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Das Rauschen unter der Choreographie

Überlegungen zu "Stil"

0114
2019
978-3-8233-9233-0
978-3-8233-8233-1
Gunter Narr Verlag 
Katja Schneider

Stil ist beschreibbar als Modus des Bezugnehmens auf die Welt, als relationale Funktion, die Körper und Bewegungen in ihren historischen, gesellschaftlichen und (kultur-)politischen Situierungen sichtbar macht. Die Tanzwissenschaftlerin Laurence Louppe nannte in ihrer Poetik des zeitgenössischen Tanzes Stil den Subtext, den wahren Text, »den man unter der choreographischen Sprache rauschen hört«. Die Beiträge des Bandes untersuchen, wie sich »Stil« im Tanz und auf der Bühne manifestiert und welche Funktion der heute im Alltagsleben, in Mode und Design allgegenwärtige Begriff im Diskurs über Tanz und Theater übernimmt.

<?page no="0"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 52 Katja Schneider (Hrsg.) Das Rauschen unter der Choreographie Überlegungen zu »Stil« <?page no="1"?> Das Rauschen unter der Choreographie <?page no="2"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 52 begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) <?page no="3"?> Katja Schneider (Hrsg.) Das Rauschen unter der Choreographie Überlegungen zu »Stil« <?page no="4"?> © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. CPI books GmbH, Leck Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de ISSN 0935-0012 ISBN 978-3-8233-8233-1 Umschlagabbildung: Claudia Ortiz Arraiza in BoD von Richard Siegal / Ballet of Difference (Ausschnitt) | Foto: Ray Demski Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Projekt wird ermöglicht durch den Bayerischen Landesverband für zeitgenössischen Tanz (BLZT) aus Mitteln des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst. Access to Dance ist ein Programm zur Förderung von zeitgenössischem Tanz, das von einem Zusammenschluss verschiedener Münchner Tanzorganisationen und Institutionen - der Tanzbasis e. V. - initiiert und ausgeführt wird. <?page no="5"?> 7 13 27 43 53 67 77 89 105 123 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Huschka Stil: Ein indifferentes Merkmal und die Arbeit an Erkenntnis . . . . . . . . . . . . Wolf-Dieter Ernst Stil, Technik und Risiko - eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patricia Stöckemann und Thomas Betz Stilfragen? . Ein Gespräch über Rudolf von Laban, Mary Wigman und Kurt Jooss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evelyn Annuß Bewegungsals Regierungskunst: Zum »tänzerischen Stil« Hanns Niedecken-Gebhards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Jeschke und Rainer Krenstetter Re: George Balanchine - Stil und Divertissement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christina Thurner »my dance! my style! « Self-Fashioning, Selbstreflexion und Stil im zeitgenössischen Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Schneider »what if a body moved like this through the world? « Zu Stil und zeitgenössischem Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nic Leonhardt Street Dance Stil & Style . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="7"?> 1 Laurence Louppe: Poetik des zeitgenössischen Tanzes [frz. Original 1997]. Übersetzt aus dem Französischen von Frank Weigand, Bielefeld 2009, S. 114. 2 Ebd., S. 111. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 120. Einleitung Unter der choreographischen Sprache höre man den wahren Text rauschen, den Subtext, den die französische, 2012 verstorbene Kritikerin und Tanzwissen‐ schaftlerin Laurence Louppe als »Stil« bezeichnete. 1 Doch geht sie in dem mit »Stile« überschriebenen Kapitel in ihrer Poetik des zeitgenössischen Tanzes we‐ niger auf Roland Barthes’ »Rauschen der Sprache« ein als vielmehr auf die Ef‐ fort-Theorie Rudolf von Labans, die sie als Modus des Bezugnehmens auf die Welt erläutert. Stil, für Louppe, manifestiere sich als etwas Unfassbares, »Vages und Ungreifbares« 2 , als etwas, »was der Zuschauer am unmittelbarsten wahr‐ nimmt, was am schnellsten auf seine Sensibilität einwirkt. […] Er begnügt sich damit, die Wege zu bestimmen, durch die wir den ›Kern‹ der Bewegung erfassen werden.« 3 Stil, so Louppe weiter, trägt »als Gesamtheit der Beziehungs-Dispo‐ sitionen des Körpers die gesamte Botschaft des Tanzes in sich, in einem Infra-Text, dessen Lektüre berücksichtigt werden muss.« 4 Louppes dringliche Formulierung motivierte dazu, über einen Begriff nach‐ zudenken, der weder in der Theaternoch in der Tanzwissenschaft aktuell eine bedeutende Rolle spielt. Ganz im Gegenteil zu seiner Verwendung im Bereich der Lebensformen und Alltagsgestaltung, die seit Mitte der 1980er Jahre zu be‐ <?page no="8"?> 5 Karla Fohrbeck: »Lebensformen, Live-Style, Stil: zwischen Kunst und Kommerz«, in: Bazon Brock, Hans Ulrich Reck, Internationales Design Zentrum Berlin (Hg.): Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung, Design, Architektur, Mode, Köln 1986, S. 71-100. Sie beschreibt, wie »Stil« als Mittel der biogra‐ phischen wie der kollektiven Identitätsbildung (mit Anleihen aus dem Feld des Thea‐ ters) Konzepte des Individualismus ablöst: »Noch bis vor zwei oder drei Jahren häuften sich in meiner Sammlung von Werbung und Anzeigen - sogar denen aus der Autoin‐ dustrie - die Leitbegriffe der siebziger Jahre nach dem Motto: ›Individualismus für je‐ dermann‹ […] Mitte der achtziger Jahre hatte sich der Tenor geändert. An den Schlag‐ worten der Werbung erkennt man jetzt: Gruppenbildung ist wieder gefragt. Heute geht es um Grundbegriffe wie Lebensstil, Live-Style, Stil, Identität […].«, S. 71 [Hervorheb. im Original]. 6 Dazu eine Beobachtung, ebenfalls aus der Werbung: Im Jahr 2017 warb ein Londoner Friseur mit dem Bild eines Paares - sie mit angesagtem fransigem Pony und Bob, er kurz geschoren und mit Vollbart - und dem Schriftzug: »Crazy Love? Crazy in Love? Doesn’t Matter. Style Matters«. 7 Wolfgang Brückle: [Artikel »Stil«.] »II. Stil (kunstwissenschaftlich)«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 5: Postmoderne - Synästhesie, Stuttgart/ Weimar 2010, S. S. 641-688, hier S. 688. 8 Vgl. beispielsweise seit 2000: Eva-Maria Jakobs (Hg.): Perspektiven auf Stil, Tübingen 2001; Irmhild Barz (Hg.): Gotthard Lerchner. Schriften zum Stil, Leipzig 2002; Dt. Ges. für Semiotik (Hg.): Stil als Zeichen. Funktionen, Brüche, Inszenierungen, Frankfurt (Oder) 2006; Karl-Heinz Bohrer: Großer Stil. Form und Formlosigkeit in der Moderne, München 2007; Klaus Robering: »Stil« in den Wissenschaften, Münster 2007; Ulla Fix: Stil - ein sprachliches und soziales Phänomen. Beiträge zur Stilistik, Berlin 2007; Matthias Rothe: Stil, Stilbruch, Tabu. Stilerfahrung nach der Rhetorik. Eine Bilanz, Berlin 2008; Martin Stern: Stil-Kulturen. Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken, Bielefeld 2010; Detlev Lüders: Stil und Welt, Würzburg 2011. 9 Geraldine Morris: Frederick Ashton’s Ballets: Style, Performance, Choreography, Binsted 2012. obachten ist. 5 Dieser Trend inflationärer Benutzung scheint ungebrochen. 6 Hin‐ gegen beziehungsweise zumindest scheint »die ›große Erzählung‹ der stilge‐ schichtlichen Historiographie« am Ende zu sein, wie Wolfgang Brückle konstatiert. 7 Entsprechend sind Publikationen, die sich generell mit Stil be‐ schäftigen, in den letzten Jahren nicht sehr zahlreich. 8 Tanzspezifisch widmet sich neben Louppe noch Geraldine Morris explizit dem Stil, und zwar dem des britischen Choreographen Frederick Ashton 9 . In der Theaterwissenschaft ist der Stil-Begriff ein eher heikler. Nikolaus Müller-Schöll fasst in seinem Eintrag »Stil« die Problematik zusammen: »Der Bestimmung von St. wirkt praktisch entgegen, dass an jeder Inszenierung viele, einander häufig wechselseitig in Frage stellenden Akteure beteiligt sind. Da‐ neben stößt jeder solche Versuch auf den Zufall und die sog. ›äußeren‹ Umstände 8 Einleitung <?page no="9"?> 10 Nikolaus Müller-Schöll: [Artikel] »Stil«, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, 2., erw. u. aktualis. Auflage, Stuttgart/ Weimar 2014, S. 339-342, hier S. 341. 11 Ebd. 12 Ebd. im Theater.« 10 Als Ausweg erscheint hier der Versuch, mit Roland Barthes’ »drittem Sinn« zu argumentieren, so Müller-Schöll, und dem Wandel des The‐ aters vom Schauspieler zum Performer Rechnung zu tragen: Im Rahmen der neuen Aufgabe eines Tuns im Beisein von Gästen oder Teilnehmern (statt eines Vorstellens oder Spielens vor Publikum) werden traditionelle Formen der Stilbildung in der Gestaltung einer Rolle, eines Charakter etc. durch solche ersetzt, die an die je singuläre Besonderheit des einzelnen Performers gebunden sind, etwa an seinen spezifischen Tonfall, seine Stimmlage, seine Physiognomie, seine persönlichen Phantasmen und Einschränkungen. 11 An die »Singularität des Darstellers« 12 ist eine solche Stil-Skizzierung angela‐ gert. Welche weiteren Optionen vorstellbar sind, Stil für zeitgenössisches The‐ ater und zeitgenössischen Tanz produktiv zu machen - darum geht es in diesem Band. Wir zielen nicht in erster Linie auf eine neue Bestimmung von Stil (schon gar nicht eine abschließende), sondern wollen Stil als Suchfigur entfalten. Für unterschiedliche Gegenstände und für unterschiedliche historische Phänomene mit dem Zugriff von heute. Zu den Beiträgen: »Wer sich heute (noch) mit dem Stilbegriff beschäftigt«, zitiert Sabine Huschka in ihrem Beitrag »Stil: Ein indifferentes Merkmal und die Arbeit an Erkenntnis« den Literaturwissenschaftler K. Ludwig Pfeiffer, »gerät schnell in einen eigen‐ tümlichen Schwebezustand«. Mit ihm bestimmt Huschka Stil als schwer fass‐ baren Begriff und ästhetischen Denkraum und zeichnet mit Laurence Louppe Rudolf von Labans Effort-Theorie nach, in der die zentrale Frage nach der Sicht‐ barkeit von Stil verhandelt wird. Hier macht Huschka - am Beginn des Bandes - deutlich, dass Laban Stil als Wissen um Bewegungsqualitäten konzipiert. Weiter zeigt sie, dass Stile an Umbruchstellen wahrnehmbar werden und führt das an Auguste Vestris aus, einem markanten Tänzer des späten 18. Jahrhunderts, der von tradierten Vorstellungen, wie zu tanzen sei, abwich und die normativen Grenzen der Rollenfächer verschwimmen ließ. Da dieser Rahmen für heutige Choreograph*innen kaum mehr eine Rolle spielt, so Huschka, hat der Stilbegriff an Bedeutung verloren, zugunsten hybrider Bewegungs- und Tanztechniken 9 Einleitung <?page no="10"?> und der kritischen Reflexion biopolitischer und theatraler Vorgaben für den tanzenden Körper. Nicht nur im Tanz ist der Bedeutungsverlust des generischen Stils zu diagnos‐ tizieren. Auch in bildender Kunst, Schauspiel und Architektur wandelt sich der Stilbegriff. Stil geriet in eine Krise, die mit dem Schwund der Legitimation von künstlerischer Tradition und tradiertem Handwerk zusammen gesehen werden muss. An die Stelle des generischen Stils tritt ein Personalstil. Dem grundle‐ genden Zusammenhang von Individualisierung und Technik geht Wolf-Dieter Ernst im Rückgriff auf den Soziologen Ulrich Beck in seinem Beitrag »Stil, Technik und Risiko - eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze« nach. In den Fokus rücken Theaterprojekte wie Disabled Theatre von Jérôme Bel und die Dombauarchitektur sowie Fragen nach den gesellschaftlichen Zusam‐ menhängen, welche die Entwicklung technischer und stilistischer Merkmale bestimmen, ermöglichen oder verhindern sowie nach den Regeln, die Stil zu- und umschreiben oder auch verweigern. Am Stadttheater Osnabrück kamen in den vergangenen Jahren Rekonstrukti‐ onen von Mary Wigmans Le Sacre du Printemps und von ihren zwei Totentänzen heraus. Maßgeblich daran beteiligt war die Tanzwissenschaftlerin und Drama‐ turgin Patricia Stöckemann, die im Gespräch mit Thomas Betz Stil im Aus‐ druckstanz diskutiert. Der lässt sich trotz Individualitätspostulat dieses »Neuen Tanzes« schwer fassen. Technisch und was die Qualitäten anlangt, hat Rudolf von Laban mit seiner Raumharmonielehre (Choreutik) und seiner Ausdrucks‐ lehre (Eukinetik) ein umfassendes System von Bewegung(smöglichkeiten) for‐ muliert, auf dessen Basis dann zahlreiche Tanzschaffende der Epoche arbeiteten, speziell Labans Schüler*innen und Mitarbeiter*innen, zu deren prominentesten Mary Wigman und Kurt Jooss zählen. Evelyn Annuß untersucht in ihrem Beitrag »Bewegungsals Regierungskunst: Zum ›tänzerischen Stil‹ Hanns Niedecken-Gebhards« eine bewegungschorische Avantgarde-Ästhetik in ihrem grundlegenden Wandel von der Führungspraktik (im Thingspiel) zur Selbstlenkungspraktik (im ornamentalen Stadionspiel). Die propagandistische Form tänzerischen Regierens reperspektiviert Annuß als Stil‐ frage der Tanzproganda biopolitisch, »um die gesellschaftlichen Tiefendimen‐ sionen einer Bewegungskunst der Massen der Zwischenkriegszeit zu erkunden und die grundlegenden Kräfteverschiebungen zu skizzieren«. Die, so Annuß’ These, auf zeitgenössische Regierungstechniken im Foucault’schen Sinn ver‐ weisen, auf deren Dispositive, Wandel und Fortleben. 10 Einleitung <?page no="11"?> In einem Oral-History-Projekt fokussieren Claudia Jeschke und der Tänzer Rainer Krenstetter in »Re: George Balanchine - Stil und Divertissement« drei Männer-Variationen in Werken des 1983 verstorbenen Choreographen. Die für die Lecture Performance, die für diese Publikation modifiziert verschriftlicht wurde, untersuchten Ausschnitte aus Divertimento No. 15 von 1956, Serenade (1935) und Stars and Stripes (1958) werden hinsichtlich des von Zeitzeug*innen konstatierten »Balanchine Style« im Hinblick auf Balanchines Umgang mit der Musik, mit dem Schrittmaterial des Ballettrepertoires und mit dem Raum be‐ fragt. Identifiziert wird ein »Kinesic Style«. »Der Balanchine-Stil«, so das Fazit, »spiegelt demnach weniger eine Person oder Technik oder Ästhetik, als dass er vielmehr ein Register von Potentialitäten offeriert - Möglichkeiten von krea‐ tiver Bewegung, von künstlerischer Repräsentation und von Interpretation.« Christina Thurner nimmt in ihrem Beitrag »›my dance! my style! ‹ Selbstfash‐ ioning, Selbstreflexion und Stil im zeitgenössischen Tanz« in den Blick, wie Stil zwischen einem ›Ich‹ und ›Welt‹ vermittelt, indem auf kulturelle Identitäten referiert wird und diese inszeniert werden. Die Exklamation »my dance! my style! « bringt demnach eine relationale, referentielle und dynamische Konstel‐ lation auf den Punkt, die von der zeitgenössischen Tanzkunst wiederum aufge‐ griffen wird, um so Fragen nach dem ›Ich‹, dem ›Eigenen‹ und der ›Welt‹, den ›Identitäten‹, der ›Wahrnehmung‹, dem ›Tanz‹ usw. ästhetisch zu reflektieren. Am Beispiel des Solos Private: Wear a mask when you talk to me von Alexandra Bachzetsis wird verdeutlicht, wie Stil heute als fließende, historisch-, gesell‐ schaftlich- und kulturell-referentielle multiple Situierung aufzufassen ist. Katja Schneider stellt die Frage, wie Stil konturiert werden kann, um ihn für den zeitgenössischen Tanz produktiv zu machen. Im Fokus ihres Beitrags »›what if a body moved like this through the world? ‹ Zu Stil und zeitgenössi‐ schem Tanz« steht die Überlegung, dass der Rezeption von Stil eine Einübung in kulturelle Normierungen, in kulturelles Wissen, in Konventionen und kog‐ nitive wie sensuelle Wahrnehmungsweisen vorausgeht. An Beispielen von Rai‐ mund Hoghe, Jérôme Bel, Trajal Harrell und Richard Siegal zeigt sie, wie Stil‐ phänomene Kontextwissen generieren, funktional verknüpfen, manifestieren und für die Rezeption triggern. Ziel ist es zu skizzieren, dass Stil oder besser das Stilistische sich nicht auf einen formalen Stil reduzieren lässt, sondern den Blick lenkt auf die Artikulation und Wahrnehmung kultureller Bedingungen und Im‐ plikationen. Im letzten Kapitel wird Stil gedacht erstens als eine Art und Weise des Tuns, manifestiert in Praktiken und Techniken, zweitens als eine Art und Weise des Zeigens, des Sichtbarmachens, vermittelt durch Bilder, Merkmale, Markie‐ 11 Einleitung <?page no="12"?> rungen sowie drittens eine Art und Weise des Verhandelns über die Arten und Weisen von Tun und Zeigen, eine diskursive Ebene, die ideologisch, ästhetisch, politisch etc. motiviert sein kann: »Street Dance Stil & Style« ist der Beitrag von Nic Leonhardt gewidmet. Wie, wodurch, worüber? Verstanden als Modi von Stil wird dies diskutiert am Beispiel des Videos A-Z of Dance, an HipHop-Mode und -Marken sowie an Hiplet™. Im Falle der Trias von Street Dance, Stil und Style, so der Befund, sind gerade deren unabdingbarer Bezug aufeinander sowie die Mesalliance von scheinbaren Paradoxa Garant für ihre Beständigkeit. Mein Dank gilt allen Beiträger*innen des vorliegenden Bandes, Prof. Dr. Chris‐ topher B. Balme für die Aufnahme in die Reihe Forum Modernes Theater sowie Thomas Betz für redaktionelle Mitarbeit. Dank auch an den Bayerischen Landesverband für zeitgenössischen Tanz (BLZT) für die Unterstützung dieser Publikation. Der vorliegenden Publikation ging das Symposium Das Rauschen unter der Choreographie. Überlegungen zu »Stil« voraus, das vom 12. bis 14. Mai 2017 im Theater HochX in München stattfand, in Kooperation von Access to Dance und DANCE 2017, Festival für zeitgenössischen Tanz der Landeshauptstadt Mün‐ chen. Katja Schneider München, im August 2018 12 Einleitung <?page no="13"?> 1 Georges-Louis Leclerc (später Comte de Buffon): Discours sur le style (1753), übersetzt nach der von C. E. Pickford besorgten Faksimile-Ausgabe der zwölften Auflage von Buffon durch Hull 1978, S. IV; zitiert nach Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006, S. 185. Darin das Kapitel »Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs« (S. 159-209). 2 Rudolf Laban: The Mastery of Movement on the Stage, London 1950; The Mastery of Movement. Second edition. Revised and enlarged by Lisa Ullmann, London 1960; dt. Ausgabe: Die Kunst der Bewegung. Aus dem Englischen von Karin Vial und Claude Perrottet, Wilhelmshaven 1988, S. 91. Stil: Ein indifferentes Merkmal und die Arbeit an Erkenntnis Sabine Huschka Der Stil ist nichts anderes als die Anordnung und die Bewegung, die man in seine Gedanken legt. (Buffon) 1 In seinem Spätwerk The Mastery of Movement legt Rudolf Laban nachhaltig ein bewegungstheoretisches Denken über die Tragweite von Stil vor. Es besagt: Daß Bewegung unter ästhetischen und praktischen Gesichtspunkten gesehen werden kann und man von diesem oder jenem Tennisspieler, Eisläufer, sonstigem Sportler oder Filmstar sagt, er habe ›Stil‹, beruht häufig auf winzigen Details einer Bewe‐ gungsgewohnheit. Der winzige Unterschied zwischen einer schöpfenden oder streu‐ enden Fußstellung etwa vermag Einfluß darauf zu haben, ob in den Augen der Zu‐ schauer ein Superathlet oder Filmstar ›Stil‹ hat oder nicht. […] Ein darstellender Künstler indes will und muß mehr wiedergeben können als typische Stile, das typisch Schöne. 2 Veranschlagt wird ein Modus der Überschreitung und eine qualitative ›Winzig‐ keit‹, die dem tänzerischen Stil bewegungsästhetisch zu eigen ist und ihn auf‐ fällig macht. Diesem Stil wohnt etwas Indifferentes bei, denn ihm ist nur schwer - etwa über klare ästhetische Merkmale - beizukommen. Und doch steht er dem Tänzer und mit ihm der Kunst als Aufgabe vor. <?page no="14"?> 3 Karl Heinz Bohrer: Großer Stil. Form und Formlosigkeit in der Moderne, München 2007, S. 14. Bohrer zitiert Goethes Aufsatz »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil«, der 1789 im Teutschen Merkur erschien. Im Zusammenhang heißt es: »Wie die einfache Nachahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen Gegenwart beruhet, die Manier eine Erscheinung mit einem leichten, fähigen Gemüt ergreift, so ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.« Zitiert nach Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Re‐ flexionen. Hamburger Ausgabe. Bd. 12. Sechste Auflage, Hamburg 1967, S. 30-34, hier S. 32. 4 Buffon 1753 (wie Anm. 1), zitiert nach Gumbrecht 2006, S. 185. Zeitgenössische Ästhetikdiskurse wie der von Karl Heinz Bohrer betonen vergleichbar ebenso einen Modus der Überschreitung, über den Stil als trans‐ zendierende Leistung von Leben und Alltag erkennbar wird: Stil ist […] als eine Überhöhung des Alltäglich-Selbstverständlichen angesehen worden. Ob man nun vom antiken Terminus ›stilus‹ spricht oder mit Buffons be‐ rühmtem Satz davon, daß der Stil der Mensch selbst sei, immer geht es um die Fähigkeit zur Objektivierung von bloß tautologisch Gefühltem: Stilvermögen ist dann eine intellektuell-reflexive Fähigkeit, die qua eines spezifischen Ausdrucks bezüglich einer Sache ihren Adressaten besonders anspricht. Die Sache also ist die nicht zu überse‐ hende Ursache eines jeweiligen Stils, so wie es Goethe 1789 […] formuliert hat: […] Stil beruhe ›auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis‹. 3 Die Perspektiven, in welchen Grundfesten Stil sich verankert zeigt und welche Dispositionen sein dem Allgemeinen dienender Ausdruck bildet, prägen seit dem 18. Jahrhundert das ästhetische Denken über Stil. Ausgehend von Buffon und seiner am 25. August 1753 gehaltenen Rede Discours sur le style zur Auf‐ nahme in die Académie Française setzt ein Stildiskurs ein, der - eingebettet in ein Denken über einen guten Schreibstil und die Aufgabe eines Autors - das Subjekt als erkenntnistragende Instanz ins Zentrum rückt. Allein die gut geschriebenen Werke werden die Nachwelt erreichen; die Vielfalt der Kenntnisse, die Einzigartigkeit der dargestellten Ereignisse, ja selbst der Innovations‐ charakter von Entdeckungen - all das sind keine Garantien für die Unsterblichkeit; […] der Stil aber ist der Mensch selbst; den Stil kann man ihm nicht nehmen, er kann sich nicht abheben und nicht verändern: wenn er hoch, edel und erhaben ist, dann wird der Autor zu allen Zeiten bewundert werden; denn es gibt nur eine dauerhafte, ja ewige Wahrheit. 4 Stil zeigt sich als ein erkenntnisgeleitetes Ausdrucksvermögen, das mit einem Bewegungsakt der Überschreitung einer rein subjektiven Äußerung hin zum 14 Sabine Huschka <?page no="15"?> 5 Ebd. 6 Friedrich Nietzsche: »Menschliches, Allzumenschliches«, in: ders.: Sämtliche Werke in 15 Bänden, hg. v. G. Colli und M. Montinari, Bd. 2, München 1980, S. 596. 7 Bohrer 2007 (wie Anm. 3), S. 233. 8 Hans-Martin Gauger: »Zur Frage des Stils«, in: Willi Erzgräber und Hans-Martin Gauger (Hg.): Stilfragen, Tübingen 1992, S. 9-27, hier S. 18. 9 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil: Geschichten und Funk‐ tionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt am Main 1986 (Unter Mitarbeit von Armin Biermann, Thomas Müller, Barbara Ullrich); vgl. Willi Erzgräber und Hans-Martin Gauger (Hg.): Stilfragen, Tübingen 1992; vgl. Gerhard Stickel (Hg.): Stilfragen, Berlin u. a. 1995. Allgemeinen übereinkommt. Denn, so Buffon weiter: »Es ist die Macht des Ge‐ nies, sich alle allgemeinen und besonderen Sinnstrukturen (idées) unter ihrem wahren Blickpunkt vorzustellen; nur aufgrund eines besonders feinen Unter‐ scheidungsvermögens wird man sterile Gedanken von fruchtbaren Ideen un‐ terscheiden können.« 5 Es bleibt ein »feines Unterscheidungsvermögen«, mit dem ein Künstler, der hier als Genie vorstellig wird, zur Ausbildung von Stil umzugehen versteht - eine Winzigkeit, die jenen qualitativen Unterschied aus‐ macht, den Laban noch 200 Jahre später begrifflich als Kennzeichen eines tän‐ zerischen Stils anführt. Karl Heinz Bohrer unterdessen fokussiert in seinen von Friedrich Nietzsche ausgehenden Abhandlungen Stil als das menschliche Vermögen zu einem be‐ sonderen Ausdrucksverhalten, dem, wie Bohrer über Nietzsches Entwurf zum ›Großen Stil‹ 6 ausführt, etwas Ungeheures beiwohnt. Denn beim Stil sei stets die Rede vom »Erhabenen, dessen ästhetische Struktur bekanntlich gefaßt ist als eine vom Ungeheuren oder Schrecken gebrochene Schönheit«. 7 Auf diesen mitgeführten Aspekt von Stil wird zurückzukommen sein. Stil als indifferentes Merkmal: Vagheit und Chance des Stilbegriffs Gleichwohl Stil begriffsgeschichtlich im Lateinischen stilus als ›Schreibart‹ ver‐ ankert ist, der verwandt mit stimulus, stimulare, stinguere, instinguere zugleich auf »etwas Pflanzliches, einen Stengel oder einen Stiel« 8 verweist, findet dieses etymologische Wissen keinen erkenntnistragenden Widerhall in kunstästheti‐ schen Reflexionen. So ist in den letzten Jahren eine literatur-, kultur- und vor allem sozialwissenschaftliche Renaissance der (historischen und philosophi‐ schen) Bedeutungen und Funktionen von Stil zu verzeichnen, 9 deren Untersu‐ chungen gewissermaßen als methodischen Einsatzpunkt ihrer Analysen zu‐ meist auf die Vagheit und Widersprüchlichkeit des Begriffs rekurrieren: »Wer sich heute (noch) mit dem Stilbegriff beschäftigt, gerät schnell in einen eigen‐ 15 Stil: Ein indifferentes Merkmal und die Arbeit an Erkenntnis <?page no="16"?> 10 K. Ludwig Pfeiffer: »Produktive Labilität. Funktionen des Stilbegriffs«, in: Gumbrecht/ Pfeiffer (Hg.) 1986 (wie Anm. 9), S. 685-725, hier S. 693. 11 Ebd., S. 694. 12 Ebd., S. 696. 13 Ebd., S. 693. 14 Laurence Louppe: Poetik des zeitgenössischen Tanzes. Übersetzt aus dem Französischen von Frank Weigand, Bielefeld 2009, S. 111. tümlichen Schwebezustand«, betont hierzu K. Ludwig Pfeiffer und reflektiert: »Dem Stilbegriff eignet eine - vielleicht - untilgbare Vagheit; aber diese Vagheit besitzt systematischen Charakter.« 10 Pfeiffers kursorische, sprach- und litera‐ turtheoretisch ausgerichtete Untersuchung zur Funktionsgeschichte des Stilbe‐ griffs fahndet genau jener systematischen Charakterisierung des Stils als vagem Begriff nach und kehrt die impliziten Machtdiskurse hervor, die sich in den Ver‐ wendungen und Verwerfungen des Stilbegriffs abzeichnen. Pfeiffer folgt hierzu der These, »daß der Sprachstilbegriff stets als Suchbegriff für die Kontrollmög‐ lichkeiten oder doch zumindest als Erfassungsraster für die Implikationen von Sprachhandlungen fungiert« 11 und dass »für alle Virulenzbereiche des Stilbe‐ griffs gilt, […]: der Stilbegriff zielt nicht vornehmlich auf die Erfassung ein‐ grenzbarer Sachverhalte ab. Er überdeckt vielmehr analytische Schwächen an‐ derer Kategorien. Das macht ihn irritierend, aber auch interessant.« 12 Diese kritische und nicht minder engagierte Perspektive auf die Funktionen des Stils als ästhetischer Denkraum eröffnet einen erkenntnisreichen Zugang zu den vergleichsweise wenigen tanzwissenschaftlichen Beiträgen zur Begriffsfigur des Stils. Auch sie konstatieren als Einsatzpunkt ihrer Untersuchungen inter‐ essanterweise dessen »untilgbare Vagheit«. 13 Mit Verve und philosophischem Elan eröffnet Stil hiernach einen ästhetischen Denkraum über besondere Phä‐ nomene von bewegungsästhetischer Prägnanz. Stilmerkmale der Tanzwissenschaft Wie wenig sich Stil gerade im Tanz über qualitativ eindeutige Merkmale be‐ stimmen lässt und definitorisch aus ihnen hervorgeht, zeigt etwa Laurence Louppe in ihrem gedanklichen Parcours über Stile an: An sich scheint der Stil im Tanz etwas Vages und Ungreifbares zu sein. […] Der Stil ist vollkommen unabhängig von jeglicher formaler Gestaltung: Er liegt nicht im Vo‐ kabular und auch in keinem der lexikalischen Parameter der choreographischen Handschrift, sondern innerhalb des Funktionierens dieser Handschrift. Er begnügt sich damit, die Wege zu bestimmen, durch die wir den ›Kern‹ der Bewegung erfassen werden. 14 16 Sabine Huschka <?page no="17"?> 15 Ebd. 16 Ebd., S. 112f. 17 Vgl. Laban 1988 (wie Anm. 2), S. 102. 18 Rudolf von Laban führt in seinem Kompendium The Mastery of Movement über die ›efforts‹ an, dass allein durch das Zusammenwirken jeweils zweier Bewegungsfaktoren die ›innere Haltung‹ entstehe, wobei er eine Typologie von sechs Fällen unterscheidet: wach, träumerisch, fern, nah, stabil und beweglich. Vgl. Laban 1988 (wie Anm. 2), S. 124; vgl. erläuternd hierzu: Vera Maletic: Body - Space - Expression. The Development of Rudolf Laban’s Movement and Dance Concepts, Berlin 1987, S. 101-104. 19 Vgl. Laban 1988 (wie Anm. 2), S. 20: »Der Mensch […] ist in der Lage, ein kompliziertes Netz wechselnder Antriebsqualitäten zu etablieren, das die mannigfaltige Art und Weise zeigt, in der er die ihm innewohnende Energie freizusetzen vermag. Der Mensch besitzt die Fähigkeit, das Wesen dieser Qualitäten zu begreifen, die Rhythmen und Strukturen in ihrer Abfolge zu erkennen.« Konzipiert als ein poetologisches Projekt über den zeitgenössischen Tanz erliegt Louppe dem Streben, Stil als Modus von Tanz schlechthin aufzufassen. Stil gehöre demnach einem Unbestimmbaren an und »wäre somit die Seele des Tanzes selbst, die sich in luftiger Art und Weise, in verborgenem Innehalten, an den Grenzen zwischen Beweglichkeit und Unbeweglichkeit aufhält, diesseits und jenseits der Geste, und somit wahrscheinlich in ihrem Herzen«. 15 Mit Blick auf konkrete Bewegungsweisen käme Stil durchaus zur Erscheinung, werde er doch quasi in der tatsächlichen Bewegungsperformance transparent und als ›innere Haltung‹ der Tanzenden bemerkbar. Mit explizitem Rekurs auf Rudolf von Labans ›effort‹-Theorie, die Louppe »als einen der Höhepunkte der ästhe‐ tischen Reflexion im Tanz« 16 bewertet, gründet eine ›innere Haltung‹ auf einer körperlichen Ausgestaltung der aktivierten und wirkenden Kraftmomente. Tat‐ sächlich qualifiziert Laban ›effort‹ kategorial nach eingesetzten Zeit-, Raum- und ›flow‹-Parametern sowie dem körperlichen Einsatz der Schwerkraft, die dichotomisch gegliedert (plötzlich - allmählich, direkt - indirekt, frei - ge‐ bunden, fest - zart) die Bewegung prägen. Aus ihrer Kombination und zusam‐ menwirkenden Beziehungskonstellationen gehen die grundlegenden Antriebs‐ qualitäten hervor, die Laban in acht Typen scheidet (Drücken, Flattern, Wringen, Tupfen, Stoßen, Schweben, Peitschen, Gleiten). 17 Der darin jeweils artikulierte ›effort‹ qualifiziert, so betont Louppe, die stilistischen Merkmale der (Tanz-)Be‐ wegungen, gleichwohl die innewohnende ›innere Haltung‹ nicht mit der Be‐ wegungsqualität identisch und dennoch in ihr bemerkbar ist. 18 Die zentrale Frage der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung von Stil als innere Haltung stellt sich für Laban als ein zu gewinnender analytischer und erziehe‐ rischer Bewegungszugang, der den Modi der Veränderbarkeit und damit den Methoden der Modifizierung und Optimierung wirkender Kräfte in der Bewe‐ gung gilt. 19 Labans Bewegungsforschungen richten sich in seiner englischen 17 Stil: Ein indifferentes Merkmal und die Arbeit an Erkenntnis <?page no="18"?> 20 Zu Labans bewegungsanalytischen Forschungen und Tätigkeiten im englischen Exil ab 1938 vgl. Eden Davies: Beyond Dance. Laban’s Legacy of Movement Analysis, London 2001. Dargestellt finden sich die Trainingsmethoden für Arbeiterinnen, die Laban zu‐ sammen mit Lawrence 1942 in Dartington entwickelte und mit ihnen seine ›ef‐ fort‹-Theorie ausdifferenzierte. (S. 23-30); vgl. zudem die wissenschaftlich ausdifferen‐ zierte Darstellung von Preston-Dunlop, die für die englische Exilzeit auch Labans tanzpädagogischen und künstlerischen Arbeiten bespricht: Valerie Preston-Dunlop: Rudolf Laban: An extraordinary Life, London 1998, S. 204-269. 21 Vgl. Rudolf Laban und C. F. Lawrence: Effort, London 1947, S. 73-74. 22 Laban 1988 (wie Anm. 2), S. 19. Exilzeit der 1940er Jahre in Zusammenarbeit mit dem Ökonomen F. C. Lawrence genau hierauf: Mit Blick auf bewegungsgestützte Arbeitsprozesse werden kör‐ perlicher Energieeinsatz und Kraftaufwand der Ausführenden analysiert und ihre Bewegungsabläufe an Hand gewonnener formaler und emotional-psychi‐ scher Strukturen trainiert. 20 Rückblickend auf ihre Forschungsergebnisse merken Laban und Lawrence im abschließenden Kapitel »Thinking in terms of effort« ihrer Publikation Effort an: Modern effort research has led to the discovery of the gradual transmutation of actions through the changes of single elements of effort, as, for instance, speed: But motion has more elements than one, and the harmonious interplay of all of them must be taken into consideration if the aim is to determine how far an operation has been performed efficiently. 21 Ihre Analysen und Trainingsmethoden richten sich darauf, Nuancierungen in der Bewegungsausführung zu erzielen und einen harmonischen Ausgleich wäh‐ rend der körperlichen Beanspruchung zu ermöglichen. Die individuelle Varianz habitualisierter Bewegungsmuster soll verändert und physisch wie mental op‐ timiert werden. Laban und Lawrence heben hierzu wiederholt die Komplexität der ineinander verschränkten Wirkungskräfte aller beteiligten Bewegungsaspekte - ›flow‹, Gewicht, Zeit und Raum - hervor, denn erst ein bewusstes Zusammenspiel aller Aspekte ermögliche das Changieren zwischen den ›efforts‹ in Bewegung. Laban resümiert dieses Verständnis: Die Fähigkeit einer Person, die Qualität des Antriebs, also die Art und Weise der Energiefreisetzung zu wechseln, indem Zusammensetzung und Abfolge der Kompo‐ nenten variiert werden - und dies im Zusammenspiel mit den Reaktionen anderer Menschen auf solche Veränderungen -, macht das eigentliche Wesen der Pantomime [als Teil von Tanz - Anm. S. H.] aus. 22 Die offensichtliche Differenz zwischen funktionalen und ästhetischen Bewe‐ gungsabläufen ist für Laban dabei eine graduelle. Gegenüber anderen hätten 18 Sabine Huschka <?page no="19"?> 23 Vgl. Laban/ Lawrence 1947 (wie Anm. 21), S. 84: »The professional artist is the man who mirrors the effort of other people, and he as able to do that through thinking in terms of effort.« 24 Laban 1988 (wie Anm. 2), S. 92. 25 Louppe 2009 (wie Anm. 14), S. 114. 26 Ebd. Tänzerinnen und Tänzer ein Denken in ›efforts‹ professionalisiert 23 und ein Wissen über das changierende Zusammenwirken der Bewegungsanteile ausge‐ bildet, das stilprägend für ihre Bewegung ist. Vor diesem Hintergrund wird ver‐ ständlich, warum für Laban Stil letztlich in einem qualitativen Vermögen gründet, ein Zusammenspiel differenter Bewegungsanteile als changierendes ›effort‹-Spektrum zu erwirken. So merkt er an: Ins Auge fallende, ungewöhnliche Bewegungskombinationen markieren häufig die entscheidenden Stellen […], die feineren Stilnuancen werden erst erkennbar, wenn man intensiv den rhythmischen Gehalt der inneren Einstellungen studiert hat, aus denen heraus eine bestimmte Abfolge von Antriebskombinationen entstanden ist. 24 Louppe perspektiviert Labans ›effort‹-Theorie unterdessen unter der Frage nach der Sichtbarkeit des Stilistischen, oder genauer unter der Frage, wie Stil als qua‐ litatives Kennzeichen der Körperbewegung bemerkbar wird. Hierzu betont sie, dass Labans grundlegendes analytisches Interesse an den körperlich und indi‐ viduell geprägten Antriebskräften (›efforts‹) nicht vordergründig der Bewe‐ gungsaktion gälte, der sichtbaren Gestalt einer Bewegung oder äußeren Form einer Geste. Seine Forschungen zielten vielmehr auf »qualitative Dispositive, die mit den ›inner attitudes‹ zusammenhängen.« 25 Gegen Ende seines Lebens, als das Exil und die visionäre Suche nach dem Sinn der Bewegung ihn vollkommen vom Tanz entfernt haben, interessiert sich Laban nicht mehr dafür, was der Tänzer oder der ›Bewegende‹ tut, sondern dafür, was in seiner Bewegung liegt - und sogar noch vor der Bewegung, in ihrer Initiationsphase, wo sich die qualitativen Schattierungen aufbauen. Denn besonders durch den stilistischen (qualitativen) Aspekt jener Beziehungsdispo‐ sitive wird eine Bewegung, tänzerisch oder nicht, zum Träger dessen, was Laban die moralischen oder philosophischen ›Werte‹ (values) nennt, die uns im wahrsten Sinne des Wortes ›begeistern‹ (›animieren‹). 26 Stil zeigt für Louppe demnach den ›Kern‹ der Bewegung an und artikuliert eine der Bewegungsperformance vorgängig eingenommene und ausgebildete Hal‐ tung, die sich in der Bewegung wirksam zeigt. Es ist eine artikulierte, dem Sub‐ jekt zugeordnete Kraft der Verwandlung, die nicht mit einem ›effort‹ identisch 19 Stil: Ein indifferentes Merkmal und die Arbeit an Erkenntnis <?page no="20"?> 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Pfeiffer 1986 (wie Anm. 10), S. 710 und S. 713. 30 Vgl. hierzu Susan Fosters semiologische Tanztheorie, mit der sie u. a. einen relationalen Stilbegriff ausarbeitet auf der Basis tanztechnischer Differenzierungen; Susan Foster: Reading Dancing. Bodies and Subjects in Contemporary American Dance, Berkeley u. a. 1986. und doch aus dem Wissen seiner wandelnden Gestaltungskräfte hervorgeht. Der Modus des Wahrnehmbarwerdens von Stil ist gleichsam einem Aufmerken ge‐ schuldet, das gerade nicht der sichtbaren Formgestaltung der Bewegung gilt. Vor dem Hintergrund dieser bewegungstheoretischen Perspektivierung fasst Louppe die qualitative Dimension von Stil folgerichtig als »Subtext«, ja sogar als »wahren Text« der Bewegung, »den man unter der choreographischen Sprache rauschen hört.« 27 Die ›Werte‹, die von unseren Intentionen getragen werden, siedeln sich in den Rand‐ bereichen des Sichtbaren an und können oft durch eine Geste, das Aushalten einer Dauer oder eine Orientierung im Raum erscheinen. 28 Doch was vermag ein solcher Stilbegriff als ästhetischer Denkraum zu leisten, der gleichsam auf einen unsichtbaren und doch wahren Kern von Bewegungen zielt? Louppes Indienstnahme des Stilbegriffs, der einer wirkenden und doch der Sichtbarkeit entzogenen Gestaltungskraft gilt, erfüllt genau jene wissen‐ schaftliche Funktion, die Pfeiffer für den Stilbegriff herausgestellt hat: »Mit ihm kennzeichnen wir die expressive Prägnanz, die von sprachlichem wie nicht‐ sprachlichem Verhalten und Handeln ausstrahlt. […] Im Begriff des Stils ver‐ sammeln wir nunmehr jene expressiven Reste an Werten und Normen, an Ko‐ härenz und Totalität, ohne welche wir an Phänomenen wohl nicht mehr interessiert wären.« 29 Da Louppe mit dem Stilbegriff kein qualitatives bewe‐ gungsästhetisches Terrain erschließt, das mit einer tanztechnisch verankerten Bewegungskompetenz der Tanzenden und deren potentiell ausdifferenzier‐ baren Merkmalen übereinkommt, 30 eröffnet sie einen ästhetischen Denkraum, der einem Wahrheitsdiskurs angehört. Hervorgekehrt werden Qualitäten ex‐ pressiver Prägnanz, deren Wert eine intentionale Haltung im Bewegen be‐ schreibt. Doch hat Louppe weder die von Laban ausgearbeitete tänzerische Ver‐ wandlungsgabe zwischen differenten Bewegungsqualitäten im Blick, noch spürt sie einer ästhetischen Struktur von Schönheit nach, die jenseits eines totalitären Denkens eine mitgeführte Ungeheuerlichkeit bedenkt. Um so dringlicher stellt sich die Frage nach der Funktion eines solchen ästhetischen Diskurses, der letztlich einem mystischen Moment tänzerischen Ausdrucks gilt. 20 Sabine Huschka <?page no="21"?> 31 Vgl. hierzu die tanzanalytischen Ausführungen von Gerald Siegmund über Laurent Chétouanes Arbeit Sacré Sacre du Printemps: »Wie leichte Blätter im Wind trudeln die Tänzer im Bühnenraum umeinander, vereint in einer gemeinsamen, in ihren wenigen Elementen immer wiederkehrenden und dadurch zum Stil gewordenen Bewegungs‐ sprache, die die Körper im Laufe der Aufführung in bekannte Körper überführt.« Gerald Siegmund: »Das Fremde bleibt aus«, in: Nikolaus Müller-Schöll und Leonie Otto (Hg.): Unterm Blick des Fremden: Theaterarbeit nach Laurent Chétouane, Bielefeld 2015, S. 135- 139, hier S. 138. Auffällig klingt eine negative Konnotation an, die Stil als einen identi‐ fizierbaren und wiedererkennbaren Modus im Ästhetischen benutzt. Zeitgenössische Perspektiven: Choreographische Handschriften Zugleich ist zu beobachten, dass zeitgenössische Tanzdiskurse und tanzästhe‐ tische Reflexionen über Stil paradoxerweise an Bedeutung verloren haben. Stil fungiert kaum als ästhetischer Denkraum, der über eine Kennzeichnung von Identifikationsmerkmalen einzelner Gruppierungen oder historischen Rich‐ tungen hinausreicht. Seine Funktion einer bewegungsästhetischen Differenz‐ figur zwischen spezifischen Formsprachen, die wie im 18. Jahrhundert gerahmt von Normen einen stilistischen Bewegungscode identifizierbar zu erkennen geben, hat an Bedeutung verloren. Allenfalls werden mit ihm stilistische Bewe‐ gungsfiguren im Sinne künstlerischer Handschriften von Choreograph*innen benannt, die im Diskurs eine tanztechnische Identifikation des Stilistischen er‐ setzen. 31 Denn angesichts hybrider Bewegungs- und Tanztechniken, die die ein‐ zelnen tanzästhetischen Positionen zeitgenössischer Choreograph*innen prägen, in dem eine Vielzahl sich ergänzender somatischer Zugänge mitein‐ ander verbunden werden, erwachsen körpertechnische Konturen im Sinne einer stilistischen Ausprägung nunmehr primär aus der kritischen Reflektion auf choreographische, theatrale oder körperpolitische Maßgaben der tanzenden Körper. Der stilistische Nimbus ihrer explorierten Bewegungsfiguren eröffnet auf diese Weise ästhetische Reflexionsräume, die einem spezifischen choreo‐ graphisch und theatral verankerten In-Erscheinung-Bringen von Körperbewe‐ gungen geschuldet sind. Eine intentionale Haltung der Tanzenden als ästheti‐ scher Fokus, die Louppe beschreibt, ist zugunsten einer bewegungsästhetisch-kontextualisierten, politisch oder ethisch motivierten Arbeit gewi‐ chen, die - wie der Beitrag von Christina Thurner verdeutlicht - mitunter selbst die Frage nach dem Stil thematisieren und als Spiel mit Identitätspluralitäten und Weisen der Selbstkonstruktion verhandeln. 21 Stil: Ein indifferentes Merkmal und die Arbeit an Erkenntnis <?page no="22"?> 32 Auguste Vestris (geb. 1760) wurde von Gaetan Vestris ausgebildet und durfte, wie es bei Levinson heißt (vgl. André Levinson: Meister des Balletts. Aus dem Russ. übertragen von Reinhold von Walter, Potsdam 1923, S. 213), als unehelicher Sohn den Namen des Vaters weitertragen, um dessen Schule unter seinem Namen weiterzuführen. Doch wurde er stets mit seinem Vater, Gaetan Vestris, verglichen, galt dieser seinen Zeitgenossen doch als »Le Dieu de la Danse«. Vgl. etwa Grimms Correspondance littéraire (Sept. 1772), in: Correspondance littéraire, philosophique et critique, adressée à un souverain d’Allemagne. Par le baron de Grimm et par Diderot, Paris 1812-1814, Bd. II, S. 316. 33 Julien-Louis Geoffroy: Manuel dramatique, Paris 1822, S. 301-304; zitiert nach Edmund Fairfax: The styles of eighteenth-century ballet, Lanham 2003, S. 277. TanzStile als ver- und entkörperte Norm: Historische Positionen Untersucht man indessen historische Stilbildungen im Bühnentanz, so wird auffällig, dass Stile vor allem an der Schwelle eines vollzogenen Stilbruchs be‐ merkbar werden. Die Relation zwischen spezifischen Vorschriften und ästheti‐ schen Regeln, wie zu tanzen sei, und ihrer aktuellen Ausführung treten in Mo‐ menten ihres Überschreitens hervor, wobei die stilistischen Eigenheiten des Tänzers oder der Tänzerin - so zeigen es historische Tanzdiskurse - nicht gänz‐ lich den ästhetischen Kodex verlassen dürfen, um als künstlerische Leistung anerkannt zu bleiben. Doch sind es Momente eines Überschwangs, eines offen‐ sichtlichen Übertritts von ästhetischen Vorschriften, mit denen Stilprägungen einzelner Tänzer*innen thematisch werden. Auftritte wie von Auguste Vestris [auch Vestris der Jüngere genannt] 32 , ein in der Tradition des ballet en action an der Pariser Opéra ausgebildeter Tänzer, kennzeichneten einen solchen Über‐ schwang, der klassifizierte bewegungstechnische und ästhetische Stile unter‐ läuft. Julien-Louis Geoffroy führt in seinem Manuel dramatique (1822) über den Tanz von Auguste im Vergleich zu seinem Vater (Gaetan Vestris) aus: Dance reached its highest point under Vestris the Elder; if it appears to reach perfection under his son, it is because it amazes more, because it is distorted. Vestris the Younger in fact contributed nothing to what constitutes the true merit of dance, in grace, ex‐ pression, worthiness of movements, beauty of forms and attitudes; […]. He perfected no essential part of the art, but taking advantage of his extraordinary strength, he mixed that which is true dance with tours de force, which smack of the art of the tumblers, […]. He spurned the earth and the floor, where the true dancer practices his talent; he threw himself into the air, and the boldness of his flight captivated the spectator. […] What was merely corruption was regarded as a wonder of the art, and this mix of jumps and steps, which confound and alter two very different arts, appeared to be a bold and sublime novelty. 33 22 Sabine Huschka <?page no="23"?> 34 Salvatore Viganò (1769-1821) war lange an der Wiener Oper als Tänzer und Kompo‐ siteur engagiert (1793-1795 und 1799-1803), bevor er 1813 Ballettmeister und Kompo‐ siteur der Mailänder Scala wurde. Erkennbar in der Tradition des Noverre’schen Hand‐ lungsballetts verwurzelt, wird sein Tanzstil in ähnlicher Weise variationsreich beschrieben wie jener von Vestris. Vgl. Wiener Theateralmanach auf das Jahr 1796, S. 73 f. 35 Jean Georges Noverre: Lettres sur les Arts Imitateurs en générale, et sur La Danse en particulière dédiées a Sa Majesté L’Impératrice des Francais et Reine d’Italie […], Paris 1807, Bd. 2, S. 103-104, zitiert nach Fairfax 2003 (wie Anm. 33), S. 90. 36 Sallé führte indessen eine qualitative Ausgestaltung ihres Körpers und seiner Bewe‐ gungen vor Augen, wie es in einem anonym verfassten Bericht über Sallés Pygma‐ lion-Premiere am 14. Februar 1734 im Mercure de France nachzulesen ist. Sallé reprä‐ sentierte mit »gelungen Posen, wie sie sich der Bildhauer nur wünschen konnte« eine expressive Modellierung der zum Leben erwachte Statue Galathea. »You can imagine, Sir, what the different stages of such an action can become, when mimed and danced with the refined and delicate grace of Mlle. Sallé.« Zitiert nach Cyril William Beaumont: Three French dancers of the 18th century. Carmago - Sallé - Guimard, London 1934, S. 22. In den Augen der Rezensenten und gebildeten Zeitgenossen verkörperte Au‐ guste Vestris ebenso wie sein Zeitgenosse Salvatore Viganò 34 auf nahezu be‐ ängstigende Weise ein brillierendes Virtuosentum, das die ästhetischen Prä‐ missen eines einfühlsamen Gestentanzes des ballet en action sprengt. So werden im 18. Jahrhundert zunehmend jene performativen Leistungen einzelner Tänzer und Tänzerinnen bedeutsam, die eine empfindungsvolle Gestalt verkörperten. Jean Georges Noverre schätzte in seinen zahlreichen Berichten über zeitgenös‐ sische Tänzer und Tänzerinnen jene, die »frei von aller Affekthascherei« tanzten - wie etwa Marie Sallé (1707-1756), eine Tänzerin der danse sérieuse an der Pariser Opéra der 1730er: Mlle. Sallé, a most graceful and expressive dancer, delighted the public. […] I was enchanted with her dancing. She was possessed of neither the brilliancy nor the tech‐ nique common to dancing nowadays, but she replaced that showiness by simple and touching graces; free from affection, her features were refined, expressive and intel‐ ligent. Her voluptuous dancing displaced both delicacy and lightness; she did not stir the heart by leaps and bounds. 35 Sallé verkörperte einen spezifisch einfühlsamen Duktus, dessen Leichtigkeit nicht dominiert wurde von technischen Raffinements aus kunstvollen jétés, battus und entrechats, wie es dem Tanzstil ihrer Zeitgenossin Marie Carmago nachgesagt wurde. 36 Demgegenüber übertritt Vestris’ Tanzstil die seit Mitte des 18. Jahrhundert etablierten Rollenfächer des Bühnentanzes mit ihren klaren dramaturgischen, tanztechnischen und physischen Differenzen. Als eigenständige Darstellungs‐ 23 Stil: Ein indifferentes Merkmal und die Arbeit an Erkenntnis <?page no="24"?> 37 Vergleichbar zu der physiognomischen Typologie von Lavater qualifiziert auch Noverre über individuelle anatomische Merkmale und Fehlstellungen (u. a. Dachsbeinige und Säbelbeinige) die möglichen ästhetischen Bewegungskompetenzen von Tänzern. Der Körperbau bedingt hiernach das Rollenfach des Tänzers. Jean Georges Noverre: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, München 1977. Faksimile der in Hamburg, Bremen veröffentlichten dt. Übersetzung der Briefe von 1769. Mit Nachwort, Ver‐ zeichnis der literarischen Arbeiten von Noverre, Werkverzeichnis der Choreographien, empfehlender Bibliographie und Register von Kurt Petermann, 11. Brief, S. 218-236. 38 Marcel Proust, übersetzt nach dem französischen Originalzitat bei Wolfgang G. Müller: Topik des Stilbegriffs. Zur Geschichte des Stilverhältnisses von der Antike bis zur Gegen‐ wart, Darmstadt 1981, S. 165 f. bereiche wurde eine dem Tragischen zugeordnete danse sérieuse unterschieden von einer dem Komischen zugezählten danse comique und einem komisch-tra‐ gischen Tanzstil der danse demi-caractère. 37 Die bewegungstechnische Virtuo‐ sität von Vestris, die den erhabenen und heroischen Duktus einer danse sérieuse (danse noble) mit den verspielten, eher ausgelassenen Bewegungen einer danse comique und dem leichten Duktus der danse demi-caractère amalgamierte, ließ die normativen Grenzen der Tanzfächer verschwimmen. Vestris’ bewegungs‐ technischer Übertritt kennzeichnet zwar nicht einen regelrechten Tabubruch innerhalb des ästhetischen Gefüges des Bühnentanzes, da sein Tanzen er‐ kennbar im technischen Kodex des Balletts verwurzelt war, aber seine Auftritte verschoben die Kriterien für eine tänzerische Darbietung im Sinne des ballet en action. Stil als Arbeit an Erkenntnis Der Stil ist keineswegs, wie manche glauben, ein Mittel der Verschönerung, ja er ist nicht einmal ein technisches Problem, er ist vielmehr - genau wie die Farbe für die Maler - eine Art des Sehens und Imaginierens (une qualité de la vision), die Enthüllung des partikularen Universums, das jeder von uns sieht, und das die anderen nicht sehen. Das Vergnügen, welches uns ein Künstler schenkt, liegt darin, daß er uns ein weiteres Universum kennenlernen läßt. (Marcel Proust) 38 Die Frage nach dem Stil hat für den Tanz inzwischen als ästhetischer Reflexi‐ onsdiskurs an Gewicht verloren. Dies ist sicherlich - wie bereits dargelegt - auf einen Verlust einer tanztechnisch identifizierbaren Grundlegung ästhetischer Positionen zurückzuführen, die stilistische Differenzen tragen. Zugleich spiegelt sich der begriffsgeschichtliche Wandel von Stil als ästhetischer Reflexionsraum der Kunst wieder, den Gumbrecht historiographisch nachgezeichnet und dem 24 Sabine Huschka <?page no="25"?> 39 Vgl. hierzu Gumbrecht 2006 (wie Anm. 1), S. 203-207. 40 Vgl. Johan Wolfgang von Goethe: »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil« (Teutscher Merkur, 1789), in: J. W. Goethe: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen. Hamburger Ausgabe. Bd. 12. Hamburg 1967, S. 30-34. Hier heißt es: »[…] so ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.« (S. 32). Bohrer mehrere Essays gewidmet hat. 39 Würde man einige der einschlägigen historischen Stildiskurse aufgreifen, mit denen Stil als ein menschliches Ver‐ mögen (Buffon), als die künstlerische Kompetenz, das Wesen der Dinge zu er‐ kennen ( Johann Wolfgang von Goethe), 40 oder als das künstlerische Vermögen zur Visionierung ›anderer Welten‹ (Marcel Proust) aufgefasst werden, so ließe sich die ästhetische Arbeit einiger zeitgenössischen Choreograph*innen (etwa Laurent Chétouane oder Margrét Sara Guðjónsdóttir) als eine stilprägende Ar‐ beit an einem Erkenntnisvermögen der Tanzkunst diskutieren, über sensitiv eingestimmte Körper ein ›weiteres Universum‹ wahrnehmen zu lassen. Eine solche Untersuchung wäre sicherlich lohnend. 25 Stil: Ein indifferentes Merkmal und die Arbeit an Erkenntnis <?page no="27"?> 1 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Richard Wollheim: »Pictorial Style: Two Views«, in: Berel Lang (Hg.): The Concept of Style, Philadelphia 1987, S. 187-202. Stil, Technik und Risiko - eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze Wolf-Dieter Ernst Was ist Stil? Im Kunstdiskurs ist von Stil traditionell in Hinsicht auf zwei Aspekte die Rede: die fertige, erkennbare Form eines Werkes und seine Herstellungsweise, häufig auch als die Herstellungstechnik bezeichnet. Richard Wollheim etwa spricht von einem erkennbaren Stil dann, wenn ein Kunstwerk - ihm geht es primär um Malerei - eine Form hat, die als entzifferbar und expressiv erscheint. 1 In Vincent van Goghs Gemälde Le champ de blé aux corbeaux (Raben über dem Weizenfeld) sehen wir beispielsweise ein Weizenfeld und das soll auch zum Ausdruck ge‐ bracht werden. Zweitens ist ein erkennbarer Stil davon abhängig, ob der Künstler über anerkannte Techniken und deren Beherrschung verfügt. Van Gogh verfügte bekanntlich über eine Maltechnik, die zwar als eigen, aber durchaus als anerkannt gilt. Er stand nie im Ruf ein Dilettant zu sein. Ein Kind hingegen, so Wollheim, dass in Graham-Technik tanze, kopiere nur diese pro‐ fessionelle Tanztechnik, da es der ›rohen Sexualität‹ dieser Technik kaum ge‐ recht werden könne. Auf dieses Bild übertagen heißt das: ein Kind, das im Van-Gogh-Stil malt, teilt nicht dessen existenzielle Dramatik. Dieses Kind also folgt keinem Stil, auch wenn es über Technik verfügen mag. Wollheims Stilbegriff setzt voraus, dass ein Kunstwerk eine klare Form, eine eindeutige Autor- und Könnerschaft und eine tradierte Herstellungsweise auf‐ weist. Diese Bedingungen sind durch avantgardistische Strategien der Kunst‐ produktion allerdings konterkariert und auch unterminiert worden. Ein be‐ kanntes Beispiel mag dieses Problem und seine Relevanz für die Bestimmung des Stilbegriffs verdeutlichen: Marcel Duchamps Fountain. <?page no="28"?> Generischer und persönlicher Stil nach Duchamp Das Ready-made Fountain, das Duchamp 1917 zur Ausstellung der Society of Independent Artists in New York einreichte, weist keinen klaren generischen Stil mehr auf, denn es handelt es sich um ein Serienprodukt industrieller Fertigung. Seine Gestaltungsprinzipien und Herstellungstechniken wurden außerhalb des Feldes der Kunst bestimmt und vorrangig wohl nach außerkünstlerischen Kri‐ terien wie Haltbarkeit, Nützlichkeit, Marktakzeptanz etc. ausgerichtet. Der Künstler ist also nicht an der Herstellung des Objektes beteiligt, wohl aber an der Auswahl und seiner Ausstellung im Feld der Kunst. Denn, wie sich später herausstellt, veranlasst Duchamp, dass dieses Serienprodukt für eine Ausstel‐ lung eingereicht wird und erklärt es damit entsprechend seiner künstlerischen Strategie zur Kunst. An die Stelle eines generischen Stils tritt ein persönlicher Stil. Mit dieser Geste aber bringt Duchamp die Jury der »Gesellschaft der Unab‐ hängigen Künstler«, die über die Hängung der Exponate entscheidet, in eine unmögliche Situation. Hatte die Gesellschaft noch im Geiste der Sezession sich dazu verpflichtet, alle Einsendungen in alphabetischer Reihe auszustellen, so muss sie nun darüber entscheiden, ob dieses Alltagsobjekt kunstwürdig ist, wiewohl es offensichtlich nicht vom Künstler hergestellt, wohl aber dezidiert signiert ist: Am oberen Rand ist mit schwarzer Farbe der Name »R. Mutt« auf‐ gebracht. Das war nicht zu übersehen. R. Mutt allerdings war als Künstler nicht in Erscheinung getreten. Geht man davon aus, dass die Signatur eines Kunstwerkes lesbar sein sollte, so verlieh dieser Akt der Signatur dem Objekt eine wundersame räumliche Dre‐ hung um 90 Grad und führte natürlich eine gesittete Benutzung als Pissoir ad absurdum. Die Frage war nun: Reichen diese Eingriffe aus, das Objekt zum Kunstwerk zu machen und es damit auch den tradierten Kunstwerken und Kunststilen zur Seite zu stellen? Bekanntlich wurde das Objekt zunächst von der Kommission, der Duchamp zwar selbst angehörte, bei deren Entscheidung er aber nicht zugegen war, ab‐ gelehnt und verschwand hinter einem Vorhang. Es wurde niemals ausgestellt, so dass die Geste der Einreichung als künstlerische Äußerung von der Genese des Werkes und einer stark verzögerten Rezeptionsgeschichte zu differenzieren ist. Das Werk, die künstlerische Autorisierung und die Rezeption weisen dabei sehr unterschiedliche Valenzen auf. Was geschah mit dem Werk? Der in den Coup eingeweihte Mäzen Duchamps, Walter Arensberg, verlangte es nach der Ablehnung zu sehen und erstand es kurzerhand. Diese erste Version gilt freilich als verschollen (was für einen Mas‐ 28 Wolf-Dieter Ernst <?page no="29"?> 2 Vgl. Hierzu Anne D’Harnoncourt und Kynaston McShine (Hg.): Marcel Duchamp, Mün‐ chen 1989, S. 282, Abb. 120, S. 304, Abb. 158; Thomas Zaunschirm: Ready-made. Bereites Mädchen, Klagenfurt 1983, S. 72, Abb. 17. senartikel natürlich eine einigermaßen komische Anmerkung darstellt). Es wurde allerdings zuvor von Alfred Stieglitz fotografiert. Seinen Ausstellungs‐ charakter bekam das Objekt zunächst wohl eher über diese Fotografie, positio‐ niert in Bildmitte auf einem Sockel und in einer Perspektive, die der gebräuch‐ lichen diagonalen Draufsicht auf ein Pissoir widerspricht. Hervorgehoben sind vielmehr die geschwungene, dem körperlichen Organ entgegenkommende Form des Beckens im oberen Bildteil sowie die dunklen Zu- und Abflusslöcher in der Bildmitte, denen vorne links die Signatur zur Seite steht. So inszeniert und von Stieglitz als »Fountain by R. Mutt«, also mit ›Brunnen‹, ›Wasserspiel‹, ›Quelle‹ oder ›Ursprung‹ betitelt, scheint das Objekt weniger eine Flüssigkeit aufzunehmen, als dass ihr etwas entspringt. Repliken des Fountain wurden 1951 und 1964 gefertigt, ein Modell dieses Ready-mades war bereits Teil des von Marcel Duchamp gefertigten Koffermuseums Boîte-en-Valise (1941) 2 . Wie verhält es sich mit der Autorschaft? Der Künstler Marcel Duchamp gibt sich erst sehr verzögert und indirekt als derjenige zu erkennen, der den Coup lancierte, eigentlich erst in der Zeit der verstärkten musealen und publizisti‐ schen Aufmerksamkeit, die seinem Œuvre in der Nachkriegszeit gewidmet wurde. Weder in der Zeitschrift The Blind Man (1917), in der der Fall Richard Mutt besprochen wurde und die von Beatrice Wood, Henri-Pierre Roché und Duchamp, der unter dem Pseudonym »Totor« fimierte, herausgegeben wurde, noch in dem von Guillaume Apollinaire geschriebenen Artikel Le Cas de Richard Mutt (1918) wird Duchamp oder das Fountain namentlich erwähnt. Hervorge‐ hoben wird vielmehr die Geste des Ready-made an sich, betont wird die Wahl und die Idee der Umfunktionierung, also die neue Form einer Autorschaft und eines persönlichen Stils losgelöst vom Kunstprodukt. Wenn die Autorenstrategie und die Werkgenese quasi ihr Eigenleben führen, verwundert es wenig, dass die Rezeption von Fountain und die sich daran an‐ knüpfenden Verweise erst allmählich ihre Wirkung entfalteten - in diesem Fall über Dekaden hinweg. Thomas Zaunschirms Anfang der 80er Jahre vorgelegte ikonografische Lesart jener Ready-mades, die er parallel zu Duchamps erstem Hauptwerk, Le Grande Verre (Das Große Glas, 1915 - definitiv unvollendet 1923) liest, legt nahe, in Fountain mehr als nur die Geste einer paradoxalen Autori‐ sierung zu sehen. Dazu gäbe es zu viele Verweise auf andere Ready-mades und Werke Duchamps. Bereits 1918 werde ja, so Zaunschirm, von Duchamp mit‐ telbar in der Zeitschrift The Blind Man enthüllt, dass hinter dem »R.«, dem Vornamen des unbekannten Künstlers, der Name »Richard« stecke. Mit Du‐ 29 Stil, Technik und Risiko - eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze <?page no="30"?> 3 Zaunschirm 1983 (wie Anm. 2), S. 72 ff. 4 Thierry de Duve: Kant After Duchamp, Cambridge 1998. 5 Marcel Duchamp im Interview mit Richard Hamilton, BBC 1959, teilweise abgedruckt in Zaunschirm 1983 (wie Anm. 2), S. 7 ff. champs Interesse an Sprache und ihren Übersetzungen und Homonymen, so Zaunschirm, werde Richard somit lesbar als ›rich art‹ oder als ›richard‹, was französisch ›ein reicher Kauz‹ ist, welche/ r ›Mutt‹, englisch für Trottel, laut‐ sprachlich aber auch für französisch ›mat‹ (= matt, müde, ermüdet sein) steht, oder auch für ›matt gesetzt‹, französisch ›échec et mat‹, wenn man Duchamps Karriere als Schachspieler in die Waagschale wirft, auf die er immer wieder in seinem Werk verweist. Oder ist es ein Verweis auf ›mud‹ im Sinne von Dreck, Schlamm, wenn man der Analogie von ›art‹ und ›merde‹ folgt, die Duchamp in seinen Notizen von 1914 anstellt? 3 Die kunstphilosophische Rezeption dieses Falls durch Thierry de Duve 4 hin‐ gegen interessiert sich nicht für die ikonografischen Bedeutungen und Verweise auf Duchamps Werk. In dieser Interpretation steht der Coup stellvertretend für die Tendenz der modernen Kunst, die Theorie des ästhetischen Urteils nach Kant auf die Probe zu stellen. Wenn jeder Mensch und nicht nur professionelle Künstler dazu in der Lage seien, so de Duve, einen Alltagsgegenstand zu sig‐ nieren und zur Kunst zu erklären, so verweise das auf eine radikale Demokra‐ tisierung des Kunsturteils. Nicht Jurys, Experten, Künstler und professionelle Kräfte des Kunstmarktes, sondern eben jeder sei notwendig verpflichtet, im Akt der Rezeption ein Urteil zu fällen, bzw. bestehende Urteile zu übernehmen oder zu verwerfen. Die Stilfrage wird in dieser Linie der Rezeption nun radikal an den Betrachter zurückgespielt, wobei dann über Ästhetik und Stil notwendig gestritten werden muss. Vielleicht aber muss man auch die Rezeption noch einmal nach Interessen‐ gruppen differenzieren. Niemand, nicht einmal Duchamp, empfand es als stillos, dass das Werk verschollen und die Aufregung um den Fall von relativ kurzer Dauer war. In der ihm eigenen Haltung der Indifferenz hatte Duchamp zwar spezifische Fährten für die Rezeption der Ready-mades ausgelegt, deren Rezep‐ tion als Kunstwerk und seine Autorschaft daran jedoch sicher nicht forciert, weil er sie als eine Form ansah, »Ideen abzuladen« 5 und nicht als neuen Stil propa‐ gierte. So muss also angenommen werden, dass die Künstlerszene, in der Du‐ champ verkehrte und in der er als etwas enigmatischer Kollege hohe Aufmerk‐ samkeit genoss, das Fountain und das Motiv der Alltagsgegenstände in der bildenden Kunst auch von anderen Künstlern her kannte, wie etwa in Francis Picabia Amorous Parade (1917), Morton Schambergs God (1918) oder Man Rays Man (1918). Ein Alltagsgegenstand im Feld der Kunst erregte also bei Insidern 30 Wolf-Dieter Ernst <?page no="31"?> 6 Richard Shusterman: »Somatic Style«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Bd. 69, 2011, H. 2, S. 147-159, hier S. 174. 7 Katja Schneider: Internationales und interdisziplinäres Symposium. Das Rauschen unter der Choreographie, http: / / www.dance-muenchen.de/ programm/ sonderformate/ stil/ [Abruf: 14.5.2018]. möglicherweise keine besondere Beachtung. Von einer breiteren Öffentlichkeit wurde Fountain erst aufgenommen durch eine sich selbst verstärkende Rezep‐ tion, in der der Coup einmal mehr kolportiert wurde und sich die diversen Be‐ züge allmählich herauskristallisierten, die hinter der Signatur steckten. Damit wurde allerdings zugleich deutlich, dass weniger die Herstellungstechnik, son‐ dern mehr die Zuschreibung eines persönlichen Stils auf Duchamp ein Kriterium der Kunstbewertung geworden war. Für die Frage nach der Funktion des Stilbegriffs hat dieser Coup zwei gra‐ vierende Folgen: Seit Duchamps Ready-made verliert das von Wollheim aufge‐ machte Bestimmungsmerkmal, die Beherrschung einer anerkannten Technik, zunehmend an Bedeutung. Die Serialität in der Pop Art, das Sampling in der Musik, die soziale Plastik bei Beuys oder die Institutionskritik in der Body Art wären weitere Beispiele für diese avantgardistische Strategie. Seit Duchamps Ready-made ist zugleich eine Tendenz zu Individualisierung und damit auch eine Ausweitung des Stilbegriffs auf ästhetische Phänomene aller Lebensbereiche zu beobachten. Selbstverständlich ist von Lebensstil, Er‐ ziehungsstil, Programmierstil, Fahrstil etc. die Rede. Stil wird in dieser Denklinie zu einem Synonym für Haltung, sei es eine kritische oder affirmative. Der Phi‐ losoph Richard Shustermann spricht in diesem Sinne von einem »personal style«. 6 Gilt also eine umfassende Personalisierung und Verinnerlichung des Stilbe‐ griffs, wie es der Sinnspruch »Mode muss man kaufen, Stil muss man haben« nahelegt? Oder gilt umgekehrt, dass Stil eigentlich ein Synonym für Technik geworden ist, dem die Haltung des Künstlers oder der Künstlerin kontrastiv zur Seite gestellt wird? Von dieser Beobachtung ging immerhin das Symposion Das Rauschen unter der Choreografie - Überlegungen zu ›Stil‹ aus. Im Konzept der Veranstaltung wird dabei ein Auseinanderdriften von alltäglichem und künst‐ lerischem Gebrauch des Stilbegriffs konstatiert und letzterem dabei attestiert, - zumindest im Tanz - »keine attraktive Kategorie mehr zu sein« 7 . Der folgende Beitrag ist diesem Wandel des Stilbegriffs gewidmet, der in einer die Künste vergleichenden Perspektive dargelegt wird. An Beispielen der bildenden Kunst, der Schauspielkunst, des Tanzes und der Architektur wird aufgezeigt, in welcher Weise der generische Stil in eine Krise gerät. Dabei ist davon auszugehen, dass es sich nicht um ein Oberflächenphänomen handelt. Vielmehr kann am Bedeu‐ 31 Stil, Technik und Risiko - eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze <?page no="32"?> tungsverlust des Stilbegriffs eine neoliberale Öffnung und Individualisierung des vorherrschenden Verständnisses von künstlerischer Tradition aufgezeigt werden, die auch das Verständnis von künstlerischen Techniken insgesamt er‐ fasst. An die Stelle der Berufung auf eine künstlerische Tradition und ein tra‐ diertes Handwerk tritt nun, vereinfacht gesagt, die Spekulation auf eine zu‐ künftige Akzeptanz der eigenen Kunst. Dieser grundlegende Zusammenhang zwischen Individualisierung und Technikverständnis wird mit Blick auf Über‐ legungen des Soziologen Ulrich Beck eingeführt, um der aktuellen Stildiskussion - nicht nur im Tanz - eine historische und soziologische Dimension zu ver‐ leihen. Denn keineswegs geht es in der Bewertung des Stilbegriffs nur um eine auffällige Verkehrung, die darin bestünde, dass einige Künstler den Stilbegriff ablehnen, während eher traditionsbewusste und einem Kanon verpflichtete Künstler dies nicht tun und wiederum in den Populär- und Alltagskulturen fröhlich eine (Selbst-)Stilisierung betrieben wird. Grundlegender als dieses Für und Wider der Stilbestimmung ist die kulturökonomische Machtfrage, die ja bereits Duchamp implizit zum Gegenstand seiner Intervention machte: Welche gesellschaftlichen Zusammenhänge bestimmen, ermöglichen oder verhindern die Entwicklung technischer und stilistischer Merkmale und nach welchen Re‐ geln wird Stil zu- und umgeschrieben oder auch verweigert? Diesem Zusam‐ menhang soll in vergleichender, historischer Perspektive nachgegangen werden. Dabei wird es insbesondere um die Legitimation von Stilentscheidungen gehen, die am Beispiel einiger Grenzfälle im Feld der Kunst darzulegen sind: dem Tanz von geistig und körperlich Behinderten und der Dombauarchitektur. Daran anknüpfend gilt es mit Blick auf das deutschsprachige Literaturtheater zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu zeigen, dass der Wandel des Stilbegriffs in den Künsten und der Alltagskultur kulturpolitisch motiviert ist. Zunächst aber ist etwas Theorie vorwegzuschicken, um genauer darzulegen, was es mit der These vom Auseinanderdriften des personellen und generischen Stils auf sich hat. Stil, Technik und Spekulation Aus soziologischer Perspektive kann man die Unterscheidung von generischem und personellem Stil als eine Tendenz zur Individualisierung auffassen, der eine Tendenz zur Standardisierung zur Seite steht. Ulrich Beck beschreibt dabei deren Zusammenspiel in seinen Analysen zur Zweiten Moderne wie folgt: »Eben die Medien, die eine Individualisierung bewirken, bewirken auch eine Standardi‐ 32 Wolf-Dieter Ernst <?page no="33"?> 8 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 2016. 9 Dass es sich dabei um eine Entwicklung handelt, die Parallelen zum Aufstieg großbür‐ gerlicher Malerfürsten im 19. Jahrhundert aufweist, zeigt Wolfgang Ruppert: Der mo‐ derne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kultu‐ rellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998. 10 Vgl. zu Technik aus einer genealogischen Logik Gilbert Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte [franz. O. 1958], Zürich 2012. sierung.« 8 Ein wichtiger Wesenszug der Technisierung sei es dabei, so Beck, Dinge und Prozesse so zu standardisieren und vergleichbar zu machen, dass sie von individuellen Können und Entscheidungen abgekoppelt werden. Wir können die von Beck (und bereits von Weber) formulierte Dialektik von Individualität und Standardisierung auf die Künste übertragen. Werfen wir dazu einen Blick auf die Pop Art: Andy Warhol arbeitete bekanntlich in seiner Factory mit Verfahren des industriellen Siebdrucks, wobei er seine Ausbildung und Kenntnisse als Druckgrafiker nutzte. Zugleich umgab er diese Kunstproduktion mit einem auffällig individuellen Lebensstil, unter anderem in seiner als Kitchen bezeichneten persönlichen Lebenswelt, seiner Wohnung. Die Individualität löste sich bei Warhols Kunst also vom bildgebenden Verfahren, das mit der industriell-technischen Massenfertigung von Gebrauchsgrafik identisch ist, ab und verlagert sich auf bisher sekundäre Faktoren der Kunstproduktion, wie die Lebensführung des Künstlers, die Auswahl und Anordnung der Sujets, die Sig‐ natur und Kontrolle der Reproduktionen und die Vermarktung der Kunstpro‐ dukte und des Künstlerimages. 9 Warhols Beispiel ist interessant, wenn man es mit Becks weiteren Ausfüh‐ rungen zusammenführt, in denen er sich der dynamischen Entfaltung von Tech‐ nologie in der Zweiten Moderne widmet. Beck geht der augenfälligen Entwick‐ lung nach, dass Technik weniger ein Mittel darstellt, welches dem Zweck der Kunstwerkproduktion untergeordnet sei. Technik sei vielmehr prozessual zu verstehen in dem Sinne, dass sie vor allem weitere Techniken hervorbringe. Die Erfindung der Druckpresse etwa evoziert Verfahren der Typenherstellung, mo‐ difiziert die Papierproduktion und bringt neue Techniken der Distribution und Rezeption von Druckerzeugnissen hervor. 10 Um diese temporale und dynami‐ sche Struktur besser zu verstehen, rückt Beck die Frage der Technik in den Zeit‐ horizont von Spekulation, Risiko und Zukunft ein. Seiner Idee der Standardi‐ sierung und Individualisierung (von Stil) liegt dabei ein Risikokalkül zu Grunde: Je mehr Risiken technologisch minimiert werden sollen, so seine Analyse, desto mehr lebten wir allerdings in einer als dramatisch empfundenen und beschrie‐ benen Antizipation von Risiken. Folglich werde die technologische Entwicklung dahingehend gesteuert, Risiken abzuwehren, die wiederum technische Risiken 33 Stil, Technik und Risiko - eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze <?page no="34"?> 11 Vgl. zu einem Übertrag auf die Performance-Kunst Wolf-Dieter Ernst: »Performance, Technologie und ›tragische Individualisierung‹«, in: Gerda Baumbach, Veronika Da‐ rian, Günther Heeg, Patrick Primavesi und Ingo Rekatzky (Hg.): Momentaufnahme The‐ aterwissenschaft. Leipziger Vorlesungen, Berlin 2014 (= Recherchen, Bd. 117), S. 199-214. hervorbrächten - ein Teufelskreis. Da zukünftige, technologisch induzierte Ri‐ siken jedoch komplex und folglich immer schwerer zu kalkulieren seien und da sie in ihrem Ausmaß katastrophal sein können, wie Atomunfälle oder der Kli‐ mawandel zeigten, bestimme die Antizipation der Katastrophe weite Teile der gesellschaftlichen Entwicklung. Dieses Risikokalkül also erzeugt den Druck, der nach Beck die besondere dynamische Entwicklung von Technik erklärt. Wir müssen diese soziologischen Überlegungen an dieser Stelle nicht ver‐ tiefen. 11 Vielmehr kann - wenn Becks Analyse greift - eine fundamentale se‐ mantische Verschiebung eines wichtigen Elements der Stilbestimmung konsta‐ tiert werden: der Technik. Technik ist nun weder nur Mittel, noch Können oder Handwerk. Technik in der Zweiten Moderne erscheint vielmehr als ein Gebot zur Spekulation über eine (katastrophale) Zukunft. Technik und das sich daraus ableitende Stilgebot fordern Künstler also auf, zukünftige Risiken zu antizi‐ pieren und zu minimieren. Künstler legen sich in der Zweiten Moderne einen Stil zu oder lassen ihn sich zuschreiben in Hinblick auf zukünftige Ereignisse und nicht mehr auf Grund geschaffener Werke. Diese Stilzuschreibungen un‐ terliegen dabei nach Beck einer beinahe avantgardistisch anmutenden Überbie‐ tungsdynamik, welche die Tendenzen der Standardisierung und der Individua‐ lisierung am Laufen halten. In diesem Sinne lässt sich rasanter Stilwandel in den Künsten nicht mehr nur als Fortschritt oder Mode beschreiben, mit denen avantgardistische Künstler neue Materialien (wie das Industrieprodukt) und neue Verfahren (wie die Geste des Ausstellens) in die Kunst einführen. Die ge‐ sellschaftlich akzeptierte Individualität eines Duchamp, sein radikaler Austritt aus der Tradition der Malerklassen und Malstile wird im Sinne Becks zugleich als Effekt fortschreitender Technologisierung und Individualisierung erklärlich. In die Gegenwart übertragen können wir Duchamps oder Warhols avantgar‐ distische Gesten also als Reaktion auf einen Stildruck einer post-fordistischen Ökonomie interpretieren: Die Künstler spekulieren auf die Zukunft (der Kunst) und minimieren die Risiken ihrer Nicht-Akzeptanz oder Wegrationalisierung durch industrielle Fertigungstechniken, indem sie prozessuale statt generische Techniken und Stile erfinden. Man hat diese Wendung Konzeptkunst genannt, wovon ja auch mit Blick auf Choreographien die Rede ist. Damit hat man allerdings den Eindruck erweckt, als seien die Aspekte Technik und Stil obsolet geworden, weil es nur mehr um die Idee und den Einfall ginge. Mit Becks Überlegung führen wir den Technik‐ 34 Wolf-Dieter Ernst <?page no="35"?> begriff in die Kunstreflexion wieder ein und behaupten allerdings, dass die Ziel‐ stellung von Technik sich radikal ändert. Vereinfacht gesagt ist das Ziel nun in der Zeit (zukünftige Katastrophen) angeordnet und nicht länger im Raum (Werk) zu sehen. Es ist klar, dass künstlerische Techniken vor dem Hintergrund der Zweiten Moderne nicht mehr allein auf jene ungebrochene Tradition von Handwerk, Körpertechnik und Kunst bezogen werden können, wie es die Etymologie von techne und artes nahe legen und wie sie auch in Wollheims Überlegungen Ver‐ wendung finden. Wollheim geht noch davon aus, dass es zwei Ausprägungen von Techniken in den Künsten gibt: eine notwendige Technik, um bestimmte Verfahren zu erlernen und zu trainieren. Hierzu zählen etwa Etüden, Skizzen, interne Vorspiele - also alle propädeutischen Schritte, die der Konzeption und Produktion eines Kunstwerkes vorangehen, selbst aber darin nicht unmittelbar sichtbar werden. Davon verschieden, wiewohl eng damit verknüpft sind jene Techniken, die nicht von der Erscheinung des Werkes getrennt werden können. Eine Tanztechnik oder eine Sprechtechnik wären etwa prägnante Beispiele für diesen Typus von Technik. Technik als Prozess (der Zweiten Moderne) aller‐ dings ist Wollheims Reflexion nicht inhärent. Die Limitierung von Wollheims Definition von künstlerischen Techniken, die sicherlich viele im Kunstdiskurs teilen, ist dann auch schnell ersichtlich: Bereits Alltagsbewegungen im Tanztheater, elektronische Klänge und industrielle Ge‐ räusche in der Musik weisen ja eine Ähnlichkeit mit der außer-künstlerischen Produktion auf. Gesangs-, Bewegungs- und Sprechtraining, Etüden und Skizze gehören zu Kreativtechniken, die auch außerhalb des Feldes der Kunst Anwen‐ dung finden. Allenthalben können wir also kaum noch spezifische und exklusive Techniken der Künste ausmachen, die von Herstellungsprozessen in außer-künstlerischen Bereichen kategorial unterschieden und damit jenseits des Risikokalküls anzusiedeln wären. Das betrifft auch die mit der Person ver‐ schmolzenen Techniken in den darstellenden Künsten. Um nur ein prominentes Beispiel zu nennen: Die Schauspielerin mit Down-Syndrom Julia Häusermann vom Züricher Theater Hora, die 2013 den höchst dotierten Alfred-Kerr-Darstellerpreis auf dem Berliner Theatertreffen verliehen bekam, tanzt in dem von Jérôme Bel arran‐ gierten und choreographierten Abend Disabled Theatre. Was sie allerdings zeigt, kann schwerlich auf eine etablierte Tanztechnik zurückgeführt werden, noch ist es individuelle Technik, der Häusermann-Tanz. Es sei, wie der Juror Thomas Thieme sagt, bar jeder Kategorien berührend. Existenz im Augenblick. Schwermut und Übermut zugleich. Und diese Verlorenheit. Keine Chance, ihr auf irgendeine Technik, eine gesetzte Pointe zu kommen. Kein vir‐ 35 Stil, Technik und Risiko - eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze <?page no="36"?> 12 Thomas Thieme: »Existenz im Augenblick. Laudatio zur Verleihung des Alfred-Kerr- Preises 2013 an Julia Häusermann beim Berliner Theatertreffen«, Theater der Zeit, Jahr‐ buch 2013, S. 150. 13 Uwe Wirth: »Dilettantische Konjekturen«, in: Safia Azzouni und Uwe Wirth (Hg.): Dilettantismus als Beruf, Berlin 2010, S. 11-29, hier S. 24; vgl. zur Frage des Dilettan‐ tismus auch Meike Wagner et al: »Kunst - Nicht-Kunst - Andere Kunst«, in: Milena Cairo u. a. (Hg.): Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, Bielefeld 2016, S. 551-573. 14 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie (3. Stück. 8. Mai 1767), Stuttgart 1999, S. 24. Lessing reklamiert mit dieser Wendung die Möglichkeit der äußerlichen, technischen Beeinflussung der Empfindung des Schauspielers über die allmähliche An‐ sammlung »kleiner Regeln« (ebd.). tuoses Auftrumpfen und vor allem kein Buhlen um die Aufmerksamkeit und Liebe des Publikums. […] Und meine Kriterien - ich hatte ja ein paar - gingen den Bach runter. 12 Hat also Häusermann ihre eigene Technik? Oder ist der Tanz zu Michael Jack‐ sons They don’t care about us ein individueller Ausdruck, gefärbt mit dem für ihre Lebenssituation typischen und medial vermittelten Tanztechniken? Das Sich-ans-Genital-Fassen und der angedeutete »Moonwalk« Jacksons als Ge‐ meingut? Weder noch. Man kann hier keine klare Grenze zwischen professio‐ neller Tanztechnik und dem, was Uwe Wirth das »dilettantische Dispositiv« 13 nennt, ziehen. Man kann also bei Häusermann nicht mehr sagen, es tanze hier jemand mit Trisomie 21 und man kann nicht die Analogie zu den Kindern auf‐ machen, die in der Graham-Technik stillos erscheinen müssen, weil sie - ähnlich der Lessingschen »mechanischen Nachäffung« 14 - Darstellungstechniken le‐ diglich kopierten, ohne sie recht zu verstehen und zu empfinden. Das aber heißt, dass die Frage der Technik nicht mehr allein an Häusermanns Tanz, als dem sichtbaren Werk und seiner Herstellungsweise, festgemacht werden kann. Vielmehr prägt dieses Bühnenwerk eine verteilte und auf Zukunft umgestellte, also spekulative Autorschaft. Häusermann ist ohne Bels starke Au‐ torisierung, ohne den Diskurs um professionelles Schauspielen, für das der Juror Thieme und der Rahmen des Berliner Theatertreffens stehen, und ohne eine intensive mediale Debatte um die Anerkennung von Künstlern mit körperlicher oder geistiger Behinderung, auf die der doppeldeutige Titel Disabled Theatre, also das Theater von Behinderten und das behinderte Theater, anspielt, kaum denkbar. Wir müssen uns also die Technik als einen zentralen Baustein des tra‐ dierten Stilverständnisses nicht als objektive oder subjektive Eigenschaft vor‐ stellen, sondern eher als eine Handlungskette im Sinne Bruno Latours, mit der allmählich so etwas wie die Verfestigung eines Stils oder einer Tanztechnik her‐ gestellt wird. 36 Wolf-Dieter Ernst <?page no="37"?> 15 Marcel Duchamp: »A l’Infinitif« [1913], in: Michel Sanouillet und Elmer Peterson (Hg.): The Writings of Marcel Duchamp, Oxford 1973, S. 74-101, hier S. 74: »Speculations. Can one make works which are not works of ›art‹? «. Es ist wenig hilfreich, bei dieser Form des Produktionsprozesses nach jenem langen Training körperlicher Fertigkeiten und davon ausgehend der virtuosen Beherrschung körperlich und geistig schwieriger Aufgaben zu suchen, wie sie die Idee künstlerischer Techniken im Gegensatz zu anderen Techniken prägen und damit auch eine Säule des Stilbegriffs darstellen. Diese Säule bricht weg, weil sich die Produktionsbedingungen von Kunst geändert haben und weil die Produktionsprozesse nicht mehr auf klare Ziele hin ausgerichtet sind. Was bleibt, ist die Idee von Kunst, hochapostrophiert zur Haltung, zum Eigennamen und zur Duchamp’schen Autorisierungsparadoxie. »Kann man Werke machen, die keine ›Kunst‹ sind? « 15 , fragte sich Duchamp, der Künstler. Seine Versuche scheiterten, als das Publikum dahinterkam, wer sich hinter R. Mutt verbarg. Wir können diese Paradoxie übertragen auf unsere Frage nach der Stilbestimmung: »Kann man Werke machen, die keinen ›Stil‹ haben? « Die Antwort ist: Im Feld der Kunst, nein. Denn früher oder später greift über Anschlusskommunikation das Stilpostulat und trachtet eine Entscheidung herbeizuführen, ob der Fall weiter im oder außerhalb des Feldes der Kunst behandelt wird. Stil haben - eine Frage des Besitzes Aber gab es nicht doch so etwas wie ein Handwerk, welches sich dem hier skiz‐ zierten ökonomisch-technischen Kalkül entzieht? Erkennt man nicht doch Handschriften oder etwa Tanzstile gerade daran, dass sie eine genuine Vermi‐ schung persönlicher und technisch-materieller Aspekte darstellen und könnte man nicht einfach einen Unterschied zwischen einem weiteren Stilbegriff und dieser speziellen Konnotation des Stilbegriffs bezogen auf die Künste, insbe‐ sondere auf die vom Körper direkt hervorgebrachten Künste machen? Der Be‐ griff stilus könnte das nahelegen. Er bedeutet lateinisch auf den Prozess bezogen Schreibart, künstlerische Ausdrucksweise und bezogen auf das Produkt, also das Material und Werkzeug Griffel, kleiner Dolch (ital. ›stiletto‹), Pfahl. Innerhalb dieses semantischen Spektrums von instrumenteller Technik und Instrument wird gerne eine Gründungsgeschichte gestrickt. Eines ihrer erzählerischen Ele‐ mente ist die Annahme, dass die Schreibweise eines Künstlers mit der Material- und Werkzeugwahl eine Symbiose eingehe. Die Handschrift etwa, ob mit Tinte oder Kohle, amalgamiere mit dem Material, der Felswand oder dem Papyrus und erst, als die Schreibwerkzeuge und Materialien immer mehr zurücktreten, als das weiße Blatt Papier die tabula rasa darstellt, auf der nun ganz im Vordergrund 37 Stil, Technik und Risiko - eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze <?page no="38"?> der schriftlich fixierte Sinn in distinkten Drucktypen erscheint, gehe die hand‐ werkliche Bestimmung von Stil allmählich über in eine ideelle und mithin künstlerische Bestimmung von Stil. Diese Geschichte leitet den Stilbegriff her, indem der direkte Bezug auf den Körper stark gemacht wird - ganz im Gegensatz zum Beck’schen Risikokalkül, in welchem von körperlichen Techniken gar nicht die Rede ist. Nicht zuletzt deshalb genießt diese Geschichte von der Material-Werkzeug-Symbiose hohe Attraktivität im Umfeld der (Körper-) Künste. Schauen wir aber auf die wohl am besten überlieferten Stile solcher antiker und frühneuzeitlicher Schreibszenen, so sind Schreibtechnik und Schreibart, Körper und Technik bereits unweigerlich voneinander gespalten. Stil und den stilus bezieht man etwa in den Dombauhütten auf bestimmte, runenähnliche Zeichen, mit denen die Steinmetze beziehungsweise Familien und Verbünde die von ihnen in Form gebrachten Steine markierten. Diese Stilmerkmale sind noch heute an sakralen Bauten zu sehen. Die Art und Form von Steinmetzzeichen variierte je nach Kultur. Die Zeichen wiederum unterscheiden sich deutlich voneinander, um so die eindeutige Zuordnung des Werkes zum Künstler zu ge‐ währleisten. Davon sind Versatz- und Versetzzeichen zu unterscheiden, die in gleichem Schreibstil entstanden, aber allein bautechnische Belange markieren. Sicherlich waren mit den Steinmetzzeichen in späterer Zeit auch Akte künst‐ lerischer oder meisterlicher Signatur verknüpft. Zunächst allerdings - und das ist der entscheidende Punkt - verwiesen diese Markierungen der Steinblöcke auf ein ökonomisches Kalkül. Der Stapeltheorie zufolge ritzten die Steinmetze die von ihnen hergestellten Blöcke - und zwar der Einfachheit halber nur die obersten eines abgelieferten Stapels -, um somit ihre Vergütung zu erlangen. Die stilistische Markierung der Blöcke war also erstens notwendig, weil deren standardisierte Form sie verwechselbar mit Blöcken anderer Steinmetze machte. Wie in den gesampelten Musikstücken, in Duchamps Fountain und Häuser‐ manns Tanzbewegungen haben wir also bereits eine proto-industrielle Serialität und Austauschbarkeit, welche die Idee individueller Herstellung und Material‐ gestaltung aushebelt. Zweitens sichert die Markierung mit einem individuellen Zeichen die Urhe‐ berschaft und damit die Rechte am Werk. Stil haben heißt hier, davon zu profi‐ tieren, dass man das Recht erlangte, etwas als mit seinem Stil hergestellt zu markieren. Diese Idee der Autorisierung widerspricht der Annahme, Stil sei etwas, was sich vorrangig in der individuellen Schreibweise oder in der künst‐ lerischen Ausdruckskraft, etwa in jedem Pinselstrich eines Gemäldes oder in jeder Wortwahl eines Sprachkunstwerkes, wiederfinden ließe. Ganz im Gegen‐ teil wäre ein individuell geschaffener Steinblock dem gesamten Dombauprojekt 38 Wolf-Dieter Ernst <?page no="39"?> 16 Robert Blum (Hg.): Allgemeines Theater-Lexicon oder Encyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde, Altenburg/ Leipzig 1846. in seiner Statik ja gar nicht zuträglich und könnte der Architektur nur als Ornat zugefügt werden. Drittens verweisen die Steinmetzzeichen auf weitere Bestimmungen, welche sicherstellen, dass der Akt der Stilisierung gelingt. Denn die Versatzzeichen konnte offensichtlich jeder am Dom beteiligte Steinmetz hauen, die Signatur des Meisters einzuhauen, war aber insofern eine Frage des Stils, als man dazu die Erlaubnis der Zunft benötigte und damit das gelernte Baukunsthandwerk nach‐ weisen musste. Zu Stil wird hier etwas nur durch die Anerkennung einer dritten Instanz, die sich zwischen Künstler und Produkt schiebt. Duchamp hat zu Recht diese dritte Instanz in der Jury der Armory Show ausgemacht. Es ging also ähn‐ lich wie in der Geburtsstunde der Konzeptkunst in der Stilisierung von Stein‐ blöcken für sakrale Architektur auch darum, eine Organisationsform und kul‐ turelle Praxis zu erfinden, mit der das Eigentum unverwechselbar einem Urheber zugeordnet werden kann. Schauspiel 1915 - Stilkrise und Kulturpolitik Vielleicht lässt sich die aktuelle Debatte um Tanz, Stil und Technik, der das Symposion gewidmet war, besser vom Standpunkt einer Nachbarkunst her er‐ hellen, in welcher der Stilbegriff tatsächlich abgewirtschaftet zu sein scheint: der Schauspielkunst. Kaum jemand würde heute von Schauspielstil sprechen, um die Vielfalt der zeitgenössischen schauspielerischen Darbietungen begriff‐ lich fassen zu wollen. Wenn wir nun einen Blick in die Geschichte der Schau‐ spielkunst werfen, lässt sich der Wandel des Begriffs Stil an der Sparte Schau‐ spiel also dramatischer veranschaulichen, da im Sprechtheater gleichsam der personale Stil immer schon mit dem generischen Stil überkreuzt war und eine klare Bestimmung verunmöglichte. Dem Allgemeinen Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyklopädie alles Wis‐ senswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde  16 von 1846 ist Stil gar kein Eintrag wert, man spricht vielmehr von Darstellungsweisen oder (Gesangs-)Schulen. Deutlicher wird der Begriff des Schauspielstils jedoch in Krisenzeiten, also dann, wenn der Ruf nach einem starken Stilbegriff ertönt, um bestimmte kul‐ turpolitische Tendenzen zu befördern, zu bewahren und andere zu verhindern. Als Krisenzeit des Sprechtheaters können sicherlich die ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts gelten. So erhebt Franz Graetzer, Schriftsteller, Dramaturg 39 Stil, Technik und Risiko - eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze <?page no="40"?> 17 Franz Graetzer: »Stil in Lustspielaufführungen«, in: Die Scene, 5. Jg., Heft 5/ 6, Mai 1915, S. 77-80, hier S. 78. 18 Ebd. 19 Ebd. und leitender Redakteur der Theaterzeitschrift Die Scene, 1915 die Forderung, man möge sich wieder auf einen tradierten Stil der Schauspielkunst besinnen, so wie er einst, lange vor der Zeit des Ersten Weltkrieges in den antiken Tra‐ gödien gepflegt wurde. Seine Ausführungen sind insofern erhellend, als man hier erkennt, wie im Ruf nach Stil eigentlich eine Wertediskussion geführt wird. Zunächst konstatiert Graetzer einen pejorativen Gebrauch des Begriffs Stil: »Es gab eine (noch nicht allzu lange begrabene) Zeit in der Theatergeschichte, da das Wort und mehr noch der Begriff ›Stil‹ zu den am strengsten verpönten ge‐ hörte.« 17 So schreibt er wohl vor allem mit Blick auf Max Reinhardts Expansion der Theatermittel. Sodann kritisiert Graetzer in aller Deutlichkeit, dass fortan der personale Stil dominierte. Es war die Epoche, in der, wie in kaum einer anderen, das Aneinandervorbeispielen der Darsteller an der Tagesordnung war, in der alle Manier (und Unmanier) des ein‐ zelnen unbeschränkt und straflos sich ausleben durfte, in der die Temperamente, un‐ gebändigt, ohne jede äußere Hemmung sich entluden, in der endlich die grübelnde Nuancenjagd Triumphe feiern konnte.« 18 Graetzel fährt fort, den personalen Stil als Anzeichen für einen umfassenden Kulturverfall darzustellen. Die Periode war es, der eine Zeitlang Westeuropas begrifflich überspannter Parla‐ mentarismus (auch der Bühnenkünstler) zuzustreben schien, die im Geschäftsleben durch die Formel des ›Amerikanismus‹ längst nicht mehr erschöpfbar ist und die zuletzt in der Erziehungstheorie den verderblichen Beifall selbst scheinbar Kluger vo‐ rübergehend gewann. Es war für Deutschlands Theater die Zeit der unbegrenzten Unmöglichkeiten, der Geschmacksverirrungen ohne Ende, der schauspielerischen Zügellosigkeit; und ihre Überwindung ist noch immer nicht völlig erreicht. 19 Ist Stilverfall als Problem konstruiert, gilt es nun, um die Stilkrise zu überwinden, den einzig richtigen Stil zu bestimmen, alles andere als Mode zu deklarieren, von der Coco Chanel sagt, sie altere, während Stil bleibe. Was also ist eine pro‐ duktive Definition von Stil? Graetzer liefert: Er postuliert schlicht, dass Stil überzeitliche Gültigkeit besitze und quasi in den überlieferten Werken gespei‐ chert sei. Daher kann er mit Blick auf die Tragödie schreiben: 40 Wolf-Dieter Ernst <?page no="41"?> 20 Ebd. In der tragischen Kunst zuerst mußte jene Ära der Verwilderung ausgerodet werden; denn Tragödie heißt […] Bändigung, Harmonie, Logos, und ihr dienen, hieß zu jeder Zeit: ein Förderer am Worte zu sein, ein Kettenglied bleiben, sich fügen und durch wech‐ selseitige, ungestörte Nebenordnung allseitig sich besonders stark unterordnen. Derar‐ tige Axiome, Grundgesetze, die seit dem durch sie umschnürten Begriff bestehen, können immer nur für ganz kurze Frist missachtet und umgestoßen werden, ihre ewige Wieder‐ kehr kann als so gesichert gelten wie die einer gesunden Sprachkunstpflege. 20 Indem Graetzer hier das rückwärtsgewandte Argument von den Grundgesetzen der Theaterkunst mit der politischen Idee der Unterordnung verknüpft, macht er auch klar, dass die Stildebatte immer im Verdacht steht, sich gerade nicht mit Kunstwerken, mit Tanz- oder der Schauspielaufführungen als konkreten Phä‐ nomen auseinanderzusetzen, sondern stattdessen von normativen Kunstbe‐ griffen ausgeht, um die Deutungshoheit bewahren zu wollen und »andere Werke und Schriftsteller« von der Bühne zu verbannen. Kurzes Fazit Coco Chanel war dezidiert modern, wenn sie behauptete: »Mode wandelt sich, Stil bleibt«. Die hier angestellten Überlegungen zielten darauf ab, gegen diesen modernen Stilbegriff und seine wahlweise Zurechnung von Stil auf die Person oder das Werk das dynamische Verständnis von Stil in der Zweiten Moderne darzulegen, welches es besser erlaubt, die kulturhistorische und kulturökono‐ mische Dimension der Stildebatte ins Zentrum zu rücken. Dabei war von der Beobachtung auszugehen, dass nach Duchamp der generische Stil rückläufig, der personale Stil hingegen ein Gebot zu sein scheint. Diese Beobachtung wurde in den Denkhorizont des von Ulrich Beck entwickelten Risikokalküls einge‐ rückt. Stil unterliegt demnach analog dem Technikbegriff einer Dynamik, zu‐ künftige Risiken zu antizipieren und Katastrophen abzuwehren. Dieses zentrale Merkmal dessen, was Beck als die Zweite Moderne bezeichnet, ist ursächlich für die Stildynamik: bestehende Stilbestimmung evozieren weitere Stilgebote, In‐ dividualisierung von Stilen führen auf ihrer Rückseite rigide Standardisierungen mit sich et cetera. Man muss also nicht nur fragen, wer hat Stil und worin zeigt sich das, sondern auch, welche Machtinstanz und welches Technikverständnis entscheidet darüber, was als Stil anerkannt wird, und welcher spekulative Zwang treibt den Stilwandel voran? Dies ist die kulturökonomische Bedeutung von Stil, die sich insbesondere in der Semantik des Besitzes ausdruckt: Man hat Stil, weil man im Unterschied zu anderen von diesem Privileg profitiert. 41 Stil, Technik und Risiko - eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze <?page no="43"?> 1 Mary Wigman: »Rudolf von Laban zum Geburtstag«, in: Schrifttanz, 2. Jg., H. 4 (De‐ zember 1929), S. 65 f., hier S. 65. Stilfragen? Patricia Stöckemann im Gespräch mit Thomas Betz über Rudolf von Laban, Mary Wigman und Kurt Jooss [T. B.] Was die Bewegungsgestaltung betrifft, wer hat Wigman beein‐ flusst? [P. S.] … und inspiriert. Die Zusammenarbeit mit Laban: Seit 1913 war sie einbezogen in dessen theoretische Überlegungen und die Umsetzung seiner Theorien in die tänzerische Praxis. In der Zeitschrift Schrifttanz zu Labans 50. Geburtstag schrieb sie: »Er war der große Entdecker und Anreger. Er schuf die Grundlagen, auf denen wir Tänzer, ob wissentlich oder nicht, heute basieren.« 1 Bei den Rekonstruktionen von Wigmans Le Sacre du Printemps (1957) und To‐ tentanz I und II (1917/ 21 und 1926), die wir im Theater Osnabrück 2013 und 2017 unternommen haben, sind mir die vielen Bezüge zu Labans Bewegungssystem, seiner Raumharmonielehre, aufgefallen, beispielsweise zu den Skalen, der Ver‐ bindung von Bewegung und Raum bzw. Körper und Raum im choreographi‐ schen Denken oder der Konzeption einzelner Figuren durch charakteristische Bewegungsqualitäten und Raumwege. Das alles basiert auf Labans Raumlehre, der Choreutik, und auf seiner Ausdruckslehre, der Eukinetik: auf ganz be‐ stimmte Weise muss ein »Dämon« im Raum platziert sein und seine Bewe‐ gungen in den Raum hinein ausführen, um seine dämonische Wirkung zu ent‐ falten. Es gab ja kein Bühnenbild als »dämonisches« Umfeld, sondern es war Tanz pur. Getanzt wurde anfangs auf Podien, kleinen Bühnen, Konzertbühnen, in unterschiedlichsten Sälen und nicht nur in Theatern. Wigmans Text war eine Würdigung zu Labans 50. Geburtstag, eine an‐ erkennende Reverenz - zugleich ein Schachzug im Umfeld einer inten‐ siven Rivalität um die Vorherrschaft im deutschen Tanz, einer ab ca. 1927 immer wieder befeuerten und mühsam befriedeten Fehde. Aus La‐ bans Perspektive war seine ehemalige Schülerin eine Abtrünnige, was <?page no="44"?> die Institutionalisierungsbemühungen seiner ›Sendung‹ anlangte, und ging als Schöpferin eines auf individuellem Erleben beruhenden Tanzes nicht konform mit seiner Idee von Gemeinschaft. Wigman wiederum wollte dem Theoretiker, Funktionär und Organisator Laban nicht einen Alleinvertretungsanspruch für die Tänzerschaft zugestehen, und schon gar nicht eine künstlerische Führungsrolle: mit seinem »Tanztheater« sowie seinem Fokus auf chorischem Tanz und Laientanz. Interessant ist, dass sich - gleichsam stilistisch - Wigman und ein anderer Laban-Schüler und -Mitarbeiter, nämlich Kurt Jooss, mit ihrem künst‐ lerischen Œuvre im kulturellen Gedächtnis stärker verankert haben als der Begründer und selbsternannte Führer Laban. Ja, aber Labans Bewegungsdenken, seine theoretischen Grundlagen - Wigman hat ja anfänglich selbst oft bei und für Laban unterrichtet - waren durch seine Schulgründungen weit verbreitet und sind allein deshalb nicht zu unterschätzen. Er war bis Anfang der 1930er Jahre eine der führenden Persönlichkeiten des Tanzes. Ich glaube, er geriet auch deshalb in Vergessenheit, weil er nach 1945 nicht - wie Kurt Jooss - nach Deutschland zurückkehrte. Und keine von Labans Schulen besaß eine Kontinuität, bis in die Gegenwart, wie die von Jooss be‐ gründete Folkwangschule. Wenn Laban theoretisch wie praktisch, und auch systematisch, Grund‐ lagen erarbeitet hat, die Möglichkeiten tänzerischer Gestaltung eröffnet haben, die es vorher bei Isadora Duncan oder Ruth St. Denis nicht ge‐ geben hat, würde man künstlerisch von einem Laban-Stil sprechen, von einem Wigman-Stil, von einem Jooss-Stil? Ich würde bei allen Dreien nicht von einem Stil sprechen, vielleicht von Stil‐ elementen, die ihre künstlerischen Arbeiten bestimmen. Wigman hat ja nicht, wie Duncan oder St. Denis, Figuren nachgebildet, musikalische Stimmungen aufgerufen, dekorativ historisch-exotische Welten interpretiert. Ein wichtiger Einfluss für Wigman war auch Nietzsche. Ein frühes Solo, 1916 in Zürich, hat sie Also sprach Zarathustra betitelt. Auf Nietzsches Konzept vom »Übermen‐ schen« basiert übrigens auch Labans Diktum »Jeder Mensch ist ein Tänzer«, jeder hat die Möglichkeit zur vollkommenen Bewusstwerdung dessen, was du - in der Bewegung, auf der Bühne - tust. Das ist eine Tiefenspur, die sich durch den gesamten modernen Tanz zieht, und die später auch ins Ballett eingegangen ist. Wie Susanne Linke sagt: »im kleinen Finger spüren, was du im rechten Fuß tust«. Laban lieferte mit seinem System Konzepte, die man lernen konnte und mit denen jeder dann umgehen konnte. 44 Patricia Stöckemann und Thomas Betz <?page no="45"?> Abb. 1: Mary Wigmans letztes Tanzwerk Le Sacre du Printemps (1957) in der Rekonstruk‐ tion von Henrietta Horn (künstlerische Leitung), Susan Barnett und Katharine Sehnert mit den Tanzensembles des Theaters Osnabrück und des Theaters Bielefeld 2013, Foto: Jörg Landsberg. Auch wenn man nicht von einem Stil sprechen wollte, unterscheidet sich stilistisch das frühe Werk bei Wigman vom späten? Sie haben ja an der Rekonstruktion von Totentanz I und II und Le Sacre du Printemps maß‐ geblich mitgearbeitet. Beim Sacre sieht man das Wigman’sche »Vibrato« und das Gleiten, man sieht pathetische Elemente wie die Gruppenfüh‐ rung nach vorne oder fast eine Art Dornenkrönung. Aber dazwischen gibt es fast balletthafte Elemente in den Bewegungen und Sprüngen der Männer, ist das nicht ein Fremdkörper? Wigman hat ihren Sacre für die Berliner Festwochen 1957 choreographiert, für das Ballettensemble der damals noch Städtischen Oper - Konstanze Vernon war dabei -, ergänzt um eigene Schülerinnen und Dore Hoyer, die als Ausdrucks‐ tänzerin die Rolle des Opfers selbst gestaltete. Die Sprünge empfinde ich nicht als Fremdkörper, sie gehören zum Bewegungsrepertoire des modernen Tanzes, Ausdruckstanzes. Wigman hat Sprünge nicht ausgeschlossen und sie hat auch abgestimmt auf die Tanzende gestaltet. Im Totentanz I, einem Quartett, den neben Wigman Schülerinnen wie Gret Palucca, Berthe Trümpy und Yvonne 45 Stilfragen? <?page no="46"?> Georgi getanzt haben, kommen Sprünge vor. Die sind ja mit enthalten im Ma‐ terial des Qualitäten-Spektrums von Labans Theorie, mit dem auch Wigman gestaltet. Ich empfinde übrigens, wenn man historische Fotos betrachtet, die Unterschiede zwischen den Ballets Russes und dem Ausdruckstanz im Erschei‐ nungsbild oft als gar nicht so groß. Auch wenn das »Vibrato« ausgehend von ihrem Körper entwickelt wurde, hat Wigman ein Element wie Sprünge nicht ignoriert. Abb. 2: Mary Wigmans Totentanz I (1917/ 1921) zu Saint-Saëns’ Danse macabre in der Rekonstruktion von Henrietta Horn (verantwortlich), Susan Barnett, Christine Caradec und Katharine Sehnert mit der Dance Company des Theaters Osnabrück 2017; Rosa Wijsman, Katherina Nakui, Cristina Commisso und Marine Sanchez Egasse (von links) tanzen die 1921 von Berthe Trümpy, Gret Palucca, Yvonne Georgi und Mary Wigman verkörperten Geister, Foto: Jörg Landsberg. Also keine entscheidenden Unterschiede zwischen frühen Arbeiten und Spätwerk? Um wirklich beurteilen zu können, wie sich Wigman stilistisch entwickelt hat, müsste man mehrere Stücke zu rekonstruieren versuchen. Es gibt, im Einzelnen, natürlich Unterschiede. Bedingt auch durch den thematischen Fokus. Hedwig Müller untergliedert Wigmans Œuvre in »feierliche«, »dämonische« - diese 46 Patricia Stöckemann und Thomas Betz <?page no="47"?> 2 Hedwig Müller: Mary Wigman. Leben und Werk der großen Tänzerin, Weinheim/ Berlin 1986, 3., unveränd. Auflage 1992, S. 192-201. 3 »Bei Wigman war es so, dass beispielsweise Grundbewegungsarten wie Gehen und Drehen auf ihre Variationsmöglichkeiten und Qualitäten hin erforscht und ausprobiert wurden.« Patricia Stöckemann: »Gespräch mit Katharine Sehnert über Mary Wigman und ihre Technik. Köln, 20. März 2010«, in: Ingo Diehl, Friederike Lampert (Hg.): Tanz‐ techniken 2010. Tanzplan Deutschland, Leipzig 2011, S. 162-167, hier S. 164, 163 und 164 f. zwei Begriffe stammen von Wigman - und »heiter-gelöste« Tänze. 2 Wo sich der Zeitgeist ändert, da ändern sich auch Form und Ausdruck in der Kunst, sagt Wigman. Die Gruppentänze der 1930er Jahren zeichnen sich durch ein strengere Formgebung aus. Es gibt in den Künsten starke klassizistische Tendenzen seit Ende der 1920er Jahre und eine Suche nach »Ordnung«. Man kann vermuten, dass Wigman versuchte, sich ästhetisch in das neue politische System einzu‐ binden. Man sieht das an Fotos von Frauentänze (1934) und Tanzgesänge (1935). Schon in der Kostümierung, auch in der Aufreihung. Alles sehr gleichförmig, sehr marmorn. Verglichen etwa mit einem Stück wie Die Feier (1927/ 28), auch mit symmetrischer Anordnung und ähnlichen Formationen und Gruppen‐ wegen, das auf Fotos deutlich expressiver und weniger konformistisch wirkt. Nach dem Zweiten Weltkrieg sehe ich im Chorischen wieder eine Anbindung an die 1920er Jahre. Der »neue Tanz«, in seiner Abgrenzung zum Ballett, hatte ja - theore‐ tisch - viele Möglichkeiten der Selbstformatierung. Es gab Schulgrün‐ dungen, wie die von Wigman oder die von Jooss, wo nicht nur die Jooss-Leeder-Methode unterrichtet wurde, weil Jooss integrativ dachte. Waren die Ziele des Unterrichts der zukünftigen Künstler*innen also sowohl tänzerische Gestaltungsmöglichkeiten als auch Persönlichkeits‐ bildung im Sinne innerer Haltung? Man kann nicht sagen: »Das ist eine Wigman-Bewegung«, meint die Wigman-Schülerin Katharine Sehnert. Ziel war es, das kreative Potenzial der Einzelnen zu entwickeln, der Körper wurde ganzheitlich geschult und als Instrument verfeinert, nicht im Sinne einer Technik als spezifisches System und nicht im Sinne einer Perfektionierung, die »stilgerecht« ist.« 3 Nochmal gefragt, es gibt also, im strengen Sinn, keinen Jooss- und keinen Wigman-Stil? In der Pädagogik gibt es unterschiedliche Ansätze. In der künstlerischen Arbeit eher Stilelemente - darüber müsste man nochmal nachdenken. Jooss nannte als Grund für den weitreichenden und langlebigen Erfolg von Der grüne Tisch (1932) einmal: »Es gibt keine Ornamente«. Die Wirkung basiert auf der dramatischen »Bedeutung« der Bewegungen, auf der intensiv erarbeiteten »Beziehung von 47 Stilfragen? <?page no="48"?> 4 Ruth Foster: »Interview mit Kurt Jooss«, 16. 4. 1963, Deutsches Tanzarchiv Köln (DTK), Transkription zitiert nach Patricia Stöckemann: Etwas ganz neues muß nun entstehen. Kurt Jooss und das Tanztheater, München 2001, S. 164. 5 Kurt Jooss: »Gedanken über Stilfragen im Tanz. Vortrag, gehalten am 23. September 1957 an der Folkwangschule der Stadt Essen«, in: schrift 5, hrsg. von der Folkwangschule für Gestaltung, Essen, März 1958, zitiert nach dem Typoskript im DTK. 6 Ebd. innerer Bewegung und Körperbewegung«. 4 Es ging ihm dabei um die »Essenz«, seine selbstgestellte Forderung war, »in strenger Selbstkritik und kompromiss‐ loser Disziplin stets die echte, die wesentliche Bewegung für einen bestimmten Inhalt zu finden und damit zu komponieren«. So Jooss in »Gedanken über Stil‐ fragen im Tanz«, einem Vortrag an der Folkwang-Schule 1957. 5 Stil muss Jooss zufolge in Überstimmung stehen mit kompromissloser Suche nach »Wahrheit«: »Nachdem uns die Bewegung ihre Geheimnisse preisgegeben hat, nachdem wir den Sinn einer klassischen Pirouette ebenso wie den einer tief gekrümmten Drehung, den Ausdruck einer Attitude auf der Fußspitze ebenso wie den des fließenden Armschwunges richtig zu erleben und zu verstehen gelernt haben, steht - in Übereinstimmung mit dem eben besprochenen Wahrheitssinn unserer Epoche - das Stilgesetz klar vor uns: gut ist, was jeweils wahrer Ausdruck des Themas ist; schlecht, was mit solcher Echtheit nichts zu tun hat.« 6 In diesem Zitat sind ja klassische Technik und moderner Tanz gleicher‐ maßen angesprochen. Der Stilbegriff fällt bei Jooss ja spät, in einer Selbstvergewisserung seines pä‐ gagogischen Wirkens, wobei das Gedanken sind, die Jooss vermutlich schon bei der Westfälischen Akademie in Münster mit Leeder, dann bei der Grün‐ dung der Folkwang-Tanzabteilung 1927 in Essen, dann 1933 in Dartington und 1949 bei der Wiedereröffnung der Tanzabteilung in Essen beschäftigt haben. Was benötigt ein voll ausgebildeter Tänzer - für den Bedarf der Zeit? Und im Unterschied etwa zu Wigman hat Jooss den Gedanken des Laban’schen Sys‐ tems, alle menschenmöglichen Bewegungen zu erfassen und zu charakteri‐ sieren, dergestalt ernst genommen, dass er auch Ballett und dessen Theorie in die Ausbildung mit integriert hat, Improvisation, Folklore und Volkstanz, später weitere Techniken. Jooss ging es in seiner Pädagogik darum, »das Bewusstsein: ›Warum be‐ wege ich mich‹« zu wecken, so charakterisiert es Reinhild Hoffmann, die 1965-1970 bei Jooss in Essen studiert hat. »Wenn das einmal klar ist, 48 Patricia Stöckemann und Thomas Betz <?page no="49"?> 7 Zitiert nach Hedwig Müller, Ralf Stabel und Patricia Stöckemann: Krokodil im Schwa‐ nensee. Tanz in Deutschland seit 1945, Frankfurt am Main 2003, S. 189. wird man plötzlich frei von allen Stilen und man kann Bewegung selbst erfinden.« 7 Ja, Jooss hat kein fertiges Vokabular, in der Ausbildung auch keine fix definierten Exercises. Wenn man vielfältige technische Fertigkeiten in kleinsten Details sich erarbeitet, dazu Bewegungsbewusstsein und Körper-Awareness entwickelt hat und wenn man technisch dann derart in der Lage ist, die Parameter von Energie, Zeit, Raum in feinsten diversen Abstufungen in Bewegung zu übersetzen, dann sind das die Grundlagen für die künstlerische und kompositorische Arbeit. Bei Wigman, die in späteren Jahren weniger als Technik-Unterrichtende, denn als künstlerische Person in ihren Schulen wichtig war, ist es insofern vergleichbar, als zum Beispiel das Schwingen den Weg in eine künstlerische Komposition findet. Bei Jooss übrigens übte man, über die Laban-Schwünge im Cho‐ reutik-Unterricht hinaus, zahlreiche vielfach kombinierte und komplexe Schwungformen. Wenn du Schwünge, als Technik, erlernst, lernst du auch, den Körper loszulassen, und diese Erfahrung kann dann in ein thematisches Ele‐ ment, einen künstlerisches Prozess mit eingehen. Es gibt zu Wigman ja kaum Filmmaterial. Und die Stücke sind sehr un‐ terschiedlich dokumentiert. Wurde bei den Wigman-Rekonstruktionen mit den Tänzer*innen über Stil gesprochen? Und wie wurde daran ge‐ arbeitet? Insofern, als zunächst danach gesucht wurde, die Qualitäten einer Bewegung zu erfassen. Also Bewegung nicht als formalen Akt, als »Bild« zu produzieren. Sondern zu fragen: Was ist vom Bewegungsansatz her gemeint? Woher kommt diese Form? Wie geht diese Bewegung in den Raum? Woher kommt diese Hal‐ tung? Auch ohne auf ein historisches »Parfüm« der besser überlieferten späten Wigman zu vertrauen. Aus diesem Herausfinden ergibt sich dann die ›Stilistik‹ dieser bestimmten Bewegung. Das Kopieren einer quasi typischen Ausdrucks‐ tanz-Bewegung wäre kein Problem, aber Henrietta Horn, als Leiterin der Re‐ konstruktion, hat - aus ihrer Zusammenarbeit mit Susanne Linke, aus der Kenntnis der Folkwang-Tradition - vermittelt, dass es bei diesen erst einmal einfach aussehenden, teils skurrilen Bewegungsformen darum geht, zu wissen, was du tust. Wie setzt du die Qualität? Wie atmest du da hinein? Wie denkst du da hinein? Erst in diesem Stadium der Arbeit haben die jungen Tanzenden ka‐ piert, wie schwierig das ist, Wigman zu tanzen. 49 Stilfragen? <?page no="50"?> 8 Kurt Jooss: »Die Sprache des Tanztheaters« [1935/ 38]. Typoskript, DTK, zitiert nach Stöckemann 2001 (wie Anm. 2), S. 230. Abb. 3: Mary Wigmans Totentanz II (1926) in der Rekonstruktion von Henrietta Horn (verantwortlich), Susan Barnett und Katharine Sehnert mit der Dance Company des Theaters Osnabrück 2017, Foto: Jörg Landsberg. Der sogenannte Ausdruckstanz wäre dann gar kein Stilbegriff in dem Sinne wie »Expressionismus« in der Malerei, mit seinen Gruppen und unterschiedlichen Einzelvertreter*innen, sondern wäre eher als Epo‐ chen-Begriff wie Frühe Moderne zu verwenden? Kein geprägter, ge‐ pflegter und prägender Stil, sondern eine Reformbewegung: Jeder Mensch ist sein Stil. Jedes Werk ist ein Stil? Labans Bewegungsanalysen und ihre praktisch ausgearbeitete Verankerung in der Pädagogik etwa bei Jooss und Leeder bieten eben keine fixierte Technik und kein formal-stilistisches Bewegungsvokabular. Die Technik existiert um der künstlerischen Form willen, formulierte Jooss im englischen Exil. »Die Form aber wechselt mit dem wechselnden Zeitgeist, daher muss die Technik wechseln, sich erneuern mit ihm.« 8 Im Gestalten aus den Denk- und Bewegungsräumen, die Laban aufgetan hat, aus der individuellen Suche und somatischen Erfahrung, was den Bewegungsausdruck anlangt, kann man in der künstlerischen Arbeit 50 Patricia Stöckemann und Thomas Betz <?page no="51"?> ganz individuelle Wege gehen, eigene tanzstilistische Präferenzen entwickeln. Was Originalität und Innovation anlangt, im Blick auf das Œuvre und die ein‐ zelnen Werke bei Wigman, kann man sagen, dass sie als Künstlerin »ihre« Themen hatte, die sie ein Leben lang beschäftigt haben. Insofern gibt es eine gewisse Beschränkung in der Bandbreite, auch hinsichtlich der Ausdrucks‐ formen. Wenn man sich intensiver mit den einzelnen Stücken beschäftigt, würde man vielleicht doch auf Elemente von »Wigman-Stil«, was für mich immer noch seltsam klingt, in ihrem Bewegungsspektrum kommen. Freilich, wenn man immer von der dramatischen und düsteren Wigman gehört hat, ist man erstaunt, wie viel Bewegungswitz in Arbeiten wie dem Totentanz I, den sie als »Tanzgro‐ teske« bezeichnet hat, und dem Totentanz II steckt, in dem der »Dämon« auch etwas Skurriles ausstrahlt. Abb. 4: Weibliche Gestalt (Marine Sanchez Egasse) und Dämon ( Jayson Syrette) in der Rekonstruktion von Mary Wigmans Totentanz II (1926), Dance Company des Theaters Osnabrück 2017, Foto: Jörg Landsberg. 51 Stilfragen? <?page no="53"?> 1 Vgl. Hanns Niedecken-Gebhard: »Der Tanz und die Bühne«, in: Heinrich Reuss (Hg.): Jahrbuch des Reussischen Theaters, Leipzig 1925, S. 41-44, hier S. 43, und »Vom kom‐ menden Theater«, in: Deutsches Musikjahrbuch 1925, S. 211-212, hier S. 212, sowie »Ein Rückblick. Dreißig Jahre Händelrenaissance«, in: Die Göttinger Händel-Festspiele. Fest‐ schrift, Göttingen 1953, S. 23. Siehe auch die Werkbiografie von Bernhard Helmich: Händel-Fest und »Spiel der 10.000«. Der Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard, Frankfurt am Main u. a. 1989. Der umfangreiche Nachlass Niedecken-Gebhards findet sich in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung (TWS) der Universität zu Köln, Schloss Wahn. 2 Vgl. aus zeitgenössischer Perspektive Rudolf Steglich: »Die neue Händel-Opern-Bewe‐ gung«, in: Händel-Jahrbuch, 1. 1928, S. 71-158. 3 Vgl. zum späteren Umgang mit der eigenen NS-Vergangenheit exemplarisch den Brief‐ wechsel zwischen Niedecken-Gebhard und Carl Diem (Nachlass Diem, Carl und Liselott Diem-Archiv, Deutsche Sporthochschule Köln, Korrespondenz 1948-1950): Im darin erhaltenen Bericht über meine antifaschistische Betätigung auf kulturpolitischem Gebiet vom 25. Januar 1947 (Bl. 9) behauptet Niedecken-Gebhard, alle seine »Inszenierungen für das Olympia-Stadion und die Freilichtbühne Berlin« seien »auf die grössten Schwie‐ rigkeiten beim Prop.Min.« gestoßen. Am 19. Dezember 1939, als keine Massenspektakel mehr stattfinden, notiert Goebbels demgegenüber in seinem Tagebuch: »Mit Niede‐ cken-Gebhardt [sic] Zukunft der Tanzakademie besprochen. Er scheint mir der rechte Mann zu sein.« (Zit. n. Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des staatlichen Archiv‐ diensts Russlands. 9 Bd.e in 14 Teilen. München 1997-2005, Online-Ressource: Natio‐ nalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933-1945 und Tagesrapporte der Gesta‐ poleitung Wien 1938-1945). Bewegungsals Regierungskunst: Zum »tänzerischen Stil« Hanns Niedecken-Gebhards Evelyn Annuß Tänzerischer Stil, so nennt Hanns Niedecken-Gebhard seine bewegungschori‐ sche Avantgarde-Ästhetik. 1 Experimente des Ausdruckstanzes aufgreifend, avanciert er damit in der Weimarer Republik zum Vorreiter der Händel-Renais‐ sance 2 und wird 1933 schließlich nicht nur der wichtigste, sondern auch der wandlungsfähigste Massenregisseur der Nazis, bevor er 1947 in Göttingen als Professor für Theaterwissenschaft Karriere macht. 3 In der NS-Zeit bestimmt seine Inszenierungsweise maßgeblich die Formentwicklung des propagandisti‐ schen Massentheaters. Nun handelt es sich dabei um Bewegungskunst im dop‐ <?page no="54"?> 4 Vgl. ausführlicher Evelyn Annuß: Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Mas‐ senspiele, Paderborn 2018; Rainer Stommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft, Marburg 1985. 5 Vgl. etwa Michel Foucault: Kritik des Regierens. Schriften zur Politik, Frankfurt am Main 2010. 6 Laurence Louppe: Poetik des zeitgenössischen Tanzes. Übersetzt aus dem Französischen von Frank Weigand, Bielefeld 2009, S. 114; siehe auch S. 35. 7 Vgl. zur Begriffsprägung Colin Crouch: Postdemokratie, Frankfurt am Main 2008; mit Blick auf neoliberalisierte Subjektivierungsformen siehe Ulrich Bröckling: Das unternehmeri‐ sche Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007. pelten Sinn: eine Kunst, die den Tanz mobilisiert und zugleich die Massen als politische Bewegung in Szene setzt, um sie entsprechend zu regieren. Die pro‐ pagandistische Form tänzerischen Regierens ist im Nationalsozialismus aller‐ dings, wie sich gerade an Niedecken-Gebhards Arbeiten deutlich zeigen lässt, einem grundlegenden Wandel unterlegen. Zunächst wird im Thingspiel, also im frühen, der Gleichschaltung dienenden NS-Massentheater, eine chorisch-kulti‐ sche, Partizipation suggerierende Inszenierung der leibhaftigen Volksgemein‐ schaft in eigens gebauten Amphitheatern erprobt. 4 Darin leben in der Tat aus‐ druckstänzerische Choreografieelemente ideologisch aufgeladen fort. Später hingegen wird im spektakulär-ornamentalen Stadionspiel das Publikum zwar unter den selben politischen Vorzeichen, nun aber gewissermaßen sachlich und im profanierten Raum adressiert. Vergemeinschaftungspraktiken werden neu besetzt. So zeugt die Entwicklung getanzter nationalsozialistischer Propaganda unter Niedecken-Gebhards Regie letztlich auch von veränderten Subjektivie‐ rungsangeboten. Vor diesem Hintergrund erkundet mein Beitrag die Stilfrage, um die zeitgenössische Transformation von Führungs- und Selbstlenkungs‐ praktiken lesbar zu machen. 5 Katja Schneider wirft im Rahmen dieses Bandes mit Laurence Louppe die Stil‐ frage als Frage nach dem auf, was man »unter der choreographischen Sprache rauschen hört«. 6 Ich möchte diese ursprünglich phänomenologisch bestimmte Frage in Auseinandersetzung mit Niedecken-Gebhards Arbeit biopolitisch reper‐ spektivieren, um die gesellschaftliche Tiefendimension einer Bewegungskunst der Massen in der Zwischenkriegszeit zu erkunden und grundlegende Kräftever‐ schiebungen zu skizzieren; denn diese Verschiebungen - so mein Vorschlag - wirken bis heute, also auch unter anderen, postdemokratischen, Vorzeichen fort. 7 Entsprechend bedürfen sie der Historisierung: Es handelt sich um Vorboten des Wandels von disziplinarzu kontrollgesellschaftlichen Regierungstechniken, die es gerade heute - angesichts eines globalisierten Neoliberalismus und dessen Korrespondenz mit rechtspopulistischen Politiken, der Begeisterung für Führer‐ figuren und kulturalistisch besetzte Partikularinteressen - in ihrer Gewordenheit 54 Evelyn Annuß <?page no="55"?> 8 So bereits Gilles Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders.: Un‐ terhandlungen 1972-1990, Frankfurt am Main 1993, S. 243-262. Zur Renaissance pasto‐ raler Regierungstechniken vgl. zuletzt Bröckling: Gute Hirten führen sanft. Über Men‐ schenregierungskünste, Berlin 2017; hinsichtlich der zugrunde liegenden Abstiegsängste Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Mo‐ derne, Berlin 2016; zur Herausbildung entsprechender Neogemeinschaften Andreas Reck‐ witz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 229-271. 9 Niedecken-Gebhard: »Vom kommenden Theater«, 1925 (wie Anm. 1), S. 212. 10 Vgl. Nachlass Niedecken-Gebhard, Box 2 (TWS Köln); siehe auch Helmich 1989 (wie Anm. 1), S. 140. 11 Zum kultischem Theater vgl. noch einmal Niedecken-Gebhard: »Vom kommenden Theater«, 1925 (wie Anm. 1), S. 212. zu reflektieren gilt. 8 Mit Blick auf den Nationalsozialismus wird erst verstehbar, dass hier möglicherweise etwas fortlebt, was wir in der schlichten Abgrenzung vom tumb-organizistischen, rückwärtsgewandten Kult um das rassistische Phan‐ tasma Volksgemeinschaft, wie ihn das Thingspiel zelebriert, oder von einem ver‐ meintlich nationalsozialistischen, über 12 Jahre hinweg immergleichen Stil allzu leicht übersehen. Mein Fokus liegt auf dem, was unterhalb der allzu bekannten propagandistischen message in bewegungschorischen NS-Inszenierungen statt hat. Das Rauschen unter der Choreografie, die Stilfrage der propagandistischen Bewegungskunst, verweist so gesehen auf zeitgenössische Regierungstechniken im Foucault’schen Sinn - auf deren Dispositive, ihren Wandel und ihr Fortleben. Führen »Das Theater erhält wieder einen kultischen Sinn, es gewinnt wieder den Ko‐ thurn des gehobenen erfüllten Pathos, und es entsteht endlich wieder das von tiefer, echter Religiosität getragene Ethos der Schaubühne! « 9 So formuliert es Niedecken-Gebhard 1925 - in einer Zeit, in der er den Begriff tänzerischer Stil zu propagieren beginnt. Schon in der Weimarer Republik betont er also das kultische Moment dieses Stils. Im Frühjahr nach der Machtübernahme beendet Niedecken-Gebhard seinen seit 1931 bestehenden Vertrag als Spiel‐ leiter der Metropolitan Opera New York und kehrt zurück, während viele nach und nach Deutschland verlassen. 10 Offenbar ist er enttäuscht vom US-ameri‐ kanischen Desinteresse an seinen bewegungschorischen Regievorstellungen für Oper und Oratorium. Unter NS-Herrschaft hofft er demgegenüber, seinen schon in den 1920er Jahren gehegten Traum von einem kultischen Theater verwirklichen und damit seinen tänzerischen Stil weiterentwickeln zu können. 11 Der Künstler Niedecken-Gebhard hat offenbar keine tagespoliti‐ schen oder gar explizit antisemitischen Motive, wohl aber die Motivation, als 55 Bewegungsals Regierungskunst: Zum »tänzerischen Stil« Hanns Niedecken-Gebhards <?page no="56"?> 12 Vgl. Inge Baxmann: Mythos: Gemeinschaft. Körper und Tanzkulturen in der Moderne, München 2000 sowie Yvonne Hardt: Politische Körper. Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik, Münster 2004. 13 Niedecken-Gebhard, »Künstlerische Laienaufführungen«, in: Rheinische Wochenschau vom 10. März 1928. 14 Ebd. 15 Niedecken-Gebhard: »Chor-Regie«, in: Singchor und Tanz. Fachblatt für Theatersingchor und Kunsttanz, 1, 1932, S. 2-3. Regisseur der Massen etwas Spektakuläres zu schaffen und in etwas ver‐ meintlich Großartiges einbezogen zu sein. Hierzu setzt Niedecken-Gebhard auf affektive Vergemeinschaftung. Die Ak‐ zentuierung des Affektiven über choreografierte kollektive Bewegungsformen 12 ist zwar keineswegs eine Erfindung der Nazis; sie verbindet Niedecken-Gebhard mit vielen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, etwa mit Rudolf von Laban - bei aller Differenz auch mit Max Reinhardt und Erwin Piscator, denen die NS-Pro‐ paganda entsprechend zunächst das Massentheater der Zukunft anträgt. Dass aber Niedecken-Gebhard mit dem Plan eines die Vergemeinschaftungsbedürf‐ nisse triggernden Propagandatheaters der Zukunft besser kompatibel ist, hängt nicht zuletzt mit seinem Anspruch auf die eigene Führungsrolle in der bewe‐ gungschorischen Arbeit zusammen. So schreibt er 1928 in einem Artikel über Künstlerische Laienaufführungen, der Berufsregisseur genieße »als Fachmann die Autorität, die für die gemeinschaftliche Arbeit […] unerlässliche Vorausset‐ zung« 13 sei: »Geleitet und geführt von einer kundigen Hand werden sich die Laienspieler mit ihrer ganzen Kraft ihrer schönen Aufgabe hingeben.« 14 Hier kündigt sich das Selbstbild vom Bewegungsregisseur als Führer an. Die klare Unterscheidung zwischen autoritär-kundigem Kopf und ausführendem Organ korrespondiert denn auch mit der später von Niedecken-Gebhard insze‐ nierten Gefolgschaftsideologie. Entsprechend der Etymologie des Avantgarde‐ begriffs übersetzt er seinen Anspruch zu führen schließlich ins Militärische. Wie im Heeresdienst ginge es darum, »die seltsam geteilte psychische Struktur im Chor« 15 zu binden, »dass sich Persönliches übergeordnet zusammenschließt im allgemeinen«, so der 1932 veröffentlichte Text Chor-Regie: Im richtigen Erfassen dieser psychologischen Zusammenhänge wird sich schließlich unsere Berufenheit zur Führerschaft erweisen. Denn wir sollten über den künstleri‐ schen Ehrgeizen in unserem Berufe ja nicht vergessen, dass wir das Leben so reich in uns gestalten, dass wir aus ihm Kräfte gewinnen, Menschenmassen zu führen und künstlerischen Aufgaben dienstbar zu machen. […] Das große chorische Werk, das 56 Evelyn Annuß <?page no="57"?> 16 Ebd., S. 3. 17 Vgl. Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher [1890], 85.-90. Auflage, Stuttgart 1936, sowie Dürer als Führer. Vom Rembrandtdeutschen und seinem Gehilfen [d. i.: Julius Lang‐ behn und Momme Nissen], München 1928. 18 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. Mit einer Einleitung von Reinhard Lauth, 5., durchgesehene Auflage nach dem Erstdruck von 1808, Hamburg 1978. 19 Zur pastoralen Regierungskunst vgl. bereits 1978 Foucault: »Was ist Kritik? «, in: ders. 2010 (wie Anm. 5), hier S. 239; aktuell anknüpfend vgl. Bröckling 2017 (wie Anm. 7), S. 15-44. Zur literarischen Nachgeschichte des Pastoralen in der anderen Moderne siehe Ulrike Haß: Militante Pastorale. Zur Literatur der antimodernen Bewegung im frühen 20. Jahrhundert, München 1993. uns alltagsüberhöhende Festlichkeit schaffen kann, wird eine unserer vornehmsten Aufgaben werden. 16 Dieses sich zunehmend dem NS-Verständnis von Gefolgschaft annähernde Selbstbild des Künstlers als Führer der Massen steht im Zusammenhang mit einem Stilbegriff, der sich im 18. Jahrhundert entwickelt und im bürgerlichen Geniekult des 19. Jahrhunderts etabliert: ein Verständnis vom Individualstil als subjektiver Eigenart künstlerischen Schaffens und dessen Führungspotenzial. Entsprechend weist schon Julius Langbehn in seinen Bestsellern Rembrandt als Erzieher (1890) und Dürer als Führer (1928) dem bildenden Künstler eine natio‐ nalistisch aufgeladene Führungsrolle zu. 17 Darin wiederum lebt das Fichte’sche Erziehungsmodell der politischen Romantik medienmigrantisch fort, das um 1800 auf nationale Belebung durch die Apostrophé der Deutschen setzt. 18 Fichte projiziert gewissermaßen ein überkommenes Pastoral- oder Hirtenmodell auf sein eigenes, akademisch gerahmtes Sprechen, modernisiert und verbürgerlicht dieses Modell also, bevor es auf die Figur des Künstlers als Führer übertragen wird. 19 Entsprechend bietet sich gerade die Auffassung vom subjektiven Stil im Sinne bestimmter formaler Eigenschaften, die dem eigenen choreografischen Werk ihr distinktes Bestimmungsmoment verleihen, geradezu an, um die Füh‐ rungsrolle des künstlerischen Ichs auch und gerade im Zeitalter der Massen zu behaupten und mit dem Gefolgschaftsmodell der Nazis kurzzuschließen. Geht es bei Fichte noch um die produktive Affektion durch die professorale Stimme, steht Niedecken-Gebhards tänzerischer Stil und der mit ihm verknüpfte Füh‐ rungsanspruch im Kontext einer neuen, raumgreifenden Bewegungskunst der Tanz- und Theateravantgarden. So gerät der tänzerische Stil der Propaganda zu einer Kunst, die Massen in Bewegung gleichzuschalten, zur Figur der Volksge‐ meinschaft zu formen und auf die Führerfigur auszurichten. Im Projekt dieser bewegungskünstlerischen Gleichschaltung aber erweist sich das Kultische einer 57 Bewegungsals Regierungskunst: Zum »tänzerischen Stil« Hanns Niedecken-Gebhards <?page no="58"?> leibhaftig inszenierten Volksgemeinschaft im Unterschied zum Führerprinzip als eine nur vorübergehende Erscheinungsform Formen Niedecken-Gebhards tänzerischer Stil ist von zweierlei bestimmt: Erstens werden Bewegungs- und Singchöre voneinander getrennt, um so das raumgrei‐ fende Moment der zeitgenössischen Tanzkunst akzentuieren zu können, und zweitens überwindet die orchestrierte Kollektivbewegung die Rampe. So lässt sich dem Publikum also durch eine technisch ausgereifte Regie suggerieren, am getanzten und gesungenen Geschehen teilzuhaben. Hierzu greift Niede‐ cken-Gebhard von Anfang an Experimente des Ausdruckstanzes bzw. der Avantgardechoreografie auf. Abb. 1: Probe zu Georg Friedrich Händels Alexander Balus, Städtische Bühnen Münster, Halle Münsterland, 1926, Regie: Hanns Niedecken-Gebhard, Bühne: Hein Heckroth, Fo‐ tografie, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln. Wie sich an seiner 1926er Inszenierung von Händels Oratorium Alexander Balus zeigt, operiert er schon früh mit einer Kollektivfigur, die in den Zuschauerraum 58 Evelyn Annuß <?page no="59"?> 20 Vgl. Evelyn Annuß: »Wollt ihr die totale Theaterwissenschaft? «, in: Milena Cairo/ Moritz Hannemann/ Ulrike Haß/ Judith Schäfer (Hg.): Episteme des Theaters. Aktuelle Konzepte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, Bielefeld 2016, S. 635-647; siehe zudem Annuß 2018 (wie Anm. 4). 21 Vgl. Richard Euringer: Deutsche Passion 1933, Berlin 1934. Siehe auch Miriam Haller: Das Fest der Zeichen. Schreibweisen des Festes im modernen Drama, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 212-222. hineintanzt und so eine Verbindung zwischen Publikum und szenischer Dar‐ stellung schafft. Er exponiert das Bewegungsmoment über den Bühnenrahmen hinaus. Entgegen der Vorstellung von der Bühne als Tableau, als Guckkasten, begreift er seine Arbeit also von Anfang an im Sinn einer modernen Raumkunst. Gepaart mit seiner Affirmation des Führerprinzips prädestiniert ihn genau das nach der Machtübernahme dazu, seinen Stil für die Propaganda einzusetzen und Führungspraktiken tänzerisch zu erproben. Das Bestimmungsmoment des Thingspiels nämlich besteht darin, der Volksgemeinschaft im Zuge des szeni‐ schen Geschehens, also mittels kollektiver Bewegung, eine einheitliche, mili‐ tarisierte und in diesem Sinn raumgreifende, leibhaftige Figur zu verleihen. 20 Die Überschreitung der Rampe soll im Thingspiel allerdings - anders als in Alexander Balus - durch den Publikumsraum hindurch auf die Bühne erfolgen, Vergemeinschaftung suggerieren und Immersion herstellen. Zentrales Charak‐ teristikum dieser Massenchoreografien wird daher die kollektive Bewegung durchs Publikum. In diesem Kontext überführt Niedecken-Gebhard den Traum von der alltagsüberhöhenden Festlichkeit unter seiner Regie in jene Erzählung, die für die Thingspiele und damit die Frühphase der Propaganda nach der Machtübernahme kennzeichnend ist: in das Narrativ von der Auferstehung der Gefallenen des Ersten Weltkriegs in der nationalsozialistischen Revolution von 1933. Nachdem er bereits im November 1933, beauftragt von der rheinischen Spiel‐ gemeinschaft für nationale Festgestaltung, Kurt Eggers’ Das Spiel von Job dem Deutschen in den Kölner Messehallen als Testversion eines neuen Massenthea‐ ters in Anlehnung ans Passionsspiel inszeniert, wird Niedecken-Gebhard 1934 Spielleiter der Pilotinszenierung eines Thingspiels unter freiem Himmel: Ri‐ chard Euringers Deutsche Passion 1933 im Rahmen der Heidelberger Reichsfest‐ spiele. Er soll die erste repräsentative Thingstätte bespielen. Das Stück, das den von der Propaganda geschützten Markennamen Thingspiel erhält, erzählt von einem namenlosen untoten Soldaten, der die zerrissene Bevölkerung zur Volks‐ gemeinschaft vereint. 21 Niedecken-Gebhards Aufgabe ist die bewegungschori‐ sche Übersetzung dieses zunächst via Radio ans Ohr adressierten Narrativs. 59 Bewegungsals Regierungskunst: Zum »tänzerischen Stil« Hanns Niedecken-Gebhards <?page no="60"?> 22 Vgl. Meinhold Lurz: Die Heidelberger Thingstätte. Die Thingbewegung im Dritten Reich: Kunst als Mittel politischer Propaganda, Heidelberg 1975. Dass die geplante Propagandainszenierung gründlich danebengeht und wir entsprechend keine Bilder von bewegten Massenchören besitzen, liegt einzig an der grandiosen Fehlplanung des Bauprojekts: Niedecken-Gebhard muss auf den Schlossplatz ausweichen und seine Thingproduktion unter chaotischen Ver‐ hältnissen auf kleinstem Raum realisieren, weil die vom Arbeitsdienst gebaute Thingstätte nicht rechtzeitig fertig wird. 22 Die noch expressionistisch ausstaf‐ fierten Soldatenchöre können daher auch nur in Nahaufnahme fotografiert werden. Doch eine von Hein Heckroth - dem Bühnenbildner bereits von Ale‐ xander Balus - entworfene Skizze zeugt davon, wie die Inszenierung ursprüng‐ lich aussehen sollte. Deren Konzept operiert über Gruppenfiguren, die den Raum bewegungskünstlerisch dynamisieren. Abb. 2: Skizze im Regiebuch zu Hanns Niedecken-Gebhards für die Reichsfestspiele Hei‐ delberg 1934 auf der Thingstätte geplanter Inszenierung von Richard Euringers Deutsche Passion 1933, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln. Niedecken-Gebhards Karriere als Thingregisseur ist mit dem Desaster von Hei‐ delberg beendet, bevor sie überhaupt richtig beginnt. Und genau das wiederum 60 Evelyn Annuß <?page no="61"?> 23 Vgl. an Verordnungen des Propagandaministeriums von 1936 anknüpfend Hitlers Absage an Mystizismus und Kult in seiner sogenannten Kulturrede von 1938 auf dem Nürnberger Reichsparteitag: ausschnittweise abgedruckt in Max Domarus: Hitler. Reden und Prokla‐ mationen 1932-1945, Wiesbaden 1973, Bd. 1, S. 892-894, hier 894. 24 Vgl. [Programmheft] Olympische Jugend. Festspiel zur Aufführung im Olympia-Stadion am Eröffnungstage der XI. Olympischen Spiele in Berlin am Sonnabend, 1. Aug. 1936, 21 Uhr, Berlin 1936. 25 Vgl. Hedwig Müller/ Patricia Stöckemann (Hg.): »… jeder Mensch ist ein Tänzer.« Ausdrucks‐ tanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945, Gießen 1993, S. 171-176. 26 Zum zehnmal aufgeführten, jeweils ausverkauften, von Herbert Windt vertonten Fest‐ spiel Berlin in sieben Jahrhunderten mit insgesamt einer Million Zuschauenden, dem Höhepunkt der Berliner 700-Jahr-Feier, siehe den Nachlass Niedecken-Gebhards (TWS Köln, Box 3: u. a. Regiebuch sowie Programme). Fotos von Szenen des Festspiels siehe in Müller/ Stöckemann 1993 (wie Anm. 25), S. 140-142 und S. 113 (Schlussbild »Das neue Deutschland«). macht seinen Erfolg aus. In dem Moment, in dem Gefolgschaftsrituale auch im Alltag installiert und die Nürnberger Gesetze proklamiert sind, sich der Herr‐ schaftsapparat also konsolidiert, wird das kultische Moment volksgemeinschaftli‐ cher Inszenierung ohnehin verabschiedet. 23 Die Laien sind gleichgeschaltet, als sich der Nationalsozialismus 1936 im Zuge der Olympischen Spiele und vor dem Hin‐ tergrund des inzwischen etablierten Tonfilms zur quasi postdisziplinären Spekta‐ kelkultur wandelt und das Thingspiel ad acta legt. Entsprechend experimentiert Niedecken-Gebhard im Rahmen des von Carl Diem verfassten Festspiels zur Er‐ öffnung der Olympischen Spiele mit einer veränderten Form seines tänzerischen Stils, mit der er verstärkt Anleihen bei der rhythmischen Massengymnastik nimmt. 24 Nun arbeitet er mit spektakulärer Ornamentalisierung der Massen und setzt sie als Label im Stadion ein. Die olympischen Ringe werden 1936 erstmals choreographisch in Szene gesetzt. Dieser tänzerische Stil wird zum Modell der spä‐ teren massentheatral choreografierten Inszenierungen im NS, in denen das Event an die Stelle leibhaftiger Vergemeinschaftungsdarstellungen tritt. 25 Was 1936 als reigenhaft getanztes Olympialabel funktioniert, wird im nächsten Jahr in das aus Körpern formierte Hoheitszeichen des Reichs über‐ tragen und im Bild eingefroren. Nun ist das choreografische Stilprinzip gerade des frühen Thingspiels - zumindest in seiner ›idealen‹ Form - gerade nicht jene immergleiche Formierung, die Volksein versinnbildlichen soll, sondern die cho‐ reografierte Darstellung einer Volksgemeinschaft im Werden. In dem Stadion‐ spiel von 1937 26 hingegen lässt Niedecken-Gebhard - auf Elemente der Revue, der Massengymnastik und des Reigentanzes rekurrierend - die kollektive Be‐ wegung von 1.500 weiß gekleideten Schulmädchen im lebenden Hoheitszeichen erstarren: in einem Hakenkreuz, darüber ein Adler mit geöffneten Flügeln und 61 Bewegungsals Regierungskunst: Zum »tänzerischen Stil« Hanns Niedecken-Gebhards <?page no="62"?> 27 Siehe Hitlers Verordnung über die Gestaltung des Reichs-Hoheitszeichens vom 7. März 1936, veröffentlicht im Reichsgesetz I am 11. März 1936: 145 (documentarchiv.de/ ns/ 1936/ hoheitszeichen-reich-gestalt_vo.html, Abruf: 12.5.2018); siehe hierzu Gerhard Paul: Der Aufstand der Bilder, Bonn 1990, S. 169-170. nach rechts gewendetem Kopf. 27 Diesen Höhepunkt eines Festspiels der Berliner 700-Jahr-Feier versucht Niedecken-Gebhard denn auch als sein Markenzeichen zu etablieren. 1939 recycelt er das Bild in verkleinerter Variante anlässlich des »Tags der Deutschen Kunst« im Münchner Dantestadion. Abb. 3: Hanns Niedecken-Gebhard: Choreographische Skizze auf dem Grundriss des Münchner Dantestadions zu Triumph des Lebens am »Tag der Deutschen Kunst« 1939, Nachlass Niedecken-Gebhard, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln. 62 Evelyn Annuß <?page no="63"?> 28 Niedecken-Gebhard: »Die Gesamtgestaltung des Festspiels Olympische Jugend«, in: Olympische Jugend (wie Anm. 24), S. 31-32, hier S. 31. Vgl. auch die entsprechende Ent‐ gegensetzung von Dietrich-Eckart-Bühne und Arena in seinem Vortrag »Aufgabe und Probleme monumentaler Festgestaltung« am 13. Oktober 1938 im Rahmen des Inter‐ nationalen Kongresses für Singen und Sprechen in Frankfurt am Main (Typoskript im Nachlass Niedecken-Gebhard, Box 12, v. a. Bl. 6-7 von 12). 29 Vgl. vor allem die Arbeiten Busby Berkeleys; hierzu Jim Terry/ John Thomas: The Busby Berkeley Book. Vorwort von Ruby Keeler, Greenwich 1973. 30 Vgl. zum benthamschen Panopticon als Paradigma der Disziplinargesellschaft Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1977, S. 251- 292; zum Synoptikon, an Kino und Fernsehen orientiert und mit Kritik an Foucault, Thomas Mathiesen: »The Viewer Society. Michel Foucault’s ›Panopticon‹ Revisited«, in: Theoretical Criminology 2. 1997, S. 215-234. Im Massentheater tritt mit diesen Stadionornamenten die vergemeinschaftete Vogelperspektive an die Stelle der durchs Publikum hindurch auftretenden Volksfigur. Niedecken-Gebhard beschreibt das neue Schauprinzip bereits im Kontext seines Festspiels Olympische Jugend: Der Aufbau eines Festspiels in einer Sportkampfarena bedeutet eine erstmalige und neuartige Aufgabe auch für den Regisseur, der das Ganze Gestalt werden lassen soll. Unsere ›Bühne‹ ist nicht erhöht vor dem Zuschauer errichtet, sondern liegt tief unten auf grüner Rasenfläche weit ausgedehnt. Aus der ›Vogelperspektive‹ betrachtet der Zuschauer alles Geschehen und die Hunderttausend im weiten Oval erzwingen ein Spiel, das Front nach allen Seiten nimmt und jedem Betrachter, wo immer er sitzt, einen Gesamteindruck verschafft. 28 Die durch die Darstellung ideologisch aufgeladene Vogelperspektive ermöglicht es, dem Stadionpublikum das Gefühl zu vermitteln, an etwas Großartigem be‐ teiligt zu sein. Niedecken-Gebhards tänzerischer Spätstil reagiert damit auf den zeitgenössischen medialen Wandel und die mit ihm verknüpfte Transposition des Führerprinzips in die Orchestrierung des Blicks. Der Kurzschluss von Vo‐ gelperspektive und kollektiver Bewegungskunst nämlich wird im Top Shot des Revuefilms 29 bereits zuvor erprobt und in der Eröffnungsszene von Riefenstahls 1935er Reichsparteitagsfilm Triumph des Willens zur Inszenierung des Führer‐ blicks auf die formierten Massen aufgegriffen. Anstatt die Volksfigur im Thing erscheinen zu lassen, dirigiert Niedecken-Gebhard ab 1936 vornehmlich den privilegierten Blick auf die ornamental bewegten Massen, um die Selbstaffektion der Versammelten zu ermöglichen, indem er ihnen nahelegt, kollektiv die Füh‐ rerperspektive einzunehmen. An die Stelle einer immersiven Bewegungskunst, die Teilhabe im kollektiven Auftreten durch die Zuschauerreihen hindurch be‐ hauptet und auf die dargestellte Führerfigur ausrichtet, tritt nun gewissermaßen das panoptische Synoptikon des Stadionspiels. 30 Teilhabe wird darin mit Hilfe 63 Bewegungsals Regierungskunst: Zum »tänzerischen Stil« Hanns Niedecken-Gebhards <?page no="64"?> 31 So Foucault in einer Vorlesung am Collège de France vom 1. Februar 1978; siehe Foucault 2010 (wie Anm. 5), S. 114. 32 Ebd., S. 63. des Blicks der Vielen aufs Spektakel imaginiert und der gemeinsame Blickwinkel zugleich mit der Führerperspektive identifiziert. Der bewegungskünstlerische Formwandel geht denn auch mit veränderten Regularien einher: Während im Thingspiel Klatschen, Rauchen, der Gebrauch von Operngläsern verpönt und Andacht angezeigt ist, steht nun die Selbstfeier der Massen stärker im Vordergrund. Die Art und Weise des Führen- und Ge‐ führt-Werden-Wollens ändert sich Mitte der 1930er Jahre offenbar. Entspre‐ chend werden die bisherigen, unter anderem vom Passionsspiel geborgten Dis‐ ziplinartechniken verabschiedet. Mit dem Wandel des tänzerischen Stils, seiner Ornamentalisierung und der Abkehr von der leibhaftig präsentierten Volksfigur, gehen unter NS-Herrschaft letztlich Subjektivierungsformen einher, wie sie sich ab den 1920er Jahren zu Beginn konsumkapitalistischer Entwicklungen ankün‐ digen. An Niedecken-Gebhards Arbeit, so meine These, lässt sich unterhalb der Darstellungsebene ein zeitgenössischer regierungskünstlerischer Wandel ab‐ lesen, der bis heute - freilich unter anderen gesellschaftlichen und medialen Bedingungen - relevant ist. Die Vorstellung, es gäbe einen faschistischen Stil, eine spezifische Form der Ästhetisierung von Politik durch die bewegungs‐ künstlerische Inszenierung der Massen, steht damit grundlegend in Frage. Fortleben Die Bevölkerung zu führen, so Foucault in seiner Vorlesung zur Gouvernemen‐ talität, heiße, sie »in der Tiefe, in der Feinheit und im Detail zu führen«. 31 Was man aus biopolitischer Perspektive, um Louppe zu entwenden, »unter der cho‐ reographischen Sprache rauschen hört«, sind die jeweiligen Praktiken, die auf affektive Vergemeinschaftung und Führeridentifikation setzen. Foucault zufolge findet im europäischen Kontext des späten 18., frühen 19. Jahrhunderts die »Machtergreifung über den Menschen als Lebewesen« 32 statt. Disziplinartech‐ niken werden durch Machttechniken ergänzt, die die Kreuzung von Körper und Bevölkerung zunächst im Modus der Individualisierung vollziehen. In der NS-Propaganda aber ist bereits der Weg vom Disziplinären zum Regulatorischen an der Inszenierung der Massen ablesbar. Der Stilwandel eines Affekttheaters der Nazis, wie es Niedecken-Gebhard gestaltet, gerät zum Vorboten neuer, kon‐ trollgesellschaftlicher Regierungspraktiken und ihrer thanatopolitischen Kehr‐ seite unter NS-Herrschaft. 64 Evelyn Annuß <?page no="65"?> 33 Vgl. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. Essay [1927]. Mit einem Nachwort von Karsten Witte, Frankfurt am Main 1977, S. 51-52; siehe hierzu bereits Wieland Elfferding: »Von der proletarischen Masse zum Kriegsvolk. Massenaufmarsch im deut‐ schen Faschismus am Beispiel des 1. Mai 1933«, in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.): Inszenierung der Macht. Ästhetische Faszination im Faschismus, Berlin 1987, S. 17- 50. 34 Vgl. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen [1964], Leipzig 1990; vgl. hierzu Judith Butler: »Hannah Arendt’s challenge to Adolf Eichmann«, in: The Guardian, 29. 8. 2011 (theguardian.com/ commentisfree/ 2011/ aug/ 29/ hannah-arendt-adolf-eichmann-banality-of-evil; Abruf: 12.5.2018). 35 Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1955, 1966], München/ Zürich 1986, S. 702. Nun lässt sich die Abstraktion von der leibhaftigen Darstellung als Bedingung für den potenziellen Abschied von Blut und Boden lesen. 33 Dort aber, wo das Führerprinzip fortwirkt, geraten Distanznahme, Abstraktion und Anonymität im Gespann mit dem Phantasma des totalen Überblicks zum Komplement des Absehens von Exklusionspolitiken und der Selbstermächtigung jener, deren Verbrechen - so Hannah Arendts These in ihrem Buch über den Eichmann-Pro‐ zess - darin besteht, nicht kritisch zu denken, sich der horizontalen Verhältnis‐ nahme zu verweigern. 34 Entsprechend warnt sie bereits in Elemente und Ur‐ sprünge totaler Herrschaft, 1951 in der englischsprachigen Version erstmals erschienen, vor dem Fortleben von Lagerstrukturen unter demokratischen Vor‐ zeichen. 35 Arendts Warnung scheint heute so aktuell wie lange nicht. Was aber tun, im Kontext einer beschleunigten Aufmerksamkeits- und Empörungsöko‐ nomie, in der sich Teile der Mehrheitsgesellschaft als endangered species be‐ greifen und nach Führern mit potenziertem Affekttrigger-appeal rufen, um die aus ihrer Sicht Überflüssigen fernzuhalten. Es gilt auch heute, die inzwischen flexibilisierten Kräfte unterhalb der politischen Inszenierungen zu reflektieren, die Renaissance des pastoralen Prinzips in seinen vielfältigen Erscheinungs‐ formen zu kritisieren, um jene planetarischen Verhältnisse, in denen unsere fa‐ schistische Erbschaft nachlebt, anders zum Tanzen zu bringen. 65 Bewegungsals Regierungskunst: Zum »tänzerischen Stil« Hanns Niedecken-Gebhards <?page no="67"?> 1 Jennifer Homans: Apollo’s Angels, London 2010, S. 508. 2 Laurence Louppe: Poetik des zeitgenössischen Tanzes. Übersetzt aus dem Französischen von Frank Weigand, Bielefeld 2009, S. 120. Re: George Balanchine - Stil und Divertissement Claudia Jeschke und Rainer Krenstetter Die folgende Text-Collage versucht die Lecture Performance zum Balan‐ chine-Stil zu verschriften und zu kommentieren, die CJ und RK im Rahmen des internationalen und interdisziplinären Symposiums Das Rauschen unter der Choreographie. Überlegungen zu »Stil« am 13. Mai 2017 live präsentierten. »Dancing, Balanchine said, is not past (over) or the future (uncertain), and he insisted that a performer focus everything on the present moment (not as easy as it sounds). The result was dances of gripping physical and emotional concentration.« 1 In der Rezeption von Tanz verweist der Begriff ›Stil‹ auf ein komplexes Bezie‐ hungsnetz unterschiedlicher, jedoch spezifischer kommunikativer Qualitäten von ›doing dancing‹. Seine metaphorische wie analytische Verwendung inten‐ diert, persönliche Ausdrucksweisen von Tänzern und Choreographen zu iden‐ tifizieren, das Vokabular und die tanztechnische Ausführung des verwendeten Bewegungsmaterials zu klassifizieren sowie je aktuelle kulturelle und histori‐ sche Praktiken in ihrem Bezug zu Tanz zu beschreiben. Verstanden als eine Art »Infra-Text« (Laurence Louppe) 2 , versucht der Begriff ›Stil‹ sowohl kategori‐ sierbare Gemeinsamkeiten (Stereotypen) als auch Differenzen (Heterotypen <?page no="68"?> 3 Die ›Janusgesichtigkeit‹ von Stil stellt beispielsweise auch Hans-Werner Eroms fest; diese fordere einerseits das Einhalten von Normen, Mustern und Konventionen ein, tendiere andererseits zum Gegenteil, indem Stil Überschreitungen der Normen, Ab‐ weichungen vom Erwarteten zugestehe, ja verlange. Vgl. Hans-Werner Eroms: Stil und Stilistik. Eine Einführung, Berlin 2008, S. 14 und S. 16. 4 Francis Mason: »The Balanchine Style«, in: Ballet Review. New York, Vol. 11, no. 4, Winter 1984, S. 5-32. und mobile Elemente) im Tanz zu unterscheiden und zu deuten; 3 er funktioniert demnach als Kriterium tanzorientierter Handwerklichkeit und Inszenierung. Expositionen ›The Balanchine Style‹ - Ein Oral-History-Projekt Als der amerikanische Publizist Francis Mason 1984, ein Jahr nach Balanchines Tod, in New York eine Konferenz zum Thema »The Balanchine Style« organi‐ sierte und Zeitzeugen, hauptsächlich Balanchines Mitarbeiter, zu ihrer Meinung befragte, gab es keinerlei Dissens darüber, dass ›The Balanchine Style‹ existiere, auch wenn er schwer zu fassen sei und jede/ jeder der vielen Befragten ihre/ seine ganz persönliche Perspektive vorstellte. In Francis Masons Oral-History-Pro‐ jekt 4 kamen unterschiedliche Facetten Wahrnehmungen der ›persona Balan‐ chine‹ zur Sprache. Kommentar I: Zur professionellen Biographie Balanchines George Balanchine, 1904 in Sankt Petersburg geboren, graduierte 1921 von der dortigen Kaiserlichen Ballettschule. Als Mitglied der Kompanie am Mariinsky Theater machte er sich mit dem von Marius Petipa geprägten sogenannten Klassischen Repertoire vertraut. 1924 organisierte er für eine kleine Gruppe von Tänzerkollegen eine Tournee nach Westeuropa. In Paris traf das Ensemble auf Serge de Diaghilev, der es für die Ballets Russes engagierte. Balanchine selbst arbeitete fünf Jahre für Diaghilev als Choreograph. Nach dem Tod des Impre‐ sarios 1929 folgten eine Reihe von Kurzzeit-Engagements, bevor Balanchine die Ballets 1933 in Paris gründete. Nachdem sich die Kompanie aufgelöst hatte, war Balanchine arbeitslos. Bald aber traf er auf den amerikanischen Schriftsteller und Impresario Lincoln Kirstein, der ihm 1934 anbot in den USA neue Arbeits- und Wirkungsmöglichkeiten für ihn zu schaffen. In den nächsten fünf Jahr‐ zehnten in den USA (bis zu seinem Tod 1983) überzeugte Balanchine das ame‐ rikanische Publikum wie die gesamte Ballettwelt von den innovativen theatralen Qualitäten eines nachimperialen klassischen Tanzes. 68 Claudia Jeschke und Rainer Krenstetter <?page no="69"?> 5 Tamara Geva, in Mason 1984 (wie Anm. 4), S. 9. 6 Daniel Duell, in Mason 1984 (wie Anm. 4), S. 8. 7 Hugo Fiorato, in Mason 1984 (wie Anm. 4), S. 12. Die Zeitzeugenberichte Tamara Geva (1907-1997), Tänzerin und Balanchines erste Frau, bezieht sich in ihrer Definition von Stil auf die spezifische Beziehung von choreographischer Individualität und der Tradition des Kaiserlichen Theaters: And speaking of style, I don’t know what it is. I wish someone would define it for me. The thesaurus calls it a way of doing. But Balanchine cannot be pinned to one way of doing - he was all styles, yet made recognizable by his infinite ›inventiveness‹. Per‐ haps ›individuality‹ comes closest to defining style […]. [Und weiter: ] George was unique. […] He broke the existing barriers, expanded dancing into new spheres, and his unbelievable imagination made it soar. He showed that movement had no limita‐ tion, that it was an endless language without words. 5 Daniel Duell, Tänzer beim New York City Ballet von 1972 bis 1989, hält die variationsreichen Wiederholungen innerhalb eines bestimmten Schrittvokabu‐ lars für ein Balanchine-typisches stilistisches Merkmal: »Such recurring themes make us think this looks like Balanchine. Not to say that we recognize Balan‐ chine only by repetition, because he was extraordinary diverse as well.« 6 Den langjährigen musikalischen Direktor des New York City Ballet, Hugo Fiorato 7 , fragte Francis Mason nach dem Verhältnis von Musik und Stil in Ba‐ lanchines Choreographien, die Antwort lautete: »I believe his genius stems from the fact that he was able to recognize the style of the composer he was working with, […] and then he made movement for that style that was so excitingly individual to watch.« Und weiter: »It’s as though he added contrapuntal rhythms, phrasing, lines, that made the score more attractive, interesting, and exciting, and clarified the intent of the composer.« Während in den eben angeführten Aussagen vor allem Teilaspekte des Ba‐ lanchine-Stils genannt wurden, verwies die 2016 im Alter von 82 Jahren ver‐ storbene französische Ballerina Violette Verdy in einer schönen Metapher auf die Komplexität des Begriffs: When I try to distinguish the Balanchine style, all of its components - the order and the irregularity, the equalization of balance but the asymmetry, the incredible allegro, and so much else - I think sometimes of the Arc de Triomphe. To me, the Arc de Triomphe is not just the Place de l’Étoile but also the many beautiful avenues that depart from there. Just like in a star, the branches are the star. That prismatic quality 69 Re: George Balanchine - Stil und Divertissement <?page no="70"?> 8 Violette Verdy, in Mason 1984 (wie Anm. 4), S. 6. 9 https: / / www.miamicityballet.org/ portfolio/ rainer-krenstetter [Abruf: 12.7.2018] […], the richness, the incredible faithfulness to each of the places of music and dancing - in the end that is the great jewel. 8 Interaktionen von Sagen und Zeigen Praxisprotokolle PLUS: ›Stilistische‹ Diagnosen Ausgehend von der Minimaldefinition, dass der Begriff Stil (auch im Tanz) eine relationale Funktion umschreibt, die Körper und Bewegungen in ihren histori‐ schen, gesellschaftlichen und (kultur-)politischen Situierungen sichtbar macht und deren Aktualisierungen ermöglicht, zeigte die Rezeption dreier ausge‐ wählter Männer-Variationen in Choreographien von Balanchine durch Rainer Krenstetter 9 , principal dancer des Miami City Ballet, einer am Repertoire Ba‐ lanchines orientierten Kompanie, nicht nur die historiographisch diskutierbaren Facetten in der exemplarischen Verhandlung und Behandlung des sogenannten Balanchine-Stils, sondern auch dessen heutige Rezeption in der Praxis und durch die Praxis. Die Auswahl der Tänze erfolgte nach pragmatischen Gesichtspunkten: Rainer Krenstetter sollte die Variationen studiert haben und auf Bühnenniveau tanzen, sie sollten einige der Facetten, die die Zeitzeugen als ›typisch Balanchine‹ er‐ läutert hatten, widerspiegeln oder auch kommentieren, und sie sollten wesent‐ liche strukturpolitische beziehungsweise kulturelle Bedingungen für Balan‐ chines Schaffen signalisieren. Wir einigten uns auf folgende Beispiele: Die Männer-Variation aus Mozarts Divertimento No. 15 (1956) präsentierten wir als Modell für die spezifischen, musikorientierten Bewegungsfindungen Balan‐ chines und ebenso für seinen Umgang mit der Ballett-Tradition. Beide Aspekte finden sich auch - wenngleich mit einem anderen, einem räumlichen Fokus - in Serenade (1935), unserem zweiten Beispiel. Verbindend wie trennend ist hier zudem Balanchines Arbeit mit den Werken zweier seiner bevorzugten Kompo‐ nisten, Mozart und Tschaikowsky. Und als drittes Thema in unseren Überle‐ gungen kristallisierte sich der Aspekt der institutionellen und kulturellen Kon‐ texte heraus, die die choreographische Handschrift Balanchines färbt oder - vielleicht besser - konturiert; dieser Aspekt wird deutlich in Serenade und fun‐ giert als ausgestelltes Motiv in Stars and Stripes (1958). In der Lecture Performance machte Rainer Krenstetter tanzend und diskutierend auf die für ihn als Tänzer stilrelevanten Aspekte aufmerksam - Aspekte, die für 70 Claudia Jeschke und Rainer Krenstetter <?page no="71"?> 10 Rainer Krenstetter verwies auf die Unterschiede zwischen europäischer und amerika‐ nischer Ballett-Inszenierungen im 20. Jahrhundert: Die Dramaturgie von Handlungs‐ balletten basiere auf hierarchisierenden Rollen-Charakterisierungen und ›verdamme‹ häufig das Corps de Ballet zu wenig anspruchsvollem Tanzen beziehungsweise zur Sta‐ tisterie, während die Struktur der Balanchine-Divertissements an alle auf der Bühne Anwesenden vergleichbare tänzerische und energetische Anforderungen stelle. 11 1942 Concierto de Mozart / Concierto - Violin Konzert in A-Dur [KV 219]; 1947 Sym‐ phonie Concertante -Symphonie Concertante in Es-Dur für Violine, Viola und Orchester [KV 364]; 1952 Caracole - Divertimento No. 15 in B-Dur [KV 287]. Dieses Ballett konnte nicht erinnert werden, als es 1956 erneut zur Aufführung kommen sollte. Es entstand ein neues Werk mit dem Namen Divertimento No. 15 - Divertimento No. 15 in B-Dur [KV 287]. alle drei Beispiele gleichermaßen gelten: die Balanchine-Choreographien sind musikalisch wie rhythmisch akribisch ausgearbeitete Studien der geometri‐ schen und mechanischen Möglichkeiten des Körpers; der Choreograph ver‐ wendet anspruchsvolle Schritte des Ballettrepertoires, die immer in hohem Tempo präsentiert werden, womit sich deren Schwierigkeitsgrad erhöht; die auf der Bühne befindlichen Tänzer sind fortwährend in Bewegung und folgen der endgradigen Energie, die die Ausführung der Technik wie der Geschwindigkeit fordert (die Kombinationen werden ›durchgetanzt‹ 10 - nicht ›dargeboten‹); die Richtungen der Bewegungswege und der Körperteile wechseln ständig und müssen mit äußerster Präzision ausgeführt werden - sie etablieren die Wahr‐ nehmung eines für den Balanchine-Stil wichtigen, mobilen dreidimensionalen Raumes. Die je spezifischen Haltungen und Gesten der einzelnen Tänze fun‐ gieren als optisches Referenzsystem für historische bzw. kulturelle Sachverhalte, ebenso wie die jeweilige Musikwahl das Tanzen akustisch dialogisiert: spiele‐ risch und jenseits von narrativiertem Drama oder ausgestellter Expressivität. Divertimento No. 15 Die Mozart-Ballette 11 sind Beispiele für Balanchines (tanz-)historisches Be‐ wusstsein, d. h. für seinen Sinn für Tradition. Sie alle, besonders aber das Diver‐ timento No. 15, können als Würdigungen der Standards und der Sprache des Klassizismus - im Tanz: der danse d’école - interpretiert werden. Vorrangig in der musikalischen Komposition wie in Balanchines Körper-und Bewegungs‐ konzept ist der Gebrauch symmetrischer Sequenzen, die sich zu größeren Phrasen formen. Und ein weiterer Aspekt: Folgt man André Levinson, dem ein‐ flussreichen Tanzkritiker der 1920er Jahre, so ist die danse d’école u. a. durch 71 Re: George Balanchine - Stil und Divertissement <?page no="72"?> 12 André Levinson zit. nach Joan Acocella und Lynn Garafola (Hg.): André Levinson on Dance. Writings from Paris in the Twenties, Hanover/ London 1991, S. 45 f.: »[…] the arms and the legs stretched out, freeing themselves from the torso, expanding the chest.[…] The dancer spreads his hips and rotates both legs, in their entire length from the waist down, away from each other, outward from the body’s centre, so that they are both in profile to the audience although turned in opposite directions.« 13 André Levinson, ebd. S. 46: »Instead of being restricted to a simple backward and for‐ ward motion - the only directions in which the human body, operating normally, can move with ease and grace - this turning outward of the legs permits free motion in any direction without loss of equilibrium; forward, backwards, sideways, obliquely or ro‐ tating.« 14 André Levinson, ebd. S. 47: »To discipline the body to this ideal function […], it is ne‐ cessary to begin by dehumanizing him, or rather by overcoming the habits of ordinary life. His muscles learn to bend his legs are trained to turn outside from the waist, in order to increase the resources of equilibrium. His torso becomes a completely plastic body. His limbs stir only as a part of an ensemble movement. His entire outline takes on an abstract and symmetrical quality. The accomplished dancer is an artificial being, an instrument of precision, […].« »ex-zentrische« 12 Bewegungen charakterisiert, sie ermöglichen dem Tänzer, sich von den gewöhnlichen Limitierungen menschlicher Bewegung zu be‐ freien 13 , »ideal« zu funktionieren, über sich, d. h. seine Körperlichkeit hinaus‐ zuwachsen. 14 Indem Balanchine den Klassizismus als autonomieästhetische In‐ teraktion zwischen sogenannter absoluter Musik und den Regeln der danse d’école gestaltet, experimentiert er mit der puren Form als zeitgemäßer Model‐ lierung tanzmedialer Selbstreflexion; sie führt im Fall der Divertimento-Varia‐ tion zu athletischer Geschwindigkeit in der mechanischen Ausführung der Schrittkombinationen. Serenade Serenade zur Musik von Peter Tschaikowski (Serenade C-Dur, komponiert 1881) war das erste Ballett, das Balanchine in Amerika schuf und das die Vorliebe des Choreographen für die Musik des russischen Komponisten als Vertreter der im‐ perialen russischen Tradition bestätigt. Die Tänzer jedoch waren Studierende der eben erst gegründeten School of American Ballet. Auch in Serenade zeigt die Männer-Variation die für das Divertimento No. 15 beschriebenen Formeln im Umgang mit der Technik und den Regeln der danse d’école und deren Modifikationen durch Balanchine: komplexe Richtungsände‐ rungen und Tempo. Jedoch ist die Verhandlung des Tanzraums eine andere. Die Männer-Variation ist zwar immer noch dem Erbe der geometrischen Boden‐ muster verpflichtet, erscheint jedoch räumlich unabgeschlossen, wenn die Cho‐ reographie diese zweidimensionalen Muster verlässt oder unterbricht. Mit diesem ›Kunstgriff‹ akzentuiert Balanchine, wie Tim Scholl bemerkt, die cho‐ 72 Claudia Jeschke und Rainer Krenstetter <?page no="73"?> 15 Tim Scholl: From Petipa to Balanchine. Classical Revival and the Modernization of Ballet, London/ New York 1984, S. 125. Jennifer Homans macht eine ähnliche Beobach‐ tung, was den Umgang mit traditioneller choreographischer Form in Serenade betrifft: »Formally the ballet shatters traditional symmetries, both in the body - arabesques, for example, that plunge to sharply off-balance angles - and in its patterns of movement, which are shifting and unstable, if also beautifully resolved.« Homans 2010 (wie Anm. 1), S. 517. 16 Arlene Croce: »Balanchine«, in: Dance Perspectives Foundation (Hg.): International Encyclopedia of Dance, Vol. I, New York 1998, S. 257. reographische Bedeutung des dreidimensionalen Raumes, den er nicht nur als kompositionelles Element verwendet, sondern diesem zudem die metaphorische Qualität von Leere und Fülle zuweist. Scholl führt weiter aus: […] Balanchine shows less interest in pictorial arrangement of groups within the proscenium than with the space itself: the way the body defines itself within that space, how groups of dancers can be used to define specific volumes of space, and how these volumes can interact in a dance. 15 Stars and Stripes Stars and Stripes ist ein Ballett in fünf Aufmärschen zur Originalkomposition von John Philip Sousa, arrangiert von Hershy Kay. Das Werk, das sich ästhetisch an dem Zeremoniell der Paraden zum 4. Juli, dem amerikanischen Nationalfei‐ ertag, orientiert, ist eine der vielen popularisierten Ehrenbezeugungen Balan‐ chines an das Land, in dem er seit Mitte der 1930er Jahre lebte und arbeitete. Arlene Croce verweist darüber hinaus auf die historische Bedeutung von Po‐ pularkultur auch in Europa, in deren Tradition sie Balanchine verortet: »[Ba‐ lanchine] was a showman in the tradition of Shakespeare and Molière, Mozart and Verdi - artists whose work, although consciously shaped to please an au‐ dience, was not dominated by audience taste.« 16 Dem Thema und der Musik entsprechend folgen viele der Arm- und Hand‐ gesten dem militärischen Habitus des 18. Jahrhunderts, und auch die Beinbe‐ wegungen imitieren - obschon ballettaffin radikalisiert - das Schrittvokabular von Aufmärschen. Kontextalisierungen Stil und Divertissement Re: Balanchine - es geht um einen Choreographen, dessen nachhaltiges Schaffen sich einbetten lässt in eine spezifische Geschichte von Tanz. (Die His‐ torizität spielt auch in anderen Auseinandersetzungen mit Stil eine Rolle: Lau‐ 73 Re: George Balanchine - Stil und Divertissement <?page no="74"?> 17 Louppe 2009 (wie Anm. 2), S. 111-120. 18 George Balanchine: Schlaflose Nächte mit Tschaikowsky. Das Leben Balanchines in Ge‐ sprächen mit Solomon Volkov, Weinheim, Berlin 1994, S. 123. 19 Ebd., S. 135. Und ähnlich Homans 2010 (wie Anm. 1), S. 504: »He [Balanchine] was not interested in ordinary people or real social situations, much less colloquial movements and gestures. Rather, for him ballet was an art of angels, of idealized and elevated human figures, beautiful, chivalric, and above all strictly formal.« rence Louppe, die ›Titelgeberin‹ für das Symposium, sieht Verbindungen zwi‐ schen dem zeitgenössischen französischen Tanz und Rudolf von Laban. 17 ) Balanchine ist Traditionalist, der die tänzerischen und choreographischen Ste‐ reotypen auf der materialen Ebene der für ihn gültigen Tanztradition(en) ebenso expansiv wie radikal einsetzt. Zu fragen wäre, ob es sich hierbei eher um Kon‐ servativismus oder kreatives Geschichtsbewusstsein handelt? Wir plädieren für letzteres: Wie Balanchine am Ende seines Lebens in Gesprächen mit Solomon Volkov über Tschaikovsky geäußert hat, favorisiert er handwerkliches Können, eine verkörperte Praxis und historisches Fachwissen innerhalb einer Kunst, die in seinem Verständnis mehr als andere auf Künstlichkeit basiert und Künstlich‐ keit anstrebt: »Wenn Tschaikowsky traurige Musik zu schreiben hatte, stellte er sich etwas Trauriges vor, […]. Wir Tänzer arbeiten da anders - immerhin er‐ finden wir Bewegungen, die im realen Leben nicht existieren.« 18 Oder: »Ich verstehe gar nicht, was damit gemeint ist - Realismus im Ballett. Die Handlung? Tschaikowsky war doch ein vernünftiger Mensch und hatte folglich kein ernst‐ zunehmendes Interesse an der Handlung im Ballett.« 19 In solchen Aussagen lässt sich Balanchines innovatives Potential für das Ballett des 20. Jahrhunderts er‐ ahnen, wenn er die Bewegungsstereotypen des klassischen Tanzes isoliert, sie formalisiert, d. h. zu materialen Formeln macht, die sich innerhalb seiner Cho‐ reographien als auch in seinem Gesamtwerk wiederholen wie kontinuierlich transformieren. Balanchines Choreographien betonen die Kapazitäten des Ma‐ terials, also die Kapazitäten des Vokabulars und der Technik, und sie zeigen deren Potentiale zur Interaktion innerhalb größerer kompositioneller Struk‐ turen. Und sie werden entscheidend mitgestaltet durch die spezifischen körper‐ lichen Voraussetzungen und die Performativität der sogenannte Balan‐ chine-Tänzer, die damals wie heute durch ihre Handwerklichkeit wie durch ihre Persönlichkeiten bei den Zuschauern eine Art ›affektives Wahrnehmen‹ be‐ wirken. Aus der Sicht der Tänzerin und Pädagogin beschreibt Suki Schorer die be‐ sondere tänzerische Disposition der Balanchine-Tänzer so: Energy, dynamics, and controlled abandon were more important to him than having every dancer’s arm in the same line, because that approach generally demands more 74 Claudia Jeschke und Rainer Krenstetter <?page no="75"?> 20 Suki Schorer zit. n. Robert Gottlieb: George Balanchine. The Ballet Maker, New York 2004, S. 196. Vgl. auch George Balanchine: »Notes on Choreography«, in: Cobbett Steinberg (Hg.): The Dance Anthology, New York 1980, S. 28-34. 21 Homans 2010 (wie Anm. 1), S. 512. 22 John Neumeier: »Neumeier über Balanchine«, in: Hamburger Staatsoper (Hg.): Pro‐ grammbuch der 21. Hamburger Ballett-Tage vom 7. - 21. Mai 1995, S. 65. 23 Guillemette Bolens: The Style of Gestures. Embodiment and Cognition in Literary Nar‐ rative, Baltimore 2012, S. 1. 24 Ebd., S. 19. 25 Ebd., S. 21. constraint, more calculated movement. Remember, »No polite dancing! « (In a famous, pithy phrase, ›Don’t think, dance.‹) […] Energy, clarity, speed, articulation - these are the qualities that identify a Balanchine dancer. And an expressivity that comes from full investment in the steps rather than from emoting. 20 Die Tanzhistorikerin Jennifer Homans verweist auf die besondere physische Leuchtkraft typischer Balanchine-Tänzer, »an unusual physical luminosity«: »Unconsciously or otherwise, the dancers Balanchine chose made you see.« 21 Und der Choreograph John Neumeier machte folgende Beobachtung: »Eines der größten Geheimnisse seiner [Balanchines] Choreographie ist die Faszina‐ tion, die sie auf Tänzer ausübt, die Freude an Stil und Bewegung, die sie in ihnen weckt - ist es ein Sakrileg zu sagen, daß einige seiner Stücke von Tänzern mehr geschätzt werden als vom Publikum? « 22 Kommentar II: Affektives Wahrnehmen und »Kinesic Style« Verkörperte Kognition und kognitive Verkörperung In ihrem Buch The Style of Gestures bezeichnet Guillemette Bolens die mensch‐ liche Fähigkeit Körperbewegungen, Haltungen, Gesten, Gesichtsausdrücke zu erkennen, als »kinesic intelligence« 23 und verwendet für das sich aus diesem (Wieder-)Erkennen und (Wieder-)Erfahren ergebende jeweilige kulturell und sozial geprägte physische Repertoire den Begriff des »kinesic style«. 24 The kinesic style concerns the particular manner of all movements performed by a person in events that are liable to make sense to her (perception, sensation, and em‐ bodied cognition) and to others (presence, expression, and communication), including the slightest nuances, perceived or not, intentional or not. 25 Die ›kinesic intelligence‹ ist eine zu generalisierende Eigenschaft aller Men‐ schen, also auch der oben zitierten Balanchine-Mitarbeiter, der heutigen Tänzer und Zuschauer. Dass sie zudem - quasi als artistisch-soziokulturelle Rahmung - 75 Re: George Balanchine - Stil und Divertissement <?page no="76"?> 26 Auch die in Balanchines professioneller Biographie zentralen Ballets Russes struktu‐ rierten ihre Aufführungen als eine damals aktuelle Art Divertissement - eine Leerstelle in der ansonsten umfänglichen Tanzgeschichtsschreibung zum Thema Ballets Russes? ihr kinetisches und kinästhetisches Wissen um Balanchine als Person und um Ballett (als Technik und Ästhetik) teilen, war und ist die Voraussetzung der Übereinkunft, dass Balanchine nicht nur einen ihm und den Mitarbeitern und einer Gruppe von ›Ballettomanen‹ vertrauten tänzerischen ›kinesic style‹ re‐ präsentiere, sondern diesen darüber hinaus und vor allem auch künstlerisch in chronologisch und topographisch zu kontextualisierenden Tanzwerken dyna‐ misiere und strukturell wie sinnlich/ sinnhaft zum spezifischen Balanchine-Stil auflade. Damit exponierte er die historischen, handwerklichen und ästhetischen Qualitäten von (klassischem) Tanz, Ballett und machte sie einer größeren Gruppe von Rezipienten verständlich und erfahrbar. Der Balanchine-Stil spie‐ gelt demnach weniger eine Person oder Technik oder Ästhetik, als dass er viel‐ mehr ein Register von Potentialitäten offeriert - Möglichkeiten von kreativer Bewegung, von künstlerischer Repräsentation und von Interpretation. Ein abschließender Blick auf das Beispiel, ja Modell des Divertimento No. 15, es ist in der Komposition Mozarts wie in der Choreographie Balanchines ein Ent‐ wurf für seriös-spielerische Unterhaltung. Als Tanzwerk lässt es sich in der Tradition des choreographischen Divertissements verorten - eine in der Tanz‐ praxis und -historiographie des 20./ 21. Jahrhunderts spärlich verhandelte Stra‐ tegie der Darbietung von Tänzen, die wohl wegen des ihr zugeschriebenen, po‐ pular konnotierten Unterhaltungscharakters kaum Beachtung fand. 26 Balanchines Praxis hingegen veranschaulicht im Divertimento No. 15 wie in seinen vielen anderen Divertissements (eben auch in Serenade und Stars und Stripes), wie sich die historische Un-Verbindlichkeit dieser Tradition durch die entgrenzende, dewie rekonstruktive Verwendung von choreographischem Text und Architektur verändert: Der Balanchine-Stil - verstanden als mobiles und durch die Tänzer ständig aktualisierbares Modell von Handwerklichkeit - ließe sich darüber hinaus auch als Voraussetzung oder differenzierter, kompe‐ tent kritischer Entwurf für die Diskursfähigkeit traditioneller Verfahren der In‐ szenierung von Tanz - z. B. im Divertissement - interpretieren. Konzipiert als prozesshaftes Geschehen und unmittelbares, interaktives Spiel ermöglicht Ba‐ lanchines praxeologischer Entwurf die heterochrone und dadurch a-hierarchi‐ sche Wahrnehmung, Herstellung und Deutbarkeit der Bewegungsereignisse auf der Bühne. 76 Claudia Jeschke und Rainer Krenstetter <?page no="77"?> 1 Vgl. www.tamtam-produktion.ch/ BILDER/ Kurse/ Fruehlingsferien_2015/ FerienTanz_ 2016_emailA4.pdf [Abruf: 9.2.2017]; das Thema des angepriesenen Frühlingsferien‐ kurses: »Wir packen unsere Koffer…! «. 2 Vgl. beispielsweise www.youtube.com/ watch? v=o7p4RxTrxcY [Abruf: 9.2.2017]. 3 Michael Zapf: »Und wo sitzen Sie? «, in: Kursbuch, 142, Dezember 2000, S. 19-23, hier S. 19. »my dance! my style! « Self-Fashioning, Selbstreflexion und Stil im zeitgenössischen Tanz Christina Thurner Mit dem Slogan »my dance! my style! « wirbt eine Website für zeitgenössischen Kindertanz. 1 Außerdem finden sich unter dem gleich lautenden Motto auf You‐ Tube zahlreiche Selbstdarstellungsfilme. 2 Tanz und Stil hängen offenbar, so be‐ hauptet es das zitierte Axiom, über die Klammer des ›Eigenen‹ (»my«) zu‐ sammen. Wie sieht dieses Verhältnis nun aus, wenn man es unter tanzwissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet? Welche Erkenntnisse lassen sich aus dieser relationalen possessiven Exklamation (»my dance! my style! «) im Hinblick auf das Thema der choreographierten Selbstreflexion be‐ ziehungsweise auf ein sich in diesem Zusammenhang geradezu aufdrängendes Konzept, jenes des sogenannten ›Self-Fashioning‹, ziehen und anschließend wieder auf Konzepte von Tanz und Stil zurückführen? Im vorliegenden Beitrag möchte ich diese Fragen ergründen, indem ich davon ausgehe, dass Stil stets relational, referentiell und mit Inszenierung verbunden ist und dass insbeson‐ dere künstlerische Formen des zeitgenössischen Tanzes diese im gesellschaftli‐ chen Kontext meist impliziten konstitutiven Merkmale explizit machen und re‐ flektieren. Diese These soll zunächst allgemein kultur- und tanzwissenschaftlich hergeleitet und dann an einem Beispiel, dem Tanzstück Private: Wear a mask when you talk to me von Alexandra Bachzetsis, erörtert werden. »Stil ist immer eine Inszenierung« 3 , schreibt Michael Zapf in einem Aufsatz für die Kulturzeitschrift Kursbuch zum Thema ›Stilfragen‹ vom Dezember 2000. Auch wenn es ihm in seinem Text vor allem um Machtverhältnisse in der Pri‐ vatwirtschaft geht, referiert diese Aussage (metaphorisch) auf Bühnenpraxen <?page no="78"?> 4 Ebd. Vgl. dazu auch Judith Butler: »Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwi‐ schen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, S. 301-320, hier S. 305; sie schreibt (in Anlehnung an Sartre und im Zusammenhang mit Geschlech‐ terzugehörigkeiten) von einem »körperlichen Stil« (Hervorhebung i. O.), den sie als per‐ formativen Akt bezeichnet. 5 Zapf 2000 (wie Anm. 3), S. 23. 6 Susan Leigh Foster: Reading Dancing. Bodies and Subjects in Contemporary American Dance, Berkeley/ Los Angeles/ London 1986, S. 76-77. 7 Ebd. S. 77. 8 Vgl. dazu auch Susan Leigh Foster: »Dancing Bodies«, in: Jane C. Desmond (Hg.): Meaning in motion. New cultural studies of dance, Durham/ London 1997, S. 235-257, hier S. 238-239. 9 Foster 1986 (wie Anm. 6), S. 76. 10 Vgl. dazu auch Ingo Diehl und Friederike Lampert (Hg.): Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutschland, Leipzig 2011, S. 10: »Der Zeitgenössische Tanz zeichnet sich durch eine Vielzahl von Stilen und Arbeitsweisen aus. Dabei kommt den unterschiedlichen Trai‐ ningsarten eine besondere Rolle zu: Einerseits greifen Pädagogen auf ein hybrides Ge‐ flecht von Tanzformen und Körpertechniken, von Erscheinungs- und Vermittlungs‐ formen zurück. Andererseits wirken die Trainingsweisen selbst wiederum stilbildend, denn sie orientieren sich zielgerichtet an einer individuellen künstlerischen Praxis.« (im weiten Sinne). Zapf hebt dabei zudem die zentrale Funktion der Körper‐ sprache 4 hervor und betont: »Stil muss eingeübt werden.« 5 Diese freilich rudi‐ mentären und wissenschaftlich nicht weiter fundierten Definitionsansätze lassen sich nun - zunächst ebenso schematisch - auf Tanz übertragen. Auch da vermittelt sich Stil über Inszenierungsweisen, Körperpraktiken und Techniken. Die amerikanische Tanzwissenschaftlerin Susan Leigh Foster schreibt in ihrem Buch Reading Dancing, dass der Begriff ›Stil‹ auf verschiedene Aspekte von Tanz angewendet wird, von persönlichen Ausdrucksweisen einzelner Tänzer oder Choreographinnen bis zu Verkörperungen bestimmter Tanztradi‐ tionen. 6 Sie selber konzentriert sich in ihren Ausführungen vor allem auf cho‐ reographische Konventionen wie Bewegungsqualitäten, Charakteristika im Ge‐ brauch von verschiedenen Körperpartien sowie die Orientierung der Tänzer im »performance space«. 7 Für meine Fragestellung besonders interessant sind Fos‐ ters Aussagen dazu, wie ›Stil‹ sich zeigt, 8 beziehungsweise zur Relationalität von Stil: »Any stylistic choice in dance implies a background of alternatives rejected in favor of some feature of movement that lends distinctiveness to, by signifying an identity for, its bearer«, hält Foster - mit Referenz u. a. auf Michel Foucault - fest. 9 Stil beinhaltet demnach immer Entscheidungen für und gegen Möglich‐ keiten, wobei Identitäten konstituiert werden. Im Tanz werden diese Identitäten u. a. über/ mittels Körper im Training gebildet. 10 Wie man sich dies vorzustellen hat, nämlich nicht einfach konstruktivistisch, sondern als komplexen perfor‐ 78 Christina Thurner <?page no="79"?> 11 Foster 1997 (wie Anm. 8), S. 241. 12 Dies zeigt Foster anhand der Konzeption des »body for hire« im zeitgenössischen Tanz; vgl. insbesondere ebd., S. 253. 13 Vgl. Foster 1986 (wie Anm. 6), S. 88: »Style tells the viewer about the dancer’s and choreo‐ grapher’s concerns and about the dance’s place in the world. Growing out of the most fundamental cultural assumptions about the subject and the body, style infuses a dance with its particular identity […]«. 14 Laurence Louppe: Poetik des zeitgenössischen Tanzes. Übersetzt aus dem Französischen von Frank Weigand, Bielefeld 2009, S. 111. 15 Ebd. S. 114: »Der Stil ist nämlich ihr Subtext, das heißt, ihr wahrer Text, den man unter der choreographischen Sprache rauschen hört.« 16 Vgl. www.dance-muenchen.de/ programm/ sonderformate/ stil/ [Abruf: 21.4.2017]. 17 Laban zit. in Louppe 2009 (wie Anm. 14), S. 111. 18 Foster 1986 (wie Anm. 6), S. 77. mativen Vorgang, macht Foster an anderer Stelle, in ihrem Aufsatz Dancing Bo‐ dies, deutlich, indem sie schreibt: »Training not only constructs a body but also helps to fashion an expressive self that, in its relation with the body, performs the dance.« 11 Ein Körper kann so im Zuge des sogenannten ›Self-Fashioning‹ auch verschiedene Stile zu hybriden Identitäten vereinen und tanzend ausdrü‐ cken. 12 Darauf wird unten nochmals zurückzukommen sein. Foster verweist zudem auf die Rolle der Zuschauenden, die Stile wahrnehmen, 13 wenn auch - wie die französische Tanzhistorikerin Laurence Louppe festhält - als »etwas Vages und Ungreifbares«, das nicht durch formale Gestaltung hervorge‐ bracht werden kann, sondern sich eben im Funktionieren derselben, in der Perfor‐ mance zeigt. 14 Dieses »Funktionieren«, von dem Louppe spricht, meint immer auch dynamische Relationen. Und hier bin ich nun beim Stil als »Subtext« angelangt, 15 der im Abstract zu dem diesem Band vorausgegangenen Symposium definiert wird als »Modus des Bezugnehmens auf die Welt, als relationale Funktion, die Körper und Bewegungen in ihren historischen, gesellschaftlichen und (kultur-)politischen Situierungen sichtbar macht«. 16 Diese Engführung von Stil und der physisch bewegten Bezugnahme auf die ›Welt‹ wird von verschiedenen Tanzpraktikern und -theoretikerinnen hervor‐ gehoben, so hat bereits der Reformer Rudolf von Laban gesagt, dass jeder einen ›Stil‹ habe, »der darin besteht, wie er sich der Umgebung oder den anderen gegenüber äußert«. 17 Und Foster hält - wiederum mit Blick auf die Betrach‐ tenden - fest: »Where the representational mode of the dance alerts the viewer to a broad framework for signifying the world, style in dance clarifies this fra‐ mework by adding references to cultural identity.« 18 Das relationale Verhältnis von Tanz und Welt beziehungsweise die Schwierigkeit des »signifying the world« klärt sich demnach - so Foster - über ›Stil‹ und dessen Referentialität zu kulturellen Identitäten auf. 79 »my dance! my style! « Self-Fashioning, Selbstreflexion und Stil im zeitgenössischen Tanz <?page no="80"?> 19 Zapf 2000 (wie Anm. 3), S. 19. 20 Peter Utz: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers »Jetztzeitstil«, Frankfurt am Main 1998, S. 18. Stil verweise deshalb, erklärt wiederum Zapf, auch »auf einen legitimie‐ renden Hintergrund«, 19 wobei (mit dem Literaturwissenschaftler Peter Utz) »die für den ›Stil‹ konstitutive Spannung von normativen und individualisierenden Kräften« 20 anzuführen ist. Stil - so könnte man mit Blick auf den Tanz, aber auch auf andere Bereiche vorläufig resümieren - vermittelt also zwischen einem ›Ich‹ und ›Welt‹ (das wäre das Argument der Relationalität); dies, indem auf kulturelle Identitäten referiert wird (Referentialität) und diese inszeniert werden (hier sind wir beim performativen Moment beziehungsweise bei der dynami‐ schen Wahrnehmung). Die Exklamation »my dance! my style! « bringt demnach eine relationale, referentielle und dynamische Konstellation auf den Punkt, die die zeitgenössische Tanzkunst wiederum aufgreift, um sie (diese Konstellation) - und damit Fragen nach dem ›Ich‹, dem ›Eigenen‹ und der ›Welt‹, den ›Iden‐ titäten‹, der ›Wahrnehmung‹, dem ›Tanz‹ usw. - ästhetisch zu reflektieren. Diese These soll nun im Folgenden an einem Beispiel veranschaulicht werden: Abb. 1: Alexandra Bachzetsis: Private: Wear a mask when you talk to me, 2016, Foto: Guadalupe Ruiz, Swiss Art Awards 2016, Bundesamt für Kultur, Bern. 80 Christina Thurner <?page no="81"?> 21 Vgl. www.bak.admin.ch/ bak/ de/ home/ aktuelles/ bildergalerien/ schweizer-kunstpreise ---swiss-art-awards/ bildergalerie-art-awards-2016---preistraegerinnen-und-werke .html [Abruf: 11.4.2018]; das Bundesamt für Kultur hat mir freundlicherweise drei Ab‐ bildungen des prämierten Stücks zur Verfügung gestellt. 22 Vgl. dazu auch www.alexandrabachzetsis.com, insbesondere Hendrik Folkerts in www.alexandrabachzetsis.com/ index.php/ biography.html [Abruf: 21.4.2017]: »Much of Bachzetsis’s work involves choreographies of the body and, in particular, the way that popular culture provides source material for gesture, expression, identification, and fantasy as we continually create and re-create our bodies and the way we identify.« 23 Vgl. www.zeit.de/ kultur/ musik/ 2011-07/ amy-winehouse-nachruf [Abruf: 27.4.2017]. Das Solo Private: Wear a mask when you talk to me [im Folgenden kurz: Pri‐ vate] der Schweizer Choreographin, Tanz- und Performancekünstlerin Ale‐ xandra Bachzetsis wurde 2016 in Brest (Frankreich) uraufgeführt und im glei‐ chen Jahr mit dem Schweizer Kunstpreis ausgezeichnet. 21 Das Stück wurde sowohl im Tanzals auch im Museumskontext gezeigt, also auf Theaterbühnen sowie in Ausstellungsräumen. Dieser Umstand ist für Bachzetsis’ Arbeiten nicht ungewöhnlich und trifft bereits auf frühere zu, in denen sie ebenfalls Identitäten, Körper- oder Genderkonzepte, Gesten, kulturelle Codes usw. spielerisch-dyna‐ misch in einem Zwischenbereich von musealer Ausstellung und theatraler Per‐ formance reflektiert. 22 Private beginnt, während das Publikum den hellen Raum betritt und die Plätze einnimmt. Bachzetsis sitzt am vorderen ›Bühnen‹-Rand und schminkt sich. Wir hören den Song Strange. I’ve seen that face before von Grace Jones und fühlen uns angesichts von Bachzetsis’ Make-up zunehmend an die verstorbene »Popi‐ kone« 23 Amy Winehouse erinnert. Nach einigen Minuten schmettert uns aus dem Off Chantal Claret, Sängerin der US-amerikanischen Indie-Rockband Mor‐ ningwood, die Liedzeilen »When I see you Baby, I wanna take off your clothes […]« entgegen. Bachzetsis sitzt noch immer da in Turnschuhen, Trainingshose und Bomberjacke und schminkt sich das Gesicht. Erst nach gut 7 Minuten steht sie auf, zieht Jacke und Hose aus und präsentiert sich in einem zuerst kurzen, dann - nach einigen Handgriffen - bodenlangen, hautengen Gummikleid, das sie sich von einem Zuschauer mit Wasser zu einem lackartigen Wetlook be‐ sprühen lässt. 81 »my dance! my style! « Self-Fashioning, Selbstreflexion und Stil im zeitgenössischen Tanz <?page no="82"?> 24 Der Titel des - auch vielfach gecoverten - Songs von James Brown und Betty Jean New‐ some aus dem Jahr 1966 lautete vollständig It’s a Man’s Man’s Man’s World (vgl. den Listen‐ eintrag www.rollingstone.com/ music/ lists/ the-500-greatest-songs-of-all-time-20110407/ james-brown-its-a-mans-mans-mans-world-20110526 [Abruf: 17.4.2018]. 25 Vgl. dazu auch Paul B. Preciado: »Alexandra Bachzetsis. Private: Wear a mask when you talk to me«, in: Pressemappe zum Stück 2016, o. S.; außerdem www.kaserne-basel.ch/ de/ tanztheater/ Alexandra_Bachzetsis_7 [Abruf: 27.4.2017]. Abb. 2: Alexandra Bachzetsis: Private: Wear a mask when you talk to me, 2016, Foto: Guadalupe Ruiz, Swiss Art Awards 2016, Bundesamt für Kultur, Bern. Mitten im Raum posierend tanzt Bachzetsis daraufhin zum instrumental einge‐ spielten Popmusikklassiker It’s a Man’s World. 24 Sie spielt dabei mit Gesten, Posen und Bewegungen, derer sie sich aus ›anderen‹ situativen und semantischen Kon‐ texten wie Musikvideos, Dragshows, Pornographie, Sport oder Gymnastik be‐ dient. 25 Diese ›fremden‹ Gesten, Posen und Bewegungen streift sie ihrem Körper über und vereint sie zu einer Choreographie, die aber eigentlich gerade die Einheit von Körperausdruck, von Identität in Frage stellt. Wir schauen also auf eine mul‐ tiple Figur, die eher eine dynamische, fließende Vielheit als eine stabile, harmoni‐ sche Einheit verkörpert. Diese Reflexion kennt man aus verschiedenen zeitgenössischen Tanzstücken, insbesondere aus zahlreichen Soli der 1990er und 2000er Jahre. Bachzetsis treibt 82 Christina Thurner <?page no="83"?> 26 Vgl. Anm 15. 27 Vgl. Anm. 16. 28 Ebd. 29 Foster 1986 (wie Anm. 6), S. 77. 30 Ebd. S. 76. 31 Vgl. dazu auch Butler 2002 (wie Anm. 4), S. 302, die schreibt, die Grundlage der (Ge‐ schlechter-)Identität sei »keine scheinbar nahtlose Identität«, sondern »die stilisierte Wiederholung von Akten durch die Zeit«. Sie weist dann auch darauf hin, dass die Möglichkeiten von Veränderungen »in der arbiträren Beziehung zwischen diesen Akten zu finden [sei, C. T.], in der Möglichkeit anderer Arten des Wiederholens, im Durch‐ brechen oder in der subversiven Wiederholung dieses Stils«. Eine solche subversive Wiederholung demonstriert und reflektiert meines Erachtens gerade im Hinblick auf Geschlechteridentitäten auch Bachzetsis in ihrem Stück. dieses Spiel mit Identitäts(de-)konstruktionen nun in Private in eine Richtung, die mir gerade im Hinblick auf das Thema dieses Bandes, zu ›Stil‹ und Chore‐ ographie, besonders fruchtbar erscheint: Indem sie sich dauernd - im konkreten wie im übertragenen Sinn - umstylt, gibt sie über die relationale, referentielle und performative Kategorie ›Stil‹, das heißt durch den »Subtext« 26 , ein ästhe‐ tisches, also künstlerisches, sinnlich wahrnehmbares Statement ab zu einem betont heutigen »Modus des Bezugnehmens auf die Welt« 27 . Sie gibt ein ästhe‐ tisches Statement ab zu einem Modus des Bezugnehmens - und hier sei noch‐ mals aus dem Symposiumsabstract zitiert - »als relationale Funktion, die Körper und Bewegungen in ihren historischen, gesellschaftlichen und (kultur-)politi‐ schen Situierungen sichtbar macht«. 28 Die Figur in Bachzetsis’ Stück verkörpert gerade keinen einheitlichen Stil (mehr), der uns das »signifying the world« 29 , das »signifying an identity« 30 klärend erleichtern könnte - wie es Foster 1986 noch für möglich hält. Heute, 30 Jahre später, ist ein »signifying an identity«, ein »signifying the world« aber gerade nicht mehr über Stil als distinkte Klä‐ rung, sondern über Stil als fließende, historisch-, gesellschaftlich- und kultu‐ rell-referentielle multiple Situierung aufzufassen. 31 Bachzetsis ruft durch ihre vielseitige Inszenierung ihrer selbst, als explizit ausgestellte Verbindung von »my dance! my style! « verschiedene erkenn- und identifizierbare Stile (aus di‐ versen kulturellen Bereichen) auf, sie setzt sich zu diesen dynamisch in Bezug, um über all das Angeeignete zu so etwas wie einem ›Eigenen‹ zu gelangen. Auch dieses ›Eigene‹, Autobiographische (wenn man so will), ist allerdings eine In‐ szenierung, eine Stilfrage, ein Modus des Bezugnehmens auf die Welt. Dies soll im Folgenden noch etwas genauer am Stück dargelegt werden. Geradezu abrupt beendet Bachzetsis in Private ihren referentiellen Tanz, den ich oben beschrieben habe; sie lässt sich von einer Zuschauerin den Reißver‐ schluss öffnen, begibt sich erneut vor den Spiegel, schminkt sich ab, zieht sich mehrfach um und erprobt wiederum verschiedene Ausdrucks- und Körpertech‐ 83 »my dance! my style! « Self-Fashioning, Selbstreflexion und Stil im zeitgenössischen Tanz <?page no="84"?> 32 Set and Reset von Trisha Brown stammt aus dem Jahr 1983; vgl. dazu www.trisha browncompany.org/ ? nr=711&page=view [Abruf: 27.4.2017]. niken: klischiert ›männliche‹ oder ›weibliche‹, intime sowie öffentliche, deren ›Herstellung‹ sie als Inszenierung gleich mit ausstellt. Sie lümmelt sich, moon‐ walkt und huscht dabei förmlich durch die (Pop-)Kulturgeschichte, wobei diese choreographierte Bewegungs- und Habituszitatreihe in einen letzten eindrin‐ glichen Übergang mündet. Zunächst in Stille, dann zu Gitarrenmusik tanzt Bachzetsis sich wiederholende Passagen aus Trisha Browns Set and Reset, 32 einem paradigmatischen Stück des späten Postmodern Dance. Dieses lässt sie fließend in einen volkstümlich griechischen Rembetiko-Tanz übergehen, den sie am Ende, nachdem sie sich auf der Bühne Haare und Gesicht gewaschen hat, als Lied, diesmal sitzend, selber singt. Abb. 3: Alexandra Bachzetsis: Private: Wear a mask when you talk to me, 2016, Foto: Guadalupe Ruiz, Swiss Art Awards 2016, Bundesamt für Kultur, Bern. 84 Christina Thurner <?page no="85"?> 33 Vgl. Friedhelm Marx: »Heilige Autorschaft? Self-Fashioning-Strategien in der Literatur der Moderne«, in: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/ Weimar 2002, S. 107-120, hier S. 107. 34 Stephen Greenblatt: »Selbstbildung in der Renaissance. Von More bis Shakespeare (Einlei‐ tung)«, übersetzt von Moritz Baßler, in: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturge‐ schichte als Poetik der Kultur. Mit Beiträgen von Stephen Greenblatt, Louis Montrose u. a., Frankfurt am Main 1995, S. 35-47, hier S. 35. 35 Foster 1997 (wie Anm. 8), S. 241. 36 Foster 1986 (wie Anm. 6), S. 76. 37 Vgl. (mit Referenz auf Foucault) Ramsay Burt und Susan Foster: »Editorial«, in: dies. (Hg.): Discourses in Dance, Vol. 3, Nr. 2, 2006, S. 3-5, hier S. 5; vgl. auch Constanze Schellow: Diskurs-Choreographien. Zur Produktivität des ›Nichts‹ für die zeitgenössische Tanzwissen‐ schaft, München 2016, S. 80. 38 Greenblatt 1995 (wie Anm. 34), S. 46. Wie lassen sich nun, an meine Anfangsfragen anknüpfend, Praktiken des ›Self-Fashioning‹ mit Selbstreflexion und Stil im Zeitgenössischen Tanz verbinden und für das Thema dieses Bandes fruchtbar machen? Dazu muss ich nochmals kurz theoretisch ausholen, bevor ich auf das Beispiel zurückkomme. Den Begriff des ›Self-Fashioning‹, auf den ich mich hier beziehe, hat Stephen Greenblatt ge‐ prägt. Er liefert in seinen Ausführungen dazu - wenn auch mit Blick auf die Lite‐ ratur der frühen Moderne - ein »Paradigma für die Strategien und Paradoxien künstlerischer Identitätsvergewisserung in Zeiten elementarer Verunsicherung«. 33 »[D]ie Macht, sich selbst zu gestalten«, schreibt Greenblatt, »ist ein Aspekt jener allgemeinen Macht, Identität zu kontrollieren.« 34 Aber welcher Identität - fragt man sich gerade in Zeiten elementarer Verunsicherung und fragt sich meines Erachtens auch Bachzetsis in ihrem Stück - gilt es sich zu bemächtigen und wie ist sie zu kontrollieren beziehungsweise wie gestaltet sich das ›Selbst‹? Susan Foster hat - wie bereits erwähnt - darauf hingewiesen, dass sich gerade im Tanz zeigt oder zeigen lässt, wie dieses Selbst hervorgebracht werde, nämlich als »fashion[ed] expressive self that, in its relation with the body, performs the dance« 35 ; ein Selbst als »stylistic choice« 36 , das wiederum stets ein Produkt sei »of a repertoire of tech‐ niques for fashioning and performing identity«. 37 Denkt man diese tänzerisch-choreographischen Prozesse nun zusammen mit einer weiteren Aussage von Greenblatt, wonach Self-Fashioning »an dem Ort stattfindet, an dem eine Autorität und Fremdes einander begegnen« und »jede erreichte Identität die Zeichen ihrer eigenen Subversion, ihres eigenen Verlusts immer in sich trägt«, 38 dann lässt sich angesichts des Stücks von Bachzetsis Fol‐ gendes konstatieren: Die Figur auf der Bühne exerziert verschiedene Lifestyle- und Tanzstile durch, indem sie sich qua Schminke, Outfit, Gesten und Bewegungen immer wieder neu stylt und damit performativ schillernde und ständig wech‐ selnde Identitäten auf den Leib schreibt, wobei offen bleibt, welche sie sich als 85 »my dance! my style! « Self-Fashioning, Selbstreflexion und Stil im zeitgenössischen Tanz <?page no="86"?> 39 Vgl. dazu auch Louppe 2009 (wie Anm. 14), S. 115: »Stil trägt […] dazu bei, den Körper ideologisch und historisch zu verorten«; ausserdem Preciado 2016 (wie Anm. 25), o. S.: »How much history of discipline and dissidence can be encapsulated within a single gesture? Can movement activate the memory of the subaltern bodies that have been buried underneath hegemonic codes? « 40 Vgl. Foster 1997 (wie Anm. 8), insbesondere S. 253-257, hier S. 255. Mit dem bulgari‐ schen Philosophen Boyan Manchev könnte man dabei auch von einer Vereinnahmung dieser körperlichen Verwandelbarkeit der Tanzenden durch den globalen, von ihm »pervers« genannten Kapitalismus sprechen, wobei Manchev (wie ich auch, siehe im Folgenden) davon ausgeht, dass dem Tanz das Potenzial zum Widerstand innewohnt; vgl. dazu Boyan Manchev: »Der Widerstand des Tanzes. Gegen die Verwandlung des Körpers, der Wahrnehmung und der Gefühle zu Waren in einem perversen Kapita‐ lismus«, übersetzt von Werner Rappl, in: CORPUS 11.8.2010, www.corpusweb.net/ der-widerstand-des-tanzes.html [Abruf: 24.4.2013]. fremde einverleibt und welche sie als ›eigene‹, autobiographische aus ihrem Körper lediglich an die Oberfläche holt. Signifikant ist dabei auch die Szene der Waschung (Bachzetsis wäscht sich auf der Bühne in einem Bottich den Kopf), die als radikaler Versuch der Tilgung, der Konzentration auf das ›reine Eigene‹ ange‐ sehen werden kann, wobei auch dies - ausgestellt - ein Versuch bleibt. Bachzetsis verortet sich beziehungsweise ihre Figur über den/ ihren Körper und dessen Aktionen performativ relational und referentiell immer wieder neu in der Kultur- und in ihrer eigenen biographischen Geschichte. 39 Als zeitgenös‐ sisch ausgebildete Tänzerin mit griechischen Wurzeln und offenkundig pop‐ kulturellen Affinitäten bezeugt sie ebenso ihre autobiographischen Identitäten wie sie ihre Figur zwischen Eigenem und Angeeignetem, Öffentlichem und Pri‐ vatem, Offenem und Maskiertem, Normiertem und Individualisiertem ein Spiel mit den Identitäten inszenieren lässt. Über den ausgestellten Prozess des Self-Fashioning macht die Künstlerin (selbst-)reflexiv auf performative Identitätsproduktionen aufmerksam. Und hier kommt nun die Subversion ins Spiel, denn jede Identität wird - durch deren Bewegtheit, durch das Im-ständigen-Übergang-Sein - als eine vorgeführt, die ihren eigenen Verlust bereits in sich trägt, die aber das Wissen um den Verlust jeglicher fixen Identität annimmt und bewegt aushandelt. Dieses Annehmen und Aushandeln ist meines Erachtens das ebenso Raffinierte wie Ergreifende an diesem Stück und insbesondere an der beschriebenen, langen Schlussszene. Daran lassen sich nun wiederum tanzwissenschaftliche Überlegungen an‐ schließen, die Anstoß für weitere Reflexionen sein könnten. Erwähnt habe ich, dass Foster 1997 diese unfesten, multiplen, hybriden (Körper-)Identitäten als »hired body« oder »body for hire« bezeichnet und noch sehr kritisch als ›An‐ biederung‹ an einen bestimmten Markt für Tänzerkarrieren betrachtet hat. 40 Dagegen könnte man nun 20 Jahre später Bachzetsis’ Stück, um dieses hier nur 86 Christina Thurner <?page no="87"?> 41 Vgl. dazu auch Julia Wehren: Körper als Archiv in Bewegung. Choreografie als historio‐ grafische Praxis, Bielefeld 2016, insbesondere S. 189. 42 Utz 1998 (wie Anm. 20), S. 18. als ein Beispiel anzuführen, als eine betont heutige zeitgenössische Reflexion auf Tänzer- und damit auch auf andere Identitäten betrachten. 41 In ihrem Stück reflektiert Bachzetsis - wie ich zeigen wollte - (Tänzer-)Identitäten, die ihre Referentialität, Relationalität und Performativität im Sinne der stetigen Selbst‐ hervorbringung angenommen haben - und dies nicht etwa opportunistisch oder gar fatalistisch, sondern eben als durch und durch heutigen Stil im konstitutiven Spannungsfeld »von normativen und individualisierenden Kräften« 42 , als Modus eines Bezugnehmens auf unsere Welt, deren wesentlicher Teil Tanz in seiner Beweglichkeit eben ist: »my dance! my style! «. 87 »my dance! my style! « Self-Fashioning, Selbstreflexion und Stil im zeitgenössischen Tanz <?page no="89"?> 1 Zadie Smith stellt und beantwortet die Frage in ihrem Essay Dance Lessons for Writers: »When he dances a question proposes itself: what if a body moved like this through the world? But it is only a rhetorical, fantastical question, for no bodies move like Astaire, no, we only move like him in our dreams.«, in: dies.: Feel free. Essays, London u. a. 2018, S. 136-147, hier S. 139 [Hervorheb. i. O.]. 2 Susan Sontag: »Über den Stil (On Style)« [1965], in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 lite‐ rarische Analysen, München/ Wien, 1980, 2003, S. 23-47. 3 Ebd., S. 44. 4 Nikolaus Müller-Schöll hat für die Bestimmung von Stil im Hinblick auf das postdra‐ matische Theater einen Vorschlag unterbreitet. In seinem Artikel schreibt er: »In An‐ lehnung an die alten Bestimmungen des St.s könnte man definieren, dass der St. hier exornatio und incarnatio zugleich ist: untilgbare Einkleidung, in der sich das Wesen als Spur manifestiert.« [Artikel] »Stil«, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Mat‐ thias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, 2., erw. u. aktual. Auflage, Stuttgart/ Weimar 2014, S. 339-342, hier S. 342 [Hervorheb. i. O.]. »what if a body moved like this through the world? « 1 Zu Stil und zeitgenössischem Tanz Katja Schneider Stilbestimmungen erfolgen oft retrospektiv und in Abgrenzung. Stil entfaltet sich als strukturelles Muster der Abweichung, der Hervorhebung und der Wie‐ derholung, das sich in einem einzelnen Werk und in Korpora oder Œuvres ma‐ nifestiert. Von Rezipient*innen wird dieses Muster als charakteristisches Phä‐ nomen wahrgenommen. Man könnte auch sagen, Stil ist eine Art und Weise, etwas zu tun oder zu lassen. Zugleich ist das, was und wie wir wahrnehmen, dem Stil geschuldet, so Susan Sontag 1965 in ihrem Essay Über den Stil (On Style)  2 , in dem sie Stil als »Verfahren der sensorischen Einprägung« 3 beschreibt. Wie tragfähig kann der Stil-Begriff im Kontext des zeitgenössischen Tanzes sein? Im Fokus der folgenden Untersuchung steht also nicht, wie Stil bestimmt werden kann (worum es auch gehen wird) oder welcher Stil einen Künstler, eine Künstlerin charakterisiert (obwohl auch dazu illustrierende Beispiele gegeben werden), sondern die Frage, ob ein Begriff von Stil konturiert werden kann, der für den zeitgenössischen Tanz und Tanzdiskurs starkzumachen ist. 4 Meine These <?page no="90"?> lautet, dass Fragen nach Stil immer auch Fragen nach kulturellem Rendering und den Bedingungen, unter denen Kunst stattfindet, sind. An Susan Sontags Bestimmung von Stil als »Verfahren der sensorischen Ein‐ prägung« interessiert mich vor allem der betonte Wahrnehmungsaspekt, der Stil inhärent ist, demnach die kommunikativen Aspekte von Stil. Danach wäre etwa das auffallende, ostentative Stehen, das Stücke von Raimund Hoghe oder Jérôme Bel auszeichnet, Manifestation eines Stils. Das ruhige Dastehen der Darsteller*innen, die im Dämmer der Bühne und in deren Hintergrund stehen, während sie gemeinsam mit dem Publikum einem Trauermarsch von Purcell in Si je meurs laissez le balcon ouvert zuhören, prägt sich ein. Dieses kontemplative Stehen fungiert bei Hoghe als ein Echoraum der Musik, als Möglichkeit, ge‐ meinsamen emphatischen Hörens. Hoghes Stehen im früheren Solo Meinwärts hingegen richtet ebenfalls den Fokus auf die Tonspur, evoziert gleichermaßen ein gemeinsames Hören, das hier jedoch einen provozierenderen Gestus erhält, indem Hoghes Stehen direkt an der Rampe stattfindet: Zu einer eingespielten Arie des von den Nationalsozialisten verfolgten Tenors Joseph Schmidt aus dem Zigeunerbaron stellt sich Hoghe dicht vor die erste Zuschauerreihe. Dort steht er, während Schmidt aus dem Off singt; er hält eine Tulpe in den Händen und lässt die Blicke über das Publikum wandern. Etwas später begleitet er eine akus‐ tische Einspielung der von Paul Celan gelesenen Todesfuge, indem er mit dem Rücken zum Publikum steht und sich mit einer Höhensonne als mobilem Schein‐ werfer so beleuchtet, dass er auf die Rückwand einen großen schwarzen Schatten wirft. In der Bewegungsfigur des Stehens, die hier mit einem der Schwerkraft entgegenstrebenden, mittleren Muskeltonus ausgeführt ist, wird das Zuhören sowohl des Performers als auch des Publikums gerichtet. Stil(l) gestanden Stehen als Phänomen fällt auf und prägt sich ein: In Jérôme Bels Le dernier spec‐ tacle kommen die Performer*innen im Wechsel an die Rampe, stellen sich mit einem Rollennamen vor und bleiben exakt 60 Sekunden lang ruhig stehen, bis die gestellte Armbanduhr piepst und sie wieder abgehen. Dieses Stehen pro‐ longiert eine Aktion, rahmt oder begleitet sie. In Bels Disabled Theater hingegen adressieren sich die an die Rampe getretenen Darsteller*innen mit ihrem Stehen an das Publikum. Es handelt sich um ein ausgestelltes emphatisches Stehen, eine Verkörperung des Stehens, die das Publikum direkt adressiert (wie Hoghe mit der Tulpe in Meinwärts). Die Blicke der Akteur*innen sind ins Publikum ge‐ richtet, schweifen über die Köpfe der Zuschauer*innen, blicken jemanden direkt an oder sehen knapp an ihm vorbei. Das Publikum erhält so Zeit und Gelegen‐ 90 Katja Schneider <?page no="91"?> heit, die Menschen auf der Bühne genauer zu betrachten; gleichzeitig wird den Zusehenden demonstriert, dass die Bühne zurückguckt. Insofern nutzt Bel das stille Stehen an der Rampe auch, um die Kopräsenz zwischen Darsteller*innen und Zuschauer*innen zu betonen. Zugleich ruft er in einem solchen Überspielen der vierten Wand deren Existenz paradoxerweise auf. Denn das andauernde stille Stehen widerspricht den Publikumserwartungen, die auf Aktionen ausge‐ richtet sind, und lenkt die Aufmerksamkeit einerseits auf das individuelle Er‐ scheinungsbild der sich ausstellenden Akteur*innen und andererseits auf indi‐ viduelle Modi des Stehens an sich. Vom Hoghe’schen oder Bel’schen Stehen weicht Stehen in Werken von Ri‐ chard Siegal markant ab. Auch in seinem Ballett BoD findet das ruhige Dastehen, mit hängenden Armen, statt, allerdings nur im sichtbaren Off der Bühne, hinter oder an der Umrandung der Tanzfläche, wo die Tänzer*innen sitzend, gehend oder eben stehend auf ihren Einsatz warten. Auf der Bühne wird Stehen als Pose ausgestellt. Iterativ nehmen Tänzerinnen und Tänzer einzeln oder zu zweit Positionen ein, halten sie, während ihre Kolleg*innen ihre eigenen Bewegungs‐ muster weiterführen. Dominant sind diese Posen auf der Mittelachse, vorne an der Rampe, etwa in der Mitte und im Hintergrund lokalisiert. Meist ist in weiter Beinstellung ein Fuß aufgestellt, wobei die Tänzerinnen den Spitzenschuh förm‐ lich in den Boden rammen. Mal in ausgedrehter, mal in paralleler Fußhaltung, mal in der Hüfte eingeknickt, mal lang nach oben gezogen, spielen diese Posi‐ tionen mit Linie und Ausrichtung der Pose. Diese Posen konzentrieren den Blick, heben einzelne Tänzer*innen aus der Gruppe hervor, hypertrophieren die figu‐ rale Pose im Bühnenhintergrund, die wie in einen eigenen Bühnenrahmen ge‐ rückt erscheint, oder ironisieren die affirmativen Blicke und Posen einer Tän‐ zerin, die »¡Hola! « ins Publikum ruft und von einem Kollegen wie eine Standfigur abgetragen wird. Stehen als geformte Zäsur macht Posen sichtbar, die in der Fülle schneller, komplexer Bewegungen enthalten sind. Stehen in der beschriebenen Art strukturiert sowohl in einem Stück als auch in Œuvres Bewegungsmuster und inszenatorische Manöver. Insofern trägt die jeweilige Art zu stehen zum Stil von Stück und Œuvre bei. So verwendet, dient Stil zur schnellen Kennzeichnung einer bestimmten Art zu tanzen und zu cho‐ reographieren, zur Identifizierung einer (historischen) Schule und Technik, zur Benennung einer Tradition und Kennzeichnung einer individuellen Form des Ausdrucks. In solcher Verwendung gehört »Stil« zu den Termini, die gerne um‐ 91 »what if a body moved like this through the world? « Zu Stil und zeitgenössischem Tanz <?page no="92"?> 5 Vgl. Ingo Diehl und Friederike Lampert (Hg.): Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutsch‐ land, Leipzig 2011. Vgl. z. B. die Seiten 203, 213, 227, 294, 302. Oder Franz Anton Cramer: »Tänzerische Quellenkunde, die Emphase des Gegenwärtigen und das Phantasma des Archivs«, in: Christina Thurner und Julia Wehren (Hg.): Original und Revival. Ge‐ schichts-Schreibung im Tanz, Zürich 2010, S. 142. Oder Pirkko Husemann: Ceci est de la danse: Choreographien von Meg Stuart, Xavier Le Roy und Jérôme Bel, Norderstedt 2002, S. 75. 6 Vgl. z. B. Das große Tanzlexikon (hg. von Annette Hartmann und Monika Woitas, Laaber 2016) verzichtet auf einen Eintrag zu »Stil«. Der Choreograph Jo-o Fiadeiro sagt über seine Arbeit: »Das System, das ich in den letzten zehn Jahren entwickelt habe, ist somit kein ›Stil‹, sondern nichts anderes als ein Werkzeug […].« Jo-o Fiadeiro: »Wenn Du das nicht weißt, warum fragst Du dann? Eine Einführung in die Methode der Komposition in Realzeit«, in: Sabine Gehm, Pirkko Husemann und Katharina von Wilcke (Hg.): Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld 2007, S. 103-112, hier S. 105. 7 Geraldine Morris: Frederick Ashton’s Ballets: Style, Performance, Choreography, Binstead, 2012, S. 13. 8 Susan Leigh Foster: Reading Dancing: Bodies and Subjects in Contemporary American Dance, Berkeley, Los Angeles u. a. 1986, S. 88. 9 Vgl. ebd., S. 78, 85, 88. 10 Ebd., S. 88. standslos und affirmativ genutzt werden. 5 Auf der anderen Seite wird der Begriff von Künstler*innen wie Theoretiker*innen abgelehnt, als zu unterkomplex be‐ wertet, in seiner Zuschreibungsmächtigkeit problematisiert, als Gegenbegriff etabliert oder gar nicht erst verwendet. 6 Stil im Tanz ist, wie Geraldine Morris schreibt, »a problem« 7 . Stil in der Tanzwissenschaft »Style tells the viewer about the dancer’s and choreographer’s concerns and about the dance’s place in the world« 8 , resümiert Susan Leigh Foster und gehört damit zu den wenigen Tanzwissenschaftler*innen, die sich explizit mit dem Phänomen Stil beschäftigen. Der hier angesprochene kommunikative Aspekt von Stil, seine Fähigkeit zu erzählen, vermittelt sich über charakteristische Nutzungen von Körperpartien, Bewegungsqualitäten und Raum 9 , die wiederum Ausdruck einer speziellen kulturellen Prägung sind: »Growing out of the most fundamental cultural assumptions about the subject and the body, style infuses a dance with its particular identity, so that styles, even when described as ›me‐ chanical‹, ›kinetic‹, or ›cool‹, seem to the viewer both personal and familiar.« 10 92 Katja Schneider <?page no="93"?> 11 Darauf verweist auch Marcia B. Siegal in Bezug auf javanesischen Tanz, der in Los Angeles vorgeführt wird: »Is this the only way to perform that dance or style? Is this the only context in which that style is seen? « - Marcia B. Siegal: »Bridging the critical distance«, in: Alexandra Carter und Janet O’Shea (Hg.): The Routledge Dance Studies Reader, 2. Aufl., Abingdon, New York 2010, S. 188-196, hier S. 189. 12 Graham McFee: Understanding Dance, London, New York 1992, S. 199. 13 Ebd., S. 202 f. 14 Ebd., S. 208 f. 15 Ebd., S. 210. 16 Morris 2012 (wie Anm. 7), S. 1. 17 Ebd., S. 15 f. Stil als kulturelles Phänomen ist demnach ideologisch und historisch verortet und als solches von Rezipient*innen identifizierbar. 11 Für Graham McFee, der sich auf den britischen Philosophen Richard Woll‐ heim bezieht und dessen Argumentation im Feld der bildenden Kunst auf den Tanz überträgt, befördert Stil die Dechiffrierbarkeit 12 von Tanz, die grundlegend sei, um etwas überhaupt als Kunst und künstlerisches Konzept zu erkennen; Stil wäre also eine Bedingung für ästhetische Wahrnehmung. Dem fügt McFee Technik als Voraussetzung für Stil hinzu. Technik, verstanden als körperliches Training für Tänzer*innen, das mediumspezifische Fähigkeiten hervorbringt und bestimmbaren Konzepten von Körper und Bewegung folgt, sei für den cho‐ reographischen Stil entscheidend. 13 Der dritte für Stil relevante Begriff ist nach Wollheim und McFee »psychological reality« 14 , womit pauschal gesagt die Zu‐ griffsmöglichkeiten von Künstler*innen auf die Welt gemeint sind: »What each choreographer could do is constrained by who and where each is, both in place and in history.« 15 McFee betont hier den Code, den Choreograph*innen be‐ nutzen. Geraldine Morris, die für einige Ballette Frederick Ashtons »movement style and choreographic style« 16 herausarbeitet, rekurriert auf die von McFee entfaltete enge Bezogenheit von Technik und Stil, problematisiert jedoch in ihrer Arbeit McFees großräumige, genreverhaftete Einteilung, wenn es darum geht, Stil über Technik zu identifizieren: »[…] but I use it [Technik; K. S.] more spe‐ cifically to denote not ballet per se but the range of training systems prevalent during the early part of the twentieth century. The expressive potentials or, as McFee puts it, characteristic possibilities, of each system will vary according to the values implicit in the system; for instance, earlier twentieth century training focused on speed and motion, whereas that of today is more concerned with shape and position.« 17 Deutlich wird, dass Stil sich nicht an einzelnen Phänomenen darstellt, nicht reduzierbar ist auf den Aspekt des Vokabulars, der Schule, des Trainings, auf choreographische Handschriften oder tänzerische Interpretationen, obwohl 93 »what if a body moved like this through the world? « Zu Stil und zeitgenössischem Tanz <?page no="94"?> 18 Laurence Louppe: Poetik des zeitgenössischen Tanzes [frz. Original 1997]. Übersetzt aus dem Französischen von Frank Weigand, Bielefeld 2009, S. 115. 19 Rainers legendärer und weit verbreiteter Text wurde ursprünglich publiziert in Form eines Absatzes (ohne Interpunktion und Zeilenbrüche) im letzten Kapitel »3. Postcript« von Yvonne Rainer: »Some Retrospective Notes on a Dance for 10 People and 12 Mattresses Called ›Parts of Some Sextets‹, performed at the Wadsworth Atheneum, Hart‐ ford, Connecticut, and Judson Memorial Church, New York, in March, 1965«, in: The Tulane Drama Review, Bd. 10, H. 2 (Winter 1965), S. 168-178, hier S. 178. 20 Susanne Foellmer: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenös‐ sischen Tanz, Bielefeld 2009, S. 19. 21 Constanze Schellow: Diskurs-Choreographien. Zur Produktivität des ›Nicht‹ für die zeit‐ genössische Tanzwissenschaft, München 2016, S. 133. diese Phänomene alle zu Stil gehören und, wie Laurence Louppe formuliert, Stil dazu beiträgt, »den Körper ideologisch und historisch zu verorten« 18 . In der Verortbarkeit des Körpers und der Bestimmbarkeit des choreographi‐ schen Zugriffs sowie in der vereindeutigenden Zuschreibung von Werk zu Autor*in, McFees Dechiffrierbarkeit, wie sie die Stil-Identifizierung ermöglicht, liegt denn auch für Gegner*innen des Stil-Begriffs dessen Problematik. »No to style«, forderte Yvonne Rainer in ihrem No Manifesto  19 , und zeitgenössische Choreograph*innen versuchen, »einer Stil-Bestimmung […] zu entgehen.« 20 Das Kriterium eines gemeinsamen Stils wird als untauglich für die Bestimmung einer Gruppenzugehörigkeit oder Generation gesehen, so Constanze Schellow mit Rekurs auf Pirkko Husemann: »Weder ihre Arbeitsweisen noch eine Äs‐ thetik oder ein Tanzstil verbinden also Stuart, Le Roy und Bel […], sondern ihre künstlerische Gesinnung.« 21 Die auf künstlerischen Werten der Choreo‐ graph*innen beruhende Haltung stelle demnach die Gruppenzugehörigkeit her, nicht ein zu ermittelnder Stil. Im Aufruf einer solchen Opposition von Haltung versus Stil bleibt die Frage offen, ob der Versuch einer Tanzstil-Bestimmung gemacht wurde und im Ver‐ gleich der drei Choreograph*innen (Meg Stuart, Xavier Le Roy und Jérôme Bel) keine Gemeinsamkeiten festgestellt werden konnten. Oder ob im Aufrufen der Opposition von Haltung versus Stil der Versuch unternommen wird, den Fokus von der Bestimmung manifester Phänomene, die (auch) als Stil beschrieben werden können, auf eine innerkünstlerische Instanz zu verschieben, ver‐ gleichbar mit dem Willen des Künstlers, der Künstlerin. Träfe letzteres zu, dann würde hier mit der Negation des Stil-Begriffs auch dessen pragmatische Di‐ mension getilgt. Denn Stil ist an Kommunikation gebunden, und zwar nicht nur im oben genannten Sinn von Foster, in dem Stil etwas von und über Kunst und Künstler*innen »erzählt«, sondern auch, da Stil notwendigerweise erkannt, wahrgenommen und als solcher rezipiert werden muss. Das heißt, der Rezeption 94 Katja Schneider <?page no="95"?> 22 Jan-Oliver Decker: »Einführung«, in: ders.: Erzählstile in Literatur und Film, Kodikas/ Code. Ars Semiotica. An International Journal of Semiotics, Volume 30 (2007), No. 1-2, S. 3-15, hier S. 6. 23 Ebd. 24 Gotthard Lerchner: »Stilwandel«, in: Gerhard Stickel (Hg.): Stilfragen, Berlin/ New York 1995 (= Institut für deutsche Sprache, Jahrbuch 1994), S. 94-114, hier S. 98. 25 Die »Stilzeichenfunktion« ist nicht auf sprachliche Äußerungen beschränkt, sondern reali‐ siert sich in Handlungsvollzügen; sie besteht »in der Relation zwischen zweiter (›zusätzli‐ cher‹) Inhaltsform (dem Konnotator) und Ausdrucksform (← Inhalts- + Ausdrucksebene denotativer Zeichen)«. Gotthard Lerchner: »Stilistische Solidaritäten. Stilgeschichte zwi‐ schen Literatur- und Sprachhistoriographie«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 6 (1996), H. 2, S. 337-348, hier S. 343 [Hervorheb. i. O.]. von Stil geht eine Einübung in kulturelle Normierungen, in kulturelles Wissen, in Konventionen und kognitive wie sensuelle Wahrnehmungsweisen voraus. Stil als kulturelles Rendering / als intertextueller Verweis Stil, so lässt sich festhalten, ist eine relationale Kategorie, ein »kulturelles Raster« 22 , das, wie der Literaturwissenschaftler Jan-Oliver Decker formuliert, »als relevante Kategorie gedacht werden muss, damit es ein Phänomen ist, das in Texten wahr‐ genommen wird.« 23 Dies erscheint mir die erste interessante Auftragsbeschreibung von Stil zu sein, Kontextwissen zu generieren, funktional zu verknüpfen, zu mani‐ festieren und für die Rezeption zu triggern. Den Begriff Rendering wähle ich als heuristischen, da er die Umsetzung von Basisinformationen in eine detailliertere Darstellung bezeichnet, mit der ein Gesamteindruck modelliert werden kann. Kul‐ turelles Rendering wäre eine Leistung, die Stil des Werks oder des künstlerischen Prozesses und Rezipient*in gemeinsam erbringen. Um die Kategorie Stil als Funktionsweise des kulturellen Renderings und des intertextuellen Verweises zu beschreiben, gehe ich zunächst auf eine erste Trian‐ gulation ein, die sich aus »Phänomen - Werk - Kontextwissen« bildet. Mit einer zweiten Triangulation aus »Substrat/ Rauschen - Haltung - Idiom« werde ich an‐ schließend Stil als Artikulation kultureller Bedingungen formulieren. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass Stil ein relationaler Begriff ist, der mit allen Phänomenen eines Werks in Verbindung steht beziehungsweise funktional auf diese bezogen ist. Mit dem Semiotiker Gotthard Lerchner ziehe ich dem Begriff »Stil« »das Stilisti‐ sche« 24 vor, da dieser Term den Vorteil bietet, auf ganz unterschiedliche Gegen‐ standsbereiche und deren Bezüglichkeiten anwendbar zu sein. In Lerchners Modell ergibt sich das Stilistische aus einer »Stilzeichenfunktion«, die aus den denotativen Zeichen und einem korrelierten »Konnotator« besteht. 25 Der Konnotator ist aus dem kulturellen Wissen/ dem Kontextwissen ermittelbar. 95 »what if a body moved like this through the world? « Zu Stil und zeitgenössischem Tanz <?page no="96"?> 26 Zur Rezeption Celans bei der Gruppe 47 vgl. Cornelia Epping-Jäger: »Stimmbrüche. Celan liest in Niendorf«, in: Horst Wenzel und Ludwig Jäger (Hg.): Deixis und Evidenz. In Zusammenarbeit mit Robert Curtis und Christina Lechtermann, Freiburg i. B./ Berlin/ Wien 2008, S. 195-215, und Klaus Briegleb: Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: »Wie antisemitisch war die Gruppe 47? «, Berlin/ Wien 2003. Zu Hoghe und Celan vgl. Katja Schneider: »Anschlussstelle Text. Zum frühen Solo Meinwärts und zu Stra‐ tegien der Intertextualität«, in: dies. und Thomas Betz (Hg.): Schreiben mit Körpern. Der Choreograph Raimund Hoghe, München 2012, S. 52-63. Um diesen Gedanken für mein Untersuchungsfeld produktiv zu machen und Aspekte des Stilistischen zu verdeutlichen, greife ich auf das eingangs erwähnte Stehen als Manifestation von Stil zurück und skizziere eine Relation im Sinn der ersten Triangulation (der Kontextualisierung): Bei Hoghe, und das wäre ein extremales Beispiel für eine solche Generierung, Verknüpfung, Manifestation und Rezeptionslenkung von Kontextwissen, erweitert das Stehen in Meinwärts die im Stück bereits über die Figur Joseph Schmidt eingeführte Exklusion und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland auf Ausgrenzung im Nach‐ kriegsdeutschland. Die zu Hoghes Stehen parallelisierte akustische Spur stammt von Paul Celan, der sein 1944/ 45 geschriebenes, 1948 erstmals auf Deutsch ge‐ drucktes Gedicht 1952 beim NWDR einlas und dann noch einmal in Stuttgart 1958 (diese Aufnahme ist noch verfügbar). Der explizit die Verfolgung und Er‐ mordung der Juden thematisierende Text erklingt in Celans typischer »singender« Rezitation, die nicht dem stimmlosen Stil der Zeit beziehungsweise dem normativen Leseduktus der Gruppe 47 entsprach, bei der Celan 1952 sein Ge‐ dicht vorlas und ausgelacht wurde. 26 Über diesen Konnotator verbindet Hoghe Celans Stigmatisierung und Ausgrenzung in mehrfacher Perspektive: erstens in einer zeitlich-ideologischen Überblendung von Nationalsozialismus und Nach‐ kriegszeit, zweitens über die Konfrontation von Stehen mit dem Gesicht zur Wand, was die kleine Körpergröße und Rückenverkrümmung Hoghes ausstellt, und übergroßem Schatten an der Wand, der als ambigues Zeichen zum einen als gerader großer Körper erscheint, zum anderen als expressionistisch bedroh‐ liche Überfigur; und drittens als Kombination leiblicher Qualitäten und perfor‐ mativer Präsenz, die als abweichend gewertet werden, ein körperliches Merkmal, das alle drei Stigmatisierten (der für die Opernbühne zu kleine Tenor Schmidt, der in der falschen Stimmlage lesende jüdische Dichter Celan und der nicht dem normativ postulierten Tänzerkörper entsprechende Tänzer Hoghe) teilen. Auf der Œuvre-Ebene, die für eine Stil-Analyse notwendigerweise in Be‐ tracht zu ziehen wäre, ist das Stilistische des Stehens bei Hoghe etwas, was emphatisch Aufmerksamkeit richtet auf den Körper in seiner widerständigen 96 Katja Schneider <?page no="97"?> 27 Ich habe das Stehen beispielhaft als Marker von Stil gewählt, da ich dieses Phänomen in unterschiedlichen Kontexten untersuche. Im tanzwissenschaftlichen Bereich ist Stehen bereits mehrfach Gegenstand gewesen: Vgl. z. B. zur Korrelation von Stehen und Körper André Lepecki: Undoing the fantasy of the (dancing) subject: »still acts« in Jérôme Bel’s The Last Performance, www.nyu.edu/ classes/ bkg/ lepecki-stillness.PDF [Abruf: 3.7.2018]. 28 Thomas Betz: »Anfang und Ende. Grenzen - Rahmungen - Öffnungen«, in: Schneider/ Betz 2012 (wie Anm. 26), S. 170-175, hier S. 175. Präsenz 27 (wie im Übrigen bei Bel auch). In Relation zur körperlichen Aktion (sei es Stehen, Gehen, Sitzen, Liegen) wird ein Echoraum eröffnet, in den akustische, visuelle, haptische Botschaften gesendet und in einem nicht minder emphati‐ schen Zitieren performativ und zyklisch entfaltet werden. Es zeigt sich - und hier könnte man das Stilistische verorten -, eine »kulturelle Strategie, die töd‐ liche Linearität, die zu einem abruptem Ende führt, zu kompensieren«. 28 Abb. 1: Raimund Hoghe in Meinwärts (1994), Foto: Rosa Frank. 97 »what if a body moved like this through the world? « Zu Stil und zeitgenössischem Tanz <?page no="98"?> 29 Zum Phänomen der Pose vgl. Bettina Brandl-Risi, Gabriele Brandstetter und Stefanie Diekmann (Hg.): Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance, Berlin 2012. Das Stilistische als kulturelles Rendering manifestiert sich auch in intertextu‐ ellen Bezügen, wenn choreographisch auf (andere) Kunstsysteme referiert wird beziehungsweise unterschiedliche Stilistiken (kontrastierend oder homogeni‐ sierend) kombiniert werden, indem ihre jeweiligen Konventionen reflektiert werden. In dem erwähnten Beispiel von Richard Siegal verwendet und unter‐ läuft der Choreograph klassische Technik und Ballettkonventionen. Wie schon seine für andere Kompanien entstandenen Stücke (Unitxt, metric dozen, PopHD) prägt BoD (eine Abkürzung des Kompanienamens Ballet of Difference) eine starke Orientierung an der danse d’école. Deren Duktus wird einerseits ge‐ brochen durch die Betonung von Schwerkraft, Hüftschwung, Laufsteg-Walk, HipHop-Moves, Afro Dance und Polyrhythmik und andererseits hypertrophiert durch die Nutzung von Spitzenschuhen sowie einer ausgestellten, aber kon‐ ventionellen Gender-Verteilung, was das Partnering betrifft. In den erwähnten Posen kombiniert Siegal Brechung und Hypertrophie: Im Hintergrund figuriert eine Tänzerin in einer Pose, die an Degas᾽ Skulptur La Petite Danseuse de quatorze ans erinnert, da sie eine vergleichbare Körperspannung aufweist, in einer vierten Position steht (allerdings die Fußspitze aufstellt) und die Arme hinter dem Rü‐ cken verschränkt. 29 Vor der in den Hintergrund gerückten Tänzerinnenpose entfaltet sich ein Panorama betont nicht-klassischer, sehr individualisierter Bewegungen. Als Strukturmerkmal wiederholt sich diese direkte Konfrontation zwischen klassi‐ scher Linie und differenter Formung häufig: Auch die klare, symmetrische Vor‐ wärtsbeuge der Tänzerin mit aufgestellter Spitze (die auf dem Cover dieses Bandes im Ausschnitt zu sehen ist) steht vor einer heterogenen Gruppe, in der keine Bewegung zweimal erscheint. An den Rändern der permanenten Motion konzentriert sich die stilistische Norm, die ostentativ betont und zugleich still‐ gestellt - als abweichend betont gezeigt - ist, oft im Verlauf einer Bewegung, die vom Klassischen ins davon Abweichende mutiert oder umgekehrt. Ein sol‐ ches Changieren unterscheidet Siegal signifikant von den Dekonstruktionen William Forsythes, bei dem er lange als Tänzer engagiert war. Siegal nimmt diese Geste der ausstellenden Abweichung nicht in der Musikauswahl auf, wohl aber in den Kostümen von Becca McCharen, die für BoD Versatzstücke von Tutus und Korsagen in Luftmatratzenoptik entworfen hat, die von den Tänzerinnen und Tänzern flexibel um Hüfte, Taille und Schultern, vor dem Bauch, über dem Po oder an den Oberarmen getragen werden. 98 Katja Schneider <?page no="99"?> 30 Vgl. Nat Berman: »Becca McCharen: 10 Things To Know about the Chromat Founder«, https: / / moneyinc.com/ becca-mccharen-10-things-know-chromat-founder/ [Abruf: 7.7.2018)]. 31 Louppe reflektiert auf die durch Tänzer*innen zu leistende »Arbeit am Stil« und verweist auf eine Bemerkung Irmgard Bartenieffs zum Stil eines javanischen Tänzers in einem US-amerikanischen Modern-Dance-System. Louppe folgert, dass Tänzer*innen den »ange‐ botenen Verfahren bewusst zustimmen« können müssen, um stilistische Vorgaben ad‐ äquat umzusetzen: »Die Kenntnis oder Inszenierung der Körper dieser Welt kommt nicht ohne jene von Bartenieff beschriebene extreme Feinarbeit aus, die den Ort eingrenzt, an dem ein Repräsentationssystem am Werk ist.«, Louppe 2009 (wie Anm. 18), S. 120. Abb. 2: BoD (2017), das Signaturstück Richards Siegals für seine Kompanie Ballet of Dif‐ ference mit Kostümen von Becca McCharen, Foto: Ray Demski. Für Siegal bleibt in den erwähnten Gruppenstücken das klassische Ballett do‐ minanter Bezugspunkt und ein Konnotator (weitere wären die anderen ver‐ wendeten Tanzformen oder auch, dass sich Siegal mit McCharen eine Desig‐ nerin aussuchte, die der LGBTQ Community 30 angehört, spezielle Bademode entwirft und mit der Stylistin Edda Gudmundsdottir zusammenarbeitet, die auch für BoD verantwortlich zeichnete). Die Posen, das Stehen, sie konnotieren eine Tanztradition und ihre Regularien, die bei Siegal nicht neu kombiniert werden, wie bei Forsythe, sondern über die sich der individuelle Stil der klassischen Tänzerinnen und Tänzer legt, die zwischen danse d’école, die sie mustergültig beherrschen, und ihrem Individualstil switchen. 31 Das Differente behauptet sich 99 »what if a body moved like this through the world? « Zu Stil und zeitgenössischem Tanz <?page no="100"?> nicht in der Abweichung vom System, sondern in der Abweichung im System, in dem das stilistisch Differente seinen Platz erobert. Vergleichbar bezieht sich auch Siegals amerikanischer Kollege Trajal Harrell auf ein dominantes System, das Voguing, das den Referenzrahmen für seine Stücke (von der Antigone/ Judson-Church-Serie über Caen Amour bis zu Juliet & Romeo) her‐ stellt. Während Siegal ausstellend inkludiert, was das konventionelle Ballettsystem ausmacht und was von ihm abweicht (und was als sein »Stilistisches« bezeichnet werden könnte), verwendet Harrell das Voguing als organisierendes Prinzip in seinen Stücken. Die identitätsreflektierenden und -konstituierenden Voguing-Pro‐ zesse nehmen intertextuell Elemente aus dem antiken Theater, dem Postmodern Dance, dem Butoh oder dem Hoochie Koochie auf. Die das Stilistische figurierende Systemreferenz kann sich auf ästhetische Großsysteme erstrecken (wie in den Werken Bels, der eine Metareflexion west‐ licher theatraler Konventionen leistet) oder aber auf gesellschaftliche Subsys‐ teme wie die zeitgenössische Jugend- und Clubkultur, deren Protagonist*innen Gisèle Vienne in Hoodie und mit Bierflasche als »Crowd« in stilisierter Intimität zeigt oder »fucked up« in Stücken wie Kindertotenlieder, Jerk oder This Is How You Will Disappear. Das Stilistische als kulturelles Rendering und als intertextuelles Phänomen übernimmt starke Orientierungsleistungen für die Rezipierenden und aktiviert generell Rezeption, insofern hier Codes aufgerufen werden und in bestimmten konnotativen Netzen figuriert werden. Das Stilistische, als Triangulation von »Phänomen - Werk - Kontextwissen« verstanden, ermöglicht dezidierte An‐ lagerungen von Kontext und Kontextwissen durch die Wahl performativer Re‐ ferenzsysteme sowie deren Kommunikation. Relevant ist dabei, dass das so sich formende Stilistische funktional mit dem Kontextwissen korreliert wird. Das Stilistische als Artikulation kultureller Bedingungen Wenn man Louppes Metapher, die als Denkfigur dem Symposium den Namen gab, aufnimmt und ihr darin folgt, dass Stil ein Rauschen unter der Choreogra‐ phie sei, dann verständigt man sich mit ihr auf eine Wirkdimension von Stil, die zum einen nicht konkret fassbar ist und zum anderen auf die Sinne wirkt. Bleibt man im Bild ihrer Metapher, ist Stil assoziiert mit Aspekten zufälliger, abweichender Motion. Gleich, ob das Rauschen als akustisches Störgeräusch, als ver‐ pixelte Signalstörung, als seismographische Unruhe, als Folge thermischer Be‐ wegung oder als das angenehm empfundene Geräusch der Wellen aufge‐ nommen wird, was rauscht, das ist bedingt durch ein kontingentes, inner- 100 Katja Schneider <?page no="101"?> 32 Ottmar Ette: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt am Main 1998, S. 64 f. - Ette setzt hier (in reizvollem Verweis) Barthes in Bezug zu Adorno, »der So‐ lipsismus und monadische Abgeschlossenheit des Künstlers, die Barthes auf der Ebene des Stils angesiedelt hatte, dadurch auf die Gesellschaft hin zu öffnen und mit dieser zu vermitteln suchte, daß er die ästhetischen Formen und Verfahrensweisen, die dem Künstler wie ein Arsenal zur Verfügung stünden, als Ergebnisse historischer Prozesse begreift.« (S. 71). 33 Ebd., S. 337. systemisches Eigengeräusch, das jede Messgröße statistischen Schwankungen unterwirft. Dieses innersystemische Eigengeräusch möchte ich im Folgenden so konturieren, dass es für das Stilistische insofern nutzbar wird, als darüber die aus dem Stil ausgeschlossene »Haltung« wieder inkludiert werden kann. Dabei greife ich auf Überlegungen Roland Barthes’ zurück: Wenn Barthes (in seinem frühen Aufsatz Am Nullpunkt der Literatur) die Sprache (»langue«) als notwendigen, ihm aufgezwungenen Horizont des Schriftstellers begreift, und (körperlichen) Stil (»style«) als ebensolche »force aveugle«, die dem Autor eignet, ohne dass er durch sie einen Zugriff auf ein Register wählen könnte, dann tut er dies, um einen dritten Aspekt der Form einzuführen, nämlich die »écriture« (Schreibweise). Im Gegensatz zu »Sprache« und »style« besitzt »écriture« eine ethische Dimension: »In Barthes᾽ räumlicher Anordnung steckt die Sprache den Bereich des Möglichen als Horizont ab, wäh‐ rend der Stil als Dimension einer ›Notwendigkeit‹ die Vertikale dazu darstellt; ›zwischen Sprache und Stil‹ gebe es aber Raum für eine andere Wirklichkeit der Form, die écriture […]. Der neu geschaffene Raum des Schreibens ist nun für Barthes der Ort eines sozialen Engagements.« 32 Barthes selbst verbindet später Stil und Schreiben 33 und damit Körper und Schreiben bzw. Schreibweise (wie er schon Körper und Theatralität verbunden hatte), um wiederum später als neue Paarung Körper und Schrift einzuführen. Versteht man in diesem Sinn Stil als eine Art Substrat, das die Schreibweise eines Autors anreichert und umgekehrt von deren sozialen, gesellschaftspoliti‐ schen, ethischen Dimensionen aufgesogen wird, dann kann Stil mit Barthes nicht frei von gesellschaftspolitischen Faktoren gedacht werden - aber auch nicht als Setzkasten präfigurierter Formen, aus denen lediglich zu wählen wäre. Der in der Schreibweise aufgegangene Stil scheint mir für einen Begriff des Stilistischen offen zu sein, in dem seine »force aveugle« mit kulturell impräg‐ nierten (also sozioökonomisch, gesellschaftspolitisch informierten) Schreib‐ weisen in Verbindung gebracht wird. Susanne Leeb hat dafür (freilich unter Ausgrenzung des Stilbegriffs) den Begriff des Idioms genutzt. »Von Idiomen zu sprechen heißt […] zu untersuchen, in welcher Weise etwas artikuliert wird, mit 101 »what if a body moved like this through the world? « Zu Stil und zeitgenössischem Tanz <?page no="102"?> 34 Susanne Leeb: »IDIOME: DIE KLEINEN ›K‹S DER KUNST«, in: Texte zur Kunst, 27. Jg., Heft 108 (Dezember 2017), S. 32-56, hier S. 33. - Auch Susan Sontag spricht im Zusam‐ menhang mit »Stil« von »Idiom« und sieht Stil als spezifischen Ausdruck von »Form«. Vgl. Sontag 1980 (wie Anm. 2), S. 44. 35 Leeb 2017 (wie Anm. 34), S. 35. 36 Thomas F. DeFrantz: »Switch. Queer Social Dance, Political LEadership, and Black Po‐ pular Culture«, in: Rebekah J. Kowal, Gerald Siegmund und Randy Martin (Hg.): The Oxford Handbook of Dance and Politics, Oxford 2017, S. 476-495, hier S. 480. welcher Haltung, in welchem Ton, mit welchen Zügen.« 34 Dies beziehe auch die »materiellen, ökonomischen, ideologischen Bedingungen, die dazu geführt haben, dass etwas so oder so und nicht anders artikuliert wird,« 35 mit ein. Trianguliert man das Stilistische nun über »Substrat/ Rauschen - Haltung - Idiom«, dann erscheint es als losgelöst von seiner Festlegung auf Formales, dann artikuliert das Stilistische Heteronomes, nämlich kulturelle Bedingungen und Voraussetzungen. Dann kann das Stilistische darüber Auskunft geben, welche kulturellen historischen wie gegenwärtigen Implikationen genau diese Verwen‐ dung etwa des Voguing bei Harrell oder des klassischen Tanzes bei Siegal hat. Siegals Artikulation kultureller Bedingungen liegt nicht auf der Dekonstruktion des Systems, nicht auf einer grundsätzlichen Infragestellung virtuoser Tän‐ zer*innenkörper, nicht einmal auf der Negation von Geschlechterstereotypen. Das Stilistische Siegals reflektiert, wie Ballett und Popkultur und (ethnische) Diversität kombiniert werden können, ohne die Integrität der Tänzer*innen als Ballett-Tänzer*innen außen vor zu lassen. Damit positioniert sich Siegal als American White Male in seiner eigenen medialen und sozio-ökonomischen Tra‐ dition als jemand, der diverse Stile nicht appropriiert, sondern sichtbar werden lässt: Das Differente entfaltet sich im Stilistischen der Tänzer*innen, der Inter‐ pret*innen, das sich über den Stil des klassischen Tanzes legt. Trajal Harrell hingegen kreuzt kulturelle Kontexte. Das Stilistische organi‐ siert europäische Antike, europäischen Exotismus, US-amerikanischen Post‐ modern Dance, japanischen Butoh über das Voguing, das Harrell selbst auch reflektiert. »Where earlier dancers explored a performative cool detachment, which approximated the sense of relaxed allure sought by print models of the 1980s, later-day voguers tend to emphasize spectacular stunts and tricks« 36 , be‐ schreibt Thomas DeFrantz die Entwicklung des Voguing von queerer Gegen‐ kultur zum Teil populären Massenvergnügens. Harrells Voguing indes zitiert den kompetitiven Charakter des Voguing, lässt Stunts und Tricks aber aus, spielt mit Mode, Kostüm und Stoffen und generiert in seiner manifesten Imagination 102 Katja Schneider <?page no="103"?> 37 Wie Raimund Hoghe ist auch Trajal Harrell in seinen Stücken als Choreograph, aus‐ gestellte Persönlichkeit und inszenierte Bühnenfigur stets präsent. 38 Vgl. den Beitrag von Christina Thurner in diesem Band. von Voguing Konnotatoren, die auf Parallelen und Ausschlüsse, auf diskrimi‐ nierende Praktiken und subversive Selbstbehauptung verweisen. 37 So figuriert, lässt sich das Stilistische nicht auf einen formalen Stil reduzieren, sondern lenkt den Blick auf die Artikulation und Wahrnehmung kultureller Be‐ dingungen und Implikationen. Wie ein Körper sich durch die Welt bewegt, mat‐ ters. Insofern scheint es mir doch eine Möglichkeit, Generationen über das Sti‐ listische zu verbinden. In diesem Sinne kann trotz unterschiedlicher Stile das gemeinsame und verbindende Stilistische etwa von Hoghe, Bel, Harrell und Siegal in der Transportation des Unterschiedlichen, der Inklusion des Diversen gesehen werden. Interessanterweise, und das wäre weiter zu untersuchen, ver‐ bindet in diesem Sinn Siegal und Harrell, aber etwa auch Alexandra Bach‐ zetsis 38 , stilistisch die Artikulation eines ›decolonial thought‹. 103 »what if a body moved like this through the world? « Zu Stil und zeitgenössischem Tanz <?page no="105"?> 1 Im Englischen (hip hop, hip-hop, hiphop) und im Deutschen (Hiphop, Hip-Hop) exis‐ tieren verschiedene Schreibweisen. In diesem Text wird »HipHop« bevorzugt. Street Dance Stil & Style Nic Leonhardt Street. Dance. Man hört sie schon von Weitem, die Beats. Durch Winkel und Gassen, durch Mark und Bein wummern sie, geben den Takt an und leiten Blicke und Schritte der Passanten hinüber zu den wenigen Quadratmetern Asphalt, wo die Laut‐ sprecher aufgestellt sind. Wenn man am frühen Abend in die Nähe des Beau‐ bourg in Paris gelangt, gerät man automatisch auch in den Sog dieser Klang‐ wellen. Auf dem geräumigen Platz vor dem imposanten Centre Pompidou im vierten Arrondissement der französischen Metropole versammeln sich die Pas‐ santen zu allen Tages- und Nachtzeiten. Und wo urbane Hot Spots sind, sind Figuren der urbanen Kultur nicht weit: Street-Artisten, Akrobaten, Klein‐ künstler, Händler, Musiker und - Tänzer. Oft in kleineren Gruppen, bewegen sich die (meist männlichen) Tänzer in legerer Streetwear im Ensemble oder in sehr individuellen Solo-Performances, mischen Akrobatik, Breakdance, HipHop 1 und Elemente anderer Stile zu rhythmischer Musik. Eingerahmt durch eine unsichtbare Linie des Respekts und Staunens ist ihre asphaltierte Bühnen‐ fläche, backstage die Musikanlage und ihre achtlos hingeworfenen Taschen; vorne, an der vorgestellten Rampe, wartet die obligatorische Mütze auf den freiwilligen Einwurf einiger Münzen durch die Zuschauer der Stadt. Manche Passanten bleiben nur kurz stehen, andere verweilen: wippen mit und klatschen, filmen oder fotografieren, instagrammen. Manche ignorieren die Performer, sind sie doch zu oft zugegen. Die Redundanz vergleichbarer Szenen im Durch‐ gang der Stadt lässt den Aufmerksamkeitswert sinken. Ob es nun vor dem Pompidou in Paris ist oder vor der New York Public Library in Mid-Manhattan oder einem Parkhaus in San José: Es fehlte etwas im Stadtbild, fehlten die Straßenartisten, fehlten die Street Artists. Ein Innehalten im Durch‐ marsch. Die Straße als Dancefloor für Tempo und Rhythmus. Der urbane Raum <?page no="106"?> 2 http: / / www.tedpolhemus.com/ main_concept6%20467.html [Abruf: 31.7.2018]. 3 Michel de Certeau: »Gehen in der Stadt«, in: ders.: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 179-208, hier S. 181. als Bühne für Styles und Stile des Street Dance. Ted Polhemus schreibt in Street‐ style (2010), die Straße sei both the stage upon which the drama of contemporary life unfolds and the bottom line metaphor for all that is presumed to be real and happening in our world today. In the past, ›Western culture‹ was most at ease and most recognisable within grand interiors. Today, as high culture has given way to popular culture, it is the litmus test of ›street credibility‹ that is crucial. 2 Das Kopfsteinpflaster als Prüfstein - hier offenbart sich die soziale, die sozio‐ logische Dimension, die Street Dance, Stil und Style eingeschrieben ist. Im Kontext der Tagung zu »Stil«, die den hier versammelten Schriften voraus‐ ging, bat mich die Organisatorin um einen Beitrag zu Stil und Mode, zu Style und Tanz. Das komplexe Geflecht des Street Dance schien mir diese Bereiche in beständiger und gleichsam stets auch dem Wandel unterliegender Wechselwir‐ kung zu vereinen. Denn verschiedene Tanzstile und vor allem Mode-Styles sind dem Phänomen Street Dance in besonderer Weise eigen. Es ließe sich auch sagen, dass dem Street Dance Stil und Style so unabdingbar eingeflochten wie die Straßen Fäden des »gewaltigen Textgewebes« 3 einer Stadt sind. In diesem Aufsatz möchte ich daher die enge Verwobenheit von Stil und Style im Bereich des Street Dance diskutieren, eines Bereichs, für dessen genauere Betrachtung sich keine einzelne akademische Disziplin maßgeblich verantwortlich fühlt, der aber im Grunde nur durch eine transdisziplinäre Anschau in seiner Komplexität erfahrbar scheint. Die für diesen Aufsatz gewählten Blickwinkel leihe ich aus den Urban Studies, der Tanz- und Performance-Wissenschaft, Soziologie und Modetheorie. Was lässt sich als Stil benennen? Was als Style? In den Künsten wird der Begriff Stil häufig als Synonym für Ausdrucksweise, Ausdrucksform, Duktus, Diktion, Schreibweise, Schreibe, Technik, Arbeitsweise, Linienführung, Pinselstrich ver‐ wendet, in der Architektur als Überbegriff für die Bauart, den Zeit- oder Epo‐ chenstil; in allgemeinerer Anwendung bedeutet er eine Lebensweise, Existenz- oder Lebensform. Auf der Ebene des Individuums überschreibt er Formen von Selbstdarstellung, Verhalten, Habitus, Haltung, aber auch Outfit oder ›Look‹ sowie ›Styling‹. Das Wort »Style« ist im Grunde die englische Übersetzung von Stil, erfuhr aber eine semantische Verschiebung und bezieht sich auf ein Kon‐ glomerat an äußeren Merkmalen insbesondere im Kontext der Mode. 106 Nic Leonhardt <?page no="107"?> 4 Gabriele Klein, Malte Friedrich: Is this real? Die Kultur des HipHop, Frankfurt am Main 2003, S. 11. Diese Auslegungen sind evident, wir alle nutzen die Begriffe in noch weiterer Bandbreite. Für diesen Essay schlage ich für das Untersuchungsfeld Street Dance vor, Stil als die fruchtbare Verschränkung dreier Möglichkeiten der Auslegung des Stilbegriffs zu sehen. Nämlich erstens als eine Art und Weise des Tuns, also die Praktiken und Techniken - das Wie; zweitens als eine Art und Weise des Zeigens/ Sichtbarmachens etwa durch Bilder, Merkmale, Markierungen, die Di‐ mension der Mittel - das Wodurch; sowie drittens als eine Art und Weise des Verhandelns über die Arten und Weisen von Tun und Zeigen - das Worüber, eine diskursive Ebene, die ideologisch, ästhetisch, politisch etc. motiviert sein kann. Die in diesem Text angelegte Aufteilung dieser Arten und Weisen ist eine heu‐ ristische. Die Idee von Street Dance wird gemeinhin als ein Sammelbegriff für alle Formen von Tanz, die außerhalb von Tanzstudios praktiziert werden, aufgefasst und verwendet; Tänze »von der Straße«, i. e. von öffentlichen Plätzen, aus urbaner Umgebung, auf Straßen, von Schulhöfen, Block Parties et cetera. Bekannteste Beispiele für Street Dances sind der Breakdance, beziehungsweise das so ge‐ nannte B-Boying sowie HipHop. All diesen Tanzstilen ist gemein, dass sie sich durch die Musik, Bewegungsvokabular und die Kleidungs-Codes charakteri‐ sieren (lassen), changierend zwischen Theatralität und ›Realness‹. Die Kultur des Street Dance ist äußerst performativ. Gleichzeitig ist er für seine Vertreter auch reale Welt. In dieser Hinsicht konstatieren die Soziologen Gabriele Klein und Malte Friedrich: Jede gelungene Performance aktualisiert die Grundregeln, Werte und Ideale der HipHop-Gemeinschaft und bestätigt zugleich den theatralen Charakter der HipHop-Kultur. Die HipHop-Kultur entkräftet die gängige These jugendkultureller Studien, daß Popkulturen Scheinwelten seien, die lediglich der Flucht aus einem als unerträglich oder profan empfundenen Alltag dienten. 4 Der Tanz ist ein wesentliches Element der HipHop-Kultur, sozusagen ein dy‐ namisches visuelles Element zur HipHop-Musik. »Dance«, so Mickey Hess, »as one of hip hop’s vital four elements of MC-ing, DJing, graffiti writing, and b-boying, has always been central to the culture. When hip hop music began 107 Street Dance Stil & Style <?page no="108"?> 5 Mickey Hess: »Missy Elliott«, in: ders.: Icons of Hip Hop. An Encyclopedia of the Move‐ ment, Music, and Culture. Vol. 2. Westport, Connecticut/ London 2007, S. 503-527, hier S. 519. 6 Klein/ Friedrich 2003 (wie Anm. 4), S. 85. 7 Ebd., S. 80. 8 Ebd., S. 81. 9 Vgl. ebd., S. 82. with Kool Herc’s creation of the breakbeat, the b-boys and b-girls took to the dance floor. […]« 5 Beim HipHop handelt es sich bekanntlich um eine Synthese aus Sprache, Bild, Musik, Tanz und ›Popkultur‹ verstanden als nicht-elitäre Kultur. Seit seinem ersten Aufkommen in den 1970er Jahren ist HipHop ein globales Phänomen mit der Voraussetzung einer urbanen Lokalisierung. Maßgeblich befördert wurde die globale Verbreitung von HipHop durch zwei Dimensionen von Dynamiken der Globalisierung, die Arjun Appadurai als mediascapes und econoscapes be‐ zeichnet, die Sphäre der Medien und des Kapitalflusses. Die Produktion und Zirkulation von Bildern und Produkten über Videoclips, Online-Tutorials, In‐ stagram, YouTube, aber auch Einrichtungen wie Tanzschulen vermitteln global umspannend die ›Grundlagen‹ des Street Dance. Breakdance-Battles zur Expo in Hannover, Rap im Senegal, Graffiti in Peking, Jams in Rio de Janeiro - HipHop ist weltweit gestreut und mittlerweile in unterschiedlichen kulturellen Kontexten beheimatet. […] Wie alle Popkulturen sind auch HipHop-Kul‐ turen globalisierte Kulturen, insofern sie fast mühelos regionale und nationale Grenzen überspringen und wenig an spezifische Orte gebunden erscheinen, obwohl sie freilich [….] ihren Entstehungshintergrund in bestimmten Städten haben. 6 Landläufig geht man davon aus, dass sich der HipHop in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts aus den Urban Dance Parties in der Bronx in New York City entwickelte. Der Entstehungsort ist insofern zentral, als sich HipHop nicht ohne die Zuschreibung als »Kultur ethnischer Minderheiten« 7 erörtern lässt. Zentrale Merkmale dieser Kultur sind »soziale Marginalisierung, politisches Potential und authentischer Gehalt«. 8 Stil wird hier zu einem Mittel des Zeigens dieser Differenz: durch Übertreibung, Persiflage, De- und Re-kontextualisie‐ rung. Das schwarze Ghetto wird auch zu einem symbolischen Rahmen für eine imagined community von sozialen oder ethnischen Minderheiten, selbst wenn diese Marginalisierung nicht (mehr) im eigenen Alltag erlebt und erfahren wird. Hier kommt ein inszenatorischer Gehalt ins Spiel, der einen geeigneten Rahmen abgibt für die (medial diversen) Repräsentationen des Images und der sozialen Aussagekraft von HipHop. 9 »Because the dance moves and fashion styles of 108 Nic Leonhardt <?page no="109"?> 10 Hess 2007 (wie Anm. 5), S. 519. 11 Um nur einige Beispiele aus der frühen Zeit des aufkommenden Street Dance zu nennen: Style Wars (Dokumentarfilm, 1983, Regie: Tony Silver), Wild Style! (Spielfilm, 1983, Regie: Charlie Aheam), Dirty Dancing (Spielfilm, 1987, Regie: Emile Ardolino), Beat Street (Spielfilm über die Breakdance-Szene, 1984, Regie: Stan Lathan), Flashdance (Spielfilm, 1983, Regie: Adrian Lyne). these b-boy crews added a dynamic visual element to hip hop music, b-boying was featured prominently in films […].« 10 In dem Film Street Dance New York beispielsweise, der 2016 in die deutschen Kinos kam (im Original unter dem Titel High Strung, Regie: Michael Damian) finden sich die Stile des Street Dance und des klassischen Tanzes, ihre jeweiligen sozialen und kulturellen Zuschreibungen und Klüfte hollywoodesk verhandelt. Die Protagonistin des Films, Ruby, ist eine junge, talentierte Tänzerin, die am Manhattan Conservatory of the Arts (MCA) in New York unter den strengen Augen ihrer Lehrerin Oksana Tanz studiert, sich aber im Modern Dance weiterbilden möchte. Sie begegnet per Zufall Johnnie, einem Violinisten aus England, der sich mit Gelegenheitsjobs als Mu‐ siker über Wasser hält und mit Street Dancern zusammen in einer WG lebt. Als er im Begriff ist, seine Aufenthaltsgenehmigung zu verlieren, schlägt Ruby einen Wettbewerb in Modern Dance an ihrer Akademie vor, dessen Preis neben einem Geldwert auch ein studentisches Visum inkludiert. Johnny, Ruby und Johnnys Street-Dance-Freunde proben eine Choreographie der Mischung von Stilen: klassischer Tanz, moderner Tanz, Street Dance und Violine. Nicht sehr überra‐ schend, gewinnt die ungewöhnliche Truppe den Contest. Der Tanz wird hier zum Mediator der Wahl, um die ökonomisch, sozial und ethnisch diversen Gruppen zu verbinden, politische und adoleszent-private Konflikte zu lösen. Die schichtübergreifende Kollaboration und Gemeinschaft, der amerikanische Traum werden als Erfolgsmodelle zelebriert. Ähnliche Dramaturgien sind auch anderen Filmen eigen, die den Tanz zum Hauptthema machen. 11 Tun, oder das Wie: ABC der Stile im Street Dance, zum Beispiel The A-Z of Dance Wie Klein und Friedrich beschreiben, begannen DJs neben ihrer eigentlichen Aufgabe des Plattenauflegens mit dem manuellen Bewegen von Plattentellern und dem Mixen von Tonspuren und Sounds. Die Techniken des Mischens und Scratching von Platten findet sich in den Bewegungen des Breakdance wieder, der »gekennzeichnet ist durch den permanenten Wechsel von simultanen und sukzessiven Bewegungen. Die Techniken des Locking und Popping und die ak‐ robatischen Power Moves machen den Tanz zu einem sportiven und rasanten 109 Street Dance Stil & Style <?page no="110"?> 12 Klein/ Friedrich 2003 (wie Anm. 4), S. 15. 13 The A-Z of Dance, https: / / www.youtube.com/ watch? v=UFZxK8edZWA&start_radio =1&list=RDMMUFZxK8edZWA [Abruf: 6.8.2018]. 14 Ebd. Spiel mit Körperzentren und -achsen.« 12 Der HipHop-Tanz ist wie die -Musik polyrhythmisch und enthält Elemente afroamerikanischer Tänze und Kampf‐ kunst. Wesentlich ist auch seine Polyzentrik: anders als im (traditionellen) klas‐ sischen (Ballett-)Tanz gibt es beim Street Dance mehr als nur eine vorgestellte (vertikale) Achse des Körpers. Dies führt zu Posen wie Headspins, Moonwalk oder Body Isolations wie dem so genannten Popping, roboterhaften Bewegungen in Anlehnung an Computer- und Science-Fiction-Figuren, oder dem Locking, das Off-Beats betont und pantomimische Figuren beinhaltet, oft in ironisier‐ ender Haltung (z. B. im »Muscle Man«) und ruckartig, aber sauber ausgeführte Bewegungen einrasten (to lock) lässt. Die Inspirationsquellen für diese Figuren sind, dies zeigen diese kurzen Beispiele bereits, vielseitig und stammen über‐ wiegend aus der Imitation des DJing und der Popkultur (Video Games, Com‐ puter, Robotik, Cartoons etc.). Es existiert ein beinahe kanonisches Bewegungs‐ vokabular des Street Dance, das jedoch permanent durch neue Posen und Moves der individuellen Performer angereichert wird. Seine Multilokalität befördert und potenziert die Stilvarianz in logischer Konsequenz. Der Stil von Street Dance existiert nur im Plural als Stile. Als Arten und Weisen des Tuns, die über eine schier unüberblickbare Fülle an Online-Tutorials erlernbar sind. Auf der Straße sind die Stile ebenso verbindender Kitt zwischen den Gruppen wie sie ein Höchstmaß an Individualität erlauben. Mag das Locking oder Popping eine ver‐ bindende Kategorie innerhalb des Street Dance sein, ihre Ausgestaltung durch die Tänzerin oder den Tänzer ist je besonders, ist ihr/ sein eigener Stil, ihr/ sein Tag. Ein Alphabet unterschiedlicher Tanzstile und -figuren präsentiert in einer Länge von knapp vier Minuten das Video The A-Z of Dance, das auf YouTube einzusehen ist (Regisseur: Jacob Sutton). 13 Zumeist junge Tänzer, Tanzpaare und kleine -Gruppen führen in kurzen Sequenzen an so unterschiedlichen Orten wie Dachterrassen, Fabrikgeländen, Straßen, öffentlichen Plätzen, zwielichtigen Ga‐ ragen etc. ihr Können in 24 verschiedenen Tanzstilen und -figuren vor, stellen wesentliche Charakteristika und kinetische und kinästhetische Muster des Tan‐ zens vor. In der Beschreibung des Videos heißt es: »Shot on the streets and rooftops of sunny LA, our A-Z of Dance shows you how to set hearts alight and clubs on fire.« 14 Der Titel des Videos, The A-Z of Dance, mutet an wie ein Kanon, den es zu buchstabieren gilt. Ein Alphabet des Tanzes liegt hier vor, allerdings eines, das sich beim Betrachten des Videos nicht unbedingt als konventionelles 110 Nic Leonhardt <?page no="111"?> 15 Offizielle Homepage: www.riotboi.com [Abruf: 1.8.2018]. 16 »Wut it is? Wut is up? Wut is wut? Wut it do? Wut it don’t? Wut it is? Wut is up? Wut is wut? Wut it do? Wut it don’t? Came through in the clutch, stomping like i’m up in Loubitons, Boys they wanna paint me like I’m canvas to do sumi on I hate bottled water but whatever I’m pouring Evian I’m the kind of john closet dudes wanna go steady on Toss my gems up, raise the bar. Yung Phenomenon. I make a neo-nazi kamikaze wanna firebomb. I’m da bomb diggity. Got ya moms feelin me. Tell ya man chill on me. Hang loose like literally. […].« Ausschnitt aus den Lyrics von Wut, siehe http: / / www. songtexte.com/ songtext/ le1f/ wut-13a56ddd.html [Abruf: 1.8.2018]. Es kann hier nicht vertieft auf den Songtext eingegangen werden, dessen Semantik und Intertextualität eine eigene Betrachtung verdiente. Siehe zur Sprache und Textanalyse des Rap unter anderen Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap, Göttingen 2015; Adam Bradley und Andrew DuBois (Hg.): The Anthology of Rap, New Haven 2010. 17 Allgemein zu Videokommentaren als Diskursebene siehe Iris Cseke: Netzwerke aus In‐ szenierung und Öffentlichkeit. Protest, Kunst und Theater auf YouTube, München 2018. Die hier zitierten Kommentare zu The A-Z of Dance finden sich unter demselben Link wie das Video: https: / / www.youtube.com/ watch? v=UFZxK8edZWA&start_radio =1&list=RDMMUFZxK8edZWA [Abruf: 6.8.2018]. kanonisches Tanzwissen liest. Das A-Z ist eine Selektion an Bewegungsstilen, für jeden Buchstaben des Alphabets ist nur ein Stil ausgewählt. Um einige auf‐ zulisten: Arabesque (A), B-girl (B), Chicken Noodle Soup (C), Death Drop (D), East Coast Swing (E), Finger Tut (F), Harlem Shake (H), Indian Bhangra (I), Memphis Jookin (M), OMG (O), Pole (P), Step ›Soul Steps‹ (S), Twerk (T), Vogue Hands (V) et cetera. Akustisch unterlegt ist das Video mit Wut von Le1F. Hinter Le1F verbirgt sich der Rapper und Musikproduzent Khalif Diouf. 15 Diouf, ein amerikanischer Künstler of colour, der sich als Rapper offen zu seiner Homosexualität bekennt, ist selbst in klassischem Tanz und Modern Dance ausgebildeter Tänzer. Seine Musik kennzeichnet ein Stilmix, seine Texte sind soziopolitisch kritisch und sprachlich oft drastisch, wie auch der von Wut, einer phonetischen Entlehnung von »what« 16 . Die Auswahl des Alphabets der Tanzstile wird in den Kommentaren unter dem YouTube-Video kontrovers und kritisch beurteilt. 17 So schreibt etwa ein User, Dom Astolfi, zum Buchstaben M: »M= Not Moonwalk? Da Fuq? «, ein weiterer User, Stacey Stakeley, merkt hierzu an, »I feel like this list is more the insane less classic dances so I’m not surprised it wasn’t included.« Ein anderer User, Ilya Holt, vermisst den Tango unter dem Buchstaben »T«: »That sad mo‐ ment when Twerking is considered more worthy than Tango«. Kommentiert wird dies durch User golfahx91 mit den Worten »I was thinking that two [sic] …but Tango is an elegant dance…you can’t wear jeans doin’ Tango…and this is a jeans commercial! « 111 Street Dance Stil & Style <?page no="112"?> 18 Gertrud Lehnert: »Mode als Spiel. Zur Performativität von Mode und Geschlecht«, in: Thomas Alkemeyer, Robert Boschert, Robert Schmidt, Gunter Gebauer (Hg.): Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz 2003, S. 213-226, hier S. 216 f. 19 Siehe ebd. S. 218. Dass es sich um ein Werbe-Video für Jeanshosen handelt, wird erst zum Ende des Films offenkundig. Tatsächlich ist The A-Z of Dance ein von Diesel und i-D produzierter Video-Clip für besonders elastische, so genannte »Joggjeans« der italienischen Bekleidungsfirma. Zur Bewerbung der bewegungsflexiblen Hosen nutzen die Produzenten hier sehr geschickt das Image des Street Dance, indem sie auch dem Street Dance ferner liegende Posen und Figuren wie die Arabesque oder Grand jeté in einem urbanen Setting tanzen lassen. Jede einzelne Figur ist selbst aus einer Bewegungsfolge geschnitten und kommt so dem singulären und ausgekoppelten Vortanzen und Zeigen des spezifischen Könnens vor Zu‐ schauern (Peers, Passanten) nahe, wie es von Anfang an im HipHop üblich war: ein MC, ein Master of Ceremony, ruft die Namen der DJs/ Performer auf und ermutigt das Publikum zum Anfeuern. So werden die Namen aller Tänzer, hier im Video mit »talent« bezeichnet, auch im Abspann des Videos genannt, noch während man sieht, wie Tänzer umringt von ihrer Gruppe performen. Die Be‐ trachter des Videos werden so zu Passanten der Szene, zu Flaneuren mit ge‐ lenktem Blick auf die Community und das Individuum. Die 24 Stile scheinen wie ein Streifzug durch die Bewegungen des Urbanen. Auf sie treffen 24 Styles im Outfit (und der Joggjeans), die die Betrachter als Konsumenten ansprechen. Sie können sich mit den Stilen oder Styles identifizieren, das Branding funktioniert gemäß dem Prinzip der individuellen Freiheit des Stils - die aber doch nur eine bedingte Wahl-Freiheit ist. Zeigen oder das Wodurch - Marken, Markierungen Als ein allgegenwärtiges Zeichensystem ist Mode generaliter ein komplexes Bündel an Möglichkeiten des Zeigens und Deutens. In den Worten der Kulturwis‐ senschaftlerin Gertrud Lehnert wird sie »immer erst im Gebrauch mit einer Be‐ deutung versehen, die je nach Kontext sehr schnell wieder wechseln kann oder ohnehin uneindeutig bleibt. Es deuten sowohl die TrägerInnen als auch die Be‐ trachterInnen.« 18 Neutral bleibt Mode damit nie, vielmehr wird sie von den Trä‐ gerinnen und Trägern unbewusst und bewusst eingesetzt, um eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe (ethnisch, Gender, sozial, ökonomisch etc.) zu indizieren; in diesem höchst performativen Gestus eröffnet sie ständig neue Spuren der Auslegung und Vorstellungswelten. 19 Sie bleibt auch nie statisch, sondern transportiert Wandel 112 Nic Leonhardt <?page no="113"?> 20 Ebd., S. 15. 21 Ted Polhemus: http: / / www.tedpolhemus.com/ main_concept3%20467.html [Abruf: 1.8.2018]. Siehe auch Polhemus’ Publikation über Diesel: Ted Polhemus: Diesel: World Wide Wear. Watson-Guptill 1998. 22 T. B. Veblen: »Die Kleidung als Ausdruck des Geldes«, in: ders.: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen [1899], Frankfurt am Main 2007, S. 164- 183, hier S. 164. und Dynamik per se. Lehnert sieht sie daher als Resultat (es ließe sich ergänzen: und als Motor) einer Interaktion von »Materialität, Design, Diskursen und Hand‐ lungen«, eines Prozesses, »in den Kleider, Körper, Wahrnehmung, ökonomische wie ästhetische Aktivität und Bedeutungszuweisungen verwickelt sind.« 20 Damit ist, und dies haben bekanntlich bereits Thorstein Veblen oder Roland Barthes tref‐ fend analysiert, Mode ein Gegenstandsfeld zur Untersuchung nicht nur rein stoff‐ licher und funktionaler Aspekte, sondern auch der soziologischen, ökonomi‐ schen, kulturellen, ästhetischen wie inszenatorischen. »As traditional social categories have become increasingly irrelevant to per‐ sonal identity, style has emerged as the key defining feature of social life«, so formuliert es der amerikanische Anthropologe Ted Polhemus. »Because ›People Like Us‹ are now those who gravitate towards the same aesthetics of taste, pro‐ ducts need to be designed and marketed with a sharp awareness of current style trends.« 21 Verblüffend vergleichbar lesen sich hier Thorstein Veblens bekannte Ausführungen zum Stil und zum demonstrativen Konsum, zur conspicuous con‐ sumption, der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts: »Wir dürfen nicht vergessen«, so Veblen, »dass unsere äußere Erscheinung in auffälliger und sichtbarer Weise gegenwärtig und dass sie fast immer fremden Blicken ausgesetzt ist, weshalb im Allgemeinen mehr für Kleidung ausgegeben wird als für irgendwelche anderen Konsumgüter.« 22 Die Kulturen des Street Dance haben bekanntlich diesen demonstrativen Konsum von Anfang an aufgegriffen - und seine bourgeoise Provenienz per‐ sifliert: Durch übertriebene Markenbotschaften auf Textilien und überdimen‐ sionierte Schmuckstücke (bling-bling). Der (richtige) Style gehört zum Street Dance wie die Varianz im System der Posen und Moves. Die äußere Gestaltung des Körpers durch Kleidung und Accessoires ist eine weitere wesentliche Spielart der Art und Weise des Zeigens und Sichtbarmachens. Bereits in den frühen Phasen des HipHop zeichnete sich der Style durch einen elaborierten Code aus. Kennzeichnend war (und ist) der Lagenlook, der zu einer Silhouette führt, die die Körperformen kaum noch erahnen ließ, ebenso wie unterhalb des Schritts hängende Hosen; übergroße Jacken, Baseball-Kappen, ein Durag (Kopf‐ tuch) oder Hoodie (Kapuzenpulli) als stete Verweise auf die Straße und die (ver‐ 113 Street Dance Stil & Style <?page no="114"?> 23 Tim ›Beam‹ zitiert in Klein/ Friedrich 2003 (wie Anm. 4), S. 35. 24 My Adidas, www.youtube.com/ watch? v=JNua1lFDuDI [Abruf: 5.8.2018]. 25 https: / / www.wuwear.eu/ de/ [Abruf: 2.8.2018]. 26 Siehe NJ Stevenson: Die Geschichte der Mode. Stile, Trends und Stars, Bern/ Stuttgart/ Wien 2011, S. 244. meintliche) Herkunft aus dem Ghetto, die in einer zelebrierten Markenfixiertheit eine scheinbar widersprüchliche Ergänzung erfuhren. Auch hinsichtlich der HipHop-Mode trifft zu, was sich ganz allgemein für Kleidung behaupten lässt (sieht man von ihrer reinen Funktionalität einmal ab): Sie vermittelt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, deren äußere Codes sie beantwortet (und prägt), gesteht aber ein gewisses Maß an Individu‐ alität zu, gestaltet durch eine eigene Handschrift an ›Coolness‹. In einem Inter‐ view mit den Autoren Klein und Friedrich drückt PR-Manager Tim ›Beam‹ diese Ambivalenz wie folgt aus: »Einen Klamottenkodex gibt’s auch im HipHop. Auf der einen Seite ist es so: Die Leute müssen so eigen sein wie nur möglich, auf der anderen Seite muß es aber im Rahmen dieser ganzen HipHop-Bewegung liegen, es darf nicht komplett rausfallen.« 23 Die Hip-Hop-Kultur wurde nicht nur durch eine besondere Sprache geprägt, sondern auch durch einen Dresscode, den man einhalten musste, um sich als Mitglied auszuweisen. Nicht wenige HipHopper-Bands und -Labels kreier(t)en ihre eigenen Marken oder thematisieren den Markenbezug in ihren Texten und Videos. Als eines der frühesten Bespiele für eine solche bewusste Platzierung einer Marke mag der Song My adidas der amerikanischen HipHop-Band Run DMC aus dem Jahr 1986 gelten. Im dazu gehörigen Musikvideo 24 tragen die Performer Kleidung von Adidas, das Logo wird frequentiert eingeblendet, die fränkische Sportfirma im Text genannt. Der Wu Tang Clan, eine zu Beginn der neunziger Jahre des ver‐ gangenen Jahrhunderts gegründete HipHop-Gruppe, aus der dann verschiedene andere musikalische Ableger hervorgingen, etablierte als Erste ein eigenes Label, »WuWear«, dessen Logo eine Fledermaus mit gespreizten Flügeln schmückt. 25 Ähnlich gingen später Busta Rhymes, Jay-Z und Puff Daddy vor. 26 Die HipHopperin Melissa Arnette, genannt »Missy Elliott«, kreierte mit »Re‐ spect M.E.« ihre eigene Modelinie für Adidas, insbesondere für die weiblichen Anhängerinnen innerhalb des noch immer eher männlich dominierten Street Dance. »Respect M.E.« sieht sie als »essential verve to the self respecting urban girl’s wardrobe«. Zum Launch der neuen Linie informierte das HipHop-Magazin 2007 wie folgt über die Philosophie des neuen Nebengeschäfts Missy Elliotts: RESPECT ME umfasst Schuhe, Textilien und Accessoires und verbindet die sportlichen Wurzeln von Adidas mit dem einzigartigen und originellen Stil von Missy Elliott. 114 Nic Leonhardt <?page no="115"?> 27 hiphop.de/ magazin/ news/ adidas-missy-elliott-respect-me-165475#.WRgGKMmkJyw [Abruf: 6.8.2018]. 28 Siehe hierzu auch Barbara Vinken: »Zur Untermauerung der These des Trickle-up-Effekts wird gerne Yves Saint Laurent Rive gauche angeführt. Vom linken Ufer der Seine, das da‐ mals als intellektuelles Bohème-Ufer galt, habe Saint-Laurent wie schon im Namen pro‐ grammatisch festgehalten schwarze Lederjacken gegen Nadelstreifenanzug und Hermès-Seidentuch gesetzt, wie sie das bourgeoise, reiche Establishment auf der rechten Seite, dem Rive droite trug und trägt. Als letztes Beispiel für den Aufstieg der Straße zum Parnass der Mode werden die blutverschmiert geschminkten Gesichter mit blauen Augen der Models von Yamamoto angeführt, die noch heiß vom Straßenkampf angeblich die Coolness der lower class in die Mode der upper class brächten. Doch auch dieses Beispiel würde ich nicht im soziologischen Terminus von Klasse interpretieren.« Barbara Vinken: Angezogen. Das Geheimnis der Mode, Stuttgart 2013, S. 45. Siehe ferner Elena Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode, Frankfurt am Main 2004. Missy Elliott und Adidas, das passt auf anhieb [sic]: Authentizität, Originalität und Innovation. Missy beweisst [sic] mal wieder, dass sie eine Frau mit Pionier- und In‐ novationsgeist in Sachen Musik, Video und Style ist. Missy’s Vorliebe für Adidas stammt von ihrer Leidenschaft für Hiphop aus der Ära, als Adidas zum ersten Mal bei Urban Athletic und Street Style den Ton angab. […] Missy vertraute im Hinblick auf Sportmarken während der letzten drei Jahre fast ausschließlich Adidas, da war eine gemeinsame Kollektion schon überfällig und so entstand RESPECT ME (M.E.=Missy Elliott). Die Kollektion besteht aus drei Komponenten namens Bass, Rhythm und Remix. 27 Im Street Dance erfährt Kleidung eine besondere Bühne und Aufmerksamkeit. Neben der besonderen Sprache, der Musik und dem Tanz ist der Street Dance somit auch maßgeblich durch einen bestimmten Dresscode markiert, durch den sich auch äußerlich Zugehörigkeit zur oder zumindest Sympathisieren mit der Szene ausdrücken lässt. Diesel und i-D nutzen in dem zuvor besprochenen Video The A-Z of Dance diese Facetten ganz bewusst, um das Produkt Joggjeans zu vermarkten. Die Kontextualisierung einer kostspieligen Hose in öffentliche und zwielichtige Gefilde der urbanen Kultur vermittels der Tanz-Moves lädt das Textil auf: zum Einen demonstrieren die kurzen Szenen der Bewegung die Flexibilität und damit Funktionalität des Stoffes, zum Anderen verspricht es den potentiellen Trägerinnen und Trägern (und damit den Konsumenten) eine Street Credibility, wie sie den »real«, den »authentischen« Street Dancern eignet. Wie sämtliche Styles der Streetwear finden Elemente dieses Styles direkt oder indi‐ rekt Einzug in die Haute Couture und Fashion außerhalb der Szene; ein typisches Phänomen des Trickle-Up-Effekts, des »Durchsickerns« von ›unten› nach ›oben‹. Von der Straße hinauf zum Plateau der Haute Couture. 28 115 Street Dance Stil & Style <?page no="116"?> 29 http: / / www.tedpolhemus.com/ main_concept6%20467.html [Abruf: 4.8.2018]. 30 Dick Hebdige: »Subkultur - Der unnatürliche Bruch«, in: ders., Diedrich Diederichsen und Olaph-Dante Marx: Schocker: Stile und Moden der Subkultur, Reinbek 1983, S. 89- 91. Siehe zur Massentauglichkeit der Straße im Style auch Klein und Friedrich: »Daß HipHop die wichtigste und einflußreichste Jugendkultur der letzten Jahrzehnte ge‐ wesen ist, läßt sich auch am durchschlagenden Erfolg des Kleidungsstils ablesen: HipHop-Mode ist - trotz vieler kleiner Mode-Labels, die nur in spezifischen Läden zu erhalten sind - Massenmode geworden, gehört schon längst zur Kollektion der auf Jugend abgestellten Modefirmen und zur Standardausstattung großer Kaufhäuser und hat auf diese Weise auch den Kleidungsstil der älteren Generation verändert. Doch immer noch verweist der Kleidungsstil auf das Leben im Ghetto.« Klein/ Friedrich 2003 (wie Anm. 4), S. 35. Es sei hier darauf hingewiesen, dass, obwohl der Band von Klein und Friedrich bereits älteren Datums ist, diese Behauptungen noch immer Gültigkeit haben, wenn auch erweitert durch einen weiteren Begriff von Street Culture, befördert auch durch neue soziale Medien und in einem noch dichter gewordenen globalen Markt der Kleidungsindustrie. Street-Fashion-Fotostrecken in Mode- und Stadtmagazinen sowie Instagram-Posts mit dem entsprechenden Hashtag #StreetFashion tragen dieser weiteren Ausdehnung Rechnung und zu ihr bei. Ted Polhemus sieht in diesem Twist eine »remarkable social and cultural inversion«, die sich in den vergangenen Jahrzehnten ereignet habe: »where once culture was the monopoly of the upper classes, it now, more often than not, bubbles up from these on the ›wrong side of the tracks‹. This transformation has been especially evident in the world of style - with the authenticity of streetstyle challenging and then toppling the dictatorship of High Fashion.« 29 Aber nicht nur wird die Deutungshoheit der High Fashion gestürzt. Im Prozess des trickling up und der Kommodifikation wird gleichzeitig auch das subversive Potential des subkulturellen Street Dance seiner sozialen Wirkkraft entmächtigt. Die Styles des Street Dance und seine Bewegungs-Stile werden im Zeigen auch zu Gegenständen ihrer Verhandlungen auf dem Markt der Modeindustrie. »Wie Subkultur-Stile geschaffen und verbreitet werden, ist aber in Wirklichkeit mit der Produktion, der Veröffentlichung, Werbung und Verpackung unlösbar verbunden. […] Jede neue Subkultur etabliert neue Trends und bringt neue Klänge und Stile hervor, die in die entsprechenden Industrien zurückgeführt werden«, so formuliert es Dick Hebdige. 30 Erneut gehen Mediascapes und Eco‐ noscapes, lokale Verortung und globale Dispersion Hand in Hand: »Shot on the streets and rooftops of sunny LA« geht das Alphabet des (Street) Dance durch geschicktes Social Media Marketing im YouTube Channel viral. Wird damit der (Street) Dance selbst zur Ware? Im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes sei eine Mesalliance von Stilen und Styles vorgestellt, die Ballett und HipHop zu einem neuen Phänomen fusioniert- und 116 Nic Leonhardt <?page no="117"?> 31 Arjun Appadurai: The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cam‐ bridge 2011, S. 5. 32 http: / / hipletballerinas.com [Abruf: 2.8.2018]. die als »registered trademark«, als eingetragene Handelsmarke Ausbildung, Praxis und soziale Botschaft vereint: »Hiplet™«. Verhandeln oder das Worüber - zum Beispiel Hiplet™ Arjun Appadurai definiert in The Social Life of Things Waren als »things in a certain situation«. Appadurai erkennt Dingen eine Biographie zu und argu‐ mentiert, diese Dinge könnten Situationen oder Phasen der Kommodifikation (commodity situation) »erleben«, das heißt Situationen, in denen Dinge einen ökonomischen Wert erhielten (den sie ebensogut wieder verlieren könnten). Er empfiehlt die Betrachtung von Dingen in ihrem kulturellen Kontext zur Analyse dessen, was sie transportieren: [W]e have to follow the things themselves, for their meanings are inscribed in their forms, their uses, their trajectories. It is only through the analysis of these trajectories that we can interpret the human transactions and calculations that enliven things. Thus, even though from a theoretical point of view human actors encode things with significance, from a methodological point of view it is the things-in-motion that illu‐ minate their human and social context. 31 Hiplet™ wurde von dem amerikanischen Choreographen und ausgebildeten Tänzer Homer Hans Bryant ins Leben gerufen. Bryant, ursprünglich aus der Karibik stammender Tänzer of colour, der lange Zeit am Dance Theatre of Harlem wirkte, prägte den Begriff 2009 und benennt damit einen Stil des Tanzes, der den Spitzentanz des klassischen Balletts und seiner Figuren in ungewöhn‐ licher Weise mit den im Vorangegangenen behandelten Stilen des Street Dance/ HipHop mischt. Hiplet™ vorausgegangen war »The Rap Ballet« aus den frühen neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts: »It was set to rap music where dancers performed the ›running man‹ and other popular dances on point. Then in 2005, one of the dancers was booked with the UniverSoul Circus, and Artistic Director Homer Hans Bryant started to play around with different Hip-Hop moves which eventually led to the development and trademark of the Hiplet™ technique.« 32 Das Chicago Multi Cultural Dance Center (MCDC) unter Bryants Leitung ist die bislang einzige Schule, an der Hiplet™ unterrichtet wird. Bryants tanzpä‐ dagogisches und soziales Ziel ist es, begabten jungen Tänzerinnen und Tänzern aus ethnischen Minderheitengruppen und aus einem ökonomisch benachtei‐ ligten sozialen Umfeld den Zugang zum klassischen Ballett zu ermöglichen, das 117 Street Dance Stil & Style <?page no="118"?> 33 Offizielle Website der Hipletballerinas: www.hipletballerinas.com [Abruf: 2.8.2018]. 34 Etwa für die spanische Firma Desigual. Siehe das Werbe-Video #Hiplet ballerinas present Desigual Exotic Jeans SS17, https: / / www.youtube.com/ watch? v=AviVqKGmwe8 [Abruf: 6.8.2018]. noch immer eher einer gehobenen weißen Mittelschicht zugänglich ist. Neben dem Ausloten des tanzpraktischen und -ästhetischen Potentials von Hiplet™ avisiert er ein Forum für neue Publika, die ansonsten dem klassischen Tanz eher fern bleiben. Auf der Website der »Hipletballerinas«, wie sich die Tänzer um Bryant in Chicago nennen, heißt es: Hiplet™ fuses classical pointe technique with Hip-Hop and urban dance styles. It was specifically designed to make ballet accessible to all, by mixing it with current popular songs that will be familiar to audiences who don’t normally attend ballet performances. At the Chicago Multi-Cultural Dance Center, we are empowering lives through dance! And we want to be able to accept any student that comes through our doors with talent, regardless of their economic ability. So we are thankful for this opportunity to share our story with the world and our continued effort to empower beautiful young lives through the power of dance. 33 Der Schulterschluss von klassischem Tanz und Street Dance, von elitärer und Subkultur, wie sie zuvor am Beispiel der Stile und der Kleidung und unter Ver‐ weis auf ausgewählte Filme erörtert wurde, die diese fruchtbare Kollision zum Sujet machen, scheint im Hiplet™ gar eine institutionelle Erweiterung in Gestalt des Chicago Multi Cultural Dance Centers zu erfahren. Von einer organischen Fusion kann allerdings noch nicht die Rede sein. Zu sehr funktioniert die Cha‐ rakterisierung des Innovativen im Hiplet™ über Markierungen von Differenz: der klassische Tanz hier, der Street Dance dort, Unterprivilegierung hier, Privi‐ legierung dort. In einem der Image-Videos zur Hiplet™-Ausbildung wird dieser Kontrast (bewusst) inszeniert und in der Kleidung ebenso wie in den Tanz-Orten sichtbar gemacht: sind die Schülerinnen und Schüler im Ballettsaal in schwarzen Tanztrikots an der Ballettstange zu sehen, so tanzen sie im nächsten Bild auf dem asphaltierten Platz vor der Schule und der Straße in farbenfroher Alltags‐ kleidung - und Spitzenschuhen. Auch im Falle von Hiplet™ verdankt sich seine Proliferation den Media- und Econoscapes. Tänzer und Ausbilder machen über die sozialen Medienplatt‐ formen Instagram und Facebook auf sich aufmerksam. Eine Einladung der jungen Truppe zum Fernsehsender ABC 2006 beförderte den Bekanntheitsgrad und führte rasch zu weiteren Auftritten sowie Werbeverträgen der jungen Kom‐ pagnie mit Modelabels. 34 In der medialen Rezeption wird der Wert von Hiplet™ kontrovers diskutiert. Bryant wird wechselweise als »Hiplet™ Guru« oder als 118 Nic Leonhardt <?page no="119"?> 35 Weitere Videos sind etwa das mit der Taekwondo-Athletin Paige McPherson, gekleidet in Sara Sensoys Kreationen in The Spot, oder der Kurzfilm The Kid, performt von BMX-Fahrer Dennis Enarson Both gemeinsam mit Paige McPherson (Regie für beide Videos: Ace Norton) oder Veronika Heilbrunners Kleidung, in Szene gesetzt durch das Schauspiel von Justin O’Shea im Video A Fistful of Wolves (Regie: Danny Sangra). Siehe https: / / www.mercedes-benz.com.cy/ content/ cyprus/ mpc/ mpc_cyprus_website/ enng/ home_mpc/ passengercars/ home/ world/ fashion.flash.html [Abruf: 2.8.2018]. 36 https: / / media.daimler.com/ marsMediaSite/ de/ instance/ ko/ Mercedes-Benz-Fashion- Creatives-Episode-6-Die-Hiplet-Ballerinas-im-Mercedes-Benz-Museum.xhtml? oid=13561160 [Abruf: 2.8.2018]. »The Ballet Disruptor« bezeichnet; User feiern Videos mit Darbietungen der Hiplet™ Ballerinas in ihren Kommentaren wechselweise enthusiastisch oder sprechen ihnen in teils zynischer Manier ihre Validität als »serious ballet« ab. 2016 bespielten einige Schülerinnen und Schüler des MCDC innerhalb der »Mercedes-Benz Fashion Creatives-Filmreihe« Folge 6 der Reihe, die den Titel Die Hiplet™ Ballerinas im Mercedes-Benz Museum trug. Die Reihe versteht Mer‐ cedes Benz als (Be-)Förderer aufstrebender Talente der Mode-Industrie, deren Kreationen in kurzen Videos vorgestellt werden. 35 Alle Videos sind in einem Autohaus verortet, zeigen (neueste) Mercedes Benz-Modelle, ausgewählte junge Sport-Talente und die neuesten Arbeiten von Fashion-, Light- oder Produkt-De‐ signern. Für Die Hiplet™ Ballerinas im Mercedes-Benz Museum führte der ame‐ rikanische Regisseur Ace Norton Regie. Die Outfits stammen aus der Werkstatt der New Yorker Designerin Sandy Liang, deren Kreationen auch auf der New Yorker Fashion Week 2016 gezeigt wurden, im Jahr des Erscheinens des Mer‐ cedes-Benz-Videos. Die Storyline ist auf der Website von Mercedes Benz Global Media wiedergegeben: Der Kurzfilm schildert eine Nacht im Museum, wo die Welten des Tanzes und der Mode innerhalb der futuristischen Architektur des Mercedes-Benz Museums aufeinander‐ treffen. Als die Nacht anbricht, schließt der Wachmann den Ausstellungsraum, in dem zahlreiche Klassiker stehen. Nachdem er festgestellt hat, dass noch alles an seinem Platz ist, kehrt er an seinen mit Überwachungsbildschirmen umgebenen Schreibtisch zurück und schläft ein. Die Puppen im Ausstellungsraum erwachen zum Leben und zeigen eine Hiplet™ Tanzsequenz, choreographiert von Homer Bryant. Zu Beginn ist ein Solo von Carmryn Hutchinson zu sehen. Sie begibt sich auf Entdeckungsreise in die Tiefen des Museums. Dort trifft sie auf einen männlichen Tänzer, Devin Buchanan. Im Laufe ihres romantischen Duetts wachen die anderen Puppen auf und bilden eine Tanztruppe. Als die Tänzer so richtig in Schwung sind, wacht der Wachmann plötzlich auf und sieht die Tanzperformance auf seinem Bildschirm. Unverzüglich eilt er an den Ort des Gesche‐ hens, findet die Tänzer aber nur in ihrer ursprünglichen, statischen Form vor. 36 119 Street Dance Stil & Style <?page no="120"?> 37 Kristen Bateman: »5 minutes with: Sandy Liang. Skater girls meet granny chic in the designer’s latest collection«, in: Harper’s Bazaar, 13. September 2015, https: / / www.harpersbazaar.com/ fashion/ designers/ a12170/ sandy-liang-designer-interview/ [Abruf: 3.8.2018] Wie Mannequins über den Laufsteg tanzen die Hiplet Ballerinas durch das Au‐ tomuseum und um die auf Hochglanz polierten Karossen, zitieren Stile des klas‐ sischen Tanzes wie des Street Dance. Als Ausstellungsobjekte sind sie eigentlich als immobiles Dekor der Auto-Mobile gedacht; erst durch ihre nächtlich sub‐ versiven Choreographien verhelfen sie der Mode und dem Luxusgut Auto wirk‐ lich zu einem Image-Gewinn. In der Versteifung zur Puppe werden sie schließ‐ lich wieder zum Produkt. Dass der Hiplet eine »registered trademark« ist, hievt ihn auf eine Ebene mit Liangs Kreationen und den Fahrzeugen von Daimler Benz. In einem Interview des Mode-Magazins Harper’s Bazaar zu ihrer neuen Kollektion befragt, antwortet Sandy Liang, sie sei von der Street Culture beein‐ flusst: My friend and I learned how to skateboard. I live on the Lower East Side where there’s a lot of skateboarders and I just thought it’s so cool how they fly down the street. They’re so effortless in the way that they move. Change is something that frustrates me a lot because I don’t have a new wardrobe for every season. I really appreciated how these skater boys wear the same things that they’ve been wearing for years. I found this book by Ari Marcopolou called Stoops—it’s all early skater photos from the ’90s—and you would not know the difference of a skater today and a skater from the early years. 37 Die einzige Konstante in der Mode ist ihre Veränderlichkeit. Im Falle der Trias von Street Dance, Stil und Style sind gerade ihr unabdingbarer Bezug aufein‐ ander sowie die Mesalliance von scheinbaren Paradoxa Garant für ihre Bestän‐ digkeit: die ›Realness‹ des Street Dance lässt sich käuflich erwerben, ihre Styles und Stile erlauben eine individuelle Handschrift bei gleichzeitiger (zumindest vorgestellter) Zugehörigkeit zu einer (differenten) Community, die Armut von Ghetto und Straße trifft auf Urban Chic, Zugänglichkeit auf monetäre Hürden, Street credibility sickert zur ›High Culture‹/ Haute Couture, die ausgestellte Überschreitung von sozialen Grenzen führt zu ihrer Verfestigung, die Abgren‐ zung ist Teil des Erfolgsmodells von Street Culture - in beide Richtungen. Eingerahmt durch eine unsichtbare Linie des Respekts und Staunens ist die as‐ phaltierte Bühnenfläche der Street Dancer vor dem Pompidou. Vorne, an der vorgestellten Rampe, wartet die obligatorische Mütze auf den freiwilligen Ein‐ wurf eines Honorars durch die Zuschauer der Stadt. Manche Passanten bleiben 120 Nic Leonhardt <?page no="121"?> nur kurz stehen, andere verweilen: wippen mit und klatschen, filmen oder fo‐ tografieren, instagrammen. Manche ignorieren die Performer, sind sie doch zu oft zugegen. Die Redundanz vergleichbarer Szenen im Durchgang der Stadt - Street. Dance. 121 Street Dance Stil & Style <?page no="123"?> Autorinnen und Autoren Evelyn Annuß ist Theater- und Literaturwissenschaftlerin mit Arbeitsschwerpunkten in den Medien- und Kulturwissenschaften sowie in Gender Studies und postkolonialer Kritik. Sie war Fellow am International Research Center »Interweaving Perfor‐ mance Cultures« zu Globalgeschichte und Medienmigrationen schwarzer Masken. Zuvor hat sie die Professur für Theater und Medien am Institut für Theaterwissenschaft der LMU vertreten, an der Ruhr-Universität Bochum über NS-Masseninszenierungen habilitiert (Volksschule des Theaters, erschienen 2018 bei Wilhelm Fink) und im Rahmen der Erfurter Komparatistik über Elfriede Je‐ linek - Theater des Nachlebens promoviert (Fink 2005; 2. Aufl. 2007). Neben ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit u. a. auch in Berlin und den USA war sie inter‐ national als Kuratorin tätig (Stagings Made in Namibia, National Art Gallery of Namibia, Berlin Bethanien, Theaterformen Braunschweig, Palais des Nations/ Basler Afrikabibliographien 2009-2015). Zuletzt erschien: »Wollt ihr die totale Theaterwissenschaft? Raumdiskurse und Gründungsnarrative«, in: Episteme des Theaters, hg. von Milena Cairo u. a., Bielefeld 2016. Wolf-Dieter Ernst ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth. Er studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und war als wissenschaftlicher Assistent in Basel, Hildesheim und München tätig. Zahlreiche Veröffentlich‐ ungen zur Theorie, Geschichte und Ästhetik von Theater, Performance und neuen Medien: Der affektive Schauspieler. Die Energetik des postdramatischen Theaters, Berlin (Theater der Zeit) 2011; Netzkulturen. Kollektiv. Kreativ. Perfor‐ mativ. Hg. mit Christopher Balme u. a., München 2011; Performing the Matrix, Mediating Cultural Performance. Hg. mit Meike Wagner, München 2008; Perfor‐ mance der Schnittstelle. Theater unter Medienbedingungen, Wien 2003. Sabine Huschka Tanz- und Theaterwissenschaftlerin, leitet das DFG-Projekt »Transgressionen. Energetisierung von Körper und Szene« am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) der UdK Berlin und gehört als assoziiertes Mitglied dem Graduier‐ tenkolleg »Das Wissen der Künste« der UdK Berlin an. Habilitierte 2011 an der Universität Leipzig mit einer Studie zur Wissenskultur Tanz: Der choreografierte Körper im Theater. Sie hatte diverse (inter-)nationale Vertretungsprofessuren für <?page no="124"?> Performance Studies, Theater- und Tanzwissenschaft inne (Universität Ham‐ burg, FU Berlin, UdK-Berlin, Universität Bern). Publikationen: Moderner Tanz. Konzepte - Stile - Utopien, Reinbek 2002/ 2012; (Hg.) Wissenskultur Tanz. Histo‐ rische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen, Bielefeld 2009. Homepage: www.tanz-wissen.de Claudia Jeschke studierte Theaterwissenschaft und Germanistik in München. Von 1980 bis 1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft an der LMU München, 1994 Professorin am Institut für Theaterwissenschaft in Leipzig, dort Habilitation. 2000 Professorin für Tanzwissenschaft an der Hochschule für Musik in Köln. Zwischen 2004 und 2015 Professorin für Tanzwissenschaft an der Universität Salzburg. Gastprofessuren an europäischen, amerikanischen, asiatischen und südamerikanischen Universitäten. Claudia Jeschke arbeitet(e) zudem als Dramaturgin, Choreografin, Ausstellungsmacherin und Autorin von Fernsehsendungen zum Tanz. Autorin und Herausgeberin zahlreicher wissen‐ schaftlicher Publikationen, in denen sie als ausgebildete Tänzerin die Tanzge‐ schichte vor allem unter bewegungsanalytischen und praxisorientierten Ge‐ sichtspunkten beleuchtet. Die Verbindung von Historie, Theorie und Praxis dokumentiert sich außerdem in Re-Konstruktionen und Lecture Performances zu Tanzphänomenen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Rainer Krenstetter Erster Solotänzer, erhielt seine Ausbildung an der Ballettschule der Wiener Staatsoper und an der Royal Ballet School in London. 1999 erzielte er den ersten Platz beim Prix de Lausanne. Von 2000 bis 2003 war er Mitglied des Balletts der Staatsoper unter den Linden in Berlin, von 2004 bis 2013 Solotänzer und Erster Solotänzer beim Staatsballett Berlin. Seit 2013 ist er principal dancer beim Miami City Ballet. Nic Leonhardt ist Theater- und Kulturwissenschaftlerin an der Ludwig-Maximilians-Univer‐ sität München und Autorin. Ihre wissenschaftliche Arbeit ist geprägt von trans‐ disziplinären und interkulturellen Perspektiven und umfasst globale/ transnatio‐ nale Kultur- und Mediengeschichte, Interarts, Visual Culture, Mode und digitale Kultur. Aktuell forscht sie über Philanthropien und Kulturförderung nach 1945 im Rahmen des ERC-Projekts »Developing Theatre«. Katja Schneider lehrt als Privatdozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Lehrauf‐ 124 Autorinnen und Autoren <?page no="125"?> träge in Bytom (Polen), Salzburg, Bern und Zürich. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Tanz und Medialität, Performance Art sowie zeitgenössisches The‐ ater und Theater im 18. Jahrhundert. Habilitation 2013 mit der Schrift Tanz und Text. Figurationen von Sprache und Bewegung an der Ludwig-Maximilians-Uni‐ versität München. Als Redakteurin arbeitete sie für die Fachmagazine tanz‐ drama, tanzjournal und tanz (1992-2012), als Dramaturgin ist sie für das Münchner Festival »Dance« tätig. Neueste Publikationen (Auswahl): (Hg. mit Burcu Dogramaci) »Clear the Air«. Künstlermanifeste seit den 1960er Jahren. In‐ terdisziplinäre Positionen, Bielefeld 2017; (Hg. mit Gabriele Brandstetter) Sacre 1913/ 2013, Freiburg im Breisgau/ Berlin/ Wien 2017; (Hg. mit Thomas Betz) Schreiben mit Körpern. Der Choreograph Raimund Hoghe, München 2012. Patricia Stöckemann ist promovierte Tanzwissenschaftlerin und Tanzdramaturgin mit dem For‐ schungsschwerpunkt auf deutscher Tanzgeschichte im 20. Jahrhundert. Redak‐ teurin des Fachmagazins tanzdrama, Biographin von Kurt Jooss. Sie kuratierte Tanzausstellungen - u. a. »… jeder Mensch ist ein Tänzer.« Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945 (zus. mit Hedwig Müller, 1993), Krokodil im Schwanensee. Tanz in Deutschland seit 1945 (zus. mit Hedwig Müller und Rolf Stabel, 2003) - und arbeitete als Lehrbeauftragte für Tanzgeschichte und Tanz‐ theorie. Als Beiratsmitglied der Mary Wigman-Stiftung vertritt sie das tänzeri‐ sche Erbe Wigmans. Von 2004 bis 2012 war sie Dramaturgin, dann Leiterin des Tanztheater Bremen am Theater Bremen, seit 2012 ist sie am Theater Osnabrück für die Dance Company unter der künstlerischen Leitung von Mauro de Candia tätig. Sie ist Initiatorin und Projektleiterin der Rekonstruktionen von Mary Wigmans Le Sacre du Printemps (1957), Totentanz I (1917/ 1921) und Totentanz II (1926). Thomas Betz studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der LMU München. Er arbeitet als freier Lektor und Autor in München, kuratierte Ausstellungen (u. a. Literaturhaus München, Deutsches Tanzarchiv Köln, Mo‐ nacensia Literaturarchiv), war 2003-2009 Redaktionsmitglied der Zeitschrift tanzjournal und ist seit 2011 Redakteur beim Münchner Feuilleton. Publikationen (Auswahl): (Hg. mit Katja Schneider) Schreiben mit Körpern. Der Choreograph Raimund Hoghe, München 2012; (Hg. mit Franziska Mayer) Abweichende Le‐ bensläufe, poetische Ordnungen. Für Volker Hoffmann, 2 Bde., München 2005. Christina Thurner ist Professorin für Tanzwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern. 2001 Promotion und 2008 Habilitation an der Universität Basel. 125 Autorinnen und Autoren <?page no="126"?> Leitung verschiedener SNF-Projekte, u. a. im ProDoc »Intermediale Ästhetik. Spiel - Ritual - Performanz«. Gastdozenturen z. B. in Paris, Bayreuth, Nizza. Verantwortliche des MAS Studiengangs Dance / Performing Arts sowie des Dok‐ toratsprogramms Interdisciplinary Cultural Studies (ICS), Universität Bern. For‐ schungen zu Tanzästhetiken und -diskursen vom 18. bis 21. Jahrhundert, Tanz‐ historiografie und -kritik, Autobiografie. Publikationen (Auswahl): Rhythmen in Bewegung. Äußere, eigene und verkörperte Zeitlichkeit im künstlerischen Tanz, Hannover 2017; Tanzkritik. Materialien (1997-2014), Zürich 2015; Beredte Körper - bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld 2009. 126 Autorinnen und Autoren <?page no="127"?> Stil ist beschreibbar als Modus des Bezugnehmens auf die Welt, als relationale Funktion, die Körper und Bewegungen in ihren historischen, gesellschaftlichen und (kultur-)politischen Situierungen sichtbar macht. Die Tanzwissenschaftlerin Laurence Louppe nannte in ihrer Poetik des zeitgenössischen Tanzes Stil den Subtext, den wahren Text, »den man unter der choreographischen Sprache rauschen hört«. Die Beiträge des Bandes untersuchen, wie sich »Stil« im Tanz und auf der Bühne manifestiert und welche Funktion der heute im Alltagsleben, in Mode und Design allgegenwärtige Begriff im Diskurs über Tanz und Theater übernimmt. ISBN 978-3-8233-8233-1