Zur Genealogie der Moral‹. - No, non si tratta di Baudelaire, né di Nietzsche, né eventualmente di San Paolo - »›Lettera ai romani‹. C’est di Dadà.« Dieser intellektuelle Austausch wirkt in dem Kontext des Films durchaus sarkastisch, bricht er doch ironisch mit der Grausamkeit des Darstellungsgegenstands. 443 Sabine Hauer/ Peter Themm: »De Sade, der Faschismus und der Film« (s. Anm. 45), S. 85. Ferner erläutern Hauer und Themm detailliert v.a. die Referenzen auf die bildende Kunst. Mit Ausnahme eines Gemäldes Giottos privilegiert Pasolini Bilder italienischer Futuristen bzw. der Avantgarde (Severini, Juan Gris, Carlo Carra, Lyonel Feininger, Giacomo Balla, Sironi), sodass damit qua Referenz indirekt erneut auf die Geburtsstunde des Faschismus verwiesen werde (vgl. ebd., S. 78ff.). umfunktioniert. 441 Dass in Salò auch gezielt die Bourgeoisie angegriffen wird, zeigt sich in den zahlreichen Referenzen auf Kunst, Literatur, Architektur und Philosophie. Die Herren werden als Bildungsbürger gezeigt, die in einer Villa mit Bauhaus-Elementen und Art déco-Möbeln leben und zwischen all ihren grausamen Orgien über vermeintliche Bonmots Baudelaires und Nietzsches dis‐ kutieren. 442 Zur Funktion von eben jenen Referenzen bemerken Hauer und Themm: Ihm [Pasolini] geht es um eine Darstellung der Anarchie der Macht als Ausdruck bürgerlicher Geschichte schlechthin. Er tut dies eben durch solche Verweise auf Li‐ teratur, Philosophie und Theologie, in denen etwa, wie bei Nietzsche, von einem »Herrschaftsgebilde« die Rede ist, »das lebt, in dem Teile und Funktionen abgegrenzt und bezüglich gemacht sind«; oder, wie bei Baudelaire, von der »natürlichen Grau‐ samkeit der Liebe« gesprochen wird und davon, daß »im Bösen alle Lust zu finden ist.« 443 Kultur wird damit nicht zum Signum des Fortschritts und des Humanums, son‐ dern vielmehr zum Zeichen der Korruption und Grausamkeit. Pasolini flicht auf diese Weise eine deutlich zeitkritische Komponente in den Film mit ein und aktualisiert den Stoff der 120 Journées dergestalt, dass er zum Gegenstand ethi‐ scher Reflexion wird. 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 163 <?page no="164"?> Ein weiteres prominentes Thema sowohl des Textes als auch des Films ist das Erzählen bzw. die Funktion des Erzählens und damit auch der Literatur. Die vier »historiennes« werden im Roman Sades damit betraut, die von ihnen erlebten Exzesse, Orgien, Schandtaten und jegliche Form der Zügellosigkeit in allen De‐ tails zu schildern, zu analysieren und in der gefälligen Form einer Erzählung darzubieten, sodass die Zuhörer sich daran erregen und sodann in der Nachah‐ mung ihre Lust ausleben können. Dem Gehörsinn wird damit im Sade’schen Text eine besondere Reizbarkeit zugeschrieben, denn es ist durch ihn, dass die Imagination und das Begehren entfacht werden: Il est reçu, parmi les véritables libertins, que les sensations communiquées par l’organe de l’ouïe sont celles qui flattent davantage et dont les impressions sont les plus vives. En conséquence, nos quatre scélérats, qui voulaient que la volupté s’imprégnât dans leur cœur aussi avant et aussi profondément qu’elle y pouvait pénétrer, avaient à ce dessein imaginé une chose assez singulière. Il s’agissait, après s’être entouré de tout ce qui pouvait le mieux satisfaire les autres sens par la lubricité, de se faire en cette situation raconter avec les plus grands détails, et par ordre, tous les différents écarts de cette débauche, toutes ses branches, toutes ses attenances, ce qu’on appelle en un mot, en langue de libertinage, toutes les passions. On n’imagine point à quel degré l’homme les varie, quand son imagination s’enflamme. Leur différence entre eux, ex‐ cessive dans toutes leurs autres manies, dans tous leurs autres goûts, l’est encore bien davantage dans ce cas-ci, et qui pourrait fixer et détailler ces écarts ferait peut-être un des plus beaux travaux que l’on pût voir sur les mœurs et peut-être un des plus inté‐ ressants. Il s’agissait donc d’abord de trouver des sujets en état de rendre compte de tous ces excès, de les analyser, de les étendre, de les détailler, de les graduer, et de placer au travers de cela l’intérêt d’un récit. (120JS 41f.) Obgleich die dargebotenen Leidenschaften in all ihren Facetten zunächst aus‐ gebreitet, analysiert und geordnet vorgetragen werden sollen, müssen sie den‐ noch dem Anspruch genügen, Interesse zu erwecken, denn: »Il aurait été trop monotone de les [les passions] détailler autrement et une à une, sans les faire entrer dans un corps de récit« (120JS 75). Vielmehr noch dürfe keine Aus‐ schweifung begangen werden, ohne dass diese vorher in Form eines récit dar‐ geboten würde: »Ne faites surtout jamais rien faire aux quatre amis qui n’ait été raconté« (120JS 446). Zudem wird der Vortrag dieser Erzählungen dramatisch inszeniert: Die historiennes befinden sich während des Erzählaktes auf einem Thron, »placée[s] comme est l’acteur sur un théâtre«, sodass sie für die Zuhörer, »placés dans les niches [...] comme on l’est à l’amphithéâtre« (120JS 60), gut sichtbar sind. Die Darbietung der récits wird damit zu einem dramaturgisch kunstvoll gestalteten Akt, durch den sie in die Sphäre des Ästhetischen über‐ 2 Textanalysen 164 <?page no="165"?> 444 Petrowski: Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer (s. Anm. 431), S. 213. 445 Auf die Tatsache, dass in dieser Ankündigung seitens des Erzählers J.-J. Rousseaus Ou‐ verture der Confessions anklingt, verweist Joubert-Laurencin: Salò ou les 120 journées de Sodome (s. Anm. 43), S. 79. führt werden. Durch die Thematisierung des Erzählakts und dessen Funktion öffnet dich der Text also für eine metapoetische Deutung, sodass »der Text Sades sich als ein zentrales Thema den eigenen ästhetischen Artefaktcharakter setzt«. 444 Sade verweist damit qua mise en abyme auf die Wirkungsabsicht der 120 Journées de Sodome selbst; der ideale Leser wird dazu angehalten, es den Libertins gleichzutun: C’est maintenant, ami lecteur, qu’il faut disposer ton cœur et ton esprit au récit le plus impur qui ait jamais été fait depuis que le monde existe, le pareil livre ne se rencontrant ni chez les anciens ni chez les modernes. Imagine-toi que toute jouissance honnête ou prescrite par cette bête dont tu parles sans cesse sans la connaître et que tu appelles nature, que ces jouissances, dis-je, seront expressément exclues de ce recueil et que lorsque tu les rencontreras par aventure, ce ne sera jamais qu’autant qu’elles seront accompagnées de quelque crime ou colorées de quelque infamie. Sans doute, beaucoup de tous les écarts que tu vas voir peints te déplairont, on le sait, mais il s’en trouvera quelques-uns qui t’échaufferont au point de te coûter du foutre, et voilà tout ce qu’il nous faut. […] Ceci est l’histoire d’un magnifique repas où six plats divers s’offrent à ton appétit. Les manges-tu tous? Non, sans doute, mais ce nombre prodigieux étend les bornes de ton choix, et, ravi de cette augmentation de facultés, tu ne t’avises pas de gronder l’amphitryon qui te régale. Fais de même ici: choisis et laisse le reste, sans déclamer contre ce reste, uniquement parce qu’il n’a pas le talent de te plaire. Songe qu’il plaira à d’autres, et sois philosophe. Quant à la diversité, sois assuré qu’elle est exacte; étudie bien celle des passions qui te paraît ressembler sans nulle différence à une autre, et tu verras que cette différence existe et, quelque légère qu’elle soit, qu’elle a seule précisément ce raffinement, ce tact, qui distingue et caractérise le genre de libertinage dont il est ici question. (120JS 74f.) Der Erzähler kündigt ein Projekt an - und zwar das eines »récit le plus impur qui ait jamais été fait« 445 -, dessen Skandalträchtigkeit er sich bewusst ist (»beaucoup de tous les écarts que tu vas voir peints te déplairont«). Und doch liege gerade in der Diversität der vorgestellten Passionen der Totalitätsanspruch des Textes begründet: Jener präsentiere sich wie ein reiches Buffet, das sämtliche Geschmäcker, so verschieden sie auch sein mögen, zu befriedigen vermag. Ein jeder »ami lecteur«, qua Anrufung in Komplizenschaft verwickelt, finde derge‐ stalt Gefallen an den Erzählungen, »qui [l’]échaufferont au point de [lui] coûter 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 165 <?page no="166"?> 446 Hierzu auch Kleine: »Hinter der Idee, den gesamten Kosmos der sensiblen Polymorphie auszuleuchten, - so daß jedes Laster, jede Verirrung des Sexuellen, jede Perversion zur Sprache kommen muß - steckt tatsächlich der Vorsatz, jedem Leser im Text das ihm gemäße perverse Zeichen zu bieten.« (Sabine Kleine: Zur Ästhetik des Häßlichen. Von Sade bis Pasolini [s. Anm. 45], S. 13). 447 In seinem Aufsatz »Sade ou le philosophe scélérat« prägte Pierre Klossowski den Begriff der »geste du pervers«, wobei der Ausdruck synonym zu denken ist mit dem, was Sade unter »Passion« bzw. »Manie« verstand. Jene perverse Geste bzw. dessen Ausführung sei der Fokus allen libertinen Begehrens: »le pervers se distingue par une idée fixe dé‐ terminée, quoique ce ne soit pas encore l’idée au sens que Sade développera. Dans le contexte de ce que l’on nomme alors le ›libertinage‹ rien n’est moins libre que le geste du pervers. Car si l’on entend par libertinage la pure et simple propension à l’orgie si dénuée de scrupules qu’elle puisse être, le désir du pervers ne s’y assouvit jamais aut‐ rement que par le goût scrupuleux pour un détail, par la recherche scrupuleuse d’un détail, par un geste qui va scrupuleusement à ce détail, et dont le souci échappe à ceux qui se livrent aux déchaînements d’appétits frustes. Le pervers poursuit l’exécution d’un geste unique; c’est l’affaire d’un instant. L’existence du pervers devient la perpétuelle attente de l’instant où pouvoir exécuter ce geste« (Pierre Klossowski: »Sade ou le philo‐ sophe scélérat«. In: ders.: Sade mon prochain précédé de Le philosophe scélérat. Paris: Éd. du Seuil 1967, S. 15-54, hier: S. 29). 448 Sabine Kleine: Zur Ästhetik des Häßlichen (s. Anm. 45), S. 13. du foutre«. 446 Die Wirkungsabsicht Sades ist damit eine pornographische, näm‐ lich den Leser zu treffen, zu erregen - und dies vollzieht sich durch das obszöne Zeichen bzw. die »perverse Geste«. 447 Natürlich setzt dies jedoch gleichsam die Effektivität der perversen Geste voraus. Das obszöne Zeichen muss dem Leser lustvoll erscheinen, um überhaupt Erregung erzeugen zu können, andernfalls schlägt die Wirkung um in Abscheu: »Die perverse Geste ist spezifisch. Nur dem Eingeweihten springt an ihr Erregung auf. Jenseits der Komplizität bleibt das perverse Zeichen stumm, nichtssagend, verschlossen.« 448 Dem nicht initiierten Leser ist Sades Katalog aberranter Leidenschaften ein unassimilierbares Arte‐ 2 Textanalysen 166 <?page no="167"?> 449 Das Skandalon der Sade’schen Philosophie besteht wohl vor allen Dingen in der Tat‐ sache, dass er das Böse, d.h. jegliches Verbrechen und jegliche Form der Ausschweifung, rational zu legitimieren sucht (das Sade’sche Böse ist damit in Kantianischen Termini als radikal böse zu verstehen, d.h. das Böse wird mit aller Bewusstheit zur Maxime des eigenen Handelns erhoben). So wird der Zerstörungswille - und damit auch der Mord - bei Sade zu einem Naturgesetz: »La destruction étant une des premières lois de la nature, rien de ce qui détruit ne saurait être un crime. [...] le meurtre n’est point une destruction, celui qui le commet ne fait que varier les formes, il rend à la nature des éléments dont la main de cette nature habile se sert aussitôt pour récompenser d’autres êtres« (Sade: La Philosophie dans le boudoir ou les instituteurs immoraux. Présentation, notes, chronologie et bibliographie par Jean-Christophe Abramovici. Paris: Flammarion 2007, S. 64). Die grausame Mutter Natur dient damit als Referenzpunkt innerhalb der libertinen Logik des Verbrechens. Gleichwohl ist es aber auch die Natur, gegen die sich der Libertin aufzulehnen sucht: »O toi, force aveugle et imbécile, quand j’aurais exter‐ miné sur la terre toutes les créations qui la couvrent, je serais bien loin de mon but, puisque je t’aurais servie, marâtre, et que je n’aspire qu’à me venger de ta bêtise ou de la méchanceté que tu fais éprouver aux hommes, en ne leur fournissant jamais les moyens de se livrer aux affreux penchants que tu leur inspires« (zit. nach Maurice Blanchot: Lautréamont et Sade. Paris: Éd. de Minuit 1963, S. 40). Ferner zu Sades ambi‐ valentem Verhältnis zur Natur vgl. Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit (s. Anm. 19), S. 204-212. 450 Ebd., S. 211f. fakt bösen Schreibens, das verbrecherische Lust und den Zerstörungswillen zur anthropologischen Grundkonstante erhebt. 449 Wenn Les 120 Journées de Sodome damit bereits den dem Werk angemessenen Rezeptionsmodus vorgibt, wird der Text selbst zu einer Handlungsanweisung oder - in der Bildlichkeit Safranskis - zu einem ansteckenden Virus, der den Leser befällt: Der Marquis de Sade hat eine Darstellung des Bösen gegeben, die zur bösen Darstel‐ lung wird - jedenfalls war dies der Traum des Autors. Er wollte ein Schreiben erfinden, das selbst ein Akt des Bösen ist. Die Kräfte der Verführung und Zerstörung sollten sich im Text sammeln, und jeder, der damit in Berührung kommt, sollte davon ange‐ steckt werden, wie man von einer Krankheit infiziert wird. Die Literatur sollte zur Penetration werden. Mit der Vernunft wollte er seinen Spott treiben, ihre Fackel sollte der dunklen Leidenschaft voranleuchten. So wurde Sade zum umgekehrten Auf‐ klärer. 450 Allein in der Verführung zur Ausschweifung bzw. in der moralischen Korruption erschöpft sich die Wirkungsästhetik Sades jedoch nicht. Vielmehr verhandelt sie implizit die Wirkmacht der Imagination und damit auch der kreativen Schöpfung überhaupt. Durch die Insistenz auf der Bedeutsamkeit des Erzählakts zur Beförderung der libertinen Imagination wird gleichsam der ästhetische Ge‐ 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 167 <?page no="168"?> 451 Analog erklärt die gelehrige Schülerin des Libertins Dolmancé, Eugénie, in La Philoso‐ phie dans le boudoir: »plus nous voudrons être agitées, plus nous désirerons nous émou‐ voir avec violence, plus il faudra donner carrière à notre imagination sur les choses les plus inconcevables; notre jouissance alors s’améliora en raison du chemin qu’aura fait la tête« (Sade: La Philosophie dans le boudoir [s. Anm. 449], S. 60). 452 Petrowski: Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer (s. Anm. 431), S. 219. Und doch ist nicht auszuschließen, dass auch Sades Text - ähnlich wie Salammbô - durchaus konkrete Zeitbezüge codiert und damit nicht allein als ästhetizistisches Textkonstrukt avant la lettre zu verstehen ist. Dass Sade durchaus Mechanismen der Feudalgesellschaft seiner Zeit mitdenkt, bemerkt z.B. Theweleit: Deutschlandfilme. Godard. Hitchcock. Pa‐ solini (s. Anm. 44). nuss gegenüber der tatsächlichen physischen Lust privilegiert. Der Sade’sche Libertin scheint in diesem Licht wie eine Präfiguration des prototypischen Äs‐ theten à la des Esseintes, denn nur durch die kunstvermittelte Überschreitung kann die Imagination befördert und damit das Unvorstellbare, das ultimative Verbrechen erdacht werden. 451 Wie Petrowski argumentiert, scheint es nur kon‐ sequent, dass die transgressiven Erzählungen im Anschluss in die Tat umgesetzt werden, denn »der Anspruch Sades [sei] nicht allein eine metaliterarische Re‐ flexion auf die Funktionsweise der Einbildungskraft und der Literatur [...], son‐ dern der Ersatz der realen Welt durch eine der freien geistigen Kreation«. 452 Auch diese Dimension des Sade’schen Textes wird von Pasolini mitgedacht. In Salò sollen die Geschichten der »narratrici« als Stimulans fungieren und zur Realisierung angestauter Begierden anregen. So heißt es bei der Verlesung des »regolamento«: »Puntualmente alle sei tutta la compagnia dovrà riunirsi nella sala detta ›delle orgie‹ dove le narratrici a turno si siederanno a raccontare og‐ nuna una serie di racconti su un tema particolare. Gli amici possono interrom‐ pere in qualunque punto e tutte le volte che lo vorranno. Questa narrazione ha l’obiettivo di infiammare l’immaginazione e ogni lascivia sarà permessa.« Ebenso wird der Erzählakt selbst zu einem theatralischen Spektakel inszeniert. So wie bei Sade sich die Zuhörer wie in einem Amphitheater zum genussvollen Lauschen der durch die »historiennes« vorgetragenen Erzählungen einfinden, so postiert sich auch bei Pasolini das Publikum am linken und rechten Rand der sala delle orgie, an deren hinterem Ende sich mittig eine Treppe befindet, die die prunkvoll kostümierten und stark geschminkten Erzählerinnen zu Beginn ihres jeweiligen Turnus dramatisch herabsteigen, um sich auf einen Stuhl zur Rechten der Treppe zu setzen. Neben dem »Thron« der Erzählerin befindet sich das Kla‐ vier, auf dem die Pianistin die vorgetragenen »racconti« musikalisch unterlegt. Das Bühnenbild mutet damit wie eine Guckkastenbühne an, wobei die vierte »Wand« figural unbesetzt bleibt. Wie im Theater wird damit auch der Zuschauer 2 Textanalysen 168 <?page no="169"?> 453 Einen Zusammenhang zwischen Salò und Teorema von Pasolini und Artauds Theater der Grausamkeit stellte bereits Deleuze her, insofern eine Bildsprache entwickelt würde, bei der formale Denkprozesse durch sensorisch-figurative ersetzt würden. Vgl. Gilles Deleuze: Cinema II. The Time-Image. Translated by Hugh Tomlinson and Robert Galeta. Minneapolis: University of Minnesota Press 1989, S. 174. 454 Vgl. Joubert-Laurencin: Salò ou les 120 journées (s. Anm. 43), S. 84. 455 Ferrero: Il cinema di Pier Paolo Pasolini (s. Anm. 43), S. 150. So schreibt auch Michael E. Williams: »But what makes Pasolini’s film exceptional is the coldness of the treatment. There is no pity. Any laughter on the screen is loud, forced and mirthless. For the audience there are no giggles, nothing lubricious or suggestive. Nothing is left to the imagination and so one cannot escape into fantasy, one is forced to watch what is taking place, the director is torturing his audience.« (ders.: »Pasolini: The Last Days«. In: New Blackfriars 59, 694 [March 1978], S. 123-126, hier: S. 124). 456 Indiana: Salò or The 120 Days of Sodom (s. Anm. 43), S. 57. 457 Vgl. Hauer/ Themm: »De Sade, Faschismus und der Film « (s. Anm. 45), S. 76. in dem von Pasolini inszenierten théâtre de la cruauté  453 als unsichtbare, aber im Arrangement implizierte Instanz mitgedacht. 454 Auf diese Weise findet sich die Sade’sche Wirkungästhetik filmisch umgesetzt. Was bei Pasolini jedoch in gewisser Weise absent ist, ist die Leidenschaft orgiastischer Entfesselung, die rasende Begierde, die durch die Erzählungen entfacht werden soll. Tatsächlich erweisen sich die von den vier »signori« in Salò begangenen Überschreitungen vielmehr als mechanische Ausführungen zuvor verbalisierter Ideen denn als spontane Ausbrüche angestauter Lust, die ein Ventil sucht (allein im Finale könnte der entfesselte Sadismus der Herren als Exaltiertheit gedeutet werden). Die Komplizenschaft, die Pasolini zwischen dem Zuschauer und den im Film gezeigten Figuren herstellt, ist anderer Natur als die durch Sade konstruierte: Dieser sucht einerseits, das Verbrechen und die Über‐ schreitung qua Vernunft rational zu rechtfertigen, andererseits vermittels der perversen Geste explizit die Lust des Lesers zu aktivieren. Pasolini hingegen verhandelt die Ausschweifungen seiner Figuren im Modus der Indifferenz: »La volontà di ›scandalo‹ [...] ritorna in Salò decantata, della passione e della rabbia autobiografica, in una gelida distanza governata al suo interno da un’orche‐ strazione geometrica e impassibile«. 455 Salò stellt, wie Indiana beobachtet, viel‐ mehr einen voyeuristischen als einen empathischen Bezug her. 456 Pasolinis Wir‐ kungsabsicht besteht nicht in der Verführung zum Laster, sondern in der Implikation des Lesers als distanzierten und doch verwickelten Zeugen. Dabei erweist sich für den Film die Frage nach der Perspektive bzw. nach dem Identifikationsangebot besonders problematisch. Wie Hauer und Themm be‐ obachten, kann aufgrund regelmäßiger Wechsel der Kameraperspektive zwi‐ schen Opfer und Herren oder statischer Kameratotale kaum ausgemacht werden, ob sich eine Erzählperspektive privilegiert findet. 457 Und doch scheint 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 169 <?page no="170"?> 458 Zur Konturlosigkeit der Jugendlichen als Figuren auch Indiana: »The question of what any of these young people may think is in store for them is never explored in Salò, any more than are their subjective states later on. One of this film’s jarring aspects, as I’ve already indicated, is its utter absence of characters, of personalities. Pasolini quite cor‐ rectly said that if he had generated sympathy for the victims with a lot of weeping and pathos, the film would have been unbearable, but there were diverse possibilities of, if not ›humanising‹ the characters, at least investing them with enough monadic infor‐ mation that we could accept the idea that Salò’s violations happen to human entities rather than symbolic figures, bodies emptied of souls and emptied of brains as well.« (ders.: Salò or The 120 Days of Sodom [s. Anm. 43], S. 52). 459 Pasolini selbst bemerkt hierzu, dass er bewusst auf Pathos bei der Darstellung der Opfer verzichtet habe, da der Film den Zuschauer sonst überfordert hätte: »I have not shown victims whose side the viewer could be on. Pity would have been horrible as an element in this film, nobody would have stood for it. People who cry and tear their hair out would have made everybody leave the cinema after five minutes. In any case, I don’t believe in pity« (Bachmann/ Pasolini: »Pasolini on de Sade« [s. Anm. 441], S. 44). sich die Perspektive der Libertins geradezu aufzuzwingen, da die Opfer als Fi‐ guren erstaunlich konturlos bleiben und in ihrer Geschichts- und Individuali‐ tätslosigkeit allein auf die ihnen zugeschriebene Funktion reduziert bleiben: nämlich als objektifizierter Körper. 458 Ausschließlich Renata scheint sich von der identitätslosen Masse der Jugendlichen abzuheben, insofern ihre Figur mit einer individuellen Geschichte versehen wird. Und jene wird besonders bedeutsam in der Szene, in der Signora Maggi von den koprophilen Leidenschaften erzählt und erläutert, wie sie ihre Mutter, die sie von ihrer Libertinage abzuhalten suchte, tötete. Renata, deren Mutter bei dem Versuch ihre Tochter zu retten ums Leben kam, beginnt daraufhin in schmerzvoller Reminiszenz an ihren Verlust zu weinen. Dieser emotionale Ausbruch trägt ihr jedoch die unheilvolle, sadis‐ tische Lust des Duca ein, der sie in der Folge zum Verzehr seiner Exkremente zwingt. Bei dieser Sequenz handelt es sich wohl um eine der wenigen Momente, in denen sich die ohnehin kaum erträgliche Darstellung der sadistischen Ausschweifung durch Pathos bis zu den Grenzen des Erträglichen gesteigert findet. Die Qualen, die Renata zu durchleiden hat, scheinen vor dem Hinter‐ grund ihres persönlichen Leids noch unaussprechlicher. Unter diesem Blick‐ punkt würde es unvorstellbar scheinen, den Film in voller Länge zu ertragen, wenn konsequent die Opferperspektive mitberücksichtigt würde. 459 Doch ge‐ rade die Absenz eines empathischen Blickwinkels trägt zu der Unbehaglichkeit bei, die im Zuschauer durch die Unmöglichkeit, sich mit einer Vertreterfigur zu identifizieren, die seine moralisch-ethischen Werte vertritt, erzeugt wird. So bieten sich nur wenige Möglichkeiten: »The only protagonists with whom we may ›identify‹ are monstrosities, and the only ›look‹ that approximates that of 2 Textanalysen 170 <?page no="171"?> 460 Indiana: Salò or The 120 Days of Sodom [s. Anm. 43], S. 56. 461 Braidt weißt dies anhand der folgenden Stelle des Textes nach, welche als exemplarisch gelten kann, vgl. Andrea B. Braidt: »Komplizierte Verhältnisse. Drei Thesen zu Pier Paolo Pasolinis Salò oder die 120 Tage von Sodom (I 1975)«. In: Doris Kern/ Sabine Nessel (Hg.): Unerhörte Erfahrung. Texte zum Kino. Festschrift für Heide Schlüpmann. Frankfurt am Main: Stroemfeld 2008, S. 375-388, hier: S. 380f.: »Duclos s’avance, toute fière d’une préférence aussi marquée. Elle retrousse son bras jusqu’au coude et, empoignant l’é‐ norme instrument de monseigneur, elle se met à le secouer, la tête toujours découverte, à le remuer avec tant d’art, à l’agiter par des secousses si rapides et en même temps si proportionnés à l’état dans lequel elle voyait son patient qu’enfin la bombe éclate sur le trou même qu’elle doit couvrir. Il s’en inonde; le duc crie, jure, tempête. Duclos ne se démonte pas; ses mouvements se déterminent en raison du degré de plaisir qu’ils pro‐ curent. Antinoüs, placé à dessein, fait pénétrer délicatement le sperme dans le vagin, à mesure qu’il s’écoule, et le duc, vaincu par les sensations les plus délicieuses, voit, en expirant de volupté, mollir peu à peu dans les doigts de sa branleuse le fougueux membre dont l’ardeur venait de s’enflammer si puissamment lui-même« (120JS 116; meine Her‐ vorhebung). Im Text wird eine sprachliche Nahaufnahme des Geschlechtsakts geleistet, Details werden überzeichnet, quasi im ›Makromodus‹ abgebildet. the viewer is the occasional, inexpressive gaze of a child-victim caught in un‐ expected close-up«. 460 Distanziert verhält sich auch Pasolinis Umgang mit der Darstellung des Ge‐ schlechtsakts. Obzwar der Film wegen seiner pornographischen Inhalte zensiert wurde, kann im Falle von Salò nicht von Pornographie im eigentlichen Sinne die Rede sein. Wie Braidt in ihrer Untersuchung des Films nachweist, bedient sich Pasolini bestimmter Darstellungsmodi, die jenen der ›gemeinen‹ Porno‐ graphie zuwiderlaufen: Die konventionelle Pornographie ziele (sowohl filmisch als auch erzählerisch) auf die Erregung des Zuschauers/ Lesers ab, indem sie Geschlechtsorgane und den Akt selbst bzw. dessen Repräsentamen wie Körper‐ flüssigkeiten (z.B. Ejakulat) durch sogenannte »meat shots« oder »come shots« in Großaufnahme darstellt, bisweilen gar überzeichnet. Während der Sade’sche Text den Geschlechtsakt en détail abbilde, 461 verzichte Pasolini jedoch auf die Bildsprache des Pornos. Zweifelsohne sind sexuelle Handlungen und Ge‐ schlechtsorgane zu sehen, doch kaum so, dass sie im Makromodus das gesamte Bild ausfüllen würden. Braidt stellt diesbezüglich fest: Salò zeigt keine lusterfüllten Genitale, keine Nahaufnahmen von Penissen oder Va‐ ginas. Die Genitale sind in Totalen oder Halbtotalen narrativisierte Folterwerkzeuge bzw. Folteropfer, es wird nicht ihre Materialität visualisiert, sondern ihre Funktiona‐ lität erzählt. [...] die Erzählung von Penetration zum Beispiel hat gegenüber ihrer Vi‐ sualisierung, so könnte man thesenhaft formulieren, einen stark semantisierenden Charakter. Während das Zeigen des eindringenden Penis im Porno durch die faktische, oft »hyperauthentisch« kodierte (man denke an das Subgenre des Amateurpornos) 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 171 <?page no="172"?> 462 Andrea B. Braidt: »Komplizierte Verhältnisse« (s. Anm. 461), S. 382. 463 Paolo Russo: »Beyond Perverse Allegiance« (s. Anm. 46), unpag. 464 Bei Russo heißt es: »I argue that Salò is not detached at all; instead, it replaces pleasure with shock by activating modes of the viewer’s engagement through narrative and visuals that are, at least originally, specific to pornography, and by subsequently re‐ versing them in meaning and function.« (ebd.) 465 Klaus Theweleit: Deutschlandfilme. Godard. Hitchcock. Pasolini (s. Anm. 44), S. 179. 466 Ebd., S. 181. Präsenz der »Fleischlichkeit« einen erregenden Reiz-Reaktionsmechanismus auszu‐ lösen sucht, will Pasolini den Gewaltaspekt der Penetration durch die Kontextuali‐ sierung in der Geschichte der Demütigungen, die der Film erzählt, herausarbeiten. 462 Russo wiederum stellt fest, dass es sich bei ca. 40 Prozent der Einstellungen des Films (im Besonderen in den Szenen, in denen die Erzählerinnen ihre Ge‐ schichten darbringen) um Close-ups handele - und damit um eine pornogra‐ phiespezifische Filmsprache. 463 Doch ein Großteil dieser Close-ups fasst ent‐ weder die ermatteten bzw. leidenden Gesichter der Opfer oder die exaltiert bis verstörend grinsenden Antlitze der Herren ins Bild, welche vielmehr die jewei‐ ligen Gemütszustände abbilden, als damit lustvolle Erregung im Zuschauer zu aktivieren. Doch kann Russo sicherlich insofern zugestimmt werden, dass Pa‐ solinis Inszenierung des Geschlechtsakts bzw. der Sexualität darauf abzielt, wenn nicht Erregung - wie es bei der Pornographie der Fall ist -, Schockmo‐ mente zu produzieren und gerade durch die Funktionalisierung originär por‐ nographischer Techniken neue Bedeutungsspielräume zu eröffnen. 464 Denn der Geschlechtsakt bzw. die Sexualität als solche findet sich bei Pasolini radikal prekarisiert. Salò präsentiert den lebensbejahenden »Eros« als völlig dem Zerstörungstrieb, Thanatos, unterworfen. Die Erregung der Libertins ent‐ zündet sich nicht mehr am menschlichen Körper per se, sondern nur an dem in Agonie zuckenden, wehrhaften Objekt-Körper, über den mit Willfährigkeit ver‐ fügt wird. Theweleit sucht dieses Phänomen mit dem Ausdruck »Sexualität als Gewalt« 465 zu beschreiben. Pasolini decke in Salò Strukturen »›faschistischer‹ Feier-Gewalt und Gewalt-Feier in der Geschichte« auf: sie [die Sexualdelinquenten des biblischen Sodom, die folternden Feudalmonster de Sades, die Faschisten des 20. Jahrhunderts] inszenieren Folterungen oder lassen sie vor ihren Augen inszenieren, sie schauen, sie lachen; in einer schematisierten Bewe‐ gung fährt ihre Hand zur Hose - oder unter das, was sonst grad ihre Schwänze bedeckt; denn: nur Gewalt- oder Todesbilder führen zum angestrebten Abspritzen. Auf die rabiate Verdeutlichung dieses Punkts steuert Pasolinis Inszenierung unbeirrt wieder und wieder zu. 466 2 Textanalysen 172 <?page no="173"?> 467 Als der Monsignore des Nachts das Zimmer der Jungen inspiziert, fragt ihn eines der Opfer erschrocken, was die Herren mit ihm vorhätten. Dieser antwortet, dies entscheide sich am Folgetag. Um sich zu schützen, verrät der Junge, dass eines der Mädchen, Gra‐ ziella, ein Foto unter ihrem Kopfkissen aufbewahre. Als der Monsignore daraufhin eben diese aufsucht, um ihr das Foto abzunehmen, denunziert diese wiederum zwei ihrer Leidensgenossinnen, Eva und Antinisca, die jede Nacht gemeinsam in leidenschaftli‐ cher Umarmung verbringen. Auch diese werden in Flagranti erwischt und schwärzen ihrerseits Ezio an, einen der Soldaten, welcher nachts die »schwarze Dienerin« (»serva negra«) aufsucht (diese Liaison deutet sich bereits zu Beginn des Films an, als sich beide während der Verlesung des Reglements intensiv anblicken). 468 Theweleit zufolge stellt die Kommunistenfaust das alleinige »Hoffnungsbild« des Films dar, d.h. sie diene als politisches Symbol, das als einziges die Herren in Entsetzen er‐ starren lasse (vgl. Klaus Theweleit: Deutschlandfilme. Godard. Hitchcock. Pasolini [s. Anm. 44], S. 204f.). 469 Sade: La Philosophie dans le boudoir (s. Anm. 449), S. 73. Dass Sexualität im Film tatsächlich nicht mehr als eine lebensbejahende, ur‐ sprüngliche Form positiver Verausgabung gedacht werden kann, lässt sich auch anhand der Tatsache nachweisen, dass jegliche Form des einverständlichen und/ oder besonders auch des vaginalen, heterosexuellen Verkehrs geahndet wird (»Qualunque uomo trovato in flagrante delitto con una donna verrà punito con la perdita di un arto«). So beginnt kurz vor dem Finale des Films eine Serie der Denunziation, in der sich die Opfer gegenseitig der eigenen Vergehen entlarven, um einer Bestrafung durch die vier Libertins zu entgehen. 467 So wird Ezio, der beim Verkehr mit der Dienerin ertappt wird, umgehend für seinen Übertritt - den wohl einzigen heterosexuellen Penetrationsakt des Films - mit dem Tod bestraft, nachdem er in einem Gestus der Auflehnung die Herren mit der Kom‐ munistenfaust herausfordert. 468 Sowohl im Pasolinianischen als auch Sade’schen Sexualsystem kommt dem sodomitischen Akt eine besondere Bedeutung zu. Bei Sade ist die Sodomie Teil der libertinen Triade der Ausschweifung, welche wie folgt lautet: »la sodomie, les fantaisies sacrilèges et les goûts cruels«. 469 Der Logik des Sade’schen Libertins Dolmancé in La Philosophie dans le boudoir zufolge ist gerade der sodomitische Akt im Sinne der grausamen, zerstörerischen Natur, welche sich indifferent gegenüber ihrer eigenen Schöpfung und deren Selbst‐ erhalt verhält: La destruction est donc une des lois de la nature comme la création; ce principe admis, comment puis-je offenser cette nature, en refusant de créer. [...] ah! loin d’outrager la nature, persuadons-nous bien au contraire que le sodomite et la tribade la servent, en se refusant opiniâtrement à une conjonction, dont il ne résulte qu’une progéniture fastidieuse pour elle. Cette propagation, ne nous trompons point, ne fut jamais une 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 173 <?page no="174"?> 470 Ebd., S.104f. 471 Ebd., S. 107. 472 Klossowski: »Sade ou le philosophe scélérat« (s. Anm. 447), S. 31f. de ses lois, mais une tolérance tout au plus, je vous l’ai dit; et que lui importe que la race des hommes s’éteigne ou s’anéantisse sur la terre; 470 Die Sodomie findet sich durch das Zerstörungsprinzip der Natur legitimiert. Und in der ihr inhärenten Transgressivität gegenüber der moralischen Norm wird sie zur libertinen Sexualpraxis par excellence: »non, non, il n’est point dans le monde entier une jouissance qui vaille celle-là; c’est celle des philosophes, c’est celle des héros, ce serait celle des dieux, si les parties de cette divine jouissance n’étaient pas elles-mêmes les seuls dieux que nous devions adorer sur la terre! « 471 Klossowski im Besonderen stellte die Bedeutsamkeit der Sodomie im Sade’schen Denken heraus, indem er die Ambivalenz des sodomitischen Akts als sowohl Imitation als auch Verspottung des der Fortpflanzung bestimmten Geschlechtsakts aufzeigte: En revanche, la sodomie se prononce par un geste spécifique de contre-généralité, le plus hautement significatif aux yeux de Sade: c’est celui qui frappe précisément la loi de propagation de l’espèce et qui témoigne ainsi de la mort de l’espèce dans un indi‐ vidu. Non pas seulement d’une attitude de refus, mais d’une agression: tout en étant le simulacre de l’acte de génération, il en est la dérision. Dans ce sens il est également simulacre de destruction qu’un sujet rêve d’exercer sur un autre du même sexe par une sorte de transgression mutuelle de leurs limites. [...] En cherchant à déchiffrer le geste du pervers, Sade établira le code de la perversion. Le signe-clé lui en est révélé par sa constitution propre, celui du geste sodomite. De près ou de loin pour Sade, tout gravite, autour de ce geste, le plus absolu par ce qu’il a de mortel pour les normes de l’espèce et en quelque sorte d’immortel par son recommencement; le plus ambigu en ce qu’il n’est concevable que par l’existence de ces normes; le plus apte à la trans‐ gression qui ne peut s’effectuer que par l’obstacle de ces normes. 472 Der sodomitische Gestus ist Klossowski zufolge Signifikant sowohl des Sterbli‐ chen und der Zerstörung - in dem Maße, wie er selbstzweckhaft nicht der Fort‐ pflanzung und damit dem Erhalt der menschlichen Spezies dient - als auch des Unsterblichen, da sich dieser Gestus unendlich oft wiederholen lässt. Dabei ist die Sodomie als inhärent doppelbödig zu verstehen, gewinnt sie doch erst durch ihre Abhängigkeit von den sozialen Normen, die sie verletzt, ihr transgressives Potential. Diese Deutung Klossowskis findet sich nahezu wortwörtlich in Salò 2 Textanalysen 174 <?page no="175"?> 473 Zu Pasolinis Rezeption Klossowskis vgl. Bachmann/ Pasolini: »Pasolini on de Sade« (s. Anm. 441), S. 44: »I’ve picked some excerpts at random, for example the things he [Klossowski] says about gestures, the gesticulations of love, or eros, which eternally repeat themselves. The code of repetitiousness, which for example brings him to the conclusion that sodomitic gestures are the most typical of all, because they are the most infertile, the most useless. It’s the most gratuitous, and thus most expressive of the infinite repetition of the act of love, and at the same time the most mechanical.« 474 Klaus Theweleit: »Was nicht mit den Augen zu sehen ist. Mythen und Homosexualität in Pasolinis Salò oder die 120 Tage von Sodom«, zit. nach: Andrea B. Braidt: »Komplizierte Verhältnisse« (s. Anm. 461), S. 382. 475 Andrea B. Braidt: »Komplizierte Verhältnisse« (s. Anm. 461), S. 383. wieder. 473 Il Duca bemerkt: »Il gesto sodomitico è il più assoluto per quanto contiene di mortale per la specie umana, e il più ambiguo perché accetta le norme sociali per infrangerle. [...] il gesto del sodomita ha vantaggio di poter essere ripetuto migliaia di volte.« In seiner grenzenlosen Wiederholbarkeit und inhä‐ renten Transgressivität wird der sodomitische Akt auch bei Pasolini zum Signum der Libertinage und gleichsam der Atemporalität und Unausweichlich‐ keit der Pasolinianischen Höllenkonzeption. Gegen eine Deutung des sodomi‐ tischen Akts als Gestus der - wie Klossowski es formuliert - »contre-généralité« bzw. als »Akt transgredierenden Protests« 474 mit den Worten Theweleits argu‐ mentiert Braidt: M. E. ist jedoch die These überzeugender, daß sich Pasolini mit dem obsessiven Einsatz des Analverkehrs in einem vorwiegend homosexuellen Szenario die Homophobie des Publikums zunutze machen wollte. Pasolini stellt faschistische und neofaschistische Macht dar, in dem er das Politische in einer metonymischen Verschiebung als das Sexuelle, das sexuell Perverse darstellt. SALÒ ODER DIE 120 TAGE VON SODOM, so meine These, geht von der Annahme aus, daß die für das Publikum perfideste Praxis hetero- und homosexueller Analverkehr ist. Möchte man, in anderen Worten, im Pub‐ likum die größtmögliche Abscheu hervorrufen, so zeige man ihm das tiefgehendste Abjekte. 475 Braidts Korrekturvorschlag der These Theweleits, dem zufolge es sich bei der Darstellung der Sodomie um eine Provokationsstrategie handele, die neofa‐ schistische Macht und sexuelle Perversion gleichschalte, setzt jedoch genauso wie Klossowskis und Theweleits Interpretation voraus, dass der sodomitische Akt bzw. dessen Inszenierung als Skandalon bzw. Normverstoß wahrgenommen wird. Überdies überzeugt es kaum, dass neben unzähligen weiteren Bildern von sadistischer Folter, Koprophagie und Vergewaltigung gerade der Analverkehr als das »tiefgehendste Abjekte« des Films zu klassifizieren ist. Ferner geht es Pasolini weniger darum, die Sexualpraxis der Sodomie als originäre, universale 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 175 <?page no="176"?> 476 Pier Paolo Pasolini: Petrolio. Torino: Einaudi 1992, S. 318f. Perversion darzustellen, sondern vielmehr deren Pervertierung zum Machtre‐ gulativ zu veranschaulichen. Denn die Sexualität verliert erst dann ihre Un‐ schuld, wenn sie als Instrument der gewaltsamen Inbesitznahme und Unter‐ werfung missbraucht wird. Inwiefern Pasolini den Geschlechtsakt, im Besonderen den sodomitischen Akt, als Vorgang versteht, in dem sich Macht- und Besitzansprüche artikulieren, wird deutlich in seinem unvollendeten Roman Petrolio: L’atto sessuale era una forma di rapido possesso, qualche volta artificialmente prot‐ ratto. [...] L’atto restava, appunto, episodico; era un’esperienza violenta, inesprimi‐ bilmente necessaria e quindi immensa, ma parziale. Il possedere un corpo implica la limitatezza di quel corpo. E anche una sua valutazione quasi economica: esso appare come ›un tanto‹ [...]. Certo, l’amore come bisogno di protezione mascherato dalla volontà di proteggere, tende ad allagare il senso ›limitato‹ dell’atto sessuale come penetrazione del pene nel corpo posseduto per il breve tempo necessario alla eiacu‐ lazione. [...] Il corpo posseduto è un’entità che sta tra le braccia; è misurato dallo sguardo. È uno strumento che finito di usare, si mette da parte per la prossima volta. [...] l’essere posseduti è una esperienza cosmicamente opposta a quella del possedere. [...] Chi possiede non comunica se non illusoriamente con chi è posseduto [...]. D’altra parte neanche chi è posseduto comunica con chi lo possiede: perché quest’ultimo non gli si presenta come un’entità limitata, un individuo. [...] E non si può comunicare con il tutto! Perché è il tutto, appunto, che possiede, attraverso il pene e la sua violenza. Chi è posseduto perde la coscienza della forma del pene, della sua compiutezza limitata, e lo sente come un mezzo infinito e informe, attraverso cui Qualcosa o Qualcuno si impadronisce di lui, lo riduce a possesso, a un nulla che non ha altra volontà che quella di perdersi in quella diversa Volontà che lo annulla. [...] L’intero corpo, la cui coscienza dall’interno è illimitata perché coincide con quella dell’universo, è coinvolto dalla violenza con cui colui che possiede si manifesta, e che non conosce pietà, mezzi ter‐ mini, rispetto, proroghe: la sua voglia di possedere non concede limiti a chi è posse‐ duto, che deve essere ciecamente passivo, obbediente, e a cui tutt’al più, anche nella sofferenza e la degradazione, può essere solo concesso di manifestare la sua gratitu‐ dine. D’altra parte è fuori discussione che il Possesso è un Male, anzi, per definizione è IL Male: quindi l’essere posseduti è ciò che è più lontano dal Male, o meglio, è l’unica esperienza possibile del Bene, come Grazia, vita allo stato puro, cosmico. Che tuttavia viene quando vuole e se ne va quando vuole. Ma anche questo suo capriccio è mera‐ viglioso, innocente, e lascia colui che è posseduto in uno stato di attesa che, ancora, lo riempie di gratitudine, lo spinge a un pianto purificatore. 476 2 Textanalysen 176 <?page no="177"?> Für Pasolini lässt sich der Vorgang des Geschlechtsakts mit ökonomischen Ter‐ minologien beschreiben: Beim Körper desjenigen, der in Besitz genommen wird, handelt es sich um ein Etwas (»un tanto«), eine Art ›Ware‹, die bemessen und abgeschätzt wird (»misurato dallo sguardo«), derer sich der Besitznehmende nach Belieben bedient (»È uno strumento che finito di usare, si mette da parte per la prossima volta«). Dabei definiert Pasolini den Akt der Inbesitznahme als gewaltsame Unterwerfung des zum Besitz reduzierten, penetrierten, passiven Körpers, dessen Individualität negiert wird. Gleichsam wird das Verhältnis von Besitzer und Besitz auf die ethisch-moralische Ebene überführt. Die gewaltvolle, inbesitznehmende Beherrschung wird als das Böse schlechthin und - im Um‐ kehrschluss - das Inbesitzgenommenwerden als einzige Erfahrungsmöglichkeit des Guten, als Zustand der Unschuld konzipiert. Wenn Pasolini also in Salò zeigt, wie die libertinen Herren sich gewaltsam an den passiv auftretenden, entindi‐ vidualisierten Jugendlichen bzw. an ihren Körpern vergehen, dann inszeniert er genau die Form von machtvoller Inbesitznahme durch körperliche Penetration, die er in Petrolio beschreibt. Und indem diese einstmals unschuldigen Opfer ihrerseits zu Denunzianten und Kollaborateuren werden, wird die Möglichkeit der Korruption des Guten durch das Böse vorgeführt. Erst durch die Instru‐ mentalisierung des Sexus zu Zwecken der Machtdemonstration und Gefügig‐ machung wird der Geschlechtsakt zur Perversion. Den Höhepunkt der sadistischen Folterorgie stellt das Finale dar: eine Serie von drei längeren Sequenzen, in denen die Herren abwechselnd einen am Fenster gelegenen Thron besteigen, um von dort aus die Folterungen im In‐ nenhof der jeweils anderen Herren an den Jugendlichen mit einem Fernglas zu beobachten. Zunächst begibt sich Il Duca auf den Thron und beobachtet, wie einem Jungen die Genitalien und anschließend der an den Boden gefesselten Renata die Brüste mit einer Kerze verbrannt werden. Währenddessen bleibt die Pianistin im Saal der Erzählungen zurück und begleitet das Spektakel musika‐ lisch, bis sie abrupt abbricht, aufsteht, in eines der oberen Geschosse steigt, ein Fenster öffnet und sich - nachdem sie ob dessen, was sie draußen erblickt, er‐ schreckt - schließlich hinausstürzt. Die darauffolgende Kameraeinstellung zeigt sie tot am Boden liegend. In der Folge kehrt die Erzählung wieder zurück zu Il Duca, der die Geschehnisse im Hof verfolgt: Einem Jungen wird die Zunge ab‐ geschnitten und ein Mädchen sodomisiert und anschließend erhängt, wobei die Kamera den Blick durch das Fernglas simuliert. In der nächsten Sequenz befindet sich Il Presidente auf dem Thron und verfolgt lüstern grinsend, wie einem Jungen das Auge mit einem Messer herausgeschnitten wird, nur um daraufhin einen Bolschewistenscherz zum Besten zu geben. Während auch die Soldaten im Hof sich zu amüsieren scheinen und weitere Mädchen vergewaltigt bzw. 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 177 <?page no="178"?> 477 Hierbei handelt es sich um keine willkürliche Wahl seitens Pasolinis: Carl Orff (1895- 1982) und sein Opus, insbesondere seine Kantate Carmina Burana, wurden sehr lang mit dem Nationalsozialismus assoziiert. Hitler selbst soll die Carmina Burana geschätzt haben. Vgl. Michael H. Kater: »Carl Orff im Dritten Reich«. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 43, 1 (1995), S. 1-35, hier: S. 3. 478 So zitiert Pasolini im Interview mit Bachmann die entsprechende Passage aus dem Film: »›each one of us will in turn have the philosophical pleasure of contemplation, the particularly abject pleasure of complicity, and the supreme pleasure of action.‹« (Bach‐ mann/ Pasolini: »Pasolini on de Sade« [s. Anm. 441], S. 42). skalpiert werden, bricht der Präsident in exaltiert-erregtes Gelächter aus. Hier‐ nach besteigt nun Sua Eccelenza den Thron und richtet seinen Blick auf den Monsignore, der, scheinbar vor Wut völlig außer sich, die Jugendlichen aus‐ peitscht. Daraufhin beginnen die drei in Bademäntel gehüllten Herren einen Revuetanz, während im Hintergrund Carl Orffs Carmina Burana, genauer der Satz »Veris leta facies« tönt. 477 Nach einem Schwenk durch das mit Bildern ge‐ schmückte Innere des Thronzimmers wird erneut der Blick durch das Fernglas auf einen mit Brandeisen malträtierten Jungen freigegeben. Schließlich erfolgt ein finaler Schnitt zu den beiden Soldaten, die in der Villa den voyeuristischen Herren beiwohnten und nun zu dem Foxtrott zu tanzen beginnen, der schon zu Beginn des Films erklang. Einer der Soldaten fragt den anderen, wie seine Freundin heiße, woraufhin dieser antwortet: »Margherita«. Diese letzte Sequenzserie bringt die orgiastische Libertinage der sadistischen Faschisten zu einem blutigen Ende. Das spezifische Arrangement dieser letzten Folterorgie soll ein möglichst umfassendes Gesamterlebnis ermöglichen: Jeder soll sowohl in der voyeuristischen Kontemplation versinken können, als auch in den Genuss der Komplizität und schließlich der Aktion kommen. So betätigen sich die Herren abwechselnd als Zuschauer, Komplizen und Henker. 478 Das Bri‐ sante an diesem Finale ist wohl die Tatsache, dass der Zuschauer als Komplize ebenfalls involviert wird: Durch den Übergang in die Fernglasperspektive wird der Blick des Voyeurs simultan der des Zuschauers. Hauer und Themm be‐ merken: Der Zuschauer sieht mit den Augen des beobachtenden Herren, sieht mithin sich in das filmische Geschehen unversehens hineingezogen, findet sich in der Rolle des sa‐ distischen Voyeurs, welcher sich an den Marterungen delektiert. Eingeschnitten in diese größtmögliche Annäherung an die Sichtweise der Protagonisten sind Zwi‐ schenszenen, in denen der Zuschauer die Herren selbst bei ihren Beobachtungen be‐ obachtet. Die Identifikation mit der Perspektive des Voyeurs wird also gebrochen 2 Textanalysen 178 <?page no="179"?> 479 Hauer/ Themm: »De Sade, Faschismus und der Film« (s. Anm. 45), S. 87. 480 Das kaum als klassisch schön zu bezeichnende Äußere des Schauspielers Aldo Valletti kommt der Rolle des Präsidenten zugute. Das abjekte Begehren des faschistischen Li‐ bertins scheint sich damit in der irregulären Physis, dem schielenden Lächeln, in dem schlechte Zähne aufblitzen, zu spiegeln. So auch Theweleit: »Besonders im Gerichts‐ präsidenten hat Pasolini ein Gesicht vor die Kamera bekommen, das geeignet ist, den Zuschauer dazu zu bringen, sich jedes weitere Lachen, das er im Leben von sich geben möchte, zweimal zu überlegen. Ein grausamer Grimasseur des Horrorgenusses, dessen infantilisierte Zerrvisage einem selbst in den Bilderspeicher fährt, daß man alle Lust verliert an weiteren ›Studien‹ des menschlichen Gesichts.« (Klaus Theweleit: Deutsch‐ landfilme. Godard. Hitchcock. Pasolini [s. Anm. 44], S. 202). 481 Sabine Kleine-Roßbach: »Literaturkörper - Filmkörper: Sades 120 journées de Sodome und Pasolinis Salò o Le 120 giornate die Sodoma«. In: Peter Kuon (Hg.): Corpi/ Körper. Körperlichkeit und Medialität im Werk Pier Paolo Pasolinis. Frankfurt am Main et al.: Lang 2001, S. 127-137, hier: S. 129. 482 Vgl. A. Robert Lauer: »A Revaluation of Pasolini’s Salò« (s. Anm. 434), unpag. Hierzu auch Serafino Murri: »In chi guarda non può esserci innocenza, poiché lo sguardo par‐ tecipa a ciò che vede: in quanto testimone è sempre (che lo accetti o no) moralmente coinvolto.« (ders.: Pier Paolo Pasolini. Salò o le 120 giornate di Sodoma [s. Anm. 43], S. 101). durch die Perspektive auf den Voyeur, durch den Anblick des jeweils erregten und belustigten Herren. 479 Dieser durch den Schnittwechsel erzeugte Bruch mit der voyeuristischen Per‐ spektive wirkt umso grausamer durch den Kontrast zwischen dem vom Zu‐ schauer erfahrenen Schrecken angesichts der inszenierten Marterungen und der sichtlichen Erregung der Herren, welche damit den Rezeptionsmodus der ge‐ nießerischen Kontemplation vorgeben. Besonders abschreckend wirkt dabei wohl der Präsident, dessen lüstern lächelnde, geifernde Fratze am eindrucks‐ vollsten die perverse sadistische Lust abbildet. 480 Durch die besondere Inszenierung des voyeuristischen Blicks wird der Akt des Sehens als schuldhaft vorgeführt. Durch die forcierte Identifikation mit der fatalen Lust der Herren wird der Zuschauer zum Komplizen, der zu einer Re‐ flexion seiner Rolle als beteiligter Zeuge des Bösen angeleitet wird, wenn das Fernglas unvermittelt umgekehrt und das Geschehen für einen Moment ver‐ kleinert dargestellt wird. Wie Sabine Kleine-Roßbach erläutert, führe Pasolini damit »jene artifizielle Distanzierung des Blicks vor, die die voyeuristische Auf‐ reizung angesichts des Grauenhaften zuallererst ermöglicht«. 481 Doch jene In‐ version des Sehinstruments rückt vor allen Dingen den Zuschauer in seiner ambivalenten Funktion als Voyeur/ Komplize in den Mittelpunkt des Interesses, macht ihn sowohl zum Betrachter als auch zum Betrachteten und impliziert ihn dergestalt in das Geschehen. 482 Der einzige Weg, sich dieser schuldhaften Mit‐ 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 179 <?page no="180"?> 483 Vgl. auch Hervé Joubert-Laurencin: Salò ou les 120 journées (s. Anm. 43), S. 85. 484 Vgl. Sabine Kleine-Roßbach: »Literaturkörper - Filmkörper« (s. Anm. 481), S. 129f. Murri hingegen interpretiert die erhabene Fernglasperspektive gleichsam als Symbol der Distanz, die zwischen den Phantasien de Sades und der nazifaschistischen Gewalt liegen, die in ihrer realhistorischen Grausamkeit die Sade’sche Imagination ungleich übertreffe: »è evidente che la trovata della visione binoculare assume nell’idea pasoli‐ niana un valore fortemente simbolico, assieme all’uso frequente di vetri e setti che separano il luogo della strage dal luogo della visione: come se la ›soggettività libera indiretta‹ di Sade fosse impossibilitata a un contatto reale con la crudeltà della storia dell’epoca di Auschwitz, in cui le fantasie dello scrittore ›maledetto‹ sono state sur‐ classate in numero e intensità dalla ragion politica del nazifascismo.« (ders.: Pier Paolo Pasolini [s. Anm. 43], S. 100). 485 Sabine Kleine-Roßbach: »Literaturkörper - Filmkörper« (s. Anm. 481), S. 130. täterschaft zu entziehen, scheint in einer radikalen Absage an das Sehen zu liegen. Dies veranschaulicht der Freitod der Pianistin, die sich aus dem Fenster stürzt, nachdem sie vermutlich gesehen hat, was sich im Innenhof ereignet. Sie fungiert damit in gewisser Weise als Stellvertreterfigur für den Zuschauer, der ebenso an die Grenzen des Erträglichen stößt und sich von seiner eigenen Kom‐ plizenschaft nur dann befreien kann, wenn er den Film abbricht. 483 Indem Pa‐ solini also den voyeuristischen Blick der Herren auf das Kameraobjektiv über‐ trägt und dieses schließlich umkehrt, reflektiert er einerseits das Prinzip des Voyeurismus und artikuliert andererseits durch die Engführung von eben diesem und dem Filmgenuss seine eigene Wirkungspoetik und den modus ope‐ randi von Salò. 484 Das Primat des Visuellen, das das Finale des Films auszeichnet, wird unter‐ stützt durch die Ausblendung des Tons. Zwar werden die Schlusssequenzen musikalisch unterlegt, doch die Stimmen sowohl der Herren als auch ihrer Opfer bleiben ungehört. Kleine-Roßbach beobachtet: Kein hörbarer Rest bleibt vom grauenhaften Schmerz der Opfer von Salò, ihre Schreie erscheinen einzig in der optischen Verkürzung: in aufgerissenen Mündern, verzerrten Gesichtern, sich windenden Leibern. Da das Leiden verstummt, fügt Pasolini den Körpern der Opfer von Salò jenes Moment der Fühllosigkeit, Taubheit, Apathie ge‐ genüber dem Schmerz an, das überdeutlich Sades Figuren eignete. 485 Doch ist es nicht nur die Stimme der Opfer, die verstummt, sondern gleichsam die der Folterer: Weder der Schmerz, noch die Lust des Henkers können verba‐ lisiert werden. Insofern scheint Pasolinis Finale wie eine Transposition à la lettre von Bohrers Konzeption einer Ästhetik des Bösen, da sich der Schrecken in Form von schweigenden Bildern manifestiert - Bilder des schieren Entsetzens, die sich der Versprachlichung und damit auch der Sinnstiftung entziehen. In diesem Licht wird auch die letzte Sequenz in all ihrer Banalität als Weigerung inter‐ 2 Textanalysen 180 <?page no="181"?> 486 Hauer/ Themm: »De Sade, Faschismus und der Film« (s. Anm. 45), S. 89. 487 Als »Banalität des Bösen« bezeichnet Hannah Arendt den Zustand der Selbstverges‐ senheit, bei dem das Ich nicht mehr in Dialog mit sich selbst tritt und somit nicht zu einer Reflexion seiner Handlungen fähig ist. Das Böse, d.h. das moralisch Verwerfliche, ist nicht mehr heroisch, tragisch oder gar ›ästhetisch‹, sondern schlicht und ergreifend banal. Vgl. Hannah Arendt: Die Banalität des Bösen. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Aus dem Nachlass hg. von Jerome Kohn. Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Ludz, Mit einem Nachwort von Franziska Augstein. München: Piper 2006. 488 In gewisser Weise fungieren die zwei tanzenden Soldaten als Mahnfiguren, die in ihrer Abgestumpftheit und Indifferenz den ›falschen‹ Umgang mit dem, dessen sie Zeugen wurden, exemplifizieren. Ex negativo würde damit der ›richtige‹ Rezeptionsmodus vorgegeben: Die eigene Implikation und Schuldhaftigkeit muss kritisch reflektiert werden; die in Salò vorgeführte Gewalt darf nicht zur Trivialität werden. Damit ist aber die Zuschauerposition eine prekäre: Denn wenn man die sich im Verlauf des Films einstellende Erwartungshaltung als Prozess der Gewöhnung bzw. Abstumpfung ver‐ steht, besteht die einzige Möglichkeit, sich dieser schuldhaften Komplizenschaft zu entziehen, darin, den Film abzubrechen. Eine derartig radikale Verweigerung wäre aber ebenso unfruchtbar wie der Suizid der Pianistin: Zwar wird auf diese Weise die indivi‐ duelle Integrität zumindest partiell restituiert, doch ist diese Form der Absage keine produktive im Sinne einer Umkehrung der bestehenden Verhältnisse. pretierbar, das soeben Vorgeführte zu kommentieren und in einen Sinnzusam‐ menhang zu stellen. Indem Pasolini den einen Jungen den anderen tanzend und scheinbar unbeteiligt nach dem Namen seiner Freundin fragen lässt, kreiert er einen starken Kontrast zwischen der oberflächlichen Trivialität des kurzen Di‐ alogs der beiden Soldaten und den vorangehenden bösen Bildern. Die scheinbare Unbezüglichkeit dieser Schlussszene verhindert jegliche Form der kathartischen Entlastung, lässt den Zuschauer vielmehr fragend und angespannt zurück. Und jene Spannung, die Pasolini aufbaut und unaufgelöst lässt, enthalte Hauer und Themm zufolge eine ethische Frage, die Pasolini an den Zuschauer heranträgt: »Wieviel Lakonismus, wieviel Unbekümmertheit können wir uns leisten ange‐ sichts der Abgründe in uns und um uns, ohne schuldhaft-fahrlässig die Rollen der Opfer ebenso wie die der Herren einzunehmen? « 486 Die letzte Erkenntnis, die sich damit dem Zuschauer aufdrängt, ist die Einsicht in die »Banalität des Bösen« 487 oder genauer: in die Tatsache, dass sich hier Folterexzesse und Gewalt normalisiert finden. 488 Der Schluss, der die Frage nach dem Bezug des Gezeigten zum Vorherigen aufwirft, will ein Zuschauerengagement incentivieren, und zwar eine Reflexion über den Zusammenhang von Macht, Unschuld, Korpora‐ lität und Sexualität im Konnex mit Faschismus, gleichwohl aber auch über die Möglichkeit der Normalisierung und damit der Reaktualisierung des Bösen auf einer überzeitlichen Ebene. Mit der Allusion an »Margherita«, die als Referenz 2.3 Pasolinis Salò und der Marquis de Sade 181 <?page no="182"?> 489 Vgl. A. Robert Lauer: »A Revaluation of Pasolini’s Salò« (s. Anm. 434), unpag. zu Goethes Faust lesbar ist, 489 wird dann ein letztes Mal die Vorstellung von korrumpierter Unschuld evoziert. Die Frage, die sich in Bezug auf Pasolinis Schockverfahren stellt, ist, inwiefern diese eine kritische Betrachtung und Deutung des von Pasolini inszenierten Nexus von faschistischer Gewalt und Sadismus fördern, oder - im Gegenteil - gar behindern. Wie eingangs erwähnt sind Barthes zufolge die in Salò gezeigten Bilder in ihrer kruden Materialität bar jeder Symbolik und eröffnen keinen in‐ terpretativen Weltzugang. Die schiere Bildgewalt obstruiere damit auch die kri‐ tische Reflexion. Die vorangehende Analyse hat jedoch gezeigt, dass es Pasolini nicht allein um eine Schockästhetik um der Provokation willen gelegen ist, son‐ dern dass er über die offensichtliche Analogie von Faschismus und Sadismus hinaus eine Symbolik entwickelt, in der die Körper der Henker und die der Opfer nicht nur für sich selbst stehen, sondern zu Signifikanten der Macht, respektive der Unterwerfung werden. Ein jeder an den Opfern verübter Gewaltakt wird damit nicht als Ausdruck libertiner Lust an der Überschreitung lesbar, sondern als Manifestierung eines unbegrenzten Machtwillens, als symbolische Inbesitz‐ nahme, wie sie charakteristisch ist für jegliche Form der totalitären Machtaus‐ übung (und dies nicht nur im Faschismus, sondern auch in dem von Pasolini als ebenso diktatorisch empfundenen Zeitalter des Konsumismus bzw. gar in allen Zeiten). Freilich wird jedoch erst vor dem Hintergrund komplementärer bzw. vorheriger Schriften Pasolinis das koprophage Bankett als Metapher des Kon‐ sumismus lesbar - eine Deutung, die sich dem Zuschauer ob der schieren Ekel‐ erfahrung im Moment der Rezeption sicherlich zunächst verwehrt. Dass die extreme Anschaulichkeit des Films das Moment der reflexiven Interpretation unterdrückt, belegen sowohl Rezensionen der Zeit als auch der bereits zitierte Erlass des »Ministero del Turismo e dello Spettacolo« (»immagini così aberranti e repugnanti [...] che [...] sopraffanno la tematica ispiratrice del film sull’anar‐ chia di ogni potere«). Der immediaten sinnlichen Erfahrung, wie sie der Film ermöglicht, kann eine reflexive Interpretation stets nur a posteriori erfolgen. Auf Basis der spezifischen Rhetorik des Films, die den Zuschauer zum Kom‐ plizen zu machen sucht, erhält aber gerade jener Schock einen autonomen Er‐ kenntniswert. Besonders durch die Induktion von Ekel als ungewollte Näheer‐ fahrung wird das Abjekte (wenn auch nur virtuell) in den unmittelbaren Bannkreis des Sehenden gebracht. Qua Wiederholung und theatraler Inszenie‐ rung wird das Skandalon perverser (Folter-)Lust gleichzeitig seiner punktuellen Historizität (als geschichtlicher Moment zu Zeiten des Faschismus) und damit seiner relativen Entrücktheit beraubt und vielmehr im Modus einer mechani‐ 2 Textanalysen 182 <?page no="183"?> 490 Eugenio Bolongaro spricht von einer »Demokratisierung« des literarischen Diskurses: »Lo scrittore non punta più, seguendo la lezione di Calvino, ad alzare costantemente il livello cognitivo del discorso, ma piuttosto si adegua o meglio riconosce ed accetta lo spazio ed il livello che condivide con il lettore.« (Eugenio Bolongaro: »Appunti per una rilettura dei cannibali« [s. Anm. 48], S. 189). 491 Vgl. Stefania Lucamante: »Introduction: ›Pulp,‹ Splatter, and More: The New Italian Narrative of the Giovani Cannibali Writers«. In: dies. (Hg.): Italian Pulp Fiction. The New Narrative of the Giovani Cannibali writers. London 2001, S. 13-37, hier: S. 14. schen Ritualisierung auf einer universalen Ebene inszeniert. Gewalt als Be‐ standteil eines Rituals bedarf außer sich selbst keinerlei Legitimation. Auf den ersten Schock einer als unerträglich empfundenen Nähe stellt sich eine Form des sekundären Schocks ein - und zwar des Entsetzens angesichts der Mög‐ lichkeit einer unreflektierten Normalisierung der Gewalt, der unkritischen Par‐ tizipation an der Perversion und deren Wiederholbarkeit. Es sei dahingestellt, inwiefern die von Pasolini konkret zur Anschauung gebrachte Analogie von Faschismus und Sadismus in Anbetracht der Disproportionalität der tatsächli‐ chen Geschehnisse während des Holocausts und der Sade’schen Utopie ge‐ lungen ist. Doch bringt er auf schockierend eindringliche, sinnlich erfahrbare Weise, bis zu den Grenzen des Erträglichen, die Korruption der Macht als das Böse per se zum Ausdruck. 2.4 Gioventù cannibale: Aldo Nove und Niccolò Ammaniti 2.4.1 Blut, Sex, Gewalt und Konsum: Die giovani cannibali und die letteratura pulp Mitte der 90er-Jahre, genauer 1996, erschien im Rahmen der Reihe »Stile libero« des Verlages Einaudi eine Anthologie, die unter dem Titel Gioventù cannibale. La prima antologia italiana dell’orrore estremo, herausgegeben von Daniele Brolli, Erzählungen verschiedener junger Autoren versammelte, die mit einer besonderen Blutrünstigkeit nahezu sämtliche Maßstäbe der modernen Höhen‐ kammliteratur in der Tradition Italo Calvinos verabschiedeten. 490 Dabei wurde die vermeintliche Subversivität dieser neuen Literatur der sogenannten giovani cannibali durchaus unterschiedlich bewertet: Teils wurde sie von der Kritik als nur vorübergehend populäre Modeerscheinung betitelt, die nach kurzer Hoch‐ phase schnell in der Bedeutungslosigkeit versinken würde, teils als revolutionär gefeiert. 491 Dabei schreiben sich die jungen Autoren, namentlich Niccolò Am‐ maniti, Aldo Nove, Tiziano Scarpa, Isabella Santacroce, Daniele Lutazzi, Luisa Brancaccio, Matteo Galiazzo, Simona Vinci, Silvia Ballestra und Francesca Maz‐ 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 183 <?page no="184"?> 492 Bolongaro: »Appunti per una rilettura dei cannibali: Avanguardia, pubblico ed etica in Bagnoschiuma di Aldo Nove« (s. Anm. 48), S. 187. 493 Vgl. ebd. 494 Der Begriff »cannibale« erweist sich dabei in zweierlei Hinsicht als passend: Einerseits kolportiert er die Idee der Absorption bzw. Aneignung und Mutation fremder bzw. ver‐ schiedenartiger Elemente anderer Medienerzeugnisse; andererseits meint der Begriff jedoch auch eine blutrünstige Person, was in Bezug auf den Horrorbzw. Splatteranteil der letteratura cannibale gleichermaßen treffend ist (vgl. Marino Sinibaldi: Pulp. La let‐ teratura nell’era della simultaneità [s. Anm. 47], S. 70). Aufgrund dieser Bedeutungs‐ vielfalt, die im Kern bereits dem poetologischen Konzept der giovani scrittori entspricht, bevorzugen diese den Begriff »cannibali« (vgl. Lucamante: »Introduction: ›Pulp,‹ Splatter, and More« [s. Anm. 491], S. 15). 495 Clive Bloom zit. nach Lucamante: »Introduction: ›Pulp,‹ Splatter, and More« (s. Anm. 491), S. 16. 496 Clive Bloom zit. nach ebd. zocato, zunächst in einen - trotz aller Vagheit des Begriffes - ›typisch postmo‐ dernen‹ Diskurs ein, insofern sie sich frei an Genres der Massenbzw. Popkultur bedienen (Bolongaro nennt dies »sdoganamento di generi considerati paralet‐ terari«), 492 Vulgär- und Populärsprache mit hochgradig lyrischer Literatur‐ sprache kombinieren und zwischen unterschiedlichen Affektivitäten bzw. To‐ nalitäten schwanken, d.h. zwischen Momenten höchster Euphorie und kältester Indifferenz alternieren. 493 Nicht selten laufen die Texte der cannibali  494 auch unter dem Label »pulp«, was wörtlich übersetzt so viel bedeutet wie »Brei«, traditionell jedoch (im Englischen) solche Texterzeugnisse bezeichnet, die auf Papier von schlechter Qualität gedruckt sind, d.h. Massenliteratur von Fantasy, Horror, Sciencefiction über Krimi bis hin zum Liebesroman. In der Literatur‐ kritik hingegen bezeichnet der Begriff einen vernachlässigten Teil jener pop‐ kulturellen Literaturerzeugnisse, die durch die Privilegierung kanonischer Texte ausgeschlossen wurden (so formuliert es Clive Bloom: »the term vaguely ex‐ presses a field of popular publishing neglected through the overemphasis placed upon canonic texts« 495 ). Schließlich meint der Begriff jedoch auch die »exemp‐ lary instance of mass culture’s propensity to debase everything and exalt the lowest common denominator«. 496 Eingang in das literaturkritische Vokabular fand der Terminus nicht zuletzt aufgrund der Nähe der Schreibverfahren der cannibali zu Darstellungstechniken des Films Pulp Fiction (1994) vom italie‐ nisch-amerikanischen Regisseur Quentin Tarantino, der gleichsam Elemente 2 Textanalysen 184 <?page no="185"?> 497 1996 fand unter der Leitung Alessandro Bariccos ein Symposium mit dem Titel »Narrare dopo Pulp Fiction« statt. Der Film Tarantinos war damit endgültig als Maßstab für die Generation pulp geadelt worden (vgl. ebd., S. 16; Filippo La Porta: La nuova narrativa italiana. Travestimenti e stili di fine secolo [s. Anm. 47], S. 261f.). Freilich ist der Verweis auf Tarantinos Film im Kontext des literaturkritischen Diskurses jedoch mehr prakti‐ scher denn deskriptiver Natur, da er zwar einen unmittelbaren Analogiebezug herstellt, jedoch nicht zwingend als ›Urmodell‹ Pate stehen kann (vgl. Lucamante: »Introduction: ›Pulp,‹ Splatter, and More« [s. Anm. 491], S. 17). Gleichermaßen bestehen Parallelen zu amerikanischen Autoren wie v.a. Bret Easton Ellis, dessen bekanntester Roman Ame‐ rican Psycho (1991) ebenfalls der Literatur des italienischen pulp nahesteht (vgl. ebd., S. 31). 498 Vgl. Luigi Matt: »Appunti sparsi sulla narrativa italiana cosidetta cannibale (o pulp)«. In: Nuova corrente 55 (2008), S. 277-314, hier: S. 291. 499 Filippo La Porta: »The Horror Picture Show and the Very Real Horrors: About the Italian Pulp«. In: Stefania Lucamante (Hg.): Italian Pulp Fiction. The New Narrative of the Gio‐ vani Cannibali writers. London 2001, S. 57-75, hier: S. 58. der Pop- und Massenkultur bzw. -literatur verarbeitete. 497 Aufgrund der Tat‐ sache, dass der Film darüber hinaus eine Reihe an äußerst blutigen Gewaltszenen enthält, wurde der Begriff des pulp in der Folge quasi synonym mit dem des splatter, Bezeichnung für ein Subgenre des Horrorfilms, das sich durch die häu‐ fige und graphische Darstellung von blutrünstiger Gewalt auszeichnet. 498 Der spezifische »Stil« des pulp lässt sich nun mit La Porta wie folgt zusam‐ menfassen: [...] we tend to consider contemporary Pulp to be an Italian cultural production (lite‐ rary, visual etc.) that utilizes or recycles low-brow materials linked to the masses and excludes the language of the artistic élite. Also, very important to its configuration, is its connection to the cultural sub-discourses on the strips and soap operas. In parti‐ cular, this production derives its propensities for strong plots, very basic psychology, and, lastly, a gothic profusion of blood from mass culture products. It does so, however, with a specific consciousness and a use of irony that allow for Italian Pulp narrative to expand from the static seriality of a cultural sub-discourse specific to the genre. In this cultural production, we thus witness an unconventional mixture of avant-garde and consumerism, of standardization and transgression, of the language of commer‐ cials and that of scholarly pursuits. 499 Pulp ist also eine Bewegung der Extreme: exzessive Gewalt, Vulgärsprache, ge‐ paart mit einem niedrigen Grad an Komplexität auf Ebene der Handlungsfüh‐ rung und Figurenentwicklung. Bemerkenswert ist dabei jedoch vor allen Dingen 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 185 <?page no="186"?> 500 Lucamante bezeichnet dies auch als »Kontamination« durch die Medien (»contaminatio from media«), siehe Lucamante: »Introduction: ›Pulp,‹ Splatter, and More« (s. Anm. 491), S. 22. Bei Sinibaldi stellt die »contaminatio« gleichfalls eines von drei Konstitu‐ tivmerkmalen des pulp dar: »Contaminazione, velocità e sorpresa sono le componenti decisive di questo stile narrativo. Quando anche uno solo dei tre si smarrisce, vengono alla luce le debolezze e i cliché narrativi. E soprattutto finisce per decantarsi quella miscela di reale e inverosimile, di ordinarietà e di eccesso, di convenzione e di distacco critico-ironico il cui inestricabile intreccio è invece un decisivo, suggestivo connotato pulp.« (Marino Sinibaldi: Pulp. La letteratura nell’era della simultaneità [s. Anm. 47], S. 63). 501 Wie Verfahren, die ursprünglich der TV-Mediation zuzuordnen sind, quasi narrativ umgesetzt werden, erläutert Irina O. Rajewsky: Intermediales Erzählen in der italieni‐ schen Literatur der Postmoderne (s. Anm. 47). 502 Vgl. Filippo La Porta: La nuova narrativa italiana (s. Anm. 47), S. 260. auch der stark ausgeprägte (Massen-)Medienbezug: 500 seien dies Referenzen auf Medienerzeugnisse des Fernsehens wie TV-Sendungen, Filme, Seifenopern, Talk Shows oder Werbespots, Musik, Cartoons und Videospiele, oder sei dies die Adaptation filmisch-medialer Verfahren im Medium des Schreibens. 501 Die Fi‐ guren dieser Texte - die Subjekte - erweisen sich dabei als zutiefst von den Medien, insbesondere dem Fernsehen, beeinflusst und der bunten Welt der Waren, des Konsums und der Werbung erlegen; von einer Psychologie im ei‐ gentlichen Sinne kann nicht mehr die Rede sein. Und in diese vom kalten Flim‐ mern des TV-Geräts beherrschte Welt brechen Momente der unsäglichen Ge‐ walt, des extremen Horrors ein. Die Durchdringung der literarischen Welt und des Schreibens selbst von Einflüssen der Werbung und des Fernsehens wird - wie im Folgenden zu zeigen sein wird - besonders von Aldo Nove in seinem Erzählband Woobinda auf exemplarische Weise veranschaulicht. Was die Lite‐ ratur des pulp vor dem Absinken in die Trivialität der Massenkultur rettet, ist die Ironie, die bei all dem Blutvergießen stets präsent bleibt, und nicht zuletzt ein gewisser kritischer Impuls. Jedoch gerade dieser letzte Aspekt - das ethische Engagement - ist ein streit‐ barer Punkt, sieht sich die letteratura pulp doch stets in der Gefahr, in den Ma‐ nierismus abzudriften. Die Frage, die sich in Bezug auf die Texte der giovani cannibali aufdrängt, ist, inwiefern sie in der Lage sind, die gegenwärtige Ge‐ sellschaft zur Darstellung zu bringen, eine Aussage über sie zu treffen. 502 Es lassen sich mit Sinibaldi diesbezüglich zwei Deutungsmöglichkeiten bzw. Hy‐ pothesen aufstellen: La prima è che la lettura e la ricezione di questi testi e spettacoli istighi a una forma nuova di consapevolezza, che attraverso la mediazione dell’eccesso e dell’ironia induca a una qualche presa di coscienza di realtà forti e atroci [...]. La seconda è che prevalga 2 Textanalysen 186 <?page no="187"?> 503 Marino Sinibaldi: Pulp. La letteratura nell’era della simultaneità (s. Anm. 47), S. 71. 504 Daniele Brolli: »Le favole cambiano. Introduzione«. In: Daniele Brolli (Hg.): Gioventù cannibale. La prima antologia dell’orrore estremo. Torino 1996 (=Einaudi Stile libero), S. v-x, hier: S. viii. 505 Ebd., S. vi. 506 Ebd. puramente e semplicemente la logica spettacolare dell’anestetizzazione. Per questa via la nuova letteratura perderebbe ogni tratto sia pur latamente critico e si rivelerebbe del tutto complice, quasi un sottoprodotto, della banalità e della ferocia del nostro tempo. 503 Einerseits könne vermittels der distanzierenden Ironie eine Form der ästheti‐ schen Erfahrung begünstigt werden, die ein neues Bewusstsein für die Häss‐ lichkeit außerliterarischer Realitäten schaffe, andererseits jedoch könne die let‐ teratura pulp als Ausgeburt eben jener blutrünstigen und konsumorientierten Realität gedeutet werden, die sie abbildet und in der es allein um das Spektaku‐ läre geht. Die Frage nach der Gültigkeit beider Hypothesen ist insofern unent‐ scheidbar, als sie unterschiedliche Rezeptionshaltungen voraussetzen: Es bieten sich dabei zwei Lesarten an, die den Text entweder als mimetisch oder als nicht-mimetisch bzw. symbolisch betrachten. Die Entscheidung über das ethi‐ sche Potential der Texte hängt also im Wesentlichen davon ab, ob die fiktive Welt als (zumindest teilweise) übereinstimmend mit der den Leser umgebenden außerliterarischen Realität empfunden wird - oder eben nicht. Stellt man sich die Frage nach der berühmt-berüchtigten Autorenintention, findet man im Vor‐ wort Daniele Brollis zur Anthologie Gioventù cannibale folgende Antwort: [Gli scrittori] si sono mimetizzati con il tessuto narrativo dei loro libri fin quasi a confondersi con esso, lasciando liberi i lettori di credere che le loro fantasie, raccontate con un linguaggio verosimile, siano qualcosa che ha a che fare con la cronaca. Ma non vi è nulla di mimetico. La fine di ogni tipo di contratto sociale (chiunque può tradire, non esiste nessuno di cui fidarsi) porta questi autori ad agire al di fuori delle conven‐ zioni letterarie classiche. 504 Während auf der sprachlichen Ebene durch den Einsatz von Kolloquialismen dem Leser eine gewisse Realitätsnähe simuliert werde, finde sich dennoch jeg‐ liche Form des traditionellen Paktes zwischen Leser und Autor aufgehoben (»fine di ogni tipo di contratto sociale«): Es gehe den giovani cannibali nicht darum, die Welt, wie sie ist, zu beschreiben; sie sähen sich hingegen in der Pflicht, dem herrschenden »realismo sociale« 505 und Moralismus ein »immagi‐ nario del sangue« 506 entgegenzusetzen - und dies frei von jeglicher moralischen Verantwortung. Es gehe also vornehmlich darum, Bindungen zu der tradition‐ 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 187 <?page no="188"?> 507 Ebd., S. viii. 508 La Porta: »The Horror Picture Show and the Very Real Horrors« (s. Anm. 499), S. 72. 509 Vgl. Bolongaro: »Appunti per una rilettura dei cannibali« (s. Anm. 48), S. 190f. 510 Brolli: »Le favole cambiano« (s. Anm. 504), S. viif. ellen, kanonisierten Literatur aufzukündigen und »raccoglie[re] senza falsi pu‐ dori le sue parole dai palinsesti televisivi, dalla cultura di strada, dal cinema di genere, dalla musica pop«. 507 Demgegenüber fällt La Porta ein scheinbar gegensätzliches Urteil: »Rather, they [the giovani cannibali] should be considered as moralists, as analysts of social mores, anthropologists, aphorists, essayists«. 508 Dieser Widerspruch ist jedoch recht schnell aufzulösen, wenn das Begriffspaar Moral/ Ethik ausdiffe‐ renziert wird: Verstehen wir Moral als Regelapparat, d.h. als präskriptiv, und Ethik als analysierende Reflexion über das menschliche Verhalten, d.h. als de‐ skriptiv, dann müssen Rebellion gegen den Moralismus einerseits und ethisches Engagement andererseits sich nicht gegenseitig ausschließen. Die cannibali wenden sich also gegen die Scheinmoral der italienischen Gesellschaft, um gleichzeitig den Diskurs bzw. die Reflexion über bestehende Normen anzuregen und damit eine offene Diskussion ethischer Natur zu gestalten. 509 In diesem Sinne operiert das Skandalon »Blutrausch« also einerseits als Pro‐ vokation, die ähnlich dem Aufbegehren des l’art pour l’art gegen den banalen Moralismus der Bourgeoisie eine Unabhängigkeit der (Erzähl-)Kunst von mo‐ ralischen Verpflichtungen behaupten soll. Andererseits fungiert der intendierte Tabubruch jedoch gleichermaßen als Normenverhandlung: In gewisser Weise verweist die Omnipräsenz des Blutes auf eine gleichermaßen blutige Realität. Denn - so beobachtet Brolli - wenn die hohe Literatur, die den Gesetzen des Moralismus gehorcht, eine nicht eindeutig didaktische Repräsentation der Ge‐ walt und des Hässlichen verbietet, wie kann dann überhaupt adäquat über den Menschen und die Welt, in der er lebt, gesprochen werden? Genitori uccisi per un semplice divieto o per denaro; la roulette di massi lanciati da cavalcavia autostradali; […] delitti con mutilazione […] sono gesti privi di passione e di senso, atti che squarciano il velo superficiale della normalità per rivelare che le sue basi poggiano su un terreno incandescente di inquietudine. Ma se il moralismo della cultura accademica ha relegato nel limbo le parole e le storie adatte a raccontare l’am‐ biguità di quanto ci circonda, decidendo qual è il confine tra ciò che uno scrittore può raccontare e quanto non rientra nella sua sfera, come potremo conservare un ricordo ed elaborare una nostra versione di quei fatti? 510 Das Skandalon der exzessiven, unerhörten Gewalt dient damit also gleicher‐ maßen einer Neudefinierung des Vermögens der Kunst und des Künstlers: Es 2 Textanalysen 188 <?page no="189"?> 511 Bolongaro: »Appunti per una rilettura dei cannibali« (s. Anm. 48), S. 184. 512 Der Meinung ist auch Lucamante: »If not in a programmatic way, these writers are telling us much about today’s Italy. Reading their works is enriching. It produces an implacable view that is the result of the sudden lack of ideological polarization to which Italians were accustomed.« (Lucamante: »Introduction: ›Pulp,‹ Splatter, and More« [s. Anm. 491], S. 33). 513 Vgl. Filippo La Porta: La nuova narrativa italiana (s. Anm. 47), S. 283; Irina O. Rajewsky: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne (s. Anm. 47), S. 334. 514 Wie Rajewsky bemerkt, stellt sich damit bereits ein Bezug zur Welt der Waren und des Konsums her, vgl. ebd. handelt sich um eine Wiederinbesitznahme sprachlicher Potentiale, die Wie‐ derentdeckung verbotener Bereiche, die einer angemessenen Erschließung und Verarbeitung von Realität im Raum der Literatur zugutekommt. Literatur fun‐ giert damit gleichermaßen als memoria, als Raum, in dem Erinnerungen kon‐ serviert werden. Wenn also die scheinbar amoralischen Erzählungen der can‐ nibali (»le favole cannibali sono prive di quella morale che di solito segue il lieto fine, anch’esso vistosamente mancante«) 511 jeglicher beruhigenden Moral ent‐ behren, dem Leser das happy ending verweigern, dann ist dies sicherlich nicht ausschließlich als rebellische Pose zu verstehen, sondern gleichermaßen als künstlerische Transposition einer konkreten Erfahrung von Lebenswelt. 512 Diese grundlegende Ambivalenz von selbstbezüglichem, provokativem Spiel bei gleichzeitiger ethischer Weltreflexion soll im Folgenden exemplarisch an Aldo Noves Erzählung Il bagnoschiuma und Ammanitis L’ultimo capodanno dell’u‐ manità nachvollzogen werden. 2.4.2 Aldo Noves Bagnoschiuma: Wenn der Freiheitskampf beim Duschschaum beginnt… 1996 erscheint die Erstausgabe des Sammelbandes Woobinda e altre storie senza lieto fine, welche insgesamt 40 sogenannte microracconti  513 umfasst, die sich wiederum in acht Teile (»Lotto numero uno«, »lotto numero due«, 514 usf.) un‐ tergliedern. Der Titel des Bandes ist programmatisch: Verweist »Woobinda« dabei (nostalgisch) auf die Welt des Fernsehens (bei »Woobinda« handelt es sich um eine australische TV-Sendung rund um einen Tierarzt im australischen Out‐ back, die Ende der Siebziger auf dem italienischen Sender RAI ausgestrahlt wurde), so kündet der Zusatz »senza lieto fine« bereits von der Brutalität, die die Erzählungen charakterisiert. Damit sind auch bereits zwei quasi idealtypi‐ sche Merkmale der letteratura pulp benannt: der intermediale Bezug auf Er‐ zeugnisse der Popkultur sowie eine »kannibalische« Blutrünstigkeit. Kombi‐ niert mit Ironie, Exzessivität und einer Schreibweise, die das Spektakuläre, den 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 189 <?page no="190"?> 515 Ebd. 516 Marino Sinibaldi: Pulp. La letteratura nell’era della simultaneità (s. Anm. 47), S. 63. 517 Die Figuren Noves können Realität als solche überhaupt nicht erfahren; sie bedürfen des medialen Blicks, der Vermittlung, um etwas überhaupt erst als Ereignis zu begreifen. Dies demonstriert z.B. die Mikroerzählung La strage di via Palestro, welche sich auf ein tatsächliches Attentat in Mailand im Jahre 1993 bezieht. Der Ich-Erzähler bemerkt: »Passando tra la gente, mi vedevo le macerie ed ero triste, ma meno che guardando la televisione, perché alla televisione tutto è sempre più vero, e i collegamenti sono im‐ mediati, la strage ti entra in casa all’improvviso, non v’è calcolo, nessuno dice: ›Andiamo alla strage‹, succede.« (Aldo Nove: Woobinda. E altre storie senza lieto fine. Roma 2005, S. 33). Erst die mediale Berichterstattung macht das Ereignis zum Ereignis und trans‐ portiert paradoxerweise den Eindruck von Unmittelbarkeit. Das Fernsehen bringt das Ereignis nach Hause, in den Raum des Privaten - und dies ganz unvermittelt. So stellt sich für den Erzähler eine pervertierte Form der Realitätserfahrung ein (vgl. auch Irina O. Rajewsky: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne [s. Anm. 47], S. 338). In einer anderen Erzählung, A letto con Magalli, ist die Medialisierung gar existenzstiftend. Die Ich-Erzählerin erklärt: »Ho il sogno di andare a letto con Ma‐ galli [Giancarlo Magalli, italienischer Moderator]. Magalli assomiglia a mio marito, ma è famoso. Se vado a letto con mio marito, nessuno dice niente. Se vado a letto con Magalli ne dicono tutti.« (Aldo Nove: Woobinda [s. Anm. 517], S. 17). Eine Liaison mit einem berühmten Moderator wäre demnach nicht deswegen erstrebenswert, weil es sich dabei um einen attraktiven, talentierten Mann handelt, sondern weil man derart zum Gegen‐ stand der öffentlichen Betrachtung wird. 518 Vgl. Martine Bovo: »Aldo Nove, de Woobinda à Superwoobinda« (s. Anm. 48), S. 75. Moment höchstmöglicher Intensität sucht, der »Darstellung exzessiver Absur‐ ditäten [bei] gleichzeitige[r] Verankerung in der Normalität«, 515 gehorchen die Texte Noves also einer pulp-Ästhetik, wie sie von Sinibaldi mit den Begriffen »contaminazione«, »velocità« und »sorpresa« 516 definiert wird. Auch die Figuren sind beispielhaft: In jeder der Kurzgeschichten präsentieren sich eine oder mehrere Figuren, welche jedoch neben Angaben zum Namen, Alter und Sternzeichen kaum individualisierende Eigenschaften besitzen. Ihre Wahrnehmung wird gänzlich durch Film und Fernsehen, vor allem auch TV-Werbung bestimmt, 517 sie sind emotional völlig abgestumpft, indifferent und kalt, und dabei der größten Grausamkeit fähig. Ihr Vokabular entstammt einem niedrigen Register und sie erweisen sich als kulturell ungebildet, sofern man Popkultur ausschließt. 518 Über Ideale und Werte im eigentlichen Sinne verfügen sie nicht mehr: An ihre Stelle treten Markenkult und Fetisch. Das Primat des Fernsehens findet sich auch stilistisch umgesetzt: Die Mikro‐ erzählungen wirken in ihrer Kürze wie Werbespots, der implizite Autor wie ein Fernsehzuschauer, der zwischen den Kanälen hin und her zappt. Diese Analogie ergibt sich nicht zuletzt aus dem starken Medienbezug und der Tatsache, dass viele der Erzählungen brüsk in der Mitte des Satzes, gar in der Mitte eines Wortes 2 Textanalysen 190 <?page no="191"?> 519 Vgl. ebd. Auch Rajewsky analysiert die Übertragung des Prinzips des Zappens auf die Literatur. Sich spricht von einer »fernsehgebundenen Systemkontamination« (S. 346), bei der der Rezeptionsmodus des Zappens zum Produktionsprinzip erhoben wird: »Sug‐ geriert wird vielmehr, daß der Redefluß der Figuren [die einzelnen Mikrogeschichten] weiterläuft, wir daran aber nicht mehr teilhaben können, weil irgendjemand, dem Prinzip des Zappens gemäß, in diesen Redefluß eingreift, ihn abbrechen läßt und uns einen zweiten, dritten und vierten ›präsentiert‹. Bedingt durch das Medium der Lite‐ ratur, handelt es sich dabei freilich um die Segmentierung eines nur virtuell fortlauf‐ enden Redeflusses. Gerade dieser Umstand aber läßt das angewandte Verfahren deutlich zu Tage treten: Der Segmentcharakter der Mikrogeschichten wird erzeugt, indem die einzelnen Geschichten abrupt abgebrochen werden. Folglich wird der Redefluß der Fi‐ guren so behandelt, als wäre er ein fortlaufender; denn ein Segment oder Fragment erfordert a priori ein größeres Ganzes, dem es entnommen ist. Die Existenz eines sol‐ chen ›größeren Ganzen‹ gehört im Sinne eines fortlaufenden Programmflusses zu den spezifischen Strukturen des Dispositivs ›Fernsehen‹.« (Irina O. Rajewsky: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne [s. Anm. 47], S. 348). Gemäß der Logik der intermedialen Transposition fernsehgebundener Prinzipien auf das Schreiben erscheint dann auch der implizite Autor als »Präsentatorinstanz« (ebd., S. 355). 520 Ebd., S. 359. 521 Aldo Nove: Il bagnoschiuma. In: ders.: Woobinda. E altre storie senza lieto fine. Roma 2005, S. 11-13, hier: S. 11. Nachweise werden im Folgenden im Fließtext unter der Sigle »W« erbracht. abbrechen. 519 Somit findet sich das Gesamtwerk auf sämtlichen Ebenen von der Medienwelt, die es zum Gegenstand hat, durchdrungen: Das Prinzip des zapping wird [...] zum Zeichen eines medial geprägten und determi‐ nierten Umgangs mit (vermittelter) ›Realität‹ und fungiert als weiterer Indikator der Omnipräsenz des Fernsehens in den Texten Noves. […] Der Redefluß der Figuren geht samt seiner grausam-grotesken Inhalte ebenso wie die innerhalb der Mikroge‐ schichten dargestellten Medienereignisse in die allgegenwärtige Indifferenz und emo‐ tionale Verflachung ein, die dem Medium des Fernsehens (nicht nur) im fiktiven Be‐ reich der Texte zugeschrieben werden. 520 Den Texten Noves ist damit eine gewisse narrative Innovativität zu eigen, da sie auch auf stilistisch-struktureller Ebene das Prinzip der Intermedialität umsetzen. Die erste Mikrogeschichte des Erzählbandes, Il bagnoschiuma, ist dabei exemplarisch für den gesamten Band. An ihr lassen sich die bereits genannten Merkmale idealtypisch nachweisen: Medienbezug, Kürze, Intensität, nahezu groteske Grausamkeit und flache Figuren. Die eigentliche Handlung, die trama der Geschichte, lässt sich in aller Kürze mit dem ersten Satz der Erzählung zu‐ sammenfassen: »Ho ammazzato i miei genitori perché usavano un bagno‐ schiuma assurdo, Pure & Vegetal«. 521 Der Ich-Erzähler nimmt hier also direkt von Beginn an die Pointe der Geschichte vorweg: Er wird seine Eltern um‐ 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 191 <?page no="192"?> 522 »[I] lettori non sono sollecitati a simpatizzare con il narratore. […] tutta la vicenda riecheggia questa assurdità che distanzia i lettori dal protagonista e dalle sue azioni, mettendoli fin dall’inizio in una posizione di riflessione, piuttosto che di adesione« (Bolongaro: »Appunti per una rilettura dei cannibali« [s. Anm. 48], S. 192). bringen, da sie einen ›absurden‹ Badeschaum verwenden. Die Erzählung be‐ ginnt brüsk mit einer grotesk anmutenden Aussage, auf die eine Erläuterung der genaueren Begleitumstände (d.h. es wird der Versuch einer mehr oder we‐ niger überzeugenden Rechtfertigung geleistet) und die Darstellung des Gewalt‐ akts selbst folgen, um dann gemäß dem Stilprinzip des Zappens abrupt abzu‐ brechen. Die Frage, die bereits für die Literatur der giovani cannibali im Allgemeinen formuliert wurde, stellt sich nun gleichermaßen für Il bagno‐ schiuma: Ist der Text realistisch zu lesen - also als literarische »Studie« einer Verbrecherpsyche, wie sie symptomatisch für unsere heutige Gesellschaft ist - oder symbolisch als freies »Spiel« mit disparaten Diskursfragmenten aus Me‐ dien, Popkultur und Literatur, in dem die Kunst ihre Autonomie behauptet? Auch hier gilt, dass es grundsätzlich dem Leser obliegt, entweder die eine oder die andere Rezeptionshaltung einzunehmen. Doch bietet der Text selbst Mate‐ rial, das sowohl die eine als auch die andere Lesart begünstigt. Betrachtet man noch einmal das Incipit, lassen sich direkt Signale finden, die den folgenden Text als pulp ausweisen - und darüber hinaus den spielerisch-de‐ konstruktivistischen Charakter der Erzählung betonen. So geht Bolongaro bei‐ spielsweise davon aus, dass das erste Adjektiv der Erzählung - »assurdo« - programmatischer Schlüsselbegriff für den Leseakt selbst ist: Der Leser sei nicht dazu angeleitet, sich mit dem Erzähler zu identifizieren, sondern vielmehr eine kritisch-distanzierte Haltung zum Textsubjekt und Gegenstand einzunehmen. 522 Darüber hinaus findet sich im ersten Satz bereits eine Referenz auf die Konsum- und Markenwelt: »Pure & Vegetal«, ein vielfach beworbener Badeschaum. Diese Referenz kann dabei einerseits auf das für die letteratura pulp repräsentative Spiel mit Erzeugnissen und Materialien der Popkultur und Medien- und Kon‐ sumwelt verweisen, andererseits fungiert sie aber auch als Realitätszeichen, das zumindest vorläufig eine gewisse vraisemblance simuliert, d.h. die Welt des Le‐ sers mit der der Fiktion koinzidieren lässt. Es folgt die groteske Rechtfertigung der angekündigten Bluttat, die durch weitere Referenzen auf die konkrete Le‐ benswelt des Lesers angereichert wird: Mia madre diceva che quel bagnoschiuma idrata la pelle ma io uso Vidal e voglio che in casa tutti usino Vidal. Perché ricordo che fin da piccolo la pubblicità del bagnoschiuma Vidal mi piaceva molto. 2 Textanalysen 192 <?page no="193"?> 523 Vgl. ebd. Stavo a letto e guardavo correre quel cavallo. Quel cavallo era la Libertà. Volevo che tutti fossero liberi. Volevo che tutti comprassero Vidal. (W 11) So lautet die verstörende Überlegung - verstörend, weil die Kohärenz der Ar‐ gumentation zumindest auf Ebene der Logik völlig transparent und schlüssig ist, andererseits Ursache und Wirkung in keinerlei Verhältnis stehen. 523 »Strin‐ gent« wirkt die Argumentation, weil die außerfiktional existierenden Marken mit abstrakten und zeitlosen Idealen verknüpft sind, die der Erzähler unhinter‐ fragt übernimmt - und zwar wird dieser Konnex über die Werbung hergestellt. Der Erzähler evoziert hier einen Werbespot der Marke Vidal, in der ein weißes Pferd am Strand galoppiert - das Marketing zielt dabei offensichtlich auf eine Prägung des Produkts auf den Gedanken der Freiheit und Vitalität ab. Wenn dieses schließlich so erfolgreich ist, dass dabei Produkt und Idee quasi synonym werden, dann wird hier auch eine Aussage über die Macht der Werbung ge‐ troffen bzw. wird zumindest gedanklich durchgespielt und imaginativ auf die Spitze getrieben, was Produkt-Branding vermag. Gleichermaßen werden der‐ gestalt auch die Mechanismen freigelegt, die der Werbung zugrunde liegen. Es handelt sich um eine Bedeutungsverschiebung, bei der das Produkt metony‐ misch das eigentliche Signifikat - das absolute Ideal der Freiheit - ersetzt, ohne dass dabei a priori eine motivierte Korrelation zwischen dem eigentlichen Pro‐ dukt und dem bezeichneten Abstraktum bestünde. Demgegenüber wird dann das Prinzip und Feindbild der Ökonomie und Uti‐ litarität entwickelt, das durch die Eltern bzw. das Produkt »Pure & Vegetal« repräsentiert wird: Poi un giorno mio padre disse che all’Esselunga c’era il tre per due e avremmo dovuto approfittarne. […] Anzi quando entravo nel bagno e vedevo appoggiato al bidet una di quelle squallide bottiglie di plastica non potevo fare a meno di esprimere tutta la mia rabbia, rifiutan‐ domi di cenare con loro. Non tutto può essere comunicato. Provatevi voi a essere colpiti negli ideali. Per delle questioni di prezzo, poi. (W 11f.) Die Eltern vertreten damit also ein Konsumverhalten, das der Ökonomie und Nutzbarkeit eines Produkts verpflichtet ist: Preis-Leistungsverhältnis (»il tre per due«) und Nutzen (»idrata la pelle«) werden gegenüber möglichen »ideellen« und ästhetischen (die Verpackung ist öde, »squallido«) Werten privilegiert. Der 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 193 <?page no="194"?> 524 Rita Gagliano: »Il protagonista-consumatore e la merce-segno« (s. Anm. 48), S. 288. 525 So kommentiert er das Äußere seiner Eltern, deren körperlicher Verfallsprozess ihn anwidert, wie folgt: »Giorno dopo giorno mi accorgevo di quanto mia madre fosse brutta. Avevo una madre che non si sarebbe mai potuta candidare in politica, con le vene varicose e le dita ingiallite dalle sigarette. Mia madre mi faceva schifo e mi chiedevo come era possibile che da bambino la amassi. Mio padre diventava sempre più vecchio anche lui. Era davvero arrivato il momento di ammazzarli.« (W 12) 526 »Mangiavo in camera mia, patatine e tegolini del Mulino, non volevo più nemmeno vedere i miei amici: fingevo di non esserci, quando mi chiamavano al telefono.« (W 12) 527 Für diese Anregung danke ich Christine Ott. 528 Gagliano: »Il protagonista-consumatore e la merce-segno«(s. Anm. 48), S. 288-289, hier: S. 288f. Erzähler und seine Eltern stehen damit für zwei völlig unterschiedliche Hal‐ tungen gegenüber der Ware und ihrer Bedeutung: »In questo primo racconto vengono esposti due diversi rapporti con la merce, uno basato sul suo valore d’uso - rappresentato dai genitori le cui scelte di acquisto puntano al fine ultimo del risparmio - e l’altro sul suo scambio ›semantico‹ - costituito dal feticismo merceologico del protagonista.« 524 Eine ökonomische Sparpolitik, wie sie von den Eltern betrieben wird, stellt den ultimativen Affront gegen den ästhetizis‐ tischen Protagonisten dar, der sich in seinen Idealen verletzt fühlt (»colpiti negli ideali«). In seiner (Über-)Betonung des Ideellen, der Privilegierung des äußeren schönen Scheins bzw. der Form 525 sowie seiner nahezu asketischen Rückzugs‐ bewegung 526 scheint er fast schon eine Art pervertierter Dandy 527 des späten 20. Jahrhunderts zu repräsentieren, der seine Ideale jedoch nicht mehr aus der Kunst, sondern aus der Werbung bezieht bzw. Ideale nur noch werbevermittelt denken kann. Die innere Leere, die fehlende psychologische Tiefe des Protago‐ nisten artikuliert sich damit am deutlichsten in der an das Fernsehen und den Markt gebundenen Oberflächenästhetik des Erzählers, die sämtliche Innen‐ räume besetzt: Il desolato spazio morale e psicologico rappresentato dal personaggio viene invaso dalle merci e dai suoi miraggi televisivi, sistemi »esterni« a disposizione del protago‐ nista che gli permettono di articolare una altresí elementare vita interiore. Nella totale assenza di qualsiasi sistema di validazione immanente e assoluto, di qualsiasi certezza ontologica e morale, vige una perversa etica televisivo-pubblicitaria, unica forma di ordinamento delle attività attuali e intellettuali del protagonista. 528 Und gemäß dieser Logik muss die Konsequenz radikal ausfallen, um das System nicht zu gefährden. Die Störfaktoren (d.h. die Eltern) müssen beseitigt werden - und dies geschieht auf brutale Weise: 2 Textanalysen 194 <?page no="195"?> 529 Vgl. Bolongaro: »Appunti per una rilettura dei cannibali« (s. Anm. 48), S. 192. Mio padre si alzò di scatto cercando di darmi una sberla ma io gli tirai un tale calcio nei testicoli che cadde a terra senza respirare. Mia madre si avventò piangendo su di lui, urlando cose sconnesse che la rendevano ancora più vecchia e ridicola. Le affondai il coperchio di latta tagliente sul collo, us‐ civano litri di sangue mentre gridava come un maiale. Poi ammazzai mio padre con il coltello di surgelati. Su tutte le piastrelle c’era sangue e ancora se ne aggiungeva mentre quelli diventavano di un altro colore. Tornai di sopra e presi le due bottiglie (una l’avevano finita) del loro bagnoschiuma del cazzo. Le portai giù in cucina e le appoggiai sul tavolo mentre con il pestacarne rompevo il cranio di mia madre. Il cervello fuoriusciva molto viscido e c’erano pezzetti di pelle con capelli che si stac‐ cavano come scotch. La testa di mio padre mi sembrava più molle oppure avevo semplicemente dato il colpo giusto. Misi i cervelli dentro il lavandino e pulii bene l’interno delle loro teste con lo Scottex. Ci versai dentro il Pure & Vegetal, dovevano capire che t (W 12f.) Der imaginierte Gewaltakt ist exzessiv (»litri di sangue«; »su tutte le piastrelle c’era sangue«), voyeuristisch-detailliert (»[i]l cervello […] viscido«; »pezzetti di pelle con capelli«) und durchsetzt mit Referenzen auf die banale Alltagswirk‐ lichkeit: Den Schädel der Mutter schlägt er mit dem Fleischklopfer ein, den Vater tötet er mit dem Messer für Tiefkühlkost, die Hautfetzen kleben wie Tesafilm. Der Gewaltakt verliert durch diese Momente des Anti-Pathetischen jegliche Aura des Sublimen, die konsequent vermieden wird: So wie nicht von Idealen im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann (sondern von einer Karikatur eben dieser), genauso verkommt der »Freiheitskampf« zur Farce eines Kampfes um Werte und ihre Einhaltung. Dabei gestaltet sich der Akt selbst, wie es Bolon‐ garo formuliert, als eine Art Dantesker contrappasso: 529 In sprichwörtlicher Um‐ setzung unterzieht er seine Eltern einer Gehirnwäsche, wäscht ihnen im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf mit Scottex (es handelt sich dabei um eine Küchenpapier-Marke) aus, um ihnen ihre ›falschen‹ Wertvorstellungen auszu‐ treiben. Zudem ist das Bild der Gehirnwäsche natürlich gleichermaßen diskur‐ sive Reprise der Reflexion über die Funktion und Macht der Werbung, die der Text auf den Plan ruft. Der finale Gewaltakt ist damit in doppelter Weise sym‐ bolisch und bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen Groteske und un‐ angenehm pointierter Gegenwartsanalyse. 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 195 <?page no="196"?> 530 Liest man Il bagnoschiuma letztendlich als Repräsentation eines sinnentleerten Ge‐ waltakts, dann lässt sich hier gewissermaßen eine Parallele zu Poe, Baudelaire und damit auch zu Bohrer sehen: Wenn die Gewalt nicht mehr motiviert ist, d.h. außer sich selbst keinen Zweck mehr hat, dann veranschaulicht Il bagnoschiuma im Prinzip eine postmoderne Variante des imp of the perverse, und zwar den irrationalen Impuls bzw. die Lust zu töten. Sicherlich lässt sich nicht direkt von einem psychologischen Realismus spre‐ chen, da die Figuren in Woobinda einer Psychologie entbehren. Und überdies lassen sich neben dem bereits zu Beginn des Textes prominenten Leitbegriff »assurdo« weitere Signale im Text ausmachen, die eine nicht-realistische Lesart nahelegen. So scheint mir für den Text auch der bereits zitierte Passus »Non tutto può essere comunicato« auf eine zentrale Bedeutungsdimension der Er‐ zählung zu verweisen: die Unkommunizierbarkeit und Nichtkonstituierbarkeit von Sinn. Wenn der Erzähler hier die Unmöglichkeit, seinen Eltern seine Wertvorstellungen mitteilen zu können, betont, dann meint er damit wörtlich natürlich das prinzipielle Scheitern von Kommunikation zwischen ihm und seinen Eltern. Es verweist aber auch auf die Absurdität dieser Wertvorstel‐ lungen: Wie kann etwas sinnvoll zum Ausdruck gebracht werden, was in letzter Instanz jeglicher Sinnhaftigkeit entbehrt? Die Nichtkommunizierbarkeit ver‐ weist schließlich zurück auf das Fehlen eines substantiellen Bedeutungskerns. In diesem Sinne präsentiert sich dann auch das Ende in einem neuen Licht. Der abrupte Abbruch des Satzes scheint mir hier durchaus nicht nur das zufällige Zapping des Zuschauers/ Lesers zu simulieren, sondern eben auch die Absurdität des erzählten Geschehens noch einmal sichtbar zu machen. Denn gerade die Tatsache, dass der Text nach »dovevano capire che« abbricht, ist signifikativ: Was genau sollen sie eigentlich verstehen? Wenn hier der Text mit einem Blanc antwortet, steht dies sinnbildlich auch für das Fehlen jeglicher moralisch-emo‐ tionalen Nachvollziehbarkeit. 530 Letztendlich wird durch diesen strategischen Schnitt der Leser dazu ange‐ halten, den Satz selbst zu vervollständigen: Das lückenhafte Finale lädt dabei zur kreativen Rezeption und Reflexion ein. Und es ist Bolongaro zufolge eben jene Offenheit, die das ethische Potential des Textes ausmacht: L’autore non censura, non condanna, e anzi interviene troncando il discorso su di una consonante, la ›t‹, che sembra alludere proprio al ›tu‹ della seconda persona singolare, e cioè a chi legge. Il giudizio è lasciato ai lettori: sono loro, siamo noi a doverci assumere la responsabilità per un giudizio che non è scontato. Se lo fosse, se potesse censurare il protagonista con perfetta serenità, alla storia si potrebbe dare un lieto fine, l’autore potrebbe fungere da nostro portavoce, e interpretare serenamente ciò che è ovvio a tutti coloro a cui si rivolge. Ma nel mondo nel quale Il bagnoschiuma interviene ciò 2 Textanalysen 196 <?page no="197"?> 531 Bolongaro: »Appunti per una rilettura dei cannibali« (s. Anm. 48), S. 197. 532 Irina O. Rajewsky: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne (s. Anm. 47), S. 343. 533 Ebd., S. 340. 534 So auch Rita Gagliano: »Nella totale assenza di certezze ontologiche, cade ogni alter‐ nativa di riferimento reale e ›naturale‹. L’unico rapporto relazionale possibile è quello ›culturale‹, ma della cultura tipicamente più bassa e rarefatta, quella televisivamente prodotta e distribuita ad una audience di massa.« (Gagliano: »Il protagonista-consu‐ matore e la merce-segno«[s. Anm. 48], S. 296). non è più possibile e quindi alla storia manca un lieto fine, non per pigrizia o cinismo dell’autore, ma per necessità etica: il giudizio deve rimanere aperto o si soccomberebbe all’ipocrisia. 531 Bolongaro erläutert hier, dass es sich bei dem offenen Ende nachgerade um eine Notwendigkeit handele: In einer Welt, wie sie in Il bagnoschiuma gezeigt wird, ist ein gesichertes (moralisches) Urteil (auch aus unserer Perspektive) nicht mehr möglich. Indem der implizite Autor seinen Figuren die Aufgabe überant‐ wortet, sich selbst zu erzählen, lässt er sie als medial geprägte Produkte einer Gesellschaft auftreten, die der des Lesers durchaus nahekommt. Rajewsky er‐ läutert diesbezüglich: Die Kritik, die den Texten Noves eingeschrieben ist, wird also implizit, quasi von innen heraus, über die Verfahren und die Art der Selbstdarstellung der Figuren geübt. Ge‐ nutzt wird eine in sich ungebrochene, hyperbolisch ins Extrem getriebene mediale Verfaßtheit der Figuren und ihrer Lebensträume, um aus dieser heraus eine kritische Position hinsichtlich eben dieser medialen Verfaßtheit von Welt zu beziehen. 532 So mag der Text sich zwar einerseits einer spielerischen Lektüre anbieten. Doch nichtsdestotrotz incentiviert er Reflexionen ethischer Natur, da er trotz spieler‐ ischer Dekonstruktion und Rekombination von unterschiedlichen (kultu‐ rell-medialen) Materialien dennoch in gewisser Weise eine Aussage über die außerliterarische Erfahrungswelt des Lesers trifft: Der Text veranschaulicht »den uniformen Zustand einer mutierten, ontologisch destabilisierten, ›post‐ modernen‹ Zivilisation«. 533 Gleichsam illustriert er den Verlust menschlicher Potentiale, nämlich eines »natürlichen« Weltbezuges; Zusammenhänge können nur noch medial vermittelt wahrgenommen, gar konstruiert werden. 534 Und diese Zusammenhänge erweisen sich dabei als höchst willkürlich motiviert. In gleichem Maße, wie die Relation von Mord und Werbung völlig arbiträr er‐ scheint, genauso erweist sich auch die vermeintlich ›natürliche‹ Korrelation des beworbenen Produktes mit dem Signifikat der »Freiheit« als schlichtweg be‐ 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 197 <?page no="198"?> 535 Dass der Text die arbiträren Assoziationsmechanismen der Werbewelt offenlegt, erklärt Gagliano: »L’identificazione immotivata tra omicidio e pubblicità ha le stesse caratte‐ ristiche di quella che affianca il cavallo alla Libertà. Ambedue sono istanze dell’identico meccanismo associativo della tecnica pubblicitaria che, accostando forzatamente due termini irrelati, ne falsa un rapporto semantico d’interdipendenza in realtà ingiustifi‐ cato che porta allo svuotamento dello stesso codice linguistico utilizzato.« (Ebd., S. 290) 536 Ebd., S. 295. liebig. 535 Der Gewaltakt spiegelt also gewissermaßen die Werbetechniken der Medien und führt im Exzess ihre Absurdität und Willkürlichkeit vor. Er ist dabei in seiner Verfasstheit auch nicht so konzipiert, den Leser zum emotionalen Mit‐ vollzug zu animieren: Vielmehr wirkt der Blick des Protagonisten auf seine Opfer befremdlich, ist er doch seltsam indifferent, bisweilen angeekelt. Seine Mutter scheint ihm in ihrem Leid »ancora più vecchia e ridicola«, es widert ihn an, als seine Eltern sterbend Blut erbrechen. Der Gewaltexzess fungiert hier ganz kalkuliert als Sinnenschock und ist damit repräsentativ einerseits für den schwarzen Humor der letteratura pulp, andererseits für jene Popkultur, die dem Zwang der Reizsteigerung unterliegt. Diese wird jedoch gleichzeitig zur Ziel‐ scheibe einer Gegenwartskritik, die dem Text implizit zugrunde liegt. Gagliano bringt dies wie folgt auf den Punkt: Per quanto minuziosamente descritto, l’atto sanguinoso nei confronti dei due indi‐ vidui, che al contrario delle merci denotate dal loro marchio di fabbrica rimangono anonimi, è incapace di ispirare partecipazione emotiva, sia da parte del protagonista che da quella del lettore. Essa si riduce a mero shock sensorio caratteristico dell’umore nero, ma che è anche alla base dell’organizzazione interna del codice televisivo e pubblicitario. Shock che rispecchia ed esaspera la perdita di ogni norma artistica ed etica, ragione dell’essenziale disorientamento cultura e morale del nostro tempo. Ri‐ dotta anch’essa a simulazione para-pubblicitaria, la narrazione del raccappricciante omicidio si ferma all’esposizione superficiale e dettagliata che culmina in una minu‐ ziosa e fredda descrizione del crimine, demarcato all’assenza di alcuna tensione dram‐ matica. 536 2.4.3 Niccolò Ammaniti und die Apokalypse in der Postmoderne Einer der wohl bekanntesten Autoren, der in den 90er Jahren den giovani can‐ nibali zugerechnet wurde, ist Niccolò Ammaniti. Heute ist er vor allem für seine Romane Ti prendo e ti porto via (1999), Io non ho paura (2001) oder Come dio comanda (2006), für den er 2007 mit dem Premio Strega ausgezeichnet wurde, bekannt. Wie auch Aldo Nove beteiligte er sich an der Anthologie Gioventù cannibale, für die er zusammen mit Luisa Brancaccio die Erzählung Seratina 2 Textanalysen 198 <?page no="199"?> 537 Ab dem 66. Fragment entfallen die Zeitangaben: Hier beginnt stattdessen das »Conto alla rovescia«, das die letzten Sekunden vor Neujahr in einem Countdown taktet. 538 Niccolò Ammaniti: Fango. Torino: Einaudi 2014, S. 11. Nachweise für Zitate aus L’ultimo capodanno dell’umanità der Sammlung Fango werden in der Folge im Fließtext erbracht und mit der Sigle »F« abgekürzt. verfasste. Im gleichen Jahr veröffentlichte er eine Erzählsammlung mit dem Titel Fango (1996), die die mitunter als Kurzroman definierte Novelle L’ultimo capo‐ danno dell’umanità enthält. Die Erzählung beschreibt die Ereignisse in den letzten Stunden der Silvesternacht des unspezifizierten Jahres »199...«. Erzählt wird von den Bewohnern eines Römer Wohnkomplexes, dem »Comprensorio delle Isole«, wobei mehrere Handlungsstränge, die um jeweils eine der Figuren kreisen, parallel geführt werden, um schließlich im Finale zusammen zu laufen: Die beiden Gebäude, die den Komplex ausmachen, werden samt aller Insassen in einer Explosion ausgelöscht. Die jeweiligen Episoden werden fragmentarisch aneinandergereiht, durchnummeriert und mit einer Überschrift versehen, die den Namen der im Fokus stehenden Figur enthält sowie eine konkrete Zeitan‐ gabe. 537 So beginnt die Erzählung mit »1. Cristiano Carucci« um »Ore 19: 00«, einem Jugendlichen, voll von »disprezzo per il mondo e per il divertimento a tutti i costi«, 538 der lustlos dem kommenden Abend entgegensieht und jeglicher Gesellschaft aus dem Weg zu gehen sucht. Selbiger wird zusammen mit seinem Freund Ossadipesce die finale Explosion des Wohnkomplexes verantworten. Letzterer will nämlich im drogeninduzierten Verfolgungswahn kompromittie‐ rende Beweislasten (Drogen) loswerden, indem er sie in einen Heizkessel wirft - ist derweil jedoch nicht mehr der Tatsache gewahr, dass sich in seinem Ruck‐ sack, den er in die Flammen schleudert, auch Dynamit befindet. Die Figuren Cristiano und Ossadipesce geben dabei ein Abbild der soge‐ nannten verlorenen Jugend der 90er Jahre. Beide sind lust- und orientierungslos, neigen zur Depression, entbehren jeglicher Fähigkeit zur Selbstdisziplin und suchen kompensatorisch Zuflucht in künstlichen Paradiesen, das heißt: im Dro‐ genkonsum. So scheinen die beiden, sowie die Figuren insgesamt, der erfahr‐ baren Alltagswelt zu entspringen. Die Vielfalt der Probleme, mit denen sich die Figuren zunächst konfrontiert sehen, mangeln nicht einer gewissen vraisemb‐ lance - und dies sehr viel deutlicher als bei Aldo Nove. Die einzelnen Figuren verfügen noch über eine zumindest in Ansätzen individuelle Geschichte und Psychologie. Da ist Giulia Giovannini, deren Partner Enzo sie mit der gemein‐ samen Freundin Deborah betrügt; der dem Alkohol verfallene Musiker Thierry Marchand, dessen Frau ihn aufgrund seines Alkoholismus verlassen will; die vereinsamte, arbeitslose Hausfrau Filomena Belpedio, die beschließt, sich noch am Silvesterabend das Leben zu nehmen. Weniger alltäglich scheinen wiederum 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 199 <?page no="200"?> 539 Olaf Grabienski formuliert dies wie folgt: »der Leser [wird] mit einem Feuerwerk aus unglaublichen, aber gleichzeitig glaubwürdigen, allzu normal erscheinenden Verhal‐ tensweisen, Instinkten und Machenschaften bombardiert« (ders.: »›Cazzo che elettro‐ shock! ‹ - Die Erzählungen Niccolò Ammanitis«. In: Felice Balletta/ Angela Barwig (Hg.): Italienische Erzählliteratur der Achtziger und Neunziger Jahre. Zeitgenössische Auto‐ rinnen und Autoren in Einzelmonographien. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang 2003, S. 431-441, hier S. 435). 540 Irina O. Rajewsky: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne (s. Anm. 47), S. 294. die Geschichten des Anwalts Rinaldi, der seine Vorliebe für Sado-Maso-Sex mit der Domina Sukia auszuleben sucht; der Esoterikerin Roberta Palmieri, die den jungen Davide unter Drogen setzt, um ihn sexuell gefügig zu machen; des jungen Gigolos Gaetano Cozzamara, der die Gelegenheit beim Schopfe packt, als seine ›Sponsorin‹ des Abends, die contessa Scintilla Sinibaldi dell’Orto, bewusstlos auf dem Bett kollabiert, um ihr Apartment für eine Soirée mit ausgewählten Freunden zu nutzen, welche jedoch von Hooligans gekapert wird. So alternieren mal mehr, mal weniger glaubwürdige Handlungsstränge, welche selbst in relativ unkonventionellen Momenten noch einer dem Leser vertrauten Alltagsrealität zugehörig scheinen 539 - was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet ist, dass Am‐ maniti verbreitete Klischees bedient. Er inszeniert einen »ebenso klischeehaften wie grotesken Querschnitt durch die italienische Gesellschaft«, 540 quasi eine postmoderne comédie humaine in Miniatur. Die einzelnen Erzählstränge sind in einem ersten Moment vor allen Dingen darauf angelegt, dem Leser eine Welt aufzuzeigen, die er als eine ihm bekannte erkennt - sie verfügen demnach über ein hohes Maß an Identifikationspotential. So beispielhaft Fragment 6, in dem die Figur der Filomena erstmals erwähnt wird: Filomena Belpedio concluse che la vita le aveva dato poco. Le aveva dato una famiglia su cui contare? No. Effettivamente sono sola come un cane. Mio marito vive in un’altra città. Ha un’altra moglie. Dieci anni piú giovane di me. Mio figlio se ne è andato. Vive a Los Angeles. Doveva fare il regista. Fa il cameriere in una pizzeria italiana. Le aveva dato un lavoro con cui vivere? No. L’ultimo lavoro, venditrice di polizze di assicurazione sulla vita, è ormai un lontano ricordo. E siccome non ho nessun talento particolare so con assoluta certezza che non ne troverò un altro. E poi non ho piú la forza per sbattermi in giro a elemosinare un altro posto. Le aveva dato la bellezza? No. 2 Textanalysen 200 <?page no="201"?> 541 Durch den Einsatz von Typen den Eindruck von Realitätsnähe (und zwar eine Realität, die sich bisweilen banal und platt gestaltet) zu erwecken, ist ein Verfahren, dessen sich - wie sich in der Folge noch zeigen wird - auch Houellebecq bedient. 542 So beispielsweise Fragment 6, Ossadipesce: »Massimo Ossadipesce Russo correva in sella al suo Morini 3 ½ rosso sul viadotto di corso Francia. [...] Era in vena di riflessioni. Bisogna trovare dei punti di fermi, diceva. Punti piazzati, solidi, per cambiare la vita. Incomincia un anno nuovo e io allora divento un uomo nuovo. Mi sbarazzo delle vecchie abitudini e tiro fuori le palle. Divento una persona seria.« (F 22f.) Oder auch Fragment 12, Thierry Marchand, der in Selbstmitleid versunken über die Gründe seiner Alkohol‐ sucht sinniert (vgl. F 42f.). Sono vecchia e racchia. Con questi capelli stopposi. Con questa bocca senza labbra. Con questa pelle gialla e grassa. Se almeno fossi abbastanza decente potrei battere. Mi potrei guadagnare cosí da vivere. Non c’è problema. Niente falsi pudori. E allora che le aveva dato? Niente. Niente di niente. (F 28) Filomenas Handlungsstrang beginnt in medias res, genauer: mit ihrer Einsicht, dass das Leben ihr nicht viel zu bieten habe. Der Leser erhält dabei Zugang zur Gedankenwelt der Figur, wobei erlebte Rede (»Le aveva dato una famiglia su cui contare? «) und Figurenrede in Form eines inneren Monologs (typographisch markiert in Kursivschrift) alternieren. Die Erzählung ist in einem ersten Moment auf Zugänglichkeit und Nähestiftung ausgerichtet, wozu auch die sprachliche Verfasstheit beiträgt. Sowohl die Erzählerals auch Figurenrede zeichnet sich durch simple Satzstrukturen und ein umgangssprachliches - jedoch nicht vul‐ gäres - Vokabular (»sola come un cane«, »racchia« und Phrasen wie »niente falsi pudori«) aus, ohne dabei den Grad an (wohl intendierter) Flachheit zu er‐ reichen, die die Sprache Aldo Noves auszeichnet. Dieser erzeugt durch die pa‐ rataktische Häufung banaler Äußerungen - oftmals unter Verzicht auf typo‐ graphische Zeichen - eine Art fortgesetzten stream of consciousness, der das unaufhörliche Rauschen des Fernsehens imitiert und jegliche Form der identi‐ fikatorischen Anteilnahme a priori unterbindet. Ammanitis Sprachstil hingegen ist auf ein hohes Maß an Lesbarkeit angelegt und generiert durch die Nähe zur Alltagssprache den Eindruck von Wirklichkeitstreue. Dabei ist nicht zu ver‐ kennen, dass es gängige Stereotypen und Klischees sind, die innerhalb der Fi‐ gurenkonzeption Anwendung finden: 541 Die vom Ehemann für eine Jüngere verlassene Hausfrau mittleren Alters ist schwerlich ein Novum. Was hier exemplarisch am Proemialfragment der Filomena aufgezeigt wurde, gilt auch weitestgehend für die übrigen Handlungsstränge. 542 Dabei erzeugt der strategische Wechsel zwischen erlebter Rede (Erzählerrede) und innerem Mo‐ nolog aber durchaus auch eine gewisse Komik. Die Figuren werden subtil iro‐ nisiert, ihre wenig tiefgreifenden Überlegungen in ihrer Banalität bloßgelegt, 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 201 <?page no="202"?> wie am Beispiel des Fragments 10 aus der Perspektive Enzo Girolamos, der sich selbst ob seines Erfolgs bei den Damen beglückwünscht: Era contento. La vita gli stava andando alla grande. [...] E poi piaceva alle donne. Piaceva a Giulia. Piaceva a Deborah. Dovevano essere i suoi modi pacati ma nello stesso tempo sicuri, che facevano sí che le femmine gli si appiccicassero addosso come patelle. Chi lo sa. Piaceva, questo è quanto. [...] Era giunto il momento di rifletterci un po’ su. Su tutte queste donne. E soprattutto giunto il momento di pianificare le sue prossime strategie sentimentali. Doveva parlare con Giulia? Dirle che non poteva stare piú con lei. Dirle che aveva una relazione con la sua migliore amica. Essere sinceri? Mai. Quello mai. Aveva due possibilità. Da astuto economista qual era considerò i fattori importanti delle due ipotesi. Ipotesi A: Lasciare Giulia Litighi per tutta la notte. Scenate da pazzi. Rischi pure qualche schiaffo. [...] sei giu‐ dicato una merda da tutti gli amici di Giulia, ti devi cercare un nuovo giro (difficilissimo! ), confortare Debby perché si sentirà sicuramente una stronza a essersi rubata l’uomo della sua migliore amica, [...] e soprattutto niente piú spagnole da Giulia. Ipotesi B: Non lasciare Giulia Continui ad avere due donne con tutto il peso in termini di tempo e impegno che comporta, [...] te ne scopi due invece che una (negativo o positivo? ) ... (F 36ff.) Auch Enzo ist ein Stereotyp: Seine ›Reflexionen‹ offenbaren einen Mangel an Tiefgang, den gewissenlosen Opportunismus (»Essere sinceri? Mai.«) eines sich selbst beweihräuchernden Narzissten, der seine »strategie sentimentali« nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung abwägt. Von einem moralischen Dilemma kann nicht die Rede sein. Die mehr als banale Überlegung Enzos produziert dabei durch die Dynamik von erlebter Rede und innerem Monolog als Parodie der Psychomachia einen komischen Effekt. Eben jene Komik ist integraler Bestandteil des gesamten Textes und entsteht nicht ausschließlich durch die Ironisierung der Figuren, sondern auch durch überraschende Wendungen und die narrative Verkettung einzelner Fragmente. So beispielsweise die erzählerische Verknüpfung zwischen Fragment 45 (L’av‐ vocato Rinaldi) und Fragment 46 (Monnezza), die die Begegnung zwischen dem 2 Textanalysen 202 <?page no="203"?> Anwalt Rinaldi und dem Einbrecher-Trio rund um Monnezza in Szene setzt. Ersterer befindet sich gerade inmitten eines koprophagen Rollenspiels mit der Domina Sukia, als er drei Männer in seiner Wohnung erblickt, die im Begriff sind, seine Wertgegenstände zu rauben: Girò lo sguardo verso la porta e vide una cosa assolutamente impossibile. […] C’erano tre uomini. In smoking. In piedi vicino alla porta e lo guardavano. Uno aveva il suo fax in mano, un altro, piú grosso e con macchia di sugo sulla camicia, la fotocopiatrice Olivetti sotto braccio e il terzo la riproduzione del pensatore di Rodin, quella che aveva comprato a Parigi in viaggio di nozze, stretta in mano. (F 86) So wie auch dem Anwalt Rinaldi die drei diebischen Männer in Smoking eine »cosa assolutamente impossibile« scheinen, staunen Monezza und seine Be‐ gleiter über den absurden Anblick des nackt an den Schreibtisch gefesselten Anwalts, über dem die Prostituierte Sukia kniet: »Erano entrati in quella stanza e avevano visto una cosa assurda. Un uomo nudo e ammanettati alla scrivania e una giovane donna sopra di lui che gli stava cagando addosso.« (F 86f.) Die beiden bis dahin getrennt voneinander laufenden Handlungsstränge werden an ihrem jeweiligen Höhepunkt zusammengeführt, wobei durch den brüsken Fo‐ kalisierungswechsel die komische Absurdität (»cosa assurda«) der dargestellten Handlung herausgestellt wird. Ein weiteres Beispiel für jene Form der Verket‐ tung ist auch Fragment 6, in dem die lebensmüde Filomena durch Fenster und auf den Balkonen des »Comprensorio delle Isole« die anderen Bewohner des Komplexes beobachtet: Verso le finestre illuminate della palazzina Capri. In quel posto erano tutti felici. Famiglie, gente che credeva nel futuro. Tutti tranquilli. Tutti lì, a mangiare, a festeg‐ giare, pronti a stappare lo spumante, a brindare all’anno nuovo. A futuri successi. Su un terrazzino vide un vecchio e un bambino che guardavano con il binocolo in cielo. Quel quadretto familiare la stomacò. (F 28f.) Auch hier wird narrativ eine Verknüpfung zu einem der vorangehenden Frag‐ mente hergestellt (Fragment 4, Michele Trodini), welche einen komischen Effekt produziert, der auf der Kontrastierung von Außen- und Innenperspektive be‐ ruht: In der Tat handelt es sich bei dem liebreizenden »quadretto familiare«, das Filomena anwidert, um Michele und seinen Großvater, die entgegen Filomenas Annahme nicht den Sternenhimmel betrachten, sondern die halbnackte Giulia 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 203 <?page no="204"?> 543 Wie in Fragment 3 erzählt wird, hat diese just in dem Moment, als sie sich für den Abend umzieht, den Betrug Enzos über eine kompromittierende Nachricht auf dem Anrufbe‐ antworter entdeckt. Das Tonband lässt sie nach mehrmaligem Hören in Flammen auf‐ gehen, nur um dann darauf zu urinieren. Dies wiederum ist der Moment, in dem Michele sie in Fragment 4 durch das Fenster erblickt. Im Grunde werden hier drei Handlungs‐ stränge, die parallel laufen, über Details aufeinander bezogen. 544 Der Erzählung ist ein Werbetext vorangestellt, »Dal dépliant pubblicitario del Com‐ prensorio delle Isole (1972)«, der den Wohnkomplex als Idealort vorstellt, als »un’oasi di esclusiva calma e serenità« für jene, »chi voglia vivere a contatto con la natura ma nello stesso tempo non voglia rinunciare ai comfort moderni« (F 7). Diesem Werbetext geht wiederum ein Zitat von Clive Blatty voraus, das wie folgt lautet: »Sherree Rose vedendo che la festa era riuscita perfettamente e che gli invitati ridevano e ballavano si chiese: - Perché qui tutti si divertono e io no! Sherree non sapeva che in quel momento ogni invitato, nessuno escluso, aveva il suo stesso pensiero.« (F 5) Rajewsky zufolge werde durch diesen Kontrast zwischen Werbetext und dem »zynischen Motto des Textes« auf »die Scheinhaftigkeit von Apparenzen verwiesen«, um damit eine be‐ stimmte Erwartungshaltung im Leser zu erzeugen (Irina O. Rajewsky: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne [s. Anm. 47], S. 297). Hierzu auch Christiane von Conrad von Heydendorff: Zurück zum Realen. Tendenzen in der italie‐ nischen Gegenwartsliteratur. Vandenhoeck & Ruprecht 2017, S. 111. 545 Diese Reflexionsebene bezeichnet von Conrad von Heydendorff als »Tiefenstruktur« des Texts (ebd.). 546 Irina O. Rajewsky: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne (s. Anm. 47), S. 301ff. 547 Ebd. Giovannini mit dem Fernglas durch das Fenster bespannen. 543 Damit wird jedoch auch eine Opposition vorgeführt, die Rajewsky zufolge bereits eingangs als eine thematische Konstante auf den Plan gerufen wird: der Gegensatz von Schein und Sein. 544 Was in den Augen der vom Leben enttäuschten, suizidalen Filomena wie ein Moment unschuldigen Familienglücks erscheint, ist in Wahrheit ge‐ meiner Voyeurismus: Enkel und Großvater beobachten eine nackte Frau. Die geschickte narrative Verkettung einzelner Fragmente ist damit nicht allein bloßer komischer Effekt, sondern verweist auf die dem Text zugrundeliegende Reflexion von Schein und Sein. 545 Ammanitis Verfahren der kontrastierenden Perspektivführung ist Teil einer spezifischen Ästhetik, die Rajewsky »Dramaturgie des Aufpralls« nennt. 546 Sel‐ bige besteht nicht nur in der kontrastiven Verkettung der Erzählstränge, sondern allgemein in der für die Erzählungen der giovani scrittori typischen Vermischung des Hohen mit dem Niedrigen, der Kombination von exzessiver Gewalt und Komik, »ausgerichtet auf eine sinnliche Überwältigung und Provokation des Rezipienten«. 547 Verfahren der Kopplung von Heterogenem lassen sich bereits für die Vergleichsebene nachweisen. Ein dem Darstellungsgegenstand stilistisch unangemessenes Vergleichsmoment wird dem Bereich der banalen Alltagswelt 2 Textanalysen 204 <?page no="205"?> 548 Während auch in L’ultimo capodanno dell’umanità ein starker Bezug auf die Popbzw. Unterhaltungskultur (eine Vielzahl an Referenzen auf Film, Fernsehen und Werbung) hergestellt wird, sind auch vereinzelt Referenzen auf die Literatur zu finden: z.B. Arsène Lupin und - wie im vorliegenden Beispiel - Leopardi. Hervorzuheben ist, dass in beiden Fällen der Vergleich bemüht wird, um eine Differenz zu markieren. In Fragment 25 weiß der Einbrecher Monnezza nichts mit der von seinem Partner Orecchino erwähnten Ge‐ schichte von Arsène Lupin, »gentleman cambrioleur« anzufangen: »Quel coglione di Orecchino continuava con la storia di Arsenio Lupin, il ladro gentiluomo, ma il Monezza, che era un uomo ragionevole e pieno d’esperienza, sapeva di essere solo un volgare ladro d’appartamento« (F 65). Die Figur ist nicht der aus der Literatur bekannte edle Schelm, sondern lediglich »volgare ladro d’appartamento«, genauso wie Thierrys »pes‐ simismo cosmico« eben nicht der Leopardis ist (»altro che Leopardi«). In diesem Sinne lassen sich die intertextuellen Bezüge gewissermaßen als metapoetischer Selbstkom‐ mentar lesen: Die Figuren sind flach, ihnen fehlt Tiefgang - ein Tiefgang, wie er wohl in der literarischen Hochkultur vermutet werden kann. 549 Funktional ist dieses Verfahren dabei den sogenannten »propositions anodines«, die charakteristisch für die Texte Houellebecqs sind (vgl. Kap. 2.5.1.2, S. 231), nicht unähn‐ lich: Der erzielte Überraschungseffekt wirkt (komisch) distanzierend. entlehnt, um einen komisch-parodistischen Bruch zu erzeugen: So beispiels‐ weise als Filomena ihren (beinahe) tödlichen Medikamentencocktail zubereitet: »Filomena intanto aveva incominciato a prendere delle scatole di medicinali dalla busta. Roipnol. Alcyon. Tavor. Nirvanil. Valium. Le scartava, ne tirava fuori le pasticche e le gettava dentro alla zuppiera. Un po’ come si fa quando si sgra‐ nano i piselli.« (F 30) Und kurz darauf: »Ne riempì mezza. Poi alzò il volume della tv, si versò un po’ di Coca-Cola, poggiò i piedi sul tavolino, si mise la zuppiera tra le gambe e cominciò a sgranocchiare pillole come fossero pop-corn« (ebd.). Filomena verleibt sich die Pillen wie Popcorn ein. Umgekehrt werden hohe Bildbereiche bemüht, um einfache Handlungen und Empfindungen der Figuren zu illustrieren; so erscheint der Schläger und Hooligan Mastino di Dio, der seine Truppe zur Silvesterfeier leitet, um dort Unruhe zu stiften, wie Moses, der sein Volk nach Palästina führt (»Gli mancava la barba e sarebbe sembrato Mosè che conduce gli ebrei i Palestina«; F 85), oder Leopardi wird zu einem Vergleich herangezogen, um die Niedergeschlagenheit Thierry Marchands zu konkretisieren (»Era entrato in un pessimismo cosmico, totale e buio. Altro che Leopardi. Attaccò a suonare una canzone tristissima«; F 71). 548 Ästhetisch sind diese Vergleiche letztlich auf Diskordanz hin angelegt, die überraschend und komisch wirkt. 549 In gesteigerter Form wird dieses Stilprinzip in den finalen Gewaltimaginati‐ onen umgesetzt, insbesondere die Fragmente um den Tod Thierry Marchands, Roberta Palmieris und Enzo di Girolamos, die in der Folge analysiert werden sollen. In dem Maße wie die Handlung durch den »conto alla rovescia« be‐ schleunigt wird, so gewinnt auch die inszenierte Gewalt an Exorbitanz. Frag‐ 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 205 <?page no="206"?> 550 Rajewsky erläutert hierzu: »Ein Satz wie ›Non soffrì‹, der in jeder ernsthaften Todes‐ berichterstattung zu finden sein könnte, erscheint der Absurdität der Ereignisse nicht angemessen und wirkt gerade durch die Kontextverschiebung ironisch oder auch sar‐ kastisch und komisch auf den Leser. Ebensowenig steht die pointierte Darstellung des Todes Thierrys, die alles Menschliche durch die Materialität der Dinge und Körper er‐ setzt, in einem Verhältnis zu den vorherigen, klischeehaften und langatmigen Beschrei‐ bungen seines Seelenleides.« (Irina O. Rajewsky: Intermediales Erzählen in der italieni‐ schen Literatur der Postmoderne [s. Anm. 47], S. 302) ment 73 setzt den Tod Thierry Marchands, des erfolglosen, depressiven Mu‐ sikers, in Szene, der sich - um sich auszunüchtern - auf dem Bürgersteig vor einem der Gebäude niederlässt, und zwar jenes, in dem die von Hooligans ge‐ sprengte Feier im Apartment der Contessa entgleist. Sein klägliches Ende wird lakonisch vorgetragen: Thierry Marchand teneva gli occhi chiusi. Aspettava che la sbornia passasse per rimettersi in piedi. Il Sony Black Trinitron 58 canali lo colpì in pieno. Gli sfondò il cranio uccidendolo sul colpo. Non soffrì. Immediatamente dopo, sopra quel miscuglio senza senso di carne francese e tec‐ nologia giapponese, atterrò il corpo senza vita di Gaetano Cozzamara. (F 103) Hier treffen sich der Handlungsstrang rund um den Escort Gaetano Cozzamara und Thierry: Ein herabstürzender Fernseher, der im Gemenge auf Gaetanos Feier vom Balkon herabgeworfen wird, trifft Thierry. Die Inszenierung ist emblema‐ tisch für die letteratura pulp: qua Nennung des Gerätemodells (»Sony Black Tri‐ nitron 58«) wird ein Bezug zur Marken- und Konsumwelt hergestellt, Syntax (kurze, parataktische Sätze) und Tempus (überwiegend passato remoto wie in »colpì«, »sfondò«, »soffrì«, »atterrò«) simulieren Unmittelbarkeit und gehor‐ chen damit dem Prinzip der Plötzlichkeit (»sul colpo«, »immediatamente dopo«). Makaber wirkt dabei die Reduktion des Körpers auf Materie, welche qua Parallelismus unterschiedslos dem Unbelebten angeglichen wird: »miscuglio […] di carne francese e tecnologia giapponese« - eine Provokation, die noch gesteigert wird durch den Allgemeinplatz »Non soffrì«. 550 Gleichwohl enthält die Beschreibung der Überreste - »miscuglio senza senso« - einen autorefle‐ xiven Kommentar: Die narrative Beschleunigung des racconto zum Finale hin verdeckt die Konstruiertheit des Exzesses und der Eskalation, die die einzelnen Handlungsstränge mehr kontingent denn motiviert zusammenbringt. So auch hier: Wie Rajewsky bemerkt, wird der Leser in Fragment 60 darüber informiert, dass sich Thierry vor einem Gebäude niederlässt, um sich auszunüchtern. Es wird jedoch nicht explizit erwähnt, dass er sich dabei genau unter der Terrasse 2 Textanalysen 206 <?page no="207"?> 551 Vgl. ebd., Anm. 278. befindet, von der der Fernseher herabgeworfen wird. 551 Das inszenierte Blutbad ist sinnentleert (genauso wie es in Noves Il bagnoschiuma heißt: »Non tutto può essere comunicato«), bar jeglicher dramatischen Notwendigkeit: Es ist »shock sensorio«, der das Abgleiten in die Groteske markiert, das Abdriften des Mime‐ tischen bzw. der verosomiglianza ins Komisch-Groteske, Irreale. Auch die Darstellung des Todes der esoterischen Roberta Palmieri oszilliert zwischen exzessivem Gewaltspektakel und grotesker Komödie. Diese strebt ge‐ rade dem »orgasmo di fuoco« entgegen, als sie von einem verirrten Feuer‐ werkskörper getroffen wird: Roberta Palmieri era là là per raggiungere il quarto e ultimo orgasmo. Quello di fuoco. Quello che l’avrebbe portata piú in alto, al piacere superiore. All’estasi suprema. Al nirvana. Al contatto con i pleiadiani. […] Incominciò ad accelerare il ritmo. Alzandosi e abbassandosi come un’invasata sopra Davide Razzini che continuava a stare sotto di lei rigido come un baccalà, in uno stato ipnotico steso sul pavimento. Sí Davide! Bravissimohh Davide! Eccolo… Eccoloooo… E arrivò. Con un botto che le fece saltare tutti e due i timpani. Stranamente al posto del piacere atteso c’era dolore. Un dolore d’inferno. Sentí il fuoco infinito ustionarle le budella. Aprì gli occhi. Un nebbione padano aveva riempito la stanza. Il suo salotto mediorientale era completamente distrutto. Si guardò il ventre. E vide che le sue interiora erano diventate esteriora. Le budella le colavano giú, come un gigantesco lombrico floscio, a terra. Viscide, rosse e bruciate. Provò a tirarsi su. Non ci riuscì. Le gambe! Le sue gambe giacevano a terra, a un metro da lei, staccate di netto dal busto in un lago di sangue e carbone. (F 121f.) Komik wird hier erzeugt durch die zynische Überführung der Metapher des »orgasmo di fuoco« ins Wörtliche: »E arrivò« - jedoch nicht in Form eines überwältigenden Höhepunkts (»E arrivò« ist dabei polysem: das Verb kann sich sowohl auf den Orgasmus als auch auf den Feuerwerkskörper beziehen); »do‐ lore« statt »piacere«, ein Feuer, das ihr das Innere zerreißt. Die Darstellung folgt hier der Wahrnehmungsperspektive Robertas, die sich nur langsam dessen be‐ wusst wird, was passiert ist: Die verbrannten Gedärme treten aus, gleiten zu 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 207 <?page no="208"?> 552 Ebd., S. 303f. Boden wie ein schlaffer Regenwurm, ihr Unterkörper wurde weggesprengt und ruht in einer Blutlache einen Meter entfernt. Ammaniti paart hier schwarzen Humor mit ekelinduzierenden Bildern des zerstückelten, versehrten Körpers. Rajewsky bringt dieses Verfahren wie folgt auf den Punkt: »Die Konventiona‐ lität und Komik des Klischees trifft somit im Gewaltakt auf die Invention und das Spektakuläre der plötzlichen Wendung. Der Leser wird mit verschiedenar‐ tigen Sinneseindrücken konfrontiert, die unterschiedliche Reaktionen in ihm auslösen und sich gegenseitig in ihrer jeweiligen Wirkung verstärken«. 552 Im Rezeptionsakt folgt auf die komische Überraschung der ingeniösen Wendung der Schock des Ekelbilds. Auf analoge Weise kulminiert das Eifersuchtsdrama rund um Giulia Giovan‐ nini und Enzo di Girolamo in einer spektakulären Konfrontationsszene: Giulia bedroht den untreuen Enzo mit einer automatischen Harpune. Die narrative Gestaltung der Passage ist dabei in hohem Maße autoreflexiv insofern, als der Text seine eigenen Techniken und medialen Ressourcen reflektiert. Nicht nur wird ein Bezug zum Medium hergestellt, das die gesamte Handlungsführung und Darstellungsweise bestimmt, wenn z. B. Deborah die wahnhafte Giulia wie »un’eroina dei telefilm« (F 116) zu beschwichtigen sucht. Sondern auch Enzos Gedanken angesichts des ihm bevorstehenden Todes verweisen in letzter Kon‐ sequenz auf ein Leitmotiv des Textes: das Kontingente. Enzo vide quell’arpione acuminato puntato proprio in mezzo al suo petto. Strinse i pugni sudati e si pisciò addosso. Ma che cazzo… Io ho un sacco di cose da fare. Ho una fottuta vita davanti. Non è giusto. Devo riscrivere la relazione. Vaffanculo. Perché cosí? Cazzo, non voglio morire cosí. Perché? Avrebbe voluto chiederlo. E avrebbe voluto una risposta sensata. Se ci fosse una risposta sensata e razionale alla sua morte l’avrebbe potuta anche accettare. Ma sapeva che quella non era roba su cui discutere. Che non c’era niente da capire. Quello era un altro fatto di cronaca nera. Un altro di quei fattacci che si leggono distrattamente nelle cronache cittadine. Solo che stava capitando proprio a lui. (F 116) Enzo versucht, das ihm Widerfahrende zu begreifen, ihm einen Sinn abzuge‐ winnen, doch er scheitert. Die letzte Einsicht, zu der er gelangt, ist die, dass es nichts zu begreifen gibt. Wie auch bei Aldo Nove ist die Gewalt in Ammanitis Text keine motivierte, sondern eine des sinnlosen Exzesses: Die Figuren erfahren 2 Textanalysen 208 <?page no="209"?> 553 Brolli: »Le favole cambiano« (s. Anm. 504), S. VII. 554 Vgl. hierzu Irina O. Rajewsky: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne (s. Anm. 47), S. 305ff. Zu den (vermeintlichen) Authentisierungsstrategien zählen Verfahren, die dem Aufbau einer illusion référentielle dienen, so beispielsweise die hohe Dichte an Verweisen auf die Gegenwartskultur wie TV, Literatur, Werbung, Marken, Film etc. sowie die - wenngleich holzschnittartige - Figurenkonzeption. Zudem simulieren die paratextuellen Einschübe in Form von Überschriften den Ein‐ druck von Sukzession und Kausalität, erweisen sich bei näherem Besehen jedoch als artifizielle, unmögliche Zeitsituierungen. 555 Ebd., S. 309f. sie als willkürlich. Zudem distanziert Enzo im Moment der Todesnähe sein ei‐ genes Erleben als »fatto di cronaca nera«, als beliebige Zeitungsnotiz über Ge‐ waltverbrechen, die sich Tag für Tag ereignen und für den Leser nicht mehr als beiläufige Meldungen sind. Damit wird aber auch auf eine wesentliche ›Inspi‐ rationsquelle‹ der letteratura pulp selbst verwiesen, nämlich die cronaca nera, »fonte di storie, [...] quelle macabre, nere e sanguinose [...] le più affascinanti«, die von »gesti privi di passione e di senso« 553 erzählt und die die giovani cannibali auf neue Art und Weise in den Raum der Literatur zu überführen suchen - und dies in einer spielerischen Form. Mit dem Verweis auf die unterschiedlichen medialen Ressourcen, auf die der Text rekurriert, wird aber auch sein Konstruktcharakter hervorgehoben. Wie es das Vorwort der Anthologie Gioventù cannibale ausformuliert, erheben die gio‐ vani scrittori keinen Wahrheitsanspruch, sondern suchen vielmehr, mit mo‐ dernen, den televisiven Medien entlehnten Techniken ein »immaginario del sangue« zu kreieren. Und so erweist sich der Text als permanentes Vexierspiel zwischen »Authentisierungsstrategien« 554 und (bisweilen komisch-absurden) Entfremdungseffekten, die die Künstlichkeit der Erzählung bloßlegen. Distan‐ zierend wirkt vor allem auch der »conto alla rovescia« im Finale des Texts, der die einzelnen Erzählsegmente der dramatischen Eskalation einer forcierten Be‐ schleunigung unterjocht - mit dem Resultat, dass Erzählzeit und (simulierte) erzählte Zeit eklatant auseinanderklaffen. Der »conto alla rovescia« markiert damit einen strukturellen und inhaltlichen Wendepunkt in der Erzählung: Diese Entwicklung von einer (scheinbaren) Authentizität oder Plausibilität der Frag‐ mentierung und Uhrzeitensetzung zu deren offenkundiger Künstlichkeit entspricht der inhaltlichen Entwicklung der Erzählung, und beides wiederum beeinflußt die Haltung des Lesers im allgemeinen: Der Konstrukt- und Fiktionscharakter des ge‐ samten Textes rücken in sein Bewußtsein; es kommt zu einer nachhaltigen Untermi‐ nierung der illusion référentielle, die mit Hilfe von (Pseudo-)Authentisierungsstrate‐ gien anfänglich gerade befördert wurde. 555 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 209 <?page no="210"?> Der Text offenbart sich selbst als künstliches, nicht-mimetisches Sinnenspek‐ takel und präsentiert sich damit - nicht ohne Selbstironie - als Teil jener Pop- und Unterhaltungskultur, derer er sich frei bedient. Und doch verbirgt sich hinter dem autoreferentiellen Spiel mit Künstlichkeit auch eine Reflexion ethischer Natur über die Existenzbedingungen des mo‐ dernen Menschen - nicht zuletzt durch die leitmotivische Akzentuierung des Kontingenten. Die Geschichten rund um die Bewohner des »Comprensorio delle Isole« scheinen einen zwar schablonenhaft, doch typenhaft repräsentativen Mikrokosmos abzubilden; jedes Individuum innerhalb dieses Kosmos ist auf seine Art und Weise an der Umgebung, der Gesellschaft und dem Leben als solchem erkrankt; ein jeder steuert unweigerlich auf sein Ende zu. Die Frag‐ mentierung des Textes bildet dabei gleichsam die Vereinzelung der Figuren ab. Allein das Fernsehen scheint als Bindeglied zwischen den einzelnen Figuren zu fungieren: L’avvocato Rinaldi non era il solo a guardare il presidente alla televisione. Tutti gli inquilini e gli inviati si erano piazzati davanti ai loro apparecchi e faceva strano vedere che il Comprensorio delle Isole per quella mezz’ora di discorso si era come rilassato, fatto serio e meditativo. Di fronte alla valutazione dell’anno che finiva e alle speranze riposte nell’anno che cominciava tutti s’acquietavano. Ci si sedeva e si ascoltava. (F 32) Damit werden - ähnlich wie bei Aldo Nove - auch die Figuren Ammanitis in ihrer medialen Verfasstheit exponiert: Ein ›Miteinander‹ wird nur durch ein Medien-Ereignis ermöglicht, nämlich die Fernsehansprache des Präsidenten. Interpersonale Beziehungen existieren nur vermittelt, im direkten Kontakt es‐ kaliert ein jeder Austausch - so suggeriert es die apokalyptische Vision - im Gewaltexzess. Die Fragmentierung des menschlichen Körpers, seine Auslö‐ schung, sein elendiges Dahinsiechen scheint damit gleichsam zur Metapher des modernen Menschen zu werden. So deutet auch Ferme die in den Texten Am‐ manitis inszenierte Gewalt am Körper als Konkretisierung einer postmodernen Erfahrung: i corpi che Ammaniti si lascia dietro, tagliati, esplosi, decomposti, costituiscono uno spazio metaforico polivalente che riunisce sia una riflessione sulla decomposizione delle strutture statali tradizionali nella società contemporanea, sia le formulazioni te‐ oretiche sul ›corpo‹ discusse nelle teorie del postmoderno. Così, il miscuglio di morte e di sesso che ricorre in tutti i suoi racconti, diventa un modo di rappresentare questa sensazione di vivere, di nuovo, alla fine del mondo che sembra caratterizzare sia i rapporti interpersonali che quelli sessuali, in un’epoca in cui lo spettro del contagio di malattie mortali (come l’AIDS o l’ebola), e la speranza di vita eterna offerta dalle 2 Textanalysen 210 <?page no="211"?> 556 Valerio Ferme: »Note su Ammaniti e il Fango di Fine Millennio«. In: Narrativa 20/ 21 (2001), S. 321-335, hier S. 325f. Sabine Schrader liest den Körper in den Texten der giovani cannibali symbolisch als »Chiffre der Erfahrung der Medienrealität des Nove‐ cento«, dies.: »›La testa gli esplose‹ - Körper und Medien in den Texten der Giovani scrittori der 1990er Jahre«. In: Walburga Hülk/ Gregor Schuhen/ Tanja Schwan (Hg.): (Post-)Gender. Choreographien/ Schnitte. Bielefeld: transcript 2006, S. 85-100, hier: S. 91. 557 Niccolò Ammaniti/ Luisa Brancaccio: Seratina. In: Gioventù cannibale. Torino: Einaudi, S. 5-44, hier: S. 15. scoperte scientifiche (come la clonazione, o la scoperta della mappa del DNA) rende difficile la comunicazione fra gli individui e la costruzione di identità forti basati su concezioni essenzialiste dell’esistere. 556 So sind alle Körper im Text dem Untergang geweiht, werden ausgelöscht - einzig Filomena, die den Tod sucht, überlebt ironischerweise. Damit inszeniert auch Ammaniti ein pessimistisches Menschen- und Weltbild: In der wenngleich ab‐ surd-komischen Apokalypse in Miniatur bricht sich ein Endzeitbewusstsein Bahn, das die menschliche Existenz als Erfahrung des Kontingenten - genauer: kontingenter Gewalt - fasst, eine Erfahrung, die indessen die einzige Gewissheit zu sein scheint. In diesem Sinne scheint das menschliche Schicksal determiniert. An anderer Stelle formuliert Ammaniti eine ähnlich pessimistische Weltsicht. In der Erzählung Seratina, die er zusammen mit Luisa Brancaccio in der Antho‐ logie Gioventù cannibale veröffentlichte, vergleicht sich der Protagonist, der ähnlich wie Christiano und Ossadipesce in L’ultimo capodanno seine existenti‐ elle Orientierungslosigkeit durch Drogen zu kompensieren sucht, mit einem im Rad gefangenen Hamster: Era stanco. Stanco di perdere tempo. Stanco di non riuscire piú a studiare. Stanco di non concentrarsi. Improvvisamente ebbe la sensazione di essere un criceto salito per sbaglio sulla ruota e costretto a girare per sempre. La gente crede che i criceti si di‐ vertano. Non è vero. I criceti sulla ruota ci salgono per sbaglio e ci mettono un sacco di tempo a capire che solo se la smettono di correre la ruota si ferma e possono scen‐ dere. 557 Diese nihilistische Vision auf das Leben lässt sich freilich auch auf L’ultimo ca‐ podanno übertragen. Die Figuren scheinen allesamt einer solchen existentiellen Orientierungslosigkeit unterworfen zu sein. Besonders Filomena veranschau‐ licht dies: Der von ihr gewählte Weg, vom Hamsterrad des Lebens abzuspringen, ist der Suizid - ein Versuch, der misslingt. In diesem Sinne lässt sich das Ende - Filomenas Überleben - auf doppelte Weise deuten: Sono morti tutti! Tutti quanti. Io sola sono sopravvissuta. Ne era sicura. 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 211 <?page no="212"?> Nessuno si accorse di lei. Nessuno fece caso a quella donna grassa e brutta in camicia da notte e con i capelli appicciati alla testa che camminava a quattro zampe su quei cumuli di macerie. Attraversò le rovine come un fantasma invisibile. E forse lo era veramente. Erano tutti troppi presi nei lavori di scavo. Superò a passi incerti i resti contorti del cancello del Comprensorio delle Isole e si avviò a piedi nudi, sotto la poggia, sulla Cassia. Dove stava andando? A vivere. (F 154) In einer pessimistischen Deutung scheint hier die Unausweichlichkeit des Schicksals auf besonders zynische Art und Weise demonstriert zu werden: Das Hamsterrad dreht sich unaufhörlich weiter; Filomena bleibt für andere nichts als ein »fantasma invisibile« und so wird sie ihre mediokre Existenz in der Un‐ scheinbarkeit gezwungenermaßen fortsetzen. Und doch verbirgt sich in den letzten Zeilen vielleicht das Hoffnungsbild einer möglichen Neugeburt: »a passi incerti«, mit nackten Füßen - wie ein Kleinkind - überquert sie im reinigenden Regen die Trümmer des einstigen »Comprensorio delle Isole«. Wie ein Phönix aus der Asche entsteigt sie der verbrannten Ruine mit dem Ziel zu leben (»a vivere«) und in diesem Sinne scheint sich hier nicht nur bittere Resignation, sondern auch ein Silberstreif - die Möglichkeit einer Neuerfindung - anzu‐ deuten. 2.4.4 Zwischenfazit zu den giovani cannibali Sowohl die Texte Aldo Noves als auch die Erzählung Ammanitis korrespon‐ dieren idealtypisch mit der Ästhetik der letteratura pulp: Sie inszenieren spek‐ takuläre Gewaltexzesse vor dem Hintergrund einer durch intermediale Refe‐ renzen auf Pop- und Gegenwartskultur simulierten Alltagswelt, bedienen sich dabei heterogener Sprachmaterialien und experimentieren mit traditionellen Erzählformen. Die Figuren sind verflacht (bei Aldo Nove verfügen sie über kei‐ nerlei Psychologie, bei Ammaniti sind sie klischierte Alltagstypen), die darge‐ stellten Handlungen und Vorgänge unterstehen dem Primat des Sensationellen. Die Texte Noves und Ammanitis scheinen damit in einem ersten Moment allein einer nicht engagierten Lektüre zugänglich. Die Erzählungen erweisen sich als Teil eben jener Unterhaltungskultur, auf die sie rekurrieren. Doch gerade diese starke Medienbezogenheit erlaubt ferner eine ethisch motivierte Lektüre: Die spektakulär inszenierte Gewalt erweist sich als Symptom und Katalysator einer spezifisch postmodernen Kontingenzerfahrung; Medienüberreizung und ein ge‐ 2 Textanalysen 212 <?page no="213"?> nereller Werteverlust entladen sich in roher Gewalt, welche - und dies zeigen sowohl Nove als auch Ammaniti - jeglicher Sinnhaftigkeit entbehrt. Die Schock‐ ästhetik der giovani cannibali bringt in überspitzter, provokanter Art und Weise die Absurdität alltäglicher Gewalterfahrungen und die Einflussmacht medialer Bilder und Funktionslogiken zur Geltung. Die letteratura pulp verflüssigt damit literarische Grenzen: Einerseits zeigen sich die Texte als selbstbezügliches Spiel mit den Erwartungen des Lesers; andererseits kann dieser wohlkalkulierte Schockmoment jedoch als Aufruf zu einer engagierten Reflexion über den Status eben jener Gesellschaft, die der Text überspitzt zur Rechenschaft zieht, ver‐ standen werden. Ein zentraler Begriff scheint in diesem Zusammenhang »vis‐ cido« zu sein, der in jeder der hier untersuchten Erzählungen begegnet. Als solcher dient er zuvorderst einem ›splatterhaften‹ Anschaulichkeitseffekt, kann jedoch auch als metapoetischer Schlüsselbegriff fungieren, da er nicht zuletzt auf die eigene Textgattung »pulp« - in wörtlicher Übersetzung »a soft mass« - verweist und damit stets auch die Verflüssigung sowohl außerals auch inner‐ literarischer Konventionen impliziert. 2.4 Gioventù cannibale: Nove und Ammaniti 213 <?page no="214"?> 558 Michel Houellebecq: »C’est ainsi que je fabrique mes livres. Un entretien avec Frédéric Martel«. In: La Nouvelle Revue Française 548 (1999), S. 197-209, hier: S. 208. 559 Mirjam Schaub: »Die Feigheit des Affekts. Bei Houellebecq kommt das Ressentiment wieder zu seinem Recht«. In: Thomas Steinfeld (Hg.): Das Phänomen Houellebecq. Köln 2001, S. 33-53, hier: S. 33. 560 Darunter z.B. der Sammelband Michel Houellebecq: Interventions. Paris 1998, der In‐ terviews sowie Aufsätze bzw. Essays Houellebecqs vereint, das Essaywerk Rester vivant et autres textes. Paris 2001, sowie Michel Houellebecq/ Bernard-Henri Lévy: Ennemis publics. Paris 2008, eine essayistische Korrespondenz zwischen Houellebecq und dem Schriftsteller, Essayist und Philosophen Lévy. 2.5 Michel Houellebecq je suis porteur de mauvaises nouvelles; j’an‐ nonce la fin d’un monde; j’annonce, en un sens, la fin de la civilisation occidentale. Circonstance aggravante: j’envisage l’apo‐ calypse avec une certaine désinvolture, et je vais jusqu’à envisager des possibilités de re‐ construction. 558 Nur wenige Gegenwartsautoren verfügen über eine derartige Medienpräsenz wie der französische Schriftsteller und Dichter Michel Houellebecq, enfant ter‐ rible der europäischen Literaturszene, oder auch: »Ketzer, Seelentröster und Pornograph«. 559 Seit der Veröffentlichung seines zweiten Romans Les Particules élémentaires (1998) steht Houellebecq im Zentrum einer öffentlichen Polemik, bei der sich die Geister scheiden: Für die einen ist er sensibler Beobachter ge‐ genwärtiger Gesellschaftsverhältnisse, der Irrungen und Wirrungen des gemar‐ terten modernen Menschen treffend veranschaulicht; für die anderen wiederum ist er ein reaktionärer Quälgeist ohne jegliche literarische Raffinesse. Wie konträr sich die Meinungen um das Schaffen Houellebecqs auch immer zuei‐ nander verhalten mögen, so bezeugt die Kontroverse doch immerhin seine Be‐ deutsamkeit für die Gegenwartsliteratur. Dabei sind seine Texte kaum von der öffentlichen Autorenidentität zu trennen, die sich Houellebecq in einer Vielzahl an essayistischen Schriften 560 und Interviews in Film und Fernsehen sowie den Printmedien schaffte. Die Persona »Houellebecq« scheint zu belegen, dass der Autor in der Postmoderne wiederauferstanden ist. In der Tat koinzidieren seine öffentlichen Aussagen nicht selten mit dem provokanten Thesenapparat, den er in seinen Romanen entwickelt. So hat er sich in Interviews mit islamophoben Äußerungen hervorgetan, für die er gleichfalls in seinem Roman Plateforme (2001) kritisiert wurde. Eine Dissoziation der Autorenpersona vom geschrie‐ 2 Textanalysen 214 <?page no="215"?> 561 Corina da Rocha Soares: »Michel Houellebecq et son œuvre face aux médias«. In: Sabine van Wesemael/ Bruno Viard (Hg.): L’unité de l’œuvre de Michel Houellebecq. Paris 2013 (=Série littérature des XXe et XXIe siècles 8), S. 411-424, hier: S. 412. 562 Zu Les Particules élémentaires als Kultbuch vgl. Roland Spiller: »Sex, Lust und Depres‐ sion. Michel Houellebecqs Kult elementarer Energien«. In: Rudolf Freiburg/ Markus May/ Roland Spiller (Hg.): Kultbücher. Würzburg 2004, S. 201-221. benen Text ist unter diesen Bedingungen kaum noch möglich; vielmehr ist Hou‐ ellebecq-personnage Teil seines eigenen Œuvres geworden - und dies im wahrsten Sinne des Wortes, schreibt sich Houellebecq doch in seinem preisge‐ krönten Roman La Carte et le Territoire (2010) als Double seiner selbst in den Text hinein, um dergestalt sein eigenes Medien-Image zu reflektieren (und auch zu karikieren). In der Tat lässt sich mit Corina da Rocha Soares fragen, ob Hou‐ ellebecq damit zum Prototyp einer neuen, ›starifizierten‹ Autorenpersona ge‐ worden ist: »Plus que jamais l’écrivain dépasse son œuvre; il ne peut s’isoler de la société du spectacle et de son star-system dans lesquels il vit et qui le font vivre: la tour d’ivoire serait-elle devenue impossible? « 561 Nahezu jede Neuerscheinung Houellebecqs wurde von einem Skandal be‐ gleitet bzw. fand in den Medien ein hohes Maß an Aufmerksamkeit: Les Particules élémentaires wurde sowohl zum Kultbuch 562 als auch Schreckensbild einer post‐ modernen Generation, Plateforme provozierte hitzige Diskussionen ob seiner islamophoben Thesen und der scheinbaren Apologie des Sex-Tourismus, La Possibilité d’une île (2005) fand reißenden Absatz nach seiner Erstveröffentli‐ chung und wurde für den Prix Goncourt nominiert, La Carte et le Territoire sorgte nicht zuletzt aufgrund des autofiktionalen Selbstmordes Houellebecqs für Fu‐ rore und Soumission (2015) konnte mit seiner Thematik - die in der nahen Zu‐ kunft imaginierte Islamisierung Frankreichs bzw. Europas - angesichts seiner Erscheinung wenige Tage nach den Anschlägen auf die Redaktion des Magazins Charlie Hebdo kaum brisanter wirken. Die Entwicklung des Houellebecq’schen Romans stellt dabei auch eine literarische Erfolgsgeschichte dar. Handelt es sich bei den Frühwerken zunächst größtenteils um Publikumserfolge, so gewinnen Houellebecqs spätere Veröffentlichungen durchaus auch an literarischem Pres‐ tige - was sicherlich nicht zuletzt auch einer gewissen Domestizierung tenden‐ ziell skandalträchtiger Schreibweisen und Inhalte geschuldet ist. Es scheint fast ironisch, dass der notorische Bürgerschreck Houellebecq schließlich für sein bislang ›zahmstes‹ Werk, La Carte et le Territoire, mit dem Prix Goncourt geehrt wird. In der Tat lässt sich durchaus ein quantitativer Rückgang kruder Sexszenen sowie eine Dämpfung des harschen Furors, der noch die ersten Romane, Exten‐ sion du domaine de la lutte, Les Particules élémentaires und Plateforme durch‐ 2.5 Michel Houellebecq 215 <?page no="216"?> 563 Dass Houellebecq im Verlauf der Jahre durchaus weniger harsch vorgeht, bemerkt auch Corina da Rocha Soares: »Michel Houellebecq et son œuvre face aux médias« (s. Anm. 561), S. 418. 564 Vgl. Susanna Frings: »A la recherche de l’homme perdu« (s. Anm. 52), S. 159. 565 Jochen Mecke: »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literaturskan‐ dals« (s. Anm. 51), S. 195. 566 Houellebecq: »C’est ainsi que je fabrique mes livres« (s. Anm. 558), S. 201. dringt, verzeichnen; 563 die Provokation resultiert vornehmlich aus einer subtilen Ironisierung und Ambiguierung verschiedener Diskurse und Vorgängen, die letztendlich auf eine Verunsicherung des Lesers abzielen. Das Schockmoment seiner Frühwerke, das vor allem auf sensationalistischer Effekthascherei beruht, übersetzt sich in eine weniger laute Poetik der Irritation. Nicht selten wurde Houellebecq der Vorwurf gemacht, keinen Stil zu besitzen, bisweilen das Sujet über ästhetische Aspekte des Schreibens zu privilegieren. 564 Dass sich jedoch das Irritationspotential des Houellebecq’schen Œuvres nicht allein auf die provokante Sujetwahl beschränken lässt, sondern »erst die explo‐ sive Mischung aus [den] Thesen und der literarischen Form, in der sie präsen‐ tiert wurden« 565 das eigentliche Skandalon darstellt, wird in der Folge zu zeigen sein. Daher erfolgt die Romananalyse vorrangig auf zwei Ebenen, und zwar einerseits auf der histoire-Ebene, d.h. die des potentiell skandalträchtigen Sujets, andererseits auf jener des discours, d.h. es geht um die Verfasstheit des Textes bzw. die literarischen Verfahren, die zu dem besonderen Wirkungspotential der Romane beitragen. Dass Houellebecq dabei auf variable Strategien zurückgreift, wird ein Vergleich der folgenden Romane, die in dieser Hinsicht besonders er‐ giebig erscheinen, erweisen: Les Particules élémentaires (2.5.1), La Possibilité d’une île (2.5.2) und La Carte et le Territoire (2.5.3). 2.5.1 Les Particules élémentaires (1998) 2.5.1.1 Ein provokanter Thesenroman: Les Particules élémentaires und die Geschichte des modernen Menschen La littérature n’est pas censée être optimiste, délivrer des messages d’espoir, faire en sorte que les gens aiment la vie; dans ce sens, elle est très différente de la propagande. 566 Literatur soll nicht optimistisch sein, heißt es bei Houellebecq in einem Inter‐ view. Es sei nicht ihre Aufgabe, hoffnungsvolle Botschaften zu transportieren. Gemäß dieser negativen Funktionszuschreibung der Literatur zeugen seine Ro‐ 2 Textanalysen 216 <?page no="217"?> 567 Der Gattungsbegriff erweist sich insofern als problematisch, als innerfiktional die Zu‐ kunftswelten in Houellebecqs Romanen als bessere vorgestellt werden. Doch implizit findet sich das utopische Element aufgehoben, sodass hier der Schirmbegriff der Dys‐ topie privilegiert werden soll. Zum Verhältnis von Rahmen- und Binnenerzählung bzw. der Konstruktion der Utopie in Les Particules élémentaires vgl. auch Spiller: »Sex, Lust und Depression. Michel Houellebecqs Kult elementarer Energien« (s. Anm. 544); Ka‐ tharina Chrostek: Utopie und Dystopie bei Michel Houellebecq. Komparatistische Stu‐ dien. Frankfurt am Main [u.a.] 2011 (=Studien und Dokumente zur Geschichte der Ro‐ manischen Literaturen 59), S. 89-138; Kian-Harald Karimi: »Nous n’étions que des machines conscientes: Von der Unausweichlichkeit des Utopischen in Romanen Michel Houellebecqs«. In: Kurt Hahn/ Matthias Hausmann (Hg.): Visionen des Urbanen. (Anti-)Utopische Stadtentwürfe in der französischen Wort- und Bildkunst. Heidelberg 2012, S. 205-229; zwar mit Schwerpunkt auf La Possibilité d’une île, doch unter Berück‐ sichtigung des Romans Les Particules élémentaires vgl. Matthias Hausmann: »Die Zu‐ kunftsvision in Michel Houellebecqs La possibilité d’une île (2005)«. In: Schau ins Blau. Zeitschrift des interdisziplinären Zentrums für Literatur und Kultur der Gegenwart 8 (2008), unpag. mane, insbesondere seine Dystopien 567 Les Particules élémentaires und La Possi‐ bilité d’une île, von einem außerordentlich pessimistischen Grundtenor. Der zweite Roman Michel Houellebecqs, Les Particules élémentaires (1998), sollte nach dem zunächst nur wenig bekannten Erstlingswerk Extension du domaine de la lutte endgültig Houellebecqs Status als Kultautor und enfant terrible der französischen Literaturszene besiegeln. Erzählt wird die Geschichte der beiden Halbbrüder Bruno und Michel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, welche wiederum in eine knappe Rahmenhandlung, bestehend aus Prolog und Epilog, eingebettet ist. Diese entwirft die innerfiktional als Utopie markierte Vision einer posthumanen Spezies, die von den Defekten der ihr vorausgehenden Gat‐ tung Mensch befreit ist. Ein Vertreter eben jener Spezies, ein sogenannter néo-humain, entpuppt sich denn auch als Erzähler, der sowohl den Menschen bzw. die Gesellschaft im Allgemeinen als auch die einzelnen Figuren des Romans beobachtet und kommentiert. 2.5 Michel Houellebecq 217 <?page no="218"?> 568 Der Thesenroman wird von Suleiman wie folgt definiert: »Je définis comme roman à thèse un roman »réaliste« (fondé sur une esthétique du vraisemblable et de la repré‐ sentation) qui se signale au lecteur principalement comme porteur d’un enseignement, tendant à démontrer la vérité d’une doctrine politique, philosophique, scientifique ou religieuse.« (Susan Rubin Suleiman: Le Roman à thèse, ou l’autorité fictive. Paris 1983, hier: S. 14.) Es handelt sich demnach um eine Form des exempelhaften Erzählens: Die Narration dient der Veranschaulichung einer übergeordneten These. Vgl. hierzu auch: Liesbeth Korthals Altes: »Persuasion et ambiguité dans un roman à thèse postmoderne (Les Particules élémentaires)«. In: Sabine van Wesemael (Hg.): Michel Houellebecq. Avec une interview inédite de l’auteur. Amsterdam/ New York 2004, S. 29-45. 569 Zum Welt- und Gesellschaftsbild, das Houellebecq in seinen Romanen zeichnet, siehe u.a. Julia Pröll: Das Menschenbild im Werk Michel Houellebecqs (s. Anm. 49); Constanze Alt: Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart (s. Anm. 50); ferner zu seiner Weltan‐ schauung und Philosophie (sowie deren Verwandtschaft mit jener Schopenhauers) vgl. Dietmar Horst: Houellebecq der Philosoph: ein Essay. Norderstedt 2006. 570 Michel Houellebecq: Les Particules élémentaires. Paris 1998. Nachweise werden in der Folge im Fließtext mit der Abkürzung »PE« erbracht. Der gemeinhin als Thesenroman 568 qualifizierte Text provozierte vor allen Dingen wegen des pessimistischen Menschenbildes, 569 das Houellebecq vermit‐ tels der Geschichte um die beiden Brüder Michel und Bruno, die als Prototypen des modernen Individuums fungieren, konturiert. So steht im Roman die menschliche Existenz von Beginn an im Zeichen der souffrance: Ce livre est avant tout l’histoire d’un homme, qui vécut la plus grande partie de sa vie en Europe occidentale, durant la seconde moitié du XX e siècle. […] Le pays qui lui avait donné naissance basculait lentement, mais inéluctablement, dans la zone éco‐ nomique des pays moyen-pauvres; fréquemment guettés par la misère, les hommes de sa génération passèrent en outre leur vie dans la solitude et l’amertume. Les sen‐ timents d’amour, de tendresse et de fraternité humaine avaient dans une large mesure disparu; dans leurs rapports mutuels ses contemporains faisaient le plus souvent preuve d’indifférence, voire de cruauté. 570 Indifferent, grausam, kalt und nicht zu aufrichtiger Liebe und Zärtlichkeit fähig, ist der moderne Mensch zu einem Dasein der Einsamkeit und Bitternis ver‐ dammt - dieses Bild zeichnet der Incipit der Particules élémentaires. Wie Karin Mantel formuliert, trägt Houellebecqs Gesellschaftsanalyse den »Charakter einer historischen, soziologischen und biologistischen Schuldzuweisung, sie be‐ 2 Textanalysen 218 <?page no="219"?> 571 Karin Mantel: »Anerkennung und Engagement oder Hedonismus und Pessimismus? Individualethische Konzepte in der französischen Gegenwartsliteratur bei Michel Hou‐ ellebecq und Marie Redonnet«. In: Alexandra Böhm/ Antje Kley (Hg.): Ethik und Aner‐ kennung. Philosophische, literarische und gesellschaftliche Perspektiven. Paderborn/ München 2011, S. 285-308, hier: S. 288. schreibt den Menschen des 21. Jahrhunderts als letzten Menschen im Sinne Nietzsches«. 571 Im Kontext der auf die gesamte Menschheit bezogenen Zeit- und Gesell‐ schaftskritik fungieren die Lebensläufe der beiden Protagonisten Bruno Clé‐ ment und Michel Djerzinski als Illustrationen eines unter den gegebenen Um‐ ständen repräsentativen Menschenschicksals - und zwar eines voller Enttäuschungen. Der rastlose Erotomane Bruno, der wie besessen nach sexu‐ eller Erfüllung sucht, einerseits, und der weltfremde, bindungsunfähige Natur‐ wissenschaftler Michel andererseits sind damit sowohl gegensätzliche, jedoch auch gleichermaßen komplementäre Figuren, die jede für sich das Leiden am Menschsein veranschaulichen. Beide sind von der gemeinsamen Mutter Janine zugunsten eines libertinen Hippielebens bei den jeweiligen Großeltern zurück‐ gelassen worden, haben jedoch einen vollkommen unterschiedlichen Weltzu‐ gang: Während Bruno versucht, mit der Welt in Kontakt zu treten, an der (Sex-)Gesellschaft teilzuhaben, grenzt sich Michel bewusst ab. Gemeinsam ist ihnen jedoch das Scheitern bzw. die Unfähigkeit zu einer harmonischen Integ‐ ration, d.h. sie beide führen letztendlich eine monadische Existenz. Geglücktes Beieinander ist dabei stets nur vorübergehend: Bruno erfährt zum ersten Mal in seinem Leben sexuelle Erfüllung und Wertschätzung in seiner Beziehung zu Christiane; diese erleidet jedoch nach einem Unfall in einem Swinger-Club einen irreparablen Schaden an der Wirbelsäule und setzt ihrem Leben als Schwerbe‐ hinderte kurzerhand ein Ende, indem sie Selbstmord begeht; auch Michel ent‐ wickelt eine gewisse Zuneigung gegenüber seiner Jugendfreundin Annabelle, was wohl einer Liebeserfahrung noch am nächsten kommt; doch auch diese zärtliche Verbindung findet sich jäh aufgehoben, als Annabelle an Gebärmut‐ terkrebs stirbt. In den individuellen Schicksalen der Figuren zeichnet sich damit das allgemeine Prinzip des Scheiterns ab. Die Figuren Bruno und Michel unterliegen als Repräsentanten des modernen Individuums damit einer »Doppelbestimmtheit« als Individuum einerseits; und »zum anderen lässt es [das Individuum] sich durch die Unterwerfung unter die 2.5 Michel Houellebecq 219 <?page no="220"?> 572 Betül Dilmac: »Die Vermischung von literarischem und naturwissenschaftlichem Dis‐ kurs bei Michel Houellebecq«. In: Thomas Klinkert/ Monika Neuhofer (Hg.): Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie - Epistemologie - komparatistische Fallstudien. Berlin/ New York 2008 (=spectrum Literaturwissenschaft. Komparatistische Studien 15), S. 293-312, hier: S. 295. historischen, sozio-ökonomischen Faktoren auch als passives Element einer historischen Bewegung begreifen«. 572 Pouvait-on considérer Bruno comme individu? Le pourrissement de ses organes lui appartenait, c’est à titre individuel qu’il connaîtrait le déclin physique et la mort. D’un autre côté sa vision hédoniste de la vie, les champs de forces qui structuraient sa conscience et ses désirs appartenaient à l’ensemble de sa génération. De même que l’installation d’une préparation expérimentale et le choix d’un ou plusieurs obser‐ vables permettent d’assigner à un système atomique un comportement donné -, de même Bruno pouvait paraître comme un individu, mais d’un autre point de vue il n’était que l’élément passif du déploiement d’un mouvement historique. Ses motiva‐ tions, ses valeurs, ses désirs: rien de tout cela ne le distinguait, si peu que ce soit, de ses contemporains. (PE 178) Wie in diesem Zitat deutlich wird, lässt sich die Figur bei Houellebecq - und damit auch im weiteren Sinne der Mensch - als Doppelwesen verstehen, das gemäß dem Komplementaritätsprinzip nach Niels Bohr sowohl Individuum als auch Stellvertreter einer gesamten Generation ist; genauso wie Elementarteil‐ chen sich einerseits als Korpuskeln, aber auch in Form von Wellen manifestieren können (dabei handelt es sich um den sogenannten »Teilchen-Welle-Dua‐ lismus«). Damit kondensiert sich Houellebecqs kritische Zeitanalyse in der na‐ mensgebenden Metapher der Elementarteilchen, welche auf mehreren Ebenen operiert: Auf der einen Seite verweist sie auf das Komplementaritätsprinzip, auf der anderen greift sie das Bild des Menschen als Monade, als isolierte Entität auf: Der einzelne Mensch ist die letzte unteilbare bzw. unauflösbare, aber eben auch unversöhnliche Instanz. Dieser beklagenswerte Zustand radikaler Isolation ist wiederum auf konkrete historische Fehlentwicklungen zurückzuführen: auf die Ausbildung eines abso‐ luten Individualismus und die damit einhergehende Auflösung sämtlicher tra‐ ditioneller Bindungen. So betont Houellebecq in den Interventions: La conséquence logique de l’individualisme, c’est le meurtre et le malheur [...] La dissolution progressive au fil des siècles des structures sociales et familiales, la ten‐ dance croissante des individus à se percevoir comme des particules isolées, soumises 2 Textanalysen 220 <?page no="221"?> 573 Michel Houellebecq: Interventions (s. Anm. 560), S. 47. 574 Houellebecq formuliert diese These erstmals in seinem Erstlingswerk. So lässt er seinen namenlosen Erzähler wie folgt räsonieren: »Décidément, me disais-je, dans nos sociétés, le sexe représente bel et bien un second système de différenciation, tout à fait indépen‐ dant de l’argent; et il se comporte comme un système de différenciation au moins aussi impitoyable. Les effets de ces deux systèmes sont d’ailleurs strictement équivalents. Tout comme le libéralisme économique sans frein, et pour des raisons analogues, le libéralisme sexuel produit des phénomènes de paupérisation absolue. Certains font l’a‐ mour tous les jours; d’autres cinq ou six fois dans leur vie, ou jamais. Certains font l’amour avec des dizaines de femmes; d’autres avec aucune. C’est ce qu’on appelle la ›loi du marché‹. […] En système économique parfaitement libéral, certains accumulent des fortunes considérables; d’autres croupissent dans le chômage et la misère. En sys‐ tème sexuel parfaitement libéral, certains ont une vie érotique variée et excitante; d’autres sont réduits à la masturbation et la solitude. Le libéralisme économique, c’est l’extension du domaine de la lutte, son extension à tous les âges de la vie et à toutes les classes de la société. De même, le libéralisme sexuel, c’est l’extension du domaine de la lutte, son extension à tous les âges de la vie et à toutes les classes de la société.« (Michel Houellebecq: Extension du domaine de la lutte. Roman. Paris 1994, S. 100). à la loi des chocs, agrégats provisoires de particules plus petites... tout cela rend bien sûr inapplicable la moindre solution politique. 573 Und gleichermaßen lässt er auch Michel im Roman urteilen: »L’amour lie, et il lie à jamais. La pratique du bien est une liaison, la pratique du mal une déliaison. La séparation est l’autre du mal« (PE 302). Der den Menschen bestimmende Individualismus ist indessen auch ganz explizit auf historische Ereignisse und soziokulturelle Entwicklungen zurückzuführen: die sexuelle Befreiung, 68er Revolution und New Age: Il est piquant de constater que cette libération sexuelle a parfois été présentée sous la forme d’un rêve communautaire, alors qu’il s’agissait en réalité d’un nouveau palier dans la montée historique de l’individualisme. Comme l’indique le beau mot de »mé‐ nage«, le couple et la famille représentaient le dernier îlot de communisme primitif au sein de la société libérale. La libération sexuelle eut pour effet la destruction de ces communautés intermédiaires, les dernières à séparer l’individu du marché. (PE 116) Diese Fehlentwicklung, die in der die Auflösung traditioneller Gesellschafts‐ strukturen begründenden sexuellen Befreiung besteht, ist Dreh- und Angel‐ punkt der Houellebecq’schen These der »Ausweitung der Kampfzone« (gemäß dem Titel seines ersten Romans): 574 Der Liberalismus habe zu einem unerbittli‐ chen Kampf auf einer weiteren Ebene geführt - die von ökonomischen Prinzi‐ pien bisher unberührt geblieben war -, und zwar der der Sexualität. Es handele sich um eine Form der Merkantilisierung, die ein inkommensurables Gefälle zwischen Reich und Arm erzeuge, wobei Letztere aufgrund ihres geringen (At‐ 2.5 Michel Houellebecq 221 <?page no="222"?> 575 Vgl. Laurence Dahan-Gaida: »La fin de l’histoire (naturelle): Les particules élémentaires de Michel Houellebecq«. In: Tangence 73 (2003), S. 93-114, hier: S. 100. 576 Vgl. Rita Schober: »Weltsicht und Realismus in Michel Houellebecqs utopischem Roman Les particules élémentaires«. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 25 (2001), S. 177-211; zum Bezug Zola und Houellebecq siehe auch: Rita Schober: Auf dem Prüfstand. Zola - Houellebecq - Klemperer. Berlin 2003; Aurélie Barjonet: »Bienfaits de la littérature putride? Le cas des Particules élémentaires de Michel Houellbecq et des Bienveillantes de Jonathan Littell«. In: Lendemains 33 (2008), S. 94-109; Sandrine Ra‐ bosseau: »Houellebecq ou le renouveau du roman expérimental«. In: Murielle Lucie Clément/ Sabine van Wesemael (Hg.): Michel Houellebecq sous la loupe. Amsterdam 2007, S. 43-51. Ferner zu Houellebecq und der wissenschaftlichen Methode als Kompositi‐ onsprinzip siehe: Dilmac: »Die Vermischung von literarischem und naturwissenschaft‐ lichem Diskurs bei Michel Houellebecq« (s. Anm. 572). 577 Ute Seiderer: »Irrfahrt«. In: Stephan Günzel (Hg.): Lexikon der Raumphilosophie. Darm‐ stadt 2012, S. 191-192. traktivitäts-)Kapitals unweigerlich vereinsamen würden. Der Geschlechtsakt verkomme dabei zu einem selbstzentrierten Ritus der narzisstischen Selbstbe‐ stätigung - und der Körper zu einer Ware. Houellebecq moniert hier, was Pa‐ solini bereits knapp 30 Jahre zuvor zu beanstanden hatte. Die Protagonisten des Romans sind gleichsam defekte Prototypen des mo‐ dernen Menschen, der freigesetzt in einer in jeglicher Hinsicht nach den Regeln des kapitalistischen Marktes funktionierenden Welt die Last seines eigenen Seins tragen muss. Unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft kann sich der Lebensvollzug auch nur als richtungsloses, unerfülltes Irren erweisen. Dies ist eine weitere Bedeutungsdimension der Metapher der Elementarteilchen: So wie Teilchen grundlegend instabil, d.h. immer schon im Werden, in der wellen‐ förmigen Transformation begriffen sind, so wird auch der Mensch als kleinster, irreduzibler Teil einer unbarmherzigen Gesamtbewegung gen Untergang hin‐ fort getragen. 575 Tatsächlich vertritt Houellebecq in diesem Roman einen rigo‐ rosen Determinismus, der den Menschen als Produkt seiner biologischen und sozialen Erbanlagen versteht: »Les conditions initiales étant données, pensait-il, le réseau des interactions initiales étant paramétré, les événements se dévelop‐ pent dans un espace désenchanté et vide; leur déterminisme est inéluctable. Ce qui s’était produit devait se produire, il ne pouvait en être autrement; personne ne pouvait en être tenu responsable« (PE 89). Damit nähert sich Houellebecq dem Naturalismus eines Émile Zola an, dessen roman expérimental Pate steht für eine Romantheorie, die auf dem wissenschaftlichen Prinzip des Beobachtens und Erfassens beruht. 576 Ist der Mensch also von vornherein determiniert, dann wird die Irrfahrt zur adäquaten Metapher für den Lebensvollzug, steht sie doch für die meist vergebliche Suche nach (geliebten) »Menschen, Orten oder Ereig‐ nissen«. 577 Die Tragik dieser verirrten Suche, die stets fruchtlos bleibt, wird vor 2 Textanalysen 222 <?page no="223"?> 578 Inwiefern Houellebecq der Dekadenzliteratur verpflichtet ist, erläutert Morgane Leray: »Un autre dix-neuvième siècle: Michel Houellebecq décadent? «. In: Sabine van Wese‐ mael/ Bruno Viard (Hg.): L’unité de l'œuvre de Michel Houellebecq. Paris 2013 (=Série littérature des XXe et XXIe siècles 8), S. 281-291. 579 Michel Houellebecq/ Bernard-Henri Lévy: Ennemis publics (s. Anm. 560), S. 118f. allem auch durch Annabelle repräsentiert, die aufgrund ihrer extremen Schön‐ heit einem unaufhaltsamen Untergang (»irrémédiable déchéance«) geweiht ist, da - wie der Erzähler bemerkt - sich allein »les êtres les plus vils« ihrer eben‐ bürtig fühlen und sie dergestalt niemals die Erfahrung einer aufrichtigen und harmonischen Liebesbeziehung, nach der sie sich so sehnt, machen wird (PE 58). Die Menschheitsgeschichte erweist sich demnach als fortschreitend fehler‐ hafte Evolution - oder besser: Degeneration bzw. dégradation - eines überkom‐ menen Modells, das es zu überwinden gilt. Tatsächlich scheint sich der Roman thematisch gleichsam der Dekadenzliteratur anzunähern, indem er den Verfall auf unterschiedlichen Ebenen - die körperliche, allgemein zwischenmensch‐ liche und gesamtgesellschaftliche - inszeniert. 578 Die apokalyptische Idee des umfassenden und irreversiblen Zerfalls erweist sich als thematischer Nukleus des Houellebecq’schen Romanwerks: Or, s’il y a une idée, une seule, qui traverse tous mes romans, jusqu’à la hantise parfois, c’est bien celle de l’irréversibilité absolue de tout processus de dégradation, une fois entamé. Que cette dégradation concerne une amitié, une famille, un couple, un grou‐ pement social plus important, une société entière; dans mes romans il n’y a pas de pardon, de retour en arrière, de deuxième chance: tout ce qui est perdu est bel et bien, et à jamais, perdu. C’est plus qu’organique, c’est comme une loi universelle, s’appli‐ quant aussi bien aux objets inertes; c’est, littéralement, entropique. 579 Die im Roman erzählte Menschheitsgeschichte kann konsequenterweise nur in der imaginierten Utopie einer posthumanen Spezies münden, die durch die Mittel der Gentechnik vom Menschen selbst erschaffen wird: »l’humanité devait disparaître; l’humanité devait donner naissance à une nouvelle espèce«. Und diese würde ganz konkrete Defekte des einstigen Menschen beheben: »asexuée et immortelle, ayant dépassé l’individualité, la séparation et le devenir« (PE 308). Und es sind die wissenschaftlichen Arbeiten Michel Djerzinskis, die diese Ein‐ sichten erlauben: Die Abschaffung von Geschlechterdifferenzen, der Fortpflan‐ zung durch Sexualität würde das Problem des Individualismus und der damit einhergehenden Vereinsamung im Keim ersticken. Das Modell für diese neue glückliche Spezies (»nous vivons heureux«, PE 316) liefert der bekanntermaßen als Dystopie angelegte Intertext Brave New World von Aldous Huxley, auf den an exponierter Stelle (nahezu genau in der Mitte des Romans) Bezug genommen 2.5 Michel Houellebecq 223 <?page no="224"?> 580 Vgl. Schober: »Weltsicht und Realismus in Michel Houellebecqs utopischem Roman Les particules élémentaires« (s. Anm. 576), S. 207; Hausmann: »Die Zukunftsvision in Michel Houellebecqs La possibilité d’une île (2005)« (s. Anm. 567). Ferner zur Huxley und Michel Houellebecq vgl. Thomas T. Tabbert: Posthumanes Menschsein. Künstliche Menschen und ihre literarischen Vorläufer in Michel Houellebecqs Roman »Elementarteilchen«. Ham‐ burg: Artislife Press 2007, bes. S. 111-126. 581 Mecke: »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literaturskandals« (s. Anm. 51), S. 197. 582 Vgl. Hausmann: »Die Zukunftsvision in Michel Houellebecqs La possibilité d’une île (2005)« (s. Anm. 567); Spiller: »Sex, Lust und Depression. Michel Houellebecqs Kult elementarer Energien« (s. Anm. 562). wird. 580 Im 10. Kapitel des zweiten Teils mit dem Titel »Julian et Aldous« dis‐ kutieren Bruno und Michel die schöne neue Welt Huxleys, welche von Bruno gegen den Strich als Utopie interpretiert wird: La société décrite par Brave New World est une société heureuse, dont ont disparu la tragédie et les sentiments extrêmes. […] Je sais bien, […] qu’on décrit en général l’u‐ nivers de Huxley comme un cauchemar totalitaire, qu’on essaie de faire passer ce livre pour une dénonciation virulente; c’est une hypocrisie pure et simple. Sur tous les points - contrôle génétique, liberté sexuelle, lutte contre le vieillissement, civilisation des loisirs, Brave New World est pour nous un paradis, c’est en fait exactement le monde que nous essayons, jusqu’à présent sans succès, d’atteindre. (PE 156f.) In Hinblick auf die nicht mehr lebenswerte Existenz des modernen Menschen, der an seiner Sexualität und an seinen Leidenschaften zugrunde geht, muss die sterile Vision Huxleys wie ein Glücksversprechen wirken. Der Mensch wird sich selbst mit den Mitteln der Technologie ersetzen und damit die Fehler beheben, die ihm inhärent waren. Der Vorschlag, den Menschen der Jetztzeit - da un‐ rettbar - de facto abzuschaffen, bildet Jochen Mecke zufolge das eigentliche Skandalon des Textes, das auf dreifache Weise provoziert: Erstens, weil gerade die zentralen humanistischen Werte schlechthin nicht als Lösung der Menschheitsprobleme, sondern als deren Ursache betrachtet werden; zweitens, weil diese Lösung nicht vom menschlichen Geist, sondern von humangenetischer Technik erwartet wird; und drittens, weil diese Lösung nicht in der traditionell zum literarischen Höhenkamm gerechneten Form der Utopie, sondern als triviale Science-Fiction präsentiert wird. 581 Matthias Hausmann beobachtet durchaus treffend, dass die positive Umwertung der Huxley’schen Dystopie angesichts der Tragik der menschlichen Existenz zwar eine Deutung der Rahmenerzählung als Utopie nahelegt; 582 doch bleibt der Schluss letztlich ambig, wenn der posthumane Erzähler in einer letzten Anru‐ 2 Textanalysen 224 <?page no="225"?> 583 Schober: »Weltsicht und Realismus in Michel Houellebecqs utopischem Roman Les particules élémentaires« (s. Anm. 576), S. 207. 584 Vgl. Korthals Altes: »Persuasion et ambiguité dans un roman à thèse postmoderne (Les Particules élémentaires)« (s. Anm. 568), S. 31; Mecke: »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literaturskandals« (s. Anm. 51), S. 198. fung der einstigen Menschheit scheinbar gleichsam an den Leser appelliert: »Cette espèce torturée, contradictoire, individualiste et querelleuse, d’un égo‐ ïsme illimité, parfois capable d’explosions de violence inouïes, mais qui ne cessa jamais pourtant de croire à la bonté et à l’amour. […] Ce livre est dédié à l’homme« (PE 316f.). Wenn hier also noch einmal nostalgisch das allzu Mensch‐ liche besungen wird, scheint der implizite Autor die vermeintliche Utopie als Dystopie zu markieren. In jedem Fall lässt sich mit Rita Schober konstatieren, dass sie sich auf zweierlei Arten lesen lässt, und zwar einerseits als »Chance für die Menschheit, aber auch als Warnung«. 583 2.5.1.2 Dualismus und Komplementarität: die Janus-Köpfigkeit des Stils Die Houellebecq’schen Figuren: »[d]es individus [...] à peu près identiques« Zwar mag eine erste Prüfung des Houellebecq’schen Thesenapparats bereits erhellen, wie der Roman eine solche Durchschlagskraft erlangen konnte, doch erst eine Analyse der stilistischen und narrativen Verfahren, derer sich Houel‐ lebecq bedient, wird ein umfassenderes Ergebnis liefern können. Die Schreib‐ weise Houellebecqs bewegt sich permanent zwischen Oppositionen, die gemäß dem Teilchen-Welle-Dualismus als szientifischer Kernmetapher sowohl als ge‐ gensätzlich, als auch komplementär gedacht werden. Dieses Prinzip von Dua‐ lismus und Komplementarität kontaminiert gleichwohl die Ebene der Figuren‐ konzeption und die des Stils. Dass den Figuren im Roman eine Doppelbestimmung zukommt, ist bereits erläutert worden; jedoch betrifft dies ebenfalls die gesamte Figurengestaltung. Houellebecqs Charaktere sind viel‐ mehr Klischees, die Repräsentationszwecken dienen, d.h. sie stehen weniger für die Unnachahmlichkeit des menschlichen Geistes in seiner individuellen Kom‐ plexität, als dass sie abstrakte Prinzipien veranschaulichen. Da der Thesenroman als Form des exemplarischen Erzählens einer Rhetorik der persuasio und damit dem Grundsatz der Transparenz untersteht, kommt eine Reduktion der Figuren auf Typen der Klarheit der Botschaft zugute. 584 Wie Mecke zeigt, erweist sich die gesamte Figurenkonstellation als symmetrisch und komplementär konstru‐ iert (das Paar Michel - Annabelle als Vertreter des Prinzips Wissenschaft sowie das Paar Bruno - Christiane als Repräsentanten des Prinzips Sinnlichkeit). Die »Figuren des Romans [inkarnieren] Ideen und Allegorien […], die nach einem einfachen Schema binärer Oppositionen, wie Geist - Körper, Erkenntnis - Sinn‐ 2.5 Michel Houellebecq 225 <?page no="226"?> 585 Ebd., S. 199. 586 Michel Houellebecq: Interventions (s. Anm. 560), S. 44. 587 Christèle Couleau: »›Les âmes moyennes‹. De la trivialité comme poétique roman‐ esque«. In: Sabine van Wesemael/ Bruno Viard (Hg.): L’unité de l’œuvre de Michel Hou‐ ellebecq. Paris 2013 (=Série littérature des XXe et XXIe siècles 8), S. 13-26. 588 Vgl. Mecke: »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literaturskan‐ dals« (s. Anm. 51), S. 199. 589 Diesen Konnex untersuchen u.a. Mecke: ebd.; Wolfgang Asholt: »Die Rückkehr zum Realismus? Ecritures du quotidien bei François Bon und Michel Houellebecq«. In: An‐ dreas Gelz/ Ottmar Ette (Hg.): Der französischsprachige Roman heute. Theorie des Romans - Roman der Theorie in Frankreich und der Frankophonie. Tübingen 2002 (=Cahiers len‐ demains), S. 93-110; Sabine van Wesemael: »Michel Houellebecq: Un auteur postréa‐ liste«. In: dies./ Bruno Viard (Hg.): L’unité de l’œuvre de Michel Houellebecq. Paris 2013 (=Série littérature des XXe et XXIe siècles 8), S. 325-336; Annette Simonis: »Michel Houellebecq - ein Existenzialist der Postmoderne? «. In: Andrea Hübener (Hg.): Um‐ strittene Postmoderne. Lektüren. Heidelberg 2010, S. 279-297; Barjonet: »Bienfaits de la littérature putride? « (s. Anm. 576). lichkeit, Wissenschaft - Sexualität strukturiert sind«. 585 Gleichwohl übersetzt diese Verflachung der Figuren - ähnlich wie bei Aldo Nove und Niccolò Am‐ maniti - die Verflachung des modernen Menschen per se. So bemerkt Houelle‐ becq selbst in Interventions: Je suis quand même un peu surpris quand on me dit que j’effectue des portraits psy‐ chologiques réussis d’individus, de personnages: c’est peut-être vrai, mais d’un autre côté j’ai souvent l’impression que les individus sont à peu près identiques, que ce qu’ils appellent leur moi n’existe pas vraiment, et qu’il serait en un sens plus facile de définir un mouvement historique. Il y a peut-être là les prémices d’une complémentarité à la Niels Bohr: onde et particule, position et vitesse, individu et histoire. 586 Die Figuren des Romans, als »âmes moyennes«, 587 inkarnieren damit gleichsam den postmodernen Zerfall des Individuums. Erzählen im Zeichen Flauberts? Die Houellebecq’sche »impassibilité« Mecke identifiziert die starke Typisierung der Figuren darüber hinaus als rea‐ listisches Verfahren, vergleichbar mit Balzacs Figurenspektrum der Comédie humaine. 588 In der Tat lassen sich im Werk Houellebecqs mehrere Parallelen zum realistischen und naturalistischen Roman ausmachen, die es erlauben, Houel‐ lebecq zumindest eingeschränkt in der Tradition Flauberts, Balzacs und Zolas zu situieren. 589 Ein erster Bezug zu Flaubert lässt sich über die Erzählhaltung der impassibilité, d.h. objektiven Unbewegtheit, herstellen. Zwar markiert die um Neutralität bemühte, auktoriale Erzählinstanz direkt zu Beginn ihre erhabene Position, die sowohl den Blick auf gesamtgesellschaftliche und geschichtliche 2 Textanalysen 226 <?page no="227"?> 590 Ich greife hierbei zum Teil auf Ergebnisse zurück, die ich in Bezug auf diese Episode bereits im Rahmen eines Aufsatzes besprochen habe in: Lena Schönwälder: »Ästhetik des Bösen - Banalisierung des Bösen? Zur Funktion literarischer Provokation am Bei‐ spiel Michel Houellebecqs«. In: Romanische Forschungen 127, 1 (2015), S. 29-51. Zusammenhänge sowie auf Einzelschicksale erlaubt. Gleichsam suggerieren zahlreiche wissenschaftliche Digressionen eine szientifische Nüchternheit, die für die Objektivität des Erzählten bürgen. Doch finden sich Momente, die an den Flaubert’schen personalen Erzähler gemahnen: »Son enfance avait été pénible, son adolescence atroce; il avait maintenant quarante-deux ans, et objectivement il était encore loin de la mort. Que lui restait-il à vivre? Peut-être quelques fel‐ lations pour lesquelles, il le savait, il accepterait de plus en plus facilement de payer« (PE 63). Im Modus der internen Fokalisierung gewährt der Erzähler Ein‐ blicke in das Bewusstsein der Figur, lässt seine Stimme mit der Brunos im Me‐ dium der erlebten Rede zusammenfallen. Die Patenschaft Flauberts schlägt sich in gewisser Weise auch strukturell nieder, was im Folgenden anhand der David-di-Meola-Episode aufgezeigt werden soll. 590 Bruno berichtet über die Aktivitäten einer Satanistengruppe bzw. des vermeintlichen Satanisten David di Meola: »C’est une histoire tellement dégueulasse, reprit Bruno avec lassitude, que j’ai été surpris que les journalistes n’en parlent pas davantage. […] On avait retrouvé à son domicile [de David di Meola] une centaine de cassettes vidéo de meurtres et de tor‐ tures, classées et étiquetées avec soin; […] La cassette projetée à l’audience représentait le supplice d’une vieille femme, Mary Mac Nallahan, et de sa petite-fille, un nourrisson. Di Meola démembrait le bébé devant sa grand-mère à l’aide de pinces coupantes, puis il arrachait un œil à la vieille femme avec ses doigts avant de se masturber dans son orbite saignante; en même temps il actionnait la télécommande, déclenchait un zoom avant sur son visage. Elle était accroupie, étroitement fixée au mur par des colliers de métal, dans un local qui ressemblait à un garage. À la fin du film, elle était allongée dans ses excréments; la cassette durait plus de trois quarts d’heure mais seule la police l’avait vue en entier, les jurés avaient demandé l’arrêt de la projection au bout de dix minutes. […] David se rendit vite compte que les satanistes les plus avancés ne croyaient nullement à Satan. Ils étaient, tout comme lui, des matérialistes absolus, et renonçaient rapidement à tout le cérémonial un peu kitsch des pentacles, des bougies, des longues robes noires; ce décorum avait en fait surtout pour objet d’aider les dé‐ butants à surmonter leurs inhibitions morales. En 1983, il fut admis à son premier meurtre rituel sur la personne d’un nourrisson portoricain. Pendant qu’il castrait le bébé à l’aide d’un couteau-scie, John di Giorno arrachait, puis mastiquait ses globes oculaires.« (PE 205ff.) 2.5 Michel Houellebecq 227 <?page no="228"?> 591 »Indifferenz« ist ein Schlüsselbegriff, mit dem auch Mecke in seiner Untersuchung des Literaturskandals rund um Michel Houellebecq operiert. Er bezeichnet einerseits den Houellebecq’schen »Stil der Indifferenz« als charakteristische Erzählhaltung seiner Prosa, die die Auflösung menschlicher Beziehungen und den von Houellebecq ange‐ prangerten Prozess der Vereinzelung und Enthumanisierung veranschauliche. »Indif‐ ferenz des Stils« nennt Mecke wiederum die Aufgabe »stilistischer Homogenität«, das Nebeneinander unterschiedlicher Sprachniveaus und den Verzicht auf Literarizität, so‐ dass stilistische Grenzen zwischen hohen und populären Formen der Literatur aufge‐ weicht würden (ders.: »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Lite‐ raturskandals« [s. Anm. 51], S. 201ff.). 592 Vgl. Tilmann Habermas: »Emotionalisierung durch traurige Alltagserzählungen: Die Rolle narrativer Perspektiven« (s. Anm. 6), S. 63-87. Inhaltlich lässt sich hier ein Bezug zum Moloch-Kapitel Flauberts herstellen: Es wird der Akt der rituellen Tötung bzw. Kindesopferung beschrieben. Natürlich wird, wie gezeigt wurde, besagte Passage bei Flaubert im Modus des personalen Erzählens wiedergegeben (es handelt sich demnach um Erzählerrede), während es sich hier um Figurenrede handelt. Doch so wie der Erzähler erster Ordnung zu ausschweifenden Digressionen tendiert, mutet auch Brunos Rede nicht zu‐ letzt aufgrund ihrer relativen Länge und Autonomie von der Haupthandlung wie eine Binnenerzählung an. Diese ›Binnenerzählung‹ wird zunächst mit einem Werturteil eingeleitet (»C’est une histoire tellement dégueulasse«), auf welches wiederum ein ironi‐ scher Kommentar in Bezug auf die Medien und, im weitesten Sinne, auf die Gesellschaft als solche folgt: »que j’ai été surpris que les journalistes n’en parlent pas davantage.« So wird von Beginn das genussvolle Sich-Ergötzen am Bösen thematisiert, das als raison d’être des Sensationsjournalismus entlarvt wird. Da‐ rauf folgt die unbewegte, klinische Rekapitulation des Falls David di Meola. Während die paradigmatische impassibilité des Flaubert’schen Erzählers viel‐ mehr noch den rauschhaften Sog der Ekstase zu forcieren scheint, wirkt die kaum affektiv eingefärbte, gar indifferente 591 Rede Brunos beinahe grausam und angesichts des konkreten Inhalts vollkommen unangemessen. Der positivisti‐ sche Blick der Erzählinstanz scheint sich gleichsam auf die Figur zu übertragen, die in allen Details ein Bild des Schreckens zeichnet und in Analogie zu Flaubert eine überdeterminierende Wahrnehmungsperspektive einnimmt. Die Rolle, die dem unpersönlichen Erzählen im Besonderen und der narrativen Perspektive im Allgemeinen im Zusammenhang mit einer Emotionalisierung des Lesers zu‐ kommt, untersucht Tilmann Habermas. 592 Im Rahmen von zwei Fragebogenun‐ tersuchungen legte man je 200 Teilnehmern drei Alltagsgeschichten vor. Alle drei handelten von dem gleichen Ereignis, nämlich dem Tod des Bruders, doch erfolgte dessen Schilderung aus unterschiedlichen Erzählperspektiven bzw. Hal‐ 2 Textanalysen 228 <?page no="229"?> 593 Ebd., S. 82. 594 Erneut sei hier auf den Prozess, der Flauberts Madame Bovary gemacht wurde, ver‐ wiesen: Der Vorwurf der moralischen Verwerflichkeit fußte vor allen Dingen auf der Überzeugung, dass die Flaubert’sche Erzählstimme den moralisch verwerflichen Akt des Ehebruches in einer dem Sachverhalt nicht angemessenen Art und Weise darstelle, d.h. in Absenz jeglicher moralischen Entrüstung; der Erzähler hat demnach »nicht die situativ erforderliche Emotion« gezeigt. 595 Das unpersönliche Erzählen erfordert ein hohes Maß an Beteiligung, da durch die Aus‐ lassung der Leser geradezu gezwungen wird, Emotionen zu ergänzen. Dies kann über‐ dies eine ästhetische Reflexion begünstigen: »Bei Romanen und Filmen muss das [Er‐ gänzen] nicht eine negative Reaktion auf die Autoren hervorrufen, sondern kann auch zu einer ästhetischen Distanzierung führen und ästhetische Emotionen hervorrufen, die der Form der Erzählung gelten« (Habermas: »Emotionalisierung durch traurige Alltagserzählungen: Die Rolle narrativer Perspektiven« [s. Anm. 6], S. 86). tungen: Es wurden eine elaborierte, eine dramatische sowie eine unpersönliche Version präsentiert. Dabei wurden die Versuchsteilnehmer zu der emotionalen Wirkung der ihnen vorgelegten Geschichten befragt, wobei eine Auswertung ergab, dass die unpersönliche Variante statt Empathie Ärger und Empörung provozierte. In diesem Fall wurde weniger der dargestellte Gegenstand denn die Erzählerfigur, deren Unbeteiligtheit mit implizit vorausgesetzten Normen bricht, bewertet: [D]ie offenen Antworten [deuten] an, dass der von Lesern explizit lieferbare Grund für die negative Bewertung des Erzählers unpersönlicher Erzählungen nicht unmit‐ telbar in der Empathieverweigerung des Erzählers liegt, und auch nicht darin, dass der Zuhörer die Emotionen selbst aktiv ergänzen muss. Vielmehr liegt der den Teil‐ nehmern bewusste Grund für die negative Bewertung des Erzählers darin begründet, dass dieser Emotionsnormen verletzt, also dass er nicht die situativ erforderliche Emotion zeigt. 593 Gewiss ist einzuräumen, dass die Erzähler in diesem Experiment vom Zuhörer/ Leser als authentisch empfunden werden, d.h. es wird angenommen, dass diese Geschichten so oder ähnlich im Rahmen eines Alltagsgesprächs vorgetragen werden könnten. Im Falle der Literatur ist die Rezeptionssituation natürlich in‐ sofern eine andere, als der Text ästhetisch betrachtet wird und der Leser um die Konstruiertheit des Dargestellten und die Virtualität der Erzählerfigur weiß. Doch ist anzunehmen, dass - dem Faktum der Fiktionalität zum Trotz - Er‐ zähler- und Figurenrede im literarischen Werk eine ähnliche emotionale Reak‐ tion hervorrufen können. 594 Dies impliziert gleichfalls, dass der Autor bewusst literarische Emotionalisierungsstrategien anwenden kann, um ein ethisch-re‐ flexives Engagement anzuregen. 595 Vor diesem Hintergrund kann also auch die unbeteiligte Rede Brunos als Unfähigkeit bzw. Weigerung aufgefasst werden, 2.5 Michel Houellebecq 229 <?page no="230"?> 596 Houellebecq: Interventions (s. Anm. 560), S. 45. 597 In nahezu jedem seiner Romane flicht Houellebecq Gedichte ein, so auch in Les Parti‐ cules élémentaires: Der Roman wird mit einem Gedicht eingeleitet, das als eine Art epi‐ scher Aufgesang die Abkunft des modernen Menschen und das »schöne neue Leben« der neuen Spezies rühmt. Gleichwohl betätigt sich auch Bruno im Roman als (schei‐ ternder) Dichter, publiziert bisweilen Gedichte und rezipiert u.a. Baudelaires Fleurs du mal. Immer wieder scheinen bei Houellebecq Momente des Lyrischen die Nüchternheit der Prosa aufzubrechen. In der Tat kommt der Lyrik im besonderen Maße in Houelle‐ becqs Poetik ein hoher Stellenwert zu; in Rester vivant wird sie gar zur einzigen Tätig‐ keit, die die Selbsterhaltung ermöglicht: »Croyez à la structure. Croyez aux métriques anciennes, également. La versification est un puissant outil de libération de la vie inté‐ rieure. [...] Au paroxysme de la souffrance, vous ne pourrez plus écrire. Si vous vous en sentez la force, essayez tout de même. Le résultat sera probablement mauvais; probab‐ lement, mais pas certainement. Ne travaillez jamais. Écrire des poèmes n’est pas un travail; c’est une charge.« (Houellebecq: Rester vivant [s. Anm. 560], S. 15f.) die dem Darstellungsgegenstand angemessene emotionale Haltung einzu‐ nehmen. Doch erst in Hinblick auf den Kontext offenbart sich, dass die ver‐ meintliche impassibilité Brunos nicht Zeichen einer tatsächlichen Teilnahms‐ losigkeit ist, sondern einer Ermattung (»lassitude«) ob der grenzenlosen Grausamkeit des Menschen. Und letztendlich wird auch hier, ähnlich wie bei Flaubert, die Episode implizit über den Blick der Anderen als entsetzlich quali‐ fiziert: »seule la police l’avait vue en entier, les jurés avaient demandé l’arrêt de la projection au bout de dix minutes«. Die Passage kommt schließlich wie folgt zum Abschluss: »Christiane avait écouté son récit avec attention; son silence avait quelque chose de douloureux. Il fallait maintenant revenir aux plaisirs simples« (PE 212). In ihr kommt gleichsam als Spiegel des Lesers das entsetzte, schmerzvolle Schweigen zum Ausdruck, das die Lektüre des Romans provoziert. Heterogenität des Stils Dass diese klinische Nüchternheit tatsächlich einem Stilprinzip Houellebecqs entspricht, äußert dieser explizit in seinem Essaywerk: »Sur un plan plus litté‐ raire, je ressens vivement la nécessité de deux approches complémentaires: le pathétique et le clinique. D’un côté la dissection, l’analyse à froid, l’humour; de l’autre la participation émotive lyrique, d’un lyrisme immédiat.« 596 Neben der distanzschaffenden, klinischen Sezierung scheinen Momente der unverhofften Emotionalität und der Lyrizität 597 auf: Wirkungsästhetisch gestaltet sich damit der Text als Wechselspiel zwischen engagierender Anteilnahme und alienie‐ render Distanzierung. Diese stilistische Janus-Köpfigkeit überträgt sich gleichsam auf die Gesamtheit des Textes, in dem sich verschiedene sprachliche Register, unterschiedliche Diskursfragmente und Sublimes mit Banalem brüsk 2 Textanalysen 230 <?page no="231"?> 598 Houellebecq: »C’est ainsi que je fabrique mes livres« (s. Anm. 558), S. 199. 599 »Diese meist mit einem Semikolon getrennten Zusammenfügungen, die man vielleicht als syntaktisch-semantische Agglutinationen bezeichnen könnte, provozieren mit ihrem Absurditätseffekt ihrer Schockwirkung zugleich ein Nachdenken über den möglichen Sinn, ein Anhalten der Lektüre, eine Verzögerung und damit genau das, was Houelle‐ becq als die notwendige Bedingung des Lebens erachtet.« (Schober: »Weltsicht und Realismus« [s. Anm. 576], S. 204). 600 Houellebecq: »C’est ainsi que je fabrique mes livres« (s. Anm. 558), S. 199. abwechseln. Oftmals finden sich Reflexionen von existentieller Tragweite durch Trivialitäten unvermittelt aufgehoben: Bruno n’avait toujours pas réellement pensé à la mort; et il commençait à se douter qu’il n’y penserait jamais. Jusqu’au bout il souhaiterait vivre, jusqu’au bout il serait dans la vie, jusqu’au bout il se battrait contre les incidents et les malheurs de la vie concrète, et du corps qui décline. Jusqu’au dernier instant, en particulier, il serait en quête d’un ultime moment de jouissance, d’une petite gâterie supplémentaire. Quelle que soit son inutilité à long terme, une fellation bien conduite était un réel plaisir […]. (PE 121) Diese Reflexion Michels über seinen Bruder liefert ein Beispiel für das für Hou‐ ellebecqs Prosa charakteristische Phänomen der brüsken Kontrastbildung. Hou‐ ellebecq selbst zufolge artikuliert sich in Konstruktionen, die mit einer soge‐ nannten »proposition anodine« abschließen, ein spezifischer Gemütszustand: »J’essaie de ne pas avoir de style; […] Il reste que certains états mentaux semb‐ lent m’être assez spécifiques; en particulier celui qui se traduit par l’énoncé de propositions anodines, dont la juxtaposition produit un effet absurde.« 598 Diese ›unbedeutenden Sätze‹ bzw. banalen Einschübe, die Rita Schober auch als »syn‐ taktisch-semantische Agglutinationen« bezeichnet, produzieren einen Schock‐ effekt, der letztendlich der Leseraktivierung und -dezentrierung dient 599 - und dies auf zweifache Weise: Einerseits wirkt die Referenz auf die triviale Alltags‐ wirklichkeit distanzminimierend, d.h. sie vermittelt den Eindruck von Wirk‐ lichkeitsnähe. Andererseits produziert sie in der kontrastreichen Kombination mit erhabenen Inhalten einen Schockmoment, der wiederum den Leseprozess durch Distanzschaffung dynamisiert. Zahlreiche weitere Beispiele (die Houel‐ lebecq u.a. selbst in »C’est ainsi que je fabrique mes livres« anführt) 600 lassen sich finden : »Il n’arrivait plus à se souvenir de sa dernière érection; il attendait l’orage« (PE 21); »Où se trouvait la vérité? La chaleur de midi emplissait la pièce« (PE 23); »la vue s’étend à l’infini en direction de l’Est. Il n’a pas mangé depuis la veille« (PE 119). Dieser plötzliche Einbruch des Trivialen bzw. des ›Anti-Sub‐ limen‹ (oder umgekehrt: der spontane Umsprung von banalen Inhalten zu Re‐ 2.5 Michel Houellebecq 231 <?page no="232"?> 601 Christèle Couleau: »›Les âmes moyennes‹« (s. Anm. 587), S. 20. 602 Da Rocha Soares vergleicht Houellebecqs abrupte Diskurswechsel interessanterweise mit Zapping: »L’interruption du récit par l’insertion brutale d’un discours dissonant est une autre marque du style houellebecquien qui peut rappeler le zapping télévisé. Ou une parodie des journaux télévisés qui font suivre de mauvaises nouvelles, entrecoupées de choses anodines ou heureuses, sous la posture impassible, le flegme, voire la froideur, du journaliste-pivot.« (dies.: »Michel Houellebecq et son œuvre face aux médias« [s. Anm. 561], S. 416). Damit wäre die dissonanzstiftende Verschaltung disparater Dis‐ kursfragmente bei Houellebecq quasi ein Analogon zu Aldo Noves ›Ästhetik des lite‐ rarischen Zappings‹. flexionen existentieller Tragweite) ist dabei nicht reiner Selbstzweck, sondern eröffnet Denkräume. So bemerkt auch Couleau: Ces procédés de recadrage, ce retournement des points de vue, que permet la poly‐ phonie romanesque, remodèlent les processus de jugement en arborescence, et vien‐ nent brouiller les repères du lecteur, inquiéter ses valeurs. […] La représentation de la trivialité, impliquant des effets de distance et de proximité, propose un pacte de lecture à géométrie variable. Elle fait réagir le lecteur, et renforce son implication. Elle ne le laisse pas de glace. Choqué, touché, attiré, étonné, il vit sa lecture comme une expé‐ rience d’altérité qui lui donne à penser. 601 Die Dualität von Trivialität und Sublimem kann nicht zuletzt als stilistische Umsetzung einer gesamten Seinskonzeption gedeutet werden. Die Banalität des Stils korrespondiert in diesem Sinne mit der banal gewordenen Welt, die der Roman abzubilden sucht. 602 Der Houellebecq’sche Erzähler: Unmögliche Erzählperspektiven und Polyphonie Während also die Figurenkonzeption sowie der (relativ) klar formulierte The‐ senapparat dazu beitragen, die (vermeintlich transparente) Botschaft des Ro‐ mans zu vereindeutigen, bewirken die Vermischung der Register und Diskurse, aber auch die Gestaltung der Erzählperspektive bisweilen eine Ambiguierung der Inhalte, welche grundsätzlich irritierend wirkt. So stellt sich bei einer nar‐ ratologischen Analyse zunächst das Problem der Perspektive: Wie bereits er‐ wähnt, entpuppt sich ein néo-humain als Erzähler, der rückblickend meist mit szientifischem Stoizismus und klinischer Kühle das Schicksal der beiden Brüder, aber auch das der gesamten Menschheit sowie die Genese seiner eigenen Spezies referiert. Für die erhabene Funktion der Erzählinstanz qualifiziert ihn dabei ei‐ nerseits die zeitliche Distanz zu den Geschehnissen, während andererseits die leidenschaftslose Beschaffenheit der posthumanen Spezies gleichsam das nüch‐ terne détachement der Erzählhaltung plausibilisiert. So scheinen auch die zahl‐ reichen wissenschaftlichen Digressionen, die die Narration der eigentlichen 2 Textanalysen 232 <?page no="233"?> 603 Wirkungsästhetisch operieren diese Digressionen auf gleiche Weise wie die »proposi‐ tions anodines«: Sie bewirken durch den brüsken Registerwechsel eine Distanzierung und fungieren damit gleichsam als Leserappell. So z.B.: »Une après-midi d’été, alors qu’il habitait encore dans l’Yonne, Michel avait couru dans les prés avec sa cousine Brigitte. Brigitte était une jolie fille de seize ans, d’une gentillesse extrême, qui devait quelques années plus tard épouser un connard épouvantable. C’était l’été 1967. Elle le prenait par les mains et le faisait tourner autour d’elle; puis ils s’abattaient dans l’herbe fraîchement coupée. Ils se blottissait contre sa poitrine chaude; elle portait une jupe courte. Le lendemain ils étaient couverts de petits boutons rouges, leurs corps étaient parcourus de démangeaisons atroces. Le Thrombidiumholosericum, appelé aussi aoûtat, est très commun dans les prairies en été. Son diamètre est d’environ deux millimètres. Son corps est épais, charnu, fortement bombé, d’un rouge vif. Il implante son rostre dans la peau des mammifères, causant des irritations insupportables. La Linguatulia rhinaria, ou linguatule, vit dans les fosses nasales et les sinus frontaux du chien, parfois de l’homme. L’embryon est ovale, avec une queue en arrière; sa bouche possède un appareil perforant.« (PE 33) Die hier rapportierte romantische Erfahrung jugendlicher Zärtlichkeit wird auf doppelte Weise ad absurdum geführt: Auf der Ebene der histoire findet sie einen banalen Ausgang in dem Ausschlag, der beide befällt; auf Ebene des Diskurses wird der récit brüsk durch die wissenschaftliche Digression unterbrochen. Eine romantisch verklärende Lektüre wird damit unterbunden. 604 Henrik van Gorp et al. (Hg.): Dictionnaire des termes littéraires. Paris: Champion 2005, S. 377. histoire arretieren, insofern konsequent, als sie das posthumane, positivistische Bewusstsein spiegeln. 603 Diese vermeintliche Objektivität erweist sich jedoch nicht als wahrhaftige Neutralität, sondern als Ausdruck von Subjektivität (wenn auch einer posthumanen), was wiederum dazu führt, dass die Aussagen des Er‐ zählers anzweifelbar werden - zumindest in dem Sinne, dass die eigentliche These von der Notwendigkeit, die Menschheit als solche abzuschaffen, hinter‐ fragbar wird. Die auktorialen Passagen, in denen der Erzähler die Menschheit des 20. Jahr‐ hunderts kommentiert, erscheinen damit in einem neuen Licht: Die vermeintlich unfehlbare Autorität des auktorialen Erzählers wird dergestalt untergraben und lediglich zu einer unter vielen Stimmen - es lässt sich damit von Polyphonie im Bakhtin’schen Sinne sprechen, d.h. der Text inszeniert »une multiplicité de voix indépendantes, voire contradictoires, sans tenter de les unifier par celle de l’au‐ teur: chaque sujet y demeure le seul sujet de sa propre parole«. 604 Denn diese Stimme scheint sich in gewisser Weise selbst zu unterminieren, wenn sie die innerfiktional eigentlich unmögliche Perspektive einer Innenschau annimmt. Der Blick geht dabei bisweilen von der Nullfokalisierung in die interne über, was zumindest in Hinblick auf die fiktionsimmanente Konzeption des Erzählers unmotiviert erscheint: »Son [Bruno] enfance était pénible, son adolescence atroce; il avait maintenant quarante-deux ans, et objectivement il était encore 2.5 Michel Houellebecq 233 <?page no="234"?> 605 Korthals Altes unterscheidet insgesamt drei unterschiedliche personas der narrativen Stimme: Erstens einen allwissenden heterodiegetischen Erzähler, der mit wissenschaft‐ licher Präzision die Erlebnisse der Protagonisten schildert, wobei er sich bisweilen mit den kollektiven Erfahrungen, die er zu beschreiben sucht, identifiziert; zweitens mani‐ festiert sich gleichwohl die Stimme eines ebenfalls allwissenden, heterodiegetischen Erzählers, der Zugriff auf die Gedankenwelt der Figuren hat, sich jedoch empathisch, emotional agitiert gegenüber den Figuren und ihrer Welt verhält; drittens ist der Er‐ zähler als Klon des Jahres 2079 zu identifizieren, d.h. es handelt sich um einen homo‐ diegetischen Erzähler, dessen narratologische Konzeption sich als teilweise inkon‐ gruent mit den anderen personas erweist. Vgl. Liesbeth Korthals Altes: »Voice, irony and ethos: the paradoxical elusiveness of Michel Houellebecq’s polemic writing in Les particules élémentaires«. In: Andreas Blödorn/ Daniela Langer/ Michael Scheffel (Hg.): Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Berlin/ New York: de Gruyter 2006, S. 165-193, hier: S. 182-184. 606 Mecke: »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literaturskandals« (s. Anm. 51), S. 203. loin de la mort. Que lui restait-il à vivre? Peut-être quelques fellations pour lesquelles, il le savait, il accepterait de plus en plus facilement de payer.« (PE 63) Passagen wie diese, die in bester Flaubert’scher Manier im Modus der personalen Erzählsituation die Verschmelzung von Figur- und Erzählperspektive mar‐ kieren, sind eigentlich logisch nicht begründbar. 605 Mecke hebt hervor, dass diese indifferente Vermischung der Perspektiven gleichsam der Grundthese des Ver‐ lustes von Individualität entspreche: Balzacs persönliche Erzählerkommentare und Flauberts unpersönliche Erzähler werden durch den Science-Fiction-Rahmen in einer romantechnischen Quadratur des Kreises miteinander kombiniert. Die Gesamtanlage des Romans wird damit konse‐ quent in ein Stilprinzip umgesetzt: Wenn der Roman tatsächlich den Individualismus als Wurzel allen Übels bekämpft, dann muss der Roman in einem enthumanisierten Stil verfasst werden, der keine Hinweise mehr auf Individuen zulässt. Bei Houellebecq ist der Stil der Teilnahmslosigkeit in eine Gleichgültigkeit des Stils umgeschlagen. 606 Die Instabilität des Erzählens bzw. der Erzählerfigur führt letztendlich zu einer Veruneindeutigung des Thesenapparats: Unterschiedliche Perspektiven, Hal‐ 2 Textanalysen 234 <?page no="235"?> 607 Vgl. auch: Christian van Treeck: La réception de Michel Houellebecq dans les pays ger‐ manophones. Bd. 1. Frankfurt am Main: Lang 2014, S. 136; Korthals Altes: »Persuasion et ambiguité dans un roman à thèse postmoderne« (s. Anm. 568), S. 43f. Für Steigerwald ist gerade diese Multiperspektivität Kennzeichen einer postmodernen Variante der Mo‐ ralistik gemäß La Rochefoucauld. Gleichzeitig werde die an die unterschiedlichen Per‐ spektiven gebundene Formung des dergestalt vermittelten Menschenbilds auch zu einem Eingriff in eben dieses und die literarische »Moralistik im Roman zugleich zum Analogon der aktuellen Gentechnologie [...], die sich in der historisch erstmaligen Si‐ tuation befindet, den Menschen gentechnisch verändern zu können«, Jörn Steigerwald: »(Post-)Moralistisches Erzählen: Michel Houellebecqs Les particules élémentaires«. In: Lendemains 138/ 139 (2010), S. 191-208, hier: S. 194. 608 Die Beschreibung des »Lieu du changement« nimmt bisweilen groteske Züge an: »le ciel était d’un bleu absolu. Autour de lui, les bites luisantes d’huile de massage se dres‐ saient lentement dans la lumière. Tout cela était atrocement réel.« (PE 115) 609 So ist es an Banalität kaum zu übertreffen, wenn Michel die Grundidee für sein Zu‐ kunftsprojekt dem »3 Suisses«-Katalog entnimmt: »Le catalogue 3 Suisses, pour sa part, semblait faire une lecture plus historique du malaise européen. Implicite dès les pre‐ mières pages, la conscience d’une mutation de civilisation à venir trouvait sa formula‐ tion définitive en page 17; Michel médita plusieurs heures sur le message contenu dans les deux phrases qui définissaient la thématique de la collection: ›Optimisme, généro‐ sité, complicité, harmonie font avancer le monde. DEMAIN SERA FÉMININ‹«. (PE 123) tungen und Meinungen bleiben unversöhnlich nebeneinander stehen. 607 Dass eine einheitliche Deutung der vorgestellten Ideen sich als nahezu unmöglich erweist, ist darüber hinaus auch auf Houellebecqs Ironie zurückzuführen, die eine jede seiner Figuren oder inszenierten Diskurse mehr oder weniger subtil treffen kann. Ein Beispiel wäre dabei die kaum verhüllte Ridikülisierung der New Age-Philosophie, die sich am deutlichsten in der »Le lieu du change‐ ment«-Episode artikuliert 608 (wobei dies natürlich Houellebecqs Kritik am Li‐ beralismus in die Hände spielt) oder Momente, in denen die Figuren Michel oder Bruno subtil der Lächerlichkeit preisgegeben werden. 609 Daneben treten Pas‐ sagen, die potentiell ironieträchtig sind, sich jedoch ebenso einer ernsthaften Lektüre darbieten. Als die Großmutter stirbt, wird Michels Reaktion wie folgt beschrieben: »Michel était enroulé sur lui-même au pied du lit. Ses yeux étaient légèrement exorbités. Son visage ne reflétait rien qui ressemble au chagrin, ni à aucun autre sentiment humain. Son visage était plein d’une terreur animale et abjecte.« (PE 93) Einerseits ließe sich diese Passage als an Flaubert gemah‐ nende Vorführung des emotional inkompetenten Michels lesen, der seinem Schmerz nicht wie ein Mensch, sondern nur unzivilisiert wie ein Tier Ausdruck zu verleihen mag; andererseits vermag aber gerade dieses Zeugnis des abjekten Schmerzes umso tragischer wirken. So beobachten auch Hofmann und Sielke: Tatsächlich hat es der Leser von Houellebecqs Romanen gleichzeitig mit dem beiß‐ enden Spott der Ironie wie einem um Pietät bemühten Ernst eines unzuverlässigen 2.5 Michel Houellebecq 235 <?page no="236"?> 610 Anne Hofmann/ Sabine Sielke: »Serienmörder und andere Killer: Die Endzeitfiktionen von Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq.« In: Andrew James Johnson/ Ulrike Schneider (Hg.): Anglo-romanische Kulturkontakte von Humanismus bis Postkolonia‐ lismus. Berlin: dahlem university press 2002, S. 280-318, hier: S. 310. 611 An dieser Stelle sei hier nur auf ein Beispiel verwiesen. In einer Szene, bei der Bruno und Christiane an Gruppensex in einem Swingerclub beteiligt sind, finden sich Aus‐ drücke wie »branler« (PE 240), »bander« (PE 241), »gland« (PE 241), »chatte« (PE 241), »éjacula« (PE 241), »sperme« (PE 241). Die Begrifflichkeiten sind nicht ausschließlich umgangssprachlich bzw. vulgär, doch können außerhalb eines neutralen (z.B. des me‐ dizinischen) Kontextes in ihrer Explizitheit als »obszön« gewertet werden. 612 Diesen Titel wählte Tilman Krause in seinem Beitrag: ders.: »Der Dreckspatz von Paris. Eine Begegnung mit Michel Houellebecq, dem Dark Star der französischen Gegen‐ wartsliteratur«. In: Thomas Steinfeld (Hg.): Das Phänomen Houellebecq. Köln: DuMont, S. 27-32. 613 Um nur ein relativ aktuelles Beispiel zu nennen, sei auf die Romanreihe Fifty Shades of Grey, welche im Grunde der »letteratura rosa« zuzurechnen ist, verwiesen: Sie brachte einen wahren Hype hervor und hielt sich Monate auf den Bestsellerlisten. Erzählers zu tun [...]. Welche Lektüre zu bevorzugen ist - die tragische oder die iro‐ nische -, wird vom Text selbst nicht eindeutig vorgegeben. Auch in dieser Unbe‐ stimmtheit manifestiert er sich als ein postmoderner vielstimmiger Text. 610 Die scheinbare Gleichgültigkeit, die Houellebecq der Erzählperspektive entge‐ genbringt, betrifft in gewisser Weise auch die Sprachniveaus, die innerhalb des Romans durchwandert werden. Neben lyrischer Sprache und wissenschaft‐ lichem Fachjargon zeichnet sich der Text durch zahlreiche detaillierte porno‐ graphische Passagen aus, die wiederum auf Umgangs- und Vulgärsprache re‐ kurrieren. 611 In einer Zeit, in der Sex in den Medien omnipräsent ist und die Repräsentation des Geschlechtsakts in der Kunst zumindest theoretisch legitim ist, scheint es fast verwunderlich, dass gerade das Faktum der ›Obszönität‹ noch derartig die Gemüter in Wallung bringt und Houellebecq Epitheta wie »Dreck‐ spatz von Paris« einbringt. 612 Die Pornographie, die sich in der Trivialliteratur längst einen festen Platz erkämpft, inzwischen sogar die Bestseller-Listen er‐ klommen hat, 613 vermag - so könnte man vermuten - kaum noch mehr als ein müdes Lächeln zu provozieren. Darüber hinaus scheint sich die (vermeintliche) Überrepräsentanz des Sexus im Roman auch darüber zu motivieren, dass sie der Veranschaulichung der übergeordneten These der Ausweitung der Kampfzone dient. Schließlich bildet sich in der obsessiven Repetition des (fehlgeschlagenen) Geschlechtsakts gleichsam das persönliche Leiden eines der Protagonisten ab, was - wie bereits erläutert - auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen zurück‐ zuführen ist. Aber eben jener Sexus bildet den Ausweg aus der menschlichen Misere. Die wenigen Glücksmomente, die den Figuren im Roman beschieden sind, finden sich im Sexualakt: 2 Textanalysen 236 <?page no="237"?> 614 Marianne Wellershoff/ Rainer Traub: »›Überall Bilder von perfektem Sex‹. Die Autoren Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq über Moral, Gewalt und Schönheitsterror«. In: Thomas Steinfeld (Hg.): Das Phänomen Houellebecq. Köln: DuMont 2001, S. 91-102, hier: S. 96. 615 Mecke: »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literaturskandals« (s. Anm. 51), S. 205. 616 So meint Houellebecq: »Ich denke, [...] dass der Roman vor allem das Unglück der Welt widerspiegelt.« (Marianne Wellershoff/ Rainer Traub: »›Überall Bilder von perfektem Sex‹. [s. Anm. 614], S. 102). Il ferma les yeux, parcouru de frissons d’extase. Le grondement sous-marin était in‐ finiment rassurant. Lorsque les lèvres de la fille atteignirent la racine de son sexe, il commença à sentir les mouvements de sa gorge. Les ondes de plaisir s’intensifièrent dans son corps, il se sentait en même temps bercé par les tourbillons sous-marins, il eut d’un seul coup très chaud. Elle contractait doucement les parois de sa gorge, toute son énergie afflua d’un seul coup dans son sexe. Il jouit dans un hurlement; il n’avait jamais éprouvé tant de plaisir. (PE 139) Sex (oder genauer: der Sexualtrieb) scheint zwar die Krux der menschlichen Existenz auszumachen, jedoch gleichsam die einzige Brücke zwischen verein‐ zelten Individuen darzustellen. Und so erläutert Houellebecq selbst in einem Interview auf die Frage hin, ob seine Figuren nicht möglicherweise die Signifi‐ kanz von Sex überschätzen würden: »Nein. Sex ist die beste Möglichkeit, einem anderen Menschen nahe zu kommen. Und ich denke, Sex ist das Einzige, das in unserer Gesellschaft noch halbwegs funktioniert.« 614 Was jedoch prekär erscheint, ist weniger das Faktum der pornographischen Darstellung des Geschlechtsakts, d.h. der konkrete ›schlüpfrige‹ Inhalt selbst, als das Unbehagen, das durch die Kopräsenz heterogener Diskursfragmente hervorgerufen wird und eine Kategorisierung des Romans erschwert. Eine der‐ artige Indifferenz gegenüber sprachlichen Anforderungen des literarischen Textes erkennt Mecke als provokative Grenzüberschreitung - und zwar die des literarischen Feldes: »Innerhalb des literarischen Feldes markiert diese Stillo‐ sigkeit einen bewusst gewählten Mangel an Literarizität, der dazu beiträgt, die stilistischen Grenzen zwischen literarischem Höhenkamm und trivialen Formen der Literatur zu unterminieren.« 615 Der zunächst dem Realismus-Programm entspringende Anspruch, die Welt abzubilden und eine Aussage über sie zu treffen, 616 wird um ein postmodernes Spiel mit Formen und Genres der Trivial‐ literatur ergänzt, das auf eine multiple Grenzauflösung abzielt: Einerseits werden die Grenzen zwischen Fiktion und Realität durch zahlreiche Referenzen 2.5 Michel Houellebecq 237 <?page no="238"?> 617 Dies gelingt Houellebecq vor allem mit Hinweisen auf die Medienwelt, Figuren und Institutionen der Gegenwart: seien dies Bücher, Fernsehsendungen, Zeitschriften, Per‐ sonen des öffentlichen Lebens oder historische Ereignisse. Als paradigmatisch für das Zerfließen der Grenzen mag die Forderung des »New Age«-Camps »L’espace du pos‐ sible« gelten. Es wurde verlangt, sämtliche Referenzen, die in den Augen der Organi‐ satoren diffamierend waren, abzuändern. Das Camp, das Bruno im Roman aufsucht, trägt nunmehr den Namen »Le Lieu du changement«. Vgl. Douglas Morrey: Michel Houellebecq. Humanity and its Aftermath. Liverpool UP 2013, unpag. Axel Rüth wie‐ derum untersucht Les Particules élémentaires als historischen Roman, genauer: Er ana‐ lysiert, wie faktuale Elemente der (jüngeren) Geschichte mit der Romanfiktion ver‐ schaltet werden und kommt zu dem Schluss, dass »Houellebecq [...] Faktisches und Fiktives auf eine Art und Weise [vermengt], die den fiktionalen Status des Texts ›von innen‹, d.h. mit den Mitteln und Möglichkeiten des romanesken Erzählens selbst, labi‐ lisiert, so dass der Leser in gewisser Weise gar nicht anders kann, als darin einen Hin‐ weis darauf zu sehen, dass der Autor den Fiktionsvertrag aufkündigt«, ders.: »Fiktio‐ nalität, Referenz und Geschichte. Michel Houellebecqs Particules élémentaires«. In: ders./ Michael Schwarze (Hg.): Erfahrung und Referenz. Erzählte Geschichte im 20. Jahr‐ hundert. Paderborn: Fink 2016, S. 197-212, hier: S. 199. 618 Zur den Romanen Houellebecqs eignenden Dynamik der Genretransgression vgl. auch: Robert Dion/ Élisabeth Haghebaert: »Le cas de Michel Houellebecq et la dynamique des genres littéraires«. In: French Studies 60, 4 (2001), S. 509-524. 619 Sabine van Wesemael: »Michel Houellebecq: Un auteur postréaliste« (s. Anm. 589), S. 333f. auf die außerliterarische Wirklichkeit 617 verwischt, nur um durch Verfahren der schockartigen Entfremdung wiederhergestellt zu werden; andererseits trans‐ grediert der Roman Genreschwellen 618 - und dies nicht allein, in dem er sich an verfügbaren Modellen der Höhenliteratur selbst bedient, sondern die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst aufbricht. Irritation und Leserdezentrierung als Wirkziele markieren damit das Zentrum der Houellebecq’schen Poetik und mit van Wesemael lässt sich Houellebecq vielmehr als »Postrealist«, denn als »Realist« bezeichnen: Houellebecq, tout comme les auteurs postmodernes, cherche à démasquer toute forme d’utopie et par conséquent, on constate à nouveau un glissement par rapport au réa‐ lisme, puisqu’on est confronté à un univers qui éclate et se déconstruit constamment, ce qui crée une brèche dans l’illusion référentielle: c’est la fameuse déconstruction postmoderne. Houellebecq finit par tout détruire. 619 Der Roman ist damit weniger transparent, als es zunächst scheinen mag. Die Polyphonie, die durch die Gleichschaltung disparater Perspektiven und Dis‐ kursfragmente entsteht, öffnet den Text für unterschiedliche Deutungen. Die Feststellung Rita Schobers, dass die utopistische Vision auf zweierlei Weise in‐ terpretierbar wird, erweist sich damit vor allen Dingen als das Resultat einer effektvollen Verunsicherungsstrategie, die auf der Ambiguierung und Kollision 2 Textanalysen 238 <?page no="239"?> 620 Ruth Cruickshank: »L’Affaire Houellebecq: ideological crime and fin de millénaire lite‐ rary scandal«. In: French Cultural Studies 14, 1 (2003), S. 101-116, hier: S. 116. von Gegensätzlichem beruht. Die beunruhigende Wirkung des Romans geht also vornehmlich aus der Unauflösbarkeit von Zweideutigkeiten hervor. Viel‐ mehr ist der Leser gefragt, sich dieser Vieldeutigkeit zu stellen, Position zu be‐ ziehen und eigenständig nach Deutungsmöglichkeiten zu suchen - und dabei wird er bis an seine Grenzen gehen müssen. Dass der Roman eine solche Ein‐ schlagkraft besaß und immer noch besitzt, hat die Rezeptionsgeschichte gezeigt. Und so lässt sich mit Cruickshank festhalten: Houellebecq’s strategically ambiguous novel does not provide solutions. Rather, the author’s interactions with the media have multiplied questions. [...] And, contrary to the apocalyptic tones of the crise du roman, by precipitating ongoing critical debate, the affaire Houellebecq has demonstrated that in mass-mediated late twentieth-cen‐ tury France, literature still possesses the power to move, to shock, to raise questions and expose institutional ambivalence. 620 2.5.2 La Possibilité d’une île (2005) 2.5.2.1 Dystopische Moralistik: die Erzählerfiguren in La Possibilité d’une île Die Zukunftsvision des späteren Romans La Possibilité d’une île scheint die Am‐ bivalenz des Science-Fiction-Rahmens der Particules élémentaires zunächst auf‐ zuheben - hier wird die Imagination einer posthumanen Spezies deutlich als Dystopie markiert. Auch dieser Roman imaginiert einen zukünftigen Neo-Men‐ schen, der genauso wie in Les Particules élémentaires nicht mehr auf die Fort‐ pflanzung durch Sexualität angewiesen ist, sondern geklont wird. La Possibilité d’une île gliedert sich strukturell in drei Teile auf: den Kommentar von Daniel24, den Kommentar von Daniel25 und der abschließende Kommentar einschließlich Epilog. Bei Daniel24 und Daniel25 handelt es sich um Klone von Daniel1; die Ziffer hinter dem Namen indiziert dabei, um den wievielten Klon es sich handelt. Diese blicken nun auf den Lebensbericht Daniel1s zurück und kommentieren diesen, sodass über den gesamten Roman hinweg die Berichte Daniel1s und die Kommentare seiner Klone alternieren. Während also die Zukunftsutopie in Les Particules élémentaires auf die Rahmenhandlung in Pro- und Epilog beschränkt bleibt, ist sie hier über den gesamten Text hinweg präsent. Über den Lebensbericht Daniel1s lässt sich dann auch rekonstruieren, wie in der unsrigen Zeit die Weichen für jene neue Spezies gestellt wurden, die eben‐ falls durch technischen Fortschritt ermöglicht wurde. Daniel ist Komiker, der 2.5 Michel Houellebecq 239 <?page no="240"?> 621 Die von Houellebecq erfundene Sekte der Elohimiten hat ein real existentes Vorbild, nämlich die Sekte der Raelianer, gegründet 1973, die ihren Anhängern ein ›ewiges Leben‹ durch Klonen ihrer Körper ermöglichen will. Zum »Raelismus« vgl. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Raelismus (letzter Aufruf: 10.11.15). 622 Michel Houellebecq: La Possibilité d’une île. Paris 2005, S. 21. Nachweise für den Roman werden in der Folge im Fließtext mit dem Kürzel »PI« erbracht. 623 Jutta Weiser: »Posthumane Menschenprüfer. Michel Houellebecqs La Possibilité d’une île und die Moralistik«. In: Lendemains 142/ 143 (2011), S. 70-86, hier: S. 75. trotz oder gerade wegen seines ausgeprägten Zynismus besonderen Erfolg ge‐ nießt. Die in La Possibilité d’une île keinesfalls weniger bittere Gesellschafts‐ analyse erfolgt hier aus der Perspektive Daniels, der trotz Luxus und Erfolg an der Unmöglichkeit aufrichtiger Liebe verzweifelt. Zwar erlebt er ähnlich wie auch Bruno und Michel Momente des Glücks - so z.B. mit Isabelle, Mitarbeiterin bei einem französischen Modemagazin für Jugendliche; doch diese Beziehung kann dem Leiden am Altern und dem langsam voranschreitenden Verfall des Körpers nicht standhalten. Ebenso findet er auch in einer späteren Beziehung mit der hedonistischen Spanierin Esther nur vorübergehend (und vor allem se‐ xuelle) Erfüllung. Auch diese wird ihn letztlich verlassen, ist sie doch um einiges jünger als Daniel1. Zerstreuung suchend tritt er dann mehr zufällig in Kontakt mit einer Sekte - die sogenannten Elohimiten 621 -, deren erklärtes Ziel nicht weniger als die Unsterblichkeit ist. Und tatsächlich wird es im Kreis der Sekte geschehen, dass die ersten Neo-Menschen, d.h. die ersten Klone, geschaffen werden, welche dem Menschen eine virtuelle Unsterblichkeit ermöglichen. Im Kreis der Sekte wird Daniel1, den nichts lebensweltliches mehr hält, seinen »récit de vie« abfassen, bevor er sich dann selbst das Leben nimmt und damit seinen Klonen die Nachfolge überlässt. Wie Jutta Weiser überzeugend nachweist, inszeniert Houellebecq in diesem Roman eine multiperspektivische Reflexion des Faszinosums »Mensch«, seiner Moral und seiner Sitten: Einerseits erfolgt die Beobachtung durch den auf un‐ serer Zeitebene angesiedelten Daniel1, »observateur acéré de la réalité contem‐ poraine«; 622 andererseits durch die »kühle[n] Beobachter zweiter Ordnung« 623 Daniel24 und Daniel25, die wiederum Daniel1 und seine Gefühlswelt zum Ge‐ genstand der Analyse erheben. Daniel1s Zugang zur Welt ist ein humoristischer, 2 Textanalysen 240 <?page no="241"?> 624 Dabei spricht er oftmals heikle Themen an, setzt politisch inkorrekte Pointen, die nicht selten von Misogynie (PI 22) oder Rassismus (PI 23) zeugen. Er profitiert jedoch von der Gehässigkeit seines Publikums, das eine solch dezidiert menschenfeindliche Haltung als Humanismus positiv umzudeuten weiß: »Le pire est que j’étais considéré comme un humaniste; un humaniste grinçant, certes, mais un humaniste.« (PI 22) In der Tat aber klagt Houellebecq in den Interventions den allgegenwärtigen Zwang der »political correctness« an, da sie einen natürlichen, authentischen Zugang einerseits zur Lite‐ ratur, andererseits zum Menschsein selbst verstelle: »Les livres appellent des lecteurs; mais ces lecteurs doivent avoir une existence individuelle et stable: ils ne peuvent être de purs consommateurs, de purs fantômes; ils doivent être aussi, en quelque manière, des sujets. Minés par la lâche hantise du ›politically correct‹, éberlués par un flot de pseudo-informations qui leur donnent l’illusion d’une modification permanente des catégories de l’existence (on ne peut plus penser ce qui était pensé il y a dix, ou cent ou mille ans), les Occidentaux contemporains ne parviennent plus à être des lecteurs; ils ne parviennent plus à satisfaire cette humble demande d’un livre posé devant eux: être simplement des êtres humains, pensant et ressentant par eux-mêmes.« (Houellebecq: Interventions [s. Anm. 560], S. 75). Political incorrectness, wie sie auch Daniel1 praktiziert, wird damit zu einer Notwendigkeit, und dies sowohl auf der kreativen als auch rezep‐ tiven Ebene. bisweilen gar menschenfeindlicher. 624 Entwicklungen der gegenwärtigen Ge‐ sellschaft beschreibt er nicht selten mit schneidendem Zynismus, wobei ihn je‐ doch stets die Frage nach der Möglichkeit des Glücks beschäftigt: Lors des premières phases de mon ascension vers la gloire et la fortune, j’avais occa‐ sionnellement goûté aux joies de la consommation, par lesquelles notre époque se montre si supérieure à celles qui l’ont précédée. On pouvait ergoter à l’infini pour savoir si les hommes étaient ou non plus heureux dans les siècles passés; on pouvait commenter la disparition des cultes, la difficulté du sentiment amoureux, discuter leurs inconvénients, leurs avantages; évoquer l’apparition de la démocratie, la perte du sens du sacré, l’effritement du lien social. Je ne m’en étais d’ailleurs pas privé, dans bien des sketches, quoique sur un mode humoristique. (PI 29) Im Unterschied zu Les Particules élémentaires lassen sich auf Ebene der Narration auch deutlich unterschiedene Stimmen differenzieren, die wiederum konkret den Figuren des Romans zugeordnet werden können. Es handelt sich um ins‐ gesamt drei Ich-Erzähler, deren Stimme konsequent an ihre jeweilige Perspek‐ tive gebunden bleibt. Damit scheint die undeutbare Polyphonie von Les Parti‐ cules élémentaires weitestgehend aufgelöst. Doch lässt sich in Bezug auf den Erzähler Daniel1 feststellen, dass diesem ebenfalls eine Doppelfunktion zu‐ kommt: Zum einen tritt er in der Rolle des erhabenen, kritisch-ironischen Mora‐ listen auf, der kommentierend und wertend die Laster des Menschen beschreibt und an den Pranger stellt; zum anderen ist er selbst Teil dieser Welt, lebt und leidet an den Bedingungen, die das moderne Leben bestimmen. Die Polyphonie 2.5 Michel Houellebecq 241 <?page no="242"?> 625 Vgl. auch Susanna Frings: »A la recherche de l’homme perdu« (s. Anm. 52), S. 171. 626 Vgl. Weiser: »Posthumane Menschenprüfer« (s. Anm. 623), S. 75. 627 So lautet auch Houellebecqs »Selbstbekenntnis«: »Ich denke, man kann uns beide [Bret Easton Ellis und Houellebecq selbst] mit einem gewissen Recht Moralisten nennen«. (Marianne Wellershoff/ Rainer Traub: »›Überall Bilder von perfektem Sex‹ [s. Anm. 614], S. 92.) erhält sich demnach in der Kopräsenz von erzählendem und erlebendem Ich. Diese Doppelfunktion des Erzählers gilt auch für Daniel25, der zwar zunächst fast ausschließlich als Kommentator auftritt, doch schließlich selbst zum Agens und damit zu einem erlebenden Ich wird, wenn er in das Ungewisse aufbricht und beginnt, seinen eigenen »récit de vie« zu schreiben. 625 Dass die Erzähler‐ figuren in ihrer Kommentarfunktion vor allem als moralistes bzw. »Menschen‐ prüfer« fungieren und dabei Thesen aufstellen, die an jene La Rochefoucaulds erinnern, führt Weiser vor. 626 In gewisser Weise findet sich damit die Funktion des kritischen »Mahners« innerfiktional gespiegelt, d.h. seine Figuren fungieren als Sprachrohr des Moralisten »Houellebecq«. 627 2.5.2.2 Die souffrance des modernen Menschen In Analogie zur kritischen Gegenwartsreflexion der Particules élémentaires steht auch hier die zunehmende und absolute Vereinzelung des Menschen im Mittel‐ punkt: »Au fond on naît seul, on vit seul et on meurt seul« (PI 411). Diese grundlegend pessimistische Auffassung der menschlichen Existenz vereint sich auch hier mit einem herben Determinismus: »À tout observateur impartial en tout cas il apparaît que l’individu humain ne peut pas être heureux, qu’il n’est en aucune manière conçu pour le bonheur, et que sa seule destinée possible est le malheur autour de lui en rendant l’existence des autres aussi intolérable que l’est la sienne« (PI 65). Zum Leiden an der Vereinsamung des modernen Men‐ schen addiert sich schließlich noch das Leiden an der Körperlichkeit, der Ge‐ bundenheit an den dem Verfall geweihten Körper: »Nous sommes des corps, nous sommes avant tout, principalement et presque uniquement des corps, et l’état de nos corps constitue la véritable explication de la plupart de nos con‐ ceptions intellectuelles et morales« (PI 213). Das Leiden als vergängliches, al‐ terndes Geschöpf in einer Gesellschaft, die vom Kult der Jugend bestimmt wird, exemplifiziert Daniel1s erste große Liebe Isabelle. Als Redakteurin eines Ju‐ gendmagazins für die Zielgruppe der Mädchen ist sie einerseits maßgeblich an der Proliferation oberflächlicher Werte beteiligt und doch auch Leidträgerin, die ihren eigenen Marktwert stetig sinken sieht, bis dass sie angesichts der Un‐ möglichkeit, Liebe zu erfahren, vollends resigniert. In der scheiternden Bezie‐ hung von Daniel1 und Isabelle zeichnet sich das Liebeskonzept ab, das der 2 Textanalysen 242 <?page no="243"?> 628 Vgl. Christine Ott: »›Amor, ch’a nullo amato amar perdona‹. Biblische und danteske Intertextualität in Michel Houellebecqs La possibilité d’une île«. In: Deutsches Dante-Jahrbuch 84 (2009), S. 133-152, hier: S. 143. Roman entwirft: Unter dem Ballast der gesellschaftlichen Zwänge ist die un‐ eingeschränkte Hingabe an einen anderen nicht mehr möglich. Die durch Selbsthass bestimmte Isabelle kann sich nicht mehr als der Liebe würdiges Wesen wahrnehmen, was die Basis des Liebens und Geliebtwerdens schlechthin bildet: Il y eut pire, bien entendu, et cet idéal de beauté plastique auquel elle ne pouvait plus accéder allait détruire, sous mes yeux, Isabelle. D’abord, il y eut ses seins, qu’elle ne pouvait plus supporter (et c’est vrai qu’ils commençaient à tomber un peu); puis ses fesses, selon le même processus. De plus en plus souvent, il fallait éteindre la lumière; puis la sexualité elle-même disparut. Elle ne parvenait plus à se supporter; et, partant, elle ne supportait plus l’amour, qui lui paraissait faux. (PI 71f.) Wie Christine Ott gezeigt hat, ist jedoch gerade dieses Bewusstsein für das Leiden und die Unzulänglichkeiten des Menschen die Basis für die Liebe. Für Daniel1 ist die pietas, die Fähigkeit zur empathischen Einfühlung, die Bedingung einer jeden liebevollen Beziehung. 628 So bemerkt Daniel1 im Zusammenhang mit Esther, seiner zweiten großen Liebe: Elle n’en était pas moins très loin d’être ce monstre d’arrogance, d’égoïsme absolu et froid, ou, pour parler en termes plus baudelairiens, cette infernale petite salope que sont la plupart des très jeunes filles; il y avait en elle la conscience de la maladie, de la faiblesse et de la mort. Quoique belle, très belle, infiniment érotique et désirable, Esther n’était pas moins sensible aux infirmités animales, parce qu’elle les connaissait; c’est ce soir-là que j’en pris conscience, et que je me mis véritablement à l’aimer. Le désir physique, si violent soit-il, n’avait jamais suffi chez moi à conduire à l’amour, il n’avait pu atteindre ce stade ultime que lorsqu’il s’accompagnait, par une juxtaposi‐ tion étrange, d’une compassion pour l’être désiré; tout être vivant, évidemment, mérite la compassion du simple fait qu’il est en vie et se trouve par là même exposé à des souffrances sans nombre, mais face à un être jeune et en pleine santé c’est une con‐ sidération qui paraît bien théorique. (PI 215f.) Diese souffrance, die das Leben des Menschen bestimmt, rührt von seinen Pas‐ sionen her, die im kartesianischen Sinne als Leiden verstanden werden können: »la jalousie, le désir et l’appétit de la procréation ont la même origine, qui est la souffrance d’être« (PI 367). Unter der Prämisse des Leidens als Seinsbedingung erscheint also auch hier der Mensch als korrekturbedürftiges Auslaufmodell: »nous devons dépasser ce stade afin d’atteindre l’état où le simple fait d’être 2.5 Michel Houellebecq 243 <?page no="244"?> constitue par lui-même une occasion permanente de joie; où l’intermédiation n’est plus qu’un jeu, librement poursuivi, non constitutif d’être. Nous devons atteindre en un mot à la liberté d’indifférence, condition de possibilité de la sérénité parfaite« (PI 367). So handelt es sich bei Daniel24 und Daniel25 nicht einfach um identische Klone, sondern analog zu den Particules élémentaires um eine gentechnisch ma‐ nipulierte Spezies, die von den ursprünglichen Defiziten des Menschen befreit wurde: So sind sie nicht mehr auf Nahrung angewiesen, sondern können allein durch Aufnahme bestimmter Mineralsalze überleben; die Klone leben in totaler Isolation (was sie mit dem einstigen Menschen weitestgehend gemeinsam haben), doch verspüren keinerlei Bedürfnis nach Nähe: Kommunikation mit anderen Klonen findet allein über technische Medien statt. Der néo-humain steht dabei in starkem Kontrast zu den wenigen menschlichen Überlebenden, die zu Beginn des 4. Jahrtausends noch auf einer von Kriegen und Katastrophen völlig zerstörten Erde leben: Die von den Neo-Menschen als »sauvages« bezeichneten Menschen sind völlig regrediert, scheinen das Sprachvermögen verloren zu haben, leben in Barbarei und Wildheit, mehr Tier als Mensch. Demnach scheint der einzige Weg, die Dekadenz des Menschengeschlechts aufzuhalten, in der technischen Genmanipulation zu liegen, in der Notwendigkeit den natürlich defizitären Anlagestatus des Menschen mit den Mitteln der Technik zu beheben. 2.5.2.3 »If you have no sex, you need ferocity«: die universelle Barbarei des Menschen Diese »sauvages« erweisen sich jedoch im Grunde als kaum anders als der Mensch des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich findet sich das Themenspektrum um eine Reflexion der Zivilisation und der Omnipräsenz der Gewalt ergänzt. So profitiert, wie bereits erwähnt wurde, Daniel1 von der Gehässigkeit seines Pub‐ likums, das seine bisweilen boshaften Scherze mit einem hämischen Lachen entlohnt: »À chaque fois que le public riait (et je pouvais le prévoir à l’avance, je savais doser mes effets, j’étais un professionnel confirmé), j’étais obligé de détourner le regard pour ne pas voir ces gueules, ces centaines de gueules ani‐ mées de soubresauts, agitées par la haine« (PI 60). Die zu hasserfüllten Fratzen verzerrten Gesichter verraten die dem Menschen inhärente malveillance: Das Lachen erweist sich damit nicht als Ausdruck von Freude und Erheiterung, son‐ dern als Signum des Hasses. Und dieses Motiv des hämischen Lachens wird in einer weiteren Episode erneut auftreten, und zwar jener um den Tod von Fox, Daniel1s Hund. Daniels einstiger Ruheort in Almería wird jäh zu einem Ort der Trostlosigkeit, als massive Bauarbeiten die Region rund um sein Anwesen zu planieren beginnen, um weitere Residenzen erbauen zu können. Gegenüber den 2 Textanalysen 244 <?page no="245"?> Bauarbeitern empfindet Daniel1 bereits eine gewisse malaise, spürt er doch, dass jene ihm nicht wohlgesonnen sind (»ils m’étaient franchement hostiles«, PI 372), er vermutet gar eine »haine sourde, animale« (PI 372). Und tatsächlich tut sich ihm wenig später der folgende Anblick auf: Je ne le [Fox] retrouvai que tard dans l’après-midi; il n’était qu’à trois cent mètres de la résidence, j’avais dû passer devant plusieurs fois sans le voir. Il n’y avait que sa tête qui dépassait, légèrement tachée de sang, la langue sortie, le regard immobilisé dans un rictus d’horreur. Fouillant de mes mains dans la boue, je dégageai son corps qui avait éclaté comme un boudin de chair, les intestins étaient sortis; il était largement sur le bas-côté, le camion avait dû faire un écart pour l’écraser. Je retirai mon ciré pour l’envelopper et rentrai chez moi le dos courbé, le visage ruisselant de larmes, détour‐ nant les yeux pour ne pas croiser le regard des ouvriers qui s’arrêtaient sur mon passage, un sourire mauvais aux lèvres. (PI 379) Der malträtierte Körper des Hundes trägt die Signatur einer grenzenlosen Grau‐ samkeit, die schlicht und ergreifend einem boshaften Impuls zu entspringen scheint (und umso monströser erscheint, als sie sich gegen ein unschuldiges Wesen richtet). Und diese Boshaftigkeit gefriert erneut in der Fratze des »sourire mauvais«. Tatsächlich wird sich gleiches für Daniel25 wiederholen, dessen Klon-Fox auf ähnlich grausame Weise von den Wilden niedergemetzelt wird: »Je retrouvai son corps à la tombée de la nuit, transpercé par une flèche. Sa mort avait dû être affreuse, ses yeux déjà vitreux reflétaient une expression de pa‐ nique. Dans un ultime geste de cruauté, les sauvages avaient découpé ses oreilles [...] la découpe était grossière, du sang avait éclaboussé son museau et son po‐ itrail« (PI 456). Die »sauvages«, die sich in einem vermeintlichen Regressions‐ stadium befinden, erweisen sich demnach als genauso depraviert, wie es bereits der Mensch des 21. Jahrhunderts war. Durch die Spiegelung der Fox-Episode auf der als Utopie imaginierten Zeitebene wird die Barbarei des modernen Men‐ schen erneut vorgeführt und implizit angeprangert - ein Verfahren, das an Flaubert gemahnt. Diese Barbarei wird tatsächlich auch als anthropologische Grundkonstante gedacht. Mehrfach finden sich Episoden eingestreut, die dies zu belegen scheinen. So wird Daniel in einem Gespräch mit einem Regisseur mehr beiläufig - um das Gespräch am Leben zu erhalten (»[a]fin d’alimenter la conversation«, 2.5 Michel Houellebecq 245 <?page no="246"?> 629 2001 tötete Armin Meiwes Bernd Jürgen Amando Brandes mit dessen Einverständnis, nachdem er ihm das Geschlecht abgetrennt und verspeist hatte. Die Leiche fror er ein und verzehrte sie. Eine Chronik zum Fall »Meiwes« ist abrufbar unter: http: / / www.faz.net/ aktuell/ gesellschaft/ hintergrund-eine-chronik-des-kanniba‐ lismus-falls-von-rotenburg-1129308.html (letzter Zugriff: 12.11.15). 630 Christine Ott: »Amor, ch’a nullo amato amar perdona« (s. Anm. 628), S. 134. PI 308) - die Geschichte um den sogenannten »Kannibalen von Rotenburg«, 629 die sich tatsächlich ereignet hat, erwähnen: je lui racontai l’histoire de cet Allemand qui en avait dévoré un autre, rencontré par Internet. D’abord il lui avait sectionné le pénis, puis l’avait fait frire, avec des oignons, et ils l’avaient dégusté ensemble. Il l’avait ensuite tué avant de le couper en morceaux, qu’il avait stockés dans son congélateur. De temps en temps il sortait un morceau, le décongelait et le faisait cuire, il utilisait à chaque fois une recette différente. Le moment de la manducation commune du pénis avait été une expérience religieuse intense, de réelle communion entre lui et sa victime. (PI 308) Hier trifft, wie so oft bei Houellebecq, das Banale auf das außergewöhnlich Grausame. Der schauerliche Gegenstand findet sich in einem banalen pragma‐ tischen Zusammenhang integriert, nämlich als Versuch, Smalltalk zu betreiben - mit dem Daniel1 scheinbar auch reüssiert: »Le réalisateur m’écoutait avec un sourire à la fois benêt et cruel, s’imaginant probablement que je comptais in‐ tégrer ces éléments dans mon travail en cours, se réjouissant déjà des images répugnantes qu’il allait pouvoir en tirer.« (PI 308) Die Gegenreaktion seines Redepartners zeigt erneut das dümmlich-grausame Lächeln, in dem sich die Scheußlichkeit des Menschen manifestiert. Gleichzeitig wird in dieser Episode jedoch thematisiert, was der Roman im Ganzen problematisierend reflektiert: der Verlust der Möglichkeit religiös-spiritueller Erfahrung, der mit exzessiver Gewalt kompensiert wird. Der Fall des »Kannibalen von Rotenburg« scheint einen Beleg dafür zu erbringen, dass der Mensch das »ethisch-religiöse Vakuum der Gegenwart« 630 mit Perversion und extraordinären Gewaltentladungen zu füllen sucht. So sei hier das gemeinsame Verspeisen des Geschlechtsorgans eine intensive religiöse Erfahrung gewesen, ein Moment der Kommunion. Eine weitere - diesmal fiktive - Episode des Romans vermag dies noch weiter zu exemplifizieren. Nach der Geburtsstunde des sogenannten ersten Klons - Vincent, der in die Fußstapfen seines Vaters tritt - gewinnt die neue Religion der Elohimiten rasch an Zuwachs. Es bilden sich »Zellen« über den ganzen Globus verteilt, die den Übertritt in die Unsterblichkeit, d.h. die Auslöschung und Ersetzung des eigenen Selbst durch einen identischen Klon in der nahen Zukunft, in teils gewalttätige Zeremonielle verwandeln. So liest Vincent als 2 Textanalysen 246 <?page no="247"?> neuer »Prophet« Berichte über die sich neu herausbildenden Rituale mit sicht‐ licher Agitation: »Dans la cellule de Rimini, le corps d’un adepte a été entièrement vidé de son sang; les participants s’en sont barbouillés avant de manger son foie et ses organes sexuels. Dans celle de Barcelone, le type a demandé à être suspendu à des crocs de boucherie, puis laissé à la disposition de tous; son corps est resté accroché comme ça, dans une cave, pendant quinze jours: les participants se servaient, en découpaient une tranche qu’ils mangeaient en général sur place. À Osaka, l’adepte a demandé à ce que son corps soit broyé et compacté par une presse industrielle, jusqu’à être réduit à une sphère de vingt centimètres de diamètre, qui serait ensuite recouverte d’une pellicule de silicone transparente et pourrait servir à disputer une partie de bowling; il était paraît-il de son vivant un passionné de bowling.« (PI 359f.) Diese außerordentlich gewaltsamen Formen der ritualistischen Selbstauslö‐ schung kann Vincent, »visiblement choqué« (PI 360), nur schwer verarbeiten. In den teilweise kannibalistischen Zeremonien findet die »Rotenburg-Affäre« einen beunruhigenden Widerhall, die der Fiktion eine eigentümliche vraisemb‐ lance verleiht. Daniel1 scheinen diese exzessiven Gewaltausbrüche kaum zu überraschen; er diagnostiziert: »C’est une tendance de la société... dis-je. Une tendance générale vers la barbarie, il n’y a aucune raison que vous y échap‐ piez...« (PI 360) Daniel attestiert dem Menschen eine inhärente Tendenz zur Barbarei, die sich, wie Susan - einstige Begleiterin des Propheten, nunmehr Vincents - einräumt, über zwei Kanäle entlädt: »There are not a lot of basic socio-religious emotions... intervint Susan. If you have no sex, you need ferocity. That’s all...« (PI 360) Diese Replik wird auf doppelte Weise hervorgehoben: ers‐ tens durch die Typographie, zweitens durch die Sprachwahl, wodurch der Ein‐ schub einen gewissen Zitatcharakter gewinnt. Nicht zuletzt durch pointierte Kursivsetzung erzielt Houellebecq die für ihn charakteristischen Polyphonieef‐ fekte. So wirkt auch Susans Replik wie ein pseudo-wissenschaftlicher Allge‐ meinplatz, der jedoch im Grunde eine der Thesen des Romans lakonisch auf den Punkt bringt - zumal sie in gewisser Weise Batailles kulturhistorische Überle‐ gungen zur Verausgabung und Erfahrung des Heiligen in archaischen Gesell‐ schaften zu rezipieren scheint. Die Möglichkeit der Transgression, wie sie Ba‐ taille konzipierte, besteht entweder in der ritualisierten und damit kontrollierten Gewaltentladung (wie in archaischen Gesellschaften) oder in der Erotik. Da im Houellebecq’schen Universum eine »heilige Kommunion« im Liebesakt un‐ möglich geworden ist, bleibt nur noch die wilde Rohheit. Gewaltausbrüche, wie jener des »Kannibalen von Rotenburg« (als außerliterarischer Referenzpunkt), der Adepten der neuen Religion oder auch David di Meolas in Les Particules 2.5 Michel Houellebecq 247 <?page no="248"?> 631 So gibt Daniel1 zu: »Non seulement je n’avais jamais adhéré à une croyance religieuse, mais je n’en avais même jamais envisagé la possibilité.« (PI 252) 632 »Le dilemme était bien sûr dans certains cas facile à trancher. Savant, par exemple, ne pouvait évidemment pas prendre au sérieux ces fariboles, et il avait de très bonnes raisons de rester dans la secte: compte tenu du caractère hétérodoxe de ses recherches, jamais il n’aurait pu obtenir ailleurs des crédits aussi importants [...]. Les autres diri‐ geants - Flic, Humoriste, et bien entendu le prophète - tiraient eux aussi un bénéfice matériel de leur appartenance. Le cas de Patrick était plus curieux. [...] [Il] semblait manifester une foi réelle, une espérance non feinte dans l’éternité de délices que laissait entrevoir le prophète« (PI 253f.). 633 So wird erwähnt, dass das negative Image, dass die Sekte in der Öffentlichkeit hat, vor allen Dingen auf die kuriose Vergangenheit des »Propheten« zurückzuführen ist: »quant au prophète, il était régulièrement tourné en ridicule pour ses échecs successifs dans ses carrières précédentes (pilote de course, chanteur de variétés...)« (PI 258). Der »Prophet« wird damit jeglicher Aura der Erhabenheit beraubt und der Lächerlichkeit preisgegeben. élémentaires scheinen unter diesem Gesichtspunkt fast unumgänglich, sind sie doch allesamt Ausdruck einer Absenz elementarer religiös-ethischer Orientie‐ rungspunkte. In Hinblick auf die Reflexion des dem Menschen scheinbar inhä‐ renten Gewalttriebs ist La Possibilité d’une île durchaus den Texten Flauberts und Mirbeaus anverwandt. Die Maximen »sex« und »ferocity« rekurrieren im Grunde auf das Prinzip des ewigen Widerstreits von Eros und Thanatos. 2.5.2.4 »[N]ous sommes tous […] un arrangement temporaire de molécules«: Menschenbild Das Bedürfnis nach einer Kompensation des metaphysischen Erfahrungsraums des Heiligen wissen die Elohimiten auch auszunutzen. Eine der wohl brisan‐ testen Passagen des Textes bildet eben jene Episode, die die wahre Geburts‐ stunde der elohimitischen Religion erzählt. Daniel1 verbringt versuchsweise und mehr aus genereller Neugier einige Zeit in den Kreisen der Sekte - eine Art Camp -, wo er zunächst mit sichtlicher Distanz 631 und mit Unverständnis die Glaubensinhalte und -praktiken der Elohimiten beobachtet. Der Glaube als sol‐ cher und damit im Besonderen auch der Elohimiten-Kult stellt für ihn ein »aga‐ çante énigme« (PI 253) dar, das er nicht zu lösen vermag. Zwar sind dabei vor allen Dingen die Führungskräfte der Sekte kaum problematisch für ihn, ziehen sie doch vor allen Dingen einen materiellen Nutzen aus ihrer Mitgliedschaft. Doch der tiefe Glaube der nicht profit- oder machtorientierten Mitglieder be‐ reitet ihm Kopfzerbrechen. 632 Damit nimmt Daniel zunächst die Rolle des dis‐ tanzierten Beobachters und damit auch des »Menschenprüfers« ein. In der Tat entlarvt sein zunächst vom Glauben ungetrübter Blick die oberen Machthaber, allen voran den »Propheten«, 633 die vor allen Dingen aus opportunistischen 2 Textanalysen 248 <?page no="249"?> 634 Die Namensgebung ist nicht willkürlich. Wie Christine Ott nachgewiesen hat, lässt sich die Episode als reenactment des V. Gesangs der Divina Commedia lesen: Das ehebre‐ cherische Paar Paolo und Francesca verweilt im ersten Kreis der Hölle, wo Dante wäh‐ rend seiner Jenseitsreise auf sie trifft. Francesca, die - wie aus Boccaccios Dante-Kom‐ mentaren bekannt ist - unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in eine Ehe mit Gianciotto gelockt wurde, während sie dachte, es sei in Wahrheit dessen Bruder Paolo, den sie ehelichen würde, berichtet, wie sie und Paolo bei der gemeinsamen Lektüre des Lancelot ihrer Leidenschaft für einander nachgaben und für ihre Untreue mit dem Tode bestraft wurden. Ähnlich wie Paolo und Francesca also durch einen dritten getrennt wurden, so wird auch bei Houellebecq das Paar durch den Propheten geschieden. Vgl. Christine Ott: »Amor, ch’a nullo amato amar perdona« (s. Anm. 628), S. 136-142. Gründen den Glauben mimen. Ähnlich wie es auch Flaubert in Salammbô vornahm, ironisiert Houellebecq den kultischen Glauben, der im Grunde ledig‐ lich der Maskierung profaner Interessen dient. Und so erweist sich auch die Neugeburt des Propheten nur als Schein-Wunder, verbirgt sich doch dahinter ein kaltblütig ausgeklügelter Plan. Nachdem der Ur-Prophet von Gianpaolo, einem Anhänger der Sekte, aus Eifer‐ sucht getötet wurde, da er dessen Geliebte Francesca die Ehre zuteil werden ließ, sein Bett zu teilen, 634 ergreifen Vincent, Flic und Savant die Gelegenheit beim Schopf, um einen veritablen Geniestreich vorzubereiten: Vincent, als der Öf‐ fentlichkeit unbekannter biologischer Sohn des Propheten, wird diesen als dessen vermeintlichen Klon ersetzen. Der unter den Anhängern der Sekte ver‐ breitete, aufrichtige Glaube an Elohim wird instrumentalisiert, um eine wun‐ dersame Auferstehung im Zeichen des merveilleux zu inszenieren. Auf den Ein‐ wand Flics, dass niemand an die Auferstehung des Propheten glauben würde, weiß Vincent zu erwidern: Très peu de gens en effet [...] Il y aura certainement une couverture médiatique énorme, et un scepticisme général; mais personne ne pourra rien prouver, nous sommes les seuls à disposer de l’ADN du prophète, il n’en existe aucune copie, nulle part. Et le plus important c’est que les adeptes, eux, vont y croire; ça fait des années que nous les y préparons. Lorsque le Christ est ressuscité le troisième jour personne n’y a cru, à l’exception des premiers chrétiens; c’est même exactement comme ça qu’ils se sont définis: ceux qui croyaient à la résurrection du Christ. (PI 279) Die Vergleichsfolie ist hier keine geringere als die biblische Auferstehung Jesu, als dessen grausame Parodie sich die Resurrektion des Propheten gestaltet. Hinter dem Schein des göttlichen Wunderhaften verbirgt sich das Sein mensch‐ lichen Kalküls - und die Aufrechterhaltung dieses Scheins fordert Opfer ein: Francesca, die nunmehr einzige Überlebende, die die tatsächlichen Begleitum‐ stände des Todes des Propheten bezeugen kann, muss beseitigt werden. So 2.5 Michel Houellebecq 249 <?page no="250"?> 635 Auf Basis des Dante’schen Intertexts lässt sich Daniel1 hier als Dante-Figur lesen, der so wie der Jenseitswanderer Mitleid mit Francesca empfindet. Diese pietas ist jedoch offensichtlich nur von vorübergehender Dauer. Vgl. Ott: »Amor, ch’a nullo amato amar perdona« (s. Anm. 628), S. 147. 636 So beobachtet Daniel1 das Sozialverhalten der Elohimiten gleich einem Biologen, der Primaten und ihr Gebaren untersucht. Er vergleicht dabei mehrfach den Menschen mit einem Affen (vgl. PI 274), nicht selten bezeichnet er die Handlanger des Propheten, Flic und Savant, überdies als »Singe numéro 2« und »Singe numéro 3«. wendet Daniel1 in einem Anflug von moralischer Rechtschaffenheit und com‐ passion ein, 635 dass Flic und Savant kaum eine Unschuldige töten könnten, denn immerhin handele es sich dabei um Mord (»C’est un meurtre...«, PI 282). Doch Savant antwortet ihm: Dis-toi que c’est juste une mortelle, une mortelle comme nous sommes tous jusqu’à présent: un arrangement temporaire de molécules. Disons qu’en l’occurence nous avons affaire à un joli arrangement; mais elle n’a pas plus de consistance qu’un motif formé par le givre, qu’un simple redoux suffit à anéantir; et, malheureusement pour elle, sa disparition est devenue nécéssaire pour que l’humanité puisse poursuivre son chemin. (PI 282) Der Tod einer Einzelperson scheint in Anbetracht des Allgemeinwohls - der Zukunft der Menschheit gar - als das kleinere Übel. Die tatsächliche Provoka‐ tion liegt hier aber in der Bedeutung, die dem Menschen bzw. dem Individuum beigemessen wird: Es ist nichts anderes als ein vorübergehendes Arrangement von Molekülen, das kaum mehr Konsistenz als eine Eisblume hat. Die unnach‐ ahmliche Individualität des Einzelnen und seine Substanz, die menschliche Seele, werden hier völlig negiert - eine Position, die aber in Hinblick auf die Tatsache, dass sie von Savant als Repräsentant des Wissenschaftsprinzips ver‐ treten wird, kaum überrascht. Doch scheint der gesamte Roman darauf angelegt zu sein, zu beweisen, dass der Mensch es verdient, abgeschafft zu werden, ist er doch das grausamste aller Tiere 636 und diesem eigentlich insofern unterlegen, als jenes wenigstens noch der uneingeschränkten Devotion gegenüber einem anderen Lebewesen fähig ist. Und so hat Daniel1s Skrupel kaum Bestand, wenn er zu dem Schluss kommt, dass seine moralischen Bedenken nicht rational be‐ gründbar seien: L’humanité, comme toutes les espèces sociales, s’était bâtie sur la prohibition du meurtre à l’intérieur du groupe, et plus généralement sur la limitation du niveau de violence acceptable dans la résolution des conflits inter-individuels; la civilisation, même, n’avait pas d’autre contenu véritable. [...] Après quelques minutes de réflexion je me rendis compte que, du point de vue de Miskiewicz, Francesca n’appartenait pas 2 Textanalysen 250 <?page no="251"?> au groupe: ce qu’il essayait de faire c’était de créer une nouvelle espèce, et celle-ci n’aurait pas davantage d’obligation morale à l’égard des lézards, ou des méduses; je me rendis compte, surtout, que je n’aurais aucun scrupule à appartenir à cette nouvelle espèce, que mon dégoût du meurtre était d’ordre sentimental ou affectif, bien plus que rationnel; pensant à Fox je pris conscience que l’assassinat d’un chien m’aurait choqué autant que celui d’un homme, et peut-être davantage; puis, comme je l’avais fait dans toutes les circonstances un peu difficiles de ma vie, je cessai simplement de penser. (PI 290f.) Ähnlich wie Mirbeau seine Figuren Zivilisationsthesen formulieren lässt, so ar‐ tikuliert auch Houellebecq durch die Figur Daniels eine Theorie zum Zusam‐ menhang von Moral und Zivilisation. Gleichwohl beruht in beiden Fällen das Konzept der Zivilisation auf dem Tötungsverbot, doch bei Mirbeau wird der Todestrieb als dem Menschen inhärent gedacht, sodass das staatliche Verbot gleichbedeutend mit der Usurpation eines Grundbedürfnisses und damit der Suppression der menschlichen Natur wird. Daniels Reflexion bringt ihn viel‐ mehr zu dem Schluss, dass jegliche Moral nur sentimentalisch und in diesem Kontext nicht mehr applizierbar sei. Rational sei der Mensch nunmehr seiner moralischen Verantwortung gegenüber dem Anderen enthoben, und damit auch dem moralischen Imperativ des Tötungsverbots. Die Gianpaolo-und-Fran‐ cesca-Episode bildet damit eine entscheidende Station des geistigen Werdegangs des Houellebecq’schen ›Helden‹ Daniel1. In einer derartigen Situation, die mo‐ ralisch-ethische Kompetenz erfordert und in der Daniel1 seine Integrität unter Beweis hätte stellen können, wählt er den Weg des geringsten Widerstands und entwickelt eine Indifferenz gegenüber dem menschlichen Leben als solchem. Daniel ist damit wie so viele der Houellebecq’schen Protagonisten ein Anti-Held, dessen Menschlichkeit gegen die allgemeine Verrohung der Gesell‐ schaft keinen Bestand hat. Das prekäre moderne Subjekt, das er repräsentiert, sieht sich überfordert mit Entscheidungen solcher Tragweite und kann nur noch mit dem Nicht-Denken antworten. 2.5.2.5 La »sérénité parfaite«: ein Glücksversprechen? So erweckt der Roman ähnlich wie Les Particules élémentaires den Eindruck, dass die durch Klone abgelöste, barbarische, grausame Menschheit unrettbar und der Science-Fiction-Rahmen somit als Utopie zu klassifizieren ist. Doch erweist sich bei näherer Betrachtung das Leben der Klone kaum als Alternative: Zwar kennen diese das Leiden der Einsamkeit und den Schmerz des Alterns nicht mehr und genießen in diesem Sinne tatsächlich eine Existenz in »sérénité parfaite«, vollkommener Gelassenheit und Indifferenz. Doch haben sie die Fähigkeit der Empathie, des Empfindens und damit einhergehend auch die Möglichkeit des 2.5 Michel Houellebecq 251 <?page no="252"?> 637 Jutta Weiser: »Posthumane Menschenprüfer« (s. Anm. 623), S. 77. Glücks verloren. Sie erweisen sich als völlig unfähig, den Lebensbericht ihres »Urvaters« Daniel1 zu deuten, ist ihnen doch jegliches Einfühlungsvermögen abhandengekommen. Während Daniel1 zwar die Qualen der unerwiderten Liebe und das Leiden des Alterns erfährt, so erlebt er jedoch gleichermaßen - wenn auch nur vorübergehend - Momente des höchsten Glücks. Die Klone hin‐ gegen haben nicht einmal die abstrakte Vorstellung einer solchen Empfindung: »La bonté, la compassion, la fidélité, l’altruisme demeurent donc près de nous comme des mystères impénétrables« (PI 77). Die emotionale Sterilität der Neo-Menschen bietet somit genauso wenig eine attraktive Alternative. Mit Jutta Weiser lässt sich also feststellen: »Insofern sich die Neomenschen nicht glück‐ licher schätzen als ihre Vorfahren und sogar jedweder Vorstellung von Glück verlustig gegangen sind, wird genau genommen ein noch schwärzeres Bild vom posthumanen Menschsein gezeichnet als vom Werteverlust unserer gegenwär‐ tigen Gesellschaft«. 637 So entwickelt Daniel25 bei der Lektüre des Lebensberichts seines Vorgängers die Neugier, die von ihm beschriebenen Gefühle nachzuempfinden - im eigent‐ lichen Sinne zu leben. Nicht zuletzt ermutigt durch die »Pionierarbeit« Marie23s - ein weiblicher Klon, mit der Daniel25 in schriftlichem Kontakt stand und welche ihre isolierte Behausung für Neomenschen zugunsten eines Lebens in der Gemeinschaft von Menschen und abtrünnigen Klonen aufgibt - verlässt er das ihm Bekannte und bricht zusammen mit seinem Hund Fox in die Wildheit auf. Dabei ist er sich sehr wohl bewusst, dass sein Aufbruch in das Ungewisse gleichbedeutend mit dem Tod ist, doch bereut er nichts: Je pouvais revenir, mais je n’en avais pas envie: cette routine solitaire, uniquement entrecoupée d’échanges intellectuelles, qui avait constitué ma vie, qui aurait dû la constituer jusqu’au bout, m’apparaissaient à présent insoutenable. Le bonheur aurait dû venir […] par l’absence de douleur et de risque; mais le bonheur n’était pas venu, et l’équanimité avait conduit à la torpeur. Parmi les faibles joies des néo-humains, les plus constantes tournaient autour de l’organisation et du classement, de la constitution de petits ensembles ordonnés, du déplacement minutieux et rationnel d’objets de pe‐ tite taille; elles s’étaient révélées insuffisantes. (PI 429f.) Hier könnte sich die Dystopie kaum deutlicher artikulieren: Allein die Absenz des Schmerzes konstituiert kein lebenswertes Leben; jegliche Form der (emoti‐ onalen) Agitation ist der Langeweile, dem horror vacui einer zwar schmerzbe‐ freiten, doch sterilen Existenz als Neomensch vorzuziehen. Der vermeintliche Fehler des Menschen, seinen Affekten, Emotionen und Passionen ausgeliefert 2 Textanalysen 252 <?page no="253"?> 638 Vgl. Susanna Frings: »A la recherche de l’homme perdu« (s. Anm. 52), S. 192f. 639 Ebd., S. 192. 640 Ebd., S. 193. zu sein, erweist sich damit als wesensbestimmend, als die Essenz des Humanums überhaupt: »j’en étais venu sur la fin à envier la destinée de Daniel1, son par‐ cours contradictoire et violent, les passions amoureuses qui l’avaient agité - qu’elles qu’aient pu être ses souffrances, et sa fin tragique au bout du compte« (PI 430). Mit seinem Aufbruch in das Unbekannte beginnt für Daniel25 dann eine Odyssee, eine »Irrfahrt« auf ihm unbekannten Gewässern. Dass auch in La Pos‐ sibilité d’une île die Metapher der Irrfahrt fruchtbar gemacht werden kann, zeigt eine nähere Betrachtung des Bewegungsverhaltens der Figuren. 638 Nicht nur sieht man Daniel1 rastlos zwischen Frankreich, Lanzarote, Almería pendeln; darüber hinaus wird, wie Frings nachweist, »immer wieder […] das seine exis‐ tentielle Desorientierung und Heimatlosigkeit spiegelnde Umherirren […] auch metaphorisch hervorgehoben« 639 - z.B. wenn er von der Welt der Menschen als »fil d’errances pathétiques« (PI 106) oder von seinem Leben als »pénible pé‐ riple« (PI 107), als beschwerlichen Weg bzw. beschwerliche Seereise, spricht. Und so scheint auch die mühsame Wanderung Daniel25s gleichsam den Prozess der Menschwerdung zu versinnbildlichen. Er empfindet Anstrengung, körper‐ liche Verausgabung, Wärme, Kälte und sieht sich zum ersten Mal damit kon‐ frontiert, Entscheidungen treffen zu müssen. Dabei tritt das einstige Ziel (das Meer) für ihn immer mehr in den Hintergrund, das Wandern wird für ihn zum Selbstzweck: »ce que je voulais au fond c’était continuer à cheminer avec Fox par les prairies et les montagnes […]. J’étais parvenu à l’innocence, à un état conflictuel et non relatif, je n’avais plus de plan ni d’objectif […]; j’étais heu‐ reux.« (PI 439) Zuletzt wird er sogar erkennen, was Liebe bedeutet, wenn er seinen Hund Fox, der von Wilden verstümmelt und getötet wurde, begraben zurücklässt (vgl. PI 458). Doch unerbittlich wird er weiterlaufen und gerade dieses »beschwerliche Voranschreiten […] fungiert hier als Metapher des Le‐ bensvollzuges […] und seiner Rehumanisierung«. 640 Es erweist sich demnach, dass der größte Defekt des Menschen, d.h. seine Passionen als größte Unlustquelle, auch gerade Quellen der größten Lust sind. Während in Les Particules élémentaires nur leise anzuklingen scheint, dass der Mensch als unrettbar defizitäres Wesen möglicherweise doch noch schätzungs‐ würdig ist, erfolgt in La Possibilité d’une île deutlich prononcierter eine Rück‐ besinnung auf menschliche Potentiale. Die hier als Schreckensbild imaginierte Zukunftsvision des technisch optimierten Menschen fungiert damit gleichsam als Warnung und es wird dem Leser überantwortet, zu entscheiden, den ver‐ 2.5 Michel Houellebecq 253 <?page no="254"?> 641 Vgl. ebd., S. 163. zweifelten Ausbruch Daniel25s als Silberstreif zu deuten. Denn kryptisch heißt es am Ende des Romans: Je me baignais longtemps, sous le soleil comme sous la lumière des étoiles, et je ne ressentais rien d’autre qu’une légère sensation obscure et nutritive. Le bonheur n’était pas un horizon possible. Le monde avait trahi. Mon corps m’appartenait pour un bref laps de temps; je n’atteindrais jamais l’objectif assigné. Le futur était vide; il était la montagne. Mes rêves étaient peuplés de présences émotives. J’étais, je n’étais plus. La vie était réelle. (PI 474) Die Affirmation der Unmöglichkeit des Glücks geht einher mit der scheinbaren Akzeptanz eben dieses Umstands und der Feststellung, dass das Leben real sei. Es liegt die Vermutung nahe, dass gerade diese scheinbare Resignation als Aufruf zu deuten ist, die menschliche Existenz in all ihrer Tragik dennoch als lebens‐ wert anzuerkennen und es Daniel25 gleichzutun. Ob tröstlich oder nicht: Leiden und Glück sind ohne einander nicht denkbar und die Suche selbst ist das, was ein Leben überhaupt erst menschlich und real macht. Das dem Roman eine Ap‐ pellstruktur zugrunde liegt, wird besonders am Romananfang deutlich: Soyez les bienvenus dans la vie éternelle, mes amis. [...] Je suis dans une cabine télé‐ phonique, après la fin du monde. Je peux passer autant de coups de téléphone que je veux, il n’y a aucune limite. On ignore si d’autres personnes ont survécu, ou si mes appels ne sont que le monologue d’un désaxé. Parfois l’appel est bref, comme si l’on m’avait raccroché au nez; parfois il se prolonge, comme si l’on m’écoutait avec une curiosité coupable. (PI 9) Hier artikuliert sich ausdrücklich ein Leserappell, der ein konkretes Kommuni‐ kationsangebot macht und es dem Leser anvertraut, aktiv an der Fiktion teilzu‐ haben und sie zu reflektieren. 641 Und auch in der Folge formuliert der Erzähler an den Leser adressierte Fragen und Imperative: »Qui, parmi vous, mérite la vie éternelle? « (PI 10); »Craignez ma parole« (PI 14); »Je ne souhaite pas vous tenir en dehors de ce livre; vous êtes, vivants ou morts, des lecteurs.« (PI 15) Von Beginn an wird auf einer Metaebene die Lektüreerfahrung selbst thematisiert. Der Romananfang steckt damit direkt eine weitere Bedeutungsdimension des Textes ab, nämlich die der metapoetologischen Selbstreflexion. 2 Textanalysen 254 <?page no="255"?> 2.5.2.6 Metapoetologische Selbstreflexion: zur Funktion des Schreibens und der Kunst Tatsächlich wird nicht nur im Incipit, sondern auch mehrfach im Roman die Funktion und Rolle der Kunst bzw. Literatur thematisiert. Daniel als Komiker ist in gewisser Weise selbst Künstler und innerfiktionale Spiegelfigur Houelle‐ becqs, indem er die Gegenwart spitzfindig beobachtet und in seinen Sketchen verarbeitet. Sein Zugang - der des Humors - scheint ihm jedoch bisweilen selbst prekär und inadäquat: On m’avait souvent comparé aux moralistes français, parfois à Lichtenberg; mais ja‐ mais personne n’avait songé à Molière, ni à Balzac. Je relus quand même Splendeurs et Misères des courtisanes, surtout pour le personnage de Nucingen. Il était quand même remarquable que Balzac ait su donner au personnage barbon amoureux cette dimen‐ sion si pathétique, dimension à vrai dire évidente dès qu’on y pense, inscrite dans sa définition même, mais à laquelle Molière n’avait nullement songé; il est vrai que Mo‐ lière œuvrait dans le comique, et c’est toujours le même problème, on finit toujours par se heurter à la même difficulté, qui est que la vie, au fond, n’est pas comique. (PI 378) Nicht nur bringt sich Daniel1 hier selbst mit den französischen Moralisten in Verbindung, sondern reflektiert sowohl sich selbst als auch die Rolle der Kunst und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit. Unverkennbar identifiziert sich Daniel mit Balzacs Figur Nucingen, dem verzweifelt in die Kurtisane Esther verliebten Ban‐ kier, der sich für die Angebetete in Unkosten stürzt. Und vor allen Dingen ge‐ winnt er der Figur des »barbon amoureux«, des verliebten Alten, ein gewisses tragisches Pathos ab, dessen der bei Molière so vielfach auftretende lächerliche Liebestölpel entbehrt. Der Weltzugang über das Komische, für den Molière hier emblematisch steht, scheint damit grundsätzlich problematisch in Anbetracht der Tatsache, dass - wie hier durch Kursivsetzung betont wird - das Leben im Grunde nicht komisch ist. Die Aufgabe der Kunst muss es demnach sein - und hier wird Houellebecqs Poetik der Stilmischung impliziert -, das Leben in all seinen erbärmlichen, hässlichen Facetten abzubilden, um damit der Tragik der menschlichen Existenz Rechnung zu tragen. Tatsächlich wird im Roman ein Ideal der Kunst entworfen, dem zufolge ihr gar eine existentielle Bedeutung zukommt. So dient das Schreiben, besonders von Lyrik, dem Ausdruck von Emotionen, wie deutlich wird, wenn Daniel1 be‐ ginnt, selbst Gedichte zu verfassen: »je composai le poème suivant, assez re‐ présentatif de mon état d’esprit au cours des dernières semaines, que je dédiai 2.5 Michel Houellebecq 255 <?page no="256"?> 642 Das Gedicht, in dem Daniel1 den Liebesschwund, die Einsamkeit und den Schmerz des Alterns beschreibt, lautet wie folgt: »Il n’y a pas d’amour / (Pas vraiment, pas assez) / Nous vivons sans secours, / Nous mourons délaissés. / / L’appel à la pitié / Résonne dans le vide, / Nos corps sont estropiés / Mais nos chairs sont avides. / / Disparues les pro‐ messes / D’un corps adolescent, / Nous entrons en vieillesse / Où rien ne nous attend / / Que la mémoire vaine / De nos jours disparus, / Un soubresaut de haine / Et le désespoir nu.« (PI 387) 643 Houellebecq: Rester vivant (s. Anm. 560), S. 11. 644 Ebd., S. 15. 645 Vgl. Stéphanie Posthumus/ Stéfan Sinclair: »L’inscription de la nature et de la techno‐ logie dans La possibilité d’une île de Michel Houellebecq«. In: Contemporary French and Francophone Studies 15, 3 (2011), S. 349-356, hier: S. 354. mentalement à Esther« (PI 387). 642 Während Daniel1 in seinen Sketchen also seine bittere Zeitkritik verarbeitet, dient ihm das lyrische Sprechen zur Selbst‐ artikulation, zum kreativen Ausdruck von Subjektivität und Emotivität. Diese Form des Schreibens, das dem Wunsch nach Selbstausdruck und gleichermaßen auch Selbsterhaltung entspringt, korrespondiert ebenfalls mit Houellebecqs Äu‐ ßerungen in Rester vivant (vgl. auch Anm. 597). Das lyrische Sprechen, das dem Leiden entspringt (»Développez en vous un profond ressentiment à l’égard de la vie. Ce ressentiment est nécessaire à toute création artistique véritable. [...] Et revenez toujours à la source, qui est la souffrance« 643 ), ist die einzige Mög‐ lichkeit, sich selbst vor dem Untergang zu bewahren: »Si vous ne parvenez pas à articuler votre souffrance dans une structure bien définie, vous êtes foutu. [...] La structure est le seul moyen d’échapper au suicide.« 644 Das Leiden, das der Ursprung des Schreibens ist, hebt sich in der formalästhetischen Strenge des Lyrischen auf. Damit wird das Kunstschaffen bzw. das Schreiben zu der existentiellen Überlebensstrategie schlechthin, was nicht zuletzt auch deutlich wird, wenn man die Bedeutung des autobiographischen Schreibens im Roman reflektiert. Denn erst die Lektüre von Daniel1s »récit de vie« erlaubt es Daniel25, vom Kommentator zum Autor seines eigenen Lebensberichtes zu werden und damit den Übergang von der Stasis des neo-humanen Nicht-Lebens in die Agitation des menschlichen, realen Seins zu vollziehen. 645 Hierin liegt gleichsam ein finaler Appell an den Leser, das Potential der Literatur zu erkennen und sich die Lek‐ türeerfahrung kreativ anzuverwandeln. So obliegt es gleichermaßen der Kunst, Alternativräume zu schaffen, d.h. die »Möglichkeit einer Insel« zu schaffen. Diese Perspektive eröffnen vor allen Dingen die Installationen Vincents, die in ihrer Abstraktheit neue Erfahrungswelten schaffen: Nous étions entièrement dans les blancs, du cristallin au laiteux, du mat à l’éblouissant; cela n’avait aucun rapport avec une réalité possible, mais c’était beau. Je me dis que 2 Textanalysen 256 <?page no="257"?> c’était peut-être la vraie nature de l’art que de donner à voir des mondes rêvés, des mondes impossibles, et que c’était une chose dont je ne m’étais jamais senti approché, dont je ne m’étais même jamais senti capable; je compris également que l’ironie, le comique, l’humour devaient mourir, car le monde à venir était le monde du bonheur, et ils n’y auraient plus aucune place. (PI 298) Somit entwirft Houellebecq im Roman zwei Formen der Kunst: eine idealische und eine mimetische, realitätsgebundene. Während erstere die Form der ima‐ ginativen, unmöglichen Traumwelten und des Glücks darstellt, ist letztere der schmerzhaften Realität verpflichtet. Die Schönheit der visionären Kunst Vin‐ cents liegt in deren nicht-mimetischem Wirklichkeitsbezug, ihrer radikalen Al‐ terität begründet, die Daniel1 hier als wahrhafte Natur der Kunst vermutet. Was bedeutet dies nun für Houellebecqs eigene Romanpoetik? Die Literatur kann sich nur dann dem Schönen nähern, wenn sie der Wirklichkeitsreferenti‐ alität eine Absage erteilt. Houellebecq selbst steht jedoch für Welthaltigkeit und eine Form des Realitätszugangs, der sich im Modus des Ironischen, des Komi‐ schen und des Humoristischen vollzieht. Erst eine Welt des Glücks würde diese Art des Weltzugangs überflüssig machen. Damit entspricht der Roman Houel‐ lebecqs selbst dieser zweiten, realitätsverpflichteten Kunst, der jedoch - analog zu Vincents zukunftsweisender, anti-mimetischer Schöpfung - momenthaft Al‐ ternativen aufzeigt: Und diese Bedeutung kommt vor allen Dingen der Lyrik zu, die nicht allein vom Schmerz, sondern angelegentlich auch von der Hoffnung kündet, so wie Daniel1s letztes Gedicht, das nicht nur Marie23, sondern auch Daniel25 inspirieren wird: Ma vie, ma vie, ma très ancienne Mon premier vœu mal refermé Mon premier amour infirmé, Il a fallu que tu reviennes. Il a fallu que je connaisse Ce que la vie a de meilleur, Quand deux corps jouent de leur bonheur Et sans fin s’unissent et renaissent. Entré en dépendance entière, Je sais le tremblement de l’être L’hésitation à disparaître, Le soleil qui frappe en lisière Et l’amour, où tout est facile, Où tout est donné dans l’instant; 2.5 Michel Houellebecq 257 <?page no="258"?> 646 Es wird nahegelegt, dass es sich um eine Atomkatastrophe handelt: »The clocks stopped at 1: 17. A long shear of light and then a series of low concussions«. Cormac McCarthy: The Road. New York: Vintage International 2006, S. 52. Nachweise des Primärtexts werden in der Folge im Fließtext mit der Abkürzung »TR« erbracht. Il existe au milieu du temps La possibilité d’une île. (PI 424) Hier vollzieht sich in gewisser Weise, wovon Vincents imaginative Kunst kündet: Daniel1 entwirft die hoffnungsvolle Vision der Möglichkeit des Glücks in der vollständigen Hingabe und in uneingeschränkter Liebe - eine Hoffnung, die sich im Modus des Lyrischen artikuliert. In diesem Sinne muss die Literatur zunächst das Stadium des Schmerzes durchschreiten, d.h. das Leiden der menschlichen Existenz fühlbar machen, um überhaupt erst zu einer höheren Dimension durchdringen zu können. Somit provoziert der Roman, indem er dem Leser die hässliche Fratze der menschlichen Barbarei entgegenwirft, ihm jedoch leise die Möglichkeit einer Alternative aufzeigt. 2.5.2.7 Exkurs: La Possibilité d’une île und Cormac McCarthys The Road (2006) Um die Eigentümlichkeit der Houellebecq’schen Dystopie herauszustellen, möchte ich an dieser Stelle einen Roman des amerikanischen Autors und Pu‐ litzer-Preisträgers Cormac McCarthy zu einem kurzen Vergleich heranziehen: den nur ein Jahr nach La Possibilité d’une île veröffentlichten dystopischen Roman The Road. Thematisch weist McCarthys Werk allein genrebedingt Pa‐ rallelen zu Houellebecqs Dystopie auf. The Road erzählt die Geschichte eines namenlosen Vaters (»the man«), der in Begleitung seines Sohns (»the boy«) in einer nicht weiter spezifizierten post-apokalyptischen Welt ums Überleben kämpft. In der Hoffnung, ein besseres Leben führen zu können, begeben sich die beiden auf die Reise ans Meer, nur um festzustellen, dass auch dieses - nicht wie erwartet - als Folge einer nicht weiter erläuterten Katastrophe genauso ausgedörrt und lebensfeindlich ist wie der Rest des Landes. 646 Auf der mühse‐ ligen Reise Richtung Küste müssen Vater und Sohn nicht allein gegen Hunger und Kälte kämpfen, sondern auch gegen weitere Überlebende, die, regrediert zu einem Zustand roher Grausamkeit, nicht davor zurückschrecken, Menschen‐ fleisch zu verzehren, um sich selbst am Leben zu erhalten. Nach zahlreichen körperlichen Strapazen und bedrohlichen Konfrontationen mit Kannibalen wird der Vater schließlich seinem Lungenleiden erliegen, sodass der Junge nunmehr auf sich allein gestellt ist. Jedoch begegnet dieser am Ende des Romans weiteren 2 Textanalysen 258 <?page no="259"?> 647 Inwiefern McCarthy biblische Intertexte, vor allen Dingen das Buch job, in The Road und den Romanen All the Pretty Horses und No Country for Old Men einwebt, erläutert Richard Walsh: »(Carrying the Fire on) No Road for Old Horses: Cormac McCarthy’s Untold Biblical Stories«. In: Journal of Religion and Popular Culture 24, 3 (2012), S. 339- 351. 648 Vgl. Inger-Anne Søfting: »Between Dystopia and Utopia: The Post-Apocalyptic Dis‐ course of Cormac McCarthy’s The Road«. In: English Studies 94, 6 (2013), S. 704-713, hier: S. 707; 710. 649 Vater und Junge sind wörtlich Lichtträger bzw. »carriers of fire«, da sie zum Selbsterhalt darauf angewiesen sind, stets ein Feuer zu zünden. Symbolisch steht das Feuer jedoch einerseits für das Licht der Hoffnung, andererseits handelt es sich dabei um einen »marker for the beginning of civilization« ( Jordan J. Dominy: »Cannibalism, Consu‐ merism and Profanation: Cormac McCarthy’s The Road and the End of Capitalism«. In: The Cormac McCarthy Journal 13 (2015), S. 143-158, hier: S. 146). Wie einst Prometheus der Menschheit das Feuer brachte, wird auch der Junge - so wird es am Ende impliziert - ein neues Zivilisationszeitalter begründen. Gleichgesinnten, denen er sich anschließen wird, um so vielleicht einer hoff‐ nungsvolleren Zukunft entgegen zu blicken. Wie Houellebecq zeichnet McCarthy eine düstere Zukunftswelt, die nur noch entfernt an die dem Leser Bekannte erinnert; so wie auch in La Possibilité d’une île die ›Urmenschen‹ in einen animalischen Regressionszustand fallen, so treiben in The Road blutrünstige Kannibalen ihr Unwesen. In beiden Fällen werden Hoffnungen zerschlagen; das Versprechen einer besseren Welt, die so‐ wohl Daniel25 als auch Vater und Sohn in Meeresnähe (der Ozean als Symbol des Lebens) vermuten, wird nicht eingelöst. Die jeweiligen Protagonisten werden auf ihrer Reise herausgefordert, sich in einer feindlichen Natur am Leben zu erhalten und geraten in gefährliche Situationen in Konfrontation mit blut‐ rünstigen Menschen. So wie Houellebecq biblische Intertexte für die Darstellung seiner Zukunftswelt fruchtbar macht, finden sich auch bei McCarthy my‐ thisch-biblische Anklänge: 647 Die Unbestimmtheit von Raum und Zeit verleihen dem Geschehen eine gewisse mythische Universalität, während der Junge von Beginn an gar zu einer messianischen Christusfigur 648 und zum sowohl wörtli‐ chen als auch symbolischen Lichtträger 649 (so spricht der Vater: »It’s inside you [the fire]. It was always there. I can see it«, TR 279) stilisiert wird: »He [the man] knew only that the child was his warrant. He said: If he is not the word of God God never spoke.« (TR 5) Die Reise des Vaters als Beschützer des Hoffnungst‐ rägers gestaltet sich damit als göttliche Mission: »My job is to take care of you. I was appointed to do that by God. I will kill anyone who touches you.« (TR 77) McCarthy arbeitet mit starken Kontrasten: Auf Ebene der Figurenkonstella‐ tion spalten sich die Lager in »gut« und »böse« auf. Der moralische Code, der dieser Distinktion zugrunde liegt, ist recht simpel: 2.5 Michel Houellebecq 259 <?page no="260"?> 650 Vgl. Erik J. Wielenberg: »God, Morality, and Meaning in Cormac McCarthy’s The Road«. In: The Cormac McCarthy Journal 8, 1 (2010), S. 1-16, hier: S. 4. Wielenberg stellt heraus, dass - in kantianischen Termini - das Kannibalismusverbot den kategorischen Imperativ bildet, der dem Moralcode von Vater und Sohn zugrunde liegt. We wouldnt ever eat anybody, would we? No. Of course not. Even if we’re starving? We’re starving now. You said we werent. I said we werent dying. I didnt say we werent starving. But we wouldnt. No. We wouldnt. No matter what. No. No matter what. Because we’re the good guys. Yes. And we’re carrying the fire. And we’re carrying the fire. Yes. Okay. (TR 128f.) Die Bösen essen andere Menschen, die Guten tun dies unter keinen Um‐ ständen. 650 Vater und Sohn bewegen sich in einer Welt, in der die Präsenz der Kannibalen mehr spürbar ist, als dass sie tatsächlich manifest würde (ausge‐ nommen die Begegnung mit dem »roadrat«, TR 66). McCarthy kreiert Bilder von Barbarei und Schrecken qua Suggestion, indem er seine Protagonisten ein Schreckenstableau (»tableau[s] of the slain and the devoured«, TR 91) nach dem anderen entdecken lässt: »Dried blood dark in the leaves. [...] Coming back he found the bones and the skin pile together with rocks over them. A pool of guts. He pushed at the bones with the toes of his shoe. They looked to have been boiled.« (TR 70f.) »What the boy had seen was a charred human infant headless and gutted and blackening on the spit« (TR 198). Dabei folgt der Roman der Tradition archetypischer literarischer Darstellungen von Kannibalismus: Nur selten wird der Akt selbst beobachtet, vielmehr finden sich die Figuren mit den Überresten eines Kannibalen-Festmahls konfrontiert, die das Ausmaß des Un‐ 2 Textanalysen 260 <?page no="261"?> 651 Dominy stellt die Nähe von McCarthys Repräsentation von Kannibalismus zu jener in Reiseberichten und abolitionistischen Schriften des 18. Jahrhunderts heraus: »The same scenes [of cannibalism] parallel with ones in McCarthy’s novel in which the protago‐ nists uncover evidence of cannibalism’s prevalence in the postapocalyptic setting. They significantly serve similar functions for the readers of the novel as they do for readers of some contact period accounts, providing just enough details to make the butchering and consumption of humans explicit while leaving the act to the imagination, detaching the reader from the deed and leaving the mind to visualize its own terror« ( Jordan J. Dominy: »Cannibalism, Consumerism, and Profanation« [s. Anm. 649], S. 147). 652 Vgl. Inger-Anne Søfting: »Between Dystopia and Utopia« (s. Anm. 648), S. 710. 653 »Sometimes the child would ask him questions about the world that for him was not even a memory« (TR 53f.). 654 Zum Vater als »flawed character« vgl. Erik J. Wielenberg: »God, Morality, and Mea‐ ning« (s. Anm. 650), S. 6-9. vorstellbaren erahnen lassen. 651 In Konfrontation mit der omnipräsenten Grau‐ samkeit sind die beiden Protagonisten dazu gezwungen, sich explizit mit Kon‐ flikten moralisch-ethischer Natur auseinanderzusetzen: 652 Ist das Töten eines anderen Menschen gerechtfertigt, um sich selbst vor dem Tode zu bewahren? Soll man anderen Bedürftigen helfen, wenn man sich dabei selbst in Gefahr bringt? Es ist stets der Junge, der der moralischen Rückversicherung bedarf und das Verhalten des Vaters, dem vor allen Dingen am Überleben seines Sohnes gelegen ist, in Frage stellt. Während letzterer nicht davor zurückschreckt, einen Menschen umzubringen, um den Jungen zu retten (wie in der Begegnung mit dem verwahrlosten Kannibalen), oder im Zweifelsfall anderen die Hilfe zu ver‐ sagen, um das eigene Überleben zu gewährleisten, zeichnet sich der Junge durch einen unerschütterlichen Willen zum Guten, ein gefestigtes moralisches Be‐ wusstsein, das keine Kompromisse zulässt, aus. In der Figur des Jungen mani‐ festiert sich der Glaube an das inhärent Gute des Menschen: Der Junge selbst hat keinerlei Erinnerung an eine vergangene, bessere Welt, 653 kennt nur den Schmerz und die Grausamkeit nach der Apokalypse und ist doch die Personifi‐ kation von Nächstenliebe, Güte und Sanftmütigkeit. Die Figuren McCarthys scheinen damit stark vereinfacht. Nicht zuletzt durch ihr Anonymat werden sie auf eine mythische Ebene erhoben, sodass sie weniger als individuelle Charakterstudien zu betrachten sind, denn als stark typisierte Repräsentanten moralisch-ethischer Prinzipien. Wenngleich der Vater durchaus die Grauzonen moralischer Grundmaximen auslotet, 654 vertritt er zusammen mit dem Jungen das uneingeschränkt Gute, das auch unter größten Strapazen Be‐ stand hat. Bei Houellebecq hingegen sind uneingeschränkt positive Figuren in dieser Form nicht existent; seine Protagonisten sind Anti-Helden: Der politisch inkorrekte und misanthrope Zyniker Daniel1 taugt kaum zum moralischen Vor‐ bild; allein sein Sehnen nach bedingungsloser Liebe und sein Bewusstsein für 2.5 Michel Houellebecq 261 <?page no="262"?> die Tragik des modernen Menschen ermöglichen einen auf Empathie gegrün‐ deten Bezug zur Figur. Auch Daniel25 als emotional unterkühlter Neo-Mensch ist kaum als vorbehaltlos positive Figur einzuordnen. Zwar arbeitet Houellebecq ebenfalls mit stark typisierten Klischees; doch ist sein Menschenbild ungleich ambivalenter: Das Humanum ist bei ihm insofern komplexer angelegt, als eine jede Figur das Potential zum Guten und zum Bösen in sich trägt, wobei ersteres unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft zunehmend verhindert wird. Wie anhand der Rothenburg-Passage und der Episode rund um die Initiations‐ riten der Sekte gezeigt wurde, kann im Houellebecq’schen Kosmos potentiell jeder zum Kannibalen werden (»Une tendance générale vers la barbarie, il n’y a aucune raison que vous y échappiez...«, PI 360) und somit entfällt auch jegliche Form der moralischen Rückversicherung, über die die Figuren McCarthys noch verfügen. In The Road wird die Problematik des Widerstreits von Gut und Böse in gewisser Weise entkompliziert. Zwar zeichnet McCarthy Schreckensbilder, die über eine bestimmte Suggestivität verfügen, doch werden sie durch ihre Einbettung innerhalb des Zuschreibungsrahmens von Gut und Böse ›ent‐ schärft‹. Der Schock ob des Evozierten wird assimilierbar, indem der Leser analog zu den beiden Protagonisten das Gelesene bzw. Gesehene in einem klar definierten moralischen Koordinatensystem verorten kann. Auch McCarthys Romanende scheint in dieser Hinsicht - auch wenn es sich wie bei Houellebecq um ein offenes Ende handelt - ungleich optimistischer. Während Daniel25s Ausbruch gewissermaßen scheitert und die Möglichkeit in‐ dividueller Selbstverwirklichung und Glücksfindung nur angedeutet wird, schließt The Road mit einem Ausblick auf eine mögliche Rettung. Zwar bleibt auch hier das mystische Schlussbild der Forellen ambig, insofern der mit ihnen assoziierte ursprünglich reine Naturzustand als für immer verloren beklagt wird: Once there were brook trout in the streams in the mountains. You could see them standing in the amber current where the white edges of their fins wimpled softly in the flow. They smelled of moss in your hand. Polished and muscular and torsional. On their backs were vermiculate patterns that were maps of the world in its becoming. Maps and mazes. Of a thing which could not be put back. Not be made right again. In 2 Textanalysen 262 <?page no="263"?> 655 Brandt deutet die finale Passage des Romans als endgültigen Abgesang auf eine einst‐ mals sich im Einklang befindliche Welt und betont damit, dass es sich dabei vor allen Dingen auch um eine Kritik an der gegenwärtigen ökologischen Politik handele: »The sylvan panorama that closes the novel, then, does not portend environmental regene‐ ration or the reestablishment of human civilization. The biosphere has been too severely scalded for such renewal. [...] Though far from a programmatic ›ecological‹ novel, the final passage of The Road undeniably directs the reader’s attention toward the fragility of the natural world.« (Kenneth K. Brandt: »A World Thoroughly Unmade: McCarthy’s Conclusion to THE ROAD«. In: The Explicator 70, 1 [2012], S. 63-66, hier: S. 65f.). 656 Optimistisch deutet das Ende auch Kunsa: »The ›maps and mazes‹ at The Road’s end point toward something essential at the center of the journey, and tellingly, the novel closes not with the intersection of arbitrary and nonsensical lines, but with the patterns on the back of the trout, ›maps in its becoming,‹ forms that suggest an inherent order and underlying purpose yet undiscovered« (Ashley Kunsa: »›Maps of the World in Its Becoming‹: Post-Apocalyptic Naming in Cormac McCarthy’s The Road«. In: Journal of Modern Literature 33, 1 [2009], S. 57-74, hier: S. 68). 657 Zwar lassen sich auch bei McCarthy Residuen einer postmodernen Schreibweise nach‐ weisen, d.s. fragmentarisches und achronisches Erzählen, unmarkierter Perspektiv‐ wechsel und typographische Auslassungen (direkte Rede wird nicht markiert). Wie Collado-Rodríguez nachweist, könne die Strategie der textuellen Fragmentierung je‐ doch gleichwohl als stilistische Reflexion eines vom Protagonisten erlebten Traumas gedeutet werden (vgl. Francisco Collado-Rodríguez: »Trauma and Storytelling in Cormac McCarthy’s No Country for Old Men and The Road«. In: Papers on Language and Literature 48 [2012], S. 45-69, hier: S. 61). Ähnlich argumentiert auch Spill, wenn sie eine Parallele zwischen der im Roman thematisierten Krise des Humanums und der Krise des Romans als solcher zieht in: Frédérique Spill: »Crise romanesque, crise sty‐ listique. L’écriture du chaos dans The Road de Cormac McCarthy«. In: Cercles 25 (2012), S. 71-85. Darüber hinaus finde sich die Möglichkeit der Sinnstiftung durch Erzählen in Frage gestellt (vgl. ebd. 65): Der Junge verliert den Glauben an das, was ihm sein Vater in seinen Geschichten über die vergangene Welt erzählt (vgl. TR 268); in diesem neuen Zeitalter haben sie für ihn jegliche Validität verloren. Und doch ist gerade dieses Er‐ zählen bzw. die Möglichkeit der Sinngebung durch Rekontextualisierung im Rahmen einer Geschichte letztendlich das, was die Figuren am Leben erhält: Denn für den Mann gewinnt der Glaube an seine göttliche Mission, den Jungen als »word of God« wohl‐ behalten in den Süden zu bringen, einen existentiellen Wert. Ohne eben jene selbst erschaffene Teleologie würde der harte Kampf um das Überleben und die beschwerliche Reise ihre Bedeutung verlieren. the deep glens where they lived all things were older than man and they hummed of mystery. (TR 286f.) 655 Doch birgt das finale Zusammentreffen des Jungens als Kind der Apokalypse mit Gleichgesinnten die Hoffnung auf eine Welt, die der einstigen zwar nicht mehr gleicht, doch lebenswürdig ist. 656 Insofern ist McCarthy gleichermaßen wie Houellebecq ein ›humanistisches‹ Interesse zu attestieren, das fern der post‐ modernen Absage an die Möglichkeit der Darstellbarkeit von Welt 657 ethischen Fragen im Medium der Literatur auf den Grund geht. Doch erfolgt die Verhand‐ 2.5 Michel Houellebecq 263 <?page no="264"?> 658 Houellebecq kehrt auf diese Weise wieder zu jenem erzählerischen Modell zurück, dessen er sich bereits in Les Particules élémentaires bediente: Die Erzählstimme oszilliert zwischen auktorialer Erhabenheit über die Figuren des Romans und figuraler Innen‐ schau. Einerseits befindet sie sich in kritischer Distanz zum Erzählten und adaptiert in ihren Metakommentaren einen kunsthistorischen Wissenschaftsdiskurs; gleichzeitig vermag sie jedoch die Perspektive der Figuren anzunehmen, Einblick in ihre Gefühls‐ welt zu gewähren und dergestalt eine unmögliche Perspektive anzunehmen. Auch hier zeigt sich die Erzählerstimme erneut durch Polyphonieeffekte geprägt. lung ethisch-moralischer Fragestellungen explizit, während Houellebecq diese nur implizit aufruft und den Leser zur Reflexion zwingt, indem er unterschied‐ liche Diskurse und Positionen gegeneinander ausspielt und die dadurch entste‐ hende Spannung unaufgelöst lässt. 2.5.3 La Carte et le Territoire (2010) 2.5.3.1 La Carte et le Territoire: ein Künstlerroman In dem 2010 erschienenen Roman La Carte et le Territoire, der Houellebecq den Prix Goncourt einbrachte, lässt der Skandalautor im Vergleich zu seinen bis dato erschienenen Texten eine relative Milde walten. Doch spart der Roman keines‐ falls an Provokationen, die nicht zuletzt das literarische Feld und die künstleri‐ sche Praxis selbst betreffen. Der Roman erzählt die Geschichte des bildenden Künstlers Jed Martin, der sich als ›klassisch‹ Houellebecq’scher Romanheld er‐ weist: Er fühlt sich gesellschaftlich isoliert, unterhält ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater und auch in der Liebe findet er sich nur schwer zurecht und kann die Chance auf geglückte Zweisamkeit, die sich ihm in Gestalt der PR-Agentin Olga auftut, nicht nutzen. Erzählt wird aus der Perspektive eines Geschichtsschreibers bzw. Kunsthistorikers, dessen Ausführungen zum Werde‐ gang des bedeutenden Künstlers Jed Martin einen wissenschaftlich distanzierten Blick auf die Geschehnisse erlauben. 658 Das Besondere an diesem Roman ist wohl das Faktum der Autofiktion, d.h. Houellebecq schreibt sich selbst als Figur in die fiktive Erzählung mit ein - nur um sich selbst zum Opfer eines blutigen Mordes werden zu lassen. Der Text gliedert sich dabei in insgesamt drei Teile, die von einer Art Prolog und einem Epilog umrahmt werden, wobei der letzte der drei Teile brüsk mit den vorherigen Partien des Romans bricht: Houellebecq insze‐ niert nunmehr eine Krimi-Parodie, in deren Mittelpunkt der Mord an seinem eigenen innerfiktionalen Selbst steht. Dass es sich bei diesem Roman noch deutlicher als bei La Possibilité d’une île gleichwohl um einen Künstlerroman handelt, der Funktionen und Potentiali‐ täten des gegenwärtigen Kunstbetriebes (sowohl im Bereich der bildenden 2 Textanalysen 264 <?page no="265"?> 659 Die dem ersten Teil vorangestellten Kapitel werden nicht als »Prolog« bezeichnet. In ihrer vorbereitenden Funktion stecken sie jedoch das Themenspektrum ab, das in der Folge, d.h. der eigentlichen Romanhandlung, entwickelt wird. 660 Michel Houellebecq: La Carte et le Territoire. Paris: Flammarion 2010, S. 29. Sämtliche Nachweise werden im Folgenden im Fließtext mit »CT« abgekürzt. 661 Vgl. Bruno Viard: »La Carte et le Territoire, roman de la représentation: entre trash et tradition« (s. Anm. 53), S. 87-95, hier: S. 92. Kunst als auch der Literatur) reflektiert, wird bereits im »Prolog« 659 deutlich: Das Incipit beschreibt ein von Martin angefertigtes bzw. noch im Werden be‐ griffenes Gemälde, nämlich »Damien Hirst et Jeff Koons se partageant le marché de l’art«. Mit dieser Referenz auf die außerliterarische Wirklichkeit wird von Beginn an die Künstlerbzw. Kunstthematik auf den Plan gerufen, die der Text in der Folge entwickelt. Gleichwohl wird eine Diagnose über den Status der Gegenwartskunst gestellt, die sich paradigmatisch in der ökonomischen Herr‐ schaft Koons und Hirsts als Galionsfiguren der modernen Kunst abbildet: »Au classement ArtPrice des plus grosses fortunes artistiques, Koons était numéro 2 mondial; depuis quelques années Hirst, de dix ans son cadet, lui avait ravi la place de numéro 1.« 660 Der Kunstmarkt wird beherrscht durch Sex/ Eros und Tod/ Thanatos, wie die beiden Marktführer exemplifizieren; so bemerkt Jeds Kunst‐ agent Franz: »c’était un témoignage assez juste sur la situation de l’art à un moment donné. Il y a eu en effet, une espèce de partage: d’un côté le fun, le sexe, le kitsch, l’innocence; de l’autre le trash, la mort, le cynisme.« (CT 202) Das Reich der Kunst scheint in diesem Sinne gleichwohl der »Ausweitung der Kampfzone« anheimgefallen zu sein und ist nunmehr zum Ort geworden, in dem diejenigen über das meiste ökonomische Kapital verfügen, die den gemeinen Geschmack für Kitsch und Trash, fun und Zynismus, Sex und Gewalt bedienen. 661 Nicht zuletzt erinnert diese Formel »Sex + Gewalt = wirtschaftlicher Erfolg« in ge‐ wisser Weise an Houellebecq selbst, ist es doch gerade diese explosive Mischung von Pornographie, kruder Gewalt und bissiger Ironie, die Houellebecq in den Medienfokus und damit auch auf die Bestsellerlisten katapultierte. Doch findet sich genau diese Kommerzialisierung des Kunstmarktes in gewisser Weise pre‐ karisiert. Denn dieses eine Gemälde, welches der von Jed Martin entwickelten Série des métiers angehören sollte, misslingt ihm als einziges: C’était vraiment un tableau de merde qu’il [ Jed] était en train de faire. Il saisit un couteau à palette, creva l’œil de Damien Hirst, élargit l’ouverture avec effort - c’était une toile en fibres de lin serrées, très résistante. Attrapant la toile gluante d’une main, il la déchira d’un seul coup, déséquilibrant le chevalet qui s’affaissa sur le sol. Un peu calmé il s’arrêta, considéra ses mains gluantes de peinture, termina le cognac avant de sauter à pieds joints sur son tableau, le piétinant et le frottant contre le sol qui 2.5 Michel Houellebecq 265 <?page no="266"?> 662 Julia Pröll: Das Menschenbild im Werk Michel Houellebecqs (s. Anm. 49), S. 215. devenait glissant. Il finit par perdre l’équilibre et tomba, le cadre du chevalet lui heurta violemment l’occiput, il eut un renvoi et vomit, d’un seul coup il se sentit mieux, l’air frais de la nuit circulait librement sur son visage, il ferma les yeux avec bonheur; il était visiblement parvenu à une fin de cycle. (CT 29) Jeds Zerstörungswut wird gleichsam zu einem symbolischen Befreiungsakt. Das Gemälde »Damien Hirst et Jeff Koons se partageant le marché de l’art«, das den Abschluss seiner Berufsbilder darstellen sollte, wird ihm zu einem unmöglichen Werk: Gewaltsam zersticht er mit einem Spatel das Auge Damien Hirsts (und damit auch stellvertretend dessen künstlerischen Blick? ), bis er schließlich die widerstandsfähige Leinwand vollständig zerreißt und niedertrampelt. Auf dem von Ölfarben glitschigen Boden stürzt er nieder und übergibt sich, um letztend‐ lich friedlich und nunmehr beruhigt die Augen zu schließen. Wie Julia Pröll in ihrer Untersuchung zu den früheren Werken Houellebecqs vor dem Hintergrund existentialistischer Texte Sartres und Camus’ nachgewiesen hat, kommt dem Erbrechen eine besondere Bedeutung zu - so auch in dieser symbolischen Ab‐ sage an das von Hirst und Koons personifizierte Künstlertum. Ekel und Erbre‐ chen der Figuren Houellebecqs treten vor allen Dingen in Situationen auf, in denen diese sich mit den unerbittlichen Bedingungen des allumfassenden Libe‐ ralismus und der daraus resultierenden Kapitalisierung des Körpers und der Zuneigung konfrontiert sehen. Der Akt des Erbrechens habe dabei eine Doppel‐ funktion inne: Zum einen ermöglicht er, den Tauschvorgang sexuellen Kapitals gar nicht erst in Gang zu setzen [...]. Zum zweiten ist das Erbrechen als Akt der unökonomischen Veraus‐ gabung eine bewusste Opposition (gar eine Revolte? ) zu den eben beschriebenen Tauschparadigmata. Im Gegensatz zu den genannten Zirkulationssystemen (Geld, Waren, Informationen, Körper), die das ihnen Zugeführte nach ökonomischen Maß‐ stäben verwerten, einverleiben, nützen, ist das Erbrochene unverdauter, nicht ver‐ wertbarer Rest. [...] Vielmehr geht es darum, durch den Ekel die Opposition zur Ge‐ sellschaft zu markieren und auszudrücken, nicht Teil der zirkulierenden Ströme werden zu wollen [...]. 662 In dieser Perspektive manifestiert sich auch in Jeds Erbrechen eine Rebellion gegen die Regeln des modernen Kunstmarktes, in dem das Kunstwerk zu einer kommerziellen Tauschware verkommen ist. Statt eines Bildes, das den Künstler als solchen repräsentieren sollte, bleibt nur sein Erbrochenes als »nicht ver‐ wertbarer Rest«, ein letzter Akt der ›künstlerischen Entäußerung‹, der jedoch paradoxerweise als einziger ein Gefühl der Zufriedenheit zu zeitigen vermag. 2 Textanalysen 266 <?page no="267"?> 663 Zur Inszenierung des paragone-Streits im Roman vgl. Gisela Schlüter: »Literarisches Selbstporträt mit Möbiusschleife: Houellebecq, La carte et le territoire«. In: Angela Fabris/ Willi Jung (Hg.): Charakterbilder. Zur Poetik des literarischen Porträts. Festschrift für Helmut Meter. Göttingen 2012, S. 727-739. 2.5.3.2 Jed Martin/ Michel Houellebecq Jed fungiert in diesem Sinne als Sprachrohr Houellebecqs, der den Kunstmarkt reflektiert, an dem er selbst partizipiert. In der Tat lässt Houellebecq diesen zu einem fiktionalen Double werden, wenn es in den Erzählerkommentaren zu Jed Martin heißt, dass seine künstlerische Produktion einem kritischen Impetus folge, nicht selten mit einem ironischen Unterton: Jed consacra sa vie [...] à la production de représentations du monde, dans lesquelles cependant les gens ne devaient nullement vivre. Il pouvait de ce fait produire des représentations critiques - critiques dans une certaine mesure, car le mouvement gé‐ néral de l’art comme de la société tout entière portait en ces années de la jeunesse de Jed vers une acceptation du monde, parfois enthousiaste, le plus souvent nuancée d’ironie. (CT 37) Es ist augenscheinlich, dass die Künstlerfigur des Jed Martin hier den Autor der Particules élémentaires spiegelt, der eine Welt zeichnet, in der die Menschen nicht leben dürfen. Auch der Katalog, den ›Houellebecq‹-personnage für die Ausstel‐ lung Jeds anfertigen wird, renforciert diesen Dopplungseffekt. Hier heißt es, der Weltzugang Jeds sei jener »d’un ethnologue bien plus que d’un commentateur politique« (CT 183); die Gegenstände und Personen seiner Darstellung zeichne er mit Interesselosigkeit (»détachement«; CT 184) und objektiver Kühle (»froi‐ deur objective«; CT 184). Dass die Figur des Jed eine Doppelung der Autorper‐ sönlichkeit Houellebecq darstellt, wird besonders deutlich in den kunsttheo‐ retischen Diskussionen, die er zwischen Jed Martin und ›Houellebecq‹‐ personnage inszeniert. Diese lassen sich im Grunde als metapoetischer Selbstkommentar zu Houellebecqs eigenem Literaturprogramm lesen. So ist es Jed, der eine Reflexion über die Bedeutung des Sujets für die Kunst anstrengt, indem er dem nouveau roman à la Robbe-Grillet eine Absage erteilt: »Vous, je ne sais pas si vous pourriez faire quelque chose, sur le plan littéraire, avec le radiateur, insista Jed. Enfin si, il y a Robbe-Grillet, il aurait simplement décrit le radiateur... Mais, je ne sais pas, je ne trouve pas ça tellement intéressant...« (CT 137) Tatsächlich gestaltet sich das folgende Gespräch als paragone-Streit: als eine Debatte über die Möglichkeiten der Literatur bzw. der bildenden Kunst. 663 In dieser Perspektive scheint der postmoderne Roman offenbar nicht imstande, Gegenstände abzubilden, ohne dabei Gefahr zu laufen, uninteressant zu sein. ›Houellebecq‹-personnage, plötzlich inspiriert, spinnt spontan einen möglichen 2.5 Michel Houellebecq 267 <?page no="268"?> 664 Vgl. Bruno Viard: »La Carte et le Territoire, roman de la représentation: entre trash et tradition« (s. Anm. 53), S. 87. Plot, in dessen Zusammenhang der Gegenstand der Heizung eine Rolle spielen könnte; er ersinnt ein »authentique drame humain« (CT 138). Doch um wirklich ein sinnträchtiges Werk zu schaffen, scheint die Literatur im Unterschied zur bildenden Kunst nicht umhin zu können, Figuren zu schaffen: — Dans tous les cas, il me semble que vous avez besoin de personnages... — Oui, c’est vrai. Même si mon vrai sujet était les processus industriels, sans person‐ nages je ne pourrais rien faire. — Je crois que c’est la différence fondamentale. Tant que je me suis contenté de re‐ présenter des objets, la photographie me convenait parfaitement. Mais, quand j’ai décidé de prendre pour sujet des êtres humains, j’ai senti qu’il fallait que je me remette à la peinture; je ne pourrais pas vous dire exactement pourquoi. À l’inverse, je ne parviens plus du tout à trouver d’intérêt aux natures mortes; (CT 139) Im Zentrum des Interesses steht hier viel weniger die Dingwelt als die Welt der Menschen - und in einer Auseinandersetzung mit eben dieser ist Jed zufolge die peinture, d.h. die künstlerische Gestaltung, gegenüber dem kalten, objektiven Kameraauge zu privilegieren. Er entwickelt in diesem Sinne eine Poetologie, die sich von postmodernistischen Konzepten wie die eines Robbe-Grillet abwendet, eine fast nostalgische Rückbesinnung auf ›überholte‹ Techniken, die ihm jedoch allein als adäquate Ausdrucksform dienen, um einen Diskurs über den Men‐ schen und die Welt, in der er lebt, zu initiieren. Fast scheint es, als müsse die Technik als Mittler zwischen Künstler und Welt eliminiert werden, der Künstler selbst zur »Kamera« werden, um über den Menschen sprechen zu können: si j’avais à représenter [un] paysage aujourd’hui, je prendrais seulement une photo. Si par contre il y a un être humain dans le décor, ne serait-ce qu’un paysan dans le lointain qui répare ses clôtures, alors je serais tenté de recourir à la peinture. Je sais que cela peut paraître absurde; certains vous diront que le sujet traité, que la seule chose qui compte est la manière dont le tableau ou la photographie se décompose en figures, en lignes, en couleurs. - Oui, le point de vue formaliste... (CT 139f.) Wenn ›Houellebecq‹-personnage hier nach der Erwähnung des Formalismus in »des pensées extrêmement tristes« (CT 140) versinkt, erteil er jenem eine Ab‐ sage; 664 sowohl für Jed als Maler als auch für Houellebecq als Schriftsteller hat damit das Sujet absoluten Vorrang. 2 Textanalysen 268 <?page no="269"?> 665 Dabei sind nicht nur Jed Martin und »Houellebecq« als Künstlerfiguren lesbar, sondern auch der Architekt Jean-Pierre Martin, Jeds Vater, dessen visionäre Entwürfe aufgrund ihrer Unrealisierbarkeit eben nur genau das bleiben: Entwürfe (vgl. Christine Ott: »Li‐ teratur und die Sehnsucht nach Realität« [s. Anm. 55], S. 227-228). 666 Serge Doubrovsky: Fils. Paris: Gallimard 2001, S. 10. Somit wird der Mensch zwar zum Zentrum der Kunst promoviert, doch gleichwohl distanziert sich ›Houellebecq‹-personnage von eben jener Mensch‐ heit, die er darzustellen sucht: »C’est vrai, je n’éprouve qu’un faible sentiment de solidarité à l’égard de l’espèce humaine« (CT 171). Und doch findet er Gefallen an Jeds Porträts, da diese mit seiner eigenen Poetik korrespondieren, insofern sie generalisierend Typen darstellen (vgl. CT 171). In Anschluss daran wird Jed erneut porte-parole Houellebecqs, wobei er Äußerungen aufgreift, die außerhalb des Romanwerks von ihm bekannt sind - besonders aus den Interventions (vgl. Kap. 2.5.1): un portraitiste, on s’attend qu’il mette en avant la singularité du modèle, ce qui fait de lui un être humain unique. Et c’est ce que je fais dans un sens, mais d’un autre point de vue j’ai l’impression que les gens se ressemblent beaucoup plus qu’on ne dit habi‐ tuellement, surtout quand je fais les méplats, les maxillaires, j’ai l’impression de ré‐ péter les motifs d’un puzzle. Je sais bien que les êtres humains c’est le sujet du roman, de la great occidental novel, un des grands sujets de la peinture aussi, mais je ne peux m’empêcher de penser que les gens sont beaucoup moins différents entre eux qu’ils ne croient en général. Qu’il y a trop de complications dans la société, trop de distinc‐ tions, de catégories... (CT 171f.) Damit findet sich die von Houellebecq bevorzugte Darstellung von Typen an‐ stelle von Individuen im Roman durch seinen intrafiktionalen Avatar ausfor‐ muliert. Durch die Dopplung der Künstlerfigur 665 und deren dialogischer Inter‐ aktion eröffnet er einen metapoetischen Diskurs, in dem sich das Werk und der Künstler selbst reflektieren. 2.5.3.3 ›Michel Houellebecq‹/ Michel Houellebecq Die Tendenz, sich im Raum der Fiktion ein Double zu kreieren, das Züge der öffentlichen Persona Houellebecq trägt (der Protagonist in Extension du domaine de la lutte, Michel in Les Particules élémentaires, Michel in Plateforme, Daniel in La Possibilité d’une île) findet sich damit nicht nur fortgesetzt, sondern gar über‐ troffen, wenn Houellebecq nunmehr eine Fiktion seiner selbst entwirft. Die Au‐ tofiktion ist mit Serge Doubrovsky erstmals programmatisch als »fiction, d’é‐ vénements et de faits strictement réels« 666 definiert worden. In dieser Perspektive erweist sich der Begriff in Zusammenhang mit La Carte et le Territoire als prob‐ 2.5 Michel Houellebecq 269 <?page no="270"?> 667 Vgl. Christine Ott: »Literatur und die Sehnsucht nach Realität« (s. Anm. 55), S. 223. 668 Der fiktionale Rahmen der Autofiktion dient im Konzept Doubrovskys als »fourre-tout à la mémoire« (Serge Doubrovsky: »Autobiographie/ Vérité/ Psychanalse«. In: L’Esprit Créateur 20, 3 (1980), S. 87-97, hier: S. 89). Ähnlich wie in der Psychoanalyse werden damit die erinnerten Ereignisse qua Assoziation in einen diskursiven Rahmen gegossen, es geht um die (teils spielerische) Selbsterkundung: »Der Ursprung der Autofiktion ist [...] ohne die Psychoanalyse respektive die expérience de la psychanalyse nicht zu denken. Doubrovskys autofiction versteht sich immer auch als Schreibtherapie«, Chris‐ tine Ott/ Jutta Weiser: »Autofiktion und Medienrealität. Einleitung«. In: dies. (Hg.): Autofiktion und Medienrealität. Kulturelle Formungen des postmodernen Subjekts. Hei‐ delberg: Winter 2013, S. 7-16, hier: S. 8. 669 Jutta Weiser: »Der Autor im Kulturbetrieb: Literarisches Self-Fashioning zwischen Selbstvermarktung und Vermarktungsreflexion« (s. Anm. 53), S. 240. 670 Vgl. ebd., S. 241. lematisch, weicht Houellebecq doch offensichtlich von dem Wahrheitsgebot ab, wenn er sich selbst brutal ermorden lässt. 667 Darüber hinaus untersteht Jutta Weiser zufolge Houellebecqs Autofiktion nur mit Einschränkung dem Primat der intimen Selbstbefragung 668 - wie es dem Konzept Doubrovskys zufolge von der Autofiktion impliziert wird -, »während mit der Gestalt ›Houellebecq‹ le‐ diglich ein massenmediales Konstrukt adaptiert und ausgestaltet wird«. 669 In der Tat spielt Houellebecq mit dem Image, das in den Medien über ihn konstruiert wurde. ›Houellebecq‹, »auteur célèbre, mondialement célèbre même« (CT 23), wird von Beginn an als der menschenfeindliche, isolierte Schriftsteller einge‐ führt, als der er in der Öffentlichkeit bekannt ist: »De notoriété publique Hou‐ ellebecq était un solitaire à fortes tendances misanthropiques, c’est à peine s’il adressait la parole à son chien« (CT 124). Das erste Zusammentreffen von Jed und ›Houellebecq‹ scheint jedoch zunächst dieses Medienbild zu konterka‐ rieren. Auf Jeds Kommentar, er habe geglaubt, ›Houellebecq‹ sei ein depressiver Trunkenbold, reagiert dieser mit einer umfassenden Medienkritik: Vous savez, ce sont les journalistes qui m’ont fait la réputation d’un ivrogne; ce qui est curieux, c’est qu’aucun d’entre eux n’ait jamais réalisé que si je buvais beaucoup en leur présence, c’était uniquement pour parvenir à les supporter. Comment est-ce que vous voudriez soutenir une conversation avec une fiotte comme Jean-Paul Mar‐ souin sans être à peu près ivre mort? Comment est-ce que vous voudriez rencontrer quelqu’un qui travaille pour Marianne ou Le Parisien libéré sans être pris d’une envie de dégueuler immédiate? La presse est quand même d’une stupidité et d’un confor‐ misme insupportables, vous ne trouvez pas? (CT 142f.) So mutet Houellebecqs Selbstinszenierung im ersten Moment wie eine Berich‐ tigung, gar Destruierung des Medienkonstrukts seiner selbst an: eine Bloßle‐ gung der Scheinhaftigkeit medialer Berichterstattung. 670 Wie Anne Chamayou 2 Textanalysen 270 <?page no="271"?> 671 Vgl. Anne Chamayou: »La Carte et le Territoire: du potin à l’autofiction«. In: Nouvelle Revue Synergies Canada 7 (2014), unpag. Chamayou führt vor, wie Houellebecq konse‐ quent die Grenzen zwischen Fiktion und Wahrheit verwischt - und dies, indem er auf den bestehenden Mediendiskurs über seine Persönlichkeit rekurriert. Houellebecq ruft Biographeme und Fragmente seines Medienimages auf, um sie spielerisch zu zerlegen und schließlich wieder zu rekonstruieren. Es mischen sich Verweise auf tatsächliche Personen, Orte, Ereignisse mit frei erfundenen Details. So auch in der oben zitierten Passage: Die Zeitschrift Marianne und die Tageszeitung Le Parisien libéré existieren tatsächlich, während unter dem Namen Jean-Paul Marsouin kein französischer Jour‐ nalist bekannt ist. 672 »L’auteur des Particules élémentaires était vêtu d’un pyjama rayé gris qui le faisait va‐ guement ressembler à un bagnard de feuilleton télévisé; ses cheveux étaient ébouriffés et sales, son visage rouge, presque couperosé, et il puait un peu. L’incapacité à faire sa toilette est un des signes les plus sûrs de l’établissement d’un état dépressif« (CT 160). erläutert, scheint Houellebecq dergestalt zunächst sein Medienimage im Roman zu rekonstruieren, um dieses schließlich gegen jene zu wenden, die es kreierten. 671 Doch bereits beim nächsten Treffen zeigt sich ›Houellebecq‹ als genau jener trinkende, rauchende, verwahrloste Sonderling, der aus den Medien bekannt ist. 672 Gekrönt wird jedoch schließlich Houellebecqs Selbstinszenierung durch die ekphrastische Beschreibung des Gemäldes »Michel Houellebecq, éc‐ rivain«, das nach dem gescheiterten »Damien Hirst et Jeff Koons se partageant le marché de l’art« den Abschluss der série des métiers bilden wird. Peu de gens de toute façon, au moment de la présentation du tableau, prêtèrent at‐ tention au fond, éclipsé par l’incroyable expressivité du personnage principal. Saisi à l’instant où il vient de repérer une correction à effectuer sur une des feuilles posées sur le bureau devant lui, l’auteur paraît en état de transe, possédé par une furie que certains n’ont pas hésité à qualifier de démoniaque; (CT 180) Houellebecq stilisiert sich hier in der fingierten Ekphrasis des Gemäldes zum Inbild des kreativen Genies, im Moment des poetischen Furors auf Leinwand gebannt. Houellebecq transgrediert dergestalt die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, indem er Versatzstücke des Mediendiskurses aufgreift, ver‐ wandelt, bearbeitet und neuzusammensetzt, nur mit dem Zweck, sich selbst und die Medien zu karikieren, kritisieren, aber auch den Leser zu dezentrieren und in ein permanentes Spiel der konsequenten Verunsicherung zu verwickeln. Christine Ott bringt Houellebecqs Verfahren der Selbstinszenierung wie folgt auf den Punkt: Obwohl diese Selbstdarstellung von Biographemen durchsetzt ist, kann sie nicht im Sinne eines klassischen Selbstporträts gewertet werden. Schwankend zwischen Selbstkarikatur, Selbstverherrlichung und Selbstapologie, thematisiert sie vor allem 2.5 Michel Houellebecq 271 <?page no="272"?> 673 Christine Ott: »Literatur und die Sehnsucht nach Realität« (s. Anm. 55), S. 226f. 674 Vgl. Jutta Weiser: »Der Autor im Kulturbetrieb: Literarisches Self-Fashioning zwischen Selbstvermarktung und Vermarktungsreflexion« (s. Anm. 53), S. 240. 675 Auch hier beziehe ich mich zum Teil auf Ergebnisse, die ich bereits im Rahmen eines Artikels veröffentlicht habe. Vgl. Lena Schönwälder: »Ästhetik des Bösen - Banalisie‐ rung des Bösen? « (s. Anm. 590), S. 42-49. eins: die Unmöglichkeit, ein objektives, von den Übertreibungen der Medien freies Bild von sich selbst zu vermitteln. Mehr noch: die partielle Unmöglichkeit, sich anders zu geben als es die Mediatisierung des eigenen Werks und Images verlangt. 673 In diesem Sinne veranschaulicht Houellebecqs Selbstporträt also auch die Ab‐ hängigkeit von Selbstbehauptung und -konstruktion und Medienwirklichkeit. Houellebecq führt vor, dass der Autor alles andere als tot ist: Vielmehr sind Text und Autor kaum mehr voneinander zu trennen, auch wenn der spektakuläre Tod ›Houellebecqs‹ im Roman Barthes’ virulente Formulierung zu verbildlichen scheint. 674 2.5.3.4 »[U]ne assez médiocre imitation de Pollock«: der Mord an ›Michel Houellebecq‹ Im dritten Teil des Romans steht nun der Mord an ›Houellebecq‹ im Mittelpunkt, welcher im Folgenden näher beleuchtet werden soll. 675 Schauplatz des Unglücks ist ›Houellebecqs‹ Landhaus im Loiret, wo er zusammen mit seinem Hund bes‐ tialisch hingerichtet wird. Dem mit der Ermittlung betrauten Kommissar Jas‐ selin offenbart sich bei Betreten des Tatorts der folgende Anblick: Un policier raisonne à partir du corps, c’est sa formation qui veut cela, il est rompu à noter et à décrire la position du corps, les blessures infligées au corps, l’état de con‐ servation du corps; mais là, de corps, à proprement parler, il n’y en avait pas. […] La tête de la victime était intacte, tranchée net, posée sur un des fauteuils devant la che‐ minée, une petite flaque de sang s’était formée sur le velours vert sombre; lui faisant face sur le canapé, la tête d’un chien noir, de grande taille, avait elle aussi été tranchée net. Le reste était un massacre, un carnage insensé, des lambeaux, des lanières de chair éparpillés à même le sol. Ni la tête de l’homme ni celle du chien n’étaient pourtant immobilisées dans une expression d’horreur, mais plutôt d’incrédulité et de colère. Au milieu des lambeaux de viandes humaine et canine mêlées, un passage intact, de cin‐ quante centimètres de large, conduisait jusqu’à la cheminée emplie d’ossements aux‐ quels adhéraient encore des restes de chair. […] [ Jasselin] se retourna; dos à la che‐ minée, il jeta un regard circulaire sur la salle de séjour, qui pouvait faire à peu près cinquante mètres carrés. Toute la surface de la moquette était constellée de coulures de sang, qui formaient par endroits des arabesques complexes. Les lambeaux de chair 2 Textanalysen 272 <?page no="273"?> eux-mêmes, d’un rouge qui virait par places au noirâtre, ne semblaient pas disposés au hasard mais suivant des motifs difficiles à décrypter, il avait l’impression d’être en présence d’un puzzle. (CT 277f.) Aus der Perspektive Jasselins wird eine detaillierte Bestandsaufnahme des Tat‐ orts geleistet, wobei scheinbar keines der anschaulichen Details ausgelassen wird. Die Darstellung der vollständigen Annihilation des menschlichen Körpers (»de corps à proprement parler, il n’y en avait pas«) rekurriert auf die seit Flau‐ bert signifikanten Stilmittel einer grausamen Schreibweise, nämlich die für die Repräsentation von Grausamkeit charakteristische »Geste des Erweiterns«, d.h. die sinnliche Übersättigung durch Akkumulation semantisch kaum differen‐ zierbarer Begrifflichkeiten: »Le reste était un massacre, un carnage insensé, des lambeaux, des lanières de chair éparpillés à même le sol« (eigene Hervorhebung). Über diesem Massaker »insensé« thront erhaben das abgetrennte Haupt ›Hou‐ ellebecqs‹ und das seines Hundes. Houellebecq zeichnet dabei ein Tableau, das ein Schreckensphantasma der Neuzeit wiederaufgreift, nämlich das der Ent‐ hauptung und damit des symbolischen Raubs der Ratio. Überdies ist die oben zitierte Passage nicht bar einer gewissen ästhetischen Komponente: Die Beschreibung des Tatorts gestaltet sich als pseudo-ekphras‐ tische Deskription eines Kunstwerks, dessen Botschaft es für den Betrachter - Jasselin auf Ebene der Fiktion, der Leser auf Ebene der Rezeption - zu dechiff‐ rieren gilt. Tatsächlich mutet das Bild in der Betrachterperspektive wie eine Kompositionsskizze an: zum einen das Haupt ›Houellebecqs‹, ihm gegenüber auf der anderen Seite das des Hundes und dazwischen das scheinbar willkürlich arrangierte Gemetzel menschlicher und tierischer Fleischfetzen, nur unterbro‐ chen durch eine in der Länge genau bemessene Passage. Auch hier lässt sich demnach ein narratives Verfahren der semantischen Umdeutung bzw. Kombi‐ nation von disparaten Semen verzeichnen, das an Flaubert gemahnt. Während in Salammbô die Beschreibung des rituellen Kindermordes mit der Bildlichkeit der Verausgabung und lustvollen Ekstase aufgeladen wird, wird in La Carte et le Territoire der Tatort durch die ästhetisierende Ekphrasis zum Tableau, d.h. zum Kunstwerk. Die Wahrnehmungsperspektive ist weniger die eines nüchtern ermittelnden Polizisten als eines Kunstkenners: Das Farbspiel wird evoziert (»une petite flaque de sang s’était formée sur le velours vert sombre«; »un rouge qui virait par places au noirâtre«) und auch die Rinnsale des vergossenen Blutes werden mit komplexen Arabesken verglichen. Wenn der blutige Mord also zum grausamen Kunstwerk stilisiert wird, erscheint auch der Mörder gleichsam als pervertierte Künstlerfigur, die das ihr zur Verfügung stehende Material gemäß einem inneren, schöpferischen Plan arrangiert: »Les lambeaux de chair eux-mêmes [...] ne semblaient pas disposés au hasard mais suivant des motifs 2.5 Michel Houellebecq 273 <?page no="274"?> 676 So trägt der Tatort auch für den Ermittler Jasselin in seiner spezifischen Beschaffenheit stets die einmalige Unterschrift des Kriminellen: »Il y a ainsi presque toujours dans la scène de crime quelque chose d’individuel et d’unique, comme une signature du cri‐ minel; et c’est particulièrement vrai [...] des crimes atroces ou rituels, de ceux pour lesquels on est naturellement disposé à orienter les recherches vers un psychopathe« (CT 267). 677 Die Metapher des Puzzles wird von Betül Dilmac vor allen Dingen metapoetisch ge‐ deutet. Auch das Porträt Houellebecq, évrivain sei in Hinblick auf Jeds Bemerkung als ein Arrangement verschiedener Puzzleteilchen zu verstehen und weniger als Ausdruck unnachahmlicher Individualität. In diesem Sinne sei auch der zerstückelte Künstler‐ körper ein Ausdruck des sich selbst zersetzenden Schriftstellers, der das Medienkonst‐ rukt ›Houellebecq‹ destruiere. Vgl. Betül Dilmac: »Von Körper-Bildern und Zerstücke‐ lungen: Zu thematisch-poetologischen Text-Bild-Beziehungen in Michel Houellebecqs La carte et le territoire und zur Autofiktion als Aktionskunst« (s. Anm. 54), S. 151-162. 678 Während Jasselin nichts weiter als zu einem uniformen Puzzle angeordnete Rinnsale von Blut und Fetzen erkennen kann, vermag Jed als ›Experte‹ mit seinem geschulten Blick, einen Bezug zur bildenden Kunst herzustellen. Im Anschluss daran wird Jasselin fragen, wer Pollock sei. Er erweist sich damit weitestgehend als ›Kunstnovize‹, sodass die »Bildbeschreibung« des Tatorts, bei der er als Wahrnehmungsträger fungiert, umso erstaunlicher scheinen muss: Die Wahrnehmungsperspektive wird dergestalt verun‐ eindeutigt. Obgleich die Fokalisierung hier an die Perspektive Jasselins gebunden bleibt, schaltet sich hier dennoch die Erzählerstimme ein, die ein ästhetisches Interesse am Darstellungsgegenstand bezeugt. difficiles à décrypter, il avait l’impression d’être en présence d’un puzzle« (eigene Hervorhebung). Das Verbrechen wird damit zu einem interpretierbaren (ästhe‐ tischen) Konstrukt, und dies in doppelter Weise: sowohl auf der Ebene der his‐ toire - also als Rätsel für den ermittelnden Jasselin 676 - als auch auf einer meta‐ poetischen Ebene. Denn das Bild des Puzzles 677 gemahnt nicht zuletzt an Jeds Kommentar, er habe den Eindruck, im Schöpfungsakt stets Teile eines Puzzles zu wiederholen (»j’ai l’impression de répéter les motifs d’un puzzle«, CT 172). Unter dessen künstlerischem Blick wird der Tatort gleichwohl als Kunst à la Jackson Pollock deutbar: »Jed examina plusieurs des agrandissements, qui pour Jasselin se ressemblaient à peu près tous: des coulures, des lacérations, un puzzle uniforme. ›C’est curieux..., dit-il finalement. On dirait un Pollock; mais un Pol‐ lock qui aurait travaillé presque en monochrome. [...]‹« 678 (CT 339) Doch das ästhetische Urteil, das Jed über den artiste-meurtrier fällt, ist abfällig und wirkt in Anbetracht seines Referenzpunktes ironisch distanzierend, wenn Jed die Ab‐ senz eines »élan vital« bemängelt: »ce n’est qu’une assez médiocre imitation de Pollock. Il y a les formes, les coulures, mais l’ensemble est disposé mécanique‐ ment, il n’y a aucune force, aucun élan vital« (CT 342). Vor diesem Hintergrund wird einerseits der grausame Mord ästhetisch valorisiert, d.h. der Mord wird - wie bereits bei Mirbeau - zum œuvre d’art und der Mörder zum Künstler, doch 2 Textanalysen 274 <?page no="275"?> andererseits findet er sich damit auch banalisiert: Es handelt sich lediglich um eine Imitation, einen Abklatsch, quasi um Pseudo-Kunst. Es konkurrieren damit zwei einander diametral entgegengesetzte Wirk‐ mächte miteinander: Zum einen scheint der Versuch unternommen zu werden, das »Böse« zu remythisieren, indem rund um den Mord an Houellebecq eine Aura des Irrationalen kreiert wird. Zur gleichen Zeit findet sich diese jedoch kontinuierlich durch farceske Einfälle ironisch-distanzierend unterlaufen. So wird die große ›Enthüllung‹ des ›Kunstwerks‹ strukturell von langer Hand vor‐ bereitet: Erst in Kapitel III des dritten Teils findet sich das Ineffable ausformu‐ liert. Von Beginn an wird deutlich, dass etwas Unerhörtes geschehen sein muss, wobei jedoch unausgesprochen bleibt, um was für eine Schreckenstat es sich konkret handelt: Dès qu’il ouvrit la porte de la Safrane, Jasselin comprit qu’il allait vivre un des pires moments de sa carrière. Assis dans l’herbe à quelques pas de la barrière, la tête entre ses mains, le lieutenant Ferber était prostré dans une immobilité absolue. C’était la première fois qu’il voyait un collègue dans cet état - dans la police judiciaire, ils finissaient tous par acquérir une dureté de surface qui leur permettait de contrôler leurs réactions émotionnelles, ou bien ils démissionnaient, et Ferber, avait plus de dix ans de métier. Quelques mètres plus loin, les trois hommes de la gendarmerie de Mon‐ targis étaient tétanisés: deux entre eux gisaient dans l’herbe, agenouillés, le regard vide, et le troisième - probablement leur supérieur, Jasselin crut reconnaître des in‐ signes de brigadier - oscillait lentement sur lui-même, à la limite de l’évanouissement. (CT 263) Die auf Extremfälle vorbereiteten Polizisten, die noch vor Jasselin am Tatort eingetroffen sind, befinden sich allesamt in einer Schockstarre, die einen im Gras zusammengesunken, der andere schwankend am Rande der Ohnmacht. Die Einschränkung der Perspektive auf den Blickwinkel Jasselins lässt den Leser damit einerseits im Dunkeln bezüglich des zu erwartenden Schreckens, bereitet ihn aber gleichsam spannungsvoll darauf vor. Der Aufschub der eigentlichen Enthüllung steigert in diesem Sinne die Dramatizität des bösen Kunstwerks. Zudem scheint das Ausbleiben jeglicher rationalen Begründbarkeit des Ver‐ brechens den Mord auf eine abstrakte Ebene des Irrationalen zu befördern. Der vorliegende Fall lässt sich in diesem Sinne nicht mehr in Jasselins Phänomeno‐ logie des Verbrechens integrieren, der zufolge ein Großteil aller Kriminalfälle 2.5 Michel Houellebecq 275 <?page no="276"?> 679 »Pour avoir longtemps fréquenté les criminels, il pouvait lui [sa femme] affirmer qu’il s’agissait bien des individus les plus machinaux et les plus prévisibles que l’on puisse imaginer. Dans la presque totalité des cas ils tuaient pour l’argent, et uniquement pour l’argent; c’était d’ailleurs ce qui les rendait en général si faciles à capturer« (CT 320). Jedoch räumt er ebenso ein: »Au contraire, presque personne, jamais n’avait travaillé uniquement pour l’argent. Il y avait toujours d’autres motivations: l’intérêt qu’on portait à son travail, la considération qui pouvait s’y rattacher, les rapports de sympathie avec les collègues… Et presque personne, non plus, n’avait de comportements d’achat en‐ tièrement rationnels« (CT 320). 680 »L’affaire ne fut résolue que trois ans plus tard, et ce fut par hasard« (CT 371). auf das Motiv der Habgier zurückzuführen sind. 679 Der sonderbare Fall »Hou‐ ellebecq« findet sich dergestalt zu einem Rätsel mystifiziert, das scheinbar jeg‐ licher nachvollziehbaren Sinnhaftigkeit und motivationaler Zweckgerichtetheit entbehrt. Doch wird sich bald erweisen, dass der schauerliche Mord an Houel‐ lebecq eben nicht als Einbruch des irrational-mystischen Bösen zu deuten ist, sondern vielmehr nur ein weiteres durch Habgier motiviertes Verbrechen ist. Durch die Befragung Jeds kommt ans Licht, dass das Porträt »Michel Houelle‐ becq, écrivain«, das er ›Houellebecq‹ überlassen hatte, aus dessen Besitz ent‐ wendet wurde. In Anbetracht des inzwischen rapide gestiegenen Marktwertes des Werks scheint damit des Rätsels Lösung gefunden. Mit einem Gefühl der Ermattung und Traurigkeit sieht sich Jasselin einmal mehr in seiner Weltsicht bestätigt: »›L’affaire est résolue.‹ Sa voix trahissait un découragement, une tris‐ tesse affreuse. ›Il y a déjà eu des meurtres pour cinquante mille, dix mille, parfois pour mille euros. Alors, neuf cent mille euros…‹« (CT 352). Zwar wurde hiermit das im Grunde banale Motiv aufgedeckt, Hinweise in Bezug auf die Verbrecher‐ identität bleiben jedoch nach wie vor aus. Erst im Epilog kann das Mysterium des Mordes an ›Houellebecq‹ vollständig aufgelöst werden - und dies gelingt im Unterschied zum traditionellen Hand‐ lungsmuster des policier erst drei Jahre später und nur durch Zufall. 680 Der In‐ sektenschmuggler Le Braouzec wird aufgrund einer Geschwindigkeitsübertre‐ tung mit einem gestohlenen Porsche und einer illegalen Insektenlieferung in Nizza von der Polizei aufgegriffen. Es stellt sich heraus, dass dieser in Handel mit einem Chirurgen namens Petissaud stand, den er zuvor im Streit getötet hatte, um anschließend mit dessen Fahrzeug zu fliehen. Tatsächlich erweist sich Petissaud als der Mörder ›Houellebecqs‹, als bei einer Untersuchung dessen Anwesens das Porträt »Michel Houellebecq, écrivain« neben einem weiteren Werk Francis Bacons und zwei Plastinationen Gunther von Hagens’ in den Kel‐ 2 Textanalysen 276 <?page no="277"?> 681 Der Maler Francis Bacon (1909-1992) setzte sich in seinen Werken vor allen Dingen mit dem menschlichen Körper auseinander. Gunther von Hagens ist der Autor der vieldis‐ kutierten Ausstellung »Körperwelten«, bei der er durch das Verfahren der Plastination konservierte menschliche Leichen zur Ansicht darbot. lerräumen gefunden wird. 681 Doch bei dieser Entdeckung allein wird es nicht bleiben; Petissauds Souterrain offenbart sich als Kabinett der Monstrositäten: Les quatre murs de la pièce, de vingt mètres sur dix, étaient presque entièrement meublés d’étagères vitrées de deux mètres de haut. Régulièrement disposées à l’inté‐ rieur de ces étagères, éclairées par des spots, s’alignaient de monstrueuses chimères humaines. Des sexes étaient greffés sur des torses, des bras minuscules de fœtus pro‐ longeaient des nez, formant comme des trompes. D’autres compositions étaient des magmas de membres humains accolés, entremêlés, suturés, entourant des têtes gri‐ maçantes. Tout cela avait conservé par des moyens qui leur étaient inconnus, mais les représentations étaient d’un réalisme insoutenable: les visages tailladés et souvent énucléés étaient immobilisés dans d’atroces rictus de douleur, des couronnes de sang séché entouraient les amputations. Petissaud était un pervers grave, qui exerçait sa perversion à un niveau inhabituel, il devait y avoir des complicités, un trafic de ca‐ davres, et probablement aussi des fœtus, cela allait être une enquête longue, se dit Bardèche en même temps que l’un de ses adjoints, un jeune brigadier qui venait d’entrer dans l’équipe, s’évanouissait et tombait doucement, avec grâce, comme une fleur coupée, sur le sol à quelques mètres devant lui. (CT 374f.) Legte bereits die außerordentliche Brutalität des Mordes an ›Houellebecq‹ nahe, dass es sich bei dem Urheber des Verbrechens um einen abnormen, perversen Psychopathen handeln müsse, scheint sich dies hier unmissverständlich zu be‐ stätigen. Die aberranten Experimente am menschlichen Körper, die sich dem Blick feilbieten, sind nicht mehr allein grotesk, sondern vollständig defiguriert. Es handelt sich um ein Tableau, das in seiner Monstrosität die Grenzen des Schönen und Guten, des Sittlich-Moralischen überschreitet, indem es nahezu den gesamten Apparat an Ekel induzierenden Objekten aufruft. Und doch findet sich auch hier das Schreckensszenario ironisch durchbrochen, wenn die betont poetisch-blumige Darstellung der Reaktion des Brigadiers, der sanft und grazil, »comme une fleur coupée« zu Boden gleitet, für comic relief sorgt. Erneut un‐ terläuft ein komisch-grotesker Einfall die Schaffung einer auratischen Mystik des Bösen. Besonders interessant scheint mir in Zusammenhang mit dieser Passage je‐ doch der Kunstdiskurs, der mit Begriffen wie »réalisme insoutenable«, »repré‐ sentations« und »compositions« erneut aufgerufen wird. Zwar wurde der Ver‐ brecher im Vorfeld als mittelmäßiger Pollock deklassiert, doch wird er hier durch 2.5 Michel Houellebecq 277 <?page no="278"?> 682 Bruno Viard: »La Carte et le Territoire, roman de la représentation: entre trash et tradi‐ tion« (s. Anm. 53), S. 92. Zur Parallele Petissaud/ Hirst vgl. auch Jutta Weiser: »Der Autor im Kulturbetrieb: Literarisches Self-Fashioning zwischen Selbstvermarktung und Ver‐ marktungsreflexion« (s. Anm. 53), S. 244. 683 Gustave Flaubert: »À Mademoiselle Leroyer De Chantepie (18 mars 1857)«. In: ders.: Correspondance. Édition établie, présentée et annotée par Jean Bruneau. Bd. 2. Juillet 1851 - décembre 1858. Paris 1980, S. 691-692, hier: S. 691. semantische Rekonfigurationen kunstspezifischer Begrifflichkeiten wieder in die Schöpferfunktion erhoben. Tatsächlich ließe sich mit Weiser und Viard Pe‐ tissaud auch als symbolisches Analogon Damien Hirsts lesen. Petissaud, der wie Hirst für eine morbide Kunst steht, nimmt Rache für das durch Jed Martin zer‐ störte Porträt »Damien Hirst et Jeff Koons se partageant le marché d’art«: Dans cette œuvre hideuse et morbide [der Mord an ›Houellebecq‹], qui prétend rem‐ placer un authentique chef d’œuvre, il est facile de reconnaître la manière habituelle de Hirst, spécialiste du trash et du macabre: veau découpé dans du formol, femme enceinte dépecée, requin en décomposition lente. Le maître du morbide a simplement remplacé une œuvre (le tableau à l’huile) par une autre de sa façon (l’installation de chair humaine). 682 In diesem Sinne wird auch Petissaud als Negativfolie interpretierbar, die sym‐ bolisch die Perversion des modernen Kunstbetriebs abbildet: Der Mord an ›Hou‐ ellebecq‹ kündet vom Triumph der profitorientierten sensationalistischen Skan‐ dalkunst. Damit ließe sich wiederum auch eine Parallele zu Houellebecq selbst her‐ stellen. Denn letztendlich ist es auf einer übergeordneten Ebene Houellebecq - der Autor -, der seinen autofiktionalen Gegenpart umbringen lässt und erhaben über das Schicksal seiner Figuren entscheidet. Denn auch Petissaud spielt Schöpfergott, wenn er einerseits defigurierte Chimären aus menschlichen Ver‐ satzstücken neu zusammensetzt (hier könnte wiederum auch Jeds poetologi‐ scher Begriff des Puzzles fruchtbar gemacht werden! ) und zum anderen ver‐ schiedene Insektenkolonien einander verschlingen lässt: »Il se prenait pour Dieu, tout simplement; et il en agissait avec ses populations d’insectes comme Dieu avec les populations humaines« (CT 375). Mit Rekurs auf den Schlüssel‐ begriff »réalisme insoutenable« vermag es vielleicht nicht völlig unmotiviert erscheinen, hierin gar eine Referenz auf Flauberts berühmte Formel des Künst‐ lers als Gott zu erkennen: »L’artiste doit être dans son œuvre comme Dieu dans la création, invisible et tout-puissant«. 683 Setzt man nun die Analogie Künstler bzw. Schriftsteller - Gott als gegeben, erweist sich das Monstrositätenkabinett Petissauds gleichsam als Abbild von Houellebecqs eigenem Romanwerk. Mit 2 Textanalysen 278 <?page no="279"?> 684 Dominique Rabaté wiederum deutet den Tod ›Houellebecqs‹ als »sacrifice du roman«. Indem der Roman eine »langue volontairement plate, indiscernable de ce qu’elle pa‐ rodie« privilegiere und durch die Ästhetik der Zitation eine nicht mehr zielgerichtete Ironie zeitige, sei der Text gleichzeitig ein Symptom vom Niedergang der Kunst, von dem er künde (Dominique Rabaté: »L’écrivain mis à mort par ses personnages mêmes« [s. Anm. 53], S. 231). 685 Obleich der Roman einer von dem »künstlerischen Marktwert von Lust und Sexualität« profitierenden Kunst à la Jeff Koons und Damien Hirst und damit der »skandalträch‐ tige[n] künstlerische[n] Ausbeutung von Tod, Krankheit und menschlichem Schmerz« eine Absage erteilt, sind eben genau diese - wie Gipper bemerkt - »die beiden großen Themen von Houellebecqs eigenen Romanen, Sexualität und Vergänglichkeit« (ders.: »Die Kunst des Porträts und das Porträt des Künstlers« [s. Anm. 53], S. 723). 686 »La première question que se posa Jed - manifestant, en cela, un typique égocentrisme d’artiste - fut de savoir si sa ›série des métiers simples‹, vingt ans à peu près après qu’il l’eut conçue, avait gardé sa pertinence. De fait, pas entièrement« (CT 400). Auch hier offenbart sich eine Hypothese poetologischer Natur: Die pertinence, d.h. der Aussage‐ wert, die Stichhaltigkeit, wird als raison d’être der Kunst deklariert. einem »réalisme insoutenable« führt das literarische Werk dem Leser/ Betrachter Aberrationen des Humanums vor: David di Meola in Les Particules élémentaires, Petissaud in La Carte et le Territoire, die gesamte Menschheit in La Possibilité d’une île würden lesbar als eben jene »monstrueuses chimères hu‐ maines«, deren Untaten mit einem genauso morbiden Gusto vorgeführt werden, wie es ein Damien Hirst tut. So artikuliert sich hier sowohl eine Kritik des ge‐ genwärtigen Kunstmarkts und der Mechanismen, die diesen regieren; gleich‐ zeitig reflektiert sich der Roman mitsamt seinen Vertextungsverfahren selbst. In diesem Licht würde der Mord an ›Houellebecq‹ durch Houellebecq 684 viel‐ leicht sogar zu einem letzten heroischen Akt, bei dem der Autor dem Medien‐ konstrukt ›Houellebecq‹ eine Absage erteilt - und damit paradoxerweise auch dem Kunstmarkt, dessen Funktionsweisen er sich zunutze macht. 685 So endet der Roman gleichwohl mit einer aus der Perspektive des geschichts‐ schreibenden Erzählers retrospektiven Interpretation von Jeds letzter großen Schaffensphase - und damit implizit auch mit einem metapoetischen Selbst‐ kommentar. Nachdem Jed feststellen musste, dass seine traditionelle Porträt‐ kunst in der »série des métiers simples« Jahre später kaum noch über relevante Aussagekraft verfügt, 686 widmet er sich in den letzten dreißig Jahren seines Le‐ bens einem neuen Medium: dem Film. Dabei wendet er sich vom Menschen ab und beginnt zunächst Vegetationen zu filmen, später Industrieerzeugnisse, deren mit Lösungen und Säuren beschleunigte Dekomposition er mit der Ka‐ mera verfolgt. Schließlich wird er Photographien von Menschen, die er kannte, und kleine Playmobil-Spielfiguren auf ähnliche Weise zersetzen und den Prozess 2.5 Michel Houellebecq 279 <?page no="280"?> 687 »Das Romanende [...] appelliert überdeutlich an die Empathie des Lesers, der durch ein auktoriales, zugleich aber jedermann inkludierendes ›nous‹ aufgefordert wird, sich die dargestellten Emotionen zu eigen zu machen. [...] Das Romanende ist folglich als Appell an die Leserschaft zu verstehen, sich von der Botschaft der (Houellebecqschen) Kunst affektiv berühren zu lassen« (Christine Ott: »Literatur und die Sehnsucht nach Realität« [s. Anm. 55], S. 230). auf Zelluloid bannen. Der Erzähler deutet diese letzten Werke als Illustration des Niedergangs des industriellen Zeitalters: L’œuvre qui occupa les dernières années de la vie de Jed Martin peut ainsi être vue - c’est l’interprétation la plus immédiate - comme une méditation nostalgique sur la fin de l’âge industriel en Europe, et plus généralement sur le caractère périssable et tran‐ sitoire de toute industrie humaine. Cette interprétation est cependant insuffisante à rendre compte du malaise qui nous saisit à voir ces pathétiques petites figurines de type Playmobil, perdues au milieu d’une cité qui elle-même s’effrite et se dissocie, puis semble peu à peu s’éparpiller dans l’immensité végétale qui s’étend à l’infini. Ce sen‐ timent de désolation, aussi, qui s’empare de nous à mesure que les représentations des êtres humains qui avaient accompagné Jed Martin au cours de sa vie terrestre se dé‐ litent sous l’effet des intempéries, puis se décomposent et partent en lambeaux, semb‐ lant dans les dernières vidéos se faire le symbole de l’anéantissement généralisé de l’espèce humaine. Elles s’enfoncent, semblent un instant se débattre avant d’être étouffées par les couches superposées de plantes. Puis tout se calme, il n’y a plus que des herbes agitées par le vent. Le triomphe de la végétation est total. (CT 413f.) So endet auch La Carte et le Territoire ähnlich wie Les Particules élémentaires und La Possibilité d’une île mit einer Vision vom Ende der Menschheit - und darüber hinaus mit einer metapoetischen Selbstreflexion. In Übereinstimmung mit der über den Roman hinweg aufrecht erhaltenen Parallele zwischen Jed Martin und Michel Houellebecq gestaltet sich auch diese Werkinterpretation als innerfikti‐ onale mise en abyme des Romanwerks Houellebecqs. So künden sämtliche Texte Houellebecqs vom Niedergang einer Ära - und dies im Modus reaktionärer Nostalgie; seine Figuren, wie »ces pathétiques petites figurines«, sehen sich mit der unausweichlichen Degeneration sämtlicher Institutionen, Werte und Bin‐ dungen ausgesetzt, die schließlich im »anéantissement généralisé de l’espèce humaine« mündet; die Wirkmacht, die Jeds letztem Werk attestiert wird, ist ebenso die des Houellebecq’schen Romanwerks: Der Betrachter/ Leser wird von einem Gefühl der »malaise« und »désolation« ergriffen. 687 »Je veux rendre compte du monde« (CT 406), lautet das Leitprinzip Jeds, mit dem er ein letztes Mal die Funktion der Kunst hervorhebt: nämlich eine Aussage über den Men‐ schen und die Welt, in der er lebt, treffen zu können. Und damit würde das 2 Textanalysen 280 <?page no="281"?> 688 Jochen Mecke: »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literaturskan‐ dals« (s. Anm. 51), S. 211f. Romanende gleichwohl zum Aufruf an den Leser, sich affektiv-nachfühlend eben diese Welt, die der Roman beschreibt, bewusst zu machen. 2.5.4 Zwischenfazit zu den Romanen Michel Houellebecqs An Houellebecqs Romanen lässt sich eine allgemeine Tendenz der Literatur ab‐ lesen, wobei der (Literatur-)Skandal um das Werk bzw. die Autorenpersona als Indikator für das literarische Schaffen per se fungieren kann. Es geht nicht mehr darum, innerhalb des literarischen Feldes eine ästhetische Position zu beziehen, sondern die Grenzen auszuweiten. Mecke diagnostiziert für den Fall Houelle‐ becq: Eine mögliche Strategie besteht [...] darin, nicht mehr die Erschöpfung, Sklerose oder Korruption einer bestimmten anerkannten Strömung zu behaupten, sondern des ge‐ samten literarischen Feldes. Nicht mehr ein bestimmter Stil wird angegriffen, sondern jeglicher Stil überhaupt, nicht bestimmte Formen der Imagination werden stigmati‐ siert, sondern die Einbildungskraft überhaupt, nicht bestimmte, inzwischen aner‐ kannte Innovationen werden denunziert, sondern der Innovationsdrang überhaupt. [...] Keines der Werke von Houellebecq geht ein spezifisch literarisches Wagnis ein, alle jedoch ein gesellschaftliches. Houellebecqs Skandale sind Ausdruck der Tatsache, dass moderne Literatur den Stoff, aus dessen Verbrennung sie ihre Dynamik und Selbstbewegung bezieht, nicht mehr in der Literatur selbst findet, sondern außerhalb des literarischen Feldes. Literatur ist immer weniger in der Lage, auf eigenen Füßen zu stehen und kommt zunehmend auf den Krücken außerliterarischer Werte daher. 688 Dennoch ließe sich diese Tendenz der postmodernen Literatur, besonders im Falle Houellebecqs, als Rückeroberung eines verloren geglaubten Potentials der Literatur erkennen: Und eben dieses besteht in der Kraft, eine Reflexion über die Welt und den Menschen, seine Natur und Beschaffenheit, anzustellen - kurz: ein ethisches Engagement anzuregen. Dass die scheinbare Regression des Stils, die Reaktivierung traditioneller Romankategorien wie Handlung, Figur, Zeit und Raum - vermeintlich zulasten poetischer Diversität - als poetologische Notwendigkeit angesehen werden, wird deutlich sowohl in Houellebecqs Es‐ saywerk als auch in seinen Romanen, besonders La Possibilité d’une île und La Carte et le Territoire. Die in letzterem Roman deutlich ausformulierte Absage an den Formalismus steht im Zeichen einer Rückbesinnung auf das Humanum als 2.5 Michel Houellebecq 281 <?page no="282"?> sujet des Romans - und damit auf eine literarische »Porträtkunst«, die sich als eine Reduktion auf das Menschentypische versteht. Die von Houellebecq verfolgte Affektpoetik, die sicherlich nicht gänzlich zu Unrecht als Effekthascherei verschrien wurde, erweist sich bei näherer Betrach‐ tung jedoch als Zusammenspiel verschiedener Techniken, die nicht allein die Inhaltsebene, sondern auch die discours-Ebene betreffen. Eine Analyse des Ro‐ mans Les Particules élémentaires hat gezeigt, dass sich dieser in einem ersten Schritt zwar durchaus als Thesenroman klassifizieren ließe, der mit seiner Ober‐ flächenästhetik auf die Produktion billiger Schockeffekte setzt. Doch erweist sich die vom Leser empfundene Malaise vielmehr als das Resultat einer Verun‐ sicherung gegenüber dem Text, der sich trotz vermeintlicher Eindeutigkeit in letzter Konsequenz als hochgradig ambig darstellt. Die Provokation entspringt damit vor allen Dingen dem Spiel mit Polyphonie und dem Veruneindeutigen der Grenzen nicht nur zwischen Fiktion und außerliterarischer Realität, Höhen‐ kamm- und Massenliteratur, sondern auch zwischen poetischen, wissenschaft‐ lichen und vulgären Sprach- und Diskursebenen. In den Romanen La Possibilité d’une île und La Carte et le Territoire findet sich dieses Programm fortgesetzt. Gleichwohl weisen diese Texte aber eine reflexive Selbstbewusstheit auf, indem sie ihre eigenen Entstehungsbedingungen und Funktionsbestimmungen metapoetisch aufdecken und mitdenken. Die Romane zeichnen mit einem »réalisme insoutenable« Bilder des bösen Schreckens und erinnern in ihrer Verfasstheit an Flauberts Maxime des indifferenten Erzählens und der ironischen Bloßlegung. Doch oszillieren auch diese Bilder der Grau‐ samkeit zwischen Ästhetisierung und Banalisierung. Die Barbarei wird in La Possibilité d’une île zum Surrogat der Spiritualität, während sich in La Carte et le Territoire der rätselhafte, kunstvolle Ritualmord als doppeltes Fake erweist: sowohl als Fälschung eines ›metaphysisch‹ motivierten Mordes als auch des bösen Kunstwerks - und entpuppt sich damit als vollständig sinnentleert, wenn nicht gar banal. Die Ästhetik des Bösen weicht in diesem Sinne dem postmo‐ dernen Spiel mit verschiedenen Diskursfragmenten und unterschiedlichen Stil‐ höhen. Strukturell lässt sich im Zusammenhang mit Houellebecq weniger von einem transgressiven Bösen sprechen, als von einer Provokationsstrategie, die auf Übersättigung abzielt. David di Meola, die bösartigen Bauarbeiter oder Petissaud symbolisieren nicht im eigentlichen Sinne das Böse, sondern werden als Symp‐ tome einer gesellschaftlichen Entwicklung verstanden, die die Romane an den Pranger stellen. Auf inhaltlicher Ebene sind deren Taten damit weniger als Transgression beschreibbar, denn als Exempla monotoner Grausamkeit, die zum Faktum des Trivialen geworden ist. Wirkungspoetisch erreichen die Texte je‐ 2 Textanalysen 282 <?page no="283"?> 689 Catherine Argand: »Entretien. Michel Houellebecq«. In: Lire 268 (1998), S. 28-34, hier: S. 33. 690 Michel Houellebecq/ Bernard-Henri Lévi: Ennemis publics (s. Anm. 560), S. 69. doch ein gewisses Transgressionspotential, das letztendlich qua affektiver Invol‐ vierung des Lesers eine Reflexion ethischer Natur anstrengen soll: »Esthéti‐ quement, il est nécessaire que l’horreur se manifeste pour que la compassion prenne son sens«, 689 erklärt Houellebecq in einem Interview und bringt damit sein literarisches Programm auf den Punkt. Damit wird die Schockästhetik nicht allein zu einer selbstzweckhaften Skandalpoetik als probater Marketingstra‐ tegie, sondern sie untersteht der Leseraktivierung, die eine affektive und intel‐ lektuelle Beteiligung incentivieren will. Und so endet ein jeder der untersuchten Romane mit einem mehr oder weniger impliziten Appell an den Leser, emotional aktiv an der Fiktion teilzuhaben und dergestalt die ästhetische in eine ethische Erfahrung zu überführen. So werden in den Texten einerseits durch die semantischen Bildkombinati‐ onen gewisse Entfremdungseffekte gezeitigt, die traditionelle Denk- und Reak‐ tionsmuster des Lesers versperren und so zu einer reflexiven Neuperspektivie‐ rung zwingen; andererseits begünstigen narrative Verfahren der Perspektivierung und des Spannungsaufbaus ein intensives emotionales Enga‐ gement, aktivieren sozusagen die Empathie des Lesers, nur um ihn wieder seines bekannten Sinnhorizonts zu berauben. Das Wechselspiel von Distanzierung und Involvierung eröffnet einen Raum der ethischen Reflexion. Die feindliche, ›böse‹ Welt mag im Houellebecq’schen Universum zwar in einem beklagens‐ werten Zustand sein, doch ist sie noch nicht endgültig verloren. Entgegen der pessimistischen Visionen der Romane sind die Texte gleichwohl auch als Appell zu verstehen, dass die Menschheit noch über das Potential verfügt, die Welt zu einer besseren zu machen. So steht das ›böse Schreiben‹ bei Houellebecq zum Teil in der Tradition der Ecole du mal, doch dient sie der Intention, bewegen zu wollen, dem Menschen einen Spiegel vorzuhalten: »Je tends un miroir au monde, où il ne se trouve pas très beau«. 690 2.5 Michel Houellebecq 283 <?page no="284"?> Schluss Die vorliegende Studie hat es sich zum Ziel gesetzt, sich dem Begriff einer Schockästhetik bzw. einer Schreibweise der literarischen Provokation vermittels einer Analyse repräsentativer Texte des 19., 20. und 21. Jahrhunderts anzunä‐ hern. Dabei sollten sowohl spezifische Vertextungsverfahren in Hinblick auf ihre formale Beschaffenheit als auch konkret ästhetische Wirkungsweise hin überprüft werden, um schließlich nach deren Funktion zu fragen. Dabei be‐ wegen sich die vorliegenden Texte bzw. der Film im Spannungsfeld von selbst‐ zweckhafter Provokation und emotionsinduzierender Leseraktivierung zu‐ gunsten einer ethischen Reflexion. Als Modell diente in diesem Zusammenhang Flauberts Roman Salammbô, der bereits von Bohrer beispielhaft für das von ihm entwickelte Konzept des Bösen als ästhetischer Kategorie angeführt wurde. Vor allen Dingen mit Rückgriff auf Friedrichs Analyse des Textes wurde nachge‐ wiesen, dass die besondere Wirkmacht des Romans nicht allein auf die irritie‐ rende Fremdartigkeit des Sujets zurückzuführen ist, sondern vielmehr auf kon‐ krete Vertextungsstrategien. Flaubert poetisiert Grausamkeit, Verfall und Tod in zu Tableaus verdichteten Bildern des Schreckens; er übersättigt und überreizt die Imagination durch die überdeterminierte sprachliche Vergegenwärtigung des Monströsen und Ekelhaften, zersetzt sinnstiftende Bezüge mit beißender Ironie und entzieht dem Leser jeglichen moralischen Boden, indem er seinen narrateur impassible unbeteiligt das Geschehen schildern lässt. Der im Roman inszenierte Sog der Gewalt bildet gleichsam das ästhetische Programm Flauberts ab: So wie Flauberts Figuren sich lustvoll dem Taumel der Grausamkeit hin‐ geben, fällt auch der Leser dem »désir de la terreur« anheim, insofern er einer‐ seits zum ästhetischen Genuss grausamer Bilder angeregt, andererseits zum imaginativen Nachvollzug und zur kreativen Ergänzung angehalten wird. Flau‐ berts ›böse‹ Schreibweise antizipiert damit bereits Techniken der Provokation, Publikumsaktivierung und -emotionalisierung, derer sich auch Mirbeau, Paso‐ lini (der sie filmisch umsetzt), Nove und Houellebecq bedienen. Die Skandal‐ trächtigkeit des Werks lässt sich demnach auf seine spezifische Vertextungsform zurückführen; seine Wirkmacht wird als ästhetisches Phänomen beschreibbar. Obgleich sich Salammbô quasi als Paradebeispiel für das Böse als ästhetische Kategorie bzw. für eine Schockästhetik lesen lässt, die das Recht auf Autonomie radikal für sich in Anspruch nimmt, vermag es der Text dennoch, Reflexionen ethischer Natur anzuregen. Flauberts Inszenierung des archaischen Karthagos <?page no="285"?> mit seinen fremdartigen, blutrünstigen Sitten und Bräuchen wird gleichsam lesbar als Kommentar zu und Reflexion über die grundlegende Barbarei nicht nur des antiken, sondern auch des modernen Menschen bzw. der Menschheit überhaupt. Flauberts ›prä-dekadente‹ Inszenierung der Thematik von Eros und Thanatos bildet auch den thematischen Schwerpunkt von Mirbeaus Roman Le Jardin des supplices. Mirbeau reflektiert den Konnex von Lust und Zerstörungstrieb, Bar‐ barei und Kultur, Wildheit und Zivilisation, indem er jene Oppositionen als di‐ alektisch miteinander verbunden betrachtet. Das Prinzip der Amalgamierung von Gegensatzpaaren, die Mirbeau sowohl bildlich, poetisch als auch konzepti‐ onell umsetzt, kondensiert sich am treffendsten in seiner bildlichen Übersetzung von Baudelaires Fleurs du mal: So wie sich die exotische Vegetation des chine‐ sischen Lustgartens vom Blut der Opfer nährt und so die üppigsten Blüten her‐ vorbringt, so wird auch der Todestrieb des Menschen als Ausdruck eines Vital‐ instinkts gedacht. Die Aggressivität von Mirbeaus Wirkungspoetik liegt damit vor allen Dingen in der Tatsache begründet, dass er etablierte Begriffe und Kon‐ zepte (z.B. den Zivilisationsbegriff etc.) ambiguiert und mit Gegensätzlichem rekonfiguriert. Indem die »Poetik des Monströsen« sowohl inhaltlich als auch formal auf kompositorischer Ebene umgesetzt wird, affirmiert sich der Text als Ort der schöpferischen und imaginativen Freiheit. Doch es manifestiert sich im Roman nicht allein das Bestreben, eine imaginative Entgrenzung durch sadis‐ tisch-lustvolle Bilder des Schrecklichen zu ermöglichen, sondern gleichsam die okzidentale Gesellschaft mit ihren perversen Paradoxien vorzuführen. Der chi‐ nesische Lustgarten, in dem sich die Handlung des dritten Romanteils abspielt, dient Mirbeau einerseits als Kontrastfolie zur europäischen Kulturperspektive, andererseits jedoch als Gegenentwurf zur ›zivilisierten‹, institutionalisierten Barbarei des hypokritischen Westens. Dass Mirbeau in der Darstellung der sa‐ distischen Folterlust der Romanfiguren (allen voran der femme fatale Clara) gleichwohl einem sozialkritischen Impetus folgt, wird insofern deutlich, als er das Werk nicht nur kämpferisch sämtlichen Regierungsinstitutionen und Machtfunktionären widmet, sondern ebenfalls durch Referenzen auf poli‐ tisch-gesellschaftliche Ereignisse der außerliterarischen Wirklichkeit aktuali‐ siert und damit einer ethisch motivierten Lektüre zugänglich macht. Wie auch Mirbeau seinen Lustgarten als in sich geschlossenes Inferno der perversen Leidenschaften präsentiert, so inszeniert Pasolini mit Referenz auf Dante seine Adaption von Sades Les 120 Journées de Sodome als Höllenfahrt in die Abgründe der menschlichen Seele. Die Sade’sche Utopie einer sich in der Transgression selbst behauptenden libertinen Imagination wird Pasolini zur Al‐ legorie des totalitären Machtstrebens bzw. der Machtausübung überhaupt. Den Schluss 285 <?page no="286"?> oftmals kritisch betrachteten Analogiebezug von Sadismus und Faschismus stellt Pasolini her, indem er die Handlung von Sades Roman in das faschistische Italien - genauer: in Mussolinis Minirepublik Salò - verlegt. Strukturell orien‐ tiert er sich dabei an dem von Sade konzipierten Modell, übersetzt und aktuali‐ siert die libertinen Gewaltorgien de Sades jedoch im Modus distanzierter Be‐ trachtung in Bilder mechanischer Grausamkeit. Dass jene Bilder in ihrer Intensität an die Grenzen des Erträglichen rühren, ist sicherlich der visuellen Unmittelbarkeit des Mediums Film geschuldet. Wie auch Flaubert durch sprach‐ liche Überzeichnung Tableaus exzessiver Gewalt kreiert, so lässt auch Pasolini kein Detail ungesagt bzw. ungesehen. In gewisser Weise potenziert sich die Wirkmacht des Films insofern, als verschiedene rezeptive Kanäle angesprochen werden: Salò wird sowohl durch narrative Episoden (die Erzählungen der »nar‐ ratrici«), die imaginativ sprachliche Bilder des Schreckens erzeugen, als auch durch unmittelbare, visuelle Bilder von Gewalt und Schmerz strukturiert. Die spezifische ›Rhetorik‹ des Films, bestehend aus Inszenierungsverfahren, die den Zuschauer als Komplizen verwickeln, rückt dabei den Akt des Sehens ins Zentrum der Reflexion. Der Rezipient erfährt sich selbst als Voyeur, gezwungen, sich mit der Rolle des lustvoll geifernden Faschistenherren zu identifizieren - eine Perspektive, die im Finale des Films durch den metareflexiven Kunstgriff, Kameraauge und Fernglas und damit auch das ›passive‹ Sehen und ›aktive‹ Zuschauen in eins fallen zu lassen, zur nervenzerreißenden Gefühlsprobe wird. Die dergestalt aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang von Sehen und Schuld aktiviert ein Zuschauerengagement ethischer Natur, zwingt ihn, sich mit dem Gesehenen kritisch auseinanderzusetzen. Denn wie aus der vorangehenden Analyse ersichtlich geworden ist, sucht Pasolini nicht allein, das sadistische Machtbegehren durch Rekonfiguration im Kontext des Faschismus punktuell zu reperspektivieren, sondern simultan eine Gegenwartskritik vorzunehmen. Im Bild der Herren, die ihre Opfer zwingen, die eigenen Exkremente zu verzehren, artikuliert sich deutlich Pasolinis Kritik am Diktat des Konsums, das sich auf sämtliche Lebensbereiche erstreckt. In dieser Perspektive werden die in Salò verstümmelten, missbrauchten Körper zum Sinnbild des modernen, dem Konsumzwang unterworfenen Menschen, und der Akt der gewaltsamen sexu‐ ellen Penetration zum Symbol der Korruption und Unterdrückung. Die einst‐ mals von Pasolini imaginierte Unschuld und Ursprünglichkeit, die sich im Ge‐ schlechtsakt manifestiert, ist in der Welt Salòs nicht mehr existent: Hier wird vielmehr die Sexualität zum Machtregulativ pervertiert. Die Sade’sche Vision der ultimativen Libertinage wird Pasolini damit zum universalen Analogon jeg‐ licher Anarchie der Macht. Die eigentümliche Überzeitlichkeit, die der Stoff durch die Inszenierung gewinnt, trägt dabei wesentlich zu der Brisanz des Films Schluss 286 <?page no="287"?> bei: Auf den Schock der Bilder folgt ein sekundärer Schock angesichts der po‐ tentiellen Wiederholbarkeit des vorgeführten Grauens, und schließlich die Er‐ kenntnis, selbst zum voyeuristischen Zeugen des Grauens geworden zu sein, um so auf eindringliche Weise mit der eigenen Betroffenheit und Verantwortung konfrontiert zu werden. Auf ähnliche Weise wie sich Pasolini den Sade’schen Stoff der 120 Journées de Sodome anverwandelt, um damit Strukturen der Anarchie der Macht sowohl im faschistischen als auch konsumistischen Italien der Gegenwart offenzulegen, inszeniert Aldo Nove, der der Autorengruppe der giovani cannibali zugerechnet wird, in Woobinda e altre storie senza lieto fine, eine Sammlung von vierzig »microracconti«, die postmoderne Kondition einer durch mediale Übersätti‐ gung herbeigeführten Abgestumpftheit. Noves Werk korrespondiert quasi ide‐ altypisch mit der Ästhetik der letteratura pulp, insofern die meist durch inter‐ mediale Referenzen auf Popkultur simulierte Alltagswelt schockartig durch Momente exzessiver Gewalt durchbrochen wird. Die in der Welt Woobindas agierenden Figuren verkörpern keine Individualität mehr, sondern stehen für emotionale Verflachung als Resultat der Substitution von Werten und Idealen durch Markenfetisch und Konsumkult. Für die erste Erzählung, Il bagno‐ schiuma, die als exemplarisch für das erzählerische Verfahren der gesamten Sammlung gelten kann, bieten sich zwei Lektüreachsen an: Einerseits legen der für die Generation Pulp repräsentative spielerische Umgang mit heterogenen Sprachmaterialien und Kultur- und Medienerzeugnissen sowie die Akzentuie‐ rung des Spektakulären durch splatter-Effekte einen nicht engagierten Rezep‐ tionsmodus nahe. Andererseits öffnet sich der Text jedoch ebenso einer ethisch motivierten Lektüre in der Hinsicht, dass der nahezu grotesk anmutende Ge‐ waltexzess als Symptom einer durch Medienüberreizung erkrankten Psyche de‐ chiffrierbar wird. Der intermediale Bezug zur Werbe- und Medienwelt gestaltet sich in diesem Sinne nicht allein als selbstbezügliches Spiel, dessen Zweck sich in sich selbst erschöpft, sondern bildet ferner den Referenzrahmen für eine Re‐ flexion über die Funktion und Macht der Medien bzw. im Falle von Il bagno‐ schiuma der Werbung. Das Durchdrungensein allen Denkens und Sprechens von medial geprägten Paradigmen (was sich überdies auch strukturell auf die Er‐ zählung auswirkt, insofern die Mikroerzählungen als Spots gedeutet werden können) erweist sich als vollständige Entleerung sinnhafter, natürlicher (Welt-)Bezüge. Auch in Ammanitis absurd-komischer Apokalypse en miniature bricht sich ein Endzeitbewusstsein Bahn, das die menschliche Existenz als Er‐ fahrung kontingenter Gewalt fasst; eine Erfahrung, die indessen die einzige Ge‐ wissheit in einer von Orientierungslosigkeit geprägten Welt zu sein scheint. Allein das blutige Spektakel der Gewalt vermag die postmoderne Anästhesie zu Schluss 287 <?page no="288"?> durchbrechen. Der Sinnenschock einer in ihrer Exzessivität absurd scheinenden Gewaltinszenierung wird zum Selbstzweck und zur Chiffre eines metapoeti‐ schen Selbstkommentars zugleich: Einerseits zeigt sich der Text als Teil jener Unterhaltungsmedien, auf die er intermedial rekurriert; andererseits kann dieser wohlkalkulierte Schockmoment jedoch gleichsam als Aufruf zu einer enga‐ gierten Reflexion über den Status eben jener Gesellschaft, die der Text überspitzt zur Rechenschaft zieht, verstanden werden. Sowohl thematisch als auch stilistisch steht das Romanwerk Michel Houel‐ lebecqs dem Aldo Noves und Niccolò Ammanitis durchaus nahe: Sie machen Anleihen in der Trivialliteratur, stellen durch zahlreiche Referenzen auf die au‐ ßerliterarische Realität jedoch einen starken Wirklichkeitsbezug her, der die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschleiert. Die besonders im Fall Hou‐ ellebecqs oftmals monierte platitude des Stils erweist sich jedoch ähnlich wie bei Nove und Ammaniti als formalästhetische Notwendigkeit, die der Banalität der Wirklichkeit bzw. des Menschen Rechnung trägt - und damit in Kongruenz zu dem von Houellebecq gezeichneten Gesellschaftsbild steht. Damit finden sich stilistische Belange in gewisser Weise dem Ausdruck einer gesamtgesellschaft‐ lichen Kritik unterstellt. Auch die von Houellebecq wohl kalkulierten Schock‐ strategien zielen damit weniger auf eine Innovation literarästhetischer Maximen - wie dies sicherlich noch für Sade, Flaubert und Mirbeau der Fall war -, sondern auf eine umfassende Leseraktivierung. So verfolgt er einerseits eine Schreib‐ weise, die maximale Nähe zum Leser aufbaut, indem er Erlebniskategorien wie die des Obszönen und des Ekels fruchtbar macht, den Rezipienten aktiv zum identifikatorischen Nachvollzug und zur emotionalen Beteiligung aufruft sowie Grenzen zwischen Fiktion und Realität aufsprengt; andererseits zwingen ab‐ rupte Diskurs- und Stillagenwechsel distanzierend zur Reflexion. Dabei bleibt der Text insofern offen für multiple Deutungsmöglichkeiten, als die durch das Spiel mit narrativen Ebenen erzielten Polyphonieeffekte eine einheitliche In‐ terpretation erschweren. Dass gerade diese Veruneindeutigung von Grenzen und die Absenz eines konkret moralisch-ethischen Bezugsrahmens im Beson‐ deren zu der eigentümlichen Wirkmacht der Texte beiträgt, hat ferner ein Ver‐ gleich mit Cormac McCarthys Roman The Road gezeigt. Obgleich die Romane Houellebecqs mit provokanten Thesen arbeiten, wird eine Deutung und Über‐ prüfung eben dieser letztendlich dem Leser überantwortet. Ziel dieser Untersuchung war es, zum einen ästhetische Strukturen aufzude‐ cken, die einer Schockpoetik zugrunde liegen, zum anderen jedoch die Funkti‐ onalität aggressiver Emotionalisierungsstrategien herauszuarbeiten, um derge‐ stalt auch Rückschlüsse auf die Einflussmacht und Bedeutung von Literatur im künstlerischen, aber auch öffentlichen Diskurs ziehen zu können. Die Werke Schluss 288 <?page no="289"?> der hier besprochenenen Autoren des 19., 20. und 21. Jahrhunderts weisen dabei ähnliche Grundstrukturen auf bzw. bedienen sich vergleichbarer Provokations‐ strategien, wie sie quasi mustergültig in Flauberts Salammbô verfolgt werden. Dabei finden sich in den vorliegenden Texten bzw. Film auch thematisch-moti‐ vische Verknüpfungspunkte: Sowohl Flaubert, als auch Mirbeau, Nove, Amma‐ niti, Pasolini und Houellebecq erzählen von der Barbarei des Menschen, künden von einer Dekadenz der Zivilisation, dessen prekärer Status damals wie heute nicht an Brisanz verliert. Gleichwohl ist jedoch der gesamtgesellschaftliche sowie der literarhistorische Kontext der hier analysierten postmodernen Werke ein anderer: Während de Sade, Flaubert und Mirbeau gleichsam einen Kampf für die Emanzipation der Kunst von moralischen Verpflichtungen und für die Entfesselung der Imagination austragen, ist der Autonomiestatus der Kunst im 20. Jahrhundert zumindest theoretisch kein Streitpunkt mehr. Und doch perpe‐ tuiert sich das Skandalritual bei Pasolini, Nove, Ammaniti und Houellebecq. Pasolini und die letteratura pulp protestieren in und durch die Kunst gegen die Konsumgesellschaft, an der diese selbst teilhaben. Dieses ambivalente Verhält‐ nis zwischen Kunst und Wirklichkeit findet sich besonders deutlich in Noves Woobinda umgesetzt: Der Text ist Symptom der Konsumgesellschaft, die er mit‐ unter problematisierend bespricht. Zwar hat Houellebecq im Unterschied zu Pasolini de facto nicht mit effektiven Zensurmaßnahmen zu kämpfen, doch scheinen beide weniger an literaturbzw. kunstbezogene, als an gesamtgesellschaftliche Problemstellen zu rühren. In aller Radikalität inszenieren beide den zur Tauschware verkommenen menschlichen Körper, der sowohl im Italien der 60er und 70er Jahre als auch in der westlichen, kapitalistischen Gesellschaft der Gegenwart seinen inhärent positiven Eigen‐ wert verliert. Sowohl Pasolini als auch Houellebecq führen dabei den Rezipien‐ ten nicht nur an die Grenzen des Ästhetischen, sondern auch an die der refle‐ xiven, moralisch-ethischen Selbstvergewisserung. Beide zeichnen Bilder, die - wenn sie einmal (vor dem geistigen Auge) gesehen wurden - in ihrer Drastik den Rezipienten sinnlich überfordern. Doch ist es vielleicht gerade diese beson‐ dere Erfahrungsqualität, die eine reflexive Verarbeitung des Gesehenen bzw. Imaginierten geradewegs erfordert. Houellebecqs provokante Kritik richtet sich allerdings nicht allein gegen bürgerliche Moral und/ oder das Konsumprimat der Gegenwart, sondern gegen die Gesellschaft als Ganzes. Dabei verwandelt er sich zwar Spielarten der postmodernen Literatur an - besonders in La Carte et le Territoire -, letztendlich erteilt er Dekonstruktivismus und selbstzweckhaftem (Sprach-)Spiel jedoch eine Absage. Vielmehr beanspruchen die Romane Houel‐ lebecqs wieder das Recht für sich, eine Aussage über die außerliterarische Wirk‐ Schluss 289 <?page no="290"?> lichkeit zu treffen und die Literatur damit zu einem Raum der (ethischen) Re‐ flexion werden zu lassen. Wie die Untersuchung paradigmatischer Werke in diachroner Perspektive erwiesen hat, bedienen sich die hier diskutierten Autoren ähnlicher Strategien: Zum einen zielt die Narration in den besprochenen Werken auf Übersättigung. Sowohl bei Flaubert, Mirbeau, Pasolini, Nove, Ammaniti als auch bei Houelle‐ becq richtet sich der sezierende Blick der Wahrnehmungsinstanz auf grausame Details, die in ihrer Akkumulation Bilder erzeugen, die den Rezipienten zu überfordern drohen. Indem der Leser bzw. Zuschauer dergestalt zur voyeuris‐ tischen Komplizenschaft gezwungen wird, stellt der Text eine (unerwünschte) Nähe her - ein Verfahren, das Pasolini auf die Spitze treibt. In gleichem Maß nähestiftend wirken das obszöne Zeichen und Ekelmotiviken. Im Unterschied zu sprachlichen Zeichen der Grausamkeit, die erst durch ihre Anhäufung an Wirkmacht gewinnen, verfügen obszöne Zeichen und Ekelmotive bereits im Einzelnen über einen kritischen Eigenwert. Wie Sades perverse Geste soll das Obszöne bzw. das Ekelerregende den Rezipienten unmittelbar treffen. Besonders Nove, Ammaniti und Houellebecq überschreiten dabei die Grenze zum splatter und zur Pornographie. Im Unterschied zum Ekelobjekt ist das ›Obszöne‹ jedoch diffuser: In Ab‐ hängigkeit vom Kontext kann auch ein normalerweise unanstößiges Zeichen zum Skandalon werden. Wie am Beispiel Flauberts vorgeführt wurde, können durch semantische Rekonfigurationen neue, ›obszöne‹ Bilder des Schreckens kreiert werden, so z.B. durch die Kombination eigentlich disparater Bildbereiche wie dem der Grausamkeit mit dem der Lust. Sei dies bei Sade, Pasolini, Flaubert oder Mirbeau: Sie alle veranschaulichen die Lust an der Grausamkeit bzw. die Grausamkeit als Lust. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang jedoch sicherlich eine spezifische Bildkonfiguration, nämlich die Kombination von Grausamkeit und Kunst. Sowohl Mirbeau als auch Houellebecq (in La Carte et le Territoire) bedienen sich einer Rhetorik der Gewalt als Kunst, die als Variante von Bohrers Rhetorik des Bösen als des Schönen gelten kann. Doch ist diesem Bild gleichwohl eine metapoetische Qualität zu eigen, denn im Grunde reflek‐ tiert es die Verfahren des Textes: Wie die kunstvolle Folter in Le Jardin des sup‐ plices oder der Mord à la Jackson Pollock in La Carte et le Territoire sind auch die hier untersuchten literarischen Texte (bzw. der Film) kunstvolle Arrange‐ ments der Grausamkeit, wahre Blumen des Bösen. Indem verschiedene Semantiken miteinander verknüpft werden, werden sie auch gleichsam veruneindeutigt. Die dergestalt effektuierte Ambiguierung, gar Destruktion tradierter Begriffskonzepte zielt letztendlich auf die Irritation des Rezipienten ab. Diese Veruneindeutigungsstrategien betreffen dabei allerdings Schluss 290 <?page no="291"?> nicht nur die Ebene der Semantik, sondern auch die des discours. Besonders Mirbeau, Nove, Ammaniti und Houellebecq nutzen Ambiguierungsverfahren auch als Kompositionsprinzip. Dabei handelt es sich weniger um Kombinati‐ onen von verschiedenen Semantiken als von Stilen, Höhenlagen und Diskursen. Es werden dadurch eigentümliche Polyphonieeffekte erzeugt, die eine Deutung des Textes erschweren und ein hohes Maß an Beteiligung seitens des Rezip‐ ienten erfordern. Gerade diese - um es mit den Worten Meckes zu sagen - »In‐ differenz des Stils« unterminiert etwaige Lesererwartungen und zwingt derge‐ stalt zur kritisch-distanzierten Reflexion. Eine besondere Form des Engagements, nämlich ein emotionales, incentiviert jedoch auch der »Stil der Indifferenz«, genauer: das unpersönliche Erzählen. Vor allen Dingen Flaubert, Pasolini und Houellebecq erfordern ein hohes Maß an ergänzender Beteiligung, indem sie sich einer dem Gegenstand emotional angemessenen Darstellung verweigern. Die in dieser Arbeit untersuchten Werke stellen den Leser bzw. Zuschauer vor eine besondere Herausforderung: Es geht darum, sich einer extremen Lek‐ türeerfahrung zu stellen und sich - der drohenden sinnlich-imaginativen Über‐ wältigung zum Trotz - für eine kritische Reflexion des ›Erlebten‹ zu öffnen. In diesem Sinne wird die Schockästhetik zu einem Extremfall des Erhabenen: Der Geist sucht die überwältigende sinnliche Erfahrung intellektuell zu bezwingen und - darin liegt sicherlich auch ein besonderer Reiz - sich ihr als überlegen zu beweisen. Wie in der vorliegenden Studie gezeigt wurde, ist jedoch gerade dieses Moment der schockartigen Sinnenüberwältigung eine rezeptionsästhetische Notwendigkeit, die überhaupt erst zu einer adäquaten Rezeption befähigt, in‐ sofern sie den Leser bzw. Zuschauer für eine nicht allein intellektuelle, sondern vor allen Dingen auch emotional engagierte Lektüre sensibilisiert. Die Kunst macht dem Rezipienten damit ein besonderes Angebot: nämlich sich selbst mit seinen Empfindungen zu erfahren, sich bewegen zu lassen, aber auch - durch ästhetische Erfahrung - ein kritisches Bewusstsein für den Menschen und die Welt, in der er lebt, zu entwickeln. Schluss 291 <?page no="292"?> Bibliographie A. P RIMÄRLITERATUR A M MA N I T I , Niccolò/ B R A N C A C C I O , Luisa: Seratina. In: Gioventù cannibale. Torino: Einaudi 1996, S. 5-44. A MMA N I T I , Niccolò: L’ultimo capodanno dell’umanità. In: ders.: Fango. Torino: Einaudi 2014, S. 1-154. B A U D E L AI R E , Charles: Les Fleurs du mal. Édition établie par John E. Jackson. Préface d’Yves Bonnefoy. Paris: Le Livre de Poche Classiques 1999 [1857]. B O I L E A U , Nicolas: L’Art poétique. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Au‐ gust Buck. München: Fink 1970. B R E T O N , André: Manifestes du surréalisme. Paris: Jean-Jacques Pauvert 1962. D O U B R O V S K Y , Serge: Fils. Paris: Gallimard 2001. 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