Dolmetschen in der Psychotherapie
Prekäres Gleichgewicht
0531
2021
978-3-8233-9234-7
978-3-8233-8234-8
Gunter Narr Verlag
Mascha Dabic
In der dolmetscherunterstützten Psychotherapie herrscht ein prekäres Gleichgewicht, an dessen Aufrechterhaltung Dolmetscher:innen maßgeblich beteiligt sind. Alle Formen der Psychotherapie sind stark an Sprache gebunden. Die Schwierigkeit, sich in einer fremden Sprache zu verständigen, wird durch die Problematik verschärft, über traumatische Erlebnisse zu sprechen. Die Dynamiken innerhalb der Triade Psychotherapeut:in - Dolmetscher:in - Klient:in sind u.a. von Gratwanderungen, Oszillationen und Annäherungen charakterisiert. Dabei werden die Dolmetscher:innen mitunter mit divergierenden Erwartungshaltungen konfrontiert.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-8233-8234-8 In der dolmetscherunterstützten Psychotherapie herrscht ein prekäres Gleichgewicht, an dessen Aufrechterhaltung Dolmetscher: innen maßgeblich beteiligt sind. Alle Formen der Psychotherapie sind stark an Sprache gebunden. Die Schwierigkeit, sich in einer fremden Sprache zu verständigen, wird durch die Problematik verschärft, über traumatische Erlebnisse zu sprechen. Die Dynamiken innerhalb der Triade Psychotherapeut: in - Dolmetscher: in - Klient: in sind u.a. von Gratwanderungen, Oszillationen und Annäherungen charakterisiert. Dabei werden die Dolmetscher: innen mitunter mit divergierenden Erwartungshaltungen konfrontiert. TW 13 Dabic� DOLMETSCHEN IN DER PSYCHOTHERAPIE TRANSLATIONSWISSENSCHAFT BAND 13 DOLMETSCHEN IN DER PSYCHOTHERAPIE Prekäres Gleichgewicht Mascha Dabic� 18234_Umschlag.indd Alle Seiten 18234_Umschlag.indd Alle Seiten 06.05.2021 15: 35: 05 06.05.2021 15: 35: 05 <?page no="1"?> Dolmetschen in der Psychotherapie <?page no="2"?> TRANSLATIONSWISSENSCHAFT · BAND 13 herausgegeben von Klaus Kaindl und Franz Pöchhacker (Universität Wien) Gyde Hansen (Kopenhagen) Christiane Nord (Heidelberg) Hanna Risku (Wien) Christina Schäffner (Birmingham) Robin Setton (Paris) <?page no="3"?> Mascha Dabić Dolmetschen in der Psychotherapie Prekäres Gleichgewicht <?page no="4"?> Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. Ö S T E R R E I C H I S C H E F O R S C H U N G S G E M E I N S C H A F T ÖFG © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1614-5909 ISBN 978-3-8233-8234-8 (Print) ISBN 978-3-8233-9234-7 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0322-0 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 1 11 2 15 2.1 17 2.2 18 2.3 20 2.3.1 22 2.4 25 2.5 26 2.6 27 2.7 28 2.7.1 29 2.7.2 30 2.8 33 3 35 3.1 36 3.1.1 37 3.2 38 3.2.1 38 3.2.2 41 3.3 42 3.3.1 42 3.3.2 43 3.4 48 3.5 50 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur und Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Prototypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturalität: psychoanalytische und psychotherapeutische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identität im Kontext der Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . „Kulturelle Übersetzung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Vom Schweigen in der Kommunikation . . . . . . . . . . . „Das Unbehagen in der Kultur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wege zur Linderung des seelischen Leids . . . . . . . . . . . „Warum Krieg? “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trauma: individuelle und kollektive Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trauma oder belastendes Lebensereignis? . . . . . . . . . . . Posttraumatische Belastungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition und Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folter und Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeiten mit traumatisierten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die therapeutische Beziehung und Therapieziele . . . . . Dynamiken in den Einrichtungen für Kriegs- und Foltertraumatisierte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trauma und Gesellschaft: Abwehrreaktionen . . . . . . . . . . . . . Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4 51 4.1 51 4.1.1 54 4.1.2 59 4.2 60 4.2.1 64 4.2.2 68 4.3 73 4.3.1 74 4.3.2 83 4.3.3 93 5 97 5.1 97 5.1.1 98 5.2 99 5.3 101 5.4 103 5.5 104 5.5.1 104 5.5.2 106 5.6 107 5.6.1 108 5.6.2 110 5.7 125 6 127 6.1 129 6.1.2 133 6.1.3 140 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . Kontextualisierung in der Translationswissenschaft: Community Interpreting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich mit dem Konferenzdolmetschen: Faktor Professionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen an die DolmetscherInnen im Bereich Community Interpreting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das psychotherapeutische Setting: grundsätzliche Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Bühne“ und „Rolle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zur Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themenrelevante Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgewählte Thematische Schwerpunkte . . . . . . . . . . . Ausblick auf die Forschungsdesiderata der vorliegenden Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugang zum Feld: Traumazentren als „hochsensible Einrichtungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexion der eigenen Forscherinnenrolle . . . . . . . . . . . Methodische Vorüberlegungen zum Forschungsprojekt . . . . . Skizzierung der Wissenslücke und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . Leitfadeninterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragen an die einzelnen AkteurInnen in der Triade . . . Fragen das Setting betreffend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswertung des Materials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transkription der Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kodierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Perspektive der KlientInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundverständnis über die Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . Themenkomplex Person des Dolmetschers . . . . . . . . . . Themenkomplex Dolmetscherwechsel und Austauschbarkeit des Dolmetschers . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 6.1.4 144 6.1.5 146 6.1.6 147 6.1.7 149 7 153 7.1 153 7.2 157 7.2.1 159 7.2.2 163 7.2.3 167 7.3 169 7.4 173 7.4.1 174 7.4.2 179 7.4.3 183 7.5 189 7.5.1 189 7.5.2 197 7.5.3 203 7.6 205 7.6.1 206 7.6.2 207 7.6.3 209 7.7 209 7.7.1 210 7.7.2 213 7.7.3 214 7.8 215 7.8.1 216 7.8.2 218 7.8.3 220 7.9 224 Themenkomplex Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwartungen und Rollenzuschreibungen . . . . . . . . . . . . Schwierigkeiten und Unzufriedenheit im Dolmetschprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zufriedenheit mit dem Dolmetschprozess . . . . . . . . . . . Die Perspektive der Psychotherapeutinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzordnung und Blickkontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dolmetschmodus: simultan / konsekutiv . . . . . . . . . . . . Direkte und indirekte Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DolmetscherInnenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die DolmetscherIn, Teil eins: Rollenverständnis, „Kulturkompetenz“, Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rollenverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Kulturkompetenz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herkunft der DolmetscherIn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die DolmetscherIn, Teil zwei: Voraussetzungen, Eigenschaften, Belastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung: Gratwanderung zwischen Empathie und Distanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenz: Fachwissen und Hintergrundwissen . . . . . Professionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vor- und Nachgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwierigkeiten, Belastungen, Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konkurrenz und Grenzüberschreitungen . . . . . . . . . . . . Grenzen der Übersetzbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Spezifik der Triade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zeugenschaft der DolmetscherIn . . . . . . . . . . . . . . . Tempo und Zeitfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Unterschiede zur Dyade . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt <?page no="8"?> 8 225 8.1 225 8.1.1 226 8.1.2 228 8.1.3 234 8.2 235 8.2.1 238 8.2.2 244 8.3 247 8.3.1 251 8.3.2 252 8.4 257 8.4.1 260 8.5 261 8.6 264 8.7 268 9 271 9.1 271 9.2 273 9.2.1 273 9.2.2 275 9.2.3 279 9.3 283 9.4 285 10 287 289 297 Die Perspektive der DolmetscherInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dolmetschmodus: simultan/ konsekutiv . . . . . . . . . . . . . Sitzordnung und Blickkontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Person und/ oder dritte Person . . . . . . . . . . . . . . . . Belastung in der Arbeit mit kriegs- und foltertraumatisierten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vor- und Nachgespräche, Supervision, Intervision . . . . „Kulturkompetenz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Kultur“ als Thema in Nachgesprächen . . . . . . . . . . . . . Schwierigkeiten im Bezug auf „Kultur“ . . . . . . . . . . . . . Rollenverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Professionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwierigkeiten und Missverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Rückmeldungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexion der Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gratwanderungen, Oszillationen, Annäherungen . . . . . . . . . . Gratwanderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oszillationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aufschlusswert der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> Danksagung Das Gelingen eines psychotherapeutischen Prozesses hängt von vielen unter‐ schiedlichen Faktoren ab, noch dazu, wenn das Gespräch zwischen Psycho‐ therapeutIn und KlientIn gedolmetscht werden muss. Ein Faktor ist jedoch ausschlaggebend, indem er die Grundvoraussetzung für diese kommunikative Situation schafft, nämlich die Bereitschaft der KlientInnen, sich in diesem spezifischen Kontext mitzuteilen, sich auf das Sprechen - ihr eigenes Sprechen - einzulassen, das nötige Vertrauen der PsychotherapeutIn und der Dolmet‐ scherIn gleichermaßen entgegenzubringen. Daher gilt mein Dank in erster Linie den zahlreichen KlientInnen, mit denen ich in den letzten Jahren als Dolmetscherin gearbeitet habe und deren Stimmen direkt und indirekt in die vorliegende Arbeit Eingang gefunden haben. Mein Dank gilt den PsychotherapeutInnen im Zentrum für interkulturelle Psychotherapie in Tirol ANKYRA (in Innsbruck), wo ich die Gelegenheit hatte, meine ersten Erfahrungen als Dolmetscherin zu sammeln, sowie im Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende HEMAYAT in Wien, in dem ich seit 2005 als Dolmetscherin tätig bin. In beiden Einrichtungen habe ich nicht nur als Dolmetscherin, sondern später auch als Forschende immensen Zuspruch und Rückhalt erfahren. Ich hatte die Möglichkeit, in Therapien und flankierenden Einzel- und Gruppengesprächen zu lernen und mir Stück für Stück zu erarbeiten, was Sprechen und Schweigen, Erinnern und Vergessen, Imaginieren und Träumen bedeuten kann und wie ich als Dolmetscherin meine Expertise darin weiterentwickeln, verfeinern und zur Entfaltung bringen kann. „Ausgelernt“ habe ich in diesem Ozean der Sprache nicht, aber ich habe mit Hilfe der TherapeutInnen - AnsprechpartnerInnen, KollegInnen und WeggefährtInnen - im Laufe der Jahre gelernt, mich in dem besagten Ozean nicht nur über Wasser zu halten, sondern auch mit Genuss zu „schwimmen“ und den „Wellengang“ zu studieren. Viele Menschen haben mich zum Verfassen der vorliegenden Arbeit inspiriert und bestärkt, an dieser Stelle möchte ich nur wenige von ihnen namentlich nennen, da der Versuch einer vollständigen Auflistung ausufernd wäre: Verena Schlichtmeier, Claudia Baldeo und Binja Pletzer (Psychotherapeutinnen im Zentrum „Ankyra“), Cecilia Heiss (Geschäftsführerin von „Hemayat“ und Freundin), sowie Lika Trinkl, Friedrun Huemer, Heidi Behn und Bibiane Ledebur (Psychotherapeutinnen bei „Hemayat“), Uta Wedam (Supervisorin für DolmetscherInnen), und viele andere, die wissen, dass sie hier ebenfalls gemeint sind. Ausdrücklich möchte ich mich <?page no="10"?> auch bei Heidi Schär-Sall (Ethnopsychoanalytikerin in Zürich) bedanken - dem beständigen Dialog mit ihr über Jahre hinweg habe ich tiefere Einsichten über die Psychoanalyse zu verdanken. Damit der Transfer von der Praxis der dolmetschunterstützten Therapie hin zu einer wissenschaftlichen, universitär eingebetteten Auseinandersetzung gelingen konnte, war ich auf die Unterstützung und unermessliche Geduld meines Betreuers am Wiener Zentrum für Translationswissenschaft Univ.-Prof. Dr. Franz Pöchhacker angewiesen, der mich von Anfang an mit höchster Zuverlässigkeit begleitet hat und der die redliche wissenschaftliche Praxis nicht nur als Lehrender und als Betreuer seit Jahrzehnten unermüdlich vermittelt, sondern auch als Wissenschaftler konsequent vorlebt, und zwar sowohl in seinem unmittelbaren Umfeld am ZTW, als auch auf internationaler Ebene in einschlägigen wissenschaftlichen Kreisen. Ich hatte das große Glück und Privileg, auch von meiner Zweitbetreuerin Doz. Dr. Brigitta Busch wichtige Impulse und wertvolle Inspiration aus der sprachwissenschaftlichen Perspektive zu erhalten. Auch ihr gilt mein tief emp‐ fundener Dank. Sie hat mir eindrucksvoll vor Augen geführt, wie menschliche Erfahrungen als sprechende (und auch als schweigende) Wesen den akademi‐ schen Diskurs bereichern können. Obwohl mein Vater Bogdan L. Dabić zeitlebens nicht viel von akademischen Danksagungen und Widmungen hielt, möchte ich mich dennoch an dieser Stelle bei ihm bedanken, auch wenn er nur meine allerersten, unsicheren Schritte als Doktorandin noch miterlebt hat. Dass er in der Lage war, sein sprachwis‐ senschaftliches Arbeiten mühelos und selbstverständlich in sein alltägliches Sprechen zu integrieren, hat mein Denken und mein sprachliches Erleben nachhaltig geprägt. Hvala. Спасибо auch an meine Mutter Natalija Minajeva, Hvala/ спасибо/ Danke auch an meine Schwestern Antonija und Jelena. Allen Freunden und nahestehenden Menschen, die für die Strapazen meines Diss-Marathons Verständnis aufbringen konnten, gilt mein tief empfundener Dank, den auszudrücken mir die Worte fehlen. 10 Danksagung <?page no="11"?> 1 Einleitung Die psychotherapeutische Unterstützung ist eine wichtige integrative Maß‐ nahme für kriegs- und foltertraumatisierte AsylwerberInnen und Flüchtlinge. Da alle Formen der Psychotherapie stark an Sprache gebunden sind und die Schwierigkeit, sich in einer fremden Sprache zu verständigen, durch die Problematik, über traumatische Erlebnisse zu sprechen, verschärft wird, stehen DolmetscherInnen in der Psychotherapie vor besonderen Herausforderungen: Als Sprachrohr für PsychotherapeutIn und KlientIn gleichermaßen müssen DolmetscherInnen neben Sprach- und Dolmetschkompetenz auch Einfühlungs‐ vermögen und hohe Flexibilität und Belastbarkeit mitbringen, um die ständige Gratwanderung zwischen Distanz und Nähe (Abgrenzung und Empathie) in der Psychotherapie zu bewältigen. Die Triade konstituiert einen Raum, in dem sprachliche und emotionale, aber auch gesellschaftliche, politische und soziale Dimensionen aufeinander treffen. Der Entwurf tragfähiger Rollenbilder in der Triade muss von einer umfassenden Diskussion begleitet sein, die auch und gerade die Perspektive der KlientInnen berücksichtigt. Bei der Psychotherapie handelt es sich um ein Setting, das auf größtmöglicher Verschwiegenheit und Exklusivität beruht. Bei den KlientInnen handelt es sich um Menschen, die Erfahrungen mit Krieg und Flucht, gegebenenfalls auch mit Folter gemacht haben und deren rechtlicher Status in Österreich zum Zeitpunkt der Psychotherapie in der Regel prekär ist. Als konstituierendes Element der psychotherapeutischen Triade erfüllen DolmetscherInnen eine wichtige Funktion bei der Verbesserung der psychischen Gesundheit der KlientInnen. Ziel der vorliegenden Auseinandersetzung mit dem Thema Dolmetschen in der Psychotherapie ist es, die Arbeit der DolmetscherInnen insgesamt sichtbarer zu machen und diese kommunikative Arbeitssituation, die einerseits äußerst intim ist und andererseits in einen brisanten gesellschaftspolitischen Kontext eingebettet ist, aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. Dabei sind individuelle Aspekte (psychische Belastung in der Arbeit mit Traumatisierten, Rollenverständnis) ebenso zu berücksichtigen wie kollektive und die Organisa‐ tion als Gesamtes betreffende Faktoren (Intervisions- und Supervisionstreffen etc.). Die Basis für die vorliegende Arbeit bildet eine von mir durchgeführte Interviewstudie, im Rahmen derer ich ausführliche, leitfadengestützte Tiefenin‐ terviews mit KlientInnen, PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen durch‐ <?page no="12"?> geführt habe. Bei den Befragten handelt es sich um Personen, die zum Zeitpunkt der Befragung als KlientInnen, DolmetscherInnen und PsychotherapeutInnen mit dem Zentrum für interkulturelle Psychotherapie in Tirol ANKYRA oder mit dem Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende HEMAYAT in Verbindung gestanden sind. Die Antworten der Befragten tragen zu einem ganzheitlichen Verständnis des beforschten Settings bei und geben Aufschluss über das gemeinsame Arbeiten in der Triade, zum einen im Hinblick auf die konkrete, angewandte Arbeitstechnik der DolmetscherInnen, zum anderen im Hinblick auf die Hin‐ zuziehung der DolmetscherIn, die allein durch ihre physische Präsenz einen maßgeblichen Einfluss auf die Gesprächssituation hat. Die Fragen betrafen die jeweilige Positionierung der Befragten in der Triade und ihre Wahrnehmung der Dolmetschtätigkeit. Die Aussagen der Befragten geben Einblick in die Dynamiken in der Triade (u. a. Allianzenbildung), das Rollenverständnis der DolmetscherInnen (Selbst- und Fremdwahrnehmung), den Umgang mit der Kulturexpertise der DolmetscherInnen sowie den Umgang mit der psychischen Belastung angesichts der Aufgabe, die DolmetscherInnen in diesem spezifischen Kontext zu bewältigen haben, nämlich traumatisierten Menschen eine Stimme zu verleihen. Im Kapitel 2 wird das Thema „Kultur“ im Kontext der Translationswissen‐ schaft sowie der Psychoanalyse und der Psychotherapie behandelt und ausge‐ hend davon die Frage nach dem „Fremden“ und dem „Eigenen“ gestellt. Kapitel 3 widmet sich dem Phänomen des Traumas und seinen individuellen und kollektiven Auswirkungen. Das hier verhandelte Thema befasst sich mit der psychotherapeutischen Arbeit mit traumatisierten KlientInnen, daher wird im Kapitel 3 auch auf das Thema Folter ebenso eingegangen wie auf die Dynamiken und Probleme innerhalb der Einrichtungen für Kriegs- und Foltertraumatisierte. Zwar sind die DolmetscherInnen nicht für die Organisation der eigentlichen Arbeit in solchen Zentren zuständig, insofern, als sie nicht befugt sind, orga‐ nisatorische, geschweige denn therapeutische Zielvorstellungen umzusetzen, dennoch bilden sie einen unverzichtbaren Teil des Teams und üben indirekt durch ihre Präsenz und ihre Kompetenz einen Einfluss auf das Arbeitsumfeld aus bzw. können von den Dynamiken im Team betroffen sein. Im Kapitel 4 erfolgt eine Verortung des Gegenstands im Kontext des Com‐ munity Interpreting, wobei auch auf die strukturellen Unterschiede im Vergleich zum Konferenzdolmetschen eingegangen wird. Die Spezifik des psychothera‐ peutischen Settings wird herausgearbeitet, ebenso die sich daraus ergebenden Implikationen für die berufsethischen Anforderungen an die darin arbeitenden DolmetscherInnen. Anschließend erfolgt ein Überblick über die angewandten 12 1 Einleitung <?page no="13"?> Methoden und thematischen Schwerpunktsetzungen in ausgewählten themen‐ relevanten Forschungsarbeiten sowie ein Ausblick auf die Forschungsdesiderata der vorliegenden Untersuchung. Das Forschungsprojekt wird im Kapitel 5 vorgestellt: methodische Überle‐ gungen, Datenerhebung und eine Reflexion der eigenen Rolle als Forscherin. In den darauf folgenden Kapiteln (6, 7 und 8) werden die jeweiligen Perspek‐ tiven der KlientInnen, der PsychotherapeutInnen und der DolmetscherInnen dargelegt. Anschließend folgt im Kapitel 9 eine Diskussion der gewonnenen Erkenntnisse. Es wird ein aus den gewonnenen Einsichten resultierendes Re‐ flexionsmodell vorgestellt, das PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen dabei helfen soll, über das prekäre Gleichgewicht in der Triade und den Dynamiken, denen sie ausgesetzt sind, laufend zu reflektieren. Dass traumatisierte Menschen die Gelegenheit bekommen, sich im Rahmen einer Psychotherapie in ihrer eigenen Sprache mitzuteilen und mit professio‐ neller Unterstützung Wege finden, um mit ihren traumatischen Erinnerungen umzugehen, sollte der Gesellschaft ein Anliegen sein, und zwar nicht nur im Hinblick auf die gesundheitliche Versorgung der betroffenen Bevölkerungs‐ gruppen, sondern auch im Hinblick auf die seitens der Politik häufig ins Treffen geführte und je nach ideologischen Prämissen mit unterschiedlichen Konnotationen aufgeladene Zielvorstellung von „Integration“. Aus der dolmet‐ schwissenschaftlichen Perspektive bieten die Aussagen der Befragten wertvolle Einblicke in ein spezifisches Einsatzgebiet für DolmetscherInnen, in denen diese besonders stark mit (zum Teil divergierenden) Erwartungshaltungen ihrer KlientInnen und daraus resultierenden Rollenidealen konfrontiert sind, sowie mit emotional aufgeladenen Gesprächssituationen und belastenden Inhalten. Aufbauend auf bereits durchgeführten Untersuchungen in diesem Bereich werden im Rahmen der vorliegenden Studie weiterführend und vertiefend die Dynamiken in der Zusammenarbeit zwischen PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen beleuchtet, um zu einer multiperspektivischen Sichtweise auf das Dolmetschen in der Psychotherapie zu gelangen, im Rahmen derer im Arbeitsalltag auftretende Probleme ebenso Berücksichtigung finden wie grundsätzliche Betrachtungen über das triadische Setting. 13 1 Einleitung <?page no="15"?> 2 Kultur und Interkulturalität Göhring schlägt ausgehend von kulturanthropologischen Definitionen (deren Zahl „in die Hunderte“ geht, 2007: 85) die folgende Definition für Kultur vor: Kultur ist all das, was man wissen, beherrschen und empfinden können muß, um beurteilen zu können, wo sich Einheimische in ihren verschiedenen Rollen erwar‐ tungskonform oder abweichend verhalten, und um sich selbst in der betreffenden Gesellschaft erwartungskonform verhalten zu können, sofern man dies will und nicht etwa bereit ist, die jeweils aus erwartungswidrigem Verhalten entstehenden Konsequenzen zu tragen. In dieser abgewandelten Definition wird der Unterschied zwischen passiver und aktiver Rollenkompetenz wie auch der Umstand berücksich‐ tigt, daß dem handelnden Subjekt jeweils die Option des erwartungskonformen und des abweichenden Verhaltens offensteht. Außerdem wird der Beobachtung Rechnung getragen, daß in manchen Gesellschaften das „akzentfreie“ Auftreten eines Ausländers als störend, als irgendwie „ungrammatisch“ empfunden wird, weil man dem „Fremden nicht nur eine gewisse „Narrenfreiheit“ zugesteht, sondern Interferenzerscheinungen in seinem Verhalten direkt erwartet. (Göhring: 2007: 108) Kultur wird hier also als eine Art Bringschuld des Lernenden definiert, als etwas, das man „wissen, beherrschen und empfinden können muß“, um zumindest die Wahl zu haben, sich „erwartungskonform“ zu verhalten, sofern man das will. Eine solche Definition richtet sich in erster Linie an Personen, die mit Menschen aus anderen Kulturen arbeiten können müssen, was auf DolmetscherInnen auf jeden Fall zutrifft. An einer anderen Stelle schlägt Göhring eine Kulturdefinition vor, die sich explizit an den Anforderungen, die an ÜbersetzerInnen und DolmetscherInnen gestellt werden, orientiert: Kultur, das ist all das, was ich wissen und woran ich glauben muß, um mich in der betreffenden Kultur wie ein Einheimischer in allen Rollen unauffällig bewegen zu können. Dieses Kulturverständnis zu erreichen, das müßte idealiter das Ziel des Dolmetschers und Übersetzers sein. D.h. er sollte die kognitiven Elemente, die emotionalen Tendenzen und die Glaubensinhalte der Zielkultur so weit kennenlernen, daß er mit ihren Mitgliedern weitgehend akzentfrei interagieren kann. (Göhring 2007: 85f.) Dass die DolmetscherIn „unauffällig“ zu sein hat, ist durchaus ein erstrebens‐ wertes Ideal, in letzter Konsequenz ist es jedoch selbstverständlich nicht er‐ <?page no="16"?> reichbar, und es ist zu vermuten, dass Göhring weniger eine Unauffälligkeit im Sinne der Unsichtbarkeit meint, als vielmehr eine Unauffälligkeit im Sinne einer gelungenen Anpassung - gelungen durch die Fülle an erworbenen Kenntnissen, die eine Wahlfreiheit ermöglicht: Nur derjenige, der weiß, welche Erwartungen an ihn gestellt werden, hat auch die Wahl, den Erwartungshorizont zu durch‐ brechen und gegebenenfalls die Konsequenzen dafür zu tragen. Wer nicht über die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt, muss unter Umständen Konsequenzen tragen, ohne zu verstehen warum. Göhring bietet zur Illustration des Kulturbegriffs zusätzlich eine Metapher an: Eine andere Definition, die ich gerne verwende, besagt, daß Kultur so etwas wie ein Schrank ist mit einer Fülle von Schubladen, in denen Problemlösungen lagern, mit denen die Kulturmitglieder an die Umwelt, an den Umgang mit den anderen und an den Umgang mit sich selbst herangehen. Der Übersetzer und Dolmetscher steht vor dem Problem, daß der Schrank, den er sich aufgrund der Einflüsse seiner Ursprungskultur gebastelt hat, in dem Moment, in dem er sich in den Bereich seiner Zielkultur begibt, aufhört, gültige Lösungen anzubieten. Der künftige Sprachmittler kann nicht umhin, sich noch einen zusätzlichen Schrank zu konstruieren und sich nun je nach Aufgabe in dem einen oder anderen Schrank zu bedienen. (2007: 86) Daraus ergibt sich, so Göhring, dass jemand, der den Dolmetschberuf ernst nimmt, nicht an dem Schicksal vorbekommt, „in gewissem Umfang ein marginal man zu sein, sowohl in seiner eigenen Kultur als auch in seiner Zielkultur bzw. seinen Zielkulturen“ (ebda, S. 86f.), ein Schicksal, das DolmetscherInnen bis zu einem gewissen Grad mit KulturanthropologInnen teilen. Im vorliegenden Kontext ist der Begriff „Zielkultur“ nicht als homogen zu begreifen: Eine Russisch-DolmetscherIn, die mit tschetschenischen KlientInnen arbeitet, ist nicht a priori mit der tschetschenischen Kultur vertraut (das gilt für zahlreiche andere Sprachen auch, die im Asylbereich nachgefragt sind), jedoch kann sie mit Hilfe ihrer Russisch-Kenntnisse Zugang zu der tschetschenischen Kultur gewinnen. Für translatorisches Handeln ist die kulturelle Dimension von entscheidender Bedeutung, indem sie alle gesellschaftlich bedingten Aspekte des mensch‐ lichen Lebens beinhaltet, und somit ist Translation immer auch als ein kultureller Transfer zu betrachten (vgl. Kadrić et al. 2012: 27 ff.). „Kultur entsteht aus dem Bedürfnis der Menschen, sich adäquat auf die Realität zu beziehen. Was als adäquat gilt, unterscheidet sich je nach Gesellschaft und den kollektiven Bedürfnissen dieser Gesellschaft“ (ebda., S. 29). Ergänzend zu dieser Begriffsdefinition und bezugnehmend auf das Thema Dolmetschen 16 2 Kultur und Interkulturalität <?page no="17"?> in der Psychotherapie sei angemerkt, dass eine Gesellschaft, ebenso wie eine Einzelperson, unterschiedliche Perioden durchläuft - eine Friedensperiode unterscheidet sich maßgeblich von einem Kriegszustand. Somit ist bei der Auseinandersetzung mit KlientInnen aus anderen Kulturkreisen unbedingt zu bedenken, dass deren Verhalten zum Teil sicherlich kulturell bedingt sein mag, zu einem anderen Teil jedoch auch von anderen Faktoren abhängig ist, wie Kriegserleben, Flucht, Migration, extreme Armut, Ungewissheit über den Aufenthaltsstatus, individuelle Aspekte etc. 2.1 Kulturelle Prototypen Hepp bietet eine Typologie der Kulturen mit vier Kategorien (2006: 56): - Hierarchische Kultur: Ständegesellschaften, Kastensysteme oder Bürokra‐ tien. Dieser Prototyp ist durch prinzipielle Ungleichheit zwischen den Mitgliedern gekennzeichnet. Die hierarchische Ordnung wird gegen Ver‐ änderungen verteidigt, da Stabilität höher bewertet wird als dynamische Entwicklung. - Individualistische Kultur: individualisierte Marktgesellschaften, marktbzw. wettbewerbsorientierte Unternehmungen. In solchen Kulturen muss jeder prinzipiell die Chance haben, jede Position einzunehmen, sofern er durch eine beobachtbare Leistung dazu in der Lage ist und sich im Wettbewerb durchgesetzt hat. Positionen können erworben werden, sind also nicht von vornherein gegeben und festgelegt. - Egalitäre Kultur: Basiskommunismus, frühe amerikanische Siedlerkul‐ turen, alternative Bewegungen. In solchen Gemeinschaften wird eine Gleichheit für alle Mitglieder postuliert. Jedes Mitglied kann theoretisch jede Position einnehmen, wobei Positionen weder vererbt, noch notwen‐ digerweise durch Leistung erworben werden. In solchen Kulturen wird gegen Bestrebungen, Ungleichheit herzustellen, aktiv vorgegangen. - Fatalistische Kultur: Bettler- oder Ausgestoßenenkulturen am unteren Ende der sozialen Skala, Gruppierungen von Künstlern und Intellektu‐ ellen am oberen, elitären Ende. Die Mitglieder einer fatalistischen Kultur sind nicht in feste Zusammenhänge eingebunden, sondern sind isoliert und gleichzeitig rigorosen Regelungen unterworfen. Die Mitglieder ver‐ fügen über Mechanismen, die ihr eigenes soziales und mentales Überleben innerhalb der Kultur gewährleisten. 17 2.1 Kulturelle Prototypen <?page no="18"?> 1 Um beim Beispiel Tschetschenien zu bleiben, sei an dieser Stelle beispielsweise darauf hingewiesen, dass zahlreiche KlientInnen in der Psychotherapie die vom Stalin-Regime angeordneten Deportationen des tschetschenischen Volkes nach dem Zweiten Welt‐ krieg thematisieren, da sie Verwandte haben, die diese Deportationen selbst noch erlebt haben oder von ihnen indirekt betroffen waren. In einem psychotherapeutischen Setting ist eine solche Information nicht bloß eine historische Randnotiz, sondern bildet eine Folie für ein besseres Verständnis für die Bedeutung von Krieg, Flucht, Vertreibung und Trauma im kollektiven Gedächtnis einer Familie oder einer ganzen Volksgruppe. Bei psychotherapeutischen Gesprächen spielt die kulturelle Verortung der KlientInnen, DolmetscherInnen und PsychotherapeutInnen eine wichtige Rolle, wobei mangelnde Kenntnisse über die Herkunft der KlientIn sicherlich zu klischeehaften und stereotypen Annahmen verleiten kann, etwa im Hinblick auf die Religiosität, Rolle der Frau, Ausprägung des Patriarchats etc. Wenn es in einer Psychotherapie darum geht, eine KlientIn kulturell zu verorten oder relevante Aussagen über ihren/ seinen kulturellen Hintergrund zu treffen, dann ist es notwendig, über den ethnischen, sprachlichen und länderspezifischen Kontext hinaus auch andere Faktoren zu berücksichtigen, wie etwa die soziale Stellung der Familie, ob die Sozialisierung im ländlichen oder im urbanen Raum erfolgte, Ausbildungs- und Bildungsniveau sowie sonstige Einflüsse: Beispielsweise ist ein tieferes Verständnis der Kulturen im postsowjetischen Raum ohne eine Berücksichtigung der sowjetischen Prägung nicht möglich. So stellt es wohl eine Verkürzung dar, etwa von einer „tschetschenischen Kultur“ zu sprechen (gekennzeichnet durch patriarchale, traditionelle Strukturen und einen hohen Stellenwert des Islams), ohne mitzubedenken, dass die meisten älteren Mitglieder der tschetschenischen Volksgruppe in ihrer Sozialisierung stark von sowjetischen Vorgaben betroffen waren, im Schulsystem, am Arbeits‐ platz, durch die Medien, durch die kulturelle Produktion und auch in anderen Sphären. In der Psychotherapie soll es nicht darum gehen, diese Einflüsse zu bewerten (oder zu entwerten), aber für ein umfassendes Verständnis der kulturellen Sozialisation einer KlientIn ist es von Bedeutung, auch historische, politische und gesellschaftliche Faktoren miteinzubeziehen. 1 2.2 Sprache und Kultur Sprache und Kultur sind untrennbar miteinander verbunden. Die Kultur findet in der Sprache ihren Ausdruck, und Sprache formt wiederum die Kultur. Somit geht das Erlernen einer Sprache unweigerlich mit dem Kennenlernen kultureller Gegebenheiten einher. Sprachkenntnisse ermöglichen idealerweise das Eintauchen in neue Kulturen, sowie im Gegenteil weitgehend gilt, dass 18 2 Kultur und Interkulturalität <?page no="19"?> mangelnde Sprachkenntnisse es Menschen verunmöglichen oder zumindest erschweren, am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen. Als das Medium, mit dem wir unsere Erfahrungen und Interpretationen der Realität kommunizieren, ist Sprache „ein wesentlicher Ausdruck und gleich‐ zeitig auch Träger der Kultur“ (Kadrić et al. 2012: 34), wenn auch nicht das einzige: paraverbale und nonverbale Mittel, Kleidung, Mimik und Gestik sind ebenfalls Elemente der Kommunikation, allerdings fällt es meistens nicht in den Zuständigkeitsbereich der DolmetscherIn, diese zu übertragen oder zu deuten, weil die GesprächspartnerInnen diese Deutung meist selbst vornehmen. Die Existenz sowie auch das Fehlen von Begriffen zeigen auf, welche Aspekte der Realität eine Kulturgemeinschaft wahrnimmt bzw. begreift und welche nicht. Gerade beim translatorischen Handeln entsteht ein Bewusstsein darüber, welche Begriffe und Wörter in einer Sprache „fehlen“ oder einer zusätzlichen Erklärung bedürfen. Die Assoziationen, die mit dem Begriff „Kultur“ einhergehen, sind im Span‐ nungsfeld zwischen Bereicherung und Bedrohung zu verorten, wobei man als Medienkonsument nicht umhin kann, derzeit eine Tendenz hin zum zweiteren zu beobachten. Im Kontext der dolmetscherunterstützen transkulturellen Psychotherapie kann die Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff nicht differenziert und sorgfältig genug geführt werden. Eine kultursensible Herangehensweise an die Anliegen der KlientInnen ist unabdingbar, zugleich birgt die Betonung (vermeintlich) kultureller Unterschiede immer auch das Risiko der Pauschalisie‐ rung, Klischeeisierung und Exotisierung in sich, sowie die Gefahr, soziale oder individuelle Faktoren zu kulturalisieren (also, der „Kultur“ der KlientInnen zu‐ zuschreiben) und damit die eigentlichen, zugrundeliegenden Zusammenhänge zu übersehen oder fehl zu interpretieren. Wenn „kulturelle Besonderheiten“ als Erklärung für unverständliches oder befremdliches Verhalten von Menschen aus anderen Ländern herangezogen werden, dann ist es notwendig zu differen‐ zieren, ob die genannte Verhaltensweise in der jeweiligen Kultur überhaupt sozial erwünscht, akzeptiert oder geächtet ist. Menschen, die beruflich mit der Thematik Asyl und Migration befasst sind, sind explizit oder implizit ständig mit der Anforderung konfrontiert, sich mit kulturellen (oder vermeintlich kulturellen) Aspekten auseinanderzusetzen, was eine kritische Reflexion der eigenen kulturellen Prägung unbedingt mit‐ einschließt. Das gilt insbesondere für DolmetscherInnen, die in mehrfacher Hinsicht eine vermittelnde Funktion an den Schnittstellen ausüben: 19 2.2 Sprache und Kultur <?page no="20"?> • zwischen Sprachen • zwischen Menschen in ihrer persönlichen Betroffenheit einerseits und Organisationen mit ihren jeweiligen „Organisationsstrukturen“ anderer‐ seits • zwischen den jeweiligen kulturell geprägten oder bedingten Verhaltens‐ mustern der involvierten GesprächspartnerInnen • zwischen der (scheinbaren) Arbeitsroutine der jeweiligen Organisation einerseits und dem (prolongierten und mitunter chronifizierten) Ausnah‐ mezustand im Leben der KlientInnen andererseits • zwischen jenen, die Hilfe/ Unterstützung benötigen, und jenen, die Hilfe/ Unterstützung gewähren (oder verweigern) Diese Auflistung ließe sich fortsetzen, denn in jedem einzelnen Gespräch, das eine DolmetscherIn im sogenannten Kommunalbereich ermöglicht und aktiv mitgestaltet, laufen zahlreiche Fäden zusammen, die Folge und Ausdruck politischer, ökonomischer, gesellschaftlicher, kultureller, individueller und psy‐ chologischer Realitäten und ihres jeweiligen Zusammenspiels sind. Es ist möglich, sich dem Begriff „Kultur“, der durchaus auch als politisch-ideo‐ logischer Kampfbegriff gebraucht werden kann, von unzähligen Seiten zu nähern. Im vorliegenden Kapitel soll der Fokus auf die Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff im psychotherapeutischen und psychoanalytischen Bereich gelegt werden. 2.3 Interkulturalität: psychoanalytische und psychotherapeutische Ansätze Immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund suchen therapeutische Hilfe oder bieten diese an. Insofern spiegelt sich die „multikulturelle Gesellschaft“ auch im Bereich der Psychotherapie und der Psychoanalyse als Therapieform wider (vgl. dazu Hörter 2011: 15). Die Erfahrungen aus der Praxis finden ihren Niederschlag in einschlägigen Konferenzen - erwähnt seien etwa die Sammelbände, in denen Beiträge zu den Kongressen des Dachverbands der transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im deutschsprachigen Raum zusammengefasst sind (Heise 2009, 2010, Golsabahi-Broclawski et al. 2014, sowie andere Werke, die aus der Theorie und Praxis der transkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie ent‐ standen sind: Hegemann et al. (2001, 2010) sowie weitere, wie z. B. Gün (2007), Gunsenheimer (2007), Apsel (1991), Reichmayr (2003), Wohlfahrt & Zamseil 20 2 Kultur und Interkulturalität <?page no="21"?> (2006). Lersner und Kizilhan (2017) haben eine intensive Auseinandersetzung mit Kulturkonzepten im Bezug auf die Psychotherapie sowie mit interkultureller Kompetenz in der psychotherapeutischen Arbeit vorgelegt. Zu erwähnen ist auch die Arbeit von Kristeva (1990), in der das eigene Unbewusste als etwas Fremdes im eigenen Inneren erkannt und akzeptiert wird, als Voraussetzung für eine respektvolle Begegnung mit dem Fremden außerhalb seiner selbst. Dass „Kultur“ sich auch als Kampfbegriff eignet, wurde bereits erwähnt. Im Vorwort zu Kathrin Hörters Arbeit zur Frage der Kultur und Interkulturalität in Theorie und Praxis der Psychoanalyse zieht der Sozialpsychologe Heiner Keupp eine Parallele zwischen Kultur und Identität: Mit der „Kultur“ scheint es eine ähnliche Bewandtnis zu haben wie mit der Identität. Damit soll etwas für Gruppen oder Personen Wichtiges benannt werden, zugleich kann daraus aber auch eine Waffe geschmiedet werden. Wenn von „Leitkultur“ die Rede ist, dann werden Zugehörigkeiten und Ausschließungen konstruiert. Und wenn dann der „Kampf der Kulturen“ (Huntington) ausgerufen wird, dann befinden wir uns mitten in einer militanten Arena. (Keupp in Hörter 2011: 11) Waffe, Leitkultur, Kampf der Kulturen, militante Arena - diese Stichworte als Auftakt zu Hörters umfangreicher Studie sind als ein Hinweis zu sehen, dass Interkulturalität auch im psychotherapeutischen Bereich nicht friktionsfrei vor sich geht, auch wenn davon auszugehen ist, dass sich PsychotherapeutInnen in ihrer Ausbildung intensiv mit der Positionierung des Individuums in (seiner) Kultur sowie in der Kultur an sich auseinandersetzen und somit einen hohen Grad an Kultursensibilität mitbringen. Hörter definiert Interkulturalität als „das Verhältnis oder auch die Beziehung zwischen einzelnen oder mehreren Kulturen“, gibt jedoch zu bedenken, dass die Kulturen an sich keine Beziehungen eingehen können, der Begriff der Interkulturalität sich also auf die Beziehung zwischen Menschen, die sich in verschiedenen kulturellen Kontexten verorten, bezieht (2011: 15). Als unter‐ schiedliche, ja geradezu entgegengesetzte Perspektiven zur Bewertung des interkulturellen Zusammenlebens, welches bereits eine alltägliche Erfahrung geworden sei, führt Hörter zum einen das essenzialistische Modell an, das von einer eher homogenen kulturellen Identität ausgeht (vgl. Huntington 2007), und zum anderen den im Konstruktivismus verorteten Kulturbegriff, der Kultur und kulturelle Identität als das Ergebnis von sozialen Verhandlungsprozessen versteht (vgl. Hall 1994). Dass Kultur etwas ist, das Probleme schafft oder ein Problem ist, hat nicht nur in der Psychoanalyse Tradition, dennoch möchte Hörter in ihrer Arbeit Kultur nicht als Problem verstanden wissen: „Vielmehr sollen die Fragen behandelt werden, die sich ergeben, wenn psychoanalytische 21 2.3 Interkulturalität: psychoanalytische und psychotherapeutische Ansätze <?page no="22"?> Theorie und Praxis unter dem Blickwinkel der kulturellen Differenz zwischen Menschen betrachtet werden“ (2011: 17). Dabei stützt sie sich auf Cultural Stu‐ dies, Konzepte der Postcolonial Studies und die Diskurstheorie nach Foucault, um das vermeintliche Wissen über Normalität und Abweichung zu hinterfragen und machtstrukturelle Aspekte zu thematisieren. Im Zusammenhang mit dem Thema „Dolmetschen in der Psychotherapie“ lohnt sich eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Macht. Foucault stellt die Frage, „Wie wird Macht ausgeübt? “ und unterscheidet zwischen Machtbeziehungen und Kommunikationsbeziehungen, wobei zweitere dazu dienen, über eine Sprache, ein Zeichensystem oder ein anderes symbolisches Medium Information zu übertragen. Im vorliegenden Kontext ist die folgende Feststellung Foucaults von Interesse: „Natürlich heißt Kommunizieren immer auch, in gewisser Weise auf den oder die anderen einzuwirken“ (2005: 252). Den Aspekt der Machtbeziehungen und die mögliche Einwirkung von Kommunika‐ tion auf das Gegenüber - den Klienten/ die Klientin - bewusst wahrzunehmen, zu reflektieren, gegebenenfalls durchaus auch kritisch zu hinterfragen ist eine implizite Anforderung, der sich DolmetscherInnen nicht entziehen sollten, auch wenn es nicht ihre Aufgabe ist, aktiv auf den kommunikativen Prozess einzuwirken. Hörter bietet einen Überblick über unterschiedliche Strömungen der Psycho‐ analyse und ihre Anwendungsbereiche und arbeitet heraus, wie die Psychoana‐ lyse eine Plattform für gesellschaftstheoretische Überlegungen bietet, ebenso wie praktische Anwendungsmöglichkeiten in der Medizin, dass jedoch eine Reduktion auf den praktischen Nutzen dem intellektuellen und gesellschaftli‐ chen Potenzial der Psychoanalyse nicht gerecht würde (2011: 70 ff.). Hörter beschäftigt sich mit dem „Fremden in der Psychoanalyse“ und betrachtet die Ethnopsychoanalyse durch die Brille der Cultural Studies, wobei sie auf Sigmund Freuds Werk Totem und Tabu aus dem Jahr 1912/ 13 verweist, Freuds erstes kulturtheoretisches Werk und zugleich jene Schrift, die das Fundament für die Verbindung von Ethnologie und Psychoanalyse darstellte. Darin befasst sich Freud mit Fragestellungen, die für die Ethnologen seiner Zeit relevant waren, unter anderem mit den Grundlagen des Tabus. 2.3.1 Identität im Kontext der Migration Der im Indien des Britischen Empire geborene und im Alter von 27 Jahren in die USA ausgewanderte Psychoanalytiker Salman Akthar setzt sich mit den 22 2 Kultur und Interkulturalität <?page no="23"?> 2 Die Übersetzerin aus dem Amerikanischen, Bettina Malka-Igelbusch, erklärt in einer Fußnote, wie sie damit umgegangen ist, dass im amerikanischen Original vorwiegend der Begriff „Immigration“ verwendet wird, während die übliche Entsprechung im Deut‐ schen „Migration“ lautet (Akhtar 2007: 27). Malka-Igelbusch hat sich dafür entschieden, an jenen Stellen, wo sowohl Ausals auch Einwanderung gemeint ist, den Ausdruck „Migration“ zu verwenden, sich aber ansonsten an den Begriff „Immigration“ zu halten, da der Autor auf die psychologische und kulturelle Entwicklung des Migranten nach der bereits erfolgten Einwanderung in ein neues Land eingeht. So lautet auch der Titel des Buchs „Immigration und Identität“. 3 Es kommt vor, dass männliche Klienten weiblichen Mitarbeiterinnen von Hilfseinrich‐ tungen den Händedruck oder den Blickkontakt verweigern. Das kann als respektlos empfunden werden, es ist aber nicht auszuschließen, dass der Klient gerade durch das Ausweichen des Blicks und des körperlichen Kontakts seinem Respekt Ausdruck verleiht; letztlich müsste man nachfragen, um herauszufinden, welche Absichten dahinter stehen. Auswirkungen der Migration 2 auf die Herausbildung der Identität auseinander. Akhtar befolgte den Ratschlag Freuds, den dieser im Anschluss an eine Vorle‐ sung dem Publikum ans Herz legte, nämlich die eigene Lebenserfahrung zu Rate zu ziehen oder sich an die Dichter zu wenden (2007: 23), und reflektiert in seinem Werk auch eigene Migrationserfahrungen und nimmt Anleihe bei Dichtern (unter anderem bei Joseph Brodsky), um etwa die Einsamkeit des Exilierten plastisch zu illustrieren. Akthar macht den kulturellen Aspekt an Dimensionen fest, die für das Individuum im alltäglichen Erleben spürbar sind: „Kleidung, Speisen, Sprache, Musik, Witz und Humor, politische Ideologien, Grad und Arten zulässiger Se‐ xualität, das Maß der Autonomie gegenüber familiärer Gebundenheit, den Preis für Selbstbehauptung gegenüber Zurückhaltung, das subjektive Zeitempfinden, das Maß und den Charakter der Kommunikation zwischen Geschlechtern und Generationen“ (2007: 41). Diese Faktoren sind es dann auch, die das Individuum nach erfolgter Migration schmerzlich vermisst. Die sogenannte eigene Kultur, also all das, was einen im Alltag umgibt, wird vielfach erst durch den Vergleich mit der anderen, neuen kulturellen Wirklichkeit erfahren. Umgekehrt gilt ebenso - und das betrifft auch die DolmetscherInnen, dass man mitunter erst im Kontakt mit den fremdländischen KlientInnen ein Bewusstsein über die eigenen kulturellen Standards, Grenzen und Freiräume entwickelt, und sei es auch nur im Hinblick auf Kleidung und Begrüßungsrituale 3 . Ein Fremder macht im Aufnahmeland unterschiedliche Erfahrungen. Ak‐ thar spricht von „gemischten Gefühlen“, die die Ankunft eines Neulings bei Alteingesessenen hervorzurufen vermag, Gefühle, die sich auf der Skala zwi‐ schen paranoider Furcht und Idealisierung bewegen (S. 46). Somit würden 23 2.3 Interkulturalität: psychoanalytische und psychotherapeutische Ansätze <?page no="24"?> Vorurteile und Fremdenhass einerseits und übertriebene Freundlichkeit (gefolgt von Enttäuschung und Ablehnung des Fremden) näher beieinander liegen, als man auf den ersten Blick glauben möchte, denn in beiden Reaktionsweisen manifestiert sich die Vorstellung, dass der Neuankömmling ein Träger für positive oder negative Projektionen ist: im positiven Szenario steht er für eine mögliche Weiterentwicklung der Gesellschaft, die einer Erneuerung bedarf, im negativen Szenario ist er ein Eindringling, der die vorhandenen wirtschaftlichen Ressourcen konsumiert und damit der bestehenden Gemeinschaft Schaden zufügt. Akthar zieht das Beispiel von Kafkas Roman Das Schloss heran, um das negative Szenario zu illustrieren: Der Landvermesser, der seine Arbeit im Schloss aufnehmen soll, ist mit massiver Feindseligkeit der Dorfbewohner konfrontiert. 2.3.1.1 Die Rolle physischer Merkmale Migranten bringen also ihre kulturellen Konventionen mit, bzw. das Wissen um diese; in erster Linie ist es aber ihr eigener Körper, den sie in ein anderes Land, einen anderen Sprachraum, einen anderen Kulturraum mitbringen. Akthar weist darauf hin, dass der Aspekt des menschlichen Körpers in der Auseinandersetzung mit dem Thema Migration weitgehend ausgeklammert wird. Die Hautfarbe bzw. die Reaktion der Alteingesessenen auf die Hautfarbe des Migranten spielt eine wichtige Rolle bei der Reorganisation der Identität in der Migration (S. 49f.). Dies trifft insbesondere auf Kinder zu. Daran anschließend ist festzuhalten, dass der Umgang mit dem eigenen Körper ebenfalls variieren kann und kulturellen aber auch modischen Trends unterliegen kann: Welche Anforderungen an die körperliche Fitness werden gestellt? Auch die Kleidungskonventionen spielen eine Rolle, insbesondere für Frauen: Ist es in einer Kultur „normal“, seinen Körper zur Schau zu stellen, oder ist es im Gegenteil sozial gefordert, die Haut und die Haare zu bedecken und damit vor fremden Blicken zu schützen? Einem Migranten bleibt es nicht erspart, seine eigene Haltung zu den mitunter divergierenden Anforderungen zu entwickeln. Des weiteren thematisiert Akthar das Geschlecht und kommt zu dem Schluss, dass Frauen tendenziell leichter Anschluss an eine neue Gesellschaft bzw. Gemeinschaft finden als Männer, was u. a. daran liegt, dass sie sich tendenziell mehr um Kinder kümmern und damit automatisch mit anderen Müttern und MitarbeiterInnen entsprechender Institutionen in Interaktion treten (müssen), was dazu führt, dass die Notwendigkeit, Informationen auszutauschen, und die Neugier über die Scham siegen (S. 52). 24 2 Kultur und Interkulturalität <?page no="25"?> 2.4 „Kulturelle Übersetzung“ Ein weiterer Ansatz, der hier nicht näher ausgeführt wird, sondern lediglich Erwähnung finden soll, ist die „kulturelle Übersetzung“. Dieser ist im Kontext des translational turn zu sehen, im Zuge dessen sich das Übersetzen allmählich aus dem linguistisch-textlichen Paradigma herauslöst und zu einem neuen Grundbegriff der Sozial- und Kulturwissenschaften entwickelt hat, mit dem eine Kulturpraxis in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeiten und Vernetzungen gemeint ist (Näheres zum translational turn vgl. Bachmann-Medick 2009: 238 ff.). Im Zuge dieses Ansatzes werden postmoderne und postkoloniale Ver‐ hältnisse reflektiert, ebenso die Auswirkungen des Englischen als hegemonialer Weltsprache, Sprachenkonflikte, Ausgrenzungen von Minderheitensprachen und Ähnliches. Kultur selbst wird als „ein Prozess der Übersetzung verstanden - auch im Sinne eines neuen räumlichen Paradigmas von Über-Setzung“ (S. 247), Kulturen konstituieren sich also in der Überlappung und in den Verflechtungen unter den ungleichen Machtbedingungen der Weltgesellschaft. Bei Buden & Nowotny (2008) wird der Begriff „kulturelle Übersetzung“ aus philosophischer und kulturtheoretischer Perspektive diskutiert, und zwar in Anlehnung an Walter Benjamins Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ vom Beginn der 1920-er Jahre. Die Autoren legen nun ihr Augenmerk auf die Perspektive der MigrantInnen, die sich in einer dramatisch realen Situation wiederfinden, die von der kulturtheoretischen Reflexion kaum berücksichtigt wird: Vielmehr sind sie (die MigrantInnen, Anm. M.D.) der kulturellen Übersetzung als einem ihnen vollkommen entfremdeten Prozess hilflos ausgeliefert, und zwar gewis‐ sermaßen als dessen rohes, menschliches Material. Doch vom Erfolg oder Misserfolg dieses kulturellen Übersetzens hängt ihr ganz konkretes existenzielles Schicksal ab. (Buden 2008: 12) Wagner versteht unter „kultureller Übersetzung“ die Übertragung von Vorstel‐ lungsinhalten, Werten, Denkmustern, Verhaltensmustern und Praktiken eines kulturellen Kontexts in einen anderen - eine Übertragung, bei der es also nicht um die Verschiedenheit von Sprachen geht und die auch durch literarische und filmische Repräsentation geleistet werden kann, aber auch durch Praktiken des täglichen Lebens und der Politik (2009: 1), und setzt sich kritisch mit der Aneig‐ nung des Begriffs „Übersetzung“ durch die Kulturwissenschaften auseinander. Wagner beschreibt den „Karriereweg“ der „kulturellen Übersetzung“ mit den „Stationen Emergenz, hegemoniale Präsenz und anschließender inflationärer Entwertung“ (ebda.) 25 2.4 „Kulturelle Übersetzung“ <?page no="26"?> Eine eingehende Beschäftigung mit diesem Begriff kann hier nicht erfolgen, es sei lediglich darauf hingewiesen, dass der Begriff „Übersetzung“ auch mit anderen Bedeutungen aufgeladen sein kann, was neue Räume für eine Ausein‐ andersetzung im Kontext der Kultur(en) eröffnet. 2.5 Das Fremde Erdheim beobachtet, dass das Fremde und das Eigene in einem ähnlichen Verhältnis zueinander stehen wie das Unbewusste und das Bewusste: Das, was unbewusst ist, tendiert zum Bewusstsein, wobei sich das Bewusstsein dagegen wehrt und dennoch davon geprägt wird. Fremd ist folglich das, was einen auf eine merkwürdige Weise betrifft, ohne dass man es kennt, und somit ist es eine Ambivalenz von Angst und Faszination, die das Verhalten gegenüber dem Fremden prägt und zugleich die Haltung zu sich selbst bestimmt (Erdheim 2000: 167). Erdheim spricht ebenso wie Akhtar (2007) davon, dass die Kategorie des Fremden immer eine positive oder negative Betroffenheit auslöst, dass dem Fremden also mit Angst und Faszination zugleich begegnet wird, sodass diese Ambivalenz aus dem Fremden eine ideale Projektionsfläche macht. Erdheim plädiert für ein dynamisches Konzept der Kultur, das der Interaktion zwischen dem Bekannten, Vertrauten und dem Fremden Rechnung trägt: „Kultur ist nämlich das, was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht; sie ist gewissermaßen das Produkt der Veränderung des Eigenen durch die Aufnahme des Fremden“ (2000: 178). Die Auseinandersetzung mit dem Fremden spielt sich in der Kunst, in der Wis‐ senschaft und in der Religion ab, indem die etablierten Strukturen versuchen, das Fremde für die eigene Kultur fruchtbar zu machen, neue Formen zu schaffen und die kulturellen Grenzen zu erweitern. Erdheim greift außerdem den von Freud thematisierten Antagonismus zwischen Familie und Kultur auf und stellt der Familie (Ort der Aufwachsens, der Tradition, der Intimität im Guten und im Bösen) den erweiterten Begriff der Kultur entgegen (Ort der Innovation, der Revolution, der Öffentlichkeit und der Vernunft) (S. 182). Mit diesem Antagonismus im Hinterkopf ist es möglicherweise leichter nachzuvollziehen, warum MigrantInnen, denen es nicht gelingt, in den Institutionen und in der Öffentlichkeit des Aufnahmelandes Fuß zu fassen, mitunter einen Rückzug in die familiären Strukturen und in die tradierten Lebensweisen antreten. Der Psychoanalytiker Günther Bittner beschäftigt sich mit dem Fremden in einem alltäglichen und elementaren Sinn und stellt die Frage, ob das „Eigene“ 26 2 Kultur und Interkulturalität <?page no="27"?> ausgeschaltet werden müsse, um „dem Fremdseelischen Raum zu geben“ (2000: 199). Einerseits muss ein Psychoanalytiker sich selbst gut kennen, um, verein‐ facht gesprochen, eigene Probleme nicht auf den Patienten zu projizieren. Andererseits läuft jemand, der sich nur mit seiner eigenen Thematik befasst, Gefahr, sich vom Fremden nicht berühren zu lassen, überall nur das Eigene zu sehen und nichts zu verstehen. Bittner fasst zusammen: „Verstehen, auch psychoanalytisches Verstehen, ist offenbar ein hochkomplexes Geschehen, bei dem der Rekurs auf das, was ich von mir selber kenne, ebenso bedeutsam ist wie die Bereitschaft, sich befremden zu lassen, d. h. wahrzunehmen, was ich von mir selber nicht kenne“ (2000: 202 f.). Diese Überlegung zum Phänomen des Verstehens ist für DolmetscherInnen ebenfalls von Relevanz, denn Verstehen ist immer ein komplexer Vorgang, für dessen umfassendes Gelingen die Kenntnis der Sprache nur eine notwendige, jedoch keine hinreichende Voraussetzung darstellt. 2.6 Exkurs: Vom Schweigen in der Kommunikation Auch das Schweigen ist nicht etwa das Gegenteil des Kommunizierens, sondern zählt zu den konstituierenden Elementen der Kommunikation. Die unterschied‐ liche Ausprägung von Gesprächigkeit oder Schweigsamkeit bei Individuen kann dem Einfluss der jeweiligen Kultur und der unterschiedlichen Konventionen beim Sprechen geschuldet sein. Atanasov & Göhring haben einen Vergleich zwischen den Sprechgewohnheiten in den USA und in Japan angestellt und kommen zu der Schlussfolgerung, dass in den USA Schweigen als eine feindse‐ lige Haltung aufgefasst werden kann - daher die Redewendung to give somebody the silent treatment als Ausdruck für Missbilligung und Zurückweisung (2007: 142), während es in Japan die Auffassung gibt, Sprechen sei ein „armseliger Ersatz für das intuitive Verständnis dessen, was in anderen Personen vorgeht“ (ebda., S. 147). Schweigen könnte in der japanischen Kultur also Empathie ausdrücken, aber auch Höflichkeit, Vorsicht, Angst, in ein Fettnäpfchen zu treten, oder den Wunsch, einem direkten Nein aus dem Weg zu gehen (ebda., S. 148). Das Sprechverhalten und die Bewertung des Schweigens bzw. des Aussprechens wird durch kulturelle Gegebenheiten beeinflusst, wie etwa den Zen-Buddhismus mit seiner positiven Bewertung des Schweigens in Japan einerseits (vgl. S. 151) und den Individualismus und die demokratische Tradition in den USA andererseits (vgl. S. 144). In der vorliegenden Arbeit wird das Schweigen im psychotherapeutischen Setting nicht eigens thematisiert, da DolmetscherInnen in diesem Kontext 27 2.6 Exkurs: Vom Schweigen in der Kommunikation <?page no="28"?> Schweigepausen lediglich respektieren und eventuell unterstützen sollen, indem sie etwaige eigene Interventionen wie z. B. Hüsteln oder nervöses Herumzappeln unterlassen, also dem Impuls widerstehen, eine als unangenehm empfundene Schweigepause zu „sabotieren“. Aus dem Schweigen der Klien‐ tInnen resultiert für die DolmetscherInnen also kein bestimmter Arbeitsauftrag. Dennoch kann es für die DolmetscherInnen wichtig sein, im Zusammenhang mit dem Schweigen ein Bewusstsein für folgende Aspekte zu entwickeln: Zum einen kann es die KlientInnen viel Überwindung kosten, gewisse (schambesetzte und / oder potenziell retraumatisierende) Inhalte zur Sprache zu bringen. Zum anderen ist das Schweigen aus der Sicht der TherapeutInnen durchaus brauch‐ bares Material, um Aufschluss über die Sprechgewohnheiten und über den emotionalen Zustand der KlientIn zu gewinnen. 2.7 „Das Unbehagen in der Kultur“ Das Arbeiten in der Psychotherapie bedeutet für DolmetscherInnen, sich mit einer Disziplin auseinanderzusetzen, deren Wirken darauf abzielt, seelisches Leid des Individuums zu lindern oder erträglich(er) zu machen. Es ist wichtig für DolmetscherInnen, diese Prämisse zu verinnerlichen oder zumindest im Hinterkopf zu behalten, um in der konkreten sprachlichen Arbeit möglichst adäquate Lösungen zu finden. Gespräche finden immer in einem größeren gesellschaftlichen Kontext statt, und so können DolmetscherInnen in ihrer Tä‐ tigkeit, die darauf abzielt, möglichst umfassend zu verstehen und anschließend das Verstandene verständlich zu machen, von einer tiefergehenden Kenntnis des psychotherapeutischen Umfelds nur profitieren. Sigmund Freuds 1930 erschienene Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ bietet auch heute eine äußerst aufschlussreiche Lektüre, fernab tagespolitischer Ak‐ tualität. Freud arbeitet darin unter anderem heraus, dass die Anforderungen der Kulturentwicklung häufig im Widerspruch zum Lustprinzip des Individuums stehen, was zu Neurosen führen kann. Freuds Schrift mag in der unmittelbaren interkulturellen Arbeit für DolmetscherInnen keinen besonderen Nutzwert genießen, dennoch bietet „Das Unbehagen in der Kultur“ trotz einer weitgehend eurozentrischen Perspektive ein wertvolles Prisma für die Betrachtung von Phänomenen und Interaktionen, die im gesellschaftlichen Miteinander zu beob‐ achten sind und deren Reflexion mitunter eine intellektuelle und emotionale Herausforderung darstellt, auch und gerade für DolmetscherInnen, die in der Regel keine Vorbereitung für die Arbeit in der Psychotherapie mitbringen. 28 2 Kultur und Interkulturalität <?page no="29"?> 2.7.1 Wege zur Linderung des seelischen Leids Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren. (…) Solcher Mittel gibt es vielleicht dreierlei: mäch‐ tige Ablenkungen, die uns unser Elend geringschätzen lassen, Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen. Irgend etwas dieser Art ist unerläßlich. (Freud 2007: 41) Freud führt Beispiele für die drei Wege zur Linderung des seelischen Leids an. Eine Ablenkung könnte etwa darin bestehen, seinen Garten zu bearbeiten oder auch sich der wissenschaftlichen Tätigkeit zu widmen. Ersatzbefriedigungen kann das Individuum in der Kunst finden, da die Phantasie einen hohen Stellenwert im Seelenleben genießt: Wer für den Einfluß der Kunst empfänglich ist, weiß ihn als Lustquelle und Lebens‐ tröstung nicht hoch genug einzuschätzen. Doch vermag die milde Narkose, in die uns die Kunst versetzt, nicht mehr als eine flüchtige Entrückung aus den Nöten des Lebens herbeizuführen und ist nicht stark genug, um reales Elend vergessen zu machen. (Freud 2007: 47) Neben den bereits angeführten Rauschmitteln ist es auch die Religion, der im menschlichen Leben die Funktion zukommen kann, Leid zu lindern. An dieser Stelle lohnt es sich, zwei Aussagen Freuds über die Religion („die Religionen der Menschheit“) im Originalwortlaut zu rezipieren: Eine besondere Bedeutung beansprucht der Fall, daß eine größere Anzahl von Menschen gemeinsam den Versuch unternimmt, sich Glücksversicherung und Lei‐ densschutz durch wahnhafte Umbildung der Wirklichkeit zu schaffen. Als solchen Massenwahn müssen wir auch die Religionen der Menschheit kennzeichnen. Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt. (Freud 2007: 48) Wer dann in späterer Lebenszeit seine Bemühungen um das Glück vereitelt sieht, findet noch Trost im Lustgewinn der chronischen Intoxikation, oder er unternimmt den verzweifelten Auflehnungsversuch der Psychose. Die Religion beeinträchtigt dieses Spiel der Auswahl und Anpassung, indem sie ihren Weg zum Glückserwerb und Leidensschutz allen in gleicher Weise aufdrängt. Ihre Technik besteht darin, den Wert des Lebens herabzudrücken und das Bild der realen Welt wahnhaft zu entstellen, was die Einschüchterung der Intelligenz zur Voraussetzung hat. Um diesen Preis, durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn gelingt es der Religion, vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen. (Freud 2007: 51) 29 2.7 „Das Unbehagen in der Kultur“ <?page no="30"?> Es ließe sich einwenden, dass solche grundsätzlichen Überlegungen, noch dazu aus dem Jahr 1930, wenig bis keine Relevanz für die heutige Arbeit von Dol‐ metscherInnen in der Psychotherapie haben können. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass die Religion, die im derzeitigen medialen und tagespolitischen Diskurs hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Thema Ter‐ rorismus diskutiert wird (Stichwort: „Islamismus“), im psychotherapeutischen Kontext einen anderen Stellenwert genießt, nämlich als eine Ressource, die das Potenzial hat, „vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen“ (s. o.). Es ist nicht unwichtig für DolmetscherInnen in der Psychotherapie, sich Gedanken über die Funktion der Religion unter dem Gesichtspunkt der individuellen Leidbewältigung zu machen, um von oberflächlichen und/ oder politisierten Bewertungen der Religionszugehörigkeit bzw. der Religiosität von KlientInnen abzusehen bzw. solche eigenen Bewertungen kritisch zu hinterfragen. Je besser DolmetscherInnen den radikal individuellen Zugang zum seelischen Leid des Klienten in der Psychotherapie nachvollziehen können, desto leichter fällt es ihnen, im Einklang mit den Zielvorstellungen und Abläufen einer Psycho‐ therapie zu agieren. Nicht zu unterschätzen sind nämlich die Auswirkungen eigener Widerstände und Ressentiments auf die Dolmetschleistung, daher stellt eine laufende Reflexion der eigenen Einstellungen (auch der politischen) für DolmetscherInnen in der Psychotherapie eine Notwendigkeit dar. Weitere Themen, die Freud in dieser bahnbrechenden kulturtheoretischen Schrift diskutiert, sind die Unverzichtbarkeit und Unerfüllbarkeit des Lustprin‐ zips, der Gegensatz von Kultur und individueller Freiheit, die Bildung größerer sozialer Gemeinschaften, in denen Arbeitsteilung und gegenseitige Abhängig‐ keit herrschen, sowie die Unterdrückung der Aggression, beziehungsweise die Verwendung unterdrückter Aggression zum Aufbau der Kultur durch die Umwandlung der Aggressionslust in Schuldbewusstsein. Das Zusammenspiel dieser und anderer, hier nicht genannter Komponenten sorgen für ein „Unbe‐ hagen in der Kultur“, mit dem das Individuum („eine Art Prothesengott“, Freud 2007: 57) den Preis für die Annehmlichkeiten des Lebens in einer „zivilisierten“ Gesellschaft bezahlt. 2.7.2 „Warum Krieg? “ In einer anderen Schrift, die im Kontext der transkulturellen Psychotherapie mit Kriegsüberlebenden ebenfalls nicht unerwähnt bleiben soll, beschäftigt sich Freud mit der Frage, warum die Menschheitsgeschichte von Kriegen geprägt ist. Bei dieser im Jahr 1932 erschienen Schrift mit dem Titel „Warum Krieg? “ handelt es sich um einen Brief, in dem Freud den Versuch unternimmt, Antworten 30 2 Kultur und Interkulturalität <?page no="31"?> auf eine Frage seines Zeitgenossen, des Physikers Albert Einstein zu finden: „Sie haben mich dann durch die Fragestellung überrascht, was man tun könne, um das Verhängnis des Krieges von den Menschen abzuwehren.“ (Freud 2007: 165). Freud stellt fest, dass Interessenskonflikte unter den Menschen prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt entschieden werden, was im Übrigen auch für das Tierreich gilt, wobei bei den Menschen noch die Meinungskonflikte hinzukommen, die einen hohen Grad der Abstraktion erreichen können. Die Gewalt wird gebrochen, indem die Gemeinschaft durch einen Zusammenschluss das gemeinsame Recht etabliert, sodass nicht mehr die Gewalt eines einzelnen sich durchsetzt, sondern die der Gemeinschaft. Die Macht wird also an eine größere Einheit übertragen. Dennoch währt der Friede nie lange, und es werden Konflikte zwischen „Stadtgebieten, Landschaften, Stämmen, Völkern und Reichen“ fast immer „durch die Kraftprobe des Krieges entschieden“ (2007: 169), was zu Beraubung, voller Unterwerfung oder Eroberung des einen Teils führt. Um dieses Phänomen zu erklären, führt Freud die Triebe des Menschen ins Treffen, die „nur von zweierlei Art sind, entweder solche, die erhalten und vereinigen wollen - wir heißen sie erotische, ganz im Sinne des Eros im Symposion Platos (…) - und andere, die zerstören und töten wollen; wir fassen diese als Aggressionstrieb oder Destruktionstrieb zusammen.“ (2007: 171). Freud enthält sich jedoch einer Wertung von Gut und Böse und postuliert: „Der eine dieser Triebe ist ebenso unerläßlich wie der andere, aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken der beiden gehen die Erscheinungen des Lebens hervor.“ Utopischen Vorstellungen eines friedlichen, aggressionsfreien Zusam‐ menlebens von Menschen, sei es in simplen Gesellschaftsformen als Naturvölker oder in ideologischen, beispielsweise bolschewistischen Zusammenhängen, erteilt Freud eine klare Absage und spricht in diesen Fällen von Illusionen. Es könne nicht darum gehen, die menschliche Aggressionsneigung völlig zu beseitigen, sondern man könne nur versuchen, sie so weit abzulenken, dass sie nicht ihren Ausdruck im Kriege finden müsse. Freud formuliert an einigen Stellen prägnant seine Überlegungen zum Krieg, die an Aktualität nichts eingebüßt haben, und es erscheint sinnvoll, diese Abschnitte ebenfalls im Originalwortlaut wiederzugeben, angesichts des Um‐ stands, dass in der vorliegenden Arbeit mit kriegstraumatisierten Menschen sowohl den PsychotherapeutInnen als auch den DolmetscherInnen eine Aus‐ einandersetzung mit dem Phänomen des Krieges nicht erspart bleibt und Freuds einschlägige Überlegungen eine wertvolle Kontextualisierung bieten, zumal jeg‐ liches Arbeit mit Flüchtlingen eine grundsätzlich pazifistische Weltanschauung voraussetzt, oder jedenfalls eine Haltung, die sich der Kriegslogik, die manchen 31 2.7 „Das Unbehagen in der Kultur“ <?page no="32"?> Menschen auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe das Existenzrecht abspricht, widersetzt. Warum empören wir uns so sehr gegen den Krieg, Sie und ich und so viele andere, warum nehmen wir ihn nicht hin wie eine andere der vielen peinlichen Notlagen des Lebens? Er scheint doch naturgemäß, biologisch wohlbegründet, praktisch kaum vermeidbar. Entsetzen Sie sich nicht über meine Fragestellung. (…) Die Antwort wird lauten, weil jeder Mensch ein Recht auf sein eigenes Leben hat, weil der Krieg hoffnungsvolle Menschenleben vernichtet, den einzelnen Menschen in Lagen bringt, die ihn entwürdigen, ihn zwingt, andere zu morden, was er nicht will, kostbare materielle Werte, Ergebnis von Menschenarbeit, zerstört und anderes mehr. Auch daß der Krieg in seiner gegenwärtigen Gestaltung keine Gelegenheit mehr gibt, das alte heldische Ideal zu erfüllen, und daß ein zukünftiger Krieg infolge der Vervollkommnung der Zerstörungsmittel die Ausrottung eines oder vielleicht beider Gegner bedeuten würde. (Freud 2007: 175) Die Erklärung, die Freud schließlich für die Empörung gegen den Krieg liefert, ist von verblüffender Schlichtheit: „Ich glaube, der Hauptgrund, weshalb wir uns gegen den Krieg empören, ist, daß wir nicht anders können. Wir sind Pazifisten, weil wir es aus organischen Gründen sein müssen.“ (2007: 176). Mit „organischen Gründen“ meint er den Umstand, dass der Prozess der Kulturentwicklung zu psychischen Veränderungen führt, indem eine fortschreitende Verschiebung der Triebziele und Einschränkungen der Triebregungen stattfinden. Es komme zu einer Erstarkung des Intellekts, die wiederum zu einer stärkeren Beherrschung des Trieblebens führt, sowie zu einer Verinnerlichung der Aggressionsneigung. Weiter führt Freud aus: Den psychischen Einstellungen, die uns der Kulturprozeß aufnötigt, widerspricht nun der Krieg in der grellsten Weise, darum müssen wir uns gegen ihn empören, wir vertragen ihn einfach nicht mehr, es ist nicht bloß eine intellektuelle und affektive Ablehnung, es ist bei uns Pazifisten eine konstitutionelle Intoleranz, eine Idiosynkrasie gleichsam in äußerster Vergrößerung. (…) Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die anderen Pazifisten werden? Es ist nicht zu sagen, aber vielleicht ist es keine utopische Hoffnung, daß der Einfluß dieser beiden Momente, der kulturellen Einstellung und der berechtigten Angst vor den Wirkungen eines Zukunftskrieges, dem Kriegführen in absehbarer Zeit ein Ende setzen wird. Auf welchen Wegen oder Umwegen, können wir nicht erraten. Unterdes dürfen wir uns sagen: Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg. (Freud 2007: 176 f.) 32 2 Kultur und Interkulturalität <?page no="33"?> Gegen den Krieg arbeiten, besser gesagt gegen die verheerenden psychischen, emotionalen und sozialen Folgen des Krieges arbeiten - das ist sicherlich mit ein Gesichtspunkt, unter dem die Arbeit von PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen im Rahmen der transkulturellen Psychotherapie mit Kriegs- und Folterüberlebenden zu betrachten ist. 2.8 Abschließende Bemerkungen Die in diesem Kapitel angeführten Werke können lediglich eine Idee von der Vielfalt der Auseinandersetzung mit dem Thema Kultur im Kontext der Psychoanalyse und der unterschiedlichen psychotherapeutischen Richtungen vermitteln. Der psychoanalytische Blick auf die Verortung des Individuums in der Kultur (bzw. in den Kulturen) und auf die interkulturelle Kommunikation kann für die Translationswissenschaft eine Bereicherung darstellen, zum einen auf Grund der Miteinbeziehung gesellschaftlicher Mechanismen und zum an‐ deren auf Grund der Fokussierung auf das Individuum und seine ökonomischen, sozialen, kulturellen, intellektuellen und emotionalen Bedürfnisse. Die Lektüre einschlägiger theoretischer Abhandlungen und praktischer Erfahrungsberichte legt den Schluss nahe, dass es in der konkreten Arbeit mit Menschen aus anderen Ländern (und Kulturen) in erster Linie darauf ankommt, einen Zugang zum Eigenen (also auch zu den eigenen Vorurteilen) zu finden, um einen respektvollen Umgang mit dem „Fremden“ (welches durch die zunehmende Annäherung immer vertrauter und somit weniger fremd wird) zu ermöglichen. Für einen solchen Prozess sind Lernbereitschaft und Lernfähigkeit unabdingbar. 33 2.8 Abschließende Bemerkungen <?page no="35"?> 3 Trauma: individuelle und kollektive Auswirkungen Das interkulturelle psychotherapeutische Setting, von dem in der vorliegenden Arbeit die Rede ist, bezieht sich auf die Behandlung kriegs- und foltertrauma‐ tisierter Menschen. Trauma als nachhaltig wirksame körperliche und/ oder seelische Verletzung ist ein vielschichtiges Phänomen, das durch die sogenannte Flüchtlingskrise der letzten Jahre zunehmend an gesellschaftlicher Wahrneh‐ mung und Brisanz gewinnt. Ich werde mich im Folgenden auf jene Aspekte beschränkten, die für DolmetscherInnen, die in der Psychotherapie mit kriegs- und foltertraumatisierten Menschen arbeiten, von Relevanz sein können. Das folgende Zitat der Traumatherapeutin Michaela Huber soll ein Schlag‐ licht darauf werfen, was therapeutisches Arbeiten mit traumatisierten Men‐ schen bewirken kann bzw. bewirken können soll: Es gibt wohl keine intensivere Begegnung als die in der Therapie mit Menschen, die nach Erfahrungen, welche ihnen buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen haben, wieder versuchen, ins Leben zurückzufinden. Oder, wie es bei vielen früh und langjährig traumatisierten Frauen und einigen Männern der Fall ist, mit denen ich meistens arbeite: Die überhaupt zum ersten Mal entdecken, wie äußere Sicherheit sich anfühlen, wie Lebensfreude schmecken kann. Sie dabei zu begleiten, sich zu der Persönlichkeit zu entwickeln, die erst einmal gewaltsam blockiert oder zersplittert wurde, und die dann gereift und mit der Fähigkeit, nach innen beschützend und nach außen wehrhaft zu sein, ihr eigenes Potenzial entfalten kann - das ist eine große Freude. So herausfordernd und oft anstrengend diese Arbeit ist, sie verändert beide Beteiligten, und wenn es gelingt, bereichert sie und ist jeder Mühe wert. (Huber 2005: 18) Hier ist die Rede von den „beiden Beteiligten“, Huber meint also die klassische Dyade (TherapeutIn und KlientIn), dennoch ist in diesem Zitat vieles enthalten, was DolmetscherInnen verinnerlichen oder begreifen sollten, um die therapeu‐ tische Haltung gegenüber den z.T. schwer traumatisierten KlientInnen erkennen und so weit mittragen zu können, wie es nötig ist, um die therapeutische Kommunikation zu ermöglichen. Das therapeutische Setting hat unter anderem die Funktion, ein Gefühl der Sicherheit zu evozieren - DolmetscherInnen sind an der Herstellung einer solchen Atmosphäre maßgeblich beteiligt, sowohl im Rahmen einer einzelnen Stunde als auch in der Kontinuität, als langfristige, wenn auch prekär beschäftigte MitarbeiterInnen in Einrichtungen für Behand‐ lung von Kriegs- und Folterüberlebenden. <?page no="36"?> 4 Im Vorwort zu Hubers Buch räumt die Psychoanalytikerin Luise Reddemann ein, dass die Behauptung, die Beschäftigung mit Traumata und deren Folgen sei „eine Mode geworden“, nicht ganz von der Hand zu weisen ist (Reddemann in Huber 2005: 13). 3.1 Definition Auch wenn die Begriffe Trauma und davon abgeleitete Adjektive („trau‐ matisiert“, „traumatisch“) mitunter inflationär oder gedankenlos verwendet werden 4 , so ist Trauma keineswegs ein neumodisches Phänomen, sondern reicht in die Antike zurück (Smolenski 2006: 7 f.). Smolenski bietet einen Überblick über die historische Entwicklung der Traumatherapie und erwähnt u. a. entsprechende Schilderungen bei Homer über Achilles, die auf eine psychotraumatische Symptomatik hinweisen. Im 20. Jahr‐ hundert waren es insbesondere die beiden Weltkriege, die zu massenhaften Traumatisierungen führten. Nach dem 2. Weltkrieg war das Sprechen über die traumatischen Erlebnisse deutscher Soldaten und der Zivilbevölkerung jedoch zunächst noch tabuisiert, und erst als die zahlreich auftretenden posttrauma‐ tische Belastungsstörungen bei Rückkehrern aus dem Vietnam-Krieg auch medial Beachtung fanden, gab es neue Entwicklungsimpulse für die Traumabe‐ handlung. Die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung fand 1980 Eingang in das „Diagnostic and statistical manual of mental disorders“, und 1992 wurde dieses Krankheitsbild in die ICD-10 („International classification of diseases, injuries and causes of death“) der Weltgesundheitsorganisation WHO aufgenommen (vgl. Smolenski 2006: 15). Darin wird Trauma folgendermaßen definiert: (…) ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (z. B. Naturkatastrophe oder menschlich verursachtes schweres Unheil - man-made disaster - Kampfeinsatz, schwerer Unfall, Beobachtung des gewaltsamen Todes Anderer oder Opfersein von Folter, Terrorismus, Vergewaltigung oder anderen Verbrechen). (ICD-Code, Stand 25.5.2017) Die Rede ist also von einem Ereignis, bei dem die natürlichen Schutzmecha‐ nismen versagen, weil es keine Möglichkeit gibt, sich den äußeren (gewalt‐ samen) Einwirkungen zu entziehen. Der Mensch erlebt Hilflosigkeit und Ohnmacht, mitunter auch Scham, in einem extremen Ausmaß. Wie es in der Definition heißt, würden diese Ereignisse „bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen“, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die KlientInnen nicht im eigentlichen Sinne „krank“ sind, jedenfalls nicht notwendigerweise, sondern von krankmachenden Ereignissen und Erlebnissen so schwer gezeichnet sind, 36 3 Trauma: individuelle und kollektive Auswirkungen <?page no="37"?> dass die Symptome über das Ereignis hinaus sich immer wieder bemerkbar ma‐ chen können. Dabei ist von Menschen verursachtes Unheil psychisch schwerer zu bewältigen als Naturkatastrophen, weil sich im ersten Fall stets Fragen von Schuld, Unrecht, Gerechtigkeit oder Rache stellen, ebenso wie die tendenziell mit Selbstvorwürfen behaftete Frage, ob es möglich gewesen wäre, das trauma‐ tische Ereignis zu vermeiden (wenn man sich rechtzeitig zur Flucht entschlossen hätte, wenn man dies oder jenes getan oder unterlassen hätte). Zobel empfiehlt bei der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung mit einem Zahlenstrahl zu arbeiten, also einer Skala, um das Ausmaß der Belastung besser einschätzen zu können, bzw. die Auswirkungen des Traumas im Hier und Jetzt. Um vage Aussagen zu vermeiden (wie „ein bisschen“, „kaum“ oder „sehr viel“), empfiehlt Zobel, die Frage folgendermaßen zu formulieren: „Wenn Sie heute an dieses Ereignis denken, wie belastend empfinden Sie es auf einer Skala von 0 bis 10, wobei 0 bedeutet ’keine Belastung, neutral‘ und 10 ‚die für Sie maximal vorstellbare Belastung‘? “ (2006: 33). Zobel betont, dass es aus der Sicht des Psychologen wichtig ist, nicht nur auf den Inhalt des erzählten Ereignisses zu achten, sondern auch darauf, wie erzählt wird: Kann der Patient den Ablauf schildern, ohne dass es zu Affekten kommt? Kann der Patient Anfang, Verlauf und Ende schlüssig berichten? Erscheint das Erlebnis und die Art, wie der Patient es schildert, kongruent? Gibt es Hinweise darauf, dass er Patient aufkommende Emotionen unterdrückt? (2006: 34). Es ist notwendig, dass DolmetscherInnen in der Psychotherapie diesen Anspruch an die Gesprächsqualität nachvollziehen können: Es zählt nicht nur das, was gesagt wird, sondern auch, wie es gesagt wird. 3.1.1 Trauma oder belastendes Lebensereignis? Huber legt Wert auf eine Unterscheidung zwischen einem Trauma und einem belastenden Lebensereignis (2005: 37 ff.): Auch wenn innere Konflikte großen Stress bedeuten können, ist ein Trauma davon zu unterscheiden, nämlich dahingehend, dass es sich bei traumatisierenden Erlebnisse um „tatsächliche, extrem stressreiche äußere Ereignisse“ handelt (Huber 2005: 38). Die Überflutung mit „aversiven Reizen“ überfordert sämtliche Bewältigungsmechanismen des Opfers und verändert das Leben für immer. „Von jetzt an wird es nie mehr so sein wie zuvor“ (2005: 41) - diesen Aspekt gilt es zu verstehen, um begreifen zu können, warum die Traumatisierung eine Zäsur im Leben des Opfers (bzw. des Überlebenden) darstellt und warum Traumatherapien oft mehrere Jahre in Anspruch nehmen und weshalb selbst nach Abschluss einer Therapie, die 37 3.1 Definition <?page no="38"?> 5 Dazu sei angemerkt, dass die unfreiwillig erfolgte Flucht, die also durch Vertreibung ausgelöst wird, an sich ein traumatisierendes Ereignis darstellt, denn eine „Flucht vor der Flucht“ würde ja bedeuten, dass es eine Möglichkeit gibt, die Flucht zu vermeiden. 6 Krieg und Flucht sind im Asylbereich die zwei wichtigsten Faktoren, die als traumati‐ sierend und damit auf die Psyche nachhaltig wirksam angenommen werden. Es sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass im Laufe einer Psychotherapie durchaus auch andere als traumatisierend erlebte Inhalte zur Sprache kommen können, abseits von Krieg und Flucht, wie etwa Gewalt in der Familie, Verlust nahe stehender Menschen (durch natürlichen Tod), anhaltende Armut und Perspektivlosigkeit u.v.m. man als „gelungen“ bezeichnen kann, nicht davon auszugehen ist, dass die Wirkkräfte des Traumas für immer gebannt sind. Ereignisse, die mit tödlichen Bedrohungen einhergehen, lösen einen von zwei Reflexen aus: fight or flight. Ob Menschen eher mit Fluchtversuchen oder Kampfbereitschaft reagieren, scheint situations- und personenspezifisch ausgeprägt zu sein. Huber äußert die Vermutung, dass Frauen tendenziell eher zur automatischen Fluchtreaktion neigen, während Männer eher auf aggressives Verhalten zurückgreifen (2005: 43). Traumatisierend ist ein Ereignis dann, wenn die oben genannten Reaktions‐ möglichkeiten Kampf oder Flucht 5 nicht mehr gegeben sind und die überwälti‐ gende Einwirkung von außen hingenommen werden muss. Die Fachausdrücke dazu lauten freeze und fragment (ebda.): Freeze meint eine Lähmungsreaktion und eine Entfremdung vom Geschehen. Mit Fragment ist gemeint, dass die Erfahrung zersplittert wird und dass es keine zusammenhängende Erinnerung mehr an das äußere Ereignis gibt. Ein solches Ereignis bzw. eine länger andauernde traumatisierende Situation oder eine Kette von Ereignissen und Situationen können zur Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung führen. 3.2 Posttraumatische Belastungsstörung 3.2.1 Definition und Symptome Für DolmetscherInnen, die mit kriegs- und fluchttraumatisierten 6 Menschen arbeiten, ist es von Vorteil, sich zumindest in groben Zügen mit den psychothe‐ rapeutischen Konzepten im Hinblick auf die Posttraumatische Belastungsstö‐ rung vertraut zu machen, zum einen, um ein umfassenderes Verständnis von der Problematik der KlientInnen zu erlangen, und zum anderen, um die Fragen und Interventionen der PsychotherapeutIn besser nachvollziehen (und also präziser in der anderen Sprache wiedergeben) zu können. 38 3 Trauma: individuelle und kollektive Auswirkungen <?page no="39"?> Auf körperlicher Ebene macht sich eine Posttraumatische Belastungsstörung durch massive Schlafstörungen bemerkbar - daher drehen sich psychothera‐ peutische Gespräche häufig um dieses Thema, und es wird gemeinsam mit der KlientIn versucht, sämtliche Möglichkeiten auszuloten, die Schlafprobleme in den Griff zu bekommen und auf diese Weise dem Organismus zu der dringend notwendigen Regeneration zu verhelfen. Einige Symptome, die vermutlich auf eine manifeste Depression hindeuten, können für DolmetscherInnen von konkreter Relevanz sein, nämlich dann, wenn die KlientInnen so antriebs- und teilnahmslos sind, dass der depressive Gesamtzustand sich auf ihre Sprechfähig‐ keit auswirkt: Es kommt vor, dass KlientInnen auf Grund ihrer schlechten psy‐ chischen Verfassung sehr leise sprechen und dadurch kaum verständlich sind, wodurch die Gefahr steigt, dass es zu Missverständnissen kommt. In solchen Fällen ist es wichtig, die PsychotherapeutIn auf diese Problematik hinzuweisen, und nicht etwa zu versuchen, auf eigene Faust zu erraten, was gesagt wurde. Eine deutschsprachige PsychotherapeutIn ist möglicherweise nicht in der Lage selbst abzuschätzen, wie stark die Sprechfähigkeit der depressiven KlientIn in Mitleidenschaft gezogen wurde, und ist in diesem Fall auf die Expertise der DolmetscherIn angewiesen. Mehrmaliges Nachfragen mag aus der Sicht der DolmetscherIn unangenehm sein, ist jedoch dem Impuls, den Inhalt auf gut Glück zu erraten und zu ergänzen jedenfalls vorzuziehen. Es ist die Aufgabe der PsychotherapeutIn, sich ein möglichst genaues Bild vom psychischen Zustand der KlientIn zu machen. Dazu gehört die oben erwähnte körperliche Ebene (Schlaf, Nahrungsaufnahme, Energiehaushalt, Ge‐ sundheitszustand), aber auch die Frage nach der Konzentrationsfähigkeit und dem Umgang mit belastenden Erinnerungen: Können diese kontrolliert werden, oder ist die KlientIn ihren Erinnerungen mitunter hilflos ausgeliefert? Um über alle diese Aspekte so umfassend wie möglich informiert zu sein, muss die PsychotherapeutIn in der Regel viele Fragen stellen, denn die KlientInnen sind sich ihres eigenen Zustands meistens gar nicht bewusst und reflektieren oft erst als Reaktion auf das Nachfragen der PsychotherapeutIn über ihre etwaigen Fehlleistungen im Alltag (z. B. an der falschen Station aussteigen in öffentlichen Verkehrsmitteln etc.) und ihren Umgang mit Erinnerungen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO beschreibt eine Posttraumatische Belastungsstörung folgendermaßen: Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Men‐ schen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermei‐ 39 3.2 Posttraumatische Belastungsstörung <?page no="40"?> 7 In der psychotherapeutischen Praxis habe ich häufig die Beobachtung gemacht und diese auch mit den jeweiligen PsychotherapeutInnen besprochen, dass KlientInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die den Balkankrieg Anfang der Neunziger Jahre erlebt haben, ihre Kriegs- und Fluchttraumata psychotherapeutisch bearbeitet haben und ein relativ „normales“ Leben führen, mit großer Erschütterung auf Fernsehberichte über Terroranschläge (z. B. in Paris, im November 2015) reagiert haben. Grund dafür ist wohl eine Mischung aus sekundärer Traumatisierung (durch Zeugenschaft) und Retraumati‐ sierung (Wiedererleben eigener Traumata), trotz des beträchtlichen zeitlichen Abstands von über zwanzig Jahren. dung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzstei‐ gerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung über. (ICD-Code, Stand 25.5.2017) Bei Huber sind u. a. folgende posttraumatische Belastungsreaktionen angeführt: Angstzustände und Schreckhaftigkeit, Alpträume und Schlafstörungen, häu‐ figes Wiedererleben von Teilen des Traumas, Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma zu tun haben, Gefühle von Empfindungslosigkeit, Einsamkeit, Entfremdung von Nahestehenden, Kontaktunwilligkeit, Beeinträchtigung der Wahrnehmung der Umwelt, des eigenen Körpers, der eigenen Gefühle, Kon‐ zentrations- und Leistungsstörungen (Huber 2005: 68). Eine kompakte Zusam‐ menfassung des Erscheinungsbilds der posttraumatischen Belastungsstörung ist auch bei Vogelgesang zu finden (2006: 68 ff.), ebenso bei Preitler (2006: 157 ff.). Zu bedenken ist, dass Menschen lange Zeit nach dem Trauma gut funk‐ tionieren können, so als hätten sie das Trauma gut integriert; eine erneute Traumatisierung, ausgelöst durch einen Trigger 7 (z. B. durch einen Jahrestag des traumatischen Ereignisses) kann zum Ausbruch der Posttraumatischen Belastungsstörung führen (Huber 2005: 70). Die Ungewissheit eines langwierigen Asylverfahrens, das wie ein Damokles‐ schwert über den Asylwerbern schwebt und dem sie trotz rechtlichen Beistands im Grunde genommen hilflos ausgeliefert sind, kann wie eine erneute Trauma‐ tisierung wirken, ebenso ein Gefängnisaufenthalt im Rahmen der Schubhaft. 40 3 Trauma: individuelle und kollektive Auswirkungen <?page no="41"?> 8 HEMAYAT: Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende. Näheres dazu siehe: http: / / www.hemayat.org/ , Stand April 2021 3.2.2 Folter und Trauma „Folter bedeutet absoluten Kontrollverlust, daher ist es in der Arbeit mit diesen Menschen notwendig, ihnen möglichst viel Autonomie und Kontrollmöglichkeit einzuräumen“, stellt die in der Traumaarbeit erfahrene HEMAYAT 8 -Psychothe‐ rapeutin Preitler (2006: 165) fest und macht diese Kontrolle unter anderem an folgenden konkreten Faktoren fest: Da der Raum der Therapie oft der erste Ort für einen traumatisierten Menschen ist, in dem die Angst keinen Zutritt hat, braucht es Zeit, bis Vertrauen entstehen kann; daher soll den KlientInnen die Möglichkeit eingeräumt werden, den TherapeutInnen und auch den Dolmetscherinnen Fragen zu stellen, sie dürfen sich ihren Platz im Raum selbst aussuchen und gegebenenfalls auch die Lichtsituation im Raum kontrollieren, also beispielsweise die Vorhänge zuziehen. Für DolmetscherInnen kann es hilfreich sein, Bescheid zu wissen, warum KlientInnen solche Vorrechte eingeräumt werden und warum sie, die DolmetscherInnen, sich beispielsweise nicht einfach so, wie in einer anderen, alltäglicheren Situation ihren Sitzplatz selbst aussuchen dürfen. Marcussen plädiert dafür, die Folter stets vor dem Hintergrund der ge‐ sellschaftlichen Verhältnisse und der globalen Widersprüche zu reflektieren: Welche Ziele verfolgten die Folterer? Welche Methoden wurden angewandt? (Marcussen 1990: 67 ff.). Der durch die Folter zugefügte psychische Schmerz, die Ungewissheit, die Angst, die Demütigungen, die Drohungen und der Um‐ stand, aller mitmenschlichen Kontaktmöglichkeiten beraubt zu sein, scheinen schlimmer als die offensichtlichen körperlichen Folgen zu sein (1990: 71). Rauchfleisch bietet in seinem Beitrag einen Überblick über unmittelbare Reaktionen auf das Foltererlebnis, so wie auf die Kurzzeitfolgen und Spätfolgen (Rauchfleisch 1990). Wertvolle Praxiserfahrungen von erfahrenen ExpertInnen aus den Gebieten der Psychologie, Psychotherapie, Medizin und Sprachwissen‐ schaften sind bei Siroos & Schenk (2010) nachzulesen. Aus der Sicht der DolmetscherInnen ist im Zusammenhang mit dem Thema Folter wichtig nachvollziehen zu können, warum bei Folterüberlebenden ein besonders behutsames Vorgehen in der Therapie notwendig ist, warum es mitunter sehr viel Zeit und Geduld braucht, bis mit Folter im Zusammenhang stehende Inhalte zur Sprache gebracht werden können und also zum Gegenstand in der Therapie werden. 41 3.2 Posttraumatische Belastungsstörung <?page no="42"?> 3.3 Arbeiten mit traumatisierten Menschen 3.3.1 Die therapeutische Beziehung und Therapieziele Die knappe Beschreibung einer therapeutischen Beziehung bei Vogelgesang kann für DolmetscherInnen in diesem Kontext hilfreich sein: Die Einhaltung der adäquaten Distanz prägt die therapeutische Beziehung entschei‐ dend mit: Sie ist je nach den situativen Erfordernissen flexibel zu gestalten. Absolut zu meiden sind jedoch die folgenden beiden Extrempole: einerseits die Überidentifi‐ kation, die unter völliger Selbstaufgabe und evtl. sogar bei Überschreiten der profes‐ sionellen Grenzen den Patienten um jeden Preis retten möchte, sowie andererseits die übergroße Distanzierung, die ein echte Beziehung erst gar nicht entstehen lässt. (2006: 71) Es ist unabdingbar für DolmetscherInnen in diesem Kontext, die Charakteristik und Spezifik einer therapeutischen Beziehung nachvollziehen und mitgestalten zu können: Die Mitgestaltung kann sowohl durch aktive Teilnahme erfolgen, als auch durch bewusste Zurückhaltung und Unterlassungen. Das Ringen um die „adäquate Distanz“, die Vermeidung einer „Überidentifikation“ ebenso wie einer „übergroßen Distanzierung“ sind Anforderungen, die die DolmetscherInnen im gleichen Maße wie die PsychotherapeutInnen betreffen. Eine „Grenzen überschreitende Verschwesterung mit den Betroffenen“ sei nicht nur unprofes‐ sionell, sondern auch im höchsten Grade dysfunktional (S. 72). Vogelgesang spricht außerdem davon, dass die Arbeit mit traumatisierten Menschen auch für die Therapeutin sehr belastend sein kann und sowohl von menschlicher als auch von professioneller Seite her besondere Anstrengungen verlangt, da die eigene Welt- und Selbstsicht entscheidend verändert werden kann und auch eigene traumatische Erfahrungen aktualisiert werden können. Eine gute Ausbildung, Supervision, eine Stärkung der eigenen Ressourcen sowie eine gute Kenntnis der eigenen Biographie im Bezug auf Traumata (Stichwort: Selbsterfahrung) können diesbezüglich Abhilfe schaffen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass DolmetscherInnen in der Regel ohne eine solche Aus‐ bildung, oft auch ohne Supervision und ohne entsprechende Selbsterfahrung die Narration der traumatisierten KlientIn aus erster Hand vernehmen. Daran an‐ knüpfend ist unbedingt die Forderung nach Supervision für DolmetscherInnen in den entsprechenden Einrichtungen zu stellen, wenn auch dazu angemerkt sei, dass solche Angebote mitunter auch an der fehlenden Bereitschaft der DolmetscherInnen selbst scheitern bzw. ihr volles Potenzial nicht zur Entfaltung bringen können, da DolmetscherInnen prekär beschäftigt sind, ihnen also für 42 3 Trauma: individuelle und kollektive Auswirkungen <?page no="43"?> solche Angebote häufig die Zeit oder der Wille fehlt; möglicherweise ist es auch die Furcht vor der Konfrontation mit eigenen problematischen Inhalten, die DolmetscherInnen davon abhält, Supervisionsstunden in Anspruch zu nehmen, auch dann, wenn diese von der Organisation im ausreichenden Ausmaß ange‐ boten werden. Zu Beginn dieses Kapitels (Punkt 3.) wurde bereits darauf hingewiesen, dass die DolmetscherInnen durch ihre Präsenz und ihre Mitarbeit daran beteiligt sind, den therapeutischen Rahmen als einen „sicheren“ Raum für die KlientInnen mitzugestalten. Da DolmetscherInnen in erster Linie für den sprachlichen Transfer in diesem Rahmen zuständig sind, ist ihre Rolle bei der Erreichung eines der impliziten Therapieziele nicht hoch genug einzuschätzen, nämlich bei der Herstellung einer „sprachlich codierten Erinnerung“ (Vogelgesang 2006: 70). Im Hinblick auf das Ziel der Psychotherapie ist es notwendig, eine realistische Perspektive einzunehmen - dies ist auch für DolmetscherInnen wichtig nach‐ zuvollziehen, um keine übersteigerten Erwartungen an die Therapien und den jeweils eigenen Beitrag daran zu knüpfen: Heilung im Sinne von Wiedergutmachung ist nicht möglich. Was geschehen ist, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die toten Familienangehörigen und Freunde sind unwiederbringlich verloren, die körperlichen Verstümmelung (sic! ) und Narben bleiben sichtbar. Das Grauen der Folter wurde ein überdimensionaler Bestandteil der Lebensgeschichte. Ziel der psychologischen und psychotherapeutischen Intervention kann es aber sein, die Zeitdimensionen wieder richtig zu stellen: Die Folter muss nicht mehr jede Nacht in Albträumen und tagsüber in ständig wiederkehrenden Erinnerungen wieder erlebt und erlitten werden. (Preitler 2006: 165) Eine Therapie gilt dann als abgeschlossen, wenn es den KlientInnen gelungen ist, verlorene Menschen und Lebensbezüge zu betrauern, neue Beziehungen aufzubauen und Strategien für ein Leben im neuen Land praktisch umzusetzen. Allerdings können Retraumatisierungen immer wieder auftreten, sodass Klien‐ tInnen beim Abschied immer das Angebot erhalten, auch später noch Kontakt aufzunehmen, sollte eine Krisenintervention oder eine nochmalige Kurzthe‐ rapie notwendig sein. 3.3.2 Dynamiken in den Einrichtungen für Kriegs- und Foltertraumatisierte Der Arzt, Psychotherapeut und Mitbegründer und Leiter des Behandlungszent‐ rums für Folteropfer in Berlin Christian Pross hat eine umfassende Analyse von Dynamiken und Belastungen, denen MitarbeiterInnen von Einrichtungen 43 3.3 Arbeiten mit traumatisierten Menschen <?page no="44"?> für kriegstraumatisierte Menschen ausgesetzt sind, vorgelegt (Pross 2009). Er untersuchte an Hand von Interviews Strukturen, kommunikative Muster, Hand‐ lungsabläufe, Lebenszyklen und Phänomene wie Burn-Out und Zerwürfnisse innerhalb des Teams und kam zu der Erkenntnis, dass in Arbeitsstellen, in denen traumatisierte Menschen behandelt werden, häufig destruktive Dynamiken auftreten, wie etwa Konflikte, Ausschließung einzelner MitarbeiterInnen oder Mobbing, hohe Fluktuation usw. Als Ursachen führt Pross unter anderem fol‐ gende Faktoren an: hoher Identifikationsdruck im Spannungsfeld der Extreme von Opfer und Täter, Einteilung der Welt in Gut und Böse, Überidentifikation mit den Opfern, Größenfantasien, Grenzüberschreitungen, mangelnde Distanz zu sich selbst, das Unvermögen, das eigene destruktive Handeln zu reflektieren, etc. (2009: 270). Konflikte und Kämpfe in Teams führen in die Reinszenierung des Traumas, und ohne Reflexion und (Selbst-)Korrektur agieren MitarbeiterInnen eigene Verletzungen aus bzw. wiederholen unbewusst die pathologischen Ver‐ haltensmuster ihrer PatientInnen. Da der Arbeitsauftrag der DolmetscherInnen in solchen Zentren sehr klar definiert ist, nämlich zu bestimmten, im Voraus ausgemachten Zeiten zu dolmet‐ schen, sind DolmetscherInnen von solchen destruktiven Dynamiken tendenziell weniger betroffen. In der Regel sind DolmetscherInnen nicht angehalten, die Repräsentation der Einrichtung nach außen aktiv mitzugestalten, SponsorInnen zu gewinnen oder die Positionierung der Einrichtung innerhalb des Netzwerks staatlicher und nichtstaatlicher Akteure im Asylbereich zu verhandeln. Die Verantwortung der DolmetscherInnen gegenüber der Einrichtung beschränkt sich in der Regel auf die möglichst korrekt, zuverlässig und kontinuierlich ausgeübte Dolmetschtätigkeit; damit geht ein relativ beschränkter Gestaltungs‐ raum einher, zugleich sind DolmetscherInnen den Konflikten innerhalb des Teams weniger ausgesetzt und müssen nicht inhaltlich Stellung beziehen. Dennoch sind manche Aspekte, mit denen Pross sich differenziert auseinan‐ dersetzt, für DolmetscherInnen ebenfalls relevant und sollen daher im vorlie‐ genden Kapitel Erwähnung finden. 3.3.2.1 Vom Idealismus bis zur Erschöpfung Pross liefert eine ausführliche Beschreibung von Entstehungs- und Entwick‐ lungsprozessen von Non-Profit-Organisationen und der sich daraus ergebenden Implikationen für die MitarbeiterInnen: Gemeinnützige Nichtregierungsorga‐ nisationen verfolgen in der Regel eine Aufgabe, die meist grenzenlos ist; die Erfüllung der gesteckten Ziele einer NGO würde zugleich die Existenz dieser Organisation obsolet machen (2009: 41 ff.). 44 3 Trauma: individuelle und kollektive Auswirkungen <?page no="45"?> Bei der Gründung einer NGO herrschen meist noch direkte, informelle, familienartige Kommunikationsstrukturen, und die Aktivitäten sind von Idea‐ lismus, Optimismus und Pioniergeist getragen. Findet im weiteren Verlauf ein Wachstum der Organisation statt, bilden sich zwangsläufig (mehr oder weniger flache) hierarchische Strukturen, Abgrenzung von Kompetenzen und standardisierte Abläufe heraus, was der strategischen Planung und der Effizienz zuträglich ist, jedoch auf Kosten der anfänglichen idealistischen Stimmung gehen kann. Außerdem kann es zu einer Schieflage zwischen bezahlten und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen kommen. Dazu kommt, dass die Bezahlung im NGO-Sektor verglichen mit anderen beruflichen Feldern ohnehin schlecht ist, was dazu führen kann, dass die schlecht bezahlten und die gar nicht bezahlten MitarbeiterInnen gewissermaßen um die „Opferrolle (…) konkurrieren“ (2009: 44). Wenn es zu Spannungen im Team kommt, kann die anfängliche Aufbruch‐ stimmung rasch einer Ernüchterung weichen, was zu Erschöpfungssymptomen bei den MitarbeiterInnen führen kann, sowie zu einer hohen Fluktuation und Spaltungen. Schließlich können bei den MitarbeiterInnen u. a. folgende Stress- und Überlastungssymptome auftreten: Überarbeitung und Workaholismus, da das Schützen der eigenen Ressourcen und Grenzen angesichts des Elends der Flücht‐ linge als „Verrat“ erlebt wird; Erschöpfung und Unlust, daraus folgende familiäre Spannungen und Trennungen; Depressionen und körperliche Erkrankungen (psychosomatische Krankheiten und Infekte aufgrund verminderter Abwehr‐ kräfte); Alpträume; Sucht (Nikotin, Kaffee und Alkohol, sowie Essstörungen); Schlafstörungen; Gereiztheit. Gerade aus Sicht der DolmetscherInnen verdient ein weiteres Symptom besondere Beachtung, nämlich die Erschütterung des Weltbilds durch die Zeugenschaft, also durch das Anhören der Erzählungen der KlientInnen, deren Menschenrechte verletzt wurden: Das Gefühl von Sicherheit, der Glaube an das Gute im Menschen, das Grundvertrauen in die Menschheit kann nachhaltig gestört werden; eine weitere Enttäuschung kann mit der Erkenntnis einhergehen, dass die NGOs trotz ihrer hehren Ziele nicht vor Grabenkämpfen und Konflikten gefeit sind (2009: 125 ff.). 3.3.2.2 Ressourcen der MitarbeiterInnen Um die traumatischen Inhalte, die in der Arbeit zur Sprache kommen, zu bewältigen, greifen MitarbeiterInnen von einschlägigen Einrichtungen zu un‐ terschiedlichen Methoden, besser gesagt, sie entwickeln unterschiedliche Stra‐ tegien, um Zugang zu ihren eigenen Ressourcen zu bekommen (Pross 2009: 136 ff.). Es handelt sich dabei unter anderem um folgende: 45 3.3 Arbeiten mit traumatisierten Menschen <?page no="46"?> 9 Zugleich ist interessant festzustellen, dass Ottomeyer ausdrücklich vor einem „Praxis‐ schock“ warnt, der sich dann einstellt, wenn Menschen, die in entsprechenden Ein‐ richtungen mit Traumatisierten arbeiten, erkennen müssen, dass ihre nahestehenden Personen sich von ihnen abwenden, weil sie von der Thematik nichts wissen wollen: „Oft geschieht das nur durch kleine Gesten, einen wie zufällig stattfindenden Themen‐ wechsel, zumeist unbewusst und reflexhaft“ (Ottomeyer 2011: 90). 10 Die vorliegende Arbeit ist durchaus auch unter diesem Aspekt zu sehen. 11 Ottomeyer weist jedoch darauf hin, dass Witze, die auf Erniedrigung und Entmensch‐ lichung von Schwachen und ohnehin Benachteiligten abzielen, nicht harmlos seien und dass zynische Bemerkungen auch auf eine schleichend stattgefundene Verrohung hinweisen können (2011: 96 f.). - Familie, Kinder, näheres Umfeld: Diese Ressource wurde von den Be‐ fragten am häufigsten genannt. 9 - Realistische Ziele: Es ist nicht hilfreich, mit der eigenen Arbeit allzu hohe und hehre Ziele zu verknüpfen, wie etwa „die Folter aus der Welt zu schaffen“. - Dokumentieren, Forschen, Publizieren, Lehren: Das Reflektieren des eigenen Tuns verschafft Abstand zur Arbeit und hilft, sich von der Materie zu distanzieren. 10 Die heilsame Kraft der wissenschaftlichen Auseinan‐ dersetzung mit einem Gegenstand wurde bereits im Zusammenhang mit Freuds Ausführungen thematisiert (s. 2.6.1). - Ausgleich durch kulturelle Aktivitäten, wie Literatur, Kunst, Musik, Tanzen, Theater etc. - Austausch unter Kollegen: Diesbezüglich besteht bei DolmetscherInnen noch Aufholbedarf gegenüber den PsychotherapeutInnen, die bereits in ihrer Ausbildung und auch später in der Praxis ausreichend Gelegen‐ heit bekommen, sich mit KollegInnen laufend über ihre Gefühle und Gedanken auszutauschen. - Politisches Engagement und Öffentlichkeitsarbeit, um das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden. - Humor: Witze (sogar auch zynische Bemerkungen 11 ) im Team können ein Ventil für die MitarbeiterInnen darstellen und die Atmosphäre im Arbeitsalltag maßgeblich positiv beeinflussen. - Sport, Natur: als Ausgleich - Auszeiten, Sabbatjahr, Ausstieg - Sinngebung, tradierte Lebensweisheiten: Das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und durch die eigene Arbeit einen Beitrag zu leisten, kann dabei helfen, trotz aller Schwierigkeiten mehr Befriedigung aus der Arbeit zu beziehen. 46 3 Trauma: individuelle und kollektive Auswirkungen <?page no="47"?> 3.3.2.3 Narzissmus als Antrieb? Bei der Arbeit mit traumatisierten Menschen bewegt man sich „auf einem Minenfeld mit den Abgründen menschlichen Seins“ (Pross 2009: 23). Was treibt Menschen dazu, in solchen Arbeitsfeldern Fuß zu fassen? Pross hat in seiner Untersuchung herausgefunden, dass es unter anderem auch narzisstische Motive sind, die den MitarbeiterInnen in Traumazentren als Antrieb dienen: Selbstüberhöhung und Selbstglorifizierung in der Märtyrerrolle und die daraus abgeleitete Überzeugung, etwas Besonderes, Grandioses zu leisten, sind Mechanismen, die eine kompensatorische Funktion für den Seelen‐ haushalt erfüllen können, also beispielsweise ein mangelndes Selbstwertgefühl ausgleichen (vgl. Pross 2009: 118 ff.). Diese Mechanismen sind bereits in der Beziehung zwischen Helfer und Patient angelegt: Ein solches Verhältnis ist von vornherein asymmetrisch, zusätzlich neigen Flüchtlinge dazu, die TherapeutInnen zu idealisieren und ihnen magische Fähigkeiten zur Problemlösung zuzuschreiben - aus dem nur allzu verständlichen Wunsch heraus, jemanden zu haben, der einem wirklich helfen kann und will. Problematisch wird es dann, wenn HelferInnen diese Zuschreibungen und Erwartungshaltungen bereitwillig annehmen und sich als RetterInnen oder auch MärtyrerInnen aufspielen. Interessant ist, dass Pross einen Vergleich zwischen HelferInnen in Westeu‐ ropa und in Schwellenländern zieht und zu dem Schluss kommt, dass der Narzissmus „in unserer behüteten, privilegierten Welt“ (2009: 122) in solchen beruflichen Kontexten signifikant stärker ausgeprägt ist als in den Schwellen‐ ländern, in denen Gewalt und Zerstörung zum Alltag gehören, sodass alle Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld davon betroffen sind und mit Über‐ lebenden zu tun haben: „Hilfe für diese ist eine Selbstverständlichkeit, nicht so etwas Außergewöhnliches, Besonderes, und es wird deshalb nicht so viel Aufhebens darum gemacht“ (2009: 122). Für DolmetscherInnen gilt die Rolle der „HelferInnen“ nur bedingt: Die Aufgabe der DolmetscherInnen - die Gewährleistung der sprachlichen Verstän‐ digung - ist so klar umrissen, dass eigene aktive Hilfsangebote von vornherein eine unzulässige Grenzüberschreitung darstellen, wiewohl die Entscheidung an sich, in einem Traumatherapiezentrum als DolmetscherIn zu arbeiten, durch den Wunsch „zu helfen“ motiviert sein kann. DolmetscherInnen sind also durch die Natur ihrer beruflichen Tätigkeit in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt, zugleich tragen sie weniger Verantwortung für die reale Lebens‐ situation der KlientInnen, was durchaus als entlastend erlebt werden kann (dieser grundsätzliche Unterschied zwischen der Arbeit der TherapeutInnen und der DolmetscherInnen wurde bereits unter 3.3.2 thematisiert). 47 3.3 Arbeiten mit traumatisierten Menschen <?page no="48"?> Auch im Hinblick auf das Ansehen innerhalb der eigenen Berufsgruppe unterscheidet sich die Situation der DolmetscherInnen von der der Therapeu‐ tInnen: Geht man davon aus, dass es in einzelnen Berufsgruppen so etwas wie eine „Reputationspyramide“ geben könnte, in der bestimmte Tätigkeitsfelder als besonders angesehen gelten, so wären die TraumatherapeutInnen an der Spitze dieser Pyramide angesiedelt: Das Arbeiten mit traumatisierten Überlebenden erfordert hohe Qualifikationen und viel Erfahrung, und TraumatherapeutInnen können sich der Wertschätzung innerhalb ihrer Kollegenschaft sicher sein. Im Unterschied dazu ist das Arbeiten mit Flüchtlingen und AsylwerberInnen für DolmetscherInnen definitiv nicht an der Spitze einer solchen imaginierten Pyramide zu verorten, sondern eher am unteren Ende: Die Arbeit im Asylbe‐ reich ist für DolmetscherInnen deutlich schlechter entlohnt als die Arbeit im Konferenzbereich, und in puncto Terminologie und Dolmetschkompetenz sind die Anforderungen an die DolmetscherInnen bei internationalen Konferenzen wesentlich höher. Sehr verkürzt gesagt, ist davon auszugehen, dass ein ausgebil‐ deter und praktizierender Konferenzdolmetscher rein arbeitstechnisch mit den Anforderungen der Gesprächssituation in der Psychotherapie spielend fertig werden könnte, während umgekehrt der durchschnittliche (Laien-)dolmetscher aus dem Asylbereich nicht ohne weiteres einen Platz in der Dolmetschkabine einnehmen kann. Somit lassen sich die Überlegungen und Erkenntnisse von Pross im Hin‐ blick auf narzisstische Motive bei der Arbeit mit Traumaopfern nicht von der Berufsgruppe der TherapeutInnen kurzerhand auf die Berufsgruppe der DolmetscherInnen übertragen. Dennoch sind DolmetscherInnen als Teammit‐ glieder ähnlichen Dynamiken wie TherapeutInnen ausgesetzt, und es lohnt sich auch für DolmetscherInnen, sich mit dem Stellenwert von Traumabehand‐ lungszentren in der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Darauf soll im nächsten Abschnitt näher eingegangen werden. 3.4 Trauma und Gesellschaft: Abwehrreaktionen Die oben beschriebenen Größenphantasien der HelferInnen sind in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext eingebettet: MitarbeiterInnen von Traum‐ azentren machen etwas Außergewöhnliches, das andere, „normale“ Menschen nicht machen können und auch nicht machen wollen: Das lobende und bewundernde Auf-die-Schulter-Klopfen der Mitmenschen, dass man was ganz ‚Tolles‘ mache, ist im Grunde genommen eine Abwehr, die deren eigenem Schutz dient. Sie möchten mit diesen angstbesetzten Abgründen möglichst wenig 48 3 Trauma: individuelle und kollektive Auswirkungen <?page no="49"?> zu tun haben und sind froh, dass es Leute gibt, die diese unangenehme Arbeit machen, die sonst keiner machen will. Die Gesellschaft delegiert gewissermaßen die Aufräumarbeit aus den Trümmern, die sie selbst mit Kriegen, Armut und Flüchtlings‐ elend angerichtet hat, an die Traumahelfer, welche die seelischen und körperlichen Folgeschäden beheben sollen. Die Helfer werden im allgemeinen schlechter bezahlt und erfahren weniger Wertschätzung als andere Berufe. Dafür bekommen sie hin und wieder einen Menschenrechtspreis, oder ein Unternehmen überreicht ihnen bei einer Gala einen Scheck. (Pross 2009: 120) Die Aussage, wonach die Helfer „weniger Wertschätzung als andere Berufe“ er‐ fahren, bezieht sich auf die gesamtgesellschaftliche Realität, genauer gesagt auf den Umstand, dass Wertschätzung vordergründig durch Bezahlung ausgedrückt wird, denn TraumatherapeutInnen genießen unabhängig von der Bezahlung sehr wohl viel Anerkennung im Umkreis ihrer KollegInnen aus anderen Sparten, wie bereits im vorigen Abschnitt festgestellt wurde. Zentral an diesem Zitat ist jedoch der Begriff Abwehr: Mit Inhalten, die Grauen erregend und bedrohlich sind, möchte man sich normalerweise nicht auseinandersetzen (müssen), und schon gar nicht mit jenen Menschen, die als Erzählende direkte Betroffene, Zeugen und Boten dieser Inhalte sind. Ottomeyer widmet sich ausführlich der Abwehr des Traumas und der Ver‐ folgung der Opfer durch die Gesellschaft und bemängelt, dass manche Gutachter und Asylbeamte „Meister der Verleugnung und der Entwertung der Opfer“ seien (2011: 82), und betont, dass die Abwehr des Schreckens dazu führt, dass Opfer als unglaubwürdig dargestellt und in die Isolation getrieben würden: „Wenn aber die Opfer unseren Wohnstuben und unserem Nahraum zu nahe kommen, droht der Einbruch des mit verschiedenen Techniken auf Distanz gehaltenen Wahnsinns in die geschützte Welt“ (2011: 89). Zu diesen „verschiedenen Techniken“ gehöre unter anderem auch der Neid auf die Opfer, der sich in einer „tief sitzenden Konkurrenzangst im Ringen um soziale Zuwendung und Aufmerksamkeit“ äußert, und zwar im Kontext gesellschaftlicher Zustände, in denen die Ressourcen zunehmend knapp werden und (mehr oder weniger berechtigte) Abstiegsängste sich breit machen. Als medial transportierte Beispiele in der jüngsten Vergangenheit Österreichs, bei denen die anfängliche Empathie mit den Opfern rasch in Neid und Missgunst kippte, nennt Ottomeyer die beiden prominenten Jugendlichen Arigona Zogaj und Natascha Kampusch (vgl. Ottomeyer 2011: 91f.). Der Autor macht auch auf einen weiteren gesellschaftlich relevanten Aspekt aufmerksam: „Zu viel Mitgefühl mit den Opfern stört einfach den Konsum und die oberflächliche Lebensfreude, an welche wir uns im (mittlerweile bedrohten) hedonistischen Kapitalismus der letzten Jahrzehnte gewöhnt haben 49 3.4 Trauma und Gesellschaft: Abwehrreaktionen <?page no="50"?> und gewöhnen sollten“ (S. 97). Im Zeitalter des postmodernen Kapitalismus sind es allenfalls einzelne Schrecksekunden, die zum Innehalten zwingen, ansonsten wähnt man sich aber in den westeuropäischen Gesellschaften auf der sicheren Seite und möchte mit dem Elend der Opfer lieber nicht behelligt werden. Die Helfer der Opfer (PsychotherapeutInnen, SozialarbeiterInnen, VertreterInnen von Kirchen und NGOs) müssen damit rechnen, als „Gutmenschen“ diffamiert zu werden (2011: 98f.). Unter der Überschrift „Ein Europa der Menschenjagden? “ (2011: 119) führt Ottomeyer drastische Beispiele der europäischen Abschot‐ tungspolitik an, die den Verlust von Menschenleben in Kauf nimmt und schließt mit einer Aussage, die umgelegt auf die derzeitige politische Lage aktuell anmutet: „Anderen Menschen Angst machen hilft manchen Leuten dabei, die Angst, die sie haben, nicht spüren zu müssen“ (2011: 134). 3.5 Abschließende Bemerkungen Wie bereits erwähnt, ist das Dolmetschen kein klassischer „Helferberuf “ und somit zählen die DolmetscherInnen im Kontext der Psychotherapie nicht zu den klassischen „HelferInnen“, weil sie keine eigenen Interventionen setzen und nicht für die Erreichung von Therapiezielen zuständig sind; als Sprachmitt‐ lerInnen ermöglichen und befördern sie jedoch die Arbeit der HelferInnen mit den KlientInnen und sind damit Teil der ablaufenden Prozesse. Daher sind sie von den Dynamiken in diesem Mikrokosmos zumindest am Rande betroffen, so auch vom Umgang der Gesellschaft mit Asylsuchenden und Opfern von Menschenrechtsverletzungen. Die psychotherapeutische Arbeit mit traumatisierten Menschen stellt auch an die DolmetscherInnen spezifische Anforderungen, sowohl im individuellen Zugang zu den einzelnen KlientInnen, als auch im Hinblick auf die Reflexion des Phänomens „Trauma“ in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext. 50 3 Trauma: individuelle und kollektive Auswirkungen <?page no="51"?> 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand Das folgende Kapitel soll - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - einen Über‐ blick über die relevante Literatur zum Themenkomplex „Dolmetschen in der Psychotherapie“ bieten, wobei zunächst eine Kontextualisierung dieses Themas im Rahmen des Community Interpreting erfolgt. 4.1 Kontextualisierung in der Translationswissenschaft: Community Interpreting „Interpreting is an ancient human practice“ (Pöchhacker 2016: 28). Diese Fest‐ stellung ist so simpel wie zutreffend und in einer komplexen Dienstleistungs‐ gesellschaft, die auf Differenzierung und Arbeitsteilung aufbaut, alles andere als selbstverständlich. Bei dem in der vorliegenden Arbeit unternommenen Versuch, sich dem Phänomen des Dolmetschens in der Psychotherapie aus verschiedenen Blickwinkeln und mit einem möglichst hohen Grad an Differen‐ zierung zu nähern, ist es notwendig, diese einfache Tatsache, nämlich dass es sich beim Dolmetschen um ein Phänomen handelt, das so alt ist wie die Menschheit selbst, stets im Hinterkopf zu behalten, gerade weil im psychothe‐ rapeutischen Kontext Sprache als eine Tür zu den mitunter verschütteten und sorgfältig gehüteten emotionalen Inhalten betrachtet wird. Aus der Sicht der Translationswissenschaft ist das Dolmetschen in der Psychotherapie im Bereich des Community Interpreting (Kommunaldolmetschen) zu verorten. Ein historischer Überblick über die Dolmetschwissenschaft ist bei Pöchhacker (2015: 62-76) zu finden. Unter der Bezeichnung Community Interpreting werden Dolmetschleistungen zusammengefasst, die in Behörden, Institutionen, Kran‐ kenhäusern, Gerichten, Polizeistationen u. Ä. erbracht werden, für Personen, die der Landessprache nicht im ausreichenden Maß mächtig sind, um die Dienstleistungen der genannten Einrichtungen in Anspruch nehmen zu können, ohne gröbere Missverständnisse zu riskieren. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Dolmetschbedarf immer einwandfrei festzustellen ist: Je nach Schwie‐ rigkeitsgrad der Kommunikation, also je nach Terminologie oder Wichtigkeit des jeweiligen Termins wird seitens der KlientInnen der Versuch unternommen, eine DolmetscherIn mitzubringen bzw. von der jeweiligen Einrichtung zur Verfügung gestellt zu bekommen. <?page no="52"?> Pöchhacker weist auf Auffassungsunterschiede über den Inhalt und Um‐ fang von Community Interpreting hin, woraus unterschiedliche Definitionen resultieren (2007: 36 ff.): Gemeint ist jedenfalls das Dolmetschen innerhalb einer Gesellschaft, also ein „intrasozietäres“ Dolmetschen, in Abgrenzung zum „internationalen“ Konferenzdolmetschen. Eine andere Unterscheidung betrifft die Ungleichheit der Kommunikationspartner: Während die eine Person als Privatperson mit ihren eigenen Anliegen auftritt, ist die andere Person in einer Institution (z. B. Polizei, Gericht oder Krankenhaus) verankert. Das rollenbe‐ dingte Machtgefälle betrifft auch den sozialen Status. Vor dem Hintergrund des Machtgefälles ist es für DolmetscherInnen nicht immer möglich, „neutral“ zu agieren, da eine bewusste oder unbewusste Vereinnahmung durch die Interaktionspartner durch die physische Präsenz und Nähe gefördert wird. Pöchhacker unterscheidet zwischen intersozietären und intrasozietären Ein‐ satzbereichen und liefert eine Aufzählung der Kontexte, in denen gedolmetscht wird (Pöchhacker 2004: 13 ff.), wobei Community Interpreting folgendermaßen beschrieben wird: It was only in the 1980s and 1990s, in the face of mounting communication problems in public-sector institutions (health-care, social services), that ‚interpreting in the community‘ (community-based interpreting) acquired increasing visibility. Thus community interpreting, also referred to as public service interpreting (mainly in the UK) and cultural interpreting (in Canada) emerged as a wide new field of interpreting practice, with healthcare interpreting (medical interpreting, hospital interpreting) and legal interpreting as the most significant institutional domains. (Pöchhacker 2004: 15) In einer schematischen Darstellung des konzeptuellen Spektrums des Dolmet‐ schens bietet Pöchhacker eine Gegenüberstellung des Konferenzdolmetschens und des Kommunaldolmetschens, allerdings unter Berücksichtigung der Tat‐ sache, dass die Arbeitstechnik des Dialogdolmetschens auch bei Konferenzen zur Anwendung kommen kann, es also Überschneidungen zwischen diesen beiden Kategorien gibt (2016: 17). Das Konferenzdolmetschen findet meist in einem internationalen Zusammenhang statt, während das Kommunaldolmet‐ schen im intrasozietären Bereich angesiedelt ist. Das Konferenzdolmetschen findet typischerweise dort statt, wo sich Menschen in einem multilateralen Umfeld in ihren jeweiligen professionellen Rollen begegnen, mit vergleichbarem Status ausgestattet sind und größtenteils als RednerInnen („one-to-many“) kommunizieren. Das Kommunaldolmetschen dagegen findet dann statt, wenn in einem bilateralen Umfeld ein Fachmann bzw. eine Fachfrau mit einem Indi‐ viduum kommuniziert („face-to-face“) und ein Machtungleichgewicht der Ge‐ sprächssituation immanent ist. In der differenzierten schematischen Darstellung 52 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="53"?> findet der Umstand Berücksichtigung, dass auch im Konferenzdolmetschbereich dialogische Situationen stattfinden können, etwa wenn zwei Staatsoberhäupter ein dolmetschervermitteltes Gespräch führen. Zusammenfassend hebt Pöchha‐ cker das wichtigste Alleinstellungsmerkmal für den Bereich des Community Interpreting mit folgenden Worten hervor: „In particular, the nature of commu‐ nity interpreting is best understood by bearing in mind that one of the parties involved is an individual human being, speaking and acting on his or her own behalf.“ (2016: 17). Die Betonung des Individuums ist im psychotherapeutischen Bereich von größter Relevanz. Bancroft fasst die Bezeichnungen für die Tätigkeit im Bereich des Community Interpreting zusammen (2015: 218): - Public service interpreting - Liaison interpreting - Bilateral interpreting - Dialogue interpreting - Community-based interpreting - Bidirectional interpreting - Triangle interpreting - Cultural interpreting - Cultural (or intercultural) mediation - Consecutive interpreting - Contact interpreting - Face-to-face interpreting - Triad interpreting - Discourse interpreting - Social or intra-social interpreting - Language mediation Es gibt also eine beträchtliche Anzahl an Bezeichnungen, um eine Tätigkeit zu beschreiben, die laut Bancroft auf einem simplen Konzept beruht: „Community interpreting is founded on a simple concept: giving a voice to those who seek access to basic services but do not speak the societal language“ (Bancroft 2015: 217). Die Vielzahl an Bezeichnungen ist Ausdruck der Vielfalt ebenso wie Ausdruck der fehlenden Regulierung bzw. Standardisierung dieser Tätigkeit. Hale betont die hohe Verantwortung von KommunaldolmetscherInnen für die Lebenssituationen der KlientInnen und stellt mit Bedauern fest, dass der niedrige soziale Status der Klientel gewissermaßen auf die Kommunaldolmet‐ scherInnen abfärbt, während im Gegenzug KonferenzdolmetscherInnen in den Genuss eines erhöhten Status kommen, da ihre KlientInnen in der Regel 53 4.1 Kontextualisierung in der Translationswissenschaft: Community Interpreting <?page no="54"?> 12 Zugleich möchte ich an dieser Stelle festhalten, dass meinen Beobachtungen nach viele praktizierende LaiendolmetscherInnen sich dieser Defizite gar nicht bewusst sind, weil sie die hohen Standards des Konferenzdolmetschbetriebs gar nicht kennen und diese beiden „Welten“ gewissermaßen gar nicht miteinander in Verbindung bringen und daher die Diskrepanz nicht als eine solche wahrnehmen. Der Beruf des Konfe‐ renzdolmetschers mag ihnen bekannt sein - allerdings eher aus Filmen denn aus der erlebten Wirklichkeit - sie beziehen diesen Beruf jedoch nicht unbedingt auf ihre eigene Realität, streben also einen solchen Grad der Professionalisierung oft gar nicht an, weder im Hinblick auf die Qualifikation, noch im Hinblick auf weitere Merkmale der Professionalisierung, wie etwa Erwerb von Zertifikaten, Beitritt zu Berufsverbänden etc. Die Perspektive der KommunaldolmetscherInnen auf die hoch qualifizierten und professionalisierten KonferenzdolmetscherInnen wäre eine interessante Fragestellung für weitere Forschungen. mit einem stärkeren finanziellen Hintergrund und höherer gesellschaftlicher Anerkennung ausgestattet sind (Hale 2007: 27). Zahlreiche Publikationen und Arbeiten, die sich mit dem Thema Community Interpreting befassen, sind für den Bereich der Psychotherapie relevant und liefern wertvolle Anregungen, etwa gesammelte Aufsätze zum Thema Sprache und Translation in der Rechtspraxis, in denen die AutorInnen sich mit unter‐ schiedlichen Aspekten der verdolmetschten Kommunikation im Asylverfahren und bei Behörden auseinandersetzen, wie z. B. Rienzner & Slezak (2010). Eine kompakte Zusammenschau der Situation des Community Interpreting in Deutschland bietet Slapp 2004. Ein Überblick über die Forschung zum Kommunaldolmetschen in Österreich ist bei Grbić & Pöllabauer (2006) zu finden. 4.1.1 Vergleich mit dem Konferenzdolmetschen: Faktor Professionalisierung Die Betrachtung des Community Interpreting erfolgt häufig unter dem Blick‐ winkel des hoch entwickelten Konferenzdolmetschbereichs, wodurch die De‐ fizite im Bereich Community Interpreting stark zu Tage treten: fehlende Standards, fehlende Zertifizierungsverfahren, fehlende Karrieremöglichkeiten, niedrige Löhne. 12 Die Grenzen zwischen dem professionellen Dolmetschen und dem nichtprofessionellen oder natürlichen Dolmetschen sind fließend (Pöchhacker 2016: 23). Bahadır ortet im Hinblick auf Professionalisierungsbestrebungen im Com‐ munity Interpreting die Tendenz, das „Problematische“ dieses Kontexts „korri‐ gieren“ zu wollen, und zwar in Anlehnung an das etablierte und anerkannte Berufsbild des Konferenzdolmetschers (2007: 218). Sie selbst zieht ebenfalls einen Vergleich zwischen dem Konferenzdolmetschen und dem Community Interpreting und spricht - polemisierend - von der „großen Schwester, die 54 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="55"?> es geschafft hat“ (2007: 219), im Unterschied zum „enfant terrible“ Commu‐ nity Interpreting, das „weder drinnen noch draußen ist, die Tätigkeit des Simmelschen Fremden, eine Dazwischentätigkeit, weder so richtig Konferenz‐ dolmetschen noch so richtig etwas Anderes“ (2007: 220). Die Professionalisie‐ rungsbestrebungen im Community Interpreting im Hinblick auf Standardisie‐ rungsverfahren, Formulierung von Normen und Bildung von Verbänden werden von Bahadır als ein sinnloses „Hinterher-Rennen“ charakterisiert. Einerseits ist es wohl tatsächlich vergeblich, im Asyl- und Migrationsbereich ähnliche Standards erreichen zu wollen wie im hochdotierten, hochfunktionalen und hochentwickelten Konferenzbereich (insofern hat Bahadır wohl nicht unrecht, wenn sie vom „sinnlosen Hinterher-Rennen“ spricht). Andererseits sind Pro‐ fessionalisierungsbestrebungen unbedingt zu begrüßen, da alle Beteiligten davon profitieren: die KlientInnen, die deutschsprachigen AbnehmerInnen der Dolmetschdienstleistung und die DolmetscherInnen selbst, denn ein hö‐ herer Grad an Professionalisierung führt zu mehr Selbstbewusstsein, einem breiteren Entscheidungsspielraum im Falle von berufsethischen Dilemmata und möglicherweise irgendwann auch zu höheren Honoraren und besseren Beschäftigungsverhältnissen. Was den letzten Punkt anbelangt, scheint sich derzeit im Sozialbereich jedoch keine solche Tendenz abzuzeichnen, wenn auch davon auszugehen ist, dass durch den Zustrom von Flüchtlingen der Asyl- und Migrationsbereich als solcher einen „Boom“ erleben wird bzw. derzeit bereits einen Boom erlebt; ob dies zu einer Erhöhung der Löhne in dem Bereich führen wird, bleibt abzuwarten bzw. zeichnet sich derzeit nicht ab. „Community Interpreting takes the interpreter into the most private spheres of human life“ stellt Hale fest - im Unterschied zu Konferenzen und Geschäfts‐ verhandlungen, bei denen politische Entscheidungen oder neueste wissen‐ schaftliche Entdeckungen diskutiert werden (2007: 25). In einer schematischen Darstellung fasst Hale die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen dem Konferenzdolmetschen und dem Community Interpreting zusammen, wobei sie unter anderem Merkmale wie Sprachregister, Dolmetschmodus (si‐ multan, konsekutiv, Flüsterdolmetschen, Vom-Blatt-Dolmetschen) berücksich‐ tigt. Die Konsequenzen einer ungenauen Wiedergabe werden für das Konfe‐ renzdolmetschen als „mittelgradig“ eingestuft, bei Community Interpreting jedoch als „hochgradig“. Hale kritisiert die signifikant schlechtere Entlohnung im Community Interpreting, mit dem Hinweis darauf, dass bei Konferenzen die wichtigsten Entscheidungen ohnehin am Rande des Geschehens, ohne die DolmetscherInnen, gefällt würden, die DolmetscherInnen also eher Teil der Inszenierung seien als tatsächlich unabdingbar für die Verständigung; im Unterschied dazu wären die KlientInnen im Asyl- und Migrationsbereich gar 55 4.1 Kontextualisierung in der Translationswissenschaft: Community Interpreting <?page no="56"?> 13 Zum Thema Kinder als Dolmetscher siehe auch Pöchhacker 2007: 186 f und Bullock & Harris (1997: 227 ff.). nicht in der Lage, ohne die Hilfe der DolmetscherInnen zu kommunizieren, noch dazu, wo es z.T. um Angelegenheiten von großer Bedeutung für das weitere Schicksal der KlientInnen gehe. Hale zieht daraus die Schlussfolgerung: This suggests that the onus on the community interpreter to perform a high quality job is much greater than a conference interpreter because of what is at stake. Yet community interpreters, with much greater demands than conference interpreters, recieve much lower pay and have little status as professionals. (Hale 2007: 33) Dieser Aussage ist grundsätzlich zuzustimmen - die Arbeit der Dolmetsche‐ rInnen im Kommunalbereich sollte auf jeden Fall besser entlohnt werden - und dennoch gibt es auch einen gewichtigen Einwand gegen die von Hale vorgebrachte Schlussfolgerung: Wie unter 3.3.2.3 festgestellt wurde, kann davon ausgegangen werden, dass ein qualifizierter Konferenzdolmetscher die sprach‐ lichen Herausforderungen im Bereich des Community Interpreting gut bewäl‐ tigen kann. Der Umkehrschluss gilt jedoch nicht: die sprachlichen, kognitiven, terminologischen und arbeitstechnischen Anforderungen in der Dolmetschka‐ bine können sehr hoch sein, auch dann, wenn die Dolmetschung bloß Teil einer „Inszenierung“ ist: Es ist die Aufgabe des Dolmetschers in diesem Moment, diese „Inszenierung“ aufrecht zu erhalten, und dazu benötigt er nun einmal das nötige Wissen und Können, sowie auch die nötige Erfahrung - das sind Faktoren, die man bei Community Interpreters nicht voraussetzen kann. Eine Zusammenschau relevanter Faktoren des Community Interpreting ist bei Ahamer zu finden (2013: 53-140): Darin setzt sie sich kritisch mit der Problematik des Terminus „Community Interpreting“ in Theorie und Praxis auseinander und geht der Frage nach, wo „laienhaftes“ Dolmetschen aufhört und „professionelles“ beginnt. Ein Ausdruck der mangelnden Professionalisie‐ rung im Kommunaldolmetschen ist jedenfalls der Umstand, dass mitunter auch Kinder 13 und Jugendliche zum Dolmetschen herangezogen werden - der Hauptgegenstand von Ahamers Untersuchung: Ahamer hat untersucht, wie jugendliche Migranten diese Aufgabe bewältigen, und kommt unter anderem zu folgenden Erkenntnissen: mehrsprachige Kommunikation in öffentlichen Institutionen wird in einem hohen Ausmaß von Kindern bestritten, und das Dolmetschen birgt für die betroffenen Kinder, ihre Eltern und die Institutionen Risiken in sich; zugleich kann das Dolmetschen eine Ressource für die Kinder und Jugendlichen sein, im Sinne der Sprachförderung und als ein positiver Impuls für die Persönlichkeitsentwicklung (2013: 368 ff.). Bei psychotherapeu‐ 56 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="57"?> 14 In der Tat ist es schwierig, die Qualität einer Verdolmetschung zu überprüfen: Es kann vorkommen, dass beide GesprächspartnerInnen mit der Verdolmetschung zufrieden waren und glauben, einander verstanden zu haben, obwohl sie sich in Wirklichkeit missverstanden haben; oder auch umgekehrt, Zweifel an der Kompetenz der Dolmet‐ scherIn haben, wie diese ihre Leistung nicht gut präsentiert, obwohl sie sprachlich einwandfrei arbeitet. „Es gibt kaum einen anderen Beruf, der so wenig Feedback bietet, wie der Translatorinnenberuf “ (Kadrić et al 2005: 19). Häufig gibt es keine Vorgesetzten oder KollegInnen, die vor Ort da sind und einen vollen Einblick in die Translationstätig‐ keit haben. Die translatorische Tätigkeit findet insgesamt keine besondere Beachtung, solange sie keine Auffälligkeiten aufweist, und meist handelt es sich um negative Auffälligkeiten: TranslatorInnen produzieren keine Ausgangstexte und sind meist nicht fest angestellt bei den Institutionen, für die sie den Auftrag ausführen. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Qualitätskontrolle der Translation (Vgl. ebda. S. 20). tischen Gesprächen kommt es sehr selten vor, dass Familienangehörige als DolmetscherInnen eingesetzt werden, allerdings sind solche Einzelfälle nicht auszuschließen. Beispielsweise kommt es vor, dass in tschetschenischen Fa‐ milien nicht alle Familienmitglieder der russischen Sprache in einem ausrei‐ chenden Maße mächtig sind, um sich über alle für sie relevanten Themen unterhalten zu können. Die Sprechfähigkeit kann auch durch körperliche Verletzungen oder angeborene Sprechschwierigkeiten beeinträchtigt sein - in solchen seltenen Fällen kann es vorkommen, dass eine Person nicht alleine die psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nimmt, sondern mit Hilfe eines nahestehenden Familienmitglieds, unter Umständen eines Jugendlichen. Die Präsenz von quasi zwei DolmetscherInnen im Raum erfordert viel Feingefühl seitens der PsychotherapeutIn aber auch seitens der DolmetscherIn, zum einen um sicherzustellen, dass die Wortmeldungen tatsächlich von derjenigen Person stammen, an welche die Fragen gerichtet wurden (und nicht etwa von dem ad-hoc als DolmetscherIn eingesetzten Familienmitglied), und zum anderen um eine Situation herzustellen, in der alle Beteiligten das Gefühl haben, sich im ausreichenden Maße Gehör verschaffen zu können. Auch bei Kadrić et al (2005) ist eine Auseinandersetzung mit der Unterschei‐ dung zwischen professioneller und unprofessioneller Translation zu finden (S. 21ff.). Es wird auf „eine schleichende und systematische Abwertung des Berufs“ (S. 21) hingewiesen, die unter anderem damit zu tun hat, dass zahl‐ reiche Übersetzungen und Verdolmetschungen von Laien angefertigt werden, wodurch sich eine zunehmende Kluft zwischen dem Qualitätsanspruch profes‐ sioneller TranslatorInnen und der Realität am Markt bildet. Die zunehmende Präsenz von Laien am Markt ist auf zwei Gründe zurückzuführen: Zum einen nehmen viele Auftraggeber an, eine Person, die eine Fremdsprache spricht, wäre automatisch imstande zu übersetzen oder zu dolmetschen. 14 Zum anderen sind die Honorare im Asyl- und Sozialbereich für professionell ausgebildete 57 4.1 Kontextualisierung in der Translationswissenschaft: Community Interpreting <?page no="58"?> DolmetscherInnen nicht attraktiv, da diese in anderen Kontexten wesentlich besser entlohnt werden. Dieses Dilemma ist schwer lösbar, da der Umstand, dass soziale und „helfende“ Berufe tendenziell schlecht entlohnt sind, dazu führt, dass ganze gesellschaftliche Segmente davon betroffen sind, sodass die DolmetscherInnen keine Ausnahme bilden. Aus der Tatsache, dass der Dolmetscherberuf nicht geschützt ist und somit professionell ausgebildete DolmetscherInnen neben Laien am Markt vertreten sind und viele AuftraggeberInnen sich dieser Unterscheidung gar nicht bewusst sind, erwachsen Anforderungen an den Berufsstand: Der Berufsstand spricht für sich und über sich, er stellt sich selbst dar, indem er seine Werte und Standards, seine Stärken und Kompetenzen, seine Überzeugungen und andere besondere Merkmale, die für den Berufsstand als Ganzes und Besonderes stehen, entwickelt und definiert. Durch die Möglichkeiten, sich als eigenständige und professionell agierende Berufsgruppe in der Gesellschaft zu positionieren und sich damit nicht zuletzt von den Laien klar zu distanzieren und zu unterscheiden, wird auch ein Beitrag zur öffentlichen Bewusstseinsbildung über den Beruf der Translatorin geleistet. (ebda., S. 25) „Sich von den Laien klar zu distanzieren und zu unterscheiden“ ist eine nach‐ vollziehbare und notwendige Forderung an einen professionellen Berufsstand, jedoch gilt es zu bedenken, dass in der Praxis - beispielsweise in den von mir untersuchten Traumabehandlungszentren - Laien und Profis Seite an Seite, als gleichberechtigte Mitglieder eines Teams arbeiten. In solchen Zentren ist es im Alltag nicht nur nicht möglich, „sich von den Laien klar zu distanzieren und zu unterscheiden“, es wäre auch nicht wünschenswert, da das Arbeitsklima massiv darunter leiden würde. Berechtigterweise kann man die Frage stellen: Ist es denn nicht ungerecht, dass ausgebildete DolmetscherInnen, die viel Zeit und Mühe in ihre Ausbildung investiert haben, gleich viel verdienen wie Laien? In der Praxis, also direkt vor Ort in den betreffenden Einrichtungen, würde eine solche Frage zahlreiche andere Fragen (nach der Qualitätskontrolle etc.) nach sich ziehen und für Sprengstoff sorgen. Eine Diskussion um eine unter‐ schiedliche, ausbildungsbezogene Entlohnung innerhalb einer Einrichtung, in der die DolmetscherInnen in der Regel gegenseitig für einander einspringen, um Fehlstunden zu vermeiden, was im Grunde bedeutet, dass sie „die gleiche Arbeit“ leisten, bzw. dass ihnen die gleichen Aufgaben „zugemutet“ werden, oder, anders gesagt, dass ihre Arbeitsleistung den KlientInnen und den Psychothera‐ peutInnen gleichermaßen „zugemutet“ wird, müsste mit sehr viel Taktgefühl geführt werden, um die Entstehung einer „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ und einer 58 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="59"?> daraus resultierenden „Neiddebatte“ unter den DolmetscherInnen innerhalb einer einzelnen Einrichtung zu verhindern. 4.1.2 Anforderungen an die DolmetscherInnen im Bereich Community Interpreting Welche Anforderungen werden an die DolmetscherInnen im Kommunalbereich gestellt? - Diesem Thema widmet sich Pöchhacker ausführlich (2007: 237 ff.), ausgehend von einer breit angelegten Studie in Wiener Gesundheits- und Sozialeinrichtungen. Die Anforderungen an die KommunaldolmetscherInnen unterscheiden sich nicht wesentlich von denen an die Konferenzdolmetscher‐ Innen. Allerdings wird von KommunaldolmetscherInnen erwartet, dass sie gegebenenfalls eine aktivere Rolle einnehmen und, wenn nötig, ihren Beitrag zur Klärung von eventuell auftretenden Missverständnissen leisten. Ein Stich‐ wort in diesem Kontext ist advocacy (Fürsprecherrolle), ein Begriff, der für Kontroversen sorgt (2007: 242). Es stellte sich heraus, dass die wichtigste Anforderung seitens der Nutze‐ rInnen an die DolmetscherInnen „Diskretion und Verschwiegenheit“ ist, gefolgt von einem „absolut neutralen Verhalten“ (S. 248f.). Es ergibt sich insgesamt das Bild eines komplexen Aufgabenprofils, im Rahmen dessen die Dolmetsche‐ rInnen nicht „nur“ dolmetschen sollen, sondern auch erklärend zusammen‐ fassen, die Ausdrucksweise des medizinischen Personals vereinfachen und Fach‐ begriffe erklären sollen. Damit wird den DolmetscherInnen gewissermaßen die Verantwortung auferlegt, sicherzustellen, dass die KlientInnen (PatientInnen) auch tatsächlich alles verstehen. Anderson räumt ein, dass der Dolmetscher als ein „man in the middle“ beiden KlientInnen gegenüber verpflichtet ist, allerdings sind diese Verpflichtungen nicht zwangsläufig miteinander kompatibel: „The interpreter’s role is always partially undefined“ (2002: 211), und zudem kommt es zu einem „role overload“, insofern als vom Dolmetscher häufig mehr erwartet wird als „nur“ zu dolmet‐ schen. Anderson betont, dass der Dolmetscher mitunter Druck von beiden Seiten verspürt und mit der Situation umgehen muss, dass es nicht möglich ist, allen Beteiligten (einschließlich sich selbst) gerecht zu werden: „No matter what he does, one of them is apt to be displeased“ (2002: 211). Rollenkonflikte scheinen also vorprogrammiert zu sein, wobei die Rollenambiguität die Position des Dolmetschers einerseits schwächt, die Unentbehrlichkeit des Dolmetschers jedoch wiederum mit einer gewissen Macht einhergeht. 59 4.1 Kontextualisierung in der Translationswissenschaft: Community Interpreting <?page no="60"?> 4.2 Das psychotherapeutische Setting: grundsätzliche Überlegungen Alexieva unterscheidet dolmetscherunterstützte Gesprächssituationen je nach dem, welches Ziel beim Gespräch primär verfolgt wird, ob es also darum geht, Wissen auszutauschen, eine kollektive Entscheidung zu fällen (z. B. eine gemeinsame Strategie erarbeiten) oder konfligierende Zielvorstellungen zu diskutieren (2002: 229). Das psychotherapeutische Setting lässt sich nicht eindeutig einer der gebo‐ tenen Kategorien zuordnen, jedoch bietet Alexievas Typologie ein brauchbares Schema, um die Eckpunkte der kommunikativen Situation in der psychothe‐ rapeutischen Triade zu beschreiben: Es findet ein Wissensaustausch statt, insofern als die PsychotherapeutIn durch gezieltes Nachfragen Informationen über das Leben und Erleben der KlientIn in Erfahrung bringt und sich das nötige Wissen aneignet, um Entscheidungen über das weitere Vorgehen im psy‐ chotherapeutischen Arbeiten zu treffen. Da eine stark ausgeprägte Machtasym‐ metrie der psychotherapeutischen Gesprächssituation immanent ist, erfährt die KlientIn nichts oder nur sehr wenig über das Leben der PsychotherapeutIn. Dennoch ist die KlientIn selbstverständlich nicht ausgeschlossen vom Wissens‐ transfer, da das gezielte Nachfragen der PsychotherapeutIn einen Prozess des Sich-selbst-besser-Kennenlernens initiiert: Indem die KlientIn auf die Fragen der PsychotherapeutIn eingeht (oder auch bewusst darauf verzichtet, diese wahrheitsgemäß zu beantworten), nähert er/ sie sich den eigenen (belastenden) Inhalten und Erinnerungen, für die im Alltag wenig Raum zur Verfügung gestellt wird. Die zweite Kategorie bei Alexieva, also die Erarbeitung einer gemeinsamen Strategie, trifft ebenfalls auf das psychotherapeutische Setting zu, auch wenn es sich, wie bereits erwähnt, um eine asymmetrische Gesprächssituation handelt. Jede Psychotherapie ist anders, und auch jede Therapiestunde ist anders. Es handelt sich um nicht wiederholbare, nicht standardisierte Gesprächssituati‐ onen, die keiner bestimmten Routine folgen, was aber nicht bedeutet, dass die Gespräche der Beliebigkeit preisgegeben oder dem Zufall überlassen werden. Die PsychotherapeutInnen kommunizieren - oder sollten es jedenfalls tun - auf eine reflektierte, bewusste Weise, während die KlientInnen keinem solchen Anspruch genügen müssen. Die Tatsache, dass es den PsychotherapeutInnen obliegt, das Gespräch zu lenken und gewissermaßen die Oberhand zu behalten, bedeutet nicht, dass der KlientIn eine passive Rolle zukommt. Vielmehr ist eine Therapie immer Ergebnis gemeinsamer Bemühungen von TherapeutIn und KlientIn gleichermaßen. Auch wenn eine Therapie kurz- oder langfristig 60 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="61"?> der KlientIn Erleichterung verschaffen kann und soll, ist Erleichterung nicht das primäre Ziel einer Therapie; insofern ist es wichtig, auch für die Dolmet‐ scherIn, nachzuvollziehen, dass eine Therapie kein „Wohlfühlprogramm“ sein kann, auch wenn das Wohlbefinden und das Wohlfühlen der KlientIn selbstver‐ ständlich anzustreben sind. Zu einer Therapie gehören auch Irritationen und Konflikte, und es ist Aufgabe der DolmetscherInnen, diese zu transportieren und zu ermöglichen und dabei der Versuchung zu widerstehen, Unangenehmes „unter den Teppich zu kehren“ oder „glattzubügeln“. Um wieder auf Alexievas Typologie zurückzukommen, die therapeutische Strategie wird stets gemeinsam mit der KlientIn ausgearbeitet, oder, um es anders auszudrücken, eine Therapie kann niemals gegen den Willen und gegen den Widerstand der KlientIn erfolgen, sondern nur auf freiwilliger Basis und mit einer aktiven Beteiligung der KlientIn. Was den dritten Aspekt bei Alexieva anbelangt, nämlich konfligierende Zielvorstellungen, so wurde bereits erwähnt, dass Irritationen und Konflikte durchaus Teil des psychotherapeutischen Settings sind. Unterschiedliche, gera‐ dezu entgegengesetzte Erwartungshaltungen (s. 4.2) an die DolmetscherInnen können ebenfalls für Konflikte sorgen. Im Hinblick auf Alexievas Schema lässt sich festhalten, dass das psycho‐ therapeutische Setting sich einer eindeutigen Kategorisierung entzieht. Die therapeutische Expertise, die sich zusammensetzt aus jahrelanger Ausbildung, intensiver Selbsterfahrung, eigener Praxis sowie laufender, qualifizierter, kol‐ lektiver Reflexion der eigenen Praxis im Rahmen von Supervisionen und Intervisionen, besteht gerade darin, für jede Klientin und jeden Klienten einen individuellen, eigens auf die jeweilige Lebenssituation und die jeweiligen psychischen Kapazitäten abgestimmten Zugang zu finden. Dieser Umstand erfordert von DolmetscherInnen ebenfalls Flexibilität, Einfühlungsvermögen und laufende Reflexionsfähigkeit. Tribe & Morrissey weisen auf einen Zusammenhang zwischen Flüchtlingsstatus (also erzwungener Fluchterfahrung) und psychiatrischen Problemen hin (2003: 202). Kulturschock oder reaktivierte Inhalte und der Verlust von Identität und kulturellen Werten werden als Erklärungen für diese Korrelation herangezogen. Dank des Einsatzes von DolmetscherInnen ist es möglich, dass diese Menschen Zugang zu psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung erhalten: „(…) interpreters may play an indispensable role in mental health assessments and in ensuring that access to mental health services is possible“ (2003: 204). Dabei ist zu bedenken, dass es fast überall in der Welt ein Stigma ist, psychische oder emotionale Probleme zu haben, dass aber die Idee eines Fachmanns oder einer Fachfrau, der/ die für diesen Bereich zuständig ist, nicht überall verankert 61 4.2 Das psychotherapeutische Setting: grundsätzliche Überlegungen <?page no="62"?> ist; stattdessen kann es ein älteres Familienmitglied, ein traditioneller Heiler, der Gemeinschaftsälteste oder ein Alternativmediziner sein, an den man sich in solchen Fällen wendet. Die Idee, dass man seine Gedanken und Gefühle einem Fremden anvertraut, ist Teil eines westlichen Konzepts von Psychotherapie und kann anderswo als befremdlich wahrgenommen werden und dazu führen, dass fremdsprachige PatientInnen es vorziehen, über körperliche Schmerzen und Symptome zu klagen, anstatt sich über ihre Ängste zu unterhalten (2003: 206). Vor diesem Hintergrund kann die Präsenz einer DolmetscherIn eine zusätzliche Aufwertung erfahren, denn die DolmetscherIn ist zumindest mit der Sprache der KlientIn vertraut und stellt somit einen Anknüpfungspunkt an Vertrautes dar. Köllmann führt zwei wesentliche Punkte ins Treffen, in denen sich die Tätigkeit im psychotherapeutischen Setting von anderen Einsatzbereichen für DolmetscherInnen unterscheidet: Zum einen begleitet die DolmetscherIn in der Regel einen Therapieprozess über einen längeren Zeitraum hinweg, sodass eine vertrauensvolle Beziehung zwischen DolmetscherIn und PatientIn entsteht. Zum anderen sind die Themen, die in Therapiesitzungen zur Sprache kommen, häufig emotional sehr belastend, was in anderen Bereichen für gewöhnlich nicht der Fall ist, oder wovon zumindest nicht von vornherein auszugehen ist (2011: 55). Bot beschreibt das Dilemma, mit dem eine ausgebildete und praktizierende Psychotherapeutin konfrontiert ist, wenn die gewohnte Dyade zu einer Triade erweitert werden muss: As a psychotherapist I have been taught to word my interventions very carefully - the choice of words, tenses and mood each infuence the effect of the intervention. At the same time I have no idea what the interpreter is doing to my words - does he retain the therapeutic intention that I put in them or does he turn them into something completely different? Likewise, what happens to the words used by the patient? Pasychotherapists have also been taught of the importance of a therapeutic relationship. It has to be built up carefully between therapist and patient. At the same time I needed to deal with the situation that the interpreter could be ‚anyone‘ - so one session with a patient I would have one interpreter to assist us, whereas in the next session witht the same patient there would be another interpreter. How could I explain and justify this? (2005: 5) Der Aufbau einer therapeutischen Beziehung - die Hauptaufgabe einer Thera‐ peutIn - muss in diesem Fall also in enger Zusammenarbeit mit einer dritten Person erfolgen, von der nicht a priori davon ausgegangen werden kann, dass sie die Bereitschaft und/ oder die Fähigkeit mitbringt, das Konzept einer 62 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="63"?> therapeutischen Beziehung intellektuell und emotional nachzuvollziehen und in weiterer Folge aktiv mitzugestalten. Bot vergleicht die Arbeitsweise von DolmetscherInnen in der Psychotherapie mit anderen Kontexten: Polizeieinver‐ nahmen, Gespräche mit Bewährungshelfern, Gespräche in der Notaufnahme, bei Gericht etc. Bei Konferenzen gäbe es allerdings wenig Interaktion zwischen DolmetscherIn, SprecherIn und dem Publikum. „Each of these situations is in some way similar and in other ways different from the situation that I studied“ (Bot 2005: 27). Pinzker plädiert dafür, die triadische psychotherapeutische Gesprächssitua‐ tion als ein eigenständiges Setting innerhalb der Psychotherapie zu betrachten und darauf zu verzichten, Vergleiche zur Dyade zu ziehen oder die Unsicht‐ barkeit der DolmetscherIn anzustreben. Maschinelle oder technische Modelle für die Rolle der DolmetscherIn sollten als Mythen entlarvt werden und einer offenen (auch ergebnisoffenen) personenbezogenen Grundhaltung gegen‐ über dem psychotherapeutischen Setting Platz machen (2015: 35 ff.). Pinzker empfiehlt daher gerade NeueinsteigerInnen, „‚alten‘ Leitfäden“ kritisch zu begegnen, sich ganz bewusst auf die neue Konstellation Psychotherapeutin-Dol‐ metscherin-Klientin einzulassen und sich zunächst einzugestehen, dass man eben (noch) nicht weiß, „wie es geht“, in diesem Setting zu arbeiten: Dies gilt es vielleicht zunächst einmal „nur auszuhalten“, ohne sofort nach „Leitfäden“ zu rufen oder sich an einen Dyade-Vergleich zu klammern. Es gibt keinen Vergleich. Es handelt sich um etwas Neues, sozusagen Beispielloses. Die Triade mit dem Einzelsetting ohne Dolmetscherin zu vergleichen oder aus ihm für die Arbeit in der Triade etwas „ableiten“ zu wollen, erscheint mir nicht zielführend, im Gegenteil, mit Blick auf das Datenmaterial, vielmehr hinderlich. (2015: 46) Pinzkers Ansatz mag aus psychotherapeutischer Sicht geradezu radikal an‐ muten, es ist aber gerade eine solche Haltung, die sich als produktiv erweisen kann - offen für noch unbekannte Dynamiken, frei von Zwängen, sich an „alte Leitfäden“ zu halten, die den aus der triadischen Konstellation erwachsenden Komplikationen nicht ausreichend Rechnung tragen können. Aus translationswissenschaftlicher Sicht ist die Präsenz der DolmetscherIn in einer triadischen Gesprächssituation so selbstverständlich, dass sie im Grunde keiner weiteren Erwähnung bedarf: Überall dort, wo eine DolmetscherIn an‐ wesend ist und ihre Sprach- und Dolmetschkompetenz den Gesprächspartne‐ rInnen zur Verfügung stellt, findet eben ein dolmetschgestütztes Gespräch statt und ist somit für die Translationswissenschaft von Relevanz und von Interesse. Aus der Sicht der psychotherapeutischen Tradition und also der Psychotherapieforschung jedoch ist die Präsenz einer dritten Person geradezu 63 4.2 Das psychotherapeutische Setting: grundsätzliche Überlegungen <?page no="64"?> ein revolutionärer Akt, in dem Sinn, dass eine solche Arbeitsweise Altbekanntes außer Kraft setzt und neue Denkweisen auf den Plan ruft. Diese Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung des triadischen psychotherapeutischen Settings aus der Perspektive der Translationswissenschaft einerseits und der Psychothe‐ rapieforschung andererseits gilt es bei der Beschreibung und Bewertung der Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Settings zu bedenken. 4.2.1 „Bühne“ und „Rolle“ Berufsgruppen agieren permanent in gesellschaftlichen und kulturellen Zusam‐ menhängen - das trifft auch auf wenig professionalisierte und stark heterogene und fragmentierte Berufsgruppen zu. Der kanadische Soziologe Erving Goffman vergleicht das soziale Leben mit einer komplexen Bühne, auf der ein Ensemble von DarstellerInnen vor einem Publikum auftritt und in bereits vorgegebene Rollen schlüpft, stets darauf bedacht, die Fassade aufrechtzuerhalten, die Rolle glaubhaft zu verkörpern und gegebenenfalls den vom Publikum an den Darsteller herangetragenen Idealisie‐ rungen und Mystifikationen Rechnung zu tragen (vgl. Goffman 1969/ 2003). Das glaubhafte Verkörpern der Rolle der DolmetscherIn ist in einer gegebenen Situation eng verknüpft mit der Dolmetschkompetenz, die zu dem jeweiligen Zeitpunkt und im jeweiligen Kontext abgerufen werden kann, allerdings ist der Faktor der Präsentation ein nicht zu vernachlässigender: Eine Verdolmetschung kann fehlerhaft und/ oder unvollständig sein, und dennoch kann es der Dolmet‐ scherIn gelingen, durch ein selbstsicheres Auftreten und eine gelungene Prä‐ sentation einen positiven Eindruck beim Publikum zu hinterlassen, d. h. bei der Zuhörerschaft das Gefühl hinterlassen, man habe „alles verstanden“; umgekehrt kann eine vollständige, korrekte Verdolmetschung durch eine mangelhafte Präsentation unglaubwürdig klingen. Goffman beschreibt die Anforderungen an eine Rolle folgendermaßen: Denn wenn die Tätigkeit des Einzelnen Bedeutung für andere gewinnen soll, muß er sie so gestalten, daß sie während der Interaktion das ausdrückt, was er mitteilen will. Es kann in der Tat vorkommen, daß von dem Darsteller Beweise seiner Fähigkeit nicht nur im gesamten Verlauf der Interaktion, sondern auch innerhalb eines Sekun‐ denbruchteils verlangt werden. Wenn etwa der Schiedsrichter beim Baseballspiel den Eindruck erwecken will, er sei sicher in seinen Entscheidungen, so muß er auf den Augenblick der Reflexion verzichten, der ihm gerade die Sicherheit geben könnte. Er muß sofort eine Entscheidung fällen, damit das Publikum sicher sein kann, dass sein Urteil richtig ist. (Goffman 1969/ 2003: 24) 64 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="65"?> Diese Aussage trifft auf das Dolmetschen ebenfalls zu: Es gilt, „innerhalb eines Sekundenbruchteils“ das Original - also den Sprechakt - in sämtlichen Facetten (Inhalt, Bedeutung, Tonlage, Humor, Realien, Anspielungen etc.) zu verstehen und in der Zielsprache so vollständig und so korrekt wie möglich wiederzu‐ geben. Geschwindigkeit ist im Unterschied zum schriftlichen Übersetzen von entscheidender Bedeutung, denn damit eine DolmetscherIn einen kompetenten Eindruck macht, muss sie in der Lage sein, nicht nur korrekt, sondern auch schnell zu arbeiten. Verlangsamungen, die sich durch Sprechpausen und Hä‐ sitationen manifestieren, führen dazu, dass insgesamt ein Eindruck entsteht, die DolmetscherIn sei inkompetent und/ oder mit der gegebenen Situation überfordert. Bleiben wir bei der Rollenmetapher, so gilt es festzuhalten, dass die DolmetscherIn eben nicht die Möglichkeit hat, ihren Text vorzubereiten und den Vortrag zu üben. Stattdessen geht es in der Dolmetschsituation darum, sämtliche sprachliche und sonstige Wissensbestände „innerhalb eines Sekundenbruch‐ teils“ abzurufen, um die Aufgabe des Verstehens und Verständlichmachens bestmöglich erfüllen zu können. Gefragt ist also eine solide Vorbereitung im Hintergrund im Sinne einer langfristig akkumulierten Kompetenz, sowie eine optimale (improvisierte) Performance der Rolle im Hier und Jetzt. Goffman definiert mehrere Sonderrollen: „die des Denunzianten, des Cla‐ queurs, des Kontrolleurs, des professionellen Einkäufers und des Vermittlers“ (ebda. S. 90). Goffmans Überlegungen zu der letztgenannten Rolle, der des Vermittlers, thematisieren ethische Dilemmata von DolmetscherInnen (in der Psychotherapie, aber auch in anderen Kontexten): Der Vermittler erfährt die Geheimnisse beider Seiten und erweckt bei jeder Seite den berechtigten Eindruck, daß er ihre Geheimnisse bewahren werde; er ist aber bestrebt, bei jeder Seite den falschen Eindruck zu erwecken, als sei seine Loyalität ihr gegenüber größer als seine Loyalität gegenüber der anderen Seite (…) Die Tätigkeit des Vermittlers als Individuum ist bizarr, unhaltbar und würdelos, wie sie solchermaßen zwischen Loyalität zu dem einen und zu dem anderen Ensemble hin- und herschwankt. (ebda. S. 90) Der Loyalitätskonflikt, der aus divergierenden, einander mitunter entgegen‐ gesetzten Nutzererwartungen resultiert, kann sich gerade im Kontext der Psychotherapie stark manifestieren, indem jeder der beiden Gesprächspartne‐ rInnen versucht, die DolmetscherIn an seine/ ihre Seite zu ziehen: einerseits die Psychotherapeutin als die arbeitende Fachperson, die an die Berufsethik der DolmetscherIn appelliert, andererseits die KlientIn als eine Gesprächsteilneh‐ merIn, die darauf angewiesen ist, sich mit Hilfe der DolmetscherIn in einer für sie prekären Situation Gehör zu verschaffen und Hilfe zu bekommen. 65 4.2 Das psychotherapeutische Setting: grundsätzliche Überlegungen <?page no="66"?> Kadrić macht das Bühnen-Konzept von Goffman fruchtbar für die Translations‐ wissenschaft (vgl. Kadrić et al. 2005: 12ff.). Die Bühne setzt sich zusammen aus einer Vorderbühne, die den repräsentativen Bereich darstellt, der von der Öf‐ fentlichkeit, also vom Publikum wahrgenommen wird, und einer Hinterbühne, von welcher das Publikum ausgeschlossen ist und wo die Ensemblemitglieder weitgehend ungestört Vorbereitungen für ihren Auftritt auf der Vorderbühne treffen können. Das Handeln der Ensemblemitglieder untereinander, gegenüber dem Publikum und gegenüber der Sache basiert auf Loyalität, Kooperation, Vertrauen und Solidarität. Die Institutionen dienen dazu, bestimmte Werte der Gesellschaft zu verwirk‐ lichen bzw. diese durch Vorgaben und Normen verbindlich zu machen. Die Bestrebungen des Berufsstandes, sein Image in der Öffentlichkeit möglichst positiv darzustellen, wurden bereits thematisiert. Die Institutionen erwarten, dass ihre Mitglieder bestimmte Rollen, bestimmte Hand‐ lungsmuster übernehmen. So werden die Mitglieder zu ‚Darstellerinnen‘, die die institutionserwünschten Handlungsmuster durch die Aneignung von spezifischen Techniken beherrschen, die ihnen bei ihrer ‚Inszenierung‘ helfen. Es geht dabei darum, den Eindruck zu erwecken und zu festigen, dass man als Angehörige einer bestimmten Berufsgruppe alle Kriterien erfüllt, an denen man in der Arbeitswelt gemessen wird: Präzision, Kompetenz, Sachlichkeit, Zuverlässigkeit, Vertrauen. Als ‚Darstellerin‘ bemüht man sich, dieses bestimmte Bild in der Öffentlichkeit zu vermitteln: Man soll als Zugehörige der betreffenden Gruppe alle diese verschiedenen Kriterien erfüllen. (ebda. S. 16) Die akademische Ausbildung bildet die Hinterbühne für die TranslatorInnen. In diesem Raum werden außer der konkreten Kompetenzvermittlung auch ethische Werte wie Loyalität, Kooperation und Solidarität vermittelt und ver‐ handelt, es findet also eine fachliche Enkulturation oder Rollenarbeit auf der Hinterbühne statt, sodass der Entwicklung einer Translationskultur Vorschub geleistet wird. 4.2.1.1 Sonderposition der Psychotherapie: abseits der Bühne Das psychotherapeutische Setting ist nachgerade das Gegenteil einer Bühne. Die psychotherapeutische Arbeit findet unter Ausschluss des Publikums statt, im Rahmen der größtmöglichen Verschwiegenheit und Diskretion. Die absolute, garantierte Exklusivität sowie ein radikal individueller Zugang zu jeder KlientIn - also der bewusste Verzicht auf standardisierte Verfahren und Vergleichbar‐ keit - bilden den besonderen Wert dieser kommunikativen Situation. Die oben erwähnte Bühnenmetapher lässt sich bis zu einem gewissen Grad auf den 66 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="67"?> Berufsstand der PsychotherapeutInnen anwenden, in erster Linie insofern, als die Ausbildungsstrukturen und die rege Vernetzung in Form von regelmäßigen Inter- und Supervisionen der fachlichen Enkulturation und der Weiterentwick‐ lung des Fachs dienen; auf der „Vorderbühne“ agieren PsychotherapeutInnen, indem sie anlassbezogen ihre gewonnenen Einblicke an ein Fachpublikum oder eine interessierte Öffentlichkeit weitergeben. In der konkreten, täglichen Arbeit geht es jedoch darum, einen Raum zu schaffen, in dem traumatisierte Menschen die Möglichkeit erhalten, sich ganz und gar mit dem eigenen, individuellen Erleben auseinanderzusetzen, auf eine Weise, die für sie persönlich passend erscheint; aus der Sicht der KlientInnen handelt es sich um eine Art „Rückzugsraum“ und weniger um eine öffentliche Einrichtung, die mit dem Ziel, etwas Bestimmtes zu erledigen, aufgesucht wird. In Anlehnung an die Theater‐ metapher könnte man sagen, das psychotherapeutische Setting konstituiert eine wöchentlich wiederkehrende kommunikative Situation, in der die KlientIn die Möglichkeit hat, sich auf einer freiwilligen Basis zu öffnen, Stück für Stück ihre „Maske“ oder ihren „Panzer“ abzulegen (bzw. mit der Unterstützung der PsychotherapeutIn einen Blick hinter die eigene, im normalen Leben notwendig gewordene „Maske“, den eigenen „Panzer“, die eigene „Kulisse“ zu werfen), sich gegebenenfalls mit traumatisierenden Erlebnissen zu konfrontieren, diese Inhalte zu integrieren und jedenfalls einen Weg zu finden, die Gegenwart zu bewältigen und Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Nur das Erstgespräch (also das Aufnahmegespräch) in einem Traumabehand‐ lungszentrum folgt einem bestimmten Schema: Da werden routinemäßig die persönlichen Daten abgefragt, es wird festgehalten, durch welche Einrichtung die KlientIn zur Psychotherapie zugewiesen wurde, es wird geklärt, welche Symptomatik besteht und ob und welche Behandlung bereits in Anspruch genommen wurde. Nach Abwicklung des Erstgesprächs findet eine Zuweisung zu einer PsychotherapeutIn statt (meist nach einer Wartezeit, die einige Monate dauern kann), und ab diesem Zeitpunkt beginnt die eigentliche psychothera‐ peutische Arbeit - unter Ausschluss jeglicher Öffentlichkeit und mit dem einzigen Ziel, eine Annäherung an die persönliche Geschichte der KlientIn zu ermöglichen. Das heißt, ein Gespräch ist nicht dann zu Ende, wenn die notwendigen Informationen ausgetauscht wurden und das weitere Vorgehen geklärt ist, wie dies bei Beratungsgesprächen (z. B. Sozial- und Rechtsberatung) der Fall ist, sondern es ist so, dass eine KlientIn, die einen Psychotherapieplatz zuerkannt bekommen hat, jede Woche eine Stunde Gesprächszeit zur Verfügung gestellt bekommt, die sie auf ihre ganz individuelle Art und Weise nützen kann. Therapien können sich über Jahre erstrecken. Damit die Erreichung der explizit oder implizit definierten Therapieziele (siehe 3.3.1) gelingen kann, ist 67 4.2 Das psychotherapeutische Setting: grundsätzliche Überlegungen <?page no="68"?> es notwendig, dass eine Beziehung zwischen der PsychotherapeutIn und der KlientIn entstehen kann. Am Aufbau dieser Beziehung ist die DolmetscherIn maßgeblich beteiligt - sei es durch aktive Teilnahme, sei es durch bewusste Zurückhaltung - und ist außerdem im Idealfall ein integrierter, kontinuierlicher Bestandteil dieser Beziehung. In der Landschaft des Community Interpreting (Behörden, medizinische und soziale Einrichtungen, Gerichte etc.) nimmt die psychotherapeutische Behandlung eine Sonderrolle ein, insofern als es nicht darum geht, ein be‐ stimmtes „Ziel“ zu erreichen, im Sinne einer Bestätigung oder Erlangung einer konkreten Berechtigung, sondern das eigentliche Ziel der Psychotherapie ist die psychotherapeutische Arbeit selbst: eine auf freiwilliger Basis erfolgende Auseinandersetzung mit den eigenen Erinnerungen und Emotionen. Zwar können psychotherapeutische Gutachten im Asylverfahren ein gewisses Ge‐ wicht erlangen, aber im Prinzip dient eine Psychotherapie keinem bestimmten Zweck, der sich im Asylverfahren in einem bürokratischen Sinne „verwerten“ ließe. Für die DolmetscherInnen geht diese Erkenntnis mit der Anforderung einher, bereit zu sein, sich auf die spezifische, psychotherapeutische Kommuni‐ kation einzulassen, Teil des Beziehungsgeflechts zu sein, Übertragungen und Gegenübertragungen in der Triade ausgesetzt zu sein und diese zu reflektieren (sei es mit Hilfe der jeweiligen PsychotherapeutIn, sei es im Rahmen der Supervision) und aktiv auf das eigene psychische Wohlbefinden zu achten. 4.2.2 Überlegungen zur Ethik Kadrić (2016) thematisiert Haltungen und Werte im Zusammenhang mit dem Dolmetschen und hebt die Wahrung der Menschenwürde hervor, als einen Wert, dem DolmetscherInnen, indem sie einen „Dienst am Menschen“ verrichten, verpflichtet sind. In Situationen, in denen sich moralische Dilemmata manifes‐ tieren, müssen DolmetscherInnen den Menschen, mit dem und für den sie sprechen, berücksichtigen. Menschenwürde als ein zentraler Begriff bedeutet auch eine didaktische Herausforderung, und zwar im Sinne einer emanzipato‐ rischen Didaktik, die das (Dialog)Dolmetschen folgendermaßen definiert: (…) ein Tätigkeitsfeld, in dem emanzipatorisches Handeln besonders effektiv aus‐ probiert werden kann - neben der Textarbeit und Entdeckung sprachlicher und kultureller Differenzen können soziale Konventionssysteme, Machtdifferenzen und beeinflussende Konzepte analysiert werden, der Umgang mit ihnen reflektiert und Alternativen ausprobiert werden. Und überall dort, wo es um tief menschliche Themen geht, ist die Wahrung der Würde zentral. Es geht beim Lernen weniger um Wissen, nicht einmal um exakt definierbare Verhaltensregeln, sondern um eine Haltung, die 68 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="69"?> hinter der Berufsausübung stehen soll. Die Haltung selbst ist freilich ein Gebot, das sich aus moralischen und rechtlichen Prinzipien ableiten lässt. (Kadrić 2016: 111) Im Kontext der Psychotherapie ist der Begriff der Würde des Menschen von zentraler Bedeutung. Berufskodizes resultieren aus dem Bestreben und dem Wunsch sicherzu‐ stellen, dass die Verbandsmitglieder sich an bestimmte Normen halten und ihren Beruf mit einer verantwortungsbewussten Einstellung ausführen (siehe die Auseinandersetzung mit dem Verhaltenskodex des Internationalen Konfe‐ renzdolmetscherverbandes AIIC; Kadrić et al 2005: 17 ff.). Von hohen Standards innerhalb einer Berufsgruppe profitieren alle Beteiligten, bzw. gilt im Umkehr‐ schluss, dass eine Missachtung solcher Standards einen Imageschaden des Berufsstands zu Folge haben kann. Soweit die Theorie. In der Praxis sind DolmetscherInnen häufig auf sich allein gestellt und müssen die Erfahrung machen, dass die formulierten Normen sich mit den realen Situationen, denen sie ausgesetzt sind, in die sie oft „hinein‐ geworfen“ sind, nicht decken und sich daraus keine Handlungsanweisungen ableiten lassen. Ozolins weist darauf hin, dass in Situationen, in denen nichtprofessionelle DolmetscherInnen zum Einsatz kommen, sich die Frage nach der ethischen Verantwortung stellt: Ist eine LaiendolmetscherIn verpflichtet, sich an den Be‐ rufskodizes zu orientieren und professionelle Verantwortung zu übernehmen? Es ist möglich, dass eine LaiendolmetscherIn sich ihrer ethischen Verantwor‐ tung gar nicht bewusst ist. In einem solchen Fall ist die Person, die den Arbeitsauftrag an die LaiendolmetscherIn vergeben hat, die eigentliche Trägerin der ethischen Verantwortung, auch wenn er/ sie wenig Vorstellung von den Implikationen dieser Entscheidung hat, weil er/ sie über mangelhaftes Wissen über die Anforderungen an das Dolmetschen verfügt (2015: 319). Bahadır diskutiert berufsethische Aspekte im Spannungsfeld zwischen Ver‐ antwortung und Freiheit und plädiert dafür, situativ notwendige Grenzüber‐ schreitungen (z. B. aus der Rolle fallen, mehrere Rollen auf einmal spielen wollen oder müssen) als „Kratzer auf der Oberfläche der professionellen Identität und Handlungsweise des Dolmetschers“ (2007: 214) zu betrachten und diese Kratzer nicht etwa zu ignorieren oder wegzupolieren, sondern sich im Gegenteil aktiv damit auseinanderzusetzen: Eben diese Kratzer gilt es zu vertiefen (…) Kratzer bedeuten, dass man Schmerz verspürt und dadurch sich selbst intensiver wahrnimmt. Sein Tun wahrnehmen, in jeder Situation von neuem und als neu, bedeutet wiederum, dass Leitsätze, aufgestellt durch die institutionalisierte Form einer Tätigkeit (z. B. durch Berufsverbände) nicht 69 4.2 Das psychotherapeutische Setting: grundsätzliche Überlegungen <?page no="70"?> mehr als immer und überall leitend, sondern als ‚Leitungsangebot‘ angesehen werden können. (Bahadır: 2007: 214). Die Dolmetschtätigkeit bringt oft „eine besondere Art des Völlig-auf-sich -selbst-gestellt-Seins, eine Art Einsamkeit und In-eine-Situation-Geworfensein mit sich“ (2007: 216). Somit sollte die Fähigkeit, sich mit sich selbst auseinander zu setzen, als hilfreich angesehen werden. Bahadır ortet jedoch stattdessen eher ein Bedürfnis nach Eskapismus und Reduktionismus im Hinblick auf Selbstreflexion. Die Fähigkeit, Ereignisse während des Dolmetschens schnell und effektiv zu verarbeiten, würde somit als professionell distanziert bewertet. Im psychotherapeutischen Setting sind DolmetscherInnen mit Inhalten kon‐ frontiert, von denen sie sich auch berühren lassen (müssen), und von denen sie sich auf welche Weise auch immer abgrenzen müssen. Abgrenzung bedeutet jedoch nicht, einer Auseinandersetzung mit diesen Inhalten aus dem Weg zu gehen, sondern es bedeutet vielmehr, einen (individuellen) Weg zu finden, mit ihnen konstruktiv umzugehen, auch und gerade durch den Versuch, die Frage „Was haben diese Inhalte mit mir persönlich zu tun? “ für sich selbst zu beantworten. Im praxisnahen UNHCR-Trainingshandbuch für DolmetscherInnen im Asyl‐ verfahren werden vier ethische Anforderungen an die DolmetscherInnen formuliert: Vertraulichkeit, Unparteilichkeit, Genauigkeit und Vollständigkeit sowie ein respektvoller Umgang mit den GesprächsteilnehmerInnen (Hebe‐ nstreit & Marics 2015: 74 ff.). Zugleich betonen die beiden AutorInnen, dass DolmetscherInnen im Asylverfahren immer auch mit Dilemmata konfrontiert sein können, für die es keine Patentrezepte gibt (ebda. S. 78). Es wird in solchen Fällen empfohlen, das Problem zu identifizieren, zu klären, ob ein moralisches Problem besteht, sich die eigenen Wertvorstellungen im Bezug auf das Problem bewusst zu machen, mögliche Handlungsoptionen zu beschreiben, Optionen abzuwägen und eine Entscheidung zu treffen und schließlich das Ergebnis der Handlung zu bewerten und darüber nachzudenken, was man hätte anders machen können bzw. was man in künftigen Situationen anders machen würde. In der konkreten Dolmetschsituation müssen solche Entscheidungen jedoch meist unter großem Zeitdruck sehr rasch getroffen werden. Wichtig ist jedoch, solche Situationen als Lernmöglichkeiten zu begreifen. Die hier dargestellten ethischen Anforderungen eignen sich auch für den Bereich der Psychotherapie. Hale berichtet von einer 2005 in Australien durchgeführten Studie zum Thema Berufskodex. Von den 500 an DolmetscherInnen ausgeschickten Frage‐ bögen wurden lediglich 21 ausgefüllt und retourniert - wohl ein Hinweis auf die Indifferenz, mit der die AkteurInnen aus der Praxis diesem Forschungsthema begegnen (2007: 102). Ein verbindlicher Berufskodex für den Bereich des Com‐ 70 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="71"?> munity Interpreting ist noch keine ausreichende Maßnahme, um die Qualität zu steigern: There is large contradiction between the high standards expected of interpreters, as outlined in the code of ethics on the one hand, and the total absence of any compulsory pre-service training, low institutional support and poor working conditions to allow interpreters to meet those standards on the other. In view of this, some have questioned whether it is realistic to expect community interpreters to adhere to a code. (2007: 105) Die hier aufgeworfene Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen dessen, was man von LaiendolmetscherInnen tatsächlich in der konkreten Arbeit erwarten kann, stellt sich im Alltag in den einschlägigen Einrichtungen beispielsweise auch auf der Ebene der Supervisionstreffen: Inwiefern ist es möglich, ausgebil‐ dete DolmetscherInnen und LaiendolmetscherInnen, die in einer Einrichtung unabhängig von ihrer Ausbildung zum gleichen Stundenlohn Seite an Seite arbeiten, zu motivieren, Supervisionstreffen oder Fortbildungen zu besuchen, angesichts der äußerst prekären und schwer planbaren Beschäftigungsverhält‐ nisse? Supervisionstreffen oder sonstige Gruppentreffen bieten eine - wenn nicht die einzige - strukturierte oder halb-institutionalisierte Gelegenheit im Arbeitsalltag, um sich mit berufsethischen Anliegen auseinanderzusetzen. Bei‐ spielweise beschreibt Pinzker eine Erfahrung, die sie als ausgebildete Dolmet‐ scherin zu Beginn ihrer Tätigkeit in der Psychotherapie gemacht hat und die sie zu berufsethischen Überlegungen veranlasst hat: Obwohl sie in ihrer Ausbildung gelernt hatte, sich von den gesprochenen Inhalten zu distanzieren und also keine Stellung zum Gesagten zu beziehen, und diese Anforderung auch in ihrer Berufsethik verinnerlicht hatte, gelang es ihr nicht, ihren Schock oder ihre Skepsis zu verbergen, sowohl im Hinblick auf die Arbeitsweise einer Psychotherapeutin, als auch im Hinblick auf die Aussagen eines Klienten. Zwar hielt sie sich auf der Wortebene jeweils an das Original, aber ihre Körpersprache und die unwillkürliche Modulation ihrer Stimme verrieten ihre emotionalen Reaktionen auf das Geschehen. Sie war also trotz ihres rationalen Wissens um die Notwendigkeit, sich distanziert und zurückhaltend zu verhalten, nicht in der Lage, ihre Emotionen ganz zu verbergen, was ihrer Meinung nach reale Aus‐ wirkungen auf den weiteren Gesprächsverlauf hatte, indem ihre eigene Haltung sich auf ihr Gegenüber übertrug. Pinzker zieht daraus die Schlussfolgerung, dass es eine vielschichtigere und flexiblere Ethik des Dolmetschens braucht, eine, die nicht auf dem Mythos der Neutralität beruht, sondern „auf dem Anerkennen des Mensch-Seins, Beteiligtseins und der daraus erwachsenden Notwendigkeit der Reflexion“ (2015: 66). Daraus leitet sie die Forderung ab, die Rolle der 71 4.2 Das psychotherapeutische Setting: grundsätzliche Überlegungen <?page no="72"?> DolmetscherInnen in den entsprechenden Einrichtungen aufzuwerten und Schulungen anzubieten, die auch Inhalte umfassen, die über das Dolmetschen hinausgehen, wie etwa Psychotherapiemethoden, Trauma und Traumatherapie, Lebensbedingungen von AsylwerberInnen, Asylgesetzgebung etc. Auch Tribe & Sanders vertreten die Meinung, dass sowohl das medizinische Personal (clinicians) als auch DolmetscherInnen eigens geschult werden sollen, um die PatientInnen optimal versorgen zu können, insbesondere im Bezug auf psychische Gesundheitsversorgung (mental health). Diesbezüglich orten sie fehlendes Bewusstsein bei einigen MedizinerInnen, die das Dolmetschen als eine reine Hilfstätigkeit betrachten, die unbezahlt verrichtet werden sollte: „Some of the clinicians (paid) felt that it should remain a ‚Cinderella‘ service, with the interpreters undertaking their work on a voluntary basis or being paid a minimum amount. The reasons given were that they were not professionals and had no recognised training“ (2003: 57). DolmetscherInnen sollten zwischen Psychiatern, Psychologen, Psychotherapeuten und psychosozialen Beratern differenzieren können, außerdem Bescheid wissen über posttraumatische und somatische Reaktionen, Depressionen etc. Zudem sollten DolmetscherInnen laut Tribe & Sanders bereits im Vorfeld auf schwierige Situationen vorbereitet werden, wie etwa darauf, dass KlientInnen auf sie zukommen könnten mit der Bitte, gewisse Informationen nicht an den Psychotherapeuten weiterzugeben, oder auch darauf, dass KlientInnen psychotische Reaktionen an den Tag legen könnten. Die Grundzüge der Rolle der DolmetscherIn sollte ebenfalls bei solchen Fortbildungen vermittelt werden, beispielsweise an Hand von Rollenspielen. Andere wichtige Punkte sind ethische Überlegungen, die Bedeutung absoluter Verschwiegenheit und die Bedeutung des exakten Dolmetschens, also das Bestreben, möglichst nahe an der Wortwahl der KlientIn zu bleiben (2003: 58 ff.). Tribe & Sanders präsentieren außerdem eine Liste von Richtlinien für die Arbeit mit DolmetscherInnen und plädieren insgesamt dafür, dem Dolmetschen als Tätigkeit und der DolmetscherIn als Person genügend Zeit und Raum einzuräumen (2003: 61 ff.). Der Familientherapeut Maxwell Magondo Mudarikiri berichtet von einer Episode, die anschaulich zeigt, was passieren kann, wenn die Präsenz der DolmetscherIn und ihre aktive Teilnahme am Gespräch nicht ausreichend Berücksichtigung finden (2003: 189): Eine Patientin vertraute sich der Dolmet‐ scherin an, und diese gab die Informationen nicht an den Therapeuten weiter, sondern unterhielt sich mit der Patientin und ging auf ihre Sorgen ein. Erst auf Nachfrage des Therapeuten erzählte sie, dass sie die Klientin um Erlaubnis gebeten hatte, die Informationen an den Therapeuten weiterzugeben. Selbstkri‐ tisch stellt Mudarikiri fest, dass er es verabsäumt hatte, die Dolmetscherin über 72 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="73"?> ihre Rolle aufzuklären, da er davon ausgegangen war, dass die Dolmetscherin wissen würde, was zu tun war - dies war allerdings offenbar nicht der Fall. With hindsight I would have benefited from making adequate time available prior to the start of this session in order to build up a working relationship with the interpreter, and to clarify the roles that each of us would take in the work. I had not created the space to empower the interpreter to make an equal contribution to the work before it was started. The interpreter may not have had a context from which to make sense of the questions that I was asking, and what theoretical ideas were underpinning my questions (2013: 190). Die von Mudarikiri berichtete Episode zeigt anschaulich, dass man in der gemeinsamen Arbeit in der Regel aus den „Fehlern“ lernt, beziehungsweise durch die Bereitschaft, über solche Fehler zu reflektieren. Aus den in diesem Abschnitt angeführten Aussagen geht hervor, dass eine Ethik des Dolmetschens - unabhängig von der Ausbildung der DolmetscherInnen - auch denjenigen, die mit DolmetscherInnen arbeiten, ein Anliegen sein muss. Ein ethisches Verhalten kann von DolmetscherInnen allerdings nur dann ein‐ gefordert werden, wenn zugleich die DolmetscherIn als eine Person betrachtet wird (und nicht als eine Un-Person). Mudarikiri nimmt diesbezüglich auch die Seite der MedizinerIn in die Pflicht: There is no active observer to an interaction who does not influence what he or she observes. Therefore, the notion that interpreters can carry out their work as if they have no prior cultural or familial context, or views and opinions is unhelpful. At worst it can be a dangerous view to hold as it generates a model of work where interpreters are seen as having no more than a mechanical translating role in the work. The interpreter will bring their personhood, life experience, and work experience into an encounter with the clinician and service user. Embracing the personal qualities of the interpreter into the work can have an enhancing effect, rather than becoming a problem that has to be overcome. To utilise the interpreter effectively requires training on the part of the clinician. (2003: 190) 4.3 Themenrelevante Untersuchungen In diesem Abschnitt werden themenrelevante Untersuchungen vorgestellt, die sich mit dem Dolmetschen im Gesundheitsbereich und speziell mit dem Gebiet Psychotherapie beschäftigen. Zunächst werden die angewandten methodischen Ansätze in chronologischer Reihenfolge dargestellt, anschließend wird auf 73 4.3 Themenrelevante Untersuchungen <?page no="74"?> einige darin sowie in anderen relevanten Arbeiten abgehandelte thematische Schwerpunkte eingegangen. 4.3.1 Methoden im Überblick Um den Gegenstand Dolmetschen in der Psychotherapien zu erforschen, wurden unterschiedliche Methoden angewandt, die im folgenden Abschnitt dargestellt werden. Größtenteils handelt es sich um qualitative Methoden: meist leitfadengestützte, eher offen gestaltete Interviews, mit AkteurInnen aus der Triade, sowie ExpertInneninterviews und Fallstudien. Die teilnehmende Beobachtung ist ebenfalls zu den qualitativen Methoden zu zählen, wenn sich wohl auch sagen ließe, dass eine langfristige teilnehmende Beobachtung über eine bloße Methode hinausgeht - bei Pinzker (2015) und Degenhardt (2012) etwa handelt es sich um zwei Autorinnen, die den Bereich der dolmetscherun‐ terstützten Psychotherapie von innen heraus, als aktive AkteurInnen, beforscht haben und deren Reflexionen als aktive Praktikerinnen einerseits und als Forscherinnen andererseits wertvolle Einblicke bieten. Außerdem wurden dolmetschergestützte Gespräche auf Video aufgezeichnet und auf unterschiedliche Merkmale hin analysiert, wobei die Konzipierung der Analyse wiederum auf qualitativ gewonnenen Daten basierte. Quantitative Methoden wie z. B. Fragebögen wurden angewandt, um den Zugang von Menschen mit Migrationshintergrund zur medizinischen bzw. psychosozialen Versorgung festzustellen und Tendenzen aufzuzeigen. Die in diesem Kontext dominierenden Forschungsmethoden sind dem qua‐ litativen Spektrum zuzurechnen, was nicht verwunderlich ist, angesichts der Tatsache, dass in der Psychotherapie standardisierte Verfahren in der Regel keinen Platz haben und quantitative Methoden wie etwa Fragebögen lediglich dabei helfen können, einen Überblick über statistisch erfassbare Merkmale zu gewinnen, allerdings verfügen solche Daten über wenig Aus‐ sagekraft im Hinblick auf die Herausforderungen und Phänomene in der eigentlichen Arbeit für DolmetscherInnen und PsychotherapeutInnen. Quali‐ tative Methoden haben wiederum den Nachteil, dass die erhobenen Daten und die sich daraus abzuleitenden Erkenntnisse häufig widersprüchlich sind und es wenig Möglichkeit gibt, auf eine sinnvolle Weise Parallelen zu ziehen oder aufeinander aufbauende Untersuchungen durchzuführen, da jede neue Untersuchung mit qualitativen Methoden potenziell neue Erkenntnisse liefert und neue Perspektiven eröffnet. Im Folgenden werden die wichtigsten Untersuchungen vorgestellt: 74 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="75"?> Die britische klinische Psychologin Emily Granger führte 1996 eine groß ange‐ legte Umfrage unter DolmetscherInnen durch, ausgehend von der Überlegung, dass die Perspektive der DolmetscherInnen in der einschlägigen Forschung vernachlässigt worden war. Die Arbeit der DolmetscherInnen war zu dem damaligen Zeitpunkt zwar aus der Sicht der KlientInnen und der HelferInnen beschrieben worden, aber die DolmetscherInnen selbst wurden eher selten gebeten, sich über ihre Tätigkeit zu äußern (Granger & Baker 2002: 101). Insgesamt wurden 300 Fragebögen ausgesandt, allerdings wurden nur 64 aus‐ gefüllte Fragebögen retourniert. Mit Hilfe quantitativer Daten (Alter, Häufigkeit der Dolmetscheinsätze, Arbeitserfahrung) verschaffte sich die Forscherin einen Überblick über die Zusammensetzung der untersuchten Gruppe. Es wurden aber auch offene Fragen gestellt, bzw. die befragten DolmetscherInnen hatten die Möglichkeit, ihre eigenen Anmerkungen dazu zu schreiben. So wurden auch qualitative Daten erhoben und differenzierte Erkenntnisse gewonnen. Die Studie war breit angelegt und umfasste DolmetscherInnen, die in un‐ terschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen arbeiteten. Der geringe Rücklauf - nur 21 Prozent der Fragebögen wurden ausgefüllt - warf für die Autorin die Frage auf, ob diejenigen, die nicht an der Studie teilgenommen hatten, möglicherweise einen apathischen und demoralisierten Zugang zu ihrer Arbeit hatten (2002: 116). Die schwedische Kommunikationswissenschaftlerin Cecilia Wadensjö (2001) führte eine Untersuchung an Hand von acht aufgezeichneten dolmetscherun‐ terstützten Gesprächen (Patient, Psychotherapeut und Dolmetscher) durch. Die PatientInnen stammten aus dem ehemaligen Jugoslawien, waren zum Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht lange in Schweden und konnten sich daher nicht auf Schwedisch verständigen. Wadensjö berücksichtigte in ihrer Analyse auch die Rahmenbedingungen und die inhaltlichen Aspekte der stattgefundenen Konversationen. Die Ge‐ spräche wurden im Original und in der Übersetzung transkribiert, und die Autorin fügte auch bearbeitete Fotoaufnahmen ein (sodass die Gesichter unkenntlich sind), um auch visuell abzubilden, wie die Sitzordnung in der Dreieckskonstellation aussieht. Beispielsweise lautet eine Bildunterschrift: „The patient in the middle leans back while saying ‚I don’t remember that well I was in coma‘“ (2001: 76). Durch die Kombination aus visuellen und sprachlichen Ele‐ menten (Transkript) gelingt es Wadensjö, die untersuchte Gesprächssituation geradezu spürbar und greifbar zu machen, was im Rahmen einer schriftlichen Publikation ungewöhnlich ist. Bei der Analyse der Filmaufnahmen wurden folgende Faktoren berücksich‐ tigt: Sprache, Blickkontakt, Sitzordnung und kommunikativer Radius. Wadensjö 75 4.3 Themenrelevante Untersuchungen <?page no="76"?> 15 Bot macht keine Angaben zum Geschlecht der Befragten. geht davon aus, dass in der Triade kein gemeinsamer kommunikativer Radius besteht, wenn z. B. der Patient den Blick vom Therapeuten abwenden muss, um die DolmetscherIn anzuschauen (2001: 82). Ergänzend zu den Videoaufnahmen führte Wadensjö auch Interviews mit einigen DolmetscherInnen durch, um auch andere Faktoren zu beleuchten, die in den Videoaufnahmen nicht sichtbar wurden, beispielsweise wie sich die DolmetscherIn während der Therapiestunde fühlte, ob eine Änderung der Sitzordnung subjektiv einen Unterschied aus‐ machte etc. Bei Wadensjös Untersuchung ist das Konzept „Kommunikation“ breit angelegt und umfasst mehrere Dimensionen - Sprache ist nur eine davon. Durch die Methodenvielfalt konnten Einblicke in den Kommunikationsprozess gewonnen werden, nicht nur auf sprachlicher, sondern auch auf zwischen‐ menschlicher Ebene. Die bislang umfangreichste Studie zum Dolmetschen im psychotherapeutischen Setting hat die niederländische Soziologin und Psychotherapeutin Hanneke Bot (2005) vorgelegt. Sie entschied sich bewusst gegen die quantitative Forschungs‐ methode des randomised clinical trial (RCT), die im medizinischen Bereich als Standard gilt und an der andere Methoden gemessen werden (2005: 18). Sie lehnte auch ein experimentelles Forschungsdesign ab, weil Experimente für die Erforschung einer Fragestellung dann zielführend sind, wenn Theorien bereits existieren und wenn klar ist, welche Variablen manipuliert werden müssen, um eine Hypothese zu verifizieren oder zu widerlegen. Stattdessen arbeitete Bot mit einer Kombination aus Methoden, bestehend aus Concept mapping, Interviews und Videoaufzeichnungen. Bei der ersten Methode werden Begriffe und ihre Zusammenhänge in Form eines Netzes visualisiert. Um eine Concept map zu generieren, wählte Bot zunächst die TeilnehmerInnen aus, bat diese, sich in Form eines Brainstorms zu einer Fokusfrage zu äußern; die getätigten Aussagen („statements“) wurden anschließend zusammengefasst und zueinander in Beziehung gesetzt. Abschließend erfolgte eine Interpretation der entstandenen Concept map. Die ausgewählte Gruppe bestand aus sieben Psychotherapeuten, acht Dolmetschern und fünf ehemaligen PatientInnen 15 . Die DolmetscherInnen können eine langjährige Erfahrung im psychotherapeu‐ tischen Bereich vorweisen. Die Fokusfrage, zu welcher die TeilnehmerInnen sich äußern sollten, lautete: „An interpreter-mediated psychotherapeutic con‐ versation proceeds best when …“ (2005: 21). Es fand keine Gruppendiskussion statt, sondern die TeilnehmerInnen sollten lediglich ihre Ideen möglichst frei zum Ausdruck bringen, und zwar in Form von Einzelinterviews. Bot entschied sich gegen ein Gruppenformat, weil sie befürchtete, die ehemaligen Patienten 76 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="77"?> könnten sich auf Grund ihrer mangelhaften Kenntnisse der niederländischen Sprache in der Anwesenheit der möglicherweise auskunftsfreudigeren und jedenfalls eloquenteren Therapeuten und Dolmetscher eingeschüchtert fühlen. Nach der Durchführung der Interviews erhielt Bot insgesamt mehrere hunderte Aussagen, die sie mit Hilfe eines festgelegten Prozedere schließlich auf 55 Aussagen reduzierte. Die Teilnehmer wurden in einem zweiten Schritt gebeten, diese 55 Aussagen zu kategorisieren und in Cluster einzuteilen - also jene Aussagen zusammenzufassen, die ihrer Meinung nach zusammengehörten. Dabei durften die Teilnehmer sich an ihren eigenen Kategorien orientieren, also gewissermaßen „intuitiv“ vorgehen (2005: 23). Die individuellen Ratings und die so entstandenen Cluster wurden dann mit Hilfe des Computerprogramms Ariadne zu einer Concept map zusammengefasst. Die auf diese Weise entstan‐ dene Concept map wurde anschließend den Teilnehmern vorgelegt, und erst in dieser Phase fand eine Gruppendiskussion statt, im Rahmen derer die Concept map einer Interpretation unterzogen wurde. Um das weitere Vorgehen zu vereinfachen, reduzierte Bot selbst die Concept map auf vier Clusters: „the management of the session, security of the patient, interpreter’s attitude and interpretation techniques“ (2005: 23). Außerdem machte Bot Videoaufzeichnungen von Gesprächen, die mit Hilfe einer DolmetscherIn stattfanden, wobei alle Beteiligten über die Aufzeich‐ nung informiert wurden. Bei den Patienten handelte es sich um Personen mit einer diagnostizierten Posttraumatischen Belastungsstörung. Es wurden jeweils zwei auf einander folgende Sitzungen aufgezeichnet, um einen eventuell auftretenden verzerrenden Effekt der Forschungssituation beim zweiten Mal zu verringern. Bot war selbst während der Sitzungen anwesend und machte sich Notizen. Bei der anschließenden Transkription wurden auch Gestik und Schweigepausen mitberücksichtigt. Die beiden Methoden (Concept Mapping und Videoaufzeichnungen) wurden als aufeinander aufbauend konzipiert: Die Concept map lieferte ein grobes Raster für die anschließende Analyse der Videoaufzeichnungen. Die Schwierigkeit bei der Kombination der beiden Methoden bestand darin, dass manche Aspekte, die in der Concept map als wichtig eingestuft worden waren, wie etwa eine „empathische Haltung“, das subjektive „Sicherheitsgefühl“ des Patienten usw. sich nicht auf den Videoaufzeichnungen in Form von Daten festhalten ließen. Da die Analyse der Videoaufnahmen an die Ergebnisse der concept map (clusters) gekoppelt wurden, mussten die zwei wichtigsten Aspekte zuerst operationali‐ siert werden, um beobachtet und beschrieben zu werden. Diese zwei Aspekte 77 4.3 Themenrelevante Untersuchungen <?page no="78"?> 16 Gemeint ist die Frage nach der Gesprächsführung, und wer für diese zuständig ist. 17 Metakommunikation bezieht sich hier auf Rückfragen der DolmetscherIn an die GesprächspartnerInnen. Die Rede ist also von Wortmeldungen der DolmetscherIn, die in derselben Sprache getätigt werden wie die zuvor geäußerte Wortmeldung eines der Gesprächspartner. 18 Um die Anonymität zu wahren, führt Köllmann alle Interviewpartner ausschließlich in der männlichen Form an (2011: 31). waren „chairing 16 “ und „translation techniques and meta-communication“ und wurden folgendermaßen operationalisiert: Um „chairing“ besser zu erfassen, beobachtete Bot den Sprecherwechsel („turn-taking“) und Überlappungen im Gespräch („overlapping speech“). Der zweite Aspekt, „translation techniques and meta-communication“, wurde u. a. an Hand quantitativer Methoden opera‐ tionalisiert; Bot prüfte die Aussagen der DolmetscherIn auf Äquivalenz und Richtigkeit hin und untersuchte, wie oft und warum Metakommunikation 17 statt fand. Mittels eines iterativen Verfahrens kombinierte Bot schließlich die Informa‐ tionen aus der Concept map mit den Videoaufzeichnungen, unter Miteinbezie‐ hung einschlägiger Literatur und Konsultationen mit Praktikern, das heißt sie analysierte die Videoaufnahmen, Literatur und Interviews parallel bzw. gleich‐ zeitig, um das zu untersuchende Phänomen von möglichst vielen Blickpunkten aus zu betrachten. Die deutsche Translationswissenschaftlerin Anke Köllmann befragte im Rahmen ihrer Untersuchung die Akteure 18 von zwei Triaden, also insgesamt sechs Personen: 2 Psychotherapeuten, 2 Dolmetscher und 2 Patienten. Um mit den Interviewpartnern Kontakt aufzunehmen, wandte sich Köllmann telefo‐ nisch und per E-Mail an mehrere Einrichtungen in Deutschland und Österreich und bat um die Möglichkeit, mit je einem Trio ein Gespräch führen zu dürfen. Die Interviews fanden an je einem Tag in den jeweiligen Einrichtungen für interkulturelle Psychotherapie statt, wobei es den jeweiligen Therapeuten oblag, für die terminliche Koordination der Treffen zu sorgen und die beteiligten Dolmetscher und Patienten auszuwählen. Die wichtigsten Auswahlkriterien waren die Bereitschaft zur Teilnahme am Interview und die zeitliche Verfügbar‐ keit (2011: 28). Die Befragung erfolgte mittels eines Interviewleitfadens, wobei es für jede Gruppe einen eigenen Leitfaden gab, bestehend aus offenen und geschlossenen Fragen. Die Interviews mit den Therapeuten und Dolmetschern fanden einzeln statt, bei den Interviews mit den Patienten übernahm der jeweilige Dolmetscher die Sprachmittlung, da es aus organisatorischen und finanziellen Gründen keine Möglichkeit gab, andere Dolmetscher hinzuzuziehen. Die Autorin wertet diesen 78 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="79"?> Umstand allerdings als einen Glücksfall für ihre Untersuchung, da sie auf diese Weise die Gelegenheit hatte, die interviewten Dolmetscher in der unmittelbaren Ausübung ihrer Tätigkeit zu beobachten. Die Interviews dauerten zwischen ca. 17 und ca. 43 Minuten. Köllmann berichtet von einer unerwarteten Wendung, die das Interview mit einem der beiden Patienten nahm: Gegen Ende des Gesprächs erzählte der Patient, dass das viele Licht im Raum in Kombination mit dem Diktiergerät bei ihm starke Erinnerungen an die Verhörsituationen auslöste, denen er früher ausgesetzt gewesen war - daraufhin musste das Interview zu einem schnellen Ende gebracht werden: Dieses Beispiel illustriert sehr eindrücklich, wie viel Fingerspitzengefühl gerade im Umgang mit Extremtraumatisierten notwendig ist und wie schnell man sich als Außenstehender, sei es als Therapeut, Dolmetscher oder eben als Gesprächspartner, falsch verhalten kann, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. (2011: 77) Die von Köllmann geschilderte Episode zeigt eine große Schwierigkeit bei der Erforschung dieses Themas. Die Perspektive der KlientInnen (oder Patien‐ tInnen) liefert wertvolle Einblicke, ruft aber auch die Ethik des Forschenden auf den Plan: Bei der Forschung gilt es zu berücksichtigen, dass im Unterschied zu den TherapeutInnen und den DolmetscherInnen die KlientInnen in einer psychotherapeutischen Einrichtung eben nicht an ihrem Arbeitsplatz sind, sondern an einem Ort, an dem sie im besonderen Maße vulnerabel sind. Die Auskünfte, die KlientInnen im Rahmen von solchen Untersuchungen geben, betreffen sie unmittelbar als Menschen in ihrer persönlichen Erfahrung. Die Psychologin und Ethnologin Ulrike Kluge führte in ihrer kumulativen Dissertation „(Un)sichtbare Dritte“ drei deutsche und internationale Studien zur psychosozialen und psychotherapeutischen Versorgung mit Dolmetschern und Sprach- und Kulturmittlern zusammen (2013). Der Fokus liegt auf der Differenzierung zwischen Dolmetschern einerseits und Sprach- und Kulturmitt‐ lern andererseits. In acht Publikationen geht sie Fragestellungen nach, die das Dolmetschen im psychosozialen Bereich betreffen. Kluge benennt Barrieren in der Gesundheitsversorgung, berichtet davon, welche Bedeutung Experten dem Einsatz von Dolmetschern in der Gesundheitsversorgung und speziell in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung zuschreiben, untersucht die Erwartungen von Praktikern an den Einsatz von Dolmetschern und geht der Frage nach, wie Sprach- und Kulturmittler psychiatrische und psychotherapeutische Settings beeinflussen. Zur Beantwortung der aufgezählten Fragestellungen zieht Kluge drei Studien heran (2013: 18 ff.): 79 4.3 Themenrelevante Untersuchungen <?page no="80"?> 1. Eine Multi-Center Studie zu Best Practice in der Gesundheitsversorgung für Migranten in Europa: Best Practice in Health Services for Immigrants in Europe - EUGATE. Im Rahmen dieses von der Europäischen Kommission geförderten Projektes wurden zwischen 2008 und 2010 in 16 europäischen Partnerländern quantitative und qualitative Daten erhoben. Mit Hilfe einer Delphi-Befragung wurden Expertenmeinungen zu den Best Practices für die Versorgung von Migranten ermittelt. Außerdem wurden semi-strukturierte Fragebögen verwendet, um herauszufinden, wie es um den Zugang zur Gesundheitsversorgung für verschiedene MigrantInnengruppen bestellt ist und in welcher Qualität diese Versorgung gewährt wird. Die untersuchten Bereiche umfassten allgemeinmedizinische Versorgungsstrukturen, Ret‐ tungsstellen und psychosoziale Einrichtungen. Zudem wurden die einschlä‐ gigen gesetzlichen Rahmenbedingungen analysiert. 2. Eine internationale Studie zur psychosozialen Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund und zur interkulturellen Öffnung des psychoso‐ zialen Gesundheitssystems: Seelische Gesundheit und Migration (SeGeMi). Dabei analysierte eine interdisziplinäre und internationale Studiengruppe (Hamburg, Berlin, Istanbul) in vier Modulen verschiedene Aspekte der Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund im Bereich seeli‐ scher Gesundheit in Deutschland, beginnend mit dem Jahr 2009. Es wurde die Prävalenz- und Komorbiditätsrate psychischer Störungen und die In‐ anspruchnahme psychosozialer Gesundheitsleistungen von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund erhoben (Modul 1 - Epidemiologie). Es wurden Erklärungsmodelle zu psychischen Erkrankungen von Menschen ohne und mit türkischem Migrationshintergrund im Vergleich ausgear‐ beitet, und es wurden Barrieren zum Versorgungssystem und Ressourcen im Umgang mit psychischen Störungen beschrieben (Modul 2 - Erklärungs‐ modelle). Mittels einer strukturellen Qualitätsanalyse wurde die aktuelle Praxis im Versorgungsalltag beleuchtet, und es wurden Empfehlungen für eine angemessene Versorgung formuliert (Modul 3 - Strukturelle Qualitäts‐ analyse). Schließlich wurde ein Training zur interkulturellen Kompetenz für Mitarbeitende im psychosozialen Gesundheitswesen entwickelt und evaluiert (Modul 4 - Training Interkulturelle Kompetenz). 3. Eine qualitative Studie zu Chancen und Schwierigkeiten in der psychothe‐ rapeutischen/ psychiatrischen Arbeit mit Sprach- und Kulturmittlern. Die Daten wurden von der Autorin Kluge selbst im Rahmen ihrer Diplomarbeit erhoben. Im Jahr 2005 führte sie über einen Zeitraum von einem halben Jahr eine Feldforschung in einer ambulanten Versorgungsstruktur durch, in der mit Sprach- und Kulturmittlern gearbeitet wurde (Zentrum für 80 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="81"?> Interkulturelle Psychiatrie, Psychotherapie und Supervision - ZIPP). Kluge führte Interviews mit allen Beteiligten: Patienten, Behandler, Sprach- und Kulturmittler. Zur Auswertung des Materials wurde eine Gruppendiskus‐ sion organisiert. Die Autorin spricht von einem „umfangreichen ‚Datenteppich‘“ (2013: 20), der es ihr ermöglicht, sich auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Thema Dolmetschen im Versorgungssystem auseinanderzusetzen. Mit Hilfe quantitativer Methoden konnte sie internationale Datensätze erheben und numerische Ergebnisse er‐ halten, die im Hinblick auf eine Bedarfsplanung und gesundheitspolitische Positionen und Strategien wichtig sind. Die qualitativen Methoden (qualitative Interviews und Feldforschungen) wiederum führten zu Aussagen, mit Hilfe derer es der Autorin möglich war, die Herausforderungen und Chancen in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland detaillierter abzubilden. Die Traumatherapeutin Christiane Degenhardt führte im Rahmen ihrer Master‐ arbeit Interviews mit sechs ExpertInnen aus dem Feld der dolmetscherunters‐ tützten Psychotherapie. Die ausgewählten InterviewpartnerInnen erwiesen sich als geeignet auf Grund der Tatsache, dass ihre „institutionalisierte, berufliche Tätigkeit Teil des Handlungsfeldes ist, das den Forschungsgegenstand aus‐ macht“ (Degenhardt 2012: 70). Bei den von Degenhardt befragten ExpertInnen handelte es sich um PsychotherapeutInnen verschiedener Schulen, die mindes‐ tens fünf Jahre im Bereich der interkulturellen Psychotherapie mit Dolmetsche‐ rInnen vorweisen konnten. Alle befragten ExpertInnen arbeiteten hauptsächlich mit traumatisierten AsylwerberInnen und arbeiteten für Organisationen, deren Schwerpunkt die Behandlung von kriegs- und foltertraumatisierten Menschen ist. Fünf von ihnen hatten außerdem zum Zeitpunkt der Interviews eine Leitungsfunktion in ihrer jeweiligen Organisation inne; dieser Umstand wurde in die Untersuchung miteinbezogen. Die Dauer der Interviews lag zwischen 45 und 90 Minuten. Es handelte sich um offene Leitfadeninterviews, wobei die Autorin zum Abschluss festhält, dass sie rückblickend der Meinung ist, die Interviewleitfäden hätten noch offener sein sollen, um induktiver arbeiten zu können (2012: 127). Die Fragen, die sie ihren GesprächspartnerInnen stellte, betrafen die unmittelbare Praxis in der Arbeit mit DolmetscherInnen, etwa kontroversiell diskutierte Themen, Optimierungsfaktoren, Arbeitsbeziehungen zu den DolmetscherInnen sowie generell die Rahmenbedingungen für die Arbeit mit den DolmetscherInnen, wie etwa Vor- und Nachgespräche, Honorare, einschlägige Schulungen etc. 81 4.3 Themenrelevante Untersuchungen <?page no="82"?> Die Russisch-Dolmetscherin und Psychotherapeutin Inge Pinzker entschied sich im Rahmen ihrer Masterarbeit am Universitätslehrgang Psychotherapie für das problemzentrierte Interview und teilnehmende Beobachtung als Forschungs‐ methode, um sich mit der Frage nach einem personenzentrierten Umgang im dolmetscherunterstützten Setting zu befassen. Pinzker nähert sich der Thematik aus der Perspektive der personenzentrierten psychotherapeutischen Arbeits‐ weise und möchte mit ihrer Untersuchung einen Beitrag zur Entwicklung von Konzepten für das Dreiersetting leisten, ausgehend von schulenspezifischen Überlegungen. Pinzker führte problemzentrierte Interviews mit zwei PsychotherapeutInnen, wobei sie ausgehend von der Erfahrung mit dem ersten Interview den Leitfaden für das zweite Gespräch weiterentwickelte und modifizierte. Beim problemzent‐ rierten Interview legt die Forscherin zunächst die Gesprächsstruktur fest, stößt die Erzählung an, anschließend folgt eine spezifische Sondierung und zum Abschluss besteht die Möglichkeit, ad-hoc Fragen zu stellen. In der dritten Phase (Sondierung) kann die Forscherin zurückspiegeln, Verständnisfragen stellen und gegebenenfalls Widersprüche oder Ungereimtheiten ansprechen. Bei der Auswahl der InterviewpartnerInnen ging es Pinzker in erster Linie darum, Personen zu finden, die sich für ein Gespräch zur Verfügung stellen würden und bei denen ein Interesse am Dolmetschaspekt zu erwarten wäre (2015: 14). Die anderen Methoden, derer Pinzker sich bediente, fasst sie unter dem Begriff „teilnehmende Beobachtung im Feld“ zusammen (2015: 15). Als aktive Teilnehmerin im besagten Feld ordnet sie ihre eigene Forschung selbst dem nach Lamnek (1995) definierten Typus „völlige Identifikation mit dem Feld“ zu, da sie selbst mehrere Rollen eingenommen hatte, die im Feld alltäglich vorgesehen sind (Teilnehmerin an Workshops, Workshop-Leiterin, Kongressteilnehmerin, Tätigkeit als Psychotherapeutin in Ausbildung in Supervision). Sie ist sich dabei ihrer ambivalenten Stellung als Beteiligte einerseits und distanzierte Beobach‐ terin andererseits bewusst. Um mit dieser oszillierenden Doppelrolle umgehen zu können, betreibt sie laufende Selbstreflexion und nimmt forschungsbezogene Supervision in Anspruch. Insgesamt fasst Pinzker ihr Sample folgendermaßen zusammen (2015: 18): Zu den primären Datenquellen zählt sie die beiden problemzentrierten Interviews, die eigenen Feldbeobachtungen (Feldnotizen), Erfahrungsberichte, Leitfäden und Standards. Zu den sekundären Datenquellen zählt sie bereits veröffentlichte wissenschaftliche Arbeiten zum dolmetscherunterstützten psychotherapeuti‐ schen Setting. Pinzkers umfassende teilnehmende Beobachtung liefert wertvolle Einblicke in den Arbeitsbereich interkulturelle Psychotherapie, und zwar nicht nur 82 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="83"?> bezogen auf die eigentliche Arbeit hinter verschlossenen Türen, sondern auch auf den Arbeitsbereich als einen sozialen Raum, in dem die Interaktion zwischen den AkteurInnen auch auf der Ebene von Workshops, Fortbildungen und Su‐ pervisionstreffen stattfindet. Pinzkers Beitrag zeichnet sich durch den Umstand aus, dass die Autorin auf ihre eigene Erfahrung als Dolmetscherin in der Psychotherapie einerseits und als ausgebildete Psychotherapeutin andererseits zurückgreifen kann. Die erwähnten Untersuchungen sind im Hinblick auf Reichweite und Aussa‐ gekraft schwer miteinander vergleichbar, da jeweils unterschiedliche Aspekte erfasst werden. Manche Methoden wie z. B. Videoaufzeichnungen und darauf aufbauende Analysen sind dazu angetan, eine oder mehrere einzelne Arbeits‐ situationen intensiv zu untersuchen. Nicht immer ist es zulässig, aus solchen Aufnahmen weiterführende und verallgemeinernde Rückschlüsse zu ziehen, allerdings gilt es herauszustreichen, dass in einem so hermetisch abgeschlos‐ senen Bereich wie der Psychotherapie authentische Gesprächssituationen, die auf Video festgehalten wurden, von unschätzbarem Wert sind. 4.3.2 Ausgewählte Thematische Schwerpunkte In den folgenden Abschnitten werden ausgewählte thematische Schwerpunkte dargelegt, die bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Dolmetschen in der Psychotherapie relevant sind. 4.3.2.1 „Co-therapists or translators? Translation machines or interactive translators? “ In dieser Überschrift wird bewusst darauf verzichtet, die englischen Begriffe ins Deutsche zu übertragen, da „translator“ in diesem Kontext (Bot 2005) wohl mit „Nur-Dolmetscher“ wiedergegeben werden müsste: gemeint ist also ein Dolmetscher, der sich ausschließlich auf den sprachlichen Transfer beschränkt, im Unterschied zum „Ko-Therapeuten“, der sich als einen aktiven Akteur im therapeutischen Prozess begreift und somit der KlientIn als Ansprechperson zur Verfügung steht. Der Begriff „interactive translator“ bezeichnet wiederum das Gegenteil einer „Übersetzungsmaschine“ („translation machine“) und verweist auf den interaktiven Charakter der Dolmetschtätigkeit - im Gegensatz zu einem rein maschinellen Ansatz. Bot stellt fest, dass es unterschiedliche Meinungen dazu gibt, ob Dolmetsche‐ rInnen sich auf den sprachlichen Transfer beschränken sollen („translators“) oder zugleich auch Ko-TherapeutInnen („co-therapists“) sein können bzw. sein sollen: 83 4.3 Themenrelevante Untersuchungen <?page no="84"?> There are different schools of thought about how to proceed in interpreter-mediated psychotherapy. These different schools result in different models of interpreting: the interpreter as translators and the interpreter as co-therapist. There are also differences within these models which allow the interpreters different activities. There is no concensus among health professionals about this issue. (2005: 17) Es ist also festzuhalten, dass es nicht ein gültiges Rollenmodell für Dolmet‐ scherInnen in der Psychotherapie gibt, sondern dass die Anforderungen an die DolmetscherInnen variieren, je nach Therapierichtung und Kontext. Der niederländische Verhaltenskodex für DolmetscherInnen schreibt eine objektive, neutrale Haltung der DolmetscherInnen vor, wobei der Schwerpunkt auf ein exaktes Dolmetschen und ein unaufdringliches Auftreten gelegt wird. Laut Bot wird damit die Textreproduktion betont, während das an sich problematische Verhältnis zwischen dem gesprochenen Wort und der Übersetzung weitgehend ausgeblendet wird. „This approach to interpreting belongs to the idea of a ’translation-machine‘ approach“ (2005: 81). 4.3.2.2 Entwicklung der Rollenmodelle in der Psychotherapie: Parallelen zum Dolmetschberuf In der Diskussion von brauchbaren Rollenmodellen zieht Bot einen Vergleich zwischen der Entwicklung des Berufsbildes bei den PsychoanalytikerInnen bzw. PsychotherapeutInnen und bei den DolmetscherInnen. Im Anfangsstadium der Psychoanalyse legte Freud großen Wert auf einen wissenschaftlichen und ob‐ jektivierbaren Charakter der Behandlung von PatientInnen und entwickelte das Modell der Ein-Personen-Psychologie, im Rahmen dessen davon ausgegangen wird, dass die Beziehung zwischen Patient und Analytiker ausschließlich eine Manifestation der Psychologie des Patienten darstellt; das heißt, eine persön‐ liche Beziehung des Analytikers mit dem Patienten wird ausgeschlossen. Aus diesem Modell ergeben sich strikte Abstinenzregeln für den Analytiker. Mit der Zeit verkam die Abstinenz jedoch zu einer Doktrin, einer Ideologie und schließlich zu einer Karikatur: „The abstinant behaviour of the analyst was felt to be ‚inhuman‘“ (2005: 76). In weiterer Folge wurde die Ein-Personen-Psychologie zu einer Zwei-Per‐ sonen-Psychologie weiterentwickelt, einem Ansatz, bei dem der Therapeut (inzwischen war nicht mehr nur die Rede von Analytikern) ebenfalls als eine Person anerkannt wird; folglich wird auch die therapeutische Beziehung als eine teilweise reale Beziehung betrachtet, im Unterschied zu der früheren Sichtweise, als die therapeutische Beziehung als eine angenommen wurde, die ausschließlich auf einer Dynamik von Übertragungen und Gegenübertragungen beruht - also ohne persönliche oder individuelle Anteile des Analytikers. Im 84 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="85"?> Zuge der Zwei-Personen-Psychologie wird angenommen, dass die Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patient die Grundlage für die Therapie darstellt. Mit der Zeit wurde die Therapeut-Patient-Dyade um externe Faktoren erwei‐ tert: Soziale, politische, ökonomische und historische Aspekte fanden nunmehr explizit eine Berücksichtigung. Man spricht von einer Drei-Personen-Psycho‐ logie. Bei den letzten beiden Ansätzen (Zwei- und Drei-Personen-Psychologie) werden die Vorschriften für die PsychoanalytikerIn bzw. für die Psychothera‐ peutIn im Hinblick auf Neutralität, Abstinenz und Objektivität weniger streng formuliert als dies beim ursprünglichen Ansatz der Ein-Personen-Psychologie der Fall war. Der PsychoanalytikerIn bzw. PsychotherapeutIn wird das Recht zugestanden, mehr von sich selbst preiszugeben, eigene Meinungen und Wer‐ tungen vorzubringen, von der strengen Regel, dass die Sitzung exakt eine Stunde dauern soll, gegebenenfalls abzuweichen; es ist erlaubt, unter Umständen emotionale Anteilnahme zu zeigen und beispielsweise der PatientIn ein Glas Wasser oder ein Taschentuch anzubieten. Bot verortet das psychotherapeutische Arbeiten unter Hinzuziehung einer DolmetscherIn im Rahmen des letztgenannten Modells, also der Drei-Per‐ sonen-Psychologie. Im Paradigma der ersten beiden Modelle wäre die Dolmet‐ scherIn lediglich ein Werkzeug, das auf eine streng neutrale Weise von einer Sprache in die andere überträgt. Wird die DolmetscherIn jedoch als eine eigen‐ ständige Person wahrgenommen, die bereits durch ihre bloße Anwesenheit die therapeutische Realität mitgestaltet, ist sie in die Therapie inkludiert, als ein spezifisches Element der Außenwelt, das einen Einfluss auf die Therapie ausübt. Zusammenfassend bedeutet das, die dolmetscherunterstützte Psychotherapie kann als ein intersubjektives Zusammenspiel von TherapeutIn, PatientIn und DolmetscherIn betrachtet werden, im Rahmen eines spezifischen Settings, das von sozialen, kulturellen, religiösen, wirtschaftlichen und historischen Faktoren geprägt ist. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass eine intersub‐ jektive therapeutische Realität entsteht, nämlich in der Interaktion zwischen den drei Beteiligten dieser spezifischen Umgebung. Bot hält explizit fest: „Just as it is impossible for the therapist to fully adhere to the rules of abstinence, it is impossible for the interpreter to behave as a non-person“ (2005: 80). Ein solcher Ansatz impliziert, dass der PsychotherapeutIn ebenso wie der DolmetscherIn das Recht zugestanden wird, mehr von sich selbst preiszugeben, dies allerdings als eine bewusst anzuwendende Technik. Außerdem haben im Rahmen eines solchen Ansatzes eine gewisse Authentizität und Spontaneität der beiden DienstleisterInnen eine Berechtigung innerhalb der therapeutischen Beziehung, beispielsweise wenn es darum geht, emotionale Anteilnahme zu 85 4.3 Themenrelevante Untersuchungen <?page no="86"?> 19 Das Verhalten der KlientIn im Bezug auf den Blickkontakt lässt sich ohnehin nicht vollständig planen oder verordnen. Die PsychotherapeutIn und die DolmetscherIn können lediglich versuchen, den Blickkontakt zu beeinflussen oder zu „kanalisieren“. zeigen. „Not only the therapist’s personality is important, the interpreter’s per‐ sonality also influences the therapeutic experience. The creation of a working alliance is not limited to the therapist and the patient but includes the interpreter as well“ (2005: 80). In einer Triade, die tatsächlich als eine solche konzipiert ist, die also an das Modell der Drei-Personen-Psychologie angelehnt ist, befolgen beide Dienstleis‐ terInnen zwar einen klaren Arbeitsauftrag (die PsychotherapeutIn gestaltet die Therapie, flexibel reagierend auf die Bedürfnisse der KlientIn, während die DolmetscherIn für den sprachlichen Transfer zuständig ist), jedoch wird die Präsenz aller drei Beteiligten gleichermaßen berücksichtigt. Es gibt also keine „Nicht-Personen“ in der Triade, wenn auch von den beiden DienstleisterInnen ein professionelles Verhalten gefordert wird. 4.3.2.3 Die Rolle der DolmetscherIn: unterschiedliche Ansätze Wie unter 4.3.1 bereits erwähnt, beschreibt Bot unterschiedliche existierende Modelle für die Zusammenarbeit zwischen PsychotherapeutInnen und Dolmet‐ scherInnen und analysiert die möglichen Kombinationen, die sich ergeben können: Zum einen gibt es unterschiedliche Sichtweisen auf das therapeutische Arbeiten an sich (Ein-, Zwei- oder Drei-Personen-Psychologie), zum anderen gibt es die Möglichkeit, die Rolle der DolmetscherIn eher als translation-ma‐ chine oder eher als interactive translator anzulegen. Manche Kombinationen erweisen sich als kompatibel, bei anderen sind Konflikte, Enttäuschungen und Irritationen vorprogrammiert (für eine tabellarische Auflistung der mög‐ lichen Kombinationen mit Kommentaren siehe Bot 2005: 84 ff.). Bestimmte konzeptuelle Annahmen über das therapeutische Arbeiten können sich auch auf die Sitzordnung und den Blickkontakt auswirken: Wenn beispielsweise eine PsychotherapeutIn das Modell der Ein-Personen-Psychologie anwendet, wird die DolmetscherIn möglicherweise gebeten, hinter der PsychotherapeutIn oder hinter der KlientIn Platz zu nehmen, um zu unterstreichen, dass sie sozusagen als Person nicht anwesend ist und daher auch keinen Blickkontakt 19 mit der KlientIn halten soll. Eine solche Zusammenarbeit kann nur gelingen, wenn sowohl die PsychotherapeutIn als auch die DolmetscherIn sich darin einig sind, dass die Präsenz der DolmetscherIn ein Faktor ist, den es möglichst einzudämmen und zu neutralisieren gilt. Am anderen Ende des Spektrums steht eine Zusammenarbeit, die aus der Perspektive der PsychotherapeutIn an das Modell der Drei-Personen-Psycho‐ 86 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="87"?> logie angelehnt ist und im Rahmen derer die DolmetscherIn sich selbst als interactive translator begreift. In einem solchen Paradigma gehen beide Dienst‐ leisterInnen davon aus, dass es notwendig ist, ein professionelles Verhalten an den Tag zu legen, zugleich wird die persönliche Involvierung durchaus anerkannt, und beide DienstleisterInnen beanspruchen für sich die Möglichkeit, gegebenenfalls von strengen Abstinenz- und Neutralitätsregeln abzuweichen. Eine solche gemeinsame Herangehensweise hat ebenfalls Implikationen für die Sitzordnung und den Blickkontakt: Die DolmetscherIn sitzt gut sichtbar platziert zwischen den beiden GesprächspartnerInnen. Die DolmetscherIn scheut sich nicht, gegebenenfalls nachzufragen oder einfühlsam zu agieren. Aus der Untersuchung von Köllmann geht hervor, dass die DolmetscherInnen zwar in erster Linie als ExpertenInnen auf dem Gebiet der Sprachmittlung gelten, jedoch würden ihnen im therapeutischen Kontext häufig auch zusätzlich Rollen zugeschrieben, die zum Teil weit über die Sprachmittlung hinausgehen, etwa die Aufgabe, dem Therapeuten kulturell bedingte Umstände zusätzlich zu erläutern. Zugleich kann der gemeinsame kulturelle Hintergrund von Dolmet‐ scher und Patient eine Nähe erzeugen, die beim Therapeuten ein Gefühl des Ausgeschlossenseins und der Eifersucht aufkommen lassen kann (2011: 37). Ein von Köllmann befragter Therapeut befürwortet die Möglichkeit, sich im Anschluss an eine Therapiestunde mit dem Dolmetscher zu unterhalten, auch dann, wenn der Dolmetscher über keine therapeutische Ausbildung verfügt. Der Therapeut profitiert von der Möglichkeit, seine eigenen Eindrücke zu besprechen und gegebenenfalls zu korrigieren (2011: 40 ff.). Bezüglich der Neutralität des Dolmetschers erhält Köllmann unterschied‐ liche, ja geradezu einander widersprechende Rückmeldungen von ihren In‐ terviewpartnern: Während ein befragter Therapeut die Notwendigkeit eines Kontaktverbots zwischen Dolmetscher und Patient außerhalb der therapeuti‐ schen Sitzungen unterstreicht, vertritt der andere befragte Therapeut - ein Psychoanalytiker - einen anderen Ansatz: Seiner Meinung nach ist es schon aufgrund der Vorgänge im Unbewussten für einen Menschen nicht möglich, sich aus einer kommunikativen Situation herauszuhalten, somit sei die Neutralität des Dolmetschers ohnehin eine illusorische Forderung und ein ausdrückliches Kontaktverbot somit nicht zielführend (2011: 41). Köllmann gelangt zu der Schlussfolgerung, dass das Rollenverständnis der Therapeuten sich darauf auswirkt, wie die befragten Dolmetscher ihre eigene Rolle begreifen. Der Umstand, dass alle drei Beteiligten ihre jeweilige Kultur, Lebensgeschichte, aktuelle Lebenssituation, individuelle Erfahrungen, Wertvor‐ stellungen und Erwartungen an die beiden anderen Akteure und an sich selbst mitbringen, bedeutet, dass Empfehlungen, die für eine Triade sinnvoll sind, in 87 4.3 Themenrelevante Untersuchungen <?page no="88"?> einer anderen möglicherweise mehr Schaden anrichten als helfen. Zwar können einige Ratschläge für die Zusammenarbeit als allgemeingültig angenommen werden, wie etwa der Hinweis darauf, dass ein privater Kontakt zwischen Patient und Dolmetscher außerhalb der Therapie die gemeinsam erarbeitete Rol‐ lenverteilung gefährdet oder dass die psychische Gesundheit des Therapeuten ebenso wie die des Dolmetschers durch entsprechende Entlastungsangebote seitens der Organisation gepflegt werden sollte: Aber im Bezug darauf, in welcher Art und welchem Umfang derartige Angebote notwendig sind, nach welchen Kriterien der Dolmetscher ausgewählt wird, welche Sitzordnung sich anbietet, wie die Zusammenarbeit sowohl in als auch außerhalb der Sitzung konkret gestaltet wird und hinsichtlich zahlreicher weiterer Aspekte sind pauschale Empfehlungen zur Gestaltung der Therapie zu dritt wohl ebenso unmöglich wie sinnlos. Deshalb ist letztlich sicherlich jene Zusammenarbeit die erfolgreichste, bei welcher den besonderen Erfahrungen und Bedürfnissen aller drei Beteiligten am besten Rechnung getragen wird (2011: 80). Beide Autorinnen plädieren für einen flexiblen Umgang mit Rollenmodellen, die sich weniger an theoretischen Überlegungen orientieren als viel mehr an den realen Bedürfnissen der Beteiligten in der jeweiligen Situation. In Degenhardts Untersuchung, die sich auf die Perspektive der Psychothera‐ peutInnen konzentriert, werden seitens der befragten PsychotherapeutInnen folgende Erwartungen an die DolmetscherInnen gestellt: In erster Linie sollen sich die DolmetscherInnen auf „die Rolle des nichtagierenden, zurückgenom‐ menen Mediums beschränken, die Steuerung des Prozesses soll ganz klar bei den TherapeutInnen liegen“ (2012: 89). Gleichzeitig sollen sie auch ihr unbewusstes Mitsteuern reflektieren können. Die befragten PsychotherapeutInnen formu‐ lieren klar ihren Anspruch, die Beziehungsarbeit selbst zu gestalten, wobei sie dafür auf eine DolmetscherIn angewiesen sind, die sich beim Dolmetschen an die genaue Wortwahl der KlientIn hält und sich nicht mit einer sinngemäßen Übertragung begnügt. Eine von Degenhardt befragte Expertin spricht gar von einer undankbaren „Hunderolle“, wegen der Unmöglichkeit, gestaltend einzugreifen. Im Zusam‐ menhang damit spricht sie die Empfehlung an DolmetscherInnen aus, nicht allzu lange in therapeutischen Settings zu arbeiten. Die Feststellung der befragten Expertin ist drastisch und soll daher an dieser Stelle eigens zitiert werden: „Ich finde, das ist ein Hundejob (…). Ich finde es eine Hunderolle, ja, weil du hast immer die Abgrenzungsprobleme, du kommst immer unsympathisch rüber, du bist Zeugin, aber du darfst nichts machen, ich denk, wenn man das Jahre macht, ist es ungesund, wenn man keine Regie führt, ich würde es vielen 88 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="89"?> DolmetscherInnen nicht empfehlen. (Interview 5, S. 7, Zeile 6-7, S. 25, Zeile 16-19, Degenhardt 2012: 90). Besondere Beachtung verdient die Einschätzung der Expertin, das Dolmetschen in der Psychotherapie sei „ungesund“, auf Grund der auferlegten Zurückhaltung und Passivität im Rahmen eines Gesprächs, bei dem zutiefst menschliche Inhalte verhandelt werden. Die Idee der Ko-TherapeutIn wird von den befragten ExpertInnen vehement zurückgewiesen und als ein unerwünschtes Verhalten, in das DolmetscherInnen verfallen können, kategorisiert. Zugleich wird festgestellt, dass in den Thera‐ peutInnen selbst ebenfalls der Wunsch nach einer Ko-TherapeutIn entstehen kann, also einer DolmetscherIn, mit der man wie mit einer gleichberechtigten Team-Kollegin, die ebenfalls therapeutisch denkt, gut reflektieren kann; eine solche Haltung würde die DolmetscherIn jedoch in ihrer eigenen Rolle nicht stärken, sondern schwächen. Einige befragte ExpertInnen insistieren auf einem klaren Machtverhältnis, in dem die Führungsrolle klar der TherapeutIn vorbe‐ halten ist. 4.3.2.4 Laiendolmetscher und Konferenzdolmetscher Köllmann stellt in ihrer Untersuchung zwei unterschiedliche „Prototypen“ von Dolmetschern einander gegenüber: Der erste Dolmetscher (D1) hat selbst Folter erlebt, musste aus seinem Land flüchten und verfügt über keine akademische Sprach- oder Dolmetschausbildung. Er dolmetscht vorwiegend in der 3. Person Singular und verwendet keine Notizentechnik. Im Unterschied dazu handelt es sich beim zweiten Dolmetscher (D2) um einen akademisch ausgebildeten Kon‐ ferenzdolmetscher ohne Migrationshintergrund, der in der 1. Person Singular dolmetscht, mit Notizen arbeitet und zunächst versucht, sich auf den Einsatz in der Psychotherapie terminologisch und inhaltlich vorzubereiten - so wie er es auf der Universität gelernt hat. Allerdings muss er mit der Zeit feststellen, dass eine solche Vorbereitung wenig Sinn ergibt, da die Inhalte, die in der Therapiesitzungen zur Sprache kommen, sich nicht vorausplanen lassen. Köllmann stellt fest, dass gerade der auf universitärer Ebene sensibilisierte Dolmetscher Probleme vorwegnimmt, die der andere befragte Dolmetscher, der über keine solche Vorbereitung verfügt, häufig gar nicht als Problem und auch nicht einmal als ein Phänomen wahrnimmt, wie etwa den Kontakt außerhalb der Therapie (2011: 61 ff.). Auch bei anderen Aspekten agieren bzw. reagieren die beiden befragten Dolmetscher unterschiedlich, zuweilen sogar gegensätzlich: Während es beim Laiendolmetscher autobiographische Faktoren sind, die den Ausschlag dafür geben, dass er es gelegentlich kategorisch ablehnt, mit einem bestimmten Patienten zu arbeiten (etwa wenn der Patient selbst Folter ausgeübt hat), um eine Retraumatisierung zu verhindern, verweigert der ausgebildete 89 4.3 Themenrelevante Untersuchungen <?page no="90"?> Dolmetscher seine Mitarbeit nur dann, wenn er einen Patienten aus einem anderen Kontext kennt. Bei der Bewältigung von psychischer Belastung zeigt sich ebenfalls ein signifikanter Unterschied: Der Laiendolmetscher, der selbst über Folter- und Fluchterfahrung verfügt, berichtet von mitunter großen Schwierigkeiten, mit den gehörten Inhalten umzugehen; die Geschichten der Patienten gingen ihm wochenlang nicht aus dem Kopf, und er müsse jeweils einen eigenen Weg finden, damit fertigzuwerden. Der Konferenzdolmetscher dagegen stellt sich im Fall von belastenden Inhalten vor, in einer Dolmetschkabine zu sitzen, um die emotionale Komponente auszuklammern. Während der Laiendolmetscher versucht, der psychischen Belastung zu begegnen, indem er sich verstärkt mit seiner eigenen Biographie auseinandersetzt, sucht der befragte Konferenzdol‐ metscher nach einem systematischen Zugang im Kreis der Fachkollegen. Darüber hinaus stellt Köllmann fest, dass der Laiendolmetscher der Meinung ist, die Klärung kulturell relevanter Inhalte fiele in seinen Zuständigkeitsbe‐ reich, während der Konferenzdolmetscher sich für die kulturellen Aspekte der Kommunikation nicht zuständig fühlt. Köllmann ist sich dessen bewusst, dass Interviews mit nur zwei Dolmetschern sich nicht verallgemeinern lassen, und doch ist nicht zu leugnen, dass die beiden Befragten im Bezug auf die oben genannten Punkte wichtige Themen anspre‐ chen und Tendenzen repräsentieren, etwa die Frage, inwiefern im Rahmen einer akademischen Dolmetschausbildung eine Vorbereitung auf das Arbeiten im psychotherapeutischen Setting möglich ist. Bei dieser Gegenüberstellung bezweckt Köllmann keineswegs, die beiden Herangehensweisen gegeneinander auszuspielen oder zu bewerten. Es geht lediglich darum, die Vielfalt an mögli‐ chen Zugängen und die mitunter damit einhergehende Widersprüchlichkeit zu illustrieren. 4.3.2.5 Sprache und Traumatisierung Die Sprachwissenschaftlerin Brigitta Busch stützt sich auf das Konzept des Spracherlebens, um die Wechselwirkungen zwischen Traumatisierung und Sprache näher zu beleuchten. Mit diesem Konzept wird auf den Umstand Bezug genommen, dass erinnerte Situationen oder Szenen auch damit verknüpft sind, wie wir uns darin als Sprechende oder Angesprochene erlebt haben: „Unter Spracherleben verstehen wir die Art, wie man sich in einer verbalen Interaktion in Relation zum Gegenüber selbst erlebt - im Wesentlichen entlang der drei Achsen Anerkennung/ Nichtanerkennung, Zugehörigkeit/ Ausschluss, Macht/ Ohnmacht“ (Busch 2016: 92). Dieses Erleben ist in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext eingebettet, der geprägt ist von Sprachideologie und 90 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="91"?> Diskursen, die Sprechweisen bewerten und mit typisierten Zuschreibungen und Verhaltensweisen verknüpfen. Das Konzept Spracherleben beinhaltet auch die Annahme, dass sich In‐ teraktionserfahrungen, die mit körperlich-emotionalen Aspekten verbunden sind, durch häufige Wiederholung ins Körpergedächtnis einschreiben. Konkret würde das bedeuten, dass traumatisches Erleben dazu führen kann, dass ein Mensch sich zurückzieht und verschließt, und dass diese emotionale Bewe‐ gung sich auch körperlich und sprachlich manifestiert. Laut Busch ist die Verknüpfung von Trauma und Sprache nicht kausal und monodirektional, sondern komplex und wechselseitig: „Es geht um mit Sprachen und Sprechen verbundene Verletzungen und Erschütterungen ebenso wie um Verletzungen oder Erschütterungen des Sprechens und Versprachlichens“ (2016: 93). Dazu sei angemerkt, dass AsylwerberInnen im Aufnahmeland häufig die Erfahrung der Handlungsunfähigkeit, Hilflosigkeit und extremer Ungewissheit machen müssen, gerade auf der sprachlichen Ebene, was ein Gefühl der Min‐ derwertigkeit und in weiterer Folge Angst, Unzulänglichkeit, Weigerung, Trotz und Stolz hervorrufen kann. In manchen Fällen kann all das die Fähigkeit, eine neue Sprache zu erlernen, beeinträchtigen. Die Versprachlichung trauma‐ tischer Erfahrung kann Panikattacken oder dissoziative Zustände auslösen. In Traumatherapien wird daher versucht, zunächst eine Phase der Stabilisierung einkehren zu lassen, bevor solche Themen zur Sprache kommen, im Unterschied zu Gesprächssituationen im Asylverfahren, bei denen AsylwerberInnen ihre Fluchtgründe und Fluchtgeschichten möglichst detailgetreu darlegen müssen, ohne dass die emotionalen Befindlichkeiten der SprecherInnen berücksichtigt werden können. Gemeinsam mit der Psychotraumatologin Luise Reddemann ging Busch der Frage nach, inwiefern das Sprechen als re-traumatisiertend oder als Ressource erlebt werden kann. Die beiden Autorinnen gehen in ihren interdisziplinären Betrachtungen davon aus, dass jeder Mensch über eine innere Mehrsprachig‐ keit verfügt, auch ein scheinbar „einsprachiger“ Mensch, denn selbst jemand, der keine Fremdsprachenkenntnisse abrufen kann, unterscheidet unbewusst zwischen den Milieus, in denen er sich bewegt (Familie, Nachbarn, staatliche Einrichtungen, Freizeit etc.) und passt sein Sprechen (z. B. Dialekt oder Hoch‐ sprache) automatisch den jeweiligen Gegebenheiten an, oder ist zumindest in der Lage, dies zu tun. Mit Hilfe eines sprachlichen Repertoires werden die sprachlichen Ressourcen von Menschen visuell dargestellt (Näheres zum Konzept des Sprachrepertoires siehe Busch 2013: 17 ff.). Die beiden Autorinnen luden im Rahmen eines sprachbiographischen Workshops die TeilnehmerInnen ein, ihr sprachliches Repertoire bildlich darzustellen, also ihre Sprachen Kör‐ 91 4.3 Themenrelevante Untersuchungen <?page no="92"?> perteilen und Gefühlen zuzuordnen. Es entsteht eine Kombination aus einer visuellen und einer narrativen Repräsentation des Repertoires, ein komplexes Gebilde, das zeigt, wie eng biographische Erfahrungen und Sprache(n) mitein‐ ander verknüpft sind: Gesamthaft betrachtet wird aus dem Sprachportrait von Frau S. so wie aus anderen, die im Lauf der Jahre erhoben wurden, deutlich, wie unzulässig es ist, ein komplexes heteroglossisches Repertoire auf simple Dichotomien wie jene zwischen Herkunfts‐ sprache und Zielsprache, zwischen Erstsprache und Zweitsprache, zwischen Minder‐ heiten- und Mehrheitssprache reduzieren zu wollen. Vielmehr erschließen uns die Sprachenporträts vielfältige Möglichkeiten sowohl im Umgang mit Erzählungen von traumatischen Erfahrungen wie zur Erkundung von Resilienzfaktoren. Im Fall von Frau S. sprach die Dolmetscherin Dari, so dass die Übersetzung in einer für Frau S. nicht vertrauten, aber gut verständlichen Sprachvarietät stattfand, die von ihr nicht mit der Sprache der Täter gleichgesetzt wurde. Der Frage, in welche Sprache in der Therapie (oder in einzelnen Phasen der Therapie) gedolmetscht wird, sollte generell besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. (Busch & Reddemann 2013: 27) Die Autorinnen sprechen hier einen wichtigen Punkt für das psychotherapeu‐ tische Setting mit DolmetscherIn an: Welche Sprache wird gewählt (sofern von einer Wahlmöglichkeit überhaupt die Rede sein kann, denn nicht immer sind die Ressourcen vorhanden, um auf die Wünsche von KlientInnen einzugehen)? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus? „Spracherleben ist eben nicht neutral, es ist mit emotionalen Erfahrungen verbunden, damit, ob man sich in einer Sprache bzw. im Sprechen wohl fühlt oder nicht“ (2013: 29). An der Herstellung des traumatherapeutischen Settings als einen Ort, an dem die KlientIn sich in ihrem Sprechen wohl fühlt, sind DolmetscherInnen maßgeblich beteiligt. 4.3.2.6 Psychische Belastung für die DolmetscherInnen Die Psychotherapeutinnen Egger und Wedam berichten über die Nachteile und Vorteile von gedolmetschten psychotherapeutischen Gesprächen (2003: 86): zu den Nachteilen gehört der Umstand, dass ein direkter Kontakt zur KlientIn nicht möglich ist, sodass die TherapeutIn nicht spontan auf bestimmte Äußerungen reagieren kann. Vorteilhaft ist jedoch, dass mehr Zeit für die nonverbale Kom‐ munikation bleibt. Außerdem schreiben Egger & Wedam der DolmetscherIn die Rolle eines „Kulturcoaches“ zu: „Sie (die Dolmetscherin) kann auf kulturelle Normen, Tabus und soziokulturelle Bedeutungsebenen hinweisen“ (ebda.). Die beiden Autorinnen bezeichnen die Haltung, die der Dolmetscherin in der 92 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="93"?> Psychotherapie abverlangt wird, als „passiv-konzentriert-emphatisch“ (S. 89) und betonen, dass die Arbeit mit emotionalen Belastungen einhergehen kann. Eine kompakte Zusammenschau über die Dynamiken in der Psychothe‐ rapie - Übertragungen und Gegenübertragungen - sowie über die Gefahr der sekundären Traumatisierung für professionelle HelferInnen, zu denen DolmetscherInnen in diesem Fall zu zählen sind, hat Wedam dem UNHCR-Trai‐ ningshandbuch für DolmetscherInnen im Asylverfahren beigesteuert: Durch die Konfrontation mit den Schicksalen der Betroffenen werden professionelle HelferInnen immer wieder auch emotional berührt. DolmetscherInnen hören Berichte von traumatischen Situationen, bedrückende und tragische Lebensge‐ schichten und haben diese auch gleich wieder auszusprechen. Ihre Aufgabe besteht darin, diese zu dolmetschen. Ist das Ausmaß der persönlichen Betroffen‐ heit und der Identifikation mit den Problemen der AsylwerberInnen hoch, kann aus der Tätigkeit des Dolmetschens eine sekundäre Traumatisierung erfolgen. Wedam fasst mögliche auftretende Phänomene und Symptome folgendermaßen zusammen (2015: 187): - Parallelphänomene: auf emotionaler Ebene zeigen sich ähnliche Sym‐ ptome wie bei den Betroffenen (z. B. Gefühle der Ohnmacht und Hilflo‐ sigkeit, Ärger, Schuld- und Schamgefühle, Verzweiflung). - Körperliche Stresssymptome: z. B. Schlafstörungen, Erschöpfung, innere Unruhe, Nervosität, Spannungszustände - Extremfolgen: psychische oder körperliche Erkrankungen wie Bluthoch‐ druck, Herzinfarkt, Schlaganfall - Erschütterung des eigenen Selbst- und Weltbildes: das heißt, die Welt wird nicht mehr als sicher erlebt, und Werte werden infrage gestellt. 4.3.3 Ausblick auf die Forschungsdesiderata der vorliegenden Studie Die in den folgenden Kapiteln vorgestellte Untersuchung ist als eine Fortfüh‐ rung, Vertiefung und Erweiterung der bislang erforschten Fragestellungen zu verstehen. Die Untersuchung verfolgt unter anderem das Ziel, die Spezifik des psychotherapeutischen Arbeitens im Asylbereich unter Hinzuziehung von DolmetscherInnen verstärkt herauszuarbeiten, und zwar auf zwei Ebenen: Zum einen im Hinblick auf die Zielsetzungen dieser kommunikativen Situation in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext (kurz-, mittel- und langfristige therapeutische Unterstützung für Menschen, die sich ökonomisch und sozial am Rande der Gesellschaft bewegen, während sie emotional und psychisch meist in einer posttraumatischen chronifizierten Krisensituation verharren), 93 4.3 Themenrelevante Untersuchungen <?page no="94"?> zum anderen im Hinblick auf die besonderen Anforderungen an die Dolmet‐ scherInnen, und zwar sowohl bezüglich der angewandten Arbeitstechnik, als auch bezüglich der Positionierung von DolmetscherInnen als AkteurInnen in diesem Umfeld. Diese beiden Ebenen bedingen einander, denn aus den spezifischen Zielsetzungen der psychotherapeutischen Arbeitsweise an sich, welcher die Annahme zu Grunde liegt, Sprache bzw. das Sprechen habe eine heilende Wirkung (Heilung durch Sprechen, bzw. „talking cure“) erwachsen Implikationen für die Arbeitsweise und die Haltung von DolmetscherInnen. Die Perspektive der KlientInnen erfährt in der vorliegenden Untersuchung eine Aufwertung. Im Zuge der Datenerhebung war es mir ein Anliegen, so viele KlientInnen wie möglich für ein Gespräch zu gewinnen, und bei der Erstellung und Weiterentwicklung des Interviewleitfadens habe ich versucht, ein möglichst breites thematisches Spektrum abzudecken, um auch solche Aspekte zu beleuchten, die in der bisherigen Forschung keine oder nur wenig Berücksichtigung gefunden haben, nämlich die Positionierung der psychothe‐ rapeutischen Gesprächssituation innerhalb der Lebensrealität von Asylwer‐ berInnen und Flüchtlingen, in Abgrenzung zu anderen institutionalisierten Gesprächssituationen, die von den KlientInnen ebenfalls regelmäßig mit Hilfe von DolmetscherInnen bestritten werden. Weitere Fragestellungen, denen ich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nachgehen konnte und die bislang kaum erforscht wurden, betreffen die Herkunft der DolmetscherIn aus der Sicht der befragten KlientInnen, den Umgang der KlientInnen mit dem Umstand, dass es aus logistischen Gründen häufig zu DolmetscherInnenwechsel kommt, und damit verbunden die Frage nach dem Vertrauen zu den DolmetscherInnen. Außerdem wurden die im Rahmen der Untersuchung befragten KlientInnen explizit darum gebeten, sich zu ihrer Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit der Leistung der DolmetscherInnen zu äußern und zu berichten, ob und wie sie im Falle von Unzufriedenheit reagieren. Der zuletzt genannte Aspekt ist im engen Zusammenhang mit der ökonomischen Realität zu sehen, nämlich mit der Tatsache, dass es sich bei den hier beschriebenen KlientInnen um keine zahlende Klientel handelt, was einen maßgeblichen strukturellen Unterschied zum üblichen psychotherapeutischen Kontext darstellt. Eine Fragestellung, die in der bisherigen Literatur nicht berücksichtigt wurde, betrifft den spezifischen Sprachgebrauch in der Psychotherapie, der im Rahmen der Untersuchung aus der Sicht der befragten PsychotherapeutInnen und Dol‐ metscherInnen thematisiert wurde. Die Fähigkeit, sich (emotional) abzugrenzen als eine wichtige Anforderung an die DolmetscherInnen im psychotherapeuti‐ schen Bereich wurde in der vorliegenden Untersuchung thematisiert, ebenfalls sowohl aus der Sicht der befragten PsychotherapeutInnen als auch aus der Sicht 94 4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand <?page no="95"?> der befragten DolmetscherInnen. Die Zeugenschaft der DolmetscherInnen in einer ursprünglich dyadisch angelegten Gesprächssituation und das möglicher‐ weise daraus entstehende latente Konkurrenzverhältnis zwischen Psychothera‐ peutInnen und DolmetscherInnen fand Berücksichtigung in der vorliegenden Untersuchung, ebenso die Zusammenarbeit zwischen den TrägerInnen der beiden Berufsgruppen im Rahmen von Vor- und Nachgesprächen. 95 4.3 Themenrelevante Untersuchungen <?page no="97"?> 5 Forschungsprojekt Im folgenden Kapitel wird die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegende Untersuchung beschrieben. Zunächst wird die in 3.3 erläuterte Spezifik des zu untersuchenden Arbeitsumfelds im Hinblick auf die Forschung analysiert. Anschließend werden die Forschungsfragen sowie der Forschungsansatz und das Forschungsdesign präsentiert. 5.1 Zugang zum Feld: Traumazentren als „hochsensible Einrichtungen“ Traumazentren sind laut Pross „hochsensible Einrichtungen, sie sind Zufluchts‐ stätten vor dem langen Arm des Täters, des Verfolgers. Die Klienten sind voller Angst und Misstrauen, es geht um die Wiederherstellung zerbrochenen Grund‐ vertrauens“ (2009: 34 f). Pross beschreibt die daraus resultierende Tendenz solcher Einrichtungen, sich nach außen hin abzuschotten. Im Hinblick auf die Forschung bedeutet es, dass es nicht möglich ist, ohne weitere Forschungen von außen durchzuführen. Gute Kontakte, die oft nur durch jahrelange Mitarbeit aufgebaut werden können, sind notwendig, um Zugang zu solchen Einrich‐ tungen und also zu den entsprechenden Daten zu erhalten. Pross beschreibt außerdem den Umstand, dass die „Szene“ relativ über‐ schaubar ist, sodass es notwendig ist, die bei den Interviews erhobenen Angaben zu anonymisieren, damit sich die Befragten in der fertigen Untersuchung nicht gegenseitig erkennen können. Ganz lässt sich dieser Effekt jedoch nicht ausschließen. Um die Prozesse (arbeitstechnische, soziale, diskursive, psychologische etc.) in Traumabehandlungszentren beschreiben zu können, sollte man also laut Pross ein Insider sein. Ich kann mich dieser Einschätzung nur anschließen: Aus meiner Sicht wäre es nicht möglich gewesen, die Interviews in dieser Form zu führen und die in den nächsten Kapiteln dargestellten Antworten zu erhalten, wenn ich nicht jahrelang selbst als Dolmetscherin in der Psychotherapie tätig gewesen wäre, zunächst in ANKYRA, dem Zentrum für interkulturelle Psycho‐ therapie in Innsbruck, und später in HEMAYAT, dem Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende in Wien. Zum Thema „Zugang zum Feld“ lohnt sich die Lektüre des gleichnamigen Kapitels bei Flick (2009: 142 ff.). Darin befasst sich Flick mit der Problematik, <?page no="98"?> Zugang zu einem bestimmten Feld zu finden - sei es eine Institution, eine Subkultur, eine Familie oder EntscheidungsträgerInnen: Der Forscher ist auf die Bereitschaft zur Mitwirkung angewiesen und muss sich mit Hilfe seiner eigenen kommunikativen Fähigkeiten den nötigen Zugang verschaffen. Dabei changiert er zwischen Innen und Außen, zwischen Fremdheit und Vertrautheit (2009: 149f.) - eine Gratwanderung, die im nächsten Abschnitt diskutiert wird. 5.1.1 Reflexion der eigenen Forscherinnenrolle Meine Positionierung als Insiderin - als Dolmetscherin in unterschiedlichen Therapien, als Mitglied des Teams und als Teilnehmerin von Supervisions- und Austauschtreffen mit den anderen DolmetscherInnen - hat es mir ermöglicht, die Fragen für die Interviews ausgehend von eigenen Erfahrungen in der Arbeit zu formulieren und die Gespräche offen zu gestalten, spontan auf die Äußerungen meiner GesprächspartnerInnen zu reagieren und gegebenenfalls nachzuhaken. Bei manchen Gesprächen war es mir möglich, Fragende und Gesprächspartnerin zugleich zu sein - das gilt hauptsächlich für die Gespräche mit den DolmetschkollegInnen, jedoch vereinzelt auch mit einigen Psychothe‐ rapeutInnen, mit denen mich eine langjährige und intensive Zusammenarbeit verbindet. Die Gespräche mit den KlientInnen waren von einer größeren Distanz und erhöhter Vorsicht meinerseits gekennzeichnet. Diese Doppelfunktion als Forschende und als aktive Mitarbeiterin gilt es jedoch laufend zu reflektieren, denn die eigenen Erfahrungen können zu einem allzu subjektiven Umgang mit den erhobenen Daten verleiten. Verkürzt gesagt, die Nähe zum Forschungsfeld ist zweifelsohne ein großer Vorteil, möglicher‐ weise sogar eine conditio sine qua non (siehe 5.1), zugleich kann sich diese Nähe auch nachteilig manifestieren, nämlich als fehlende Distanz. Der zeitliche Faktor - die Tatsache, dass ich das Datenmaterial über einen Zeitraum von ca. vier Jahren hinweg kontinuierlich gesammelt habe und selbst über einen Zeitraum von ca. 12 Jahren (mit Unterbrechungen) als Dolmetscherin in der Psychotherapie tätig war bzw. derzeit noch bin - sowie der Vorgang der Ko‐ dierung, bei dem thematisch zueinander passende Elemente zusammengefügt und zu einander in Beziehung gesetzt wurden, losgelöst von den einzelnen geführten Gesprächen, haben mir dabei geholfen, den nötigen Abstand zum Datenmaterial zu gewinnen. Der Umfang des erhobenen Materials war meiner Einschätzung nach ebenfalls ausreichend, um ein so breites Bild zu zeichnen, dass die Gefahr der Zuordnung einzelner Aussagen zu den befragten Personen weitgehend gebannt ist. 98 5 Forschungsprojekt <?page no="99"?> Bahadır weist darauf hin, dass die Anforderungen an die Forschenden, objektiv und neutral zu sein (sie spricht von der „Illusion der wertneutralen Beobachtung“, S. 97), stets (selbst)kritisch zu hinterfragen sind und plädiert für eine Diskussion der Ethik in der Dolmetschforschung: „Dolmetschforscher‐ innen müssen sich ihrer Macht bewusst werden, nicht nur im positiven Sinne der empowerment sondern auch als eine Art Machtübernahme. Im Akt der wissenschaftlichen Beobachtung übt die Forscherin in gewissem Sinne Gewalt aus, weil sie interpretiert und kategorisiert“ (2007: 100, Hervorhebung im Original). Die durch meine eigene Interpretation und Kategorisierung ausgeübte „Gewalt“ habe ich versucht, so gut wie möglich zu reflektieren, um unbewusste Gewichtungen (ausgehend von eigenen, möglicherweise unbewussten Wertur‐ teilen) zu vermeiden. Selbstverständlich ist das Datenmaterial jedoch durch den Filter meiner eigenen, persönlichen Erfahrung als Dolmetscherin in dem Arbeitsbereich Psychotherapie reflektiert, allerdings habe ich mich bemüht, „viele Stimmen“ (Bahadır 2007: 96 f) in meinem Text hörbar zu machen. 5.2 Methodische Vorüberlegungen zum Forschungsprojekt Nach Lamnek zeichnet sich die quantitative Methodologie durch Validität, Reliabilität und ein experimentelles Design aus und ermöglicht es, viele Fälle, viele und breite Informationen mit Hilfe einer Methode zu erfassen. Dagegen ist die qualitative Methodologie durch Kommunikativität und Natürlichkeit der Erhebungssituation so wie die Authentizität des erhobenen Materials charak‐ terisiert, allerdings werden dabei mit Hilfe mehrerer Methoden wenige Fälle, diese jedoch mit tiefer greifenden Informationen versehen, erfasst (1995: 7f.). Gläser & Laudel argumentieren wiederum, dass es keine rein quantitativen Methoden gibt, die nicht mit Interpretationen verbunden wären, ebenso wenig wie es qualitative Studien gibt, die völlig ohne Zahlen- und Mengenangaben auskommen (Gläser & Laudel 2004: 23). Strauss & Corbin definieren qualitative Forschung folgendermaßen: Mit dem Begriff qualitative Forschung meinen wir jede Art der Forschung, deren Ergebnisse keinen statistischen Verfahren oder anderen Arten der Quantifizierung entspringen. Sie kann sich beziehen auf Forschung über Leben, Geschichten oder Verhalten einzelner Personen, aber auch auf das Funktionieren von Organisationen, auf soziale Bewegungen oder auf zwischenmenschliche Beziehungen. (Strauss & Corbin 1996: 3) 99 5.2 Methodische Vorüberlegungen zum Forschungsprojekt <?page no="100"?> Grundsätzlich richtet sich die Methodenwahl nach dem Untersuchungsgegen‐ stand. Vor der Methodenwahl sind theoretische und strategische Vorüberle‐ gungen zu leisten (vgl. Gläser & Laudel 2004: 59 f). Beim Forschen geht es darum, eine Wissenslücke zu benennen und den Versuch zu machen, diese zu schließen. Da eine vollständige Beschreibung einer Sache oder eines Vorgangs nicht möglich ist, und es dennoch nötig ist, den Aufwand einzugrenzen, gilt die Devise: „Alles, was der Beantwortung dient, muss erhoben werden, und nur, was der Beantwortung dient, soll erhoben werden“ (2004: 61). Die wichtigste qualitative Datenerhebungsmethode neben der teilneh‐ menden Beobachtung ist das Interview. Es gibt unterschiedliche Typologien von Interviews, die sich je nach dem Grad der Standardisierung unterscheiden. Leitfadeninterviews enthalten üblicherweise offene Fragen, und auch wenn ein Interview von außen wie ein Alltagsgespräch aussieht, gibt es eine klare Rollenverteilung: Der Interviewer führt eine „permanente spontane Operatio‐ nalisierung“ durch (Gläser & Laudel 2004: 108), reagiert also flexibel auf die Äußerungen des Interviewten (siehe auch 5.1.1). Das erhobene qualitative Material liegt immer in Form von Texten vor, die anschließend analysiert werden müssen. Es handelt sich also um unscharfes Datenmaterial, das mit folgenden Auswertungsmethoden bearbeitet werden kann (nach Gläser & Laudel 2004: 42): 1. Freie Interpretation: eigentlich keine gültige Auswertungsmethode, da intersubjektive Nachvollziehbarkeit nicht gewährleistet ist. 2. Sequenzanalytische Methoden: Analyse auf thematische und zeitliche Verknüpfungen der Textabschnitte hin. 3. Kodieren: entstanden aus der Grounded Theory; relevante Textstellen werden mit einem Kode markiert (hierarchisch aufgebaut oder als Netz gleichrangiger Begriffe konzipiert). 4. Qualitative Inhaltsanalyse (nach Mayring): Ein Kategoriensystem wird im Vorfeld entwickelt; relevante Informationen werden unabhängig vom ursprünglichen Text weiter verarbeitet. Im Unterschied zu einer quanti‐ tativen Analyse wird nicht die Häufigkeit auftretender Informationen analysiert, sondern ihr Inhalt. Ursprünglich hatte ich die Möglichkeit einer Gruppendiskussion ins Auge gefasst sowie die Durchführung einer größer angelegten Fragebogenstudie unter PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen. Mit der Zeit kam ich von dieser Idee ab, ein Experiment kam ebenfalls nicht in Frage (s. 4.2). Ich entschied mich schließlich, Leitfadeninterviews mit VertreterInnen aller drei involvierten Gruppen (KlientInnen, PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen) durch‐ 100 5 Forschungsprojekt <?page no="101"?> 20 Siehe dazu auch ein umfassendes Online-Tool: http: / / www.groundedtheoryonline.com / , Stand April 2021 zuführen, weil ich mir von einem solchen Ansatz den größtmöglichen Freiraum versprach: Basierend auf den Erkenntnissen und Empfehlungen der Grounded Theory 20 gibt es die Möglichkeit, parallel die Forschungsfragen anzupassen und das erhobene Material auszuwerten, und neu gewonnene Erkenntnisse in den Forschungsprozess einfließen zu lassen. Ein solcher freier Zugang erschien mir für das Thema „Dolmetschen in der Psychotherapie“, dessen quantitativ erfassbare Daten (Anzahl der KlientInnen, Anzahl der geleisteten Stunden etc.) wenig Aussagekraft über inhaltlich relevante und interessante Fragestellungen haben würden, optimal geeignet. 5.3 Skizzierung der Wissenslücke und Ausblick Wie bereits unter 4.2 dargelegt wurde, handelt es sich bei der Psychotherapie um einen Bereich, in dem nicht wiederholbare, nicht standardisierte Gespräche geführt werden, die nach Form und Inhalt der jeweiligen Situation (der jewei‐ ligen KlientIn und der jeweiligen aktuellen Fragestellung) angepasst werden. Zudem sind Aufzeichnungen, die über die psychotherapeutische Arbeit gemacht werden, für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Die Psychotherapie ist eine kommunikative Situation, deren Alleinstellungs‐ merkmal darin besteht, dass auf jede Klientin, jeden Klienten individuell einge‐ gangen wird und dass Inhalte zur Sprache kommen können, die in anderen Kontexten aus unterschiedlichen Gründen unterdrückt oder verdrängt werden. Eine Therapie entwickelt sich laufend, die PsychotherapeutIn reagiert auf die Inhalte, die zur Sprache kommen, somit wird stets changiert zwischen einer Bearbeitung der Vergangenheit, der Auseinandersetzung mit der Gegenwart und dem Ausblick auf die Zukunft. Eine Untersuchung zu diesem Thema kann die Erfahrungen und Überle‐ gungen der jeweiligen Befragten wiederspiegeln und dadurch einen Einblick in die Arbeitsweisen und Konstellationen in diesem hermetisch abgeschlossenen Bereich bieten. Da es sich um eine kommunikative Situation handelt, in der Emo‐ tionen und intime Gedanken verhandelt werden, darf es nicht verwundern, dass die Aussagen der Befragten mitunter divergieren oder einander widersprechen können: Eine Standardisierung der Gespräche und somit eine auf Normierung abzielende Herangehensweise an die DolmetscherInnen würde dem Wesen der Psychotherapie zuwiderlaufen. 101 5.3 Skizzierung der Wissenslücke und Ausblick <?page no="102"?> Die vorliegende Arbeit, basierend auf der qualitativen Untersuchung, die alle drei Perspektiven miteinbezieht, verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele: - Zum einen geht es darum, durch den deskriptiven Ansatz, der alle drei Perspektiven miteinbezieht und zueinander in Beziehung setzt, die Tätigkeit der DolmetscherInnen in der Psychotherapie sichtbar zu machen und sie in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Dabei wird detailliert die Arbeitsweise der DolmetscherInnen beschrieben (Modus, Sitzordnung, Blickkontakt, direkte und indirekte Rede), ebenso wie auf die Positionierung der DolmetscherIn in der Triade, also auf ihr Rollenverständnis: die DolmetscherIn ist als Person Trägerin zahlreicher Merkmale und fungiert mitunter als Projektionsfläche, ist somit ein wichtiges Element in den Prozessen der Übertragung und Ge‐ genübertragung und ist stets explizit formulierten und implizit gestellten Erwartungshaltungen ausgesetzt. Die erhobenen Daten werden auf eine strukturierte Weise folgendermaßen präsentiert: Jeder thematische As‐ pekt wird zunächst kurz vorgestellt, dann werden besonders relevante und prägnante Aussagen der Befragten angeführt und kommentiert, und abschließend werden die Kernaussagen der gewonnenen Erkenntnisse als „Fazit“ zusammengefasst. Durch eine solche Vorgehensweise entsteht eine detaillierte Bestandsaufnahme der untersuchten Arbeitssituation - beschrieben durch zahlreiche unterschiedliche Stimmen. - Zum anderen richtet sich die vorliegende Arbeit explizit auch an Dol‐ metscherInnen und PsychotherapeutInnen, die in diesem Bereich tätig sind. Das im Anschluss an die Diskussion der durch die qualitative Untersuchung gewonnen Erkenntnisse präsentierte Reflexionsmodell kann DolmetscherInnen und PsychotherapeutInnen dabei helfen, ihre eigenen Erfahrungen und das prekäre Gleichgewicht, das in der triadischen Konstellation herrscht, entlang der folgenden drei Dimensionen zu re‐ flektieren: • Gratwanderungen, die es in den konkreten Arbeitssituationen im Hinblick auf die eigene Haltung zu bewältigen gilt • Oszillationen, die im komplexen triadischen Gefüge in Form von Allianzen und Ausschließungsdynamiken stattfinden • Annäherungen an Ideale, die von DolmetscherInnen anzustreben sind, um dabei mitzuwirken, eine Atmosphäre herzustellen, in der sich alle Beteiligten kommunikativ gut aufgehoben fühlen. Das psychotherapeutische Arbeiten verlangt von allen drei AkteurInnen die Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln und eigene, vermeintlich unumstößliche 102 5 Forschungsprojekt <?page no="103"?> Überzeugungen in Frage zu stellen, und sich auf Prozesse einzulassen, deren Ausgang nicht vorhersehbar ist. Für die DolmetscherInnen in diesem Bereich ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass das kommunikative Gleichgewicht stets prekär ist und immer aufs Neue erarbeitet und aufrechter‐ halten werden muss, um einen bewussten Umgang mit immer wieder auftre‐ tenden Dilemmata zu finden. 5.4 Leitfadeninterviews Nachdem ich den Arbeitsbereich aus der praktischen Perspektive, also als Dol‐ metscherin, einigermaßen kennengelernt hatte (ca. nach einem Jahr), entstand die Idee, diesen Arbeitsbereich näher zu erforschen. Die Gespräche erfolgten mit Hilfe von Leitfadeninterviews (zur besseren Übersichtlichkeit siehe die Leitfäden im Anhang; eine Kurzversion vom jeweiligen Leitfaden ist in den einzelnen Abschnitten ebenfalls inkludiert, um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten). Insgesamt konnte ich folgende InterviewpartnerInnen gewinnen: • 11 KlientInnen (acht Frauen und drei Männer) • 13 Psychotherapeutinnen (alle weiblich) • 8 DolmetscherInnen (sieben Frauen, ein Mann) Die Auswahl der InterviewpartnerInnen erfolgte nach folgenden Gesichts‐ punkten: Bei den KlientInnen war es mir wichtig, GesprächspartnerInnen aus‐ zuwählen, die schon über einen längeren Zeitraum Psychotherapie in Anspruch genommen hatten oder ihre Therapie bereits abgeschlossen hatten. Es war mir ein Anliegen darauf zu achten, dass die KlientInnen sich nicht „beforscht“ fühlten: Es durfte nicht der Hinweis fehlen, dass es bei diesen Interviews „nur“ um das Thema Dolmetschen geht und nicht etwa um andere, persönliche oder intime Erfahrungen in der Psychotherapie. Es ist anzunehmen, dass es für die KlientInnen nicht angenehm wäre, einer Person, die keine Therapeutin ist, Auskunft über die Inhalte der Therapie geben zu müssen. Zugleich gilt es mitzubedenken, dass die KlientInnen dazu tendieren, Dankbarkeit gegenüber der Einrichtung für Psychotherapie zu empfinden und die MitarbeiterInnen sol‐ cher Zentren, insbesondere die PsychotherapeutInnen, als Autoritätspersonen anzuerkennen. Die aus einer solch wertschätzenden Haltung resultierende Kooperations- und Hilfsbereitschaft bildet die Grundvoraussetzung für eine Interviewsituation, aber als Forschende war es mir ein Anliegen, darauf zu achten, diese Kooperations- und Hilfsbereitschaft nicht „auszunützen“ und nicht 103 5.4 Leitfadeninterviews <?page no="104"?> „überzustrapazieren“. Bei der Auswahl der KlientInnen für die Interviews habe ich längere Überlegungen angestellt, welche Personen dafür geeignet wären. Ich habe nicht beliebige KlientInnen angesprochen, sondern zunächst einige Faktoren abgewogen (Therapieerfahrung, derzeitige psychische Verfassung, allgemeine Bereitschaft zur Reflexion etc.). Erst nach sorgfältiger Abwägung sprach ich die KlientInnen an, mit Erlaubnis der jeweiligen PsychotherapeutIn, die zu diesem Zeitpunkt mit der jeweiligen KlientIn gearbeitet hatte oder kurz zuvor die Therapie abgeschlossen hatte - erfreulicherweise haben alle angesprochenen KlientInnen positiv reagiert und sich zu einem Gespräch bereiterklärt. Bei den TherapeutInnen und DolmetscherInnen war es wesentlich unproble‐ matischer, auskunftswillige GesprächspartnerInnen zu finden. Ich habe die In‐ terviewpartnerInnen persönlich angesprochen und um ein Gespräch gebeten. Es handelt sich um (z.T. ehemalige) MitarbeiterInnen der beiden bereits erwähnten Betreuungseinrichtungen HEMAYAT (Wien) und ANKYRA (Innsbruck). 5.5 Forschungsfragen Wie wird in der Psychotherapie mit DolmetscherInnen gearbeitet? Wie klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander und wie kann man mit dieser Kluft konstruktiv umgehen? - So könnte eine radikal verkürzte Darstellung des Forschungsinteresses klingen. Die Forschungsfragen zielen darauf ab, eine möglichst genaue Vorstellung von den Erwartungshaltungen aller Beteiligten und Anforderungen an die MitarbeiterInnen im Kontext der Psychotherapie für Kriegs- und Folterüberle‐ bende zu gewinnen. Dabei gilt es, eine Unterscheidung im Bezug auf zweierlei Ebenen zu treffen: Zum einen gibt es die Unterscheidung je nach Perspektive: KlientIn, PsychotherapeutIn, DolmetscherIn. Zum anderen lässt sich eine Dif‐ ferenzierung vornehmen zwischen der Arbeitsweise im Rahmen einer einzelnen Stunde (Arbeitstechnik - kurzfristige Perspektive) und der kontinuierlichen gemeinsamen Arbeit über Monate und Jahre hinweg (Dynamiken und Begleit‐ erscheinungen - langfristige Perspektive). 5.5.1 Fragen an die einzelnen AkteurInnen in der Triade Aus den bereits genannten Gründen beschränken sich die Fragen an die KlientInnen auf folgende Themen: 104 5 Forschungsprojekt <?page no="105"?> - Therapieerfahrung (Dauer) - Vertrauen gegenüber den DolmetscherInnen - Die Person der DolmetscherIn: Was möchten Sie über die DolmetscherIn wissen? - Erwartungshaltungen an die DolmetscherIn - Wie wird bei Unzufriedenheit mit der DolmetscherIn agiert? Gibt es Mög‐ lichkeiten, das Problem anzusprechen oder eigene Wunschvorstellungen unterzubringen? Die Fragen an die PsychotherapeutInnen kreisen um die Erwartungshaltungen an die Rolle der DolmetscherIn in der Psychotherapie. Es geht darum heraus‐ zufinden, wie die PsychotherapeutInnen konkret mit den DolmetscherInnen zusammenarbeiten, ob sie sich über die Therapien austauschen, ob sie kultur‐ bezogene Hintergrundinformationen erwarten. Weiters wurden die Psychothe‐ rapeutInnen gebeten, sich zum Themenkomplex Qualität und Professionalität zu äußern. Einen wichtigen Punkt bildet der Umstand, dass manchmal Dol‐ metscherInnenwechsel auftreten können, wodurch sich die Frage nach der Ersetzbarkeit bzw. Austauschbarkeit von einzelnen DolmetscherInnen stellt. Außerdem ging es darum herauszufinden, wie sich die dyadische Arbeitsweise von der triadischen unterscheidet. Die befragten DolmetscherInnen wurden gebeten, sich über ihre Arbeitstechnik zu äußern (Sitzordnung, Blickkontakt, Dolmetschmodus, (angestrebte) Nähe zum Original, 1. und/ oder 3. Person usw.). Außerdem sollten die befragten DolmetscherInnen erzählen, wie sie ihre Rolle selbst definieren würden, wofür sie sich zuständig sehen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Kultur: zum einen die eigene(n) kulturelle(n) Zugehörigkeit(en) und die damit einhergehenden Implikationen, und zum anderen die eigene „Kulturexpertise“ und der Umgang damit. Besonders wichtig war es herauszufinden, ob die DolmetscherInnen sich in der Arbeit emotionalen Belastungen ausgesetzt fühlen und wenn Ja, wie sie damit umgehen. Außerdem ging es um den Austausch über diese Themen am Arbeitsplatz: Mit den PsychotherapeutInnen und mit anderen DolmetscherInnen. Die befragten DolmetscherInnen wurden gebeten, sich zum Themenkomplex Qualität/ Professionalität zu äußern. Die mit den KlientInnen geführten Interviews unterscheiden sich maßgeblich von den Interviews, die mit den DolmetscherInnen und PsychotherapeutInnen geführt wurden, weil die Präsenz der ersteren auf einer persönlichen, indivi‐ duellen Betroffenheit begründet ist, während die VertreterInnen der beiden anderen Kategorien sich an ihrem (mehr oder weniger) prekären Arbeitsplatz 105 5.5 Forschungsfragen <?page no="106"?> befinden und im Rahmen der Interviews zwar auch ihre persönliche, individu‐ elle Erfahrung wiedergeben, jedoch in erster Linie über ihre Arbeitserfahrungen berichten. Zusammenfassend lässt sich sagen, die Fragen an die KlientInnen zielen darauf ab herauszufinden, was nötig ist, damit sich die Befragten in der Gesprächssituation kommunikativ gut aufgehoben fühlen. Die Gespräche mit den beiden anderen Gruppen hatten zum Ziel herauszufinden, wie in der Triade tatsächlich gearbeitet wird, welche Erfahrungen die Beteiligten machen und wie sich ihre Erfahrungen von den ursprünglichen Annahmen oder Idealvorstellungen unterscheiden. Themenschwerpunkte in den geführten Interviews KlientInnen PsychotherapeutInnen DolmetscherInnen - Therapieerfahrung - Arbeiten mit unter‐ schiedlichen Dolmet‐ scherInnen oder immer mit einem/ einer? - Vertrauen: gegenüber den DolmetscherInnen - Merkmale der Dolmet‐ scherIn: Geschlecht, Alter, Herkunft etc. - Einfluss? - Besteht der Wunsch, mehr über die Dolmet‐ scherIn in Erfahrung zu bringen? - Rolle der Dolmet‐ scherIn und Erwar‐ tungshaltungen - Besprechungen mit DolmetscherInnen - Umgang mit der „Kul‐ turexpertise“ der Dol‐ metscherIn - Qualität und Professio‐ nalität - Umgang mit Dolmet‐ scherInnenwechsel - Unterschiede zwischen der Arbeitsweise in der Dyade und in der Triade - Arbeitstechnik (Blick‐ kontakt, Sitzordnung, Modus, Nähe zum Ori‐ ginal etc.) - Kultur: eigene kultu‐ relle Zugehörigkeit(en) und „Kulturexpertise“ - Emotionale Belastung - Qualität/ Professiona‐ lität Tabelle 1: Themenschwerpunkte in den durchgeführten Leitfadeninterviews 5.5.2 Fragen das Setting betreffend Betrachtet man die Spezifik des psychotherapeutischen Settings in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext und im Vergleich zu den anderen Settings im Asylbereich, so stellen sich folgende Forschungsfragen: - Was ist das Spezifische am psychotherapeutischen Setting? - Wie „austauschbar“ sind DolmetscherInnen in der Psychotherapie? - Wie wird die Rolle der DolmetscherIn definiert, und wie wird sie tatsäch‐ lich erlebt/ erfüllt? 106 5 Forschungsprojekt <?page no="107"?> - Mit welchen Erwartungen seitens der PsychotherapeutInnen einerseits und der KlientInnen andererseits sehen sich die DolmetscherInnen kon‐ frontiert? - Wie bewerten und besetzen alle Beteiligten das Thema Dolmetschen? (als eine Bereicherung oder ein Belastung etc.? ) - Woran lässt sich die Professionalität der DolmetscherInnen in diesem spezifischen Setting festmachen? - Wie gehen die DolmetscherInnen mit den belastenden Inhalten und Situationen um? - Welche Dynamiken können sich in der Triade abspielen? Werden Alli‐ anzen gebildet, und wenn Ja welche? Der Anspruch der Forschungsarbeit bestand darin, Menschen mit viel Erfahrung in diesem Bereich zu Wort kommen zu lassen und die Dynamiken in der Triade aus allen drei Perspektiven zu beleuchten. Die längere Dauer der Gespräche (ca. 1h oder länger) machte es möglich, tiefer in die Thematik einzutauchen und Inhalte zum Vorschein zu bringen, die den Befragten im ersten Moment womöglich nicht präsent gewesen wären. 5.6 Auswertung des Materials In den Kapiteln 6., 7. und 8. wird das kodierte und aufbereitete Material präsentiert, gegliedert nach den Perspektiven der drei beteiligten Gruppen, wobei sich zahlreiche thematische Überschneidungen ergeben. Anschließend erfolgt in Kapitel 9. eine Diskussionen der gewonnen Erkenntnisse und des Aufschlusswerts der durchgeführten Studie. Die für die Studie verwendeten leitfadengestützten Interviews wurden in einem Zeitraum von ca. vier Jahren durchgeführt (zwischen 2010 und 2014). Wie in 5.1.1 bereits erwähnt wurde, erstreckte sich meine Auseinandersetzung mit dem Arbeitsfeld Dolmetschen in der Psychotherapie über ein ganzes Jahrzehnt (mit Pausen dazwischen) - ein Umstand, der von mir nicht intendiert war, der sich jedoch im Hinblick auf die Auswertung des gewonnenen Materials rück‐ blickend als ein Glücksfall erwiesen hat, denn, wie in 5.1 in Anlehnung an Pross (2009: 34 f) festgestellt wurde, handelt es sich bei Traumazentren um „hochsen‐ sible Einrichtungen“, bei deren Beforschung größte Sorgfalt angebracht ist, und der zeitliche Abstand zwischen der Erhebung des Datenmaterials und der Auswertung bzw. Veröffentlichung der gewonnenen Erkenntnisse sorgt dafür, dass eine Zuordnung zu den einzelnen Befragten seitens der MitarbeiterInnen kaum mehr möglich ist. 107 5.6 Auswertung des Materials <?page no="108"?> 5.6.1 Transkription der Interviews Die Interviews mit den KlientInnen wurden auf Russisch geführt, mit einem Diktiergerät aufgenommen, von mir transkribiert und anschließend von mir ins Deutsche übersetzt. Die Gesamtanzahl der transkribierten Seiten beträgt (zusammen mit der Übersetzung ins Deutsche) 37. Die Interviews, die ich mit den Psychotherapeutinnen und DolmetscherInnen auf Deutsch führte, wurden ebenfalls aufgenommen und von mir transkribiert. Die Seitenanzahl der transkribierten Interviews mit den Psychotherapeutinnen beträgt 57, jene der Interviews, die mit den DolmetscherInnen geführt wurden, beträgt 34. Der Gesamtumfang des Transkripts beträgt 128 A4-Seiten in Word (Schriftgröße 12, einfacher Zeilenabstand). Beim Transkribieren habe ich darauf geachtet, Redepausen festzuhalten (mit drei Punkten in Klammer), dort, wo solche Redepausen als ein Hinweis auf Zö‐ gern und Unsicherheit gelten konnten. Ebenso habe ich Lachen festgehalten (mit dem Hinweis (lacht)), da eine Aussage eine ganz andere Bedeutung annehmen kann, je nachdem, ob sie als humorvoll intendiert war oder nicht. Ich habe beim Transkribieren Mühe aufgewendet, die genaue Wortwahl der Befragten richtig wiederzugeben, auch umgangssprachliche Elemente, allerdings habe ich bewusst davon Abstand genommen, eine genaue Wiedergabe der jeweils ver‐ wendeten Dialekte oder Akzente zu gewährleisten, da mir eine solche Zielvor‐ gabe beim Transkribieren als übertrieben und nicht gerechtfertigt erschienen ist. Flick gibt zu bedenken, dass beim Transkribieren die Angemessenheit des Vorgehens nicht aus dem Blickfeld geraten darf, gerade bei sprachanalytischen Zusammenhängen, wenn versucht wird, ein Höchstmaß an erzielbarer Genau‐ igkeit zu erreichen: Abgesehen davon, dass sich darüber durch die Hintertür Ideale naturwissenschaftli‐ cher Messgenauigkeit in die interpretative Sozialwissenschaft einschleichen, verleitet die Formulierung von Transkriptionsregeln häufig zu einem Fetischismus, der in keinem begründbaren Verhältnis mehr zu Fragestellung und Ertrag der Forschung steht (Flick 2009: 379). Bei der Übersetzung der KlientInnen-Interviews aus dem Russischen ging sicherlich einiges an Vielfalt des Ausdrucks verloren, etwa der Umstand, dass alle befragten KlientInnen Russisch nicht als Muttersprache haben und das Niveau der Beherrschung dieser Sprache unter den befragten KlientInnen variiert: Etwa lässt sich bei Menschen mit georgischer Muttersprache häufig die Beobachtung machen, dass sie im Russischen verstärkt die maskuline Form gebrauchen, auch dort, wo ein Femininum korrekt wäre. Allerdings droht im Normalfall daraus keine Beeinträchtigung des Verständnisses, da der Sinn sich 108 5 Forschungsprojekt <?page no="109"?> meist aus dem Kontext korrekt ableiten lässt. Bei der Übersetzung der auf Rus‐ sisch geführten Interviews gingen solche Besonderheiten im Sprachgebrauch verloren - das ist bedauerlich, allerdings im Hinblick auf die Fragestellung und das Forschungsinteresse unerheblich. An dieser Stelle sei noch auf eine äußerst aufschlussreiche Beobachtung bei Bot hingewiesen (2005: 99 ff.). Bot zieht eine Parallele zwischen dem Transkribieren, dem Übersetzen und dem Dolmetschen und geht der Frage nach, ob es sich bei diesen drei Tätigkeiten um vergleichbare Prozesse handelt. Bot war bei ihrer Untersuchung auf die Unterstützung von sprachkundigen MitarbeiterInnen angewiesen. Es stellte sich heraus, dass diejenigen, die mit der Aufgabe betraut waren, Transkripte von Gesprächen anzufertigen, Schwie‐ rigkeiten hatten, sich darauf zu beschränken, die Aussagen der SprecherInnen niederzuschreiben - „just write down what the speakers say“ (2005: 99). Ebenso gab es Schwierigkeiten, als es darum ging, die Wortmeldungen vollständig zu übersetzen, unter Berücksichtigung von Wiederholungen, falsch angefangenen Sätzen, halbfertigen Sätzen und Ähnlichem. „Somehow, there seemed to be an almost irresistible urge in all the transcribers/ translators to turn the transcript into grammatically correct full sentences and understandable text“ (2005: 99 f.). Bot machte die Beobachtung, dass die Vorgabe, sich an das gesprochene Wort zu halten und dieses so korrekt wie möglich schriftlich festzuhalten, bei manchen MitarbeiterInnen für Unmut sorgte, da diese der Meinung waren, dass es sich bei der gesprochenen Alltagssprache um eine Abweichung von der Regel handelte. Beim Transkribieren gab es also die Tendenz, einen Text zu produzieren, der die Regelhaftigkeit der Grammatik berücksichtigt, wo also nicht zu Ende gesprochene Sätze ebensowenig Platz haben wie inhaltlich nicht motivierte Wiederholungen. Daraus zieht Bot die Schlussfolgerung, dass die MitarbeiterInnen die Aufgabe, die Aufnahmen möglichst genau zu transkribieren, als unzureichend empfanden. Sie hegten die Befürchtung, ohne ihre eigenen Eingriffe könnte der Text un‐ verständlich bleiben. Bot spekuliert, ob ein ähnlicher Effekt möglicherweise beim Dolmetschen ebenfalls zum Tragen kommt und ob möglicherweise die DolmetscherInnen ebenfalls den Drang haben, etwas Eigenes hinzuzufügen, über die Wiedergabe des gesprochenen Originaltexts hinaus, weil sie fürchten, dass ihre KlientInnen sie sonst nicht richtig verstehen würden. Bot führt eine solche Haltung zur eigenen Arbeit auf fehlende Professionalisierung des Berufs zurück: Somehow, the art of interpretation does not seem to be valued as a proper job by users and interpreters alike - just as my transcribers did not value their assignment. It seems to me that this is one of the signs of a lack of professionalism in the trade. (2005: 101). 109 5.6 Auswertung des Materials <?page no="110"?> Bots Beobachtung zeigt anschaulich, wie schwierig es für Menschen sein kann, sich darauf einzulassen, bei einem sprachlichen Übertragungsprozess eine maschinenartige Haltung einzunehmen, eigene Gedanken außen vor zu lassen und sich darauf zu beschränken, nichts wegzulassen, nichts hinzuzufügen und nichts zu verändern. 5.6.2 Kodierung Die Kodierung, also der Vorgang, Daten und Phänomene in Begriffe zu fassen (vgl. Flick 2009: 388 ff.) erfolgte laufend, parallel zur Entstehung weiterer Interviews. Bei der Ausarbeitung der Fragen für die leitfadengestützten Inter‐ views hatte ich bestimmte Kategorien bzw. Grundbegriffe vorgesehen (z. B. „Vertrauen“ für die Gruppe der KlientInnen, „Schwierigkeiten beim Arbeiten mit DolmetscherInnen“ für die Gruppe der PsychotherapeutInnen, „Arbeitstechnik“ für die Gruppe der DolmetscherInnen“ usw.). Bei der Bearbeitung des transkri‐ bierten Materials ergaben sich dann andere, neue und verfeinerte Kategorien. Ich ging dabei folgendermaßen vor: Zunächst suchte ich jedes Interview nach relevanten und aufschlussreichen Aussagen ab und extrahierte diese in eine Tabelle (mit „Kopieren“ - „Einfügen“). Die Zuordenbarkeit zu den jeweiligen InterviewpartnerInnen wurde dadurch gewahrt, dass eine Spalte in der Tabelle die Abkürzung für den/ die InterviewpartnerIn enthielt (z. B. K_1, PT_2, D_3 usw.). In einem nächsten Schritt hob ich besonders prägnante Aussagen bzw. Elemente fett hervor - diese Hervorhebung wurde bei der Darstellung der Aussagen in den Kapiteln 6., 7., und 8. beibehalten oder gegebenenfalls weiter verfeinert. In einer eigenen Spalte in der Tabelle formulierte ich Begriffe und Kategorien, die in der jeweiligen Aussage zur Sprache kommen, wobei ich jeweils den Oberbegriff an die erste Stelle setzte, und ausgehend davon weitere Unterbe‐ griffe anfügte (z. B. Oberbegriff „Arbeitstechnik“, Unterbegriffe „Blickkontakt“, „Sitzordnung“, „Notizentechnik“ usw.). Zur Veranschaulichung folgen nun einige Ausschnitte aus den Kodierungs‐ tabellen. Hier zunächst ein Ausschnitt aus der Tabelle mit den KlientInnen-Interviews. Insgesamt kam die Tabelle auf eine Länge von 20 A4-Seiten. 110 5 Forschungsprojekt <?page no="111"?> INTERVIEW THEMA ZITAT K_1 Wechsel des Dol‐ metschers „Ich finde es angenehm, mit demselben Dolmetscher zu arbeiten.“ „Ich denke, der Dolmetscher ist ein wichtiges Glied in der Kette im Gespräch zwischen dem Psychotherapeuten und dem Klienten, und deshalb, sagen wir so, ist das Gefühl dieses Dolmetschers, also wie der Patient den Dol‐ metscher empfindet, inwiefern er sich an ihn gewöhnt hat, inwiefern er ihm vertraut, das ist sehr wichtig, und deshalb lege ich persönlich viel Wert darauf, immer nur mit einem Dolmetscher zu arbeiten.“ K_1 Vertrauen „Leider habe ich auch die Erfahrung gemacht, dass ich an der Vertrauenswürdigkeit der Dolmetscher zweifeln musste.“ K_1 Ge‐ schlecht des/ der Dolmet‐ schers/ In „Die Professionalität des Dolmetschers, das heißt, sein Sprachniveau und die Fähigkeit, zu dolmetschen, steht natürlich an erster Stelle.“ „Aber man darf natürlich auch nicht die persönlichen Eigenschaften ganz außer Acht lassen. Für mich als Mann, ich weiß gar nicht genau warum, war es immer sehr angenehm, wenn eine Frau gedolmetscht hat. Und für mich war es auch immer optimal, wenn sie etwa in meinem Alter war.“ K_1 Herkunft des Dol‐ metschers (Herkunft) „Was die Herkunft anbelangt, war es für mich angenehm, wenn die Dolmetscherin früher selbst eine Ausländerin war, wenn sie etwas Ähnliches erlebt hat wie ich, weil dadurch natürlich eine zusätzliche Nähe entsteht, so etwas verbindet und fördert das Vertrauen.“ K_1 Herkunft im Hin‐ blick auf „verfein‐ dete“ Eth‐ nien „Das ist natürlich ein gewisses Problem, weil… ich denke, das fördert nicht das Vertrauen, und deshalb ist es…“ …“für mich persönlich wäre ein russischer Dolmet‐ scher nicht optimal.“ „Ich versuche, nicht nur die Dolmetscher, sondern auch die Russen an sich nicht als unpassend zu betrachten, aber wenn wir doch über das Dolmetschen in der Psy‐ chotherapie sprechen, wo sehr persönliche Themen an‐ gesprochen werden, sehr intime Details, sagen wir so, die man nicht nur einem Russen, sondern vielleicht nicht einmal den eigenen Freunden anvertrauen würde, also, ich meine Dinge aus der Vergangenheit, Erlebnisse aus dem Krieg und solche Dinge, dann…“ „Natürlich ist es möglich, dass ich auch zu einem russischen Dolmetscher Vertrauen fasse, theoretisch ist das möglich, natürlich. Aber in der Praxis ist das nicht sehr wahrscheinlich.“ K_1 Person des Dolmet‐ schers „Als ich in die Therapie ging, dachte ich natürlich am meisten darüber nach, wer mein Psychotherapeut ist, aber unbewusst war auch immer die Frage da, zugleich habe ich mir immer auch darüber Gedanken gemacht, 111 5.6 Auswertung des Materials <?page no="112"?> wer für mich dolmetscht, und, auch wieder unbewusst, habe ich immer versucht, mehr über den Dolmetscher zu erfahren.“ K_1 Probleme beim Dol‐ metschen „Natürlich gab es Probleme mit dem Dolmetschen, und das hatte meistens mit der Qualität der Dolmetschung zu tun. Leider traten solche Probleme in wichtigen Au‐ genblicken auf, wenn die Qualität der Dolmetschung mein weiteres Schicksal bestimmte, und wenn Fehler in der Verdolmetschung direkte Auswirkungen auf meine Situation hatten, und natürlich war ich dann sehr un‐ glücklich darüber.“ K_1 Unzufrie‐ denheit mit dem Dolmet‐ scher (Hand‐ lungsfä‐ higkeit des Klienten? ) „Theoretisch hatte ich die Möglichkeit, einen neuen Dol‐ metscher zu bekommen, aber es gab keine Garantie, ob ich dann einen besseren bekomme, und zweitens hätte es bedeutet, dass ich meinen Termin verlieren würde, einen wichtigen Termin, beim Psychotherapeuten oder im Bundesasylamt, und dann wäre mein Termin auf un‐ bestimmte Zeit verschoben worden, und ich hätte lange warten müssen, deshalb…“ (war es praktisch unmöglich, im Falle der Unzufriedenheit einen neuen Dolmetscher zu bekommen) K_1 Zufrieden‐ heit, Ideal‐ zustand „In erster Linie kehre ich zurück zur Frage des Vertrauens. Natürlich muss man dem Dolmetscher vertrauen können. Es gibt allgemeinmenschliche Emotionen, zum Beispiel, Sympathie, oder einfach Dinge, die schwer sind zu er‐ klären, aber die dennoch passieren, oder? In solchen Fällen, wenn man eine Sympathie zum Dolmetscher spürt, und wenn man merkt, dass der Dolmetscher auch Teil des Gesprächs ist, und nicht einfach ir‐ gendsoein Überbringer von Wörtern, wenn der Dol‐ metscher ebenfalls die Bedeutung dieses Moments spürt, dann verläuft das Gespräch natürlich viel angenehmer.“ K_2 Wechsel des Dol‐ metschers „Es ist angenehmer, nur mit einem zu arbeiten. Weil du dann weißt, dass er sich mit deiner Geschichte und mit deinem Problem auskennt. Du willst es jedes Mal aufs Neue gut erklären, aber das gelingt nicht. Mir scheint, mit demselben Dolmetscher zu arbeiten ist leichter.“ K_2 Vertrauen „Natürlich, während der Stunde kommt es dir so vor, als könntest du Vertrauen haben, du sprichst, du lässt alles raus, du erklärst… Aber ich kann nicht sagen, ob man alles anvertrauen kann.(…) Das hängt vom Menschen ab, es sieht zwar so aus, als könnte man vertrauen, aber was weiß man, was bei diesem Menschen in der Seele passiert.“ K_2 Alter, Ge‐ schlecht „Ich denke, das Alter hat keine Bedeutung. Aber das Geschlecht schon. Einem Mann kannst du manche Dinge nicht so gut erklären wie einer Frau.“ 112 5 Forschungsprojekt <?page no="113"?> „Manche Wörter kannst du einem Mann nicht erklären. Manchmal kann nur eine Frau wissen, was du meinst.“ K_2 Nationa‐ lität/ Herkunft „Nein, die Nationalität spielt keine Rolle. Wenn ein Mensch dich vom Herzen anhört, dann hat es keine Be‐ deutung, aus welchem Volk er stammt. Es macht keinen Unterschied.“ K_2 Person der Dolmet‐ scherin (Hinter‐ grundin‐ forma‐ tionen über die Person) „Im Prinzip, warum sollte ich das wissen wollen, wie lange sie schon wo lebt, wie lange nicht. Wenn du siehst, dass ein Mensch dich vom Herzen versteht, vom Herzen erklärt, warum sollte ich da etwas über die Biographie wissen? (…) Nein, das nicht. Hauptsache ist, dass sie dir gut erklärt und dich gut versteht, wenn es dir schlecht geht.“ K_2 Idealzu‐ stand „Natürlich sollte der Dolmetscher ebenso wie der Psycho‐ loge jemand sein, der dich vom Herzen versteht. Wenn du etwas schlecht ausdrückst, sollte der Dolmetscher nachfragen und dann gut erklären. Aber mir kommt vor, dass der Dolmetscher dich auf jeden Fall vom Herzen verstehen sollte und für euch beide übersetzen sollte.“ K_2 Probleme „Das ist sehr schwierig, wenn du etwas nicht verstehst. Du erklärst das eine, und sie erklären dir etwas anderes. Das ist sehr schwierig, das kam schon mal vor. Egal, sie bemüht sich, dann diskutieren sie, und dann ist die Psychotherapie nur Unverständnis, aber…“ K_2 Grundver‐ ständnis über die Psycho‐ therapie „Ich bin nie zum Psychologen gegangen und habe auch niemanden gekannt, der das gemacht hat. Als ich hier‐ hergekommen bin, bin ich zum psychologen gegangen. Bei uns waren die Verwandten die Psychologen, sie haben einen unterstützt, als es schwierig und schlimm war.“ K_3 Dolmet‐ scher‐ wechsel „ich würde gerne immer nur mit einem Dolmetscher arbeiten.“ K_3 Vertrauen „Zu manchen Dolmetschern habe ich Vertrauen, zu man‐ chen nicht. Ich kann nicht mit allen so offen sprechen.“ wovon das abhängt? - „ob ein Mensch vom Herzen dolmetscht, oder ob es für ihn einfach so ist, er hat jetzt die Arbeit gemacht und Schluss.“ Tabelle 2: Ausschnitt aus der Tabelle mit den KlientInnen-Interviews Analog wurde mit den Antworten der DolmetscherInnen verfahren. Die Tabelle mit den extrahierten Aussagen der DolmetscherInnen betrug 22 A4-Seiten. 113 5.6 Auswertung des Materials <?page no="114"?> INTERVIEW THEMA ZITAT D_1 Arbeits‐ technik/ Sitzord‐ nung „Sitzordnung ist meistens vorgegeben durch die Thera‐ peutin, die die Klientin fragt, wo sie sitzen will, und sie sagt dann, setz du dich am besten dorthin, und dadurch ist die Sitzordnung eigentlich schon vorgegeben.“ D_1 Arbeits‐ technik/ Sitzord‐ nung und Blickkon‐ takt „Nein, es ist nicht immer ein gleichmäßiges Dreieck, und vor allem mit einer Therapeutin haben wir da schon einiges herumprobiert, weil da eine Situation war, wo ich gar nicht zufrieden war, oder eigentlich sie nicht zufrieden war, weil die Klientin sie nicht angeschaut hat. Und dann haben wir versucht, dass ich hinter ihr sitze, dass wir sozusagen wie eine Einheit bilden, aber das hat die Klientin nicht ausgehalten, weil sie dann immer nach hinten geschaut hat, das hat dann auch nicht funktioniert. Und das hängt sehr von der Situation ab.“ „Aber manchmal ist es, oder meistens ist es ein gleich‐ mäßiges Dreieck, aber dann kann es wieder sein, dass ich neben der Therapeutin sitze, und die Klientin sitzt gegenüber. Das ist verschieden, und es hängt auch von der Konstellation ab.“ D_1 Arbeits‐ technik/ Blickkon‐ takt „Und das Wichtigste sozusagen ist, dass die Beziehung zwischen Therapeutin und Klientin wirklich da ist, das ist ja auch eine persönliche Sache. Also eine Klientin habe ich zum Beispiel gehabt, die so fixiert war auf die Therapeutin, da war es völlig egal, wo ich gesessen bin, weil da war der Kontakt einfach immer da.“ „Und eine habe ich, die eher schon auf mich fixiert ist, und da ist es schon schwierig, weil die Therapeutin immer wieder dazwischen sagt, sag ihr mal, sie soll mich anschauen.“ (Anm. es ist sehr schwierig, Blickkontakt zu „verordnen“! )“ „Ja, also das ist eher sogar manchmal ein Problem von mir, weil ich brauch diesen Blickkontakt mit der Person, für die ich dolmetsche. Deswegen bin ich auch keine Si‐ multandolmetscherin, weil ich das eigentlich überhaupt nicht mag, irgendwo in der Kabine sitzen und weiß Gott, wo der Redner ist. Und da habe ich dann oft das Gefühl, dass die Therapeutin das nicht will, und sagt, nein, der Blickkontakt muss zu mir bestehen. Und das ist für mich manchmal ein bisschen ein Problem, weil ich sag, ich bin halt einfach nun mal da. Und ich brauche diesen Blickkontakt. Das gehört für mich irgendwie dazu.“ (Anm: Gegensatz Simultandolmetschen - Therapiedolmetschen; Dolmetscher ist da oder nicht da - eine Person oder eine Unperson) D_1 Arbeits‐ technik/ Modus „Dolmetschen tu ich in der Regel konsekutiv, weil das Simultane, das ist, das verwirrt beide. Das lenkt die Kli‐ entin ab und lenkt die Therapeutin ab, wenn die das nicht 114 5 Forschungsprojekt <?page no="115"?> gewöhnt sind, dass sie zwei Sachen gleichzeitig hören und sich eigentlich nur auf eine konzentrieren sollen oder können. Also das mache ich eigentlich nur grundsätzlich konsekutiv, und wenn es zu lange wird, dann unterbreche ich halt und sage, ich muss jetzt dazwischen übersetzen.“ (Anm.: Dolmetscherin verschafft sich selbst Zeit zum Dolmetschen) D_1 Arbeits‐ technik/ Person „Ja ja. Nur in erster Person, ja.“ Frage: „Was machst du, wenn die Klientin in die dritte Person wechseln? Wenn sie sagen, sagen Sie ihr, wenn sie die Therapeutin meinen? Wenn sie einander nicht direkt ansprechen? “ - Aw: „Dann übersetze ich das so, sagen Sie ihr, und dann muss die Therapeutin damit anfangen, was sie will. Also, so geht das nicht, oder sie akzeptiert das, oder…“ (Anm.: Vermutung: ausgebildete Dolmetscher verbleiben selbstverständlich in 1. Person) D_1 Besonder‐ heit des psycho‐ therapeu‐ tischen Settings „..weil ich fast ausschließlich für das Gericht dolmetsche, und da ist es ganz genau so, dass jeder Halbsatz und jeder noch so unmögliche Satz oder Blödsinn gedolmetscht werden muss. Und dadurch bin ich es einfach gewöhnt, so eins zu eins nach Möglichkeit eben zu dolmetschen.“ D_1 Rollenver‐ ständnis / Distanzie‐ rungs‐ technik „Da fällt mir ein tolles Interview ein (lacht), mit der Angelika Kirchschläger, einer Sängerin, sie hat gespielt in „Sophie’s Choice“, ich weiß nicht, ob du das kennst. Das ist eine Oper, wo sie eine Mutter gespielt hat. Eine wahre Geschichte wurde da in die Oper gebracht, wo sie sich entscheiden muss für eines ihrer beiden Kinder. Die Nazis haben also gesagt, ein Kind darfst du dir behalten, und eines musst du hergeben. Und da ist sie gefragt worden, wie sie mit dieser Situation überhaupt persönlich umgeht, das muss ja ein Wahnsinn sein, sich in so eine Rolle hineinzudenken. Und da hat sie ein tolles Bild gebracht, das ich immer wieder mitnehme in die Psycho‐ therapie. Ich habe in die Hand bekommen ein Tablett mit zerbrechlichen Gläsern, und das muss ich vorsichtig hinübertransportieren. Es sind aber nicht meine Gläser. Ich muss sie nur heil und vollständig dort anbringen, wo derjenige, der damit umgehen muss, etwas machen muss. Und das ist für mich das Leitbild. Ich muss sie also nicht abwaschen, diese schmutzigen Gläser, ich darf sie auch nicht einfach nehmen wie eine Maschine und hinstellen, weil dann könnten sie zerbrechen. Also ich muss vorsichtig sein im Umgang, und es ist schon anders, als wenn ich Holzblöcke transportieren müsste, das wird einfacher sein, aber eigentlich habe ich damit nichts zu tun, sondern nehme das hier und bringe es dorthin, und passe gut drauf auf, dass sie so ankommen, wie sie waren. Ich denke oft an dieses Bild, und es hilft mir sehr, wenn mir nämlich eine Geschichte so nahe geht, dass ich mich distanzieren muss, dass ich das Bild hab, jetzt nimm das 115 5.6 Auswertung des Materials <?page no="116"?> Tablett und stell’s ab, es gehört nicht dir. Weil sonst habe ich manchmal schon auch Geschichten, die ich höre, wo ich mir denke, da könnte ich jetzt eigentlich nur mehr losheulen.“ (Anm.: Distanzierung nicht nur als Faktor der Professionalisierung, sondern auch zum Selbstschutz) D_1 Rollenver‐ ständnis „Das ist für mich schon ein großer Unterschied, ob das ein Erstgespräch ist oder eine laufende Therapie. Im Erstgespräch fühle ich mich eigentlich wirklich nur für die Sprache zuständig. Und in der länger dauernden Therapie entwickelt sich einfach eine Beziehung, weil wir alle Menschen sind, darüber kann man einfach überhaupt nicht hinwegtäuschen. Und da geht meine Aufgabe auch darüber hinaus, also das ist für mich ganz klar, obwohl ich für mich immer, also ich mach das erst seit zwei Jahren, die Rolle für mich ständig überdenke, (…) Und da kann das in der Psychotherapie auch schon mal sein, dass ich meine Rolle manchmal durchaus über‐ schreite, wenn’s überhaupt irgendwo festgelegt ist.“ (Anm.: Rolle ist eher ein „ungeschriebenes Gesetz“ als eine fixe job description) D_1 Kultur‐ kompe‐ tenz „Wenn es sich vom Gespräch her sprachlich etwas ergibt, dann sage ich das schon.“ „Eher im Nachgespräch, weil es während der Therapie auch wieder, man müsste das wieder erklären, was ich ihr gesagt hab, weil ich kann ja jetzt nicht neben ihr anfangen, mit der Therapeutin Deutsch zu sprechen, weil dann weiß sie ja gar nicht, worum es geht. Also würde ich das eher nachher machen.“ D_1 Belastung „Ja also, es ist eine Belastung, dass die Dinge mich natür‐ lich schon sehr treffen. Ich stelle mir dann immer vor, dieser Mensch, der mir hier gegenübersitzt, der hat das wirklich erlebt. Sozusagen, das ist ein Mensch, den man angreifen kann. Und das ist jetzt nicht ein Zeitungsartikel über ein Massaker irgendwo, wo man auch denkt, wie schrecklich und so. Aber da ist schon wieder eine neutrale Stufe dazwischen. Also das ist etwas, was mich schon sehr trifft, und was dann schon zu einer Belastung wird, die allerdings eigentlich nur andauert in der Stunde. Also ich kann das ganz gut also sozusagen wirklich dann das Tablett hinstellen und das nicht mit mir nach Hause mit‐ nehmen.“ (Anm.: Gelungenes Beispiel für Abgrenzung) D_1 Umgang mit Belas‐ tung „Für mich sind immer sehr wichtig die Nachgespräche. Und durch das Nachgespräch habe ich dann das Gefühl, die Sache ist abgeschlossen. Das kann ich also dann jetzt abhaken. Wobei abhaken natürlich ein blöder Ausdruck ist, weil die Geschichte ist nicht abgehakt, sondern ist einfach eine tragische Geschichte, aber ich kann zu mir sagen, für mich das jetzt aus, ich weiß zwar, nächste Woche kommt das wieder, wenn das eine 116 5 Forschungsprojekt <?page no="117"?> dauernde Geschichte ist, aber es nützt niemandem was, wenn ich sie zu meiner Geschichte mache.“ D_1 Austausch mit Kol‐ legen „In der Psychotherapie eigentlich nicht, nein.“ D_1 Supervi‐ sion „Ja, das war hilfreich, ja ja. Ich habe einen Fall gehabt, wo ich eigentlich nicht, da habe ich das Gefühl gehabt, da kann ich jetzt nicht weiter. Und das habe ich dann hier erzählt, und die Psychotherapeutin hat gesagt, ich soll eine Stunde Supervision in Anspruch nehmen, und das war eigentlich sehr sehr gut, weil das mir gezeigt hat, was da eigentlich der Grund war, weil das nämlich an ein Thema angestreift ist, was in meiner Lebensgeschichte auch von Bedeutung ist. Und seitdem, wenn mich etwas sehr trifft, dann überlege ich zum Beispiel auch, warum mich das so trifft, was hat denn das mit mir zu tun, und bringt mich in meinem Denken über mich selber weiter, weil ich da auf Dinge komme und merke, welche Dinge mich zum Beispiel ganz besonders treffen. Und bei anderen Dingen, wo andere sagen, um Gottes willen, da sage ich, ich kann damit leben, ich kann damit umgehen.“ (Anm.: Eigene Betroffenheit entscheidend für den Grad der Belastung! ) D_1 Abgren‐ zung (emotional und sozial) „Ja also für mich bedeutet es vor allem, dass ich die Geschichte dieser Person nicht zu meiner Geschichte mache. Das heißt aber nicht, dass ich über die Therapie hinaus zu dieser Person einen Kontakt haben könnte. Also ich habe eine Klientin, die hat mich und die Thera‐ peutin einmal privat eingeladen. Und die Therapeutin hat gesagt, das tut sie eigentlich grundsätzlich nicht, aber in diesem Fall würde sie es trotzdem machen. Und also in der Familie, in ihrem privaten Umfeld, wo die Therapie und die Geschichte überhaupt kein Thema sind, darüber redet man dann nicht, und das also eine ganz eine andere Basis hat. Insofern würde ich mich jetzt nicht abgrenzen so, dass ich sage, ich seh die Leute nur hier, und wenn ich sie auf der Straße sehe, dann erkenne ich sie nicht. Also, das würde für mich nicht dazugehören, weil ich denk, das ist auch nicht hilfreich für die KlientInnen.“ (Anm.: eine Gratwanderung) D_1 Best prac‐ tice „Ja, es müssen auf jeden Fall… Also, was ich immer merke, in jedem Kontext, in dem ich dolmetsche, und das ist meistens eben das Gericht, es muss sozusagen, also die Stimmung muss passen. Also wenn irgendjemand irgendwen ablehnt oder das Gefühl hat, mit dieser Person komme ich nicht zurecht, dann kann irgendwie nix Gutes herauskommen dabei. Das heißt, ich muss zur Thera‐ peutin erstmal eine wirklich gute Beziehung haben, und die Klientin muss mich als Dolmetscherin wirklich voll akzeptieren, und auch die Therapeutin als Therapeutin. 117 5.6 Auswertung des Materials <?page no="118"?> Und die Klientin muss auch ganz genau wissen, dass ich die Dolmetscherin bin und nicht die Therapeutin, und umgekehrt. Und ja, ich weiß nicht, ich muss auch die Möglichkeit haben, dass ich auch mal etwas zurückfrage, ohne dass jemand sagt, sie hat’s ja eh schon gesagt. Also, dass ich sagen kann, ich habe das nicht verstanden, ich möchte noch einmal rückfragen, dass das möglich ist in einem lockeren Rahmen.“ (Anm: Eine strenge Atmosphäre schadet! ) Tabelle 3: Ausschnitt aus der Tabelle mit den DolmetscherInnen-Interviews In dieser Phase notierte ich eigene Anmerkungen direkt in die Tabelle (mit „Anm.“). Die gleiche Vorgehensweise kam auch im Hinblick auf die Interviews mit den PsychotherapeutInnen zur Anwendung. Die Tabelle mit den segmentierten Aussagen der PsychotherapeutInnen fiel deutlich länger aus als die der beiden anderen Kategorien und kam auf 44 Seiten. INTERVIEW THEMA ZITAT PT_1_A Problem mit Dol‐ met‐ scherIn / ein Fall „Das ist ein Problem, das sich schon seit langem ab‐ zeichnet, und das unterschwellig sozusagen schon lang besteht. Und heute ist es also extrem eskaliert. Es ist so, dass diese Dolmetscherin sich immer wieder anbietet und sozusagen… sozusagen von sich aus einschaltet, um außerhalb von der Therapie den Leuten behilflich zu sein.“ „So, dann fängt die Stunde hier an, und die Dolmetscherin hat mich eigentlich wiederholt vor der Klientin zurecht‐ gewiesen, mir Dinge nicht ausgerichtet, also nicht ihre Dolmetschfunktion übernommen, sondern sie hat sich in Privatgespräche mit der verwickelt, und ich bin zuneh‐ mend ungeduldig geworden. Und am Schluss hat es so geendet, dass sie explizit gesagt hat, na das übersetz ich nicht.“ „Ja. Also, es ging darum, dass sie einen Strafantrag jetzt endlich bekommen hat für den Sohn, der ist angezeigt wegen dem und dem, und dem und dem, und sie hat sich halt furchtbar aufgeregt und mir versucht zu sagen, der Sohn hat das gar nicht gemacht. Und ich hab ihr versucht, also, die Dolmetscherin hat sich mit ihr aufgeregt, das war einfach schon eine derartige Aufregung im Zimmer, dass das allein schon sehr viel Druck gemacht hat, das heißt, sie hat mir nicht geholfen zu deeskalieren, sondern sie hat sich sozusagen mit der hineingesteigert.“ „Über das haben wir geredet, und am Schluss, gegen Ende des Gespräches, habe ich ihr gesagt, ja, vielleicht fällt ihm doch ein, dass es einen Zeugen gibt, der das gesehen hat, 118 5 Forschungsprojekt <?page no="119"?> dass er da gar nicht mitgemacht hat. Und dann hat die Dolmetscherin gesagt, na, das übersetz ich nicht (lacht). Und hat dann gesagt, na der Zeuge, der untersteht ja der Wahrheitspflicht und die würde ja zum schlottern anfangen, wenn sie da was Falsches sagen würd.“ - Sie hat also einfach kommentiert, ohne zu über‐ setzen? A: Ja, und ich hab ihr gesagt, du, bitte, kannst du’s einfach übersetzen und Schluss? Ja, ich will die Stunde abschließen. Gut, und ich weiß dann gar nicht mehr… es war einfach schon unerträglich von der Stimmung her, ich hatte ständig das Gefühl, ich muss gegen die Dolmetscherin ankämpfen, um überhaupt durch‐ zukommen. Und vor allem, das, was mich dann immer so wahnsinnig stört, ist, dass ich dann immer wieder von, also, dass ich das Gefühl habe, dass es um eine massive Konkurrenz geht. Wer ist die bessere Helferin, die kompetentere, die moralische, die integerere, die verständnisvollere. Und das ist so wahnsinnig an‐ strengend als Therapeut, nicht? Weil ich versuche, irgendwie mit der Klientin klarzukommen, und ich muss mich aber ständig durchsetzen. Ich meine, heute war das wirklich schon wie eine Farce, wie sie mir dann gesagt hat, das übersetzt sie überhaupt nicht. „Naja, das mit dem Türmen, das war ja dann noch eine Stunde später. Da habe ich noch, das habe ich ihr, wie die Klientin draußen war, noch gesagt, das geht einfach nicht, dass du mich ständig vor den Klienten zurechtweist. Ja, du untergräbst auch meine ganze Position, die ich hab. Ich kann so nicht arbeiten. Dann kam die nächste Stunde, da war dann ein Mann, und ich hab mich bemüht, für den eine Behindertenberatung zu finden, und ich weiß nicht was, und dann war das wieder so, dass sie mich zurechtgewiesen hat, das war wieder so am Schluss, wo sie wieder was gesagt hat… Sie hat sich mit dem dann irgendwie unterhalten, und ich hab dann gesagt, du, bitte, du kannst mich vor dem nicht dauernd, das geht so nicht, und dann hat sie gesagt, na dann kann ich ja gehen. Und ist aufgestanden, hat ihre Sachen gepackt und ist gegangen. Also ich war dann noch beschäftigt, dem die Fahrscheine zu geben und den neuen Termin und ich weiß nicht was, und wie ich fertig war, war aber die Dolmetscherin schon weg.“ PT_1_A Problem mit Dol‐ met‐ scherIn / Erklä‐ rungen „Ich glaube, dass es im Grunde um ein psychisches Problem geht, es geht um die Konkurrenz, ja? Und wenn jemand nicht weiß, was Psychotherapie überhaupt ist, dann kann er ganz schlecht nachvollziehen, was er hier eigentlich dolmetscht, und er kritisiert dich dann für etwas, was er vermeintlich gut meint, aber er versteht einfach überhaupt nicht, um was es im Moment geht.“ 119 5.6 Auswertung des Materials <?page no="120"?> „Er vertraut nicht darauf, genau, und ich glaube, dass das bei der Psychotherapie ein ganz spezielles Kapitel ist, weil, glaube ich, Psychotherapie unheimlich etwas Angstbesetztes ist. Auch in der allgemeinen Bevölkerung, wenn jemand Psychotherapie braucht, dann muss er ja schon deppert sein. Und Psychotherapie, das heißt, dass irgendetwas mit einem nicht stimmt. Und das ist ein Magier und ein Zauberer, und wir fürchten uns alle furchtbar vor dem seinen Tricks und seiner Macht, ja, der kann vielleicht durch einen hindurch sehen und alles sehen, da muss man sich verteidigen, das ist ja etwas ganz Natürliches. Und man erwartet jetzt aber von den Dolmetschern, dass sie da mit fliegenden Fahnen alles mitmachen bei einem Prozess, den sie unter Umständen gar nicht kennen aus eigener Erfahrung. Und ich glaube, Psychotherapie ist etwas, das man primär nur aus eigener Erfahrung kennenlernen kann, nicht? Dass man dieses Vertrauen zu einem Therapeuten hat, obwohl der einen ja gar nicht kennt.“ „Sie ist schon länger da, aber ich glaube, dass sie dieses Problem an und für sich übergangen hat, dass sie eigent‐ lich in einem massiven Konkurrenzverhältnis zu mir steht.“ „Immer noch die bessere Helferin sein. Ja, und sie findet mich einfach schrecklich, weil ich hier und da an meinen Fingernägeln beiße oder so. Sie findet, das ist derart… dann tut sie mir immer auf die Finger klopfen oder so. Also, sie ist immer in so einer Mama-Rolle, auch mir gegenüber, und sie glaubt ständig… aber das ist ihr Charakter. Ich nehm sie oft mit ein Stück zum Bus, da sagt sie mir bei jeder Straße, wer jetzt Vorrang hat, und … ja, sie hat einfach so eine Art, dass sie die Anderen kon‐ trollieren muss. Ja, ich meine, vielleicht ist sie mit einem schrecklichen Mann verheiratet, ja? Der das braucht. Aber mir ist das wirklich total unangenehm.“ PT_1_A Dol‐ metschsi‐ tuation an sich „Dass es um eine Abwehr geht, ja? Also gerade wenn wir jetzt an diese Dolmetscherin uns halten, ja? Die hat, glaube ich, wirklich ein massives Problem mit ihrer Mutter. Gehabt, solange die noch gelebt hat, sie ist schon gestorben. Und sie kommt durch die Arbeit hier damit oft in Berührung. Und sie erlebt mich großteils in einer sehr helfenden Rolle, sagen wir, mütterlicher Rolle, sehr verständnisvoll, also meine Patienten sind ja oft sehr gerührt und sehr berührt einfach, ja? Und das berührt einen ja auch mit. Und ich denk mir, dass sie da in eine sehr ambivalente Haltung kommt. Auf der einen Seite erzählt sie mir dann plötzlich ihre Geschichten auch und entdeckt auch ihre eigene Bedürftigkeit. Auf der anderen Seite will sie das abwehren. Sie will eine tüchtige, selbständige Frau sein. Und wenn diese Abwehr kommt, so massiv, dann muss sie mich klein machen. Das ist, 120 5 Forschungsprojekt <?page no="121"?> damit sie das aushält, und damit sie nicht ihre eigene Bedürftigkeit spürt. Ist jetzt vielleicht zu kompliziert, aber ich glaube, dass solche Prozesse wichtig sind, dass man das weiß, dass hinter dieser Abwehr oft eine massive eigene Bedürftigkeit steht.“ PT_1_A Psycho‐ therapie an sich „Ja, das ist auch ein Tabu. Ja, die Psychotherapie, Psychotherapeuten stehen unter einem exklusiven Ver‐ schwiegenheitsgebot. Und es ist für die Forschung sehr schwierig, qualitative Evaluationsforschung zu machen, weil man eben in die Therapiestunden gar nicht hinein‐ kommt, es ist ein Ding der Unmöglichkeit. Dolmetscher haben da plötzlich ein Türl gefunden, sich mitten in die intimsten Therapiestunden hineinzuschummeln, und haben oft wirklich nicht das Zeug, damit auch umzu‐ gehen, mit diesem heavy Material.“ PT_1_A Zeugen‐ schaft von Dolmet‐ scherInen „Du meinst, jetzt auch noch die schwer traumatisierten Menschen, die Inhalte. Ja. Aber es geht auch nicht nur um Inhalte, sondern es geht auch um die Zeugenschaft von sehr intimen Begegnungen, wenn die Therapien gut laufen. Dann hat man dann schon eine sehr große Nähe, eine intime Nähe, und dann ist man wie ein Voyeur da mitten drinnen. Man ist ja infiziert, nicht? Das ist, wie wenn du selbst einen sexuellen Akt beobachtest, bist du erregt, ja? Es überträgt sich etwas, eine Art von Erregung. Auch hier, in dieser intimen Begegnung. Und du bist zwar erregt, bist aber doch eigentlich nicht gemeint, und es ist sehr schwierig, damit umzugehen, denk ich. Und da kommt oft eine massive Abwehr, um es einfach in Schach zu kriegen. Entwertung ist immer ein Abwehr‐ mechanismus. Ein klassischer Abwehrmechanismus ist, Sachen zu entwerten. Damit man einfach besser damit umgehen kann. Es kleiner machen, nicht? Und das ist halt die Schwierigkeit bei Psychotherapie. Und ich merke das, ich hatte einmal eine Dolmetscherin über längere Zeit, die selber eine Therapie gemacht hatte, ja, das war tausend zu eins. Die selber Psychotherapie für sich gemacht hatte, und die eine Psychotherapieausbildung machen wollte, hat es dann aber eigentlich nicht fertig gemacht, aber es war so angenehm, mit ihr zu arbeiten, weil diese ganzen Konflikte waren nicht.“ PT_1_A Dol‐ metschsi‐ tuation / gelungen F: Du brauchst bei einem Dolmetscher also das Gefühl, dass er deine Arbeit mitträgt, kann man das so sagen? A: Genau, ja. F: Und nicht dagegensteuert. A: Ganz genau. Mich nicht ständig versucht, klein zu machen. 121 5.6 Auswertung des Materials <?page no="122"?> PT_1 Rolle des Dolmet‐ schers; Spaltung vor‐ nehmen; sich seiner Rolle be‐ wusst sein „Ja, da fällt mir ganz viel ein dazu. Also, ich glaube, dass der Dolmetscher eine ganz wichtige Funktion hat, weil das eine Ausnahmesituation ist, weil der Klient zwei Personen hat in der Therapie und es sehr einla‐ dend ist, eine Spaltung vorzunehmen zwischen ihnen beiden und ihnen unterschiedliche Rollen zuzuweisen, den Guten, den Bösen, den Strengen, den Lieben, den Alten, den Jungen, den Schönen, den Schierchen; da gibt es ganz viele Möglichkeiten, und das ist einfach ein ganz normaler Mechanismus, dem jeder Mensch unterliegt, ständig. Und die Aufgabe des Dolmetsch in dieser Situa‐ tion ist es einfach, dass er sich dessen bewusst ist, und sozusagen sich da nicht verführen lässt, sondern sich einfach bewusst zu sein, was da abläuft, und das nicht seiner eigenen Schönheit, Jungheit, was auch immer, zuzuschreiben, sondern einfach der therapeutischen Si‐ tuation.“ PT_1 Vor- und Nachge‐ spräche mit Dol‐ metschern „Also, um ehrlich zu sein, ich mach das eigentlich nicht. Ich schaue es mir mal an. Ich schau, was passiert, weil oft ist es nicht so problematisch. Aber so wie Dolmet‐ scher auch nur das leiseste Interesse haben, über Therapie zu sprechen, bin ich glücklich und spreche sehr gerne, weil ich denke, dass sie Teil sind eines Prozesses, der sozusagen durch ihren Körper fließt und auch für sie anstrengend ist und es wichtig ist, dass sie ein Bewusstsein dafür kriegen, was da eigentlich abläuft. Aber es ist nicht so, dass ich die Leute zwangsbeglücke, und kaum kommen sie her halte ich Vorträge über Psychotherapie. Ich warte eigentlich darauf, eingeladen zu werden.“ Tabelle 4: Ausschnitt aus der Tabelle mit den PsychotherapeutInnen-Interviews Das Word-Dokument mit allen drei Tabellen ist 86 A4-Seiten lang. In einem nächsten Schritt habe ich die Spalte mit den aus den Aussagen extrahierten Begriffen in eine alphabetische Reihenfolge gebracht, um mir einen Überblick über die getätigten Aussagen zu den jeweiligen Themen zu verschaffen. Ein Ausschnitt aus der Tabelle mit den Antworten der Dolmetsche‐ rInnen zum überaus wichtigen thematischen Begriff „Abgrenzung“ soll dies illustrieren: 122 5 Forschungsprojekt <?page no="123"?> D_4 Abgren‐ zung „Aber inzwischen habe ich auch gelernt, mich besser abzugrenzen. Ich spüre immer sehr genau, jetzt wäre es dann soweit, wenn ich noch weiter mitgeh. Und versuche dann irgendwie, ich weiß nicht, ich hab mir da selber alle möglichen Tricks ausgedacht, dass ich mich einfach auf meinen Atem konzentriere, und nicht mit dem Sprechrhythmus und dem Atemrhythmus des Klienten mitgeh, weil ich neig dazu, das zu tun manchmal. Ich bleib also einfach mehr bei mir. Oder wenn ein Klient weint, dass ich da gar nicht so mitgeh mit diesem Weinen, denn dann spricht er ohnehin nicht, dann beam ich mich auf eine Insel und liege dort gemütlich in der Hängematte, und wenn er wieder zu reden beginnt, bin ich eh automatisch da. Das sind einfach so Psychotricks, in Wahrheit, um mich zu schützen.“ „Für mich ist es, etwas zu finden zwischen Mitgehen und … also, ich unterscheide immer zwischen Mitleid und Mitgefühl. Also nicht mitleiden, indem man wirk‐ lich mitweint und diese ganzen Emotionen, die der Klient erlebt, wirklich am eigenen Leib spürt, sondern eben Mitgefühl, sodass der Klient merkt, man ist bei ihm, man versteht das schon. Und schon auch Emotionen zeigen dürfen in dieser Situation, als Dolmetscher auch. Aber nicht so weit, dass man so selber involviert ist, dass man in die Rolle des Klienten schlüpft. Einfach spüren, wo ist die Grenze, wie weit lass ich das an mich heran, und wo bin ich. Was mir am Anfang und jetzt immer noch hilft, wenn ich merke, ich tendiere, zu stark da mitzugehen, dass ich dann denk, es geht nicht um mich. Das ist auch als Merksatz in meinem Kopf eingebrannt. Es geht also nicht um mich, sondern es ist seine Geschichte, sein Leid, es ist schlimm, aber es ist nicht meins, und deswegen muss ich jetzt nicht weinen oder da irgendwie mitgehen.“ D_5 Abgren‐ zung „Das ist eines dieser Worte, das sie predigen seit zwei Jahren, mit dem ich nicht so wirklich viel anfangen kann (lacht). Weil ich mich nie abgrenzen wollte. Die Therapeuten sind wahrscheinlich unzufrieden mit mir, weil ich mich zu wenig distanziere, weil ich mich zu wenig abgrenze. Aber das Nichtabgrenzen ist für mich nie zu einem Problem geworden. Wie gesagt, die Dinge, die Geschichten bleiben in meinem Kopf hängen, ich denk darüber nach, aber…“ „Ich fände es sehr traurig, wenn man aus einer Therapie mit einer schlimmen Geschichte rausgeht und das wie einen Mantel abstreift und in sein Restleben abtaucht. Ich fände das sehr traurig, wenn ein Dolmetscher so distan‐ ziert und abgegrenzt ist, dass er das wie eine Stunde Dol‐ metschen über irgendwelche Wirtschaftsthemen sieht und dann in sein Alltagsleben zurückkehrt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden.“ 123 5.6 Auswertung des Materials <?page no="124"?> D_6 Abgren‐ zung „Nein. Eben. Eher so da sein, dolmetschen, nett sein, freundlich schon, damit die Klientin sich auch ent‐ spannen kann, aber nicht diese Grenze überschreiten. Schon auch kalt bleiben ein bisschen. Also nicht Num‐ mern austauschen oder nach der Arbeit Kaffee trinken gehen oder ihr die Stadt zeigen, die Post, oder was weiß ich, sondern auch versuchen, sie mehr selbstverantwort‐ lich zu machen.“ D_8 Abgren‐ zung „Abgrenzung ist, dass ich wieder meine Rolle als Dolmet‐ scher erkenne und bewusst sage, ich bin Dolmetscher.“ „Und es ist nicht nur Frage, in der Psychotherapie es geht auch darum, dass dieser Mensch über seine Geschichte, seine Schwierigkeiten und seine Trauer redet und so weiter. Das heißt, immer geht es nicht um die Frage. Ja, und dann natürlich bleibe ich still und höre zu in solchen Situationen. Das heißt, wenn der Therapeut eine Frage stellt, und ich übersetze, und er fängt gleich an zu weinen. Das heißt, ich bleibe still und sage nichts, meine Rolle dann ist, ich misch mich überhaupt nicht ein, ihn zu stoppen, ihn zu beruhigen, irgendwas. Weil er ist ja dazu da, um das rauszuweinen.“ D_1 Abgren‐ zung (emotional und sozial) „Ja also für mich bedeutet es vor allem, dass ich die Geschichte dieser Person nicht zu meiner Geschichte mache. Das heißt aber nicht, dass ich über die Therapie hinaus zu dieser Person einen Kontakt haben könnte. Also ich habe eine Klientin, die hat mich und die Thera‐ peutin einmal privat eingeladen. Und die Therapeutin hat gesagt, das tut sie eigentlich grundsätzlich nicht, aber in diesem Fall würde sie es trotzdem machen. Und also in der Familie, in ihrem privaten Umfeld, wo die Therapie und die Geschichte überhaupt kein Thema sind, darüber redet man dann nicht, und das also eine ganz eine andere Basis hat. Insofern würde ich mich jetzt nicht abgrenzen so, dass ich sage, ich seh die Leute nur hier, und wenn ich sie auf der Straße sehe, dann erkenne ich sie nicht. Also, das würde für mich nicht dazugehören, weil ich denk, das ist auch nicht hilfreich für die KlientInnen.“ (Anm.: eine Gratwanderung) D_2 Abgren‐ zung/ Kontakt „Ja, absolut. Aber das ist nicht immer möglich, weil die Klienten untereinander auch irgendwie auf die Ideen kommen, wie man eine Telefonnummer kriegt von uns, aber ich halte das für ziemlich wichtig eben, diese Ab‐ grenzung in meiner privaten Sphäre.“ D_7 Abgren‐ zung/ Professio‐ nalität „Ja, man muss einfach professionell bleiben. Es war einmal so, dass ein Klient nach meiner privaten Telefon‐ nummer gefragt hat. Da habe ich gesagt, nein, kann ich leider nicht geben, ich arbeite einfach da, und das ist nicht unser Konzept, nicht erlaubt, und nein. Nicht per‐ sönlich nehmen. Aber wenn ich das klar und transparent 124 5 Forschungsprojekt <?page no="125"?> irgendwie weitervermittle, dann habe ich überhaupt kein Problem damit. Und Abgrenzung, wenn zu emotionelle Sachen sind, kann ich irgendwelche Gegenstände in die Hand nehmen. Oder ein Schluck Wasser trinken. Oder wirklich sich viel mehr auf Sprache konzentrieren und nicht auf die Inhalte. Ja, und Nachbesprechungen sind, wie gesagt, sehr sehr wichtig für mich.“ Tabelle 5: Ausschnitt aus einer alphabetisch geordneten Tabelle mit den Dolmetsche‐ rInnen-Interviews Nach dieser Bearbeitung der Interviews war es möglich, die Aussagen zu den einzelnen Begriffen zueinander in Beziehung zu setzen, als Ergänzung oder auch als Kontrastierung. 5.7 Abschließende Bemerkungen Die Wahl der Methode auf die Durchführung von leitfadenunterstützten In‐ terviews mit sorgfältig ausgewählten GesprächspartnerInnen fiel, hängt mit der Überlegung zusammen, dass eine solche Erhebungsmethode die aufschluss‐ reichsten Erkenntnisse zu liefern vermag. Audio- und Videoaufzeichnungen psychotherapeutischer Gespräche wären ebenfalls aufschlussreich gewesen, al‐ lerdings war es mir nicht möglich, in den jeweiligen beforschten Einrichtungen die Erlaubnis für ein solches Vorgehen einzuholen. Eine groß angelegte Fragebo‐ genstudie wurde ebenfalls in Erwägung gezogen - mit dieser Methode könnten sicherlich interessante Daten erhoben werden, allerdings ist zu bezweifeln, ob eine solche Herangehensweise der Thematik inhaltlich gerecht werden kann. Im Unterschied zu Fragebögen bieten leitfadengestützte Gespräche die Möglich‐ keit, dass in der Gesprächssituation selbst Erkenntnisse und Schlussfolgerungen generiert werden, durch das adäquate Reagieren auf das Gehörte und durch gezieltes Nachfragen. Eine weitere Methode, die denkbar wäre und von der anzunehmen ist, dass sie wertvolle Erkenntnisse und Einblicke liefern könnte, wäre eine gut vorbereitete und von einer qualifizierten und gut informierten Person moderierte Expertendiskussionsrunde. Die gewählte Methode der leitfadengestützten Interviews hat es ermöglicht, nah am Feld und nah am konkreten Arbeitsalltag zu bleiben und einen Einblick in die Arbeitsweisen und in die damit verbundene Reflexion über die Arbeit zu gewinnen. 125 5.7 Abschließende Bemerkungen <?page no="126"?> Ausgewählte Aussagen der befragten KlientInnen, PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen werden in den folgenden drei Kapiteln dargestellt und in Kapitel 9 diskutiert. 126 5 Forschungsprojekt <?page no="127"?> 6 Die Perspektive der KlientInnen In diesem Kapitel geht es zunächst um die Perspektive der KlientInnen, bevor im Anschluss daran die Auswertung der Interviews mit TherapeutInnen und Dol‐ metscherInnen dargelegt wird. Die Reihenfolge ist nicht zufällig gewählt, son‐ dern ergibt sich aus einem bewussten Anliegen: An dieser Stelle soll zumindest symbolisch den KlientInnen der Vorrang eingeräumt werden, also denjenigen, deren Denken, Fühlen und Erleben im medialen und wissenschaftlichen Diskurs meist bloß indirekt vertreten ist (durch Aussagen von SozialarbeiterInnen, PolizistInnen, ÄrztInnen, TherapeutInnen, LehrerInnen etc.), wenn überhaupt. Zugleich sind die KlientInnen diejenigen, ohne deren Vertrauen und Gesprächs‐ bereitschaft therapeutische Gespräche schlicht unmöglich wären. Die daran anschließende Auswertung der Interviews mit den TherapeutInnen folgt der Logik der Dyade, die als klassische Arbeitsweise in der Therapie vorausgesetzt wird, aber auf Grund von Sprachbarrieren zu einer Triade erweitert wird - daher ist die Perspektive der DolmetscherInnen abschließend, an dritter Stelle zu finden. Die KlientInnen - das sind AsylwerberInnen, anerkannte Flüchtlinge und MigrantInnen. Der Ausdruck „KlientIn“ im Zusammenhang mit dem Asylwesen insgesamt, und mit Psychotherapie im Besonderen, mutet wie ein Euphemismus an. Laut Duden ist ein Klient, abgeleitet vom lateinischen Wort cliens, „jemand, der [gegen Bezahlung] Rat, Hilfe bei jemandem sucht, der jemanden beauf‐ tragt, seine Interessen wahrzunehmen“, also jemand, der gegen Bezahlung die Dienstleistung eines Notars, Rechtsanwalts, Steuerberaters oder Therapeuten in Anspruch nimmt. Im Zusammenhang mit Psychotherapie ist der Begriff „PatientIn“ ebenfalls üblich: Man käme nicht unbedingt auf die Idee, etwa den Wolfsmann als Freuds „Klienten“ zu bezeichnen. Mit dem Begriff „PatientIn“ wird wiederum in erster Linie Krankheit assoziiert. In Abgrenzung dazu wird in der Psychotherapie häufiger von „KlientInnen“ gesprochen, um die Mündigkeit des Behandelten zu betonen, ebenso den Dienstleistungscharakter der psychothe‐ rapeutischen Tätigkeit. Im Asylbereich fehlt die monetäre Komponente, es handelt sich also nicht um eine zahlende Klientel. Die Initiative, einen Psychiater oder eine Psychotherapeutin zu konsultieren, geht selten von KlientInnen selbst aus: zum einen fehlt das Wissen um die entsprechenden Hilfsangebote, zum anderen ist die Inanspruchnahme von professioneller Hilfe bei psychischen Problemen mitunter stärker stigmatisiert als etwa in Westeuropa. Der Klient, <?page no="128"?> von dem in diesem Zusammenhang die Rede ist, hat den ersten Schritt in Richtung Psychotherapie vermutlich auf Anraten einer Sozialarbeiterin aus dem Heim oder einer medizinischen Fachkraft gemacht. Im Hinblick auf den Aspekt der Krankheit und das daraus resultierende Dilemma, ob es sich nun um „KlientInnen“ oder im klassischen Sinne „PatientInnen“ handle, sei auf den Umstand verwiesen, dass die Posttraumatische Belastungsstörung keine Krankheit im eigentlichen Sinne darstellt, sondern eine bis zu einem gewissen Grad normale Reaktion auf abnormale Ereignisse ist; der Gesundheitsbzw. Krankheitszustand der KlientInnen ist jedoch nicht Gegenstand der vorlie‐ genden Untersuchung. Wer die Unterstützung einer PsychotherapeutIn in Anspruch nimmt, offen‐ bart durch seine bloße physische Anwesenheit als KlientIn (oder PatientIn - zu dieser Unterscheidung später mehr) in den entsprechenden Räumlichkeiten unwillkürlich seine eigene Bedürftigkeit, seine Betroffenheit als Mensch, seine seelische Notlage. Metaphorisch gesprochen nimmt auch die Scham Platz im Wartezimmer einer Einrichtung, in der Psychotherapie angeboten wird, denn es handelt sich um einen sozialen Raum, in dem man nicht gerne gesehen und erkannt werden möchte. Das gilt im besonderen Maße für AsylwerberInnen und Flüchtlinge, die sich in einem relativ überschaubaren Kreis bewegen und bei sämtlichen Behördengängen damit rechnen müssen, auf Bekannte zu treffen, die im Hinblick auf Bürokratie und Gesundheitsversorgung ähnliche Anliegen haben wie sie selbst. Der ökonomische und soziale Hintergrund, vor dem Psychotherapie im Asylbereich stattfindet - Wohnen und Leben im Heim in Abhängigkeit von zuständigen Institutionen und Fachkräften, Warten auf den Asylbescheid, erzwungene Arbeitslosigkeit - ist bei der Auswertung der Interviews mit den KlientInnen ebenso mitzudenken wie der psychische Zustand, der von Traumatisierung und Fremdheitserfahrung stark geprägt ist. Angesichts der aufgezählten Faktoren ist davon auszugehen, dass es eine gewisse Überwindung kostet, über die eigenen Erfahrungen in der Psychotherapie zu reflektieren und mit Außenstehenden zu sprechen. Im Laufe der Gespräche stellte sich heraus, dass die KlientInnen ein ambi‐ valentes Verhältnis zur Therapie haben: Einerseits ist da die Dankbarkeit für diese Möglichkeit des Austausches, andererseits wird die Therapie mitunter wie eine von außen auferlegte Pflicht wahrgenommen. Ohne an dieser Stelle allzu viel über die Motive der KlientInnen spekulieren zu wollen - die Darstellung der Psychotherapie als „Zwang“ könnte auch eine unbewusste Strategie sein, die eigene Bedürftigkeit zu verleugnen oder zu kaschieren - sei lediglich festgestellt, dass Psychotherapie im Asylbereich sozial und ökonomisch gesehen 128 6 Die Perspektive der KlientInnen <?page no="129"?> unter spezifischen Umständen stattfindet. Zugleich gilt, dass jede Therapie von Beginn bis Ende einen einzigartigen, nicht wiederholbaren und schwer kategorisierbaren Prozess darstellt. Insgesamt konnte ich elf KlientInnen dafür gewinnen, sich für ein Interview zur Verfügung zu stellen und von ihren Erfahrungen in der Psychotherapie zu berichten, davon drei Männer und acht Frauen. Die männlichen Gesprächs‐ partner werden im Folgenden mit einem „m“ gekennzeichnet, z. B. K_1m. Die Gespräche wurden auf Russisch geführt und anschließend von mir ins Deutsche übersetzt. Die Themen variierten je nachdem, welche Inhalte sich im Lauf des Gesprächs als relevant herauskristallisierten. Es wäre interessant gewesen, mehr darüber zu erfahren, wie die KlientInnen die Therapie selbst erleben, welche emotionalen Prozesse durch die therapeutischen Gespräche in Gang gesetzt werden, aber angesichts der heiklen Thematik habe ich mich weitgehend auf arbeitstechnische Aspekte beschränkt und folgende Fragen gestellt: - Spricht Ihr Dolmetscher Ihre Muttersprache oder Ihre Bildungssprache? - Arbeiten Sie mit mehreren DolmetscherInnen? - Wenn Ja - wie erleben Sie den Dolmetscherwechsel? - Worauf achten Sie bei der DolmetscherIn? (im Hinblick auf die Person des Dolmetschers: Alter, Herkunft, Ausbildung etc.) - Vertrauen: Was muss gegeben sein, damit Sie in der Therapie Vertrauen aufbauen? - Was verbinden Sie mit dem Begriff „professionell“, „Professionalität“ im Hinblick auf das Dolmetschen in der Psychotherapie? - Wie sehen Sie die Rolle des Dolmetschers in der Psychotherapie? - Was macht Sie in der Therapie unzufrieden? Welche Schwierigkeiten hatten Sie im Hinblick auf das Dolmetschen? - Was muss gegeben sein, damit Sie in der therapeutischen Situation zufrieden sind? 6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie Die Zeit des Wartens auf den Asylbescheid ist für die meisten AsylwerberInnen eine Zeit der erzwungenen Arbeits- und Beschäftigungslosigkeit. Das Gesetz sieht es nicht vor, dass AsylwerberInnen arbeiten, außerdem ist es auf Grund mangelnder Sprachkenntnisse oder anderer Qualifikationen ohnehin nicht einfach, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, und darüber hinaus lassen es der Gesundheitszustand und die psychische Verfassung vieler AsylwerberInnen gar nicht zu, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Nach den Strapazen der 129 6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie <?page no="130"?> Flucht und der massiven Fremdheitserfahrung gilt es zunächst, sich mit der Ungewissheit im Bezug auf den weiteren Status, also mit einer weitgehenden Fremdbestimmung, zu arrangieren. Dieser Zeitraum, der sich über mehrere Jahre erstrecken kann, ist für die meisten von Arbeitslosigkeit geprägt, also auch vom Fehlen an Möglichkeiten, sein eigenes Leben und das seiner Familie zu planen oder selbstbestimmt zu gestalten; zugleich ist es notwendig, in dieser Zeit viele Termine wahrzunehmen, sei es im bürokratischen, sozialar‐ beiterischen, medizinischen oder eben auch psychotherapeutischen Kontext. Russischsprachige AsylwerberInnen verwenden auch im Russischen den deut‐ schen Ausdruck Termin (термин), denn diverse Termine bei Behörden und Ärzten prägen den Alltag im Asylheim. Zunächst braucht es Zeit, bis man sich in diesem „Termindschungel“ zu‐ rechtfindet und es sich herauskristallisiert, bei welchen Terminen bindende Entscheidungen für die eigene Zukunft getroffen werden, und welche Termine lediglich der Beratung dienen. Aus der Sicht der AsylwerberInnen ist das Erstgespräch mit einem Psychotherapeuten in erster Linie ein Termin unter vielen, eine Empfehlung oder auch Zuweisung seitens einer SozialarbeiterIn oder einer Ärztin, und weniger eine vollkommen eigenständig getroffene Entscheidung, basierend auf der eigenen Einschätzung des eigenen psychischen Zustands. Doch was bedeutet es für jemanden, der noch keine Erfahrung mit Psychotherapie gemacht hat und in dessen Heimatland Psychotherapie als Methode nicht so stark verbreitet und in der öffentlichen Wahrnehmung verankert ist, sich in der Zeit des Wartens auf den Asylbescheid oder auch nach Erhalt des positiven Asylbescheids auf therapeutische Gespräche mit Hilfe einer DolmetscherIn einzulassen? Eine befragte Klientin berichtet, wie ungewohnt es für sie war, wegen psychischer Probleme eine unbekannte Person zu konsultieren: Ich bin nie zum Psychologen gegangen und habe auch niemanden gekannt, der das gemacht hat. Erst als ich hierhergekommen bin, bin ich zum Psychologen gegangen. Bei uns waren die Verwandten die Psychologen, sie haben einen unterstützt, wenn es schwierig und schlimm war. (K_2) Exkurs: An dieser Stelle eine Anmerkung zum hier verwendeten Ausdruck „Psychologe“: Die russischsprachigen AsylwerberInnen verwenden in der Regel den Ausdruck „Psychologe“ (психолог) sowohl für Psychologen als auch für Psychotherapeuten. Zum einen liegt das daran, dass die Unterscheidung zwischen diesen beiden Begriffen unbekannt ist, zum anderen bezeichnet das Wort terapevt (терапевт), also „Therapeut“, einen Facharzt für innere Krank‐ heiten (Internist). Ich habe bei der Übersetzung der Interviews den Ausdruck 130 6 Die Perspektive der KlientInnen <?page no="131"?> „Psychologe“ übernommen und also beibehalten, obwohl damit jeweils eine PsychotherapeutIn gemeint ist, weil ich auf diese Weise die Nähe zum Sprach‐ gebrauch der KlientInnen wahren wollte. Die KlientInnen müssen an vielen Stellen „ihre Geschichte“ erzählen, etwa bei der Polizei, in der Rechtsberatung, beim Asylgericht, beim Sozialarbeiter etc. Bei den Gesprächen mit den VertreterInnen von Asylbehörden ist es von größter Bedeutung, dass aus dieser „Geschichte“ (russischsprachige KlientInnen sprechen von история - istorija) hervorgeht, dass der Erzählende vom Staat politisch verfolgt wurde, oder dass der Staat nicht fähig oder willens war, ihn vor politischer Verfolgung zu schützen. Das bedeutet, es muss für die BeamtInnen nachvollziehbar sein, warum die Fluchtgründe stichhaltig waren und dem Asylgesuch stattgegeben werden sollte. Die Menschen stehen also unter einem großen Druck, bei entsprechenden Asylbehörden ihre Geschichte kohärent und überzeugend darzulegen, und sind sich dieses Drucks weitgehend bewusst. In der Regel sind sie darüber informiert, dass ihre Schilderung der erlebten Verfolgung, der Fluchtgründe und der Fluchtroute als Grundlage für die weitere Entscheidungsfindung herangezogen wird und somit von ihren eigenen Worten und ihrer Art zu erzählen ihre Zukunft und unter Umständen auch die Zukunft ihrer Familie abhängt. In meiner Arbeit als Dolmetscherin habe ich die Erfahrung gemacht, dass es für viele KlientInnen nicht von vornherein klar ist, warum sie ihre „Ge‐ schichte“ auch einer Psychotherapeutin erzählen sollen. Es braucht Zeit und entsprechende Aufklärung durch die PsychotherapeutIn, bis für eine KlientIn nachvollziehbar wird, worin der Sinn und Zweck einer Psychotherapie besteht, und warum das Erzählen an sich in diesem Kontext die höchste Priorität genießt, ohne dass das Erzählte auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft, protokolliert, bewertet oder an andere, übergeordnete Stellen zur Begutachtung weitergeleitet würde. Dass PsychotherapeutInnen nicht mit Asylbehörden zusammenarbeiten und dass in der Psychotherapie strengste Geheimhaltung herrscht, ist für viele KlientInnen keine von vornherein selbstverständliche Annahme, zumal Psycho‐ therapeutInnen zuweilen auch Gutachten erstellen, denen im Asylverfahren eine gewisse Bedeutung beigemessen wird. Welches Gewicht psychotherapeuti‐ sche Gutachten im Asylverfahren tatsächlich besitzen, lässt sich nicht eindeutig eruieren, Tatsache ist jedoch, dass viele KlientInnen Hoffnungen an solche Gut‐ achten knüpfen, wodurch mitunter der TherapeutIn im Laufe der Therapie auch eine Macht zugeschrieben wird, die durch die realen Einwirkungsmöglichkeiten von TherapeutInnen nicht gedeckt ist. Der therapeutische Prozess an sich im Kontext von Asyl kann bedauerli‐ cherweise in der vorliegenden Untersuchung nicht abgedeckt werden, da 131 6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie <?page no="132"?> hier der Schwerpunkt auf der Arbeit mit DolmetscherInnen liegt. Es wäre jedoch aufschlussreich, ehemalige KlientInnen nach einigen Jahren zu be‐ fragen, wie sie rückblickend die dolmetscherunterstützten Gespräche mit PsychotherapeutInnen bewerten. Eine solche Forschung müsste mit größter Behutsamkeit durchgeführt werden und könnte faszinierende Einblicke in therapeutische Prozesse gewähren. Die vorliegende Forschung befasst sich jedoch hauptsächlich mit kommunikativen und sprachtransferbezogenen As‐ pekten, und daher fand ich es nicht angebracht, den KlientInnen inhaltsbezo‐ gene Fragen zum therapeutischen Prozess zu stellen. Dennoch ist es auch für die vorliegende Forschung notwendig, die Besonderheiten des psychothera‐ peutischen Settings aus der Sicht von KlientInnen abzustecken und eine grobe Abgrenzung zu anderen institutionalisierten Gesprächssituationen, in denen ebenfalls auf die Dienstleistungen von DolmetscherInnen zurückgegriffen wird, vorzunehmen. Eine befragte Klientin beschreibt die Besonderheit des psychotherapeuti‐ schen Settings folgendermaßen: Ich denke, in der Psychotherapie, der Psychologe, dieser Mensch, es ist so, als ob er durch dich hindurchgehen würde, durch alle deine Probleme, zum Beispiel familiäre Probleme, mit dem Kind, oder mit Familienmitgliedern, alles das. Hingegen in der Polizei, dort kriegst du einfach eine Frage gestellt, das ist alles. Aber beim Psychologen, das ist… er muss versuchen, zu begreifen im Gespräch, er muss dir irgendwie näher sein. Ich weiß, ich habe jetzt wegen der Psychologin so eine Hoffnung bekommen, dass ich doch so etwas wie einen Schutz habe. Und genauso soll der Dolmetscher das wiedergeben. (K_7) Hier wird also betont, dass in der Psychotherapie persönliche und familiäre Probleme Platz haben und dass aus einem solchen Gespräch Nähe und Hoffnung entspringen können, im Unterschied zu Gesprächen in der Polizei, die sich auf einer distanzierten Ebene abspielen. Gespräche bei Behörden sind zudem naturgemäß angstbesetzt: Sagt man etwas „Falsches“ oder kommt es zu einem Missverständnis, kann sich das negativ auf den eigenen Status aus‐ wirken und in letzter Konsequenz zu einer Abschiebung führen. Im Gegensatz zur Psychotherapie dienen Gespräche bei der Polizei oder bei Gericht der Wahrheitsfindung, was zwangsläufig psychischen Druck verursacht. Psycho‐ therapie bietet daher im Idealfall einen geschützten Rahmen, in dem auch dann keine „Sanktionen“ drohen, wenn das Erzählte nicht schlüssig, einwandfrei nachvollziehbar oder unglaubwürdig ist, und in welchem dem gemeinsamen Gespräch über die Probleme der KlientIn viel Zeit, Geduld und Achtsamkeit eingeräumt wird. 132 6 Die Perspektive der KlientInnen <?page no="133"?> Eine andere Klientin betont ebenfalls den Umstand, dass in der Psychothe‐ rapie Dinge zur Sprache kommen, die an anderen Stellen ihrerseits nicht thematisiert würden: Bei der Caritas werfe ich ja nicht so um mich mit Informationen… (lacht). (K_5) Zusammenfassend ist zu sagen, dass KlientInnen aus dem Asylbereich in der Regel Neuland betreten, wenn sie sich dazu entschließen, Gespräche mit eineR PsychotherapeutIn zu führen. Der Offenheit der KlientInnen und ihrer Bereitschaft, Schamgefühle und Anfangsbarrieren zu überwinden, ist es zu verdanken, dass dieser Tätigkeitsbereich überhaupt existieren kann. 6.1.2 Themenkomplex Person des Dolmetschers Der Dolmetscher, die Dolmetscherin ist in der Intimität der Therapie mit allen seinen oder ihren Attributen sichtbar: Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildungsni‐ veau, Sprachkompetenz etc. Selbstverständlich gilt auch hier, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, der Dolmetscher als Person also „mehr“ (und dadurch weniger greifbar) ist als die Summe seiner Eigenschaften und Attribute, dennoch lassen sich aus den Interviews gewisse Tendenzen im Hinblick auf die Wahrnehmung des Dolmetschers durch den Klienten festmachen. Klient K_1m beschreibt seine Neugierde an der Person der DolmetscherIn: Als ich in die Therapie ging, dachte ich natürlich am meisten darüber nach, wer mein Psychotherapeut ist, aber unbewusst war auch immer die Frage da, zugleich habe ich mir immer auch darüber Gedanken gemacht, wer für mich dolmetscht, und, auch wieder unbewusst, habe ich immer versucht, mehr über den Dolmetscher zu erfahren. (K_1m) Auch Klientin K_3 macht sich Gedanken über die DolmetscherIn: Ja, darüber denke ich nach (…) Und ich möchte sehr wohl wissen, woher die Dolmetscherin ist und solche Sachen über sie wissen (K_3) Für eine andere Befragte ist es in erster Linie die Qualifikation, die von Interesse ist: Am ehesten die Ausbildung (K_10) Die Ausstrahlung der DolmetscherIn spielt ebenfalls eine Rolle: Wenn sie beginnt zu sprechen, zum Beispiel, wenn ich weiß, das ist eine sehr nette, liebe Frau, das höre ich schon im Gespräch, das spürt man. Wichtig ist nicht das Alter, wichtig ist, dass sie ein guter Mensch ist, gutherzig und verständnisvoll. Und dass dieser Mensch vom ganzen Herzen übersetzt und mir helfen möchte. So ist das (K_11) 133 6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie <?page no="134"?> 6.1.2.1 Alter Der Faktor Alter scheint von untergeordneter Bedeutung zu sein. Nein [spielt keine Rolle]. (K_10) Ich denke, das Alter hat keine Bedeutung. Aber das Geschlecht schon. Einem Mann kannst du manche Dinge nicht so gut erklären wie einer Frau. (K_2) Das Alter macht überhaupt keinen Unterschied. (K_5) Und für mich war es auch immer optimal, wenn sie etwa in meinem Alter war. (K_1m) Wichtig ist nicht das Alter, wichtig ist, dass sie ein guter Mensch ist, gutherzig und verständnisvoll. (K_11) (siehe 6.1.2) 6.1.2.2 Geschlecht Das Faktor Geschlecht dagegen wird als wichtig eingestuft. Weiblichen Dolmet‐ schern wird eindeutig mehr Vertrauen entgegengebracht als männlichen. Die Befragten gingen nicht näher darauf ein, warum es so ist, aber ist zu vermuten, dass dies mit Erfahrungen von (sexualisierter) Gewalt zusammenhängt, deren Urheber in der Regel Männer (meist Soldaten) sind. Einem Mann kannst du manche Dinge nicht so gut erklären wie einer Frau. (K_2) Manche Wörter kannst du einem Mann nicht erklären. Manchmal kann nur eine Frau wissen, was du meinst. (K_2) Nein, mit einem Mann könnte ich nicht. Weil es in meiner Situation mit einem Mann überhaupt schwieriger ist. Ein Mann könnte mich nicht so verstehen wie eine Frau. (K_9) Natürlich ist eine Frau näher. Aber wenn ein Mann gut übersetzt, ist das auch nicht schlecht. (K_4) Für mich ist es besser, wenn eine Frau dolmetscht. (K_10) Für mich als Mann, ich weiß gar nicht genau warum, war es immer sehr angenehm, wenn eine Frau gedolmetscht hat. (K_1m) Ja, darüber denke ich nach… Ich möchte, dass es eine Frau ist, es ist leichter. Mit Frauen ist es leicht. (K_3) 6.1.2.3 Herkunft Die Herkunft des Dolmetschers ist ein Merkmal, das es auf mehreren Ebenen zu reflektieren gilt: Die KlientInnen stammen aus Bürgerkriegsgebieten, dem‐ 134 6 Die Perspektive der KlientInnen <?page no="135"?> entsprechend ist die gesellschaftspolitische Atmosphäre stark durchdrungen von nationalistischer Manipulation. Die Frage nach der eigenen nationalen Identität ebenso wie Zuschreibungen im Hinblick auf die andere(n) nationale(n) Identität(en) bzw. im Hinblick auf die nationale Identität „der Anderen“ hat einen bestimmenden Einfluss auf die soziale Wahrnehmung und in weiterer Folge auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Zudem sind nationale Zu‐ gehörigkeit und Sprache nicht zwangsläufig deckungsgleich: Tschetschenische KlientInnen etwa arbeiten in der Regel mit russischsprachigen Dolmetsche‐ rInnen, die zum Teil selbst RussInnen sind (aber auch nicht zwangsläufig). Die nationale Zugehörigkeit der Dolmetscherin kann vor dem Hintergrund des jeweiligen Bürgerkriegs oder Konflikts, der den Auslöser zur Fluchtmigration gab, eine destruktive Dynamik entfalten, die beispielsweise eine Zusammenar‐ beit zwischen einer kurdischen Klientin und einer türkischen Dolmetscherin verunmöglicht, unabhängig davon, ob die jeweilige Dolmetscherin tatsächlich jene nationalistische oder ressentimentbehaftete Haltung hat, die ihr a priori unterstellt wird (andere mögliche Beispiele wären: kosovarisch-albanischer Klient und serbischer Dolmetscher, armenischer Klient und türkischer Dolmet‐ scher, tschetschenische Klientin und russische, also aus Russland stammende Dolmetscherin etc.). Einige Befragten messen diesem Aspekt keinerlei Bedeutung bei, wobei an dieser Stelle spekuliert werden darf, ob manche sich dabei nicht etwa von Höflichkeit oder sozialer Erwünschtheit leiten ließen. Es hat keine Bedeutung. Es ist einfach so, wenn jemand gut Russisch spricht, frage ich, ob er aus Russland ist oder nicht, diese Frage drängt sich für mich einfach auf, aber nein, es hat keine Bedeutung. (K_7) Nein. Absolut nicht. [Gemeint ist, Herkunft ist absolut unwichtig] (K_8m) Nein. Nein nein. Das spielt keine Rolle. (K_10) Die Frage nach der Nationalität des Dolmetschers wird mitunter auf einer ideo‐ logischen oder sogar idealistischen Ebene reflektiert. Die Distanzierung vom Nationalismus hat Priorität vor der eigenen Befindlichkeit (Hervorhebungen M.D.): Weil die Menschen in jedem Volk verschieden sind, es gibt schlechte und gute, unter Tschetschenen und unter Russen, und unter Österreichern, die Menschen sind verschieden. Und ich bin keine Nationalistin, und ich möchte nicht ein Volk verurteilen, weil einer schlecht ist, der andere gut. Und für mich hat das [=Herkunft des Dolmetschers] keine Bedeutung. (K_9) 135 6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie <?page no="136"?> Der Verschwiegenheit der Dolmetscherin und der Empathiefähigkeit („vom Herzen“) wird der Vorzug vor der Nationalitätenfrage eingeräumt. Im Prinzip macht es keinen Unterschied, woher er kommt. Was macht das für einen Unterschied? Macht keinen Unterschied. Das wichtigste ist, dass er mein Geheimnis bewahrt, das ist alles. (K_6m) Nein, die Nationalität spielt keine Rolle. Wenn ein Mensch dich vom Herzen anhört, dann hat es keine Bedeutung, aus welchem Volk er stammt. Es macht keinen Unterschied. (K_2) Im Prinzip, warum sollte ich das wissen wollen, wie lange sie schon wo lebt, wie lange nicht. Wenn du siehst, dass ein Mensch dich vom Herzen versteht, vom Herzen erklärt, warum sollte ich da etwas über die Biographie wissen? (…) Nein, das nicht. Hauptsache ist, dass sie dir gut erklärt und dich gut versteht, wenn es dir schlecht geht. (K_2) Herkunft wird in Kombination mit der Frage nach den Sprachkenntnissen gedacht. Eine gemeinsame Herkunft wird mit soliden Sprachkenntnissen in der eigenen Mutter- oder Bildungssprache assoziiert. Die Ablehnung österreichi‐ scher DolmetscherInnen wird mit mangelnden Russischkenntnissen begründet: Ich würde sagen, dass es schon vorkommt, dass österreichische Dolmetscher nicht so genau übersetzen, dass sie die Fragen falsch stellen oder die Antworten schlecht übersetzen. Aber eigentlich hat das [=Herkunft] keine Bedeutung. Hauptsache richtig. Die Sprache gut beherrschen. (K_4) Die andere Dolmetscherin war Österreicherin, also sie spricht ein bisschen Russisch, aber sie kann irgendwie nicht alles genau übersetzen, ja? Es war nicht immer verständlich. Auch nicht schlecht, aber nicht besonders. (K_4) Auf die Frage, ob die Klientin lieber mit einem russischen oder einem österrei‐ chischen Dolmetscher arbeitet: Diesen Unterschied gibt es. Warum? Weil ich das Gefühl hatte, als ich mein Interview hatte, dort hat ein Mann gedolmetscht, ein Österreicher, und er hat nicht genau übersetzt. Er hat mir die Fragen irgendwie falsch gestellt, und was ich gesagt habe, hat er dann falsch ausgedrückt. Aber es ist natürlich nicht die Nationalität, Hauptsache richtig. (K_4) Ohne auf die Sprachkenntnisse einzugehen, betont eine befragte Klientin, dass sie gerade zu österreichischen DolmetscherInnen besonders leicht Vertrauen fassen kann, weil die emotionale Nähe zu der Thematik nicht gegeben ist: 136 6 Die Perspektive der KlientInnen <?page no="137"?> Weil mir vorkommt, Österreicher sind solche Menschen, sie können verstehen, vergessen, und sich nicht mehr erinnern, verstehen Sie? Bei mir zum Beispiel. Sie können vergessen und begraben, wie man auf Russisch sagt. Solche Menschen gibt es… Ich kenne viele Völker. Ich kenne Ukrainer, ich kenne Russen, ich kenne Tschetschenen, ich kenne alle Völker des Kaukausus. Ich ziehe Menschen mit österreichischer Staatsbürgerschaft vor. (K_5) Im Gegensatz dazu hebt ein Klient die Bedeutung der geteilten Fremdheitser‐ fahrung als positiv hervor. Ähnliche Erlebnisse könnten die Empathiefähigkeit beim Dolmetscher steigern, so die Hoffnung: Was die Herkunft anbelangt, war es für mich angenehm, wenn die Dolmetscherin früher selbst eine Ausländerin war, wenn sie etwas Ähnliches erlebt hat wie ich, weil dadurch natürlich eine zusätzliche Nähe entsteht, so etwas verbindet und fördert das Vertrauen. (K_1m) Manche tschetschenischen KlientInnen sprechen sich jedoch dezidiert gegen russische DolmetscherInnen aus, auch wenn sie sich dessen bewusst sind, dass eine solche Haltung einer Pauschalverurteilung gleichkommt. Das Anliegen, in der Therapie offen über traumatische Erlebnisse aus dem Krieg zu sprechen, wird als bedroht erlebt, wenn der Dolmetscher russischer Nationalität ist. Das ist natürlich ein gewisses Problem, weil… ich denke, das fördert nicht das Vertrauen, und deshalb ist es…“ …“für mich persönlich wäre ein russischer Dolmetscher nicht optimal. (K_1m) Ich versuche, nicht nur die Dolmetscher, sondern auch die Russen an sich nicht als unpassend zu betrachten, aber wenn wir doch über das Dolmetschen in der Psychotherapie sprechen, wo sehr persönliche Themen angesprochen werden, sehr intime Details, sagen wir so, die man nicht nur einem Russen, sondern vielleicht nicht einmal den eigenen Freunden anvertrauen würde, also, ich meine Dinge aus der Vergangenheit, Erlebnisse aus dem Krieg und solche Dinge, dann… (K_1m) Natürlich ist es möglich, dass ich auch zu einem russischen Dolmetscher Vertrauen fasse, theoretisch ist das möglich, natürlich. Aber in der Praxis ist das nicht sehr wahrscheinlich. (K_1m) Auf der anderen Seite gestaltet sich das Arbeiten mit tschetschenischen Dolmet‐ scherInnen als sehr schwierig. Zum einen wird befürchtet, eine tschetschenische Dolmetscherin könnte die therapeutische Bearbeitung der eigenen Kriegserfah‐ rungen gewissermaßen geringschätzen oder das eigene Leid nicht gebührend würdigen, weil sie selbst ähnliche Erfahrungen gemacht hat. 137 6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie <?page no="138"?> Ich hatte einmal eine Tschetschenin, die gedolmetscht hat. Mir war irgendwie nicht wohl dabei, irgendwie. Wahrscheinlich deshalb, weil sie auch diesen Krieg mitgemacht hat, irgendwie… ich weiß nicht, an jenem Tag (mit ihr) hatte ich Schwierigkeiten. Frage: Weil Sie sie nicht damit belasten wollten? Nein, nicht belasten, aber ich weiß auch nicht… Vielleicht wird sie denken, mein Gott, wir haben das doch alle erlebt, solche schrecklichen Momente im Leben. Oder so, ich weiß nicht. (K_7) Ein weiterer Grund, warum das Arbeiten mit tschetschenischen Dolmetsche‐ rInnen als schwierig erlebt wird, hat mit den Lebensbedingungen im Aufnah‐ meland und mit den sozialen Gepflogenheiten innerhalb der „Community“ zu tun. Die meisten AsylwerberInnen sind mit ihren Landsleuten eng vernetzt, sei es durch das Leben im Heim oder durch regelmäßige Treffen bei Hochzeiten und anderen größeren Zusammenkünften, oder auch über soziale Netzwerke. Häufig werden auch intensive Verbindungen zu Verwandten, Freunden und Bekannten im Heimatland gepflegt. Der Grad an sozialer Kontrolle innerhalb der „Community“ ist relativ hoch, die Menschen tauschen Informationen über Wohnen und Arbeiten untereinander aus. Es gibt jedoch auch sensible Informationen, die für das Asylverfahren re‐ levant sein können, von denen man jedoch nicht will, dass sie unter Lands‐ leuten bekannt werden. Ein klassisches Beispiel dafür ist sexuelle Gewalt an Frauen. Tschetschenische Frauen müssen um ihren Ruf unter ihren Landsleuten, schlimmstenfalls auch um ihr Wohlergehen fürchten, wenn bekannt wird, dass sie im Krieg Opfer von sexueller Gewalt geworden sind. Auf der anderen Seite ist das Ansprechen dieser Menschenrechtsverletzung von größter Bedeutung im Asylverfahren, um Verfolgung nachzuweisen und damit die Chancen auf Asyl zu verbessern. Für viele tschetschenische Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, ist es daher sehr wichtig, gerade bei diesem Thema volles Vertrauen zu der Dolmetscherin zu haben. Die Angst, eine tschetschenische Dolmetscherin könnte das, was sie in der Therapie erfahren hat, an andere Landsleute erzählen, ist sehr groß und verhindert die notwendige Offenheit in der Kommunikation mit der Psychotherapeutin. Ob diese Angst berechtigt ist oder nicht, oder inwiefern es sich um eine situations- und krankheitsbedingte Paranoia handelt, steht gar nicht zu Debatte, da diese Frage weder von den PsychotherapeutInnen, noch von den KlientInnen eindeutig beantwortet werden kann. Faktum ist, dass tschetschenische DolmetscherInnen a priori mit dieser Art von Misstrauen konfrontiert sind. Daraus leitet sich für die betroffenen Psychotherapeutinnen die Notwendigkeit ab, bei solchen Triaden verstärkt den Akzent auf das Thema 138 6 Die Perspektive der KlientInnen <?page no="139"?> Verschwiegenheit zu legen und alle Implikationen, die sich aus dieser Kombi‐ nation ergeben, einer gründlichen Reflexion zu unterziehen. Nein, ich arbeite nicht mit tschetschenischen Dolmetschern. Ich lehne Tschetschenen als Dolmetscher ab. - Warum? - Naja… ich möchte eigentlich nicht darüber sprechen. - Hat es damit zu tun, dass alle einander kennen? Ja, ja, es ist eine kleine Stadt, alle wissen alles. Als man mir einmal eine tschetschenische Dolmetscherin gegeben hat, habe ich die Psychotherapeutin gefragt, wer ist meine Dolmetscherin? Ich habe gesagt, gehen Sie bitte kurz hinaus, ich möchte ein paar Worte sagen. Sie hat gefragt warum, ich habe gesagt, einfach so, ich will nicht… Also, ich habe sogar… mein Mann, wenn ich heim komme, erzähle ich ihm, dass es für mich schwierig war mit dieser Dolmetscherin, dass es für mich… irgendwie unangenehm war. Und ich wollte zumindest zehn Minuten mit meiner Psychologin alleine bleiben, ohne Dolmetscherin, weil ich ihr vieles erzählen wollte. (K_5) Wissen Sie, mit der Nationalität, jetzt gibt es solche Dinge, zum Beispiel ist jetzt in Tschetschenien die Lage, die Lage ist sehr verwirrend, die Präsidenten wechseln sich ab, Menschen werden getötet, verschleppt… Kurz gesagt, dort herrscht großes… man kennt sich nicht aus. Aber meine Tochter ist dort. Deshalb, was ich der Psychologin erzähle, das möchte ich nicht, dass es eine Tschetschenin dolmetscht, ich weiß nicht. Zum Beispiel, eine nichttschetschenische Dolmetscherin wird niemandem etwas erzählen, damit es keine Unannehmlichkeiten gibt. Eine Tschetschenin kann, zum Beispiel, erfahren, wer meine Tochter ist, was ich hier spreche. Ich spreche hier nichts Schlechtes, einfach über meinen Mann, meinen Sohn, aber meine Tochter kann deshalb zu Schaden kommen. Jemand kann sie entführen oder ihr etwas antun oder ihr Geld abknöpfen. Deshalb möchte ich nicht, dass eine Tschetschenin für mich dolmetscht. (K_11) Fazit: Die Herkunft der Dolmetscherin oder des Dolmetschers ist ein Aspekt, der zu bestimmten Erwartungen und Annahmen verleiten kann. Einem Dol‐ metscher, der aus Österreich stammt und sich die Sprache im Rahmen eines Studiums angeeignet hat, wird eine Distanz zu den zu bearbeitenden Themen in der Therapie unterstellt; diese Distanz kann durchaus auch als wohltuend erlebt werden. Die Tatsache, dass ein österreichischer Dolmetscher in der Regel die Fremdsprache - also die Mutter- oder Bildungssprache der KlientInnen - nicht auf muttersprachlichem Niveau beherrscht, wird dagegen als negativ verbucht. Auch jede andere Kombination hat, platt ausgedrückt, ebenfalls ihre Vor- und Nachteile. Eine russische Dolmetscherin kann zwar mit allen Nuancen der 139 6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie <?page no="140"?> russischen Sprache umgehen, bringt unter Umständen auch ein reichhaltiges Wissen im Hinblick auf Kultur und Realien mit, allerdings besteht die Gefahr, dass sie als Russin Projektionsfläche für negative Zuschreibungen im Zusam‐ menhang mit der offiziellen Politik des Staates Russland gesehen wird. Denkbar sind solche Zuschreibungen auch in Triaden mit türkischen Dolmetschern und kurdischen Klienten, oder albanischen Klienten und serbischen Dolmetschern usw. Die Kombination, in der KlientIn und DolmetscherIn aus demselben Land stammen, wird jedoch trotz perfekter Sprachkenntnisse nicht als ideal emp‐ funden, da die KlientInnen Angst haben, sensible Inhalte könnten nach außen dringen und Landsleuten im Aufnahmeland oder auch im Heimatland zu Ohren kommen. Ob solche Ängste real sind oder nicht, sei dahingestellt; Faktum ist, dass tschetschenischen DolmetscherInnen Misstrauen entgegengebracht wird. Die Herkunft kann, muss aber nicht zwingend, Rückschlüsse über die Sprach‐ kenntnisse der DolmetscherIn zulassen. Die KlientInnen nehmen in erster Linie die Sprachkompetenz in ihrer eigenen Sprache wahr - dasselbe gilt auch für die andere Seite, nämlich für die PsychotherapeutInnen. Wenn die KlientInnen über die Sprachkompetenz sprechen, beziehen sie sich implizit auf die Dolmetsch‐ kompetenz an sich, also darauf, inwiefern eine DolmetscherIn ihnen das Gefühl vermitteln kann, bei ihm oder ihr sprachlich und kommunikativ gut aufgehoben zu sein. Festzuhalten ist, dass es im Hinblick auf die Herkunft der DolmetscherIn so etwas wie eine „ideale Kombination“ nicht geben kann. Die Person des Dolmet‐ schers lässt sich nicht auf die nationale oder ethnische Herkunft reduzieren, und es ist auch nicht hilfreich, wenn Organisationen unreflektiert nationalistische Kriegslogiken fortsetzen, indem sie von „verfeindeten Nationen“ sprechen, die es in der therapeutischen Arbeit „auseinanderzuhalten“ gilt. Die Wünsche der KlientInnen selbst im Hinblick auf ihre DolmetscherInnen sind auf jeden Fall ernstzunehmen. Wenn ein kurdischer Klient das Gefühl hat, einem türkischen Dolmetscher von vornherein nicht vertrauen zu können, macht es keinen Sinn, eine abstrakte Diskussion über Nationalismen und Zuschreibungen zu führen. Die Bereitschaft des Klienten, Vertrauen zu einem Dolmetscher zu fassen, genießt oberste Priorität. 6.1.3 Themenkomplex Dolmetscherwechsel und Austauschbarkeit des Dolmetschers Idealerweise sollten alle drei Akteure in der Triade Verlässlichkeit und Konti‐ nuität über Monate, oder sogar Jahre hinweg anbieten können, sodass zunächst 140 6 Die Perspektive der KlientInnen <?page no="141"?> eine Stabilisierung des Klienten eintreten kann, und später auch konkret an der Erreichung therapeutischer Ziele gearbeitet wird. In der Realität sieht es jedoch häufig anders aus: Dass die meisten KlientInnen keiner geregelten Arbeit nachgehen (weil sie keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben oder keine Arbeit finden) bedeutet nicht, dass sie uneingeschränkt über ihre Zeit verfügen können. Häufig haben sie Termine in diversen Behörden, Verpflichtungen im Heim oder in der Familie oder sind aus anderen Gründen verhindert (s. 6.1.1). Vielfach sind KlientInnen an andere Gesundheitssysteme gewöhnt und begreifen zunächst nicht, dass ausgefallene Therapiestunden einen logistischen und finanziellen Aufwand für die Organisation zu Folge haben. Während TherapieklientInnen in privater Praxis in der Regel die Stunden auch dann bezahlen müssen, wenn sie den Termin abgesagt haben (dadurch soll die Verbindlichkeit gegenüber der TherapeutIn und die Disziplin in der therapeutischen Arbeit gestärkt werden), existieren im Asylbereich keine solchen Sanktionen, zumal die PatientInnen keine zahlende Klientel sind (s. 6.1) TherapeutInnen sind für den Therapieverlauf zuständig und haben daher ein vitales Interesse daran, die nötige Kontinuität zu gewährleisten. Dazu gehört auch die Möglichkeit, mit einer zuverlässigen DolmetscherIn über einen längeren Zeitraum hinweg regelmäßig arbeiten zu können. Die DolmetscherInnen werden pro Therapiestunde entlohnt (derzeit ca. 25 Euro) und haben normalerweise Anspruch auf eine Aufwandsentschädigung für ausgefallene „Stehstunden“ (derzeit ca. 11 Euro). DolmetscherInnen in der Psychotherapie sind in der Regel gezwungen, auch anderen Erwerbstätigkeiten nachzugehen, um ein ausreichendes Einkommen zu erzielen - daher ist es zwar ein wichtiger Vorsatz, dass DolmetscherInnen Kontinuität anbieten sollten, aber in der Praxis ist es für MitarbeiterInnen, die auf Stundenhonorar-Basis arbeiten, nicht immer leicht, diesem Anspruch gerecht zu werden. Der einzige „austauschbare“ Akteur in der Triade ist die DolmetscherIn. Die „Austauschbarkeit“ oder „Ersetzbarkeit“ bezieht sich hier auf den Umstand, dass eine Sitzung im Rahmen einer Therapie auch mit einer anderen DolmetscherIn stattfinden kann, nicht jedoch mit einer anderen TherapeutIn oder einer anderen KlientIn. Der Wechsel von DolmetscherInnen ist meist mit Schwierigkeiten verbunden und wird weder von der Organisation (den Therapeuten), noch von den KlientInnen gern gesehen. Nur eine befragte Person äußert sich nicht negativ über den Dolmetscher‐ wechsel und legt den Fokus auf die Qualität, also auf die Dolmetschkompetenz: Ich möchte gerne mit einem guten Dolmetscher arbeiten. 141 6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie <?page no="142"?> Das macht keinen Unterschied, ob dann gewechselt wird oder nicht. Wenn der Dolmet‐ scher gut ist, habe ich gar kein Problem. (K_8m) Für die meisten Befragten ist es wichtig, in der Therapie eine eigene Dolmet‐ scherIn zu haben, an die sie sich gewöhnen können: Ich denke, der Dolmetscher ist ein wichtiges Glied in der Kette im Gespräch zwischen dem Psychotherapeuten und dem Klienten, und deshalb, sagen wir so, ist das Gefühl dieses Dolmetschers, also wie der Patient den Dolmetscher empfindet, inwiefern er sich an ihn gewöhnt hat, inwiefern er ihm vertraut, das ist sehr wichtig, und deshalb lege ich persönlich viel Wert darauf, immer nur mit einem Dolmetscher zu arbeiten. (K_1m) Es ist angenehmer, nur mit einem zu arbeiten. Weil du dann weißt, dass er sich mit deiner Geschichte und mit deinem Problem auskennt. Du willst es jedes Mal aufs Neue gut erklären, aber das gelingt nicht. Mir scheint, mit demselben Dolmetscher zu arbeiten ist leichter. (K_2) Ich würde gerne immer nur mit einem Dolmetscher arbeiten. (K_3) Besser ist es, wenn es die gleiche Person ist. Es ist besser, sich an einen zu gewöhnen. (K_4) Im Prinzip entstehen keine Probleme, aber besser ist es natürlich mit einem als mit den anderen. Wenn du dich an einen gewöhnst, umso besser. (K_6m) Ich arbeite lieber mit einem Dolmetscher (K_9) Für mich ist es besser, wenn es einer ist. Naja, wenn es immer derselbe ist, stelle ich allmählich einen Kontakt her, ich kenne ihn besser, und das Vertrauen wird mehr. (K_10) Der Wechsel wird als schwer empfunden. Sie wechseln sich ab, und das ist sehr schwer für mich. (K_5) Wenn sie sich öfter abwechseln, ist das, denke ich, irgendwie schwierig, weil, wenn du mit jemandem sprichst, und die gleiche Dolmetscherin übersetzt und kennt dich, denn du willst ja der Psychologin jedes Wort vermitteln. Und die Hauptsache ist, dass sie mich gut kennt, und dass sie jedes Wort übersetzt. (K_11) Viele KlientInnen haben jedoch nicht das Gefühl, dass es ihnen zusteht, ihre Wünsche im Hinblick auf die Person der DolmetscherIn offen zu kommuni‐ zieren. Sie befürchten, dass eine offene Kritik an einer DolmetscherIn als beleidigend oder anmaßend aufgefasst werden könnte: 142 6 Die Perspektive der KlientInnen <?page no="143"?> Immer, wenn ich von der Psychologin weggegangen bin, wollte ich die Psychologin noch kurz aufhalten und sagen, bitte, ich möchte diesen Dolmetscher nicht, aber dann, ich bin weich, mir ist vorgekommen, ich könnte jemanden beleidigen, und habe dann eben alleine darunter gelitten. (K_5) Nein, das würde ich niemals sagen (=dass ich unzufrieden bin), weil ich so ein Mensch bin, ich könnte keinen Menschen beleidigen. (K_9) Nein, das würde ich natürlich nicht tun“ (=Dolmetscher auswechseln bei Unzufrieden‐ heit). „Ich weiß nicht, ich denke, dass mir das irgendwie nicht zusteht. Was mir zur Verfügung gestellt wird, das nehme ich in Anspruch. (K_4) Anstatt die TherapeutIn offen mit der Kritik an einer DolmetscherIn zu kon‐ frontieren, wird lieber auf eine Strategie zurückgegriffen, bei der alle Beteiligten das Gesicht wahren können: Ja ja, ich kann den Termin verschieben, ich weiß einfach ungefähr, wann dieser Dolmetscher arbeitet, wann welcher Dolmetscher hier arbeitet. Weil ich schon lange herkomme und weiß, an welchem Tag ein guter Dolmetscher arbeitet. Und ich versuche dann, an diesem Tag einen Termin zu bekommen. (K_8m) Ein anderer Klient berichtet, dass es gar nicht so einfach ist, einen anderen Dolmetscher zu bekommen, auch in Kontexten außerhalb der Psychotherapie: Theoretisch hatte ich die Möglichkeit, einen neuen Dolmetscher zu bekommen, aber es gab keine Garantie, ob ich dann einen besseren bekomme, und zweitens hätte es bedeutet, dass ich meinen Termin verlieren würde, einen wichtigen Termin, beim Psychotherapeuten oder im Bundesasylamt, und dann wäre mein Termin auf unbestimmte Zeit verschoben worden, und ich hätte lange warten müssen, deshalb… (K_1m) Fazit: Die KlientInnen bevorzugen es, in therapeutischen Gesprächen konti‐ nuierlich mit derselben Person zu arbeiten, da sich das Vertrauen und die Gewöhnung erst nach einer gewissen Zeit einstellen. Wenn sie jedoch mit der Arbeit dieser Person nicht zufrieden sind, empfinden sie es als äußerst schwierig, ihre Unzufriedenheit offen anzusprechen, da sie nicht als anspruchsvoll oder kapriziös gelten wollen und niemanden beleidigen möchten. In diesem Kontext spielt die Tatsache, dass die psychotherapeutische Versorgung AsylwerberInnen kostenlos zur Verfügung gestellt wird, ebenso eine Rolle wie die Tatsache, dass die KlientInnen auf Grund fehlender Sprachkenntnisse nicht die Möglichkeit haben, sich ohne die Hilfe der DolmetscherIn alleine mit ihrer TherapeutIn zu unterhalten und eine etwaige Unzufriedenheit mit der DolmetscherIn anzu‐ sprechen, ohne dass dieser etwas davon mitbekommt. 143 6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie <?page no="144"?> Angesichts dieses Umstands kann ein ungeplanter Dolmetscherwechsel (im Falle von Krankheit oder Verhinderung) auch einen Glücksfall für den wei‐ teren Therapieverlauf bedeuten, da auf diese Weise für die KlientIn eine neue Möglichkeit entsteht, sich mit der TherapeutIn über das Thema Dolmetschen auszutauschen. 6.1.4 Themenkomplex Vertrauen Es ist bezeichnend, dass im Verb sich anvertrauen der Begriff vertrauen steckt. Um intime Gedanken, quälende Erinnerungen oder Geheimnisse jemandem anvertrauen zu können, muss man in der Lage sein zu vertrauen. Das Vertrauen ist die Grundvoraussetzung und der Dreh- und Angelpunkt in der psycho‐ therapeutischen Arbeit. Wird zu dritt gearbeitet, gilt für jeden Beteiligten, insbesondere jedoch für den Klienten, dass er oder sie nicht nur zu einer Person Vertrauen aufbauen muss, sondern zu zweien. Das Vertrauen als tra‐ gende Emotion in der therapeutischen Kommunikation bezieht sich zum einen auf die Kompetenz (heilende Kompetenz der TherapeutIn, sprachmittlerische Kompetenz der DolmetscherIn), zum anderen auf die Person als Individuum, also jenseits der Funktionalität. Wie bereits unter 6.1.1.3 dargelegt wurde, kann sogar die Herkunft der DolmetscherIn, also eine Variable, die nicht optimierbar, verhandelbar oder austauschbar ist und nur bis zu einem gewissen Grad verschwiegen, verschleiert oder kaschiert werden kann, einen mitunter entscheidenden Einfluss darauf haben, inwiefern ein Mensch in der Therapie Vertrauen zu fassen vermag. Es gilt zu bedenken, dass die Fähigkeit, unbekannten oder wenig bekannten Menschen zu vertrauen, durch traumatische Erfahrungen wie Folter oder Verge‐ waltigung erheblich erschüttert sein kann. Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass die meisten Befragten kein vorbehaltloses Vertrauen zu der DolmetscherIn an den Tag legen: Leider habe ich auch die Erfahrung gemacht, dass ich an der Vertrauenswürdigkeit der Dolmetscher zweifeln musste. (K_1m) Die DolmetscherIn wird als Mensch mit Seele wahrgenommen und nicht auf ihre Funktionalität oder die reine Kompetenz reduziert. Einem Menschen kann man jedoch nicht in die Seele hineinschauen, deshalb wird das Vertrauen nicht automatisch einer Person entgegengebracht, die für eine bestimmte Aufgabe zuständig ist, sondern einer, die vertrauenswürdig erscheint. Natürlich, während der Stunde kommt es dir so vor, als könntest du Vertrauen haben, du sprichst, du lässt alles raus, du erklärst… Aber ich kann nicht sagen, ob man alles 144 6 Die Perspektive der KlientInnen <?page no="145"?> anvertrauen kann.(…) Das hängt vom Menschen ab, es sieht zwar so aus, als könnte man vertrauen, aber was weiß man, was bei diesem Menschen in der Seele passiert. (K_2) Eine befragte Person formuliert den Anspruch, beiden anderen AkteurInnen in der Triade gleichermaßen Vertrauen entgegenbringen zu können: Frage: „Man muss der Dolmetscherin genauso vertrauen können wie der Psychologin? “- „Ja, wie der Psychologin. Und mit ihr genauso leicht sprechen wie mit der Psychologin“ (K_9) Dass dieser Zustand jedoch nicht vorausgesetzt werden kann und sich nicht selbstverständlich einstellt, davon zeugen die Aussagen der anderen Befragten. „Um ehrlich zu sein, ich vertraue ihnen auch nicht ganz. Obwohl das so sein sollte, ist es aber nicht.“ „Ich habe einiges gehört. Ja, solche Sachen habe ich schon gehört.“ (Anm: im Hinblick auf Indiskretion) (K_5) „Zu manchen Dolmetschern habe ich Vertrauen, zu manchen nicht. Ich kann nicht mit allen so offen sprechen.“ Wovon das abhängt? - „ob ein Mensch vom Herzen dolmetscht, oder ob es für ihn einfach so ist, er hat jetzt die Arbeit gemacht und Schluss.“ (K_3) „Naja (…) alle Menschen sind verschieden. Ich weiß nicht, wer wie ist. Also, wenn es ein anständiger Mensch ist, warum sollte man nicht vertrauen? Er soll ja seine Arbeit machen.“(K_4) Wie bereits unter 6.1.2 im Hinblick auf den Dolmetscherwechsel festgestellt wurde, wirkt die Kontinuität in der Arbeit jedenfalls vertrauensfördernd: „Für mich ist es besser, wenn es einer ist.“ „Naja, wenn es immer derselbe ist, stelle ich allmählich einen Kontakt her, ich kenne ihn besser, und das Vertrauen wird mehr.“ (K_10) Fazit: Vertrauen als unverzichtbare und tragende Ressource in therapeutischen Gesprächen muss stets von Neuem aufgebaut, aufrechterhalten und ausgebaut werden. Es ist nicht die Funktion der Dolmetscherin, die Vertrauen einflößt, sondern die Persönlichkeit der DolmetscherIn, also auch ihr Verhalten und ihre Positionierung über einen längeren Zeitraum hinweg. Vertrauen lässt sich nicht verordnen oder durch eine Arbeitsvereinbarung festschreiben - es muss gewonnen werden und wachsen können. In diesem Zusammenhang spielt der Zeitfaktor eine große Rolle, und daher ist es günstig, dass Psychotherapien sich 145 6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie <?page no="146"?> in der Regel in einem größeren Zeitrahmen abspielen, manchmal sogar über mehrere Jahre hinweg. 6.1.5 Erwartungen und Rollenzuschreibungen In der Psychotherapie werden DolmetscherInnen mit unterschiedlichen Erwar‐ tungshaltungen und Rollenzuschreibungen konfrontiert. In diesem Abschnitt soll es darum gehen auszuloten, welche Vorstellungen die befragten KlientInnen von einem professionellen Verhalten der DolmetscherInnen haben und wie ihre Perspektive eines Rollenbildes für DolmetscherInnen aussieht. Klientin K_10 ist bewusst, dass ihre eigenen Worte Ausdruck ihrer Gedanken und Wünsche sind, dass es also nicht genug ist, bloß die Worte wiederzugeben: Er (der Dolmetscher, Anm. M.D.) soll das übersetzen, was ich will, was ich wünsche, das, was ich sage. Eine sehr große Rolle. Zum Beispiel soll er alle meine Gefühle wiedergeben, alle meine Wünsche, all das, was ich fühle vor allem, wahrscheinlich. Die Intonation, also, so wie ich es sagen will, genauso soll der das wiedergeben. (K_10) Wichtig ist also nicht nur das, was gesagt wird, sondern auch, wie es gesagt wird. Laut dieser Klientin soll die DolmetscherIn ein Gespür dafür mitbringen, Nuancen zu erkennen und sie auch adäquat wiederzugeben (genauso). Eine andere befragte Klientin geht einen Schritt weiter und wünscht sich von der DolmetscherIn dieselben Kapazitäten im Hinblick auf Anteilnahme und Verständnis wie von der PsychotherapeutIn: Natürlich sollte der Dolmetscher ebenso wie der Psychologe jemand sein, der dich vom Herzen versteht. Wenn du etwas schlecht ausdrückst, sollte der Dolmetscher nachfragen und dann gut erklären. Aber mir kommt vor, dass der Dolmetscher dich auf jeden Fall vom Herzen verstehen sollte und für euch beide (KlientIn und Psychotherapeutin, Anm.M.D.) übersetzen sollte. (K_2) Eine Klientin ist sogar der Meinung, dass die Hauptrolle in der Triade die der DolmetscherIn ist: Sehr (wichtig, Anm.M.D.), ich denke, die Hauptrolle, weil die Psychologin jedes Wort, das du sagst, wissen soll, und so kennt sie meine weitere Behandlung. Ich denke sogar, dass die Dolmetscherin die Hauptrolle spielt. Wenn sie nicht richtig dolmetscht oder wie es sich gehört, dann weiß das die Psychologin zum Beispiel nicht. (K_11) 146 6 Die Perspektive der KlientInnen <?page no="147"?> Wahrscheinlich die gleiche (Rolle, Anm.M.D.) wie die Psychologin, weil die Dolmet‐ scherin der Psychologin alles übermittelt, was… meinen gesamten Zustand, und das, was die Psychologin sagt, übermittelt die Dolmetscherin mir. Und das ist sehr wichtig. (K_9) Von der DolmetscherIn wird durchaus erwartet, nicht nur auf der Wortebene zu operieren, sondern auch zwischen den Zeilen lesen zu können und ein Gespür für die Situation zu entwickeln. Den KlientInnen ist es wichtig, dass die Dolmet‐ scherIn ganz genau arbeitet und sich über die Wortwahl der KlientIn Gedanken macht und die dahinterliegenden Kommunikationsabsichten identifiziert. Im Unterschied dazu fordert eine Klientin eine distanzierte Haltung der DolmetscherIn ein, die sogar im fehlenden Blickkontakt ihren Ausdruck finden soll: Ich brauche einen Menschen, der seine Reaktionen nicht zeigt, der seine Augen senkt und die Übersetzung macht. Genau so, wie ich erkläre, das war so oder so, ich will, dass sie es genau so dolmetscht. Das ist mir sehr wichtig. (K_5) Dieselbe Klientin zählt noch andere Aspekte auf, die ihr bei der DolmetscherIn wichtig sind: Ich muss an mich selbst denken, was für mich angenehm ist, oder? (…) Mir ist sehr wichtig, dass dieser Mensch sehr angenehm ist. Und dass er wirklich eine gute Einstellung zu seinem Beruf hat. Dass er wirklich sein Handwerk beherrscht, ja? (…) Hauptsache, dass dieser Mensch wirklich eine professionelle Einstellung hat. Seinen Beruf kennt. Wenn er das kann, dann werden wir nirgends Probleme haben. Dann geht es glatt. Er weiß, uns geht es gut, ihm geht es gut. (K_5) Die Befragten äußern mehrheitlich den Wunsch, die DolmetscherIn möge psychologisches Gespür mitbringen und sich bemühen, das Gesagte in seiner Gesamtheit zu erfassen und damit sorgfältig umzugehen, bei der Verdolmet‐ schung also auch die Wortwahl der KlientIn berücksichtigen. Nur eine von den befragten KlientInnen wünscht sich eine stärkere Distanzierung der Dol‐ metscherIn. 6.1.6 Schwierigkeiten und Unzufriedenheit im Dolmetschprozess Auf die Frage „Was macht Sie in der Therapie unzufrieden? Welche Schwierig‐ keiten hatten Sie im Hinblick auf das Dolmetschen? “ wurden unterschiedliche Problemfelder angesprochen. Meine Frage bezog sich zwar nur auf den Bereich der Psychotherapie, dennoch berichtete Klient K_1m auch von Problemen mit DolmetscherInnen 147 6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie <?page no="148"?> außerhalb der Therapie, wo, wie ihm durchaus bewusst war, von der Leistung der DolmetscherIn sehr vieles abhing: Natürlich gab es Probleme mit dem Dolmetschen, und das hatte meistens mit der Qualität der Dolmetschung zu tun. Leider traten solche Probleme in wichtigen Augenblicken auf, wenn die Qualität der Dolmetschung mein weiteres Schicksal bestimmte, und wenn Fehler in der Verdolmetschung direkte Auswirkungen auf meine Situation hatten, und natürlich war ich dann sehr unglücklich darüber. (K_1m) Und es gibt auch eine sehr nette Dolmetscherin, aber ihr Deutsch ist schwach (K_5) Stößt die DolmetscherIn als Person nicht auf Akzeptanz bei der KlientIn, ist es nicht möglich, therapeutische Gespräche zu führen, weil die KlientIn nicht mitteilsam ist: Wenn mir der Dolmetscher nicht gefällt, kann ich nicht alles erzählen. (K_3) Manche Dolmetscher… irgendwie… sie bremsen einen oder so… ich kann es gar nicht erklären. (K_7) Sprachliche Missverständnisse machen den befragten KlientInnen zu schaffen, wobei sich nicht immer eindeutig feststellen lässt, worauf das Missverständnis zurückzuführen ist. Tendenziell wird eher angenommen, dass die Schuld bei der DolmetscherIn zu suchen ist und nicht bei der TherapeutIn. Das ist sehr schwierig, wenn du etwas nicht verstehst. Du erklärst das eine, und sie erklären dir etwas anderes. Das ist sehr schwierig, das kam schon mal vor. Egal, sie bemüht sich, dann diskutieren sie, und dann ist die Psychotherapie nur Unverständnis… (K_2) Ich sehe an der Therapeutin, sie will mir etwas Wichtiges sagen, und der Dolmetscher er‐ zählt mir einen Blödsinn, dann weiß ich schon, dass da falsch gedolmetscht ist. Weil, wenn meine Psychotherapeutin, wenn ich ihr eine Frage stelle, und meine Psychotherapeutin etwas völlig anderes antwortet, dann weiß ich schon, dass der Dolmetscher falsch übersetzt hat. Weil ich genau weiß, dass meine Psychotherapeutin nicht dermaßen dumm ist, mir solche Antworten zu geben (K_8) Ich hatte solche, die Russisch nicht gut verstanden haben. Ich bin selbst kein Russe, ich kann nicht perfekt Russisch sprechen. Ich kann so die Umgangssprache verwenden, ich kann mich verständigen, in einfacher Sprache. Also, und einige konnten das nicht, sie haben mich nicht verstanden und so. (K_6) Die Antwort einer Klientin lässt darauf schließen, dass sie im Dolmetscher nicht so sehr einen Dienstleister sieht, als viel mehr einen Menschen mit Fluchterfahrung, dem gegenüber sie sich zu Solidarität verpflichtet fühlt: 148 6 Die Perspektive der KlientInnen <?page no="149"?> Einmal war ein Afghane da, er sprach gut Deutsch, aber Russisch konnte er nicht. Ich denke, ich kann Russisch hundert Mal besser als er (lacht). Aber ich möchte niemanden verleumden. Natürlich sind wir alle irgendwie hier gelandet, wollen uns irgendwie zurechtfinden, alle haben es schwer. Wenn wir uns zurechtfinden, helfen wir einander nur. (K_11) Bemängelt wurde auch die Tendenz von manchen DolmetscherInnen, sich zu stark ins Gespräch einzumischen oder sogar die Rolle einer SchlichterIn oder ModeratorIn auf sich zu nehmen, bzw. ungefragt Ratschläge zu erteilen. An anderen Stellen kam es vor, dass die Dolmetscher selbst bestimmt haben, was sie dolmetschen, das ist keine Dolmetschung. Der Dolmetscher sagt, das soll man nicht sagen. Ich sage, na sag es schon, egal ob man soll oder nicht. (K_10) Ein anderer vorgebrachter Kritikpunkt betrifft das wortlose Kommentieren des Gehörten durch die DolmetscherIn, was, so die implizite Befürchtung der Klientin, zu einer Verzerrung bei der Verdolmetschung führen kann: Also zum Beispiel es gibt eine Dolmetscherin, die mit den Augen so macht, es wirkt so, als sei sie erschüttert oder verwundert… also, irgendwie unzufrieden. Das gefällt mir nicht. Dann spreche ich lieber selbst auf Deutsch, tut mir Leid. (K_5) Fazit: Die genannten Gründe für Unzufriedenheit mit der Gesprächssituation betreffen die mangelnde Sprach- und Dolmetschkompetenz und damit ver‐ bunden die als unzureichend empfundene Qualität der Dolmetschleistung. Bei Missverständnissen wird eher davon ausgegangen, dass es an der DolmetscherIn liegt und nicht an der PsychotherapeutIn. Die DolmetscherIn muss für die KlientIn als Person, als Gesamterscheinung akzeptabel sein, ansonsten ist der Gesprächsfluss gestört, weil der Mitteilungs‐ drang der KlientIn erheblich beeinträchtigt ist. Aus den Antworten ging hervor, dass eigenmächtiges Agieren und zu starke Einmischung von DolmetscherInnen als störend erlebt werden. 6.1.7 Zufriedenheit mit dem Dolmetschprozess Abschließend sollen noch einige Wortmeldungen Aufschluss darüber geben, wie KlientInnen die kommunikative Situation beschreiben, wenn sie mit der Arbeit der DolmetscherIn zufrieden sind. Eine Klientin beschreibt die Situation, in der es der DolmetscherIn gelingt, auf engstem Raum so viel Effizienz und Zurückhaltung aufzubringen, dass eine reibungslose, ungestörte Kommunikation stattfinden kann, als wäre die DolmetscherIn gar nicht da. 149 6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie <?page no="150"?> Manche Dolmetscher übersetzen sehr gut, als würde das Gespräch direkt von Angesicht zu Angesicht stattfinden (K_7) Andere KlientInnen wiederum sprechen dann von einer gelungenen Kommu‐ nikation, wenn sie das Gefühl haben, zu beiden anderen Personen in der Triade gleichermaßen sprechen zu können, wenn also die DolmetscherIn, grob vereinfacht gesprochen, psychologisches Gespür mitbringt: Wenn alles normal verläuft, bin ich zufrieden. Im Prinzip, wenn die Dolmetschung gut ist, dann kann ich meine ganze Seele, über meine Probleme, alles besprechen, mit der Dolmetscherin wie mit der Psychologin. (K_9) Er (=der Dolmetscher) muss wahrscheinlich genauso wie der Psychologe arbeiten. So denke ich. Weil vom Dolmetscher, von der Übersetzung der Worte viel abhängt, jedes Wort hat viele Bedeutungen, und wenn ein Mensch mit verschiedenen Bedeutungen übersetzt, dann kann es passieren, dass kein Gespräch zustande kommt. Deshalb soll er wirklich so arbeiten wie der Psychologe. (K_7) Was zählt, ist das Gefühl, kommunikativ gut aufgehoben zu sein: Weil ich einige Wörter schon weiß, lerne, weiß ich genau, was die Dolmetscherin übersetzt, zum Beispiel. Ich spüre das, ich weiß das schon. Und ich denke, sie weiß es auch. Ich habe nicht vor, das zu kontrollieren, aber ich spüre das einfach, ich komme selbst drauf, dass genau übersetzt wird. (K_11) Wenn es mir leicht fällt zu sprechen, dann bin ich, denke ich, mit der Übersetzung zufrieden. Wenn es leicht geht… Das spürt man. (K_3) Man sieht ja, wenn es klappt. (K_4) Einige befragte KlientInnen betonen explizit die Person der DolmetscherIn und schreiben ihr eine zentrale Rolle zu. Eine andere Klientin spricht die seelische Komponente an: Ich suche für mich einfach einen Menschen aus, der mir seelisch passt, im Prinzip. Und dann ist es für mich leicht mit der Übersetzung (…) mit diesem Menschen, mit dem es für mich seelisch passt, weil das sehr schwer ist, deinen ganzen seelischen Zustand einem Menschen zu schildern. Wenn dieser Mensch ein solcher Dolmetscher ist, den ich seelisch annehmen kann, von der seelischen Seite her, dann ist es für mich leicht mit ihm, dann spreche ich sie genauso an wie die Psychologin. (K_9) Eindringlich beschreibt ein befragter Klient, wie wichtig es für ihn ist, dass die DolmetscherIn die Lage umfassend erfasst und sich nicht auf die bloße Widergabe von Wörtern beschränkt: 150 6 Die Perspektive der KlientInnen <?page no="151"?> In erster Linie kehre ich zur Frage des Vertrauens zurück. Natürlich muss man dem Dolmetscher vertrauen können. Es gibt allgemeinmenschliche Emotionen, zum Beispiel, Sympathie, oder einfach Dinge, die schwer sind zu erklären, aber die dennoch passieren, oder? Ich solchen Fällen, wenn man eine Sympathie zum Dolmetscher spürt, und wenn man merkt, dass der Dolmetscher auch Teil des Gesprächs ist, und nicht einfach irgendsoein Überbringer von Wörtern, wenn der Dolmetscher ebenfalls die Bedeutung dieses Moments spürt, dann verläuft das Gespräch natürlich viel angenehmer. (K_1m) Einen ähnlichen Aspekt thematisiert auch eine andere befragte Klientin, die ebenfalls betont, Dolmetschen von therapeutischen Gesprächen beschränke sich nicht darauf, „Wörter zu übersetzen“. Für eine gelungene Dolmetschung findet sie folgende Worte: Wenn dem Therapeuten herangetragen wird, das, was ich sagen will, wenn mein Dol‐ metscher das macht. Der Dolmetscher, das ist überhaupt das Wichtigste. Die wichtigste Funktion macht oder erfüllt der Dolmetscher, weil er das wiedergeben muss, was ich der Therapeutin mitteilen will. Aber wortwörtlich irgendwelche Wörter, die ich sage, übersetzen, also, wenn er, der Dolmetscher, oder sie, die Dolmetscherin, einfach Wörter übersetzt, das ist es nicht. Der Dolmetscher muss dem Therapeuten oder der anderen Seite das mitteilen, was ich ihm sagen will. (K_8) Fazit: Aus der Sicht der befragten KlientInnen ist die Sprach- und Dolmetsch‐ kompetenz der DolmetscherIn eine notwendige, jedoch keine hinreichende Voraussetzung für das Gelingen der Kommunikation mit der TherapeutIn. Ein gewisses Maß an Zurückhaltung wird ebenso eingefordert wie Empathie und die Bereitschaft, sich inhaltlich und emotional auf das Gehörte einzulassen und somit als Teil des kommunikativen Prozesses zu fungieren. 151 6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie <?page no="153"?> 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen 7.1 Einleitendes Insgesamt konnte ich 13 Psychotherapeutinnen (alle weiblich) für ein Gespräch gewinnen. Es handelte sich durchwegs um ausführliche Gespräche, bei denen die Psychotherapeutinnen eine hohe Bereitschaft an den Tag legten, über ihre Tätigkeit zu reflektieren und sich auch über ihre Zweifel, Schwierigkeiten und Dilemmata auszutauschen. Die Interviews gingen zuweilen über das ursprüng‐ lich vorgesehene Frage-Antwort-Format hinaus und nahmen an manchen Stellen den Charakter eines interaktiven Gesprächs an. Es zeichnete sich in allen Gesprächen ab, dass die Psychotherapeutinnen gut darin geschult sind, über ihre Arbeit kritisch nachzudenken und ihre Gedanken präzise in Worte zu fassen. Die Psychotherapeutinnen, die sich bereit erklärt hatten, ein Gespräch zu führen, wurden gebeten, zu folgenden Fragen Stellung zu beziehen: - Wie sehen Sie die Rolle der DolmetscherIn in der Psychotherapie? - Beschreiben Sie Ihre Arbeitstechnik im Hinblick auf Sitzordnung, Blick‐ kontakt, simultan oder konsekutiv dolmetschen, direkte oder indirekte Rede? - Erwarten Sie von Ihren DolmetscherInnen Hintergrundinformationen? (Stichwort: Kulturexpertise) - Welche Fähigkeiten und Eigenschaften muss eine DolmetscherIn Ihrer Meinung nach mitbringen, um in der Psychotherapie gut und professio‐ nell arbeiten zu können? - Welche Erfahrungen haben Sie gemacht, wenn DolmetscherInnen ausge‐ wechselt bzw. ersetzt werden mussten? - Was ist anders, wenn Sie mit eineR DolmetscherIn arbeiten im Unter‐ schied dazu, wenn Sie mit deR KlientIn allein sind und in einer gemein‐ samen Sprache arbeiten? In meinen Gesprächen mit den KlientInnen war ich sehr darauf bedacht ge‐ wesen, vorsichtig vorzugehen und nicht zu tief in meine GesprächspartnerInnen einzudringen, ihre Gesprächsbereitschaft keineswegs „auszunützen“ und ihre Privatsphäre zu respektieren, weil die Psychotherapie für die KlientInnen <?page no="154"?> ein sicherer Rahmen sein soll, wo ihre belastenden und intimen Inhalte gut aufgehoben sind und wo sie sich nicht von außen „beforscht“ fühlen sollen. Rückblickend lässt sich mutmaßen, ob bei den Gesprächen mit den KlientInnen durch weiteres und gezielteres Nachfragen möglicherweise mehr „herauszu‐ holen“ gewesen wäre, jedoch hatte zum damaligen Zeitpunkt das Wohlbefinden der KlientInnen oberste Priorität, und ein stärkeres „Nachbohren“ wäre mir unethisch erschienen. Die Gespräche mit den Psychotherapeutinnen unterschieden sich diesbezüg‐ lich maßgeblich. Die von mir befragten Psychotherapeutinnen waren überaus mitteilsam und begrüßten die Gelegenheit, ihre Gedanken und Gefühle zu ver‐ balisieren. Um diese besondere Qualität der Gespräche anschaulich zu machen, möchte ich das vorliegende Kapitel mit einer längeren Sequenz eröffnen, die ich im Hinblick auf die Forschung für einen Glücksfall halte. Auf mein routine‐ mäßiges Nachfragen im Anschluss an das Interview („Fällt dir sonst noch etwas ein, was du gerne sagen möchtest? “) kam statt einer Antwort eine Frage zurück, die in weiterer Folge zu einem regen Austausch von Argumenten führte. Als Einstieg in die Perspektive der Psychotherapeutinnen bietet sich diese Sequenz auch deshalb an, weil viele Aspekte der Arbeit aufgegriffen und grundlegende Zweifel geäußert werden. Die Hervorhebungen wurden von mir nachträglich eingefügt, um auf besonders brisante Stellen aufmerksam zu machen. Streng genommen zählt diese Sequenz nicht mehr zum eigentlichen Interview, weil die Gegenfrage der befragten Psychotherapeutin (PT_8) in weiterer Folge zu einem informellen Gespräch auf Augenhöhe führte, abseits des konzipierten Interviewformats. Dennoch möchte ich diesen inhaltlich wertvollen Text nicht vorenthalten und benütze ihn als Eröffnung zu der Auseinandersetzung mit der Perspektive der befragten Psychotherapeutinnen. M.D.: Fällt dir sonst noch etwas ein, was du gerne sagen möchtest? PT_8: Nein, aber ich habe eine Frage. Ich habe eine ganz furchtbare Rückmeldung von einer Dolmetscherin bekommen, nach fast einem Dreivierteljahr Arbeit. Ich habe nach einer längeren Pause den Klienten darauf aufmerksam gemacht, dass er mich nicht direkt anspricht, dass er so sagt, sagen Sie ihr, oder was hat sie gesagt. Genau. Und dann hat die Dolmetscherin am Ende dieser Stunde, und das ist eine Krisensituation geblieben für mich einfach, da sagt sie zu mir einfach, aber er redet dich eigentlich nie direkt an. Und da hab ich gesagt, wie kann das sein, ich höre das seit über einem halben Jahr lang nicht, und da sagt sie, weil im Russischen gibt es eine Möglichkeit, sehr indirekt zu bleiben, also nicht so direkt, aber sie hat immer, wenn er gesagt hat, „wie ist das Befinden“ das immer übersetzt mit „wie geht es Ihnen? “ Und daher, wenn er das so bevorzugt, „wie ist das Befinden? “, also diese neutralere Form… 154 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="155"?> M.D.: Wie geht’s… zum Beispiel gibt es im Russischen diese neutralere Form, wie geht’s. PT_8: … dann hat sie diese persönlichere Variante ausgewählt. M.D.: In der Psychotherapie macht es vielleicht einen Unterschied, ob du direkt angespro‐ chen wirst oder nicht, aber ein „kak dela? “ auf Russisch ist durchaus übersetzbar mit „Wie geht’s“ oder „Wie geht’s dir? “, oder „Wie geht’s Ihnen? “. Das stimmt schon. Aber hat er sonst nie direkt das Wort an dich gerichtet? Dass das nicht aufgefallen ist? PT_8: Das wäre für mich nicht auffällig gewesen, und das wäre auch von der Therapie‐ situation so gewesen, dass ich gesagt hätte, die Beziehung zu diesem Menschen ist gut. Und dann kommt so eine Meldung von der Dolmetscherin. Das hat mich gänzlich ausgehebelt. Weil ich mir in dem Moment gedacht habe, eigentlich ist es nicht möglich, Psychotherapie mit Dolmetschern zu machen. Hier wird also die Möglichkeit einer dolmetscherunterstützten Therapie an sich in Zweifel gezogen, auf Grund der Tatsache, dass die Therapeutin nur eine beschränkte Kontrolle über die Kommunikation ausüben kann und es nicht in ihrer Macht liegt zu erfahren, ob der Klient sie direkt anspricht (mit „Sie“) oder aber seine Worte direkt an die Dolmetscherin richtet („sagen Sie ihr“). Im weiteren Verlauf des Gesprächs diskutierten wir über die Möglichkeiten der russischen und der deutschen Sprache, das Passiv oder eine „man“-Konstruktion zu verwenden, oder aber beim Sprechen auf die dritte Person zurückzugreifen und sich trotzdem dessen bewusst zu sein, wer die Ansprechperson ist. Die Psychotherapeutin beharrte jedoch auf ihrer Meinung, dass die Grauzone, die durch eine ungenaue Wiedergabe der Ausdrucksweise entsteht, die therapeuti‐ sche Arbeit fundamental unterminiert: PT_8: Ja, das stellt aber für mich die Möglichkeit der Psychotherapie mit Dolmetschern in Frage. Weil die Genauigkeit der Übersetzung etwas bewirkt. Die ganze Stunde lang habe ich diesen armen Menschen gemartert, warum er so komisch redet heute. Und mir dann klar geworden ist, dass ich von der Übersetzung her Dinge raushöre, die die Dolmetscherin dieses eine Mal vielleicht anders übersetzt hat, aus irgendeinem Grund heraus das mehr betont hat oder weniger, und die ganze Situation gekippt ist. Ist eine gute Dolmetscherin, eine gelernte Dolmetscherin, die an und für sich Erfahrung hat. Aber es war wie das Zünglein an der Waage. Das war eine ganz schwierige Situation. Und da ist für mich auch die Frage des Kulturdolmetschens wichtig gewesen, nämlich vorher. Aber ich komme gar nicht auf die Idee, eine solche Frage zu stellen. Was ist sprachlich, wo sind die Begrenzungen? So wie ich mit der Zeit tatsächlich gelernt habe, wenn ich sage, „wie geht’s Ihrer Familie“, dass sie dann tatsächlich vielleicht ausmachen muss, die Cousins der Mutter oder die Cousins des Vaters. Dass es diese Formen gibt. Da bin ich darauf angewiesen, dass mir das jemand sagt. Sonst komme ich nicht auf die Idee. 155 7.1 Einleitendes <?page no="156"?> Und dann kommt mir jemand und sagt mir nach ewigen Zeiten, der redet schon immer so. Meinen Einwand, dass es aus dolmetschtechnischer Sicht in vielen Kontexten zulässig sein kann, solche Details zu überspielen, um den Kommunikationsfluss nicht zu behindern, lässt die Therapeutin nicht gelten: PT_8: Du tust jetzt rechtfertigen. Für mich ist die Frage, ob Psychotherapie mit Dolmetscher tatsächlich möglich ist. Weil welche Gründe es auch immer gibt für dieses andere Sprechen, welche Gründe es auch immer gibt - es gibt sie. (…) Aber verstehst du das Dilemma? Es hat über ein halbes Jahr gedauert, dass ich überhaupt draufgekommen bin, dass es dieses Problem gibt. Sofern es ein Problem ist. Und die Frage, die sich da stellt, zu dritt oder zu zweit, na no na net sag ich dann zu zweit, weil so etwas passiert mir dann nicht. Also, was ich höre, und was ich verstehe, ist dann meins. Was mir jemand anderer übersetzt, kann so viele Schichten an Interpretation draufhaben, die ich nicht einmal durchschaue. Im weiteren Verlauf stellt die befragte Psychotherapeutin grundsätzliche Über‐ legungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der therapeutischen Arbeit mit Flüchtlingen und äußert auch auf einer anderen Ebene Zweifel im Hinblick auf einen therapeutischen Erfolg vor dem Hintergrund der prekären Lebenssi‐ tuation im laufenden Asylverfahren. Eine gewisse Stabilität ist nämlich Grund‐ voraussetzung für die Psychotherapie, und es stellt sich die Frage, inwiefern eine solche Stabilität überhaupt gewährleistet werden kann, wenn das weitere Schicksal der Betroffenen in Schwebe ist und der Asylbescheid noch abgewartet werden muss: PT_8: Und sie (die Probleme, Anm.M.D.) sind vielleicht gar nicht zu überwinden, oder vielleicht… oder was braucht es denn für eine Schulung, oder was braucht es denn überhaupt, damit tatsächlich eine Psychotherapie in der ganzen Feinheit, also das geht ja um Nuancen oft. Wobei das ist jetzt wurscht, in der Arbeit mit Flüchtlingen im Asylverfahren ist es wieder die Frage, was ist da überhaupt Psychotherapie. Aber da in meiner Privatpraxis, da möchte ich das nicht haben. Weil da brauche ich jetzt nicht sagen, es ist eigentlich egal, wenn wir da jetzt nicht in die Tiefe gehen, weil da will ich’s im Detail haben. Und da kann ich mir so einen Patzer… das war ein richtiger Patzer in dem Fall dann. Der Aspekt der Ausbildung wird ebenfalls angesprochen: PT_8: Ja genau. Die nicht ausgebildeten Dolmetscher haben andere Probleme, da ist es noch mal eklatanter. (…) In dem Moment, wo ich es weiß, kann ich es ja thematisieren. Rückwirkend kann ich gar nichts. Und vor allem vorbeugend 156 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="157"?> auch nicht, ich muss zuerst die Erfahrung machen. Und dann ist es eine Frage der Ausbildung, und ich komme zum Schluss, dass letztendlich Psychotherapie mit Dolmetscher, und jetzt nicht im Flüchtlingsbereich, dass Psychotherapie mit Dolmetscher kaum ohne eine wirklich hohe Qualifikation der Dolmetscher möglich ist. Und dort auch mit einer ziemlich strengen Selektion, weil wenn jemand sagt, es ist bequemer, die merkt’s nicht, ist es schon zu spät. (…) Das Problem ist aber, dass gerade die ausgebildeten Dolmetscher zu keinen einschlägigen Fortbildungen gehen, weil sie sich denken, das brauch ich nicht. Die Therapeutin beschreibt die skeptische Haltung ausgebildeter, also hoch qualifizierter und professioneller DolmetscherInnen gegenüber einschlägigen Fortbildungen und trifft damit einen wichtigen Punkt: DolmetscherInnen, die viel Zeit und Energie in ihre Ausbildung investiert haben und sich ihrer hochwertigen Leistung bewusst sind, haben tendenziell wenig Interesse daran, sich von fachfremden Personen „belehren“ zu lassen darüber, wie sie ihre Arbeit zu machen haben. Somit kann sich unter Umständen die paradoxe Konstellation einstellen, dass gerade jene DolmetscherInnen, die ein ausgereiftes und profes‐ sionelles Berufsbild haben und nach außen vertreten, eher skeptisch sind, wenn es darum geht, das, was sie sich im Studium angeeignet haben (z. B. die Idee von Neutralität, Objektivität, Unparteilichkeit etc.) ein Stück weit in Frage zu stellen und ihre eigene Rolle im Prozess auf eine andere Weise zu reflektieren als nur unter dem Gesichtspunkt einer einwandfreien Leistung. In diesem Gespräch wurden seitens PT_8 mehrfach Zweifel an der Existenz‐ berechtigung der dolmetscherunterstützten Therapie geäußert. Indem ausge‐ rechnet diese Gesprächssequenz dem Kapitel vorangestellt wird, soll nicht signalisiert werden, dass sämtliche Bemühungen zur Optimierung der kom‐ munikativen Situation im Dreiersetting vergeblich sind, sondern es soll an Hand dieses unverhofft entstandenen Gesprächs lediglich illustriert werden, wie intensiv in der Psychotherapie um Worte, Wörter und kleinste Nuancen gerungen wird, und welche Herausforderungen für die beiden Berufsgruppen (PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen) damit einhergehen. 7.2 Arbeitstechnik Die Fragen an die Psychotherapeutinnen bezüglich Arbeitstechnik mit den DolmetscherInnen betrafen folgende Teilaspekte: Sitzordnung, Blickkontakt, Dolmetschmodus (simultan oder konsekutiv), direkte Rede oder indirekte Rede. Die ersten beiden Punkte - Sitzordnung und Blickkontakt - wurden von 157 7.2 Arbeitstechnik <?page no="158"?> mehreren Befragten in einem Kontext genannt, als zwei Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen, weshalb sie unter einem Punkt zusammengefasst werden. Einen passenden Einstieg in den Themenbereich Arbeitstechnik bietet die Be‐ schreibung einer optimalen Situation - vom arbeitstechnischen Standpunkt her. In der folgenden Passage lässt sich gut erkennen, wie stark die einzelnen Fak‐ toren miteinander verknüpft sind. Im Anschluss daran werden die genannten Faktoren jeweils einzeln unter die Lupe genommen. Arbeitstechnisch sieht das so aus, dass wir beide vor Beginn mindestens fünf Minuten früher da sind, weil es sonst ein bisschen Stress macht, wenn es zu knapp wird. Dass man sich eventuell kurz abgleichen kann, vor allem, dass eine ruhige Atmosphäre ist, um pünktlich mit der Therapie beginnen zu können. Dass wir eigentlich sehr klar vom Setting her sind, wer wo sitzt. Also ich überlasse das in der ersten Stunde dem Patienten, bleibe dann aber mit dem Dolmetscher in der gleichen Position. Also wir richten uns schon darauf ein, dass es ein klares Setting ist. Optimal ist, wenn möglichst… Also mir ist in den Therapien lieber, wenn konsekutiv gedolmetscht wird, weil manche sehr nervös sind und das oft auch eine Ruhe reinbringt ins Gespräch. Wenn Patienten sehr hektisch sind, dann, kommt mir vor, lässt sich die Situation sehr schwer beruhigen. Ist aber verschieden. Das ist bei so nervösen, unruhigen Patienten eher gut. Bei welchen, die sehr langsam sind, ist es mitunter gut, wenn simultan gedolmetscht wird. Dass man da also durchaus auf die jeweilige Person dann eingeht. Ich lege schon sehr großen Wert darauf, dass der Augenkontakt zwischen mit und dem Patienten ist. Ich versuche, das auch in der ersten Stunde immer gleich so einzuführen. Das ist natürlich komisch am Anfang, warum man die Person, die einen versteht, nicht direkt anschauen soll, und die auch woanders hinschaut. Ich hab aber die Erfahrung gemacht, wenn wir das zu zweit konsequent machen, als Team, dass das innerhalb von zehn Minuten eigentlich selbstverständlich ist. Dass das nicht so eine schwierige Sache ist. Ich erlebe es als sehr gut, in fixen Teams zu arbeiten, weil man sich da einfach viel viel besser aufeinander einstellen kann, also durchaus über längere Zeiträume mit verschiedenen Patienten und Klienten. Und weil das mit der ganzen nonverbalen Kommunikation einfach wesentlich besser funktioniert, wenn man sich da gut aufeinander eingestellt hat. (PT_11) An Hand dieser Passage wird deutlich, wie sorgfältig im psychotherapeutischen Setting insgesamt mit der kommunikativen Situation umgegangen wird. 158 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="159"?> 7.2.1 Sitzordnung und Blickkontakt Die Sitzordnung schafft einige Grundvoraussetzungen für das Gespräch und kann einen direkten Einfluss auf den Blickkontakt haben. In der Regel wird ein Dreieck bevorzugt, wodurch die Äquidistanz der DolmetscherIn zu den beiden GesprächspartnerInnen betont wird. Am liebsten mag ich von der Sitzordnung her im Dreieck sitzen, also annähernd ein gleichschenkliges Dreieck. (PT_5) Wir sitzen im Dreieck. Das finde ich ideal. So, dass der Klient eher in meine Richtung schaut, und der Dolmetscher daneben sitzt. (PT_10) Ja, also, grundsätzlich sitz ich der Klientin, dem Klienten gegenüber, und die Dolmet‐ scherin ist so auf der Seite, so wie wir jetzt da sitzen. Und da hab ich’s auch gern so ein bisschen abseits, so ein bisschen mit Abstand, sodass ich es wirklich schaffe, den Blickkontakt mit den Klientinnen zu halten. Was aber nicht immer gelingt. Und ich hab schon Klienten gehabt, die wirklich über eine ganz lange Zeit das nicht geschafft haben. Also immer wenn sie in ihrer Sprache geredet haben, die Dolmetscher angeschaut haben. Und das war auch über Interventionen nicht möglich zu ändern. Hab ich dann aufgegeben. (PT_12) PT_12 erkennt den Zusammenhang zwischen Sitzordnung und Blickkontakt und sieht größere Chancen für sich, den Blickkontakt zu den KlientInnen zu halten, wenn die DolmetscherIn weiter weg sitzt. Also, mir passt’s am besten, im Dreieck zu sitzen, das heißt, hier haben wir einen runden Tisch, ich sitz meistens da drüben, das muss ich jetzt natürlich beschreiben mit Wörtern, das heißt, die Klientin und ich sitzen einander gegenüber, und die Dolmetscherin sitzt sozusagen im Dreieck an der Spitze des Dreiecks zwischen uns. (PT_13) Und in der Therapiesituation, da muss man jetzt dazusagen, das ist Einzeltherapie, Gruppentherapie wäre anders, mache ich immer eine Sitzordnung, die so im Dreieck ist. Und was mir da schon wichtig ist, und was mir scheint, dass es sich bewährt hat, ist, dass ich der Klientin oder dem Klienten als Therapeutin gegenübersitze, das heißt also, dass der direkte Blickkontakt mit ihr oder mit ihm ist, und dass die Dolmetscherin oder der Dolmetscher in der Mitte und mir zur Seite sitzt. Das ist so die Vorstellung. Das finde ich eigentlich am brauchbarsten. Was ich nicht so gern mag, ist, wenn der Klient und der Dolmetscher bereits vorab sprechen. Das passiert aber auch manchmal, dass die Klientin noch ganz schnell etwas loswerden will. Das würde ich eigentlich immer unterbrechen, aber das geht ja ganz einfach, wenn man das ausmacht. (PT_6) 159 7.2 Arbeitstechnik <?page no="160"?> Bemerkenswert ist hier, dass PT_6 von Sitzordnung über Blickkontakt zu einem anderen Thema gelangt, nämlich zu informellen Gesprächen zwischen Dolmet‐ scherIn und KlientIn. PT_6 bezeichnet hier also einen direkten Zusammenhang zwischen physischer und kommunikativer Nähe. Eine befragte Psychotherapeutin (PT_4) lässt den Klienten entscheiden, wo er sitzen will, und arrangiert davon ausgehend die weitere Sitzordnung. Dabei soll vermieden werden, dass der Dolmetscher unmittelbar gegenüber dem Klienten sitzt - das könnte zu viel Nähe schaffen: Also Sitzordnung. Lässt sich sehr schwer einteilen, weil ich an und für sich zuerst den Klienten hinsetzen lasse. Dann nehme ich schräg gegenüber Platz, und irgendwo setzt sich dann letztendlich der Dolmetscher hin. Meistens dann auch gegenüber oder schräg gegenüber. Ja, es ist so, ich versuche es so zu machen, dass der Dolmetscher nicht unmit‐ telbar gegenüber vom Klienten sitzt. Was mir nicht immer gelingt. (PT_4) PT_7 berichtet wiederum von einer bewussten Abweichung vom Dreieck, die gezielt eingegangen wird, um den Blickkontakt zu steuern: Also Blickkontakt. Ja, ich habe sogar eine Dolmetscherin, die hinter mir sitzt und von einem großen Sessel verborgen wird. Aber es ist auch abhängig von der Erkrankung der Klientin. In dem Fall ist es eine dissoziative Frau. Und da ist es ganz wichtig, dass der Blickkontakt mit mir gewährleistet ist. Mir ist es wichtig, dass die Dolmetscher so wenig wie möglich Blickkontakt zu den Klienten haben, weil das mir ermöglicht, den Kontakt besser zu halten. Je mehr die Dolmetscher die Klientin also persönlich anvisieren, desto mehr zieht sie das ab vom therapeutischen Geschehen. Also mir ist lieber, wenn die Dolmetscher möglichst zurücktreten können, wenn das geht. (PT_7) PT_7 möchte also den Blickkontakt zwischen KlientIn und DolmetscherIn so stark wie möglich einschränken und modifiziert zu diesem Zweck die Sitzord‐ nung dahingehend, dass die DolmetscherIn sogar von einem Sessel verborgen wird. Eine solche Lösung ist nicht typisch und wohl hauptsächlich durch den individuellen Fall (Erkrankung der Patientin) motiviert. Es ist eine Ausnahme, denn, wie PT_7 im weiteren Gesprächsverlauf erzählt, soll die Anwesenheit der DolmetscherIn nicht negiert werden: PT_7: Ich arbeite im Dreieck. An sich arbeite ich schon im Dreieck. Nur in diesem einen speziellen Fall nicht. M.D: Sie versuchen also, die Sitzordnung flexibel zu handhaben, je nachdem, was gerade notwendig ist. 160 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="161"?> PT_7: Ja, je nachdem, was notwendig ist. Aber sonst ist es mir recht, wenn wir im Dreieck arbeiten, weil ich finde, dass die Dolmetscherin eine ganz eine prominente Rolle im therapeutischen Geschehen hat, und dass sie nicht verschwinden muss. Sie muss eher zurücktreten, aber nicht verschwinden. PT_3 wechselt ebenfalls, wenn Bedarf besteht, die Sitzordnung, um für spezielle Interventionen optimale Umstände zu schaffen: Bezüglich Sitzanordnung haben wir meistens Dreieck, und in speziellen Situationen, bei speziellen Interventionen, dann wird die Sitzordnung gewechselt, dann geht der Dolmetscher zum Klienten rüber, also in die Nähe, neben den Klienten, neben die Klientin. (PT_3) PT_8 zieht es vor, wenn es keinen Blickkontakt zwischen DolmetscherIn und KlientIn gibt: Am liebsten ist mir, wenn der Dolmetscher keinen Blickkontakt zum Klienten hat. Oder minimal. Nichts ist unmöglich, aber es entsteht eine gewisse Neutralität, die mir ganz gut passt, und es ist, wenn der Blickkontakt zu intensiv ist, dann merke ich, dass es ablenkt. Also dass es dann auch für mich mühsam wird, die Aufmerksamkeit dann immer wieder zu drehen, zu mir zu drehen, das ist anstrengend. Wenn der Dolmetscher keinen Blickkontakt zum Klienten hält, dann bleibt der Klient ruhiger, dann bleibt er in meine Richtung zugewandt, oder es wird dann klarer, dass er den Dolmetscher nicht als Gesprächspartner nimmt. (PT_8) Die anderen befragten Psychotherapeutinnen berichten, dass sie sich zumin‐ dest Gedanken über den Blickkontakt machen, auch wenn sie nicht aktiv Maßnahmen setzen, um diesen zu steuern. Auf jeden Fall liefert der Blickkontakt Hinweise auf den Verlauf der Kommunikation: Nein, also, für mich ist das kein Problem, weil daran merke ich, dass irgendetwas ist. Also, wenn ich merk, dass die Klientin mit der Dolmetscherin spricht, und nicht mit mir spricht, ja? Ob sie jetzt Blickkontakt hat oder sonst irgendwas, dann beobachte ich das und schau, was da los ist. Verwende das auch eigentlich in der Therapie. (PT_13) Es gibt eine ungünstige Variante, wenn der Klient zwischen der Dolmetscherin und dem Therapeuten sitzt, also so, dass er den Kopf wirklich immer drehen muss, um neunzig Grad irgendwie. Also, es kann eine solche Sitzsituation entstehen, aber grundsätzlich… ja, die ist vielleicht nicht gerade optimal. Aber ansonsten ist die Sitzposition nicht so relevant. (PT_8) Dass es mir in die Quere kommt, insofern ja, nachdem ich Erstgespräche führe, und ich bei den Erstgesprächen einfach nicht so streng bin. Wenn sie den Dolmetscher mehr 161 7.2 Arbeitstechnik <?page no="162"?> anschauen, dann korrigiere ich das nicht für das Erstgespräch. Aber… nein, das halte ich jetzt für die Diagnostik oder Anamnese nicht für wahnsinnig problematisch. (PT_10) Da PsychologInnen oder PsychotherapeutInnen bei Erstgesprächen in erster Linie organisatorische Details abklären, gehen solche Gespräche nicht stark in die Tiefe. Im Gegenteil, bei Erstgesprächen wird bewusst darauf geachtet, die KlientIn nicht in einen Zustand der Aufregung zu versetzen, da es ledig‐ lich darum geht, die künftige Therapie auf der organisatorischen Ebene zu besprechen. Daher spielt zu diesem Zeitpunkt die Beziehungsarbeit eine unter‐ geordnete Rolle, und entsprechend unwichtig ist es, auf den Blickkontakt zu achten. Ich glaube, dass der Klient hauptsächlich mit dem Dolmetscher den Blickkontakt hält. Das ist meistens am Anfang der Stunden, also am Anfang der Therapie. Im Lauf der Zeit verändert er das und nimmt mit mir Blickkontakt auf. (PT_4) Und vom Blickkontakt her ist es mir natürlich am liebsten, wenn der direkt zu mir her ist, von der Klientin oder vom Klienten. Wenn das aber nicht total funktioniert, und ich aber das Gefühl habe, dass es von der Beziehung her klar ist, wer adressiert ist und wer die Verantwortung hat, dann finde ich es auch nicht dramatisch, wenn es vom Blickkontakt her nicht immer ganz und sofort gut funktioniert, weil es, denke ich, auch Zeit braucht, sich einzugewöhnen und weil es eigenartig ist, nicht dahinzuschauen, wo man zuerst verstanden wird. Also von dem her finde ich das jetzt nicht ganz streng. Wenn ich das Gefühl habe, dass es klar ist für die Klientin, dass ich die Verantwortung für den Prozess trage. Und dass sie im Grunde mich als die Hilfsperson adressiert, und die Dolmetscherin eine Hilfsperson für die sprachliche Übertragung ist. (PT_5) Die beiden zuletzt zitierten Befragten setzen auf den Zeitfaktor. PT_5 unter‐ scheidet zwischen dem reflexhaften Hinschauen dahin, wo man zuerst ver‐ standen wird, und der darunterliegenden tragfähigen Beziehung, die Pausen im Blickkontakt durchaus „aushalten“ kann. Der KlientIn wird zugestanden, den Blickkontakt zur DolmetscherIn - der „ErstabnehmerIn“ des Gesagten - zu halten, ohne dass daraus automatisch geschlossen wird, dass der KlientIn nicht bewusst ist, an wen die Worte eigentlich gerichtet sind, wer also die „EndabnehmerIn“ der Formulierungen ist. Fazit: Unter den Befragten wird der Blickkontakt als ein wichtiger Indikator und mitunter auch als Voraussetzung für die kommunikative Nähe begriffen. Gegebenenfalls wird versucht, den Blickkontakt durch die Sitzordnung in eine gewünschte Richtung zu dirigieren beziehungsweise den Blickkontakt zwischen KlientIn und DolmetscherIn zu minimieren oder ganz zu unterbinden. Der Blick‐ 162 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="163"?> kontakt zur KlientIn wird somit indirekt als eine Ressource begriffen, um welche die beiden anderen AkteurInnen der Triade konkurrieren. Stellvertretend steht der Blickkontakt für die Aufmerksamkeit der KlientIn, die, so der Grundtenor in den Gesprächen, möglichst stark auf die PsychotherapeutIn fokussiert werden soll. 7.2.2 Dolmetschmodus: simultan / konsekutiv Der naheliegende Modus für das Dolmetschen in der Psychotherapie ist das Konsekutivdolmetschen, wobei es ratsam ist, in möglichst kurzen Sequenzen zu sprechen und zu dolmetschen, sodass beide GesprächsteilnehmerInnen auf dem aktuellen Stand sind. Auf diese Weise können PsychotherapeutInnen gegebenenfalls zeitgerecht ihre Interventionen setzen. Allerdings berichten einige der Befragten, dass es manchmal notwendig ist, in den Simultanmodus zu wechseln, wenn die KlientInnen auf Grund ihres momentanen Zustandes oder ihres natürlichen Sprechrhythmus nicht dazu bewegt werden können, in kurzen Sequenzen zu sprechen. Wenn ein ganzer Redeschwall, der sich nicht unterbrechen lässt, konsekutiv gedolmetscht wird, steigt das Risiko des Infor‐ mationsverlustes und außerdem kann die PsychotherapeutIn nicht abschätzen, ob es aus therapeutischen Gründen ratsam wäre, den Redefluss zu unterbrechen, um eine mögliche retraumatisierende Erfahrung abzuwenden. Die an die DolmetscherInnen gestellte Anforderung lautet also Flexibilität und Gespür für die aktuellen und individuellen kommunikativen Bedürfnisse. Interessant ist die Aussage einer Psychotherapeutin (PT_9), die sich zu dem Zeitpunkt der Befragung in einer Beobachterposition befand, weil sie im Rahmen eines Fachspezifikums für systemische Therapie ein Praktikum machte. Sie beobachtete, wie Psychotherapie mit DolmetscherInnen funktionierte, und zwar in den Sprachen Persisch, Kurdisch, Arabisch und Russisch. PT_9: Es funktioniert am besten, wenn man fast synchron dolmetscht. Und zwar wenn die Stimme leiser ist, und man fast synchron übersetzt. Dann ist es für die Klienten und für den Therapeuten am einfachsten. M.D: Was genau ist mit synchron gemeint? Bedeutet das simultan, also gleichzeitig? Oder ist etwas anderes gemeint? PT_9: Fast… also… ein bisschen… aber nicht ganz gleichzeitig. Ein bisschen versetzt. Wenn man immer wartet, also, ich habe einige Dolmetscher gesehen, die warten, bis jemand ganz ausgesprochen hat, und dann übersetzen sie. Das stört den Therapiefluss. M.D.: Und stört es nicht, wenn gleichzeitig zwei Stimmen zu hören sind? 163 7.2 Arbeitstechnik <?page no="164"?> PT_9: Was ich gesehen habe, am Anfang ist es ein bisschen irritierend, wenn aber das Gespräch im Redefluss ist, ist es unterstützend. Die Irritation darüber, dass zwei Stimmen gleichzeitig zu hören sind, wird also zu Gunsten des Redeflusses in Kauf genommen. Die nächste Aussage folgt einer ähnlichen Argumentation, wenn auch hier vom Konsekutivmodus als dem üblichen ausgegangen wird: Ja, also, in der Regel schon konsekutiv. Simultan hab ich bei einer Frau zu schätzen gelernt, die wirklich so einen Redeschwall gehabt hat, dass sie nicht zu stoppen war. Und da hat die Dolmetscherin, eigentlich spontan ist sie übergegangen, und dadurch ist diese Frau langsamer geworden, ich glaub, das hat sie irritiert, dass das gleichzeitig läuft, und da hat sich das dann angeboten, dass wir das dann immer gemacht haben. Ich find’s allerdings anstrengender, also für mich, aber ich hab gemerkt, es ist auch Gewohnheitssache. Also man könnte sich auch dran gewöhnen. Manchmal hab ich gesagt, das möchte ich überhaupt nicht, aber da hab ich gemerkt, es kann Situationen geben, oder eben Frauen, wo das gar nicht so schlecht ist. (PT_12) In den nächsten Antworten wird dem Konsekutivmodus der Vorzug eingeräumt: Und vom Sprachlichen her, du hast gefragt, konsekutiv oder simultan, ist mir lieber konsekutiv, einfach weil ich nicht so gut beiden folgen kann. Mich bringt es ein bisschen durcheinander, wenn beide Sprachen gleichzeitig sind. Manchmal, wenn Klientinnen ganz fest in einem Redefluss sind und es nicht so klug ist, sie zu stoppen, dann ist es für mich total fein, wenn die Dolmetscher auch ins Simultane switchen. Für mich leichter zu folgen ist, wenn es konsekutiv ist. Und dann ist es auch ein bisschen langsamer, und ist eigentlich angenehm. (PT_5) Dann, mir persönlich ist es an sich lieber konsekutiv, wobei es abhängig ist von der Situation. Aber ich hatte mal eine Klientin, die wollte unbedingt simultan, was für mich persönlich eher verwirrend ist, weil es ziemlich viel Lärm macht, wenn das alles gleichzeitig läuft, also lieber konsekutiv. (PT_7) Simultandolmetschen wurde von einigen Befragten also eher als störend, aber in bestimmten Situationen notwendig befunden. In der folgenden Aussagen wird das Simultandolmetschen als der schwieri‐ gere Modus beschrieben, den nicht alle DolmetscherInnen beherrschen: PT_8: Rein von unserer Arbeitsweise her ist es so, dass viele unserer Dolmetscherinnen gar nicht simultan dolmetschen können. Insofern habe ich die Option gar nicht. Und dort, wo es möglich war, war die Erfahrung gut, und dann hat auch der Dolmetscher, die Dolmetscherin, die Rückmeldung gegeben, dass sie es dann einsetzen würden, wenn es ihnen passend vorkommt, und dann habe ich mich voll auf sie verlassen, dass sie das 164 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="165"?> einfach heraushören und herausfiltern, vom Gesprächsverlauf her, ob es da günstiger wäre oder nicht. M.D.: Also ob jemand zu unterbrechen ist oder nicht? PT_8: Genau. Aber es sind wenig Leute, die das machen, und manchmal habe ich es verlangt, und dann hab ich gemerkt, dass es den Dolmetschern schwer gefallen ist, so spontan umzuschalten. Aber ich bin da nie sicher, ob sie das wirklich gut können oder nicht. Das kann sein, dass es Unterschiede gibt. Ich hab’s lieber, wenn es nicht gleichzeitig ist. Da tue ich mir beim Zuhören irgendwie schwer. Manche können so fast simultan dolmetschen. Das finde ich schwierig, da zuzuhören. (PT_10) In den beiden letzten Antworten wird die Ansicht zum Ausdruck gebracht, simultan zu dolmetschen sei schwieriger und anspruchsvoller als konsekutiv, zugleich sei es weniger angenehm zum Zuhören. Simultandolmetschen wird of‐ fenbar stärker mit Professionalität und Ausbildung in Zusammenhang gebracht. Nur eine Befragte gibt an, prinzipiell den simultanen Dolmetschmodus zu bevorzugen, allerdings dürften in diesem Kontext die Erfahrungswerte gering sein, da die Befragte mit nur einer Dolmetscherin zusammengearbeitet hat, die den Simultanmodus beherrschte: PT_13: Also, manchmal ist simultan, also eine sofortige Übersetzung, sehr angenehm, und manchmal eher diese zusammenfassende… also nicht zusammenfassende, aber in Sequenzen, nachfolgend, besser. Das ist nicht immer gleich. Ich weiß zwar nicht genau, worauf es ankommt, aber manchmal… M.D.: Ist es der Redefluss des Klienten? PT_13: Es kann sein, das mit dem Redefluss, ja. Wobei prinzipiell ist mir simultan lieber, aber die meisten, also die Dolmetscher, die ich kenne, die machen eigentlich alle konsekutiv. Ich glaube, ich habe einmal eine Dolmetscherin gehabt, die simultan übersetzt hat. Sonst immer in Sequenzen. In den folgenden Auszügen schließlich werden mehrere für das erwünschte „Switchen“ relevante Faktoren verknüpft. PT_6: Das ist sehr unterschiedlich. Im Prinzip ist beides gut. Das hängt allerdings sehr von der Qualität der Dolmetscherin ab oder des Dolmetschers, wie gut sie das kann. Wenn sie simultan übersetzt, also gleichzeitig, dann muss sie sehr gut sein. Dann muss sie meinen Gedanken wirklich folgen können. Das heißt, sie muss eigentlich fast schon wissen, was ich sagen will. M.D. Hängt es auch vom Sprechtempo des Klienten oder der Klientin ab? 165 7.2 Arbeitstechnik <?page no="166"?> PT_6: Ja, das kann natürlich auch sein. Wenn die sehr schnell spricht und ohne Unterbrechung, dann ist es manchmal auch… da habe ich manchmal in der Situation gebeten, von der einen Art in die andere umzusteigen. Wenn ich also seh, das wird jetzt ein ganz langes Stück, dass die Klientin ganz lang im Stück spricht, dass sie sehr aufgeregt ist und nicht aufhört, dann habe ich oft gebeten, so jetzt mal reinzuübersetzen, weil ich sonst den Kontakt verliere. Sonst ist es eigentlich wurscht, bei Traumatisierungen ist sowieso alles ganz anders. Das weiß ich nicht, ob dich das so genau interessiert, denn wenn jemand dann in die eigene traumatische Erfahrung hineingeht oder auch zurückfällt, dann hat man überhaupt keine Chance mit konsekutiv, dann muss es simultan gehen. Dann muss ich einen so guten Kontakt zum Dolmetscher, zur Dolmetscherin haben, dass ich ihm signalisieren kann, so jetzt musst du reinsprechen, jetzt musst du mich übersetzen. (PT_6) Das „Zurückfallen“ in die eigene traumatische Erfahrung, das ein Kernstück der therapeutischen Arbeit ist, verlangt von der DolmetscherIn, sich flexibel auf die Vorgehensweise der TherapeutIn einzustellen und diese mitzutragen. Laut PT_6 kann es also notwendig sein, dass die DolmetscherIn gemeinsam mit der TherapeutIn „reinspricht“, um ein Abgleiten der KlientIn in die traumatischen und retraumatisierenden Erinnerungen zu verhindern. Laut der Befragten PT_3 ist es Aufgabe der TherapeutIn, sich auf die Dol‐ metschsituation einzustellen und „in kurzen Abschnitten“ zu sprechen. Der Dolmetschmodus richtet sich nach Sprechtempo und Mitteilungsbedürfnis der KlientIn: Ja, ansonsten ist es wichtig, in kurzen Abschnitten zu reden, da muss ich mich auch immer zwingen, oder dran erinnern; bei den Klienten muss man das von vornherein schauen, dass sie sich gewöhnen, dann geht’s recht gut. Also kurze Abschnitte und möglichst bald dann übersetzen. Meistens konsekutiv, manchmal, wenn die Klienten recht viel reden und keine Pause machen, wird’s simultan. (PT_3) Fazit: Die meisten Befragten, die sich zu der Frage nach dem bevorzugten Dolmetschmodus geäußert haben, ziehen das Konsekutivdolmetschen vor, wün‐ schen sich jedoch von ihrer DolmetscherIn, dass diese bei Bedarf auch ins Simultandolmetschen „switchen“ kann, wenn es die Situation erfordert. Diese Flexibilität sowie das Vermögen, überhaupt simultan dolmetschen zu können, werden als Indikatoren für Professionalität und Dolmetschkompetenz gewertet. Gewünscht wird das Simultandolmetschen dann, wenn die KlientIn droht, in die Nacherzählung einer traumatischen Erfahrung hineinzukippen, ohne dass die TherpeutIn die Möglichkeit hat, Interventionen zu setzen. Die KlientIn in 166 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="167"?> ihrem Rede- und Erinnerungsfluss zu unterbrechen, um den Konsekutivmodus „durchzusetzen“, ist jedoch aus therapeutischen Überlegungen nicht ratsam. In der Ausbildung lernen DolmetscherInnen, ihr Gedächtnis zu trainieren, um auch längere Sequenzen wiedergeben zu können. Vor einem Publikum wird eine solche Kompetenz meist als außergewöhnlich und bemerkenswert wahrgenommen, Sich lange Sequenzen merken oder notieren zu können be‐ deutet aber nicht, dies auch in jedem Fall tun zu sollen. Dasselbe gilt für das Simultandolmetschen: Nicht immer ist es sinnvoll, diese anspruchsvolle Dolmetschtechnik auch wirklich einzusetzen. Aus den Antworten der Psychotherapeutinnen zur Frage des Dolmet‐ schmodus lässt sich für DolmetscherInnen, und zwar gerade für die ausgebil‐ deten, die beide Modi gut beherrschen, die folgende Anforderung ableiten: Es ist wichtig, die Dolmetschtechnik nicht primär an die eigenen Dolmetschkapa‐ zitäten auszurichten (und danach zu trachten, diese in einem möglichst guten Licht zu präsentieren), sondern sich in erster Linie an den therapeutischen Zielen der Kommunikation zu orientieren. Beim Dolmetschen in der Therapie geht es nicht darum, etwa durch ein herausragend trainiertes Gedächtnis oder perfekt beherrschte Simultantechnik zu brillieren. Ein solcher Anspruch kann in Kontexten, in denen Publikumswirksamkeit einen hohen Stellenwert genießt, sehr wohl gerechtfertigt sein. In der therapeutischen Kommunikation genießen andere Überlegungen Vorrang, nämlich solche, die zum einen den psychischen Zustand der KlientIn und zum anderen die therapeutischen Interventionsstra‐ tegien betreffen. 7.2.3 Direkte und indirekte Rede Eingangs wurde unter 7.1 illustriert, wie wichtig der Gebrauch der ersten Person beim Dolmetschen - also die adäquate Wiedergabe der direkten Rede - für die Entstehung einer tragfähigen Beziehung zwischen PsychotherapeutIn und KlientIn sein kann. Hier einige weitere Aussagen zu diesem Aspekt: Ja also, ich finde, dass es ganz wichtig ist, in der ersten Person zu sprechen. Dann hat das mehr Unmittelbarkeit. (PT_7) In der folgenden Antwort wird beschrieben, wie eine Dolmetscherin versucht, die holprige Kommunikation in der dritten Person, so wie sie durch die Klientin vorgegeben wird, geschmeidiger zu machen, damit es glatter geht, indem sie selbst in die erste Person wechselt, jedoch im Anschluss an die Stunde die PsychotherapeutIn von ihrem „Trick“ in Kenntnis setzt: 167 7.2 Arbeitstechnik <?page no="168"?> In der Regel funktioniert das gut in der ersten Person. Aber da habe ich auch eine ganz Spezielle, die das durchgehalten hat, von Anfang bis Ende in der dritten Person zu reden. Die Dolmetscherin hat mir das schon immer wieder gesagt. Sie ist dann schon übergangen, sie selbst ist dann schon übergegangen in die erste Person, damit es glatter geht, weil es auch sie selbst sehr verwirrt hat, aber sie hat mir nachher immer wieder gesagt, du weißt schon, dass sie sagt „sie“ zu mir, „sag ihr“. (PT_ 12) Laut einer anderen Befragten ist das Dolmetschen in der dritten Person ein Faktor, der das weitere Sprechen im Rahmen einer Psychotherapie verunmög‐ licht. PT_13: Also, wenn eine Dolmetscherin beginnt zu sagen, er sagt, oder sie sagt, da breche ich ehrlich gesagt ab und sage, bitte, übersetzen Sie so, als wären Sie sozusagen sein oder mein Sprachrohr. Seine oder meine Zunge. Das heißt, in der Ich-Form. Mich irritiert das wahnsinnig, wenn jemand sagt, er sagt, sie sagt. Das ist schrecklich. Das ist für mich dann keine Übersetzung. M.D.: Und kriegst du es mit, kriegst du es vom Dolmetscher mitgeteilt, ob der Klient dich direkt anspricht oder auch sagt, sag ihr. Ist das mal ein Thema gewesen in den Gesprächen? PT_13: Ja, das kann ich mir schon vorstellen, aber das habe ich eigentlich noch nie erlebt. Ich hab’s einmal erlebt, dass dann die Dolmetscherin zu mir gesagt hat, die Person spricht immer mich an. Die Dolmetscherin hat unterbrochen, und hat dann zu mir gesagt, sie spricht immer mich an. Aber da war es, wenn ich mich erinnere, da war es eher so, da war eine Frau, eine Klientin, die zur Dolmetscherin gesagt hat, na du weißt ja eh, wie das bei uns ist. Aus den Antworten geht hervor, dass einer getreuen Wiedergabe der direkten Rede beim Dolmetschen ein zentraler Stellenwert beigemessen wird. Das hat zum einen mit der Unmittelbarkeit der Kommunikation zu tun, und zum anderen damit, dass die DolmetscherIn gewissermaßen aus der Rolle fällt, wenn sie das Gesagte in der dritten Person wiedergibt, weil sie dann nicht länger ausschließlich als „Sprachrohr“ oder „Zunge“ fungiert. Außerdem geht aus den Antworten hervor, dass selbst dann, wenn sowohl PsychotherapeutIn als auch DolmetscherIn sich dieser Problematik bewusst sind, die Kommunikation in dieser Hinsicht nicht vollständig kontrollierbar ist, weil die KlientIn durch ihre eigene Sprechweise einen maßgeblichen Einfluss auf die Übertragungsstrategien der DolmetscherIn hat. Spricht die KlientIn konsequent die Dolmetscherin direkt an und bezieht sie sich auf die Psychotherapeutin in der dritten Person Singular, ist es für die Dolmet‐ scherIn schwierig, diese Sprechweise wortgetreu zu dolmetschen und direkt 168 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="169"?> wiederzugeben. Würde die DolmetscherIn beispielsweise den folgenden Satz aussprechen: „Sag ihr, dass ich darüber nachgedacht habe, was sie mir in der letzten Stunde gesagt hat“, getreu der Ausdrucksweise der KlientIn, dann wäre es für die PsychotherapeutIn nicht einfach nachzuvollziehen, was genau gemeint war. Fazit: Um Missverständnisse zu vermeiden, kommt es vor, dass Dolmetsche‐ rInnen die Ausdrucksweise der KlientInnen „glattbügeln“, indem sie den Ge‐ brauch der dritten Person tilgen und der PsychotherapeutIn den Eindruck vermitteln, sie sei direkt angesprochen worden. Eine solche Vorgehensweise ist grundsätzlich legitim und würde in einem anderen Kontext den Gesprächs‐ partnerInnen vermutlich gar nicht auffallen oder nicht bedeutsam erscheinen. Daher ist es auch (und möglicherweise gerade) für erfahrene DolmetscherInnen wichtig zu begreifen, warum in psychotherapeutischen Gesprächen ein Modus gefunden werden muss, mit diesem Aspekt konsequent oder zumindest trans‐ parent umzugehen. Es ist anzunehmen, dass es für die PsychotherapeutIn wichtiger ist, im Hinblick auf den besagten Faktor genau Bescheid zu wissen, wie die KlientIn sich ausdrückt, als umgekehrt. Für die DolmetscherIn ergibt sich aus dem Wissen um die Bedeutung dieses Aspekts die Anforderung, dieses kommunikative Bedürfnis der TherapeutIn anzuerkennen und ihm Rechnung zu tragen, indem man die eigenen übersetzerischen Lösungen gegebenenfalls in einem Nachgespräch reflektiert und begründet. 7.3 DolmetscherInnenwechsel Unter 6.1.3 wurde der Wechsel von DolmetscherInnen in laufender Therapie aus Sicht der KlientInnen behandelt. Die meisten befragten KlientInnen hatten sich dafür ausgesprochen, über einen längeren Zeitraum hinweg kontinuierlich auf die Dienste einer und der selben DolmetscherIn vertrauen zu können. Sie fanden es allerdings schwierig, ihre eigenen Wünsche bezüglich DolmetscherInnen zu artikulieren, weil sie für sich keine Option sahen, Ansprüche zu stellen. Auch die PsychotherapeutInnen haben keine unendlichen Möglichkeiten bei der Auswahl von DolmetscherInnen: zum einen, weil der Pool an möglichen DolmetscherInnen begrenzt ist, und zum anderen, weil auf Grund der freiberuf‐ lichen Beschäftigungsverhältnisse die meisten DolmetscherInnen auch anderen Tätigkeiten nachgehen und nicht exklusiv in der betreffenden Einrichtung zum Einsatz kommen. Dennoch sind im Vergleich zu den KlientInnen die PsychotherapeutInnen mit wesentlich größeren Möglichkeiten ausgestattet, darüber zu entscheiden, welcheR DolmetscherIn in welcher Therapie eingesetzt 169 7.3 DolmetscherInnenwechsel <?page no="170"?> wird. Außerdem obliegt es den TherapeutInnen, bei DolmetscherInnenwechsel die entstandene Situation allen Beteiligten zu kommunizieren und dafür zu sorgen, dass die negativen Begleiterscheinungen eines Wechsels minimiert werden bzw. dass der Wechsel möglichst produktiv in die Therapie eingebaut wird. Ja, es ist immer ein Nachteil zu wechseln, wenn die gemeinsame Arbeit schon länger andauert, weil dann sowohl ich, als auch die Klientin uns umstellen müssen, nicht nur auf einen neuen Menschen einstellen, sondern auch auf eine neue Art von Intimität. Dinge, die schon gesagt wurden, noch einmal wiederholen oder nicht wiederholen. Da ist die Frage wichtig, wie sehr soll der Dolmetscher eingebunden werden in die Geschichte, inwiefern sind sie wirklich Sprachmaschinen, und wie viel sind sie wirklich Teil von der Beziehung. Diese Frage wird ganz eklatant, wenn es einen Dolmetscherwechsel gibt. Und fein war das immer, wo das funktioniert hat, da hab ich mir gedacht, na Gott sei Dank (lacht). Kommt jetzt jemand, der es besser macht (lacht). (PT_8) Während PT_8 die Situation beschreibt, in der es nicht schwer fällt, sich an „das Bessere“ (eine höhere Qualität der Dienstleistung) zu gewöhnen, weist eine andere Befragte darauf hin, dass gerade KlientInnen sensibel darauf reagieren, wenn die Situation sich „zum Schlechteren“ verändert: Wenn eine sehr gute Dolmetscherin, die sprachlich sehr gut ist, durch eine weniger sprachlich versierte Dolmetscherin ersetzt wird, dann ergibt das meist Unzufriedenheit bei den Klienten. Die merken dann sehr genau den Unterschied. Das fällt mir auf. (PT_7) Eine Befragte bemüht sich um eine Differenzierung zwischen den beiden anderen Beteiligten im Bezug auf die Umstellung auf die neue Situation: Also beim Klienten ist sicher mal die Schwierigkeit, dass jemand Neuer da sitzt, den er neu kennenlernen muss, wieder den abklären muss letztendlich, wer ist das, wer ist da neu. Es ist ein neues Setting für den Klienten, und auch für mich ein neues Setting. Wobei der Wechsel für mich, glaub ich, nicht so schlimm ist, wie für den Klienten. (PT_4) Eine andere Befragte (PT_12) hat diesbezüglich andere, gegenteilige Erfah‐ rungen gemacht und bemüht sich nach Möglichkeit, nicht auf Ersatzdolmet‐ scherInnen zurückzugreifen. Sie zieht es vor, lieber keinen Dolmetscher zu haben, als einen neuen, unbekannten: Ja, wobei ich sagen muss, ich mach das nicht oft, weil meistens, wenn eine Dolmetscherin ausfällt, versuche ich, wenn es geht, auf Deutsch. Und da merk ich schon einen Unterschied. Erstens bin ich dann doch immer überrascht, wie viel doch auf Deutsch geht. Aber wo ich das gemacht hab, da war ich auch überrascht, weil ich mir gedacht hab, 170 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="171"?> oje, das wird sicher im Prozess ein Stück, sag ich jetzt mal, bremsen, oder die Frauen vorsichtig machen, das war aber dann eigentlich nicht so. Also ich hab das Gefühl gehabt, die Frauen, oder meine Klientinnen, haben damit weniger Schwierigkeiten gehabt als ich. Also, meine Umstellungsschwierigkeit war größer als die der Leute. (PT_12) In Fällen, in denen es jedoch keine andere Möglichkeit gab, als sich auf eine neue DolmetscherIn zu verlassen, erlebte dieselbe Befragte den Wechsel auch als eine Chance, eingespielte Muster aufzubrechen, weil die neue Person eine neue Dynamik hereinbringt: Also, ich hab das Gefühl gehabt, dass die das relativ gut… also, das erstaunt mich sowieso immer wieder, dieses Vertrauen auch, was jetzt Schweigepflicht anbelangt und so weiter, das ist relativ groß, finde ich. Ja, und das hat mich dann eher manchmal überrascht, dass manches da sogar möglich war, was jetzt vorher im Eingespielten gar nicht so möglich war, vielleicht. Also, es beinhaltet auch Chancen, so im Sinne von, etwas Neues, und dann traut sich vielleicht auch die Klientin ein bisschen. Also das habe ich so erlebt mit einer Vertretung, für einen Monat oder so. (PT_12) Das Stichwort „Vertrauen“ ist gefallen, und auch in den folgenden Antworten wird darauf hingewiesen, dass im Hinblick auf das Vertrauen ein Dolmetscher‐ wechsel gut vorbereitet werden sollte, da die Anwesenheit einer neuen Person einen Rückschritt für den therapeutischen Prozess bedeuten kann: Ja, ich habe schon manchmal Gespräche, wo sich das zum Beispiel im Erstgespräch nicht ausgeht und man dann noch einen Termin vereinbart und dann irgendwie klar ist, das wird wer anderer sein, das muss ich dann auch vorbereiten. Ich sage dann, es wird wer anderer da sein, beziehungsweise wird dann auch manchmal nachgefragt. Und ja, ich habe dann schon das Gefühl, dass man dann ein bisschen wieder am Anfang anfangen muss. Also, bis die Leute wieder aufmachen und warm sind. Also man kennt sich schon, aber dass das eben eine Rolle spielt, das Vertrauen. (PT_10) Es macht auf jeden Fall einen Unterschied, wenn jemand anderer da ist. Das kommt auch auf die Klienten an, manche ignorieren das vollkommen und tun mit mir dort weiter, wo sie letztes Mal waren, und manche Klienten, besonders wenn sie neu sind, gehen dann zurück, als wären wir in einer neuen Anfangssituation. (PT_3) Vertrauensprobleme Ja, aber das ist sehr von den Klienten abhängig. Sehr von den Klienten abhängig. Es gibt Klienten, denen ist das völlig egal, wer da sitzt als Dolmet‐ scherin. Es ist ihnen völlig egal. Ich denke da speziell an eine. Wenn da jemand anderer sitzt… die verabschiedet sich gar nicht von der Dolmetscherin. Die Dolmetscherin fordert das immer ein, dass sie sich von ihr verabschiedet (lacht). Aber das hängt mit ihrer Störung zusammen. Das ist diese Klientin mit der dissoziativen Störung. Aber sonst 171 7.3 DolmetscherInnenwechsel <?page no="172"?> ist Vertrauen etwas sehr sehr Wichtiges, auch zur Dolmetscherin. Je länger eine Therapie geht, desto leichter wird die Dolmetscherin austauschbar. Einerseits, weil das Vertrauen zur Therapeutin auch stärker ist. (PT_7) Eine befragte Kollegin plädiert ebenfalls für eine rechtzeitige Vorbereitung der KlientInnen auf die neue Situation und geht sogar einen Schritt weiter. Sie bringt das Thema DolmetscherInnenwechsel in Verbindung mit dem für viele KlientInnen traumatisch erlebten Aspekt „Abschied“ und stellt in diesem Kontext TherapeutIn und DolmetscherIn auf eine Ebene. Jene Sitzungen, die trotz aller Bedenken mit einer anderen DolmetscherIn stattfinden müssen, nutzt die Befragte, um Organisatorisches und Soziales zu besprechen: Also, mir ist wichtig, dass mir das ein paar Stunden vorher gesagt wird, weil ich glaub, in der Therapie ist das genauso zu besprechen wie ein Wechsel vom Therapeuten. Da geht es um Abschied, und Abschied ist ein zentrales Thema von traumatisierten Flüchtlingen, weil da immer traumatische Abschiede oder Nichtabschiede Thema sind. Also, das gehört bearbeitet in der Therapie, und dem Klienten auch die Chance gelassen, einfach sich zu verabschieden. Umgekehrt aber auch dem Dolmetscher, sie sind ja keine Roboter. Also dass da einfach ein Abschied passieren kann, das halte ich eigentlich fürs Zentrale dabei, dass das klar besprochen wird und offengelegt wird. M.D.: Und wenn ein Dolmetscher mal für eine Stunde ersetzt wird? Was beobachtest du, was ändert sich dann? Ändert sich dann die Situation für dich? Wenn es also nicht um Abschied geht, sondern jemand fällt für eine Woche aus? PT_11: Ja natürlich ist das eine andere Situation. Das hat Einfluss auf meine Arbeit. Es kann sein, dass das dann oberflächlichere Stunden sind, wo ich dann auch nicht Wert lege, mit meiner Intervention wirklich tief zu gehen, also das sind eher so Stunden, wo es drum geht, was grad ist, also eher so psychosoziale Stunden. Dass manchmal andere Dynamiken reinkommen, weil einfach eine andere Person da ist, die einen anderen Stil hat. Also ich halt das eher wirklich für Überbrückungsstunden, und nicht für Stunden, in denen man im psychodynamischen Prozess sehr tief gehen kann. (PT_11) Neben „Abschied“ wird auch „Enttäuschung“ als eine mögliche Reaktion der Kli‐ entInnen auf einen DolmetscherInnenwechsel genannt, wobei, so die Befragte, eine umsichtige Vorbereitung auf die veränderte Situation Abhilfe schaffen kann: PT_2: Naja, man muss es vorbereiten, man muss es den Klienten sagen. Manche Klienten lehnen das dann ohnehin ab und machen eine Pause, wenn der Dolmetscher eine Pause macht. 172 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="173"?> M.D.: Deutet das daraufhin, dass der Dolmetscher nicht eine reine Sprachmaschine sein kann, denn sonst wäre es im Grunde genommen egal, wer dolmetscht? PT_2: Ja, das ist wohl zu vermuten, auf der anderen Seite wird natürlich von den Klienten festgestellt, sie wollen, dass ihre Geschichten nicht allzu vielen Leuten bekannt werden. Also, sie wollen den Kreis recht klein halten. Aber tatsächlich ist es viel komplexer für die Klienten. Das sind die Personen ihres Vertrauens, und es ist eine Enttäuschung, wenn wer nicht da ist und wenn für wen etwas Anderes wichtiger ist. Das ist in der psychischen Situation und Struktur der Klienten schon verständlich, dass manche das dann überhaupt nicht wollen. (PT_2) Fazit: Ein DolmetscherInnenwechsel wird von den Befragten überwiegend als negativ und unerwünscht beschrieben, da eine neue Person in der Therapie unter Umständen dazu führen kann, dass bereits besprochene Inhalte von Neuem erklärt werden müssen, und das Vertrauen der KlientInnen im Hinblick auf die Verschwiegenheit in der Therapie auf eine Probe gestellt wird. Zudem kann das plötzliche „Verschwinden“ einer DolmetscherIn, an die man sich gewöhnt hat, als ein (re-)traumatisierender Abschied erlebt werden, oder aber als eine Enttäuschung, da das Fehlen der DolmetscherIn dahingehend (unbe‐ wusst) interpretiert wird, dass etwas anderes nun „wichtiger“ geworden sei. Diesbezüglich kann es hilfreich sein, wenn die PsychotherapeutIn, sofern sie selbst über einen sich abzeichnenden DolmetscherInnenwechsel Bescheid weiß, die Veränderung der Gesprächssituation mit der KlientIn rechtzeitig bespricht, um mögliche negative Auswirkungen abzufedern. Auf der anderen Seite kann eine unbekannte DolmetscherIn auch Räume für Neues aufmachen und eine eingespielte Dynamik in andere Bahnen lenken (helfen). So unterschiedlich die Erfahrungen der Psychotherapeutinnen diesbezüglich auch sind, es lässt sich festhalten, dass ein Dolmetscherwechsel wichtige Erkenntnisse über die Rolle der DolmetscherIn in der Psychotherapie liefern kann, denn gerade durch den Einsatz einer neuen Person wird sichtbar, ob die DolmetscherIn, wie eine Befragte (PT_8) sich ausdrückte, „eine Sprachma‐ schine“ oder „wirklich Teil von der Beziehung“ ist. 7.4 Die DolmetscherIn, Teil eins: Rollenverständnis, „Kulturkompetenz“, Herkunft Nachdem bislang Arbeitstechnisches und Organisatorisches beleuchtet wurde, soll es im folgenden Abschnitt um die Person der DolmetscherIn gehen. Auf Grund der relativ großen Menge an Antworten zum Thema „DolmetscherIn“ 173 7.4 Die DolmetscherIn, Teil eins: Rollenverständnis, „Kulturkompetenz“, Herkunft <?page no="174"?> werden die relevanten Aussagen in zwei Punkte unterteilt: Unter 7.4 geht es um das Rollenverständnis aus Sicht der befragten Psychotherapeutinnen, und im darauf folgenden Punkt 7.5 werden jene Antworten näher beleuchtet, die sich auf die individuellen Voraussetzungen (Fähigkeiten, Eigenschaften, Eignung für den Bereich Psychotherapie) der DolmetscherInnen beziehen. Zunächst geht es um Rolle und Funktion der DolmetscherIn in der Triade. 7.4.1 Rollenverständnis Wie definieren die befragten Psychotherapeutinnen die Rolle der DolmetscherIn in der therapeutischen Arbeit? Die folgenden Antworten zeigen eine Palette an möglichen Modellen und Perspektiven auf das Dreiergeflecht. Diese reichen von der Forderung, sich möglichst zurückzunehmen, bis hin zur Zuschreibung der zentralen Rolle im kommunikativen Prozess. Ja, für mich ist sie einfach die Übermittlerin der Sprache, in erster Linie. Ja, also ohne die es jetzt einfach nicht möglich wäre, da zu arbeiten mit den Leuten. (PT_12) Der Dolmetscher, die Dolmetscherin ist für die sprachliche Kommunikation zwischen Therapeut und Klient verantwortlich. Ohne Dolmetscherin geht es nicht. (…) Die Dol‐ metscherin ist eine Vermittlerin, die sich persönlich sehr sehr zurücknehmen muss. (PT_2) Naja, eigentlich ist er (der Dolmetscher, Anm.M.D.) ja erstmal das Sprachrohr. Das heißt, ohne ihn geht es auf keinen Fall. Er übernimmt eine sehr große Rolle, glaube ich, nämlich in erster Linie mal die sprachliche Nähe zum Klienten, die ich nicht hab. Darüber hinaus ist er wahrscheinlich dann auch so der Vertrauenspunkt am Anfang der Therapie. Also das Vertrauteste in der Therapie, letztendlich, nämlich mit seiner Sprache. Was sich, wie ich inzwischen gemerkt habe, auch immer wieder langsam verändert im Laufe der Therapie, aber ganz am Anfang auf alle Fälle wichtig für den Klienten, dass er jemanden hat, der die gleiche Sprache spricht. (PT_4) Hier wird beschrieben, wie die Rolle der DolmetscherIn bzw. die ihm/ ihr zuge‐ schriebenen Funktionen sich im Laufe der Zeit wandeln und weiterentwickeln können. Gerade am Anfang ist es die gemeinsame Sprache, die Vertrauen zwischen KlientIn und DolmetscherIn stiften kann. Um eine gute therapeutische Basis zu etablieren, ist es jedoch unumgänglich, dass dieses Vertrauen mit der Zeit in Richtung TherapeutIn „wandert“, oder zumindest dieseN miteinschließt. In einer Aussage wird sogar die Unsichtbarkeit der DolmetscherIn eingefordert - wenn auch scherzhaft: 174 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="175"?> Ich denk, sie muss eine Ahnung haben von psychosozialen Prozessen und Arbeitsfeldern. Prinzipiell soll das nichts Fremdes sein, sondern vertraut sein. Sie soll ein bisschen verstehen können, was da vor sich geht. Sie soll sich selber zurücknehmen können, ja, sich selbst unsichtbar machen oder unhörbar machen (lacht).“ (PT_3) Aus der folgenden Antwort wird ersichtlich, dass die befragte Psychothera‐ peutin mit der terminologischen Differenzierung zwischen Übersetzen und Dolmetschen, wie sie im Deutschen üblich ist, nicht vertraut ist, und in ihrer Antwort den Ausdruck „Übersetzerin“ als eine Art Überbegriff zur Sprachmitt‐ lung verwendet („als Verständigungsmöglichkeit auf der verbalen Ebene“). In der Tat kann nicht vorausgesetzt werden, dass PsychotherapeutInnen über Techniken und Nuancen des Übersetzens und Dolmetschens Bescheid wissen, ebenso wenig wie umgekehrt davon auszugehen ist, dass DolmetscherInnen die verschiedenen Schulen und Richtungen der Psychotherapie kennen. Es ist allerdings von Vorteil, wenn VertreterInnen der beiden Berufsgruppen in der Triade es als ihre Aufgabe ansehen, sich über den Beruf des/ der jeweils anderen fortlaufend zu informieren. Als Übersetzer. Und Übersetzerin. Ganz spontan kann ich nur sagen, als Übersetzer und Übersetzerin. Als Verständigungsmöglichkeit auf der verbalen Ebene. Mehr fällt mir dazu nicht ein. Das ist für mich die Rolle des Dolmetschers. Weder als Sprachmaschine, noch als Ko-Therapeut. Also, ich würde nie Dolmetscher als Ko-Therapeuten missbrauchen eigentlich. Und Sprachmaschine eigentlich auch nicht. Nein, die darf also schon auch menschliche Regungen zeigen (lacht). (PT_13) Eine Befragte streicht hervor, dass Sprache zwar nicht die einzige, jedoch die wichtigste Form der Kommunikation in der Psychotherapie ist („Hauptkommu‐ nikationsform“). Daraus leitet sie ab, dass der DolmetscherIn eine „ExpertIn‐ nenrolle“ zukommt. Eine angenehme Ausstrahlung allein ist nicht hinreichend: Ich denke, es geht um die Kommunikation, und die dolmetschende Person ist die, die die Kommunikation erst möglich macht, in der Hauptkommunikationsform, nämlich sprachlich. Und von dem her sehe ich es eigentlich als eine ganz wichtige ExpertInnenrolle, die da einfach notwendig ist, die die Möglichkeit schafft, dass hier überhaupt Kommunikation stattfinden kann, im ausreichenden Rahmen. Nicht nur sich freundlich anlächeln oder so (lacht). Das reicht ja nicht für Therapie. (PT_11) Er ist die zentrale Figur für die Kommunikation. Man sieht auch so viel, es passiert auch nonverbal viel, aber der Dolmetscher ist ganz zentral. Und was ich vorher noch sagen wollte, ich habe irgendwie das Gefühl, ich habe es schon gern, wenn sie auch empathisch wirken, also nicht einfach nur so Sprechmaschinen, die da auf 175 7.4 Die DolmetscherIn, Teil eins: Rollenverständnis, „Kulturkompetenz“, Herkunft <?page no="176"?> der Seite sitzen und nur die Sprache übersetzen. Sondern dass sie auch praktisch zugewandt sind, und irgendwie auch klar ist, dass sie Teil der Gesprächssituation sind. Weil der Klient muss sich ja öffnen, und sich in Wirklichkeit zwei Personen öffnen. (PT_10) Wichtig für eine gute Zusammenarbeit sei es, die Rollen zu klären: Also für mich ist die Dolmetscherin eine Hilfsperson, in dem Sinn, dass ich Sprach‐ mittlung brauche. Und für mich ist es auch wichtig, dass die Rollen zwischen den Dolmetscherinnen und den Therapeutinnen oder Beraterinnen sehr klar geklärt sind, also dass es klar ist, wer wofür Verantwortung hat, und dass die Verantwortung für den Prozess und für die psychologische oder therapeutische Unterstützung ausschließlich bei mir liegt, als Beraterin. Und dass die Dolmetscherin weiß, dass sie ausschließlich die Funktion hat zu dolmetschen, und nicht die Funktion, da sonst etwas im Prozess mitzutragen. Aber was für mich gleichzeitig klar ist, ist, dass eine Person anwesend ist, eine dritte, und es nicht einfach ein Band oder ein Computer ist, der dolmetscht, sondern dass es eine Person ist, und dass das eine Bedeutung hat, dass es eine Person ist, und dass es eine Bedeutung hat, wer es ist, und dass das was ausmacht für den Verlauf von einem Beratungsprozess, wer die Dolmetscherin ist, und wie gut sie sich auf das einstellt, was da ist, wie gut sie da mitschwingt und ob sie etwas anderes mit hineinbringt. Das kann auch immer wieder passieren, das kann einfach passieren. Also insofern ist klar, dass noch eine Person mit ihren Emotionen da ist, eine Person, auf die die Klientin auch Übertragungen haben kann, die auch eine Gegenübertragungsdynamik entwickelt. Also das ist gleichzeitig klar. Und ich denke, das ist gleichzeitig mitzubedenken. (PT_5) Während die Befragte PT_5 einerseits Wert darauf legt, dass die Funktionen und Kompetenzen innerhalb der Triade klar verteilt und abgegrenzt sind (DolmetscherIn als „Hilfsperson“), räumt sie andererseits ein, dass die Dolmet‐ scherIn eine Person ist, die die Fähigkeit und Bereitschaft mitbringen muss, „mitzuschwingen“ im therapeutischen Prozess und die als Person mit ihren Emotionen präsent ist, und damit auch Teil der Übertragungs- und Gegenübert‐ ragungsdynamik wird. DolmetscherIn als Teil des Geflechts von Übertragung und Gegenübertragung ist auch der Ansatzpunkt in der folgenden Antwort, wo explizit auf die Dynamik in der Triade eingegangen wird: Ja, da fällt mir ganz viel ein dazu. Also, ich glaube, dass der Dolmetscher eine ganz wichtige Funktion hat, weil das eine Ausnahmesituation ist, weil der Klient zwei Personen hat in der Therapie und es 176 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="177"?> sehr einladend ist, eine Spaltung vorzunehmen zwischen ihnen beiden und ihnen unterschiedliche Rollen zuzuweisen, den Guten, den Bösen, den Strengen, den Lieben, den Alten, den Jungen, den Schönen, den Schierchen; da gibt es ganz viele Möglichkeiten, und das ist einfach ein ganz normaler Mechanismus, dem jeder Mensch unterliegt, ständig. Und die Aufgabe des Dolmetsch in dieser Situation ist es einfach, dass er sich dessen bewusst ist, und sozusagen sich da nicht verführen lässt, sondern sich einfach bewusst zu sein, was da abläuft, und das nicht seiner eigenen Schönheit, Jungheit, was auch immer, zuzuschreiben, sondern einfach der therapeutischen Situation. (PT_1) Der Hinweis für DolmetscherInnen, sich dessen bewusst zu sein, etwaige Zuschreibungen durch KlientInnen nicht (nur) auf die eigene Person zu beziehen (im Positiven wie im Negativen) ist äußerst aufschlussreich. Daraus lässt sich die Anforderung an die DolmetscherInnen ableiten, zwischen der eigenen Rolle (Funktion als SprachmittlerIn und „Projektionsfläche“/ AkteurIn im Beziehungs‐ geflecht) und dem eigenen Ich (mit angeborenen und erworbenen Merkmalen und Eigenschaften) zu differenzieren. In den nächsten Stellungnahmen zum Rollenverständnis wird der Aspekt des Teamworks hervorgehoben. Dabei geht es zum einen darum, dass die Arbeits‐ beziehung zwischen TherapeutIn und DolmetscherIn tragfähig sein muss, und zum anderen darum, dass auch die KlientIn gewissermaßen Teil des „Teams“ ist: Also, wenn das nicht funktioniert, kann man die ganze Psychotherapie ver‐ gessen. Das ist mal das erste. Das muss auch von der Beziehung zwischen der Therapeutin und der Dolmetscherin wirklich gut passen und im Fluss sein. Wenn es da Span‐ nungen gibt, dann ist das sofort spürbar. Und das beeinträchtigt… also, es müssen Dinge vorher geklärt sein. Die Dolmetscherin hat die meiste Arbeit (lacht), weil sie am meisten reden muss, weil sie am meisten spricht. Aber die Beziehung ist sehr sehr wichtig, zwischen Dolmetscherin und Therapeutin. Und aber, ich glaube nicht, dass es möglich ist, wenn die Klientin der Dolmetscherin total unsympathisch ist. (PT_7) Also, für mich ist es eine Art von Dreierteam. Also Klient, Psychotherapeutin und Dolmetscher sind ein Team und arbeiten zusammen, dass es der Klientin besser geht. Insofern… ja, also ich habe es auch gern, wenn die Dolmetscherin ein bisschen früher kommt und da ist, so dass klar ist, wir sind da und laden die Klientin ein. Ja, was tut sie noch… Also, Übersetzen ist wichtig und diese Rolle als Kulturvermittler ist auch ab und zu mal wichtig, also vielleicht auch in Nachbesprechungen, wenn man die Eindrücke austauscht, Eindrücke, die mir vielleicht… ja, also zusätzlich Eindrücke dazugeben, Dinge, die ich vielleicht nicht so gesehen hab, nicht so wichtig genommen, nicht so 177 7.4 Die DolmetscherIn, Teil eins: Rollenverständnis, „Kulturkompetenz“, Herkunft <?page no="178"?> verstanden hab, also eine Unterstützung in der Wahrnehmung mit speziellen kulturellen Fähigkeiten im Hintergrund. (PT_3) Sprachmaschine stimmt sicher nicht. Ko-Therapeutin stimmt sicher auch nicht, sofern das Setting funktioniert (lacht). Allerdings merke ich einen Unterschied, je länger ich mit jemandem zusammenarbeite, desto mehr wird man mit der Dolmetscherin, dem Dolmetscher, auch ein Team. Also es gibt Unterschiede zwischen neuen Dolmetschern, die sehr konzentriert sind auf die Sprache, und Menschen, die schon länger im Therapiesetting dolmetschen, und sehr viele von den Nuancen mitbekommen und mittragen dann auch. Und diese dritte Person im Raum ist für mich immer ein ganz großes Thema. Also, das heißt, die Präsenz des Dolmetschers, der Dolmetscherin, hat eine Auswirkung, die jenseits von neutral ist, das geht gar nicht, dass es neutral ist, in dem Moment, wo der Mensch da ist. Mit seiner ganzen Ausstrahlung, mit seiner ganzen Persönlichkeit. (PT_8) Eine weitere Aussage befasst sich mit dem Umstand, dass das Dolmetschen die Gesprächssituation entschleunigt und „neutralisiert“. Die Rolle vom Dolmetscher für mich ist, dass… er gibt dem Psychotherapeuten die Zeit, sich den Klienten anzuschauen, in dem Moment, wo er übersetzt, nimmt er auch Zeit raus, also das Tempo. Er nimmt das Tempo raus und gibt Zeit, was ich sehr spannend finde. Und er neutralisiert teilweise. Also neutralisiert im positiven Sinne die Situationen auch. Und gleichzeitig gibt er auch einem anderssprachigen Klienten das Vertrauen, dass verstanden wird, was er sagt. (PT_9) Eine Befragte spricht im Zusammenhang mit der DolmetscherIn explizit von einer „therapeutischen Rolle“, die sich allein schon durch die Anwesenheit der DolmetscherIn als TrägerIn der Sprachkompetenz konstituiert: Also ich glaube, die Dolmetscherin hat garantiert eine therapeutische Rolle. Entweder als Vorbild, weil sie es schon geschafft hat, in einem anderen Kulturkreis Platz zu finden und ihre Identität zu finden. Oder auch als Vorbild im Bezug auf die Sprache. Das ist ja auch von Fall zu Fall verschieden. Aber reine Sprachmaschine ist sicher völlig unmöglich. Weil sie bringt ja ihre Persönlichkeit mit hinein, allein dadurch, wie sie aussieht, wie sie agiert, wie sie sich bewegt, wie sie schaut, was für einen Klang sie in der Stimme hat. (PT_7) Fazit: Die Befragten bringen auf unterschiedliche Weisen zum Ausdruck, dass die DolmetscherIn Trägerin der Sprach- und Dolmetschkompetenz ist, aber darüber hinaus auch als Person anwesend und wahrnehmbar ist. Faktoren wie Stimme, Empathiefähigkeit, Reflexionsvermögen spielen durchaus eine Rolle, ebenso wie die persönliche Bereitschaft der DolmetscherIn, sich auf die Bezie‐ hungsdynamiken und therapeutischen Prozesse einzulassen. Die DolmetscherIn 178 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="179"?> wird u. a. als ExpertIn, MittlerIn, Mitglied des Teams, zentrale Figur in der Kommunikation, Hilfsperson, Vertrauensperson beschrieben, und es ist auch die Rede davon, dass der DolmetscherIn allein durch ihre Präsenz eine therapeuti‐ sche Funktion zukommt. Extrem formulierte Rollenmodelle („Sprachmaschine“ oder „Ko-TherapeutIn“) stießen auf Skepsis bis hin zu Ablehnung. 7.4.2 „Kulturkompetenz“ Der Begriff „Kulturkompetenz“ ist nicht eindeutig definierbar und wurde daher bewusst unter Anführungszeichen gesetzt. Da es sich allerdings um einen in der Praxis häufig verwendeten Begriff handelt, soll er im folgenden Abschnitt als eine Art Hilfsbegriff benützt werden, um all das zu bezeichnen, was die befragten Psychotherapeutinnen darüber berichten, inwiefern sie Hintergrund‐ informationen und Kommentare von DolmetscherInnen erwarten oder aber die Weitergabe solcher Inhalte als eine störende Einmischung empfinden. Diesem Abschnitt sei die Feststellung vorausgeschickt, dass die Idee von „Kulturkompetenz“ eher einem Wunschdenken nach Expertise entspringt (und der damit verbundenen vermeintlichen Gewissheit bei der Interpretation und Reaktion auf Unverständliches), als den realen Möglichkeiten irgendeiner Person, in einer Kultur verdienterweise als „kompetent“ bezeichnet zu werden. Unbestritten ist jedoch, dass Sprachkenntnisse es einer DolmetscherIn ermög‐ lichen, sich über die Realien in einem Land zu informieren und sich Zugang zu relevanten Informationen zu verschaffen, wodurch mit großer Wahrscheinlich‐ keit davon auszugehen ist, dass eine DolmetscherIn im Hinblick auf politische, historische und kulturelle Realien der Herkunftsländer von KlientInnen über einen Wissensvorsprung gegenüber der PsychotherapeutIn verfügt. Damit allein ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, ob bzw. auf welche Weise es im Rahmen der gemeinsamen psychotherapeutischen Arbeit sinnvoll ist, diese „Kulturkompetenz“ der PsychotherapeutIn zur Verfügung zu stellen oder zum Thema zu machen. Einige befragte Psychotherapeutinnen berichteten, dass sie einen bewusst vorsichtigen Umgang mit dem „Expertenwissen“ der DolmetscherIn pflegen. Auf die Frage, ob sie sich von der DolmetscherIn Hintergrundinformationen erwarte, antwortete PT_11 folgendermaßen: Nicht per se. Eher in speziellen Fragen. Zum Beispiel ist es um einen afghanischen Warlord gegangen in der Therapie, da war ich dann sehr wohl dankbar, nachfragen zu können, wer denn das jetzt ist, weil ich das nicht einordnen konnte. Ja, also, das war eine ganz spezifische Situation, die sich da ergeben hat, und wo es sehr günstig war dass ich Expertenwissen von der Dolmetscherin über die Sprache hinaus gekriegt hab. Per 179 7.4 Die DolmetscherIn, Teil eins: Rollenverständnis, „Kulturkompetenz“, Herkunft <?page no="180"?> se will ich keine Einführung von den Dolmetschern haben. Aber manchmal sind es so Sachen… Ich habe gerade vorher, also es ist um Öffnungszeiten einer Asylstelle gegangen, die die Dolmetscherin wusste und ich nicht, also das kann kulturbezogen sein, es kann aber auch sein, dass einfach zwei Menschen mehr wissen als einer. (PT_11) Erwarten kann ich das natürlich nicht. Aber wenn Kenntnisse über den Kulturkreis vorhanden sind, dann bin ich sehr froh darüber. (PT_2) Also erwarten tu ich es nicht, freue mich aber, wenn ich Hintergrundinformationen über das Land kriege, eventuell auch über die Kultur des Landes, aber es ist nicht etwas, das ich unbedingt erwarte. (PT_4) Eine andere Befragte spricht explizit von „unerwünschter Einmischung“ und der Gefahr einer „Reproduktion von Klischees“. Sie möchte auf das vorhandene Wissen der DolmetscherInnen dennoch nicht verzichten, ist aber auf einen kritischen und umsichtigen Umgang damit bedacht, wohlwissend, dass eine sogenannte Kultur kein homogenes Gebilde sein kann, sondern ein Sammelsu‐ rium unzähliger Elemente und Dynamiken darstellt: Ja, das kann eine unerwünschte Einmischung sein. Das kann eine unerwünschte Einmischung sein. Oder eine Reproduktion von Klischees, wobei wir reproduzieren natürlich auch Klischees, auch der Dolmetscher, aber das muss man natürlich miteinbe‐ rechnen, wenn man solche Informationen verwertet. Also, ich nütze es schon, das muss ich jetzt ehrlich gestehen. Gerade bei den Kurdisch- und Türkischdolmetscherinnen nütze ich die Informationen schon, aber ich nutze sie vor dem breiten Hintergrund anderer Informationen, die ich mir selber noch dazu hole. Damit ich diese Information, die mir die Dolmetscherin gibt, auch einordnen kann. Weil ich muss deren Hintergrund auch miteinberechnen. Sonst ist es nicht möglich, die Information eins zu eins zu verarbeiten. Kulturdolmetschen, das ist eine heikle Geschichte. Weil allein, wenn man die Türkei hernimmt, das sind hunderte Kulturen. Genauso in Österreich, eine Tiroler Kultur, eine Wiener Kultur, und Zillertal mit Reutte zu vergleichen, da ist es dann schon soweit. Also, da verlasse ich mich… also die Kulturgeschichte, das ist noch nicht ganz ausgegoren, wie das… (PT_7) Mit dem Begriff „Kulturdolmetschen“ kann auch die Befragte PT_5 wenig anfangen, obwohl sie es schätzt, wenn ihre DolmetscherInnen sie an ihrem Wissen teilhaben lassen: Und was ich manchmal auch ganz gern mag, ist, wenn mir Dolmetscherin auch etwas sagen, nachher, nach der Beratung, was sie wie empfunden haben. Oder nicht unbedingt empfunden, aber was sie mit ihrem Hintergrundwissen, wie sie das einordnen. Jetzt ein Beispiel, eine albanische Dolmetscherin hat mir vor kurzem etwas erzählt über 180 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="181"?> die Bedeutung von Träumen. Wie sie das gelernt hat in Albanien. Und das war für mich ganz hilfreich, dass sie mir das gesagt hat. Ich habe aber gleichzeitig nicht die Erwartung und nicht den Anspruch an die Dolmetscherinnen, dass sie Kulturdolmetscherinnen sind, aber wenn sie mir aus ihrem Hintergrund Wissen zur Verfügung stellen wollen und ich dann sondieren kann, ob ich das gebrauchen kann oder nicht, ob das hilfreich ist oder nicht, dann finde ich das auch angenehm. (PT_5) In der nächsten Aussage wird ebenfalls der Begriff „Kulturdolmetschen“ aufge‐ griffen, allerdings negativ definiert: Implizit postuliert die Befragte, dass es nicht Aufgabe von DolmetscherInnen ist, in die Gesprächsführung einzugreifen, auch dann nicht, wenn eine DolmetscherIn kulturelle Codes verletzt oder missachtet sieht. Es hat Dolmetscher gegeben, die gemeint haben, sie müssen mir sagen, was ich fragen darf, und das verstehe ich nicht unter Kulturdolmetschen. Es gibt Dolmetscher, die mir erklären, was sie erlebt haben an Bräuchen, Sitten, üblichen Redewendungen, und das ist für mich ganz sinnvoll. Am liebsten frage ich die Leute selber, weil es schon auch um den Dialog zwischen mir und dem Klienten geht, das heißt, die Leute können mir ja selber erklären, wo die Unterschiede zwischen unseren Mentalitäten sind. (PT_8) Auch die nächste Befragte zieht es vor, sich in erster Linie selbst bei den KlientInnen über kulturelle Aspekte zu erkundigen, und erwartet a priori keine Hintergrundinformationen von der DolmetscherIn: Naja, eigentlich nur, wenn es passt. Weil, ich meine, das Kulturelle ist ja sozusagen mein Spezialgebiet, das hat jetzt etwas mit mir zu tun, da kenne ich mich einfach auch gut aus. Und ich frage nach dem Kulturellen selber sehr viel, da brauche ich nicht unbedingt jetzt Informationen von der Dolmetscherin. Aber manchmal ist es so, dass einer Dolmetscherin etwas auffällt. Und dann bin ich dankbar dafür, wenn ich die Information bekomme. Also Sachen, die ich nicht wissen kann, oder wonach ich auch nicht auf die Idee komme zu fragen. Ja, das habe ich zwei, drei Mal erlebt, dass eine Dolmetscherin gesagt hat, also vor allem bei den Russisch-Dolmetscherinnen, im Russischen ist das so oder so, oder irgendwelche Informationen über Organisationen oder so, die erwähnt worden sind im Gespräch. Eher so was. Also, wenn einer Dolmetscherin etwas einfällt, ob das jetzt kulturell oder sprachlich oder sonst irgendwie, was sie mir gern sagen möchte, dann bin ich dankbar dafür. Aber ich frag jetzt nicht extra danach. (PT_13) Nur eine Befragte ergreift selbst die Initiative und richtet ihre Fragen an die Dol‐ metscherInnen, die aus demselben „Kulturkreis“ kommen wie die KlientInnen: 181 7.4 Die DolmetscherIn, Teil eins: Rollenverständnis, „Kulturkompetenz“, Herkunft <?page no="182"?> Aber natürlich, bei den Dolmetschern, die aus dem entsprechenden Kulturkreis kommen, finde ich das schon auch bereichernd, immer wieder nachfragen zu können, bei bestimmten Situationen, die mir fremd vorkommen, oder eben aufmerksam gemacht zu werden drauf. (PT_12) Eine befragte Psychotherapeutin betont, dass sie darauf angewiesen ist, von der Dolmetscherin Rückmeldungen über die Übersetzbarkeit bzw. die Nichtüber‐ setzbarkeit von Begriffen zu erhalten, sich also über die sprachliche Ebene auszutauschen. Was sie jedoch bewusst vermeidet ist, Erkundigungen über „Land und Leute“ einzuholen: Für mich ist sie insofern hilfreich… also ich würde sie nie über Land und Leute ausfragen, weil ich so was sowieso blöd find. Da sollte ich eher sonst probieren, mich gut kundig zu machen. Was ich aber schon sehr brauche, ist die Rückmeldung, dass bestimmte Begriffe nicht übersetzbar sind in einer Sprache. Und da bin ich absolut angewiesen auf die Dolmetscherin, den Dolmetscher, weil ich das nicht weiß. Ich geh ja davon aus, dass jeder Begriff, den ich im Deutschen irgendwie ausformulieren kann, dass es den einfach in jeder anderen Sprache auch gibt. Natürlich weiß ich, dass Übersetzung nicht Übersetzung ist, weiß ich alles, aber trotzdem. Und da ist es natürlich sehr hilfreich. Oder wenn ich zum Beispiel mitkriege, bestimmte Wörter würden sozusagen Trigger-Wörter sein, in einer bestimmten Kultur. Das ist hilfreich. Wobei ich mich nicht davon abhalten würde, sie zu verwenden. Aber die Information sozusagen, die Information würde ich hilfreich finden. (PT_6) Fazit: Die befragten Psychotherapeutinnen sind sich dessen bewusst, dass ihre DolmetscherInnen über „Expertenwissen“ verfügen, also, verkürzt ausgedrückt, mit der „Kultur“ der KlientInnen besser vertraut sind als sie selbst. Dennoch geht aus ihren Antworten hervor, dass sie überwiegend bewusst darauf achten, den/ die KlientIn als HauptinformantIn über seine/ ihre Herkunftskultur auf‐ treten und agieren zu lassen, um etwaige Verzerrungen (Stichwort: Klischees) durch die DolmetscherIn nicht aufkommen zu lassen. Diese vorsichtige Heran‐ gehensweise ist wohl unter anderem darauf zurückzuführen, dass es in der Psychotherapie nicht um die faktische Wahrheitsfindung geht (wie etwa bei der Polizei oder vor Gericht), sondern um die individuelle Sicht auf die Dinge, also um die individuelle „Wahrheit“ der KlientIn. Relevant ist also nicht (so sehr), wie es in der Herkunftskultur wirklich aussieht, sondern wie die einzelne KlientIn sich selbst in seiner/ ihrer Kultur verortet. Aus den Antworten lässt sich der Schluss ziehen, dass die Psychotherapeutinnen zwar dankbar sind, wenn DolmetscherInnen ihre Hilfe in Form von Wissen und Expertise anbieten, dass sie es aber zugleich für notwendig erachten, dieses Hilfsangebot „mit Vorsicht zu genießen“, um den spezifischen (und exklusiven) therapeutischen Rahmen 182 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="183"?> zu schützen, in welchem die Kategorien von (faktisch) „richtig“ und (faktisch) „falsch“ wenn nicht außer Kraft gesetzt sind, so doch auf eine andere, flexiblere Weise gehandhabt werden, als dies außerhalb der Therapie der Fall ist. Eine anderer, spekulativer Interpretationsansatz könnte etwaige Konkur‐ renzängste der Psychotherapeutinnen ins Treffen führen (siehe dazu auch 7.7.1): Da KlientIn und DolmetscherIn ohnehin eine gemeinsame Sprache haben, die der PsychotherapeutIn fremd ist, wodurch sie gewissermaßen kom‐ munikativ ausgeschlossen ist, ist die TherapeutIn von vornherein gezwungen, einen Extra-Aufwand zu betreiben, um neben der sprachlich etablierten Achse KlientIn-DolmetscherIn die Aufmerksamkeit der KlientIn auf sich zu ziehen und sein/ ihr Vertrauen zu gewinnen; vor diesem Hintergrund mag es als eine zusätzliche Erschwernis anmuten, der DolmetscherIn auch noch die Rolle der „KulturexpertIn“ zu überlassen, bzw. sie darin zu ermutigen, eine solche Rolle für sich zu beanspruchen. Eine große kulturelle Nähe zwischen KlientIn und DolmetscherIn kann unter Umständen die Schwierigkeit mit sich bringen, dass die Verschwiegenheit der DolmetscherIn seitens der KlientIn nicht als garantiert angenommen wird, ganz gleich, ob diese Befürchtung durch reale Vorkommnisse begründet ist oder nicht. In solchen Fällen kann es hilfreich sein, wenn die PsychotherapeutIn verstärkt auf die Verschwiegenheitspflicht der DolmetscherIn hinweist. 7.4.3 Herkunft der DolmetscherIn Zwischen der „Kulturkompetenz“ und der Herkunft kann ein Zusammenhang bestehen, insofern, als es naheliegend ist anzunehmen, dass ein Mensch über solides Wissen verfügt über ein Land oder über eine Gegend, in der er aufge‐ wachsen ist oder zu der er familiäre Beziehungen pflegt. Wie bereits unter 7.4.2 thematisiert wurde, sind solche Annahmen mitunter nur scheinbar naheliegend (und also zutreffend oder auch nicht), aber Faktum ist, dass die Herkunft der DolmetscherIn direkte und/ oder indirekte Auswirkungen auf die Konstellation und die Dynamiken in der Triade hat. Im Folgenden äußern sich einige Befragte zu der Frage, was es aus ihrer Sicht bedeutet, wenn die Herkunft der DolmetscherIn und der KlientIn geogra‐ phisch oder „kulturell“ als übereinstimmend erlebt wird - Diese umständliche, vorsichtige Formulierung stellt den Versuch dar, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass selbst dann, wenn Menschen aus derselben Stadt oder aus dem‐ selben Ort kommen, sie nicht unbedingt eine gemeinsame Realität teilen, weil Klasse, Umfeld, Familie, Religionsbekenntnis/ Atheismus, Bildung, Talent und 183 7.4 Die DolmetscherIn, Teil eins: Rollenverständnis, „Kulturkompetenz“, Herkunft <?page no="184"?> zahlreiche andere Faktoren das individuelle (Er)Leben oft stärker prägen als eine fälschlicherweise allumfassend angenommene gemeinsame Kultur. Es ist ein Unterschied, und ich glaub, den kann man auch generalisieren. Also, es macht einen Unterschied, ob Dolmetscher und Klient aus demselben Land kommen. Ich überleg grad, ob ich mal eine Dolmetscherin gehabt hab, die aus dem Herkunftsland des Klienten gekommen ist und eine professionelle Dolmetscherin war… ich glaub nicht. Also, jetzt rein spontan hätte ich gesagt, ich arbeite lieber mit einer Dolmetscherin, die einfach professionelle Dolmetscherin ist und beide Sprachen gut kann. Und mir ist es lieber, wenn sie nicht im selben Land sozialisiert ist wie die Klientin. Sie muss nicht Österreicherin sein, aber wenn sie nicht sozusagen aus demselben kulturellen Soziotop kommend identifiziert werden kann. Vielleicht ist es so am besten. So am besten ausgedrückt. (PT_13) In dieser Aussage wird implizit der Faktor der Professionalität (bzw. des Laien‐ dolmetschens) mit dem Thema Herkunft verknüpft. Für Sprachen, für die keine professionell ausgebildeten DolmetscherInnen zur Verfügung stehen, muss auf LaiendolmetscherInnen zurückgegriffen werden, bei denen es sich nicht selten (aber nicht zwingend) um Landsleute handelt. Eine solche Nähe, die sich aus einer Sozialisierung in „demselben kulturellen Soziotop“ ergibt, hält die Befragte für schwierig, von vornherein. Das Problem, dass für manche Sprachen keine ausgebildeten DolmetscherInnen zur Verfügung stehen, wird auch in der nächsten Aussage thematisiert: Na, prinzipiell ist es eher nicht so gut, wenn die Leute aus demselben Land kommen, weil die Leute haben alle politische Probleme, die zu uns kommen, und waren verfolgt, und es ist einfach den Leuten unheimlich, wenn jemand auch aus der Heimat kommt; und wenn man sagen kann, dass das ein Österreicher ist, der die Sprache gelernt hat, sind sie durchwegs erleichtert, und sind sehr geschmeichelt, dass ein Österreicher die Sprache so toll gelernt hat. Aber im Prinzip ist es egal, wir sind glücklich, wenn wir überhaupt einen Dolmetscher finden. (PT_1) Wie im letzten Satz klar zum Ausdruck gebracht wird, geht es bei der Auswahl der DolmetscherIn mitunter weniger um Überlegungen hinsichtlich der Kom‐ patibilität in der Triade, als vielmehr um die Disponibilität von Personen, die überhaupt bereit sind, ihre Dienstleistungen im gegebenen Rahmen zum gege‐ benen Zeitpunkt zur Verfügung zu stellen. Diese Realität, mit der ein chronisch unterfinanziertes Feld wie der Flüchtlingsbereich häufig zu kämpfen hat, gilt es, stets im Auge zu behalten. Häufig müssen alle anderen Einwände und/ oder Wünsche hintangestellt werden, wenn die Verfügbarkeit der DolmetscherInnen schlicht nicht gegeben ist. 184 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="185"?> 7.4.3.1 „Feindlicher Kulturkreis“ Eine andere Befragte sieht eine Konstellation, in der DolmetscherIn und KlientIn möglicherweise Ähnliches im Krieg erlebt haben, ebenfalls als problembehaftet an, und zwar für alle Beteiligten: PT_2: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Für mich ist das wahrscheinlich nicht so relevant wie für die Klienten selber. Für die Klientinnen selber ist es oft ein Problem, wenn die Dolmetscherin selbst aus demselben Kulturkreis kommt und womöglich Ähnliches oder vermutlich Ähnliches erlebt hat. Für die Klienten kann es auch ein Problem sein, wenn die Dolmetscher aus einem feindlichen Kulturkreis kommen, auch das muss geklärt werden häufig zu Beginn einer Therapie, oder zu Beginn einer Therapiestunde. M.D.: Kann es auch Vorteile haben, wenn die Dolmetscher aus demselben Kulturkreis stammen? Oder ist das gerade bei Bürgerkriegsländern nur ein Nachteil? Oder ist das auch wieder von Fall zu Fall anders? PT_2: Also, das ist nicht mit Ja oder Nein zu beantworten. Wenn jemand, wenn eine Dolmetscherin sehr belastet ist durch den gleichen Bürgerkrieg, dann ist es eine wahrscheinlich unzumutbare Situation, wenn sie für den anderen übersetzt, für alle unzumutbar, da muss man schon sehr aufpassen. Wenn eine Dolmet‐ scherin selbst eine Therapie gemacht hat in so einem Fall, ist es natürlich anders. Die Befragte spricht explizit von einem „feindlichen Kulturkreis“, und es lohnt sich, einen genaueren Blick auf diese Aussage zu werfen. Auch wenn es, platt ausgedrückt, gut gemeint sein mag, VertreterInnen „verfeindeter“ Nationen im Rahmen einer Psychotherapie auseinanderhalten zu wollen, um mögliche Kränkungen oder retraumatisierende Gedanken bei der KlientIn zu vermeiden, ist andererseits ein solcher Ansatz auch zu hinterfragen: Die „Feindschaft“ zwischen Volksgruppen als ein gegebenes Faktum hinzunehmen bedeutet auch, nationalistische Ressentiments und die sich daraus ableitende Kriegslogik anzuerkennen. Wenn selbst im Aufnahmeland, also auf vermeintlich neutralem Boden, das Verhältnis zwischen zwei Volksgruppen als Feindschaft angenommen wird, dann ist das ein symbolischer Sieg für KriegshetzerInnen, deren Weltbild sich somit als gültig etablieren konnte. Es ist eine feine Gratwanderung zwischen dem Impuls, die KlientIn in der Therapie vor negativen Einflüssen und Assoziationen schützen zu wollen, und der unreflektierten Übernahme und Fortführung stereotyper, nationalisti‐ scher Zuschreibungen. Wie bereits unter 6.1.2.3 ausgeführt wurde, genießt das Wohlbefinden der KlientIn in der Therapie oberste Priorität, und es gilt, nach Möglichkeiten den Wünschen der KlientIn zu entsprechen, denn für ein 185 7.4 Die DolmetscherIn, Teil eins: Rollenverständnis, „Kulturkompetenz“, Herkunft <?page no="186"?> funktionierendes, vertrauensvolles Miteinander in der Triade ist nicht die Volks‐ gruppenzugehörigkeit als ein objektiv feststellbarer, unveränderlicher Indikator entscheidend, sondern die Weltanschauung; diese stellt eine fluide Größe dar und ist sicherlich bei allen Menschen sicherlich auch von Stereotypen und Animositäten geprägt, die gerade im Rahmen einer Therapie auch hinterfragt und dekonstruiert werden können, anstatt dass sie bestätigt, einzementiert und perpetuiert werden. Der zweite Punkt, den die Befragte anspricht, betrifft die Belastbarkeits‐ grenzen der DolmetscherIn, die selbst durch einen Bürgerkrieg traumatisiert wurde und im Rahmen ihrer sprachmittlerischen Tätigkeit mit der Thematik intensiv konfrontiert wird, ohne dass ihre eigenen Anliegen zur Sprachen kommen können. Die befragte Therapeutin ist der Meinung, dass es in solchen Fällen hilfreich sein kann, wenn die DolmetscherIn sich selbst ebenfalls in Therapie begibt. 7.4.3.2 „Enger Kulturkreis“ Abschließend sei noch auf eine spezifische, problembehaftete Konstellation hingewiesen, wenn nämlich DolmetscherIn und KlientIn aus dem gleichen „engen“ Kulturkreis kommen. Mit „eng“ ist hier gemeint, dass innerhalb einer ethnischen Gruppe im Aufnahmeland rege Verbindungen bestehen, wodurch die Verschwiegenheit der DolmetscherIn seitens der KlientIn möglicherweise a priori in Zweifel gezogen wird. Schwierig. Ich würde das als schwierig einstufen. Und zwar deshalb, weil die Tschetschenischdolmetscher eben nicht professionell sind. Das sind sie einfach nicht. Können es auch nicht sein. Ich meine, es ist natürlich, für die Klientin ist es leichter. Manchmal geht es auch nicht anders. Ich habe eine Klientin gehabt, die hat kein Russisch können, konnte nur Tschetschenisch, ist nicht anders gegangen. Aber ich empfinde es als problematisch. (PT_13) Im weiteren Gesprächsverlauf ging es darum, dass von zahlreichen tschetsche‐ nischen KlientInnen die Sorge geäußert wird, mit tschetschenischen Dolmet‐ scherInnen zu arbeiten, aus Angst, heikle Informationen könnten sich herum‐ sprechen. Diese Angst - ob berechtigt oder nicht - ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen und wurde unter 7.1.3 bereits aus Sicht der KlientInnen thema‐ tisiert: Zum einen kennen sich AsylwerberInnen untereinander, wodurch eine starke soziale Kontrolle ausgeübt wird, zum anderen geht es in Therapien (so wie im Asylverfahren an sich, also bei der Darstellung der Fluchtgründe) vielfach um Erfahrungen von sexueller Gewalt, was für die betroffenen Frauen im Kontext ihrer Landsleute mit Scham oder sogar mit Schuldgefühlen behaftet sein kann. 186 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="187"?> Zu bedenken ist ebenfalls der Umstand, dass Tschetschenisch-Dolmetsche‐ rInnen in der Regel eigene traumatische Kriegs- und Fluchterfahrungen mit‐ bringen: Mein Problem mit den tschetschenischen Dolmetschern ist, dass sie zum Ko-Klienten werden, weil sie auch so traumatisiert sind. (PT_13) In der folgenden Antwort wird eine spezifische Situation geschildert, in der kein Tschetschenisch-Deutsch-Dolmetscher gefunden werden konnte, sondern mit Russisch als Relais-Sprache gearbeitet wurde. Problematisch war in diesem Fall vor allem das Geschlecht des Dolmetschers - es war ein Mann. Einmal haben wir mit zwei Dolmetschern gearbeitet, eben bei dieser Frau. Also, Russisch-Deutsch und Russisch-Tschetschenisch. Das ist ein Wahnsinn gewesen (lacht). Es war so, es war diese Frau, eine relativ junge Frau, die nur Tschetschenisch konnte, und der Dolmetscher, ein Russisch-Tschetschenisch-Dolmetscher, war ein irrsinnig guter Dolmetscher, ein Tschetschene. Der hat irrsinnig gut übersetzt. Und dann war eben eine Dolmetscherin, eine Profi-Dolmetscherin für Russisch-Deutsch. Und das hat an und für sich, also vom Sprachlichen her, super hingehaut. Nur dass der Dolmetscher ein Mann war, und wir drei Frauen waren, das war eine Katastrophe (lacht). Und die Klientin auch eine Frau war. Wenn die Klientin ein Mann gewesen wäre, ja, wäre es auch schwierig gewesen. Also, das war so spürbar, dass das schwierig ist. (PT_13) Der Problematik des mangelnden Vertrauens tschetschenischer KlientInnen ge‐ genüber eigenen Landsleuten versucht die befragte Therapeutin beizukommen, indem sie diese Angst offen anspricht, zumal sie selbst als türkischsprachige Therapeutin mit einem ähnlichen Generalverdacht konfrontiert ist: Aber was ich eigentlich sagen wollte, ist, ich mein, was wird da herumgeredet, das kenne ich auch von meinen türkischen Klienten. Es kommen viele türkischspra‐ chige Klienten zu mir, weil ich Österreicherin bin, die Türkisch kann, österreichische Therapeutin bin, die Türkisch kann. Eben mit diesem Argument, na wer weiß, was eine türkischsprachige Therapeutin, die es in dem Fall gibt in Wien, dann weiterer‐ zählt. Und aus dem Grund bin ich auch draufgekommen, das bei den tschetschenischen Klienten auch zu thematisieren. Und ich glaub, das kann man auch thematisieren. Von vornherein zu sagen, dass die Dolmetscherin von dem, was hier gesprochen wird, nichts hinaustragen darf, dass sie unter absoluter Verschwiegenheit steht. Das heißt, da wird nichts gemauschelt und gemunkelt und getratscht. Also, das habe ich oft thematisiert. Und ich glaube, dass das bei den tschetschenischen Übersetzungen nicht wirklich das Problem war. Also, in meinen Fällen. 187 7.4 Die DolmetscherIn, Teil eins: Rollenverständnis, „Kulturkompetenz“, Herkunft <?page no="188"?> In der folgenden Aussage beschreibt eine Befragte die Unterschiede zwischen DolmetscherInnen, die zugleich Landsleute der KlientInnen sind, und jenen, wo das nicht der Fall ist: PT_6: Die Unterschiede manifestieren sich so, dass die, wie soll man sagen, dass nicht nur über die Sprache sozusagen diese Brücke zur Klientin erbaut wird, die ja immer gebaut wird, das ist ja gut so, sonst könnte man gar nicht arbeiten, das ist ja toll, sondern dass sozusagen implizit auch eine Kulturbrücke gebaut wird. Wir sind gleich. Nicht wir sprechen die gleiche Sprache, und deshalb können wir uns gut verstehen, und deshalb haben wir die Vorstellung, wir verstehen uns noch besser als gut… Da überlagert sich ein „wir verstehen uns sowieso, ohne dass wir sprechen müssen“. M.D.: So quasi, wir sitzen im gleichen Boot, oder? PT_6: Genau. Und da kommt es, oder da kann es oft zu Loyalitätsfragen kommen, eben Allianzen, die für die Dolmetscherin und für die Klientin schwer aufzulösen sind, und für die Therapeutin nicht verstehbar. Weil die zwei tun irgendetwas, was nicht der Kommunikation bedarf, und die Therapeutin und der Therapeut ist dann aufgschmissen. (…) Das hat auch Vorteile, es hat auch viele Vorteile, gerade eben, was diese Kulturvermittlung anlangt, oder auch das Vertrauen der Klientin kann gut sein, kann aber auch gestört sein, weil man zu viel weiß, das gibt es auch. Aber dann muss man, glaube ich, besser darauf achten. Da ist mehr zu überlegen, wenn es auch noch diesen Kulturhintergrund gibt. Oder Fluchthintergrund, dann ist es noch einmal komplizierter, also dann ist es überhaupt ganz kompliziert, also wenn man nicht nur aus demselben Kulturkreis kommt und in dem lange gelebt hat, sondern zusätzlich noch eine ähnliche Geschichte mitbringt. Dann ist das die dritte Übereinkunft, die Sprache, die Kultur, und dieselbe Historie, und dann, also dann muss man wirklich, glaube ich, ganz viel sprechen, damit das gut wird. (PT_6) Die kulturelle und erfahrungsbedingte Nähe wird hier aus der Sicht der be‐ fragten Psychotherapeutin als potenziell bedrohlich erlebt, als ein Ausschlie‐ ßungsfaktor aus der Sicht der „Dritten“, die in diesem Fall die Psychotherapeutin ist, die weitgehend auf die Brückenfunktion der Sprache angewiesen ist. Auch wenn die Befragte davon spricht, dass es auch Vorteile gäbe, so wird die „Übereinkunft“ zwischen KlientIn und DolmetscherIn doch überwiegend als negativ erlebt. An dieser Stelle ist ein Hinweis auf Punkt 7.7.1 angebracht, in dem das Thema Konkurrenz in der Triade näher beleuchtet wird. 188 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="189"?> 7.5 Die DolmetscherIn, Teil zwei: Voraussetzungen, Eigenschaften, Belastung Im vorliegenden Abschnitt geht es um die individuelle Eignung der Dolmetsche‐ rInnen für den Bereich Psychotherapie, aus der Sicht der befragten Psychothe‐ rapeutinnen. Eine Befragte führt ins Treffen, dass die DolmetscherIn den Glauben an die positive Wirkung der Therapie mittragen muss, denn ohne diese grundsätzlich bejahende Einstellung sei das therapeutische Arbeiten nicht möglich. Wichtig sei außerdem, sich der Vielfalt innerhalb der unterschiedlichen therapeutischen Schulen bewusst zu sein und die Bereitschaft mitzubringen, sich dahingehend weiterzubilden: Also, wenn der (Dolmetscher) der Meinung ist, Therapie ist sowieso sinnlos, dann ist es unmöglich, das zu machen. Er muss eine hohe sprachliche Kompetenz in beiden Sprachen haben. Und er muss auch die Bereitschaft haben, sich weiterzubilden, weil in der therapeutischen Sprache gibt es von Therapeut zu Therapeut sehr viele Unterschiede. Ich denke nur gerade an die hypnotherapeutische Sprache, oder eben, wie Sprache in der Analyse verwendet wird, es gibt so unterschiedliche Dinge, in die man sich ein Stück weit einarbeiten muss. Und der Dolmetscher muss sich einlassen in dieses Feld und sich auch Begriffe erarbeiten. So Begrifflichkeiten. Das merk ich schon, zum Beispiel, was ist Unbewusstes, Unbewusstes ist in verschiedenen Therapieformen etwas Unterschiedliches, wie vermittle ich das dann. Oder in der hypnotherapeutischen Arbeit ist es so, die positive Formulierung. Es ist sehr sehr wichtig, dass man positive Formulierungen verwendet, und nicht Verneinungen. Zum Beispiel. Man muss sich also auf diese therapeutische Sprache sehr einlassen. Auch im Klangbild und in der Lautstärke. Man muss nicht die Emotion, die die Therapeutin vermittelt, direkt nachspielen. Aber wenn man in einen Trance-Zustand geht, oder in eine Entspannung, dann muss man nicht nur die Lautstärke drosseln, sondern das kriegt dann auch so einen suggestiven Ton. Den muss man mittragen. Das ist sehr sehr heikel. Deswegen sind manche Methoden auch nicht so leicht anzuwenden. (PT_7) 7.5.1 Abgrenzung: Gratwanderung zwischen Empathie und Distanzierung Von „Abgrenzung“ ist im Asylbereich häufig die Rede. Das ist nicht weiter verwunderlich, angesichts des Umstandes, dass das Arbeiten in einem Umfeld, in dem schwierige, z.T. schockierende Inhalte verhandelt werden, und wo es gilt, Menschen in prekären Lebensumständen und/ oder in Krisensituationen zu be‐ 189 7.5 Die DolmetscherIn, Teil zwei: Voraussetzungen, Eigenschaften, Belastung <?page no="190"?> gleiten, eine Sogwirkung entfalten kann. DolmetscherInnen sind den Emotionen der KlientInnen in besonderer Weise ausgesetzt, weil sie die Erzählungen der KlientInnen aus erster Hand verstehen und sich mit dem Gesagten zumindest auf der sprachlichen Ebene intensiv auseinandersetzen müssen. In der folgenden Aussage wird darauf eingegangen, was es bedeutet, auf einer individuellen, menschlichen Ebene mit den Traumatisierungen der KlientInnen, aber zugleich auch mit den eigenen Schwachpunkten konfrontiert zu sein, und zwar in dem spezifischen intimen Raum der Psychotherapie, in dem der Fokus gerade auf diese Traumatisierungen gelegt wird. Also ich halte es für sehr schwierig, wenn die Menschen selbst Traumatisie‐ rungen in ähnlicher Form erlitten haben. Weil ich glaube, dass man da sehr empfänglich ist, wenn man so viel hört, was man selbst in ähnlicher Form erlitten hat. Also, da würde ich sagen, das geht nur dann, wenn es gute Vorgespräche gegeben hat, wenn es da schon eigene Therapieerfahrungen gegeben hat. Also ich halte es nicht für unmöglich, aber ich halte es für etwas, was dann auch unbedingt thematisiert gehört, und zwar ständig, weil eben, wir haben alle unsere Schwachpunkte, wo es anklingen kann, in der Therapie, und natürlich, wenn ich von vornherein weiß, der hat eine ähnliche Fluchtgeschichte, dann sind diese Punkte, die getroffen werden können, ja schon von vornherein viel sichtbarer. Also das halte ich für problematisch. (PT_11) Die befragte Therapeutin weist auf die schlechte Entlohnung der Dolmetsche‐ rInnen hin, angesichts derer es unrealistisch wäre, allzu strenge Forderungen an die DolmetscherInnen zu stellen, etwa im Hinblick auf Fortbildungen oder eigene therapeutische Erfahrungen. Dennoch müssen sich DolmetscherInnen an die strengen Regeln im therapeutischen Arbeiten halten oder aber auf andere, verwandte Kontexte ausweichen: Grundsätzlich gehört, glaub ich, ein großes Sozialengagement dazu, wo es aber an‐ gesichts unserer Honorare eh so ist (lacht), das ist schon einmal da vorgegeben, aber da muss es klar sein, dass man sich mit diesen Regeln gut identifizieren kann, die wir hier einfach vorgeben. Also ich denke, dass manche wirklich besser aufgehoben sind damit, bei der Caritas zu dolmetschen, wo sie sich vielleicht auch sozialarbeiterisch engagieren können, als bei uns, wo doch relativ rigide Regeln sind. DolmetscherInnen in der Psychotherapie müssen belastbar sein und gegebenen‐ falls damit umgehen können, unangenehme Dinge über ihr eigenes Heimatland in der eigenen Muttersprache zu hören: Ich denk, es wäre gut, ein gewisses Vorwissen, grundsätzlich, was Psychotherapie ist, wobei wir uns selbst da wirklich an der Nase nehmen müssten, man müsste das auch anbieten. Aber das Interesse sollte da sein, solche Fortbildungen zu machen, um 190 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="191"?> einfach auch sonst vielleicht eigenartige Interventionen auch verstehen zu können, die passieren. Ansonsten ist sicher ein großes Ausmaß an stabiler Persönlichkeit gefordert, auch Belastbarkeit, es sind einfach schwierige Geschichten, die man da zu Ohren kriegt. Und das noch mal unmittelbarer, mitunter, weil das in der Muttersprache ausgedrückt wird, und das dann übers Heimatland vielleicht eine Aussage ist, wo es einen mehr trifft, als wenn das ein Land ist, das tausende von Kilometern weit weg ist, wo also solche Dinge passieren. (PT_11) Die Befragte sieht es als einen Teil ihrer Zuständigkeit, bei solchen belastenden Szenarien ihr Augenmerk auch auf das Wohlergehen der DolmetscherIn zu legen: Ich denk nur, dass es Punkte sind, wo man genauer aufpassen muss als Psychotherapeut, weil man ist ja verantwortlich für das psychodynamische Geschehen in diesem Raum. Dann bin ich ja verantwortlich dafür, dass Dolmetscher nicht… dass es denen nicht schlecht geht nach solchen Interventionen. (PT_11) Abgrenzung - so facettenreich dieser Begriff auch ist - sei, so die Befragte PT_2 unumgänglich, um in der Arbeit „mit diesen Klienten“ (gemeint sind traumatisierte AsylwerberInnen) überhaupt bestehen zu können und nicht ein Burnout-Syndrom zu entwickeln: Abgesehen von der sprachlichen Kompetenz ist die Verschwiegenheit nach außen sehr wichtig, ein gewisses Einfühlungsvermögen ist förderlich für den Prozess. Andererseits aber auch die Fähigkeit, sich abzugrenzen. Das lernen wir alle in diesem Beruf und mit diesen Klienten, dass wir uns besser abgrenzen und dass wir nicht allzu sehr belastet werden. Ich halte es auch für günstig, wenn Dolmetscher in diesen Fragen Intervision und Supervision bekommen und nützen, und dass man schaut, dass sie nicht von Burnout betroffen sind, wie so viele, die in diesem Umfeld arbeiten. (PT_2) Abgrenzung, also die Fähigkeit, sich vor den Emotionen anderer ein Stück weit zu schützen, ohne in Gefühllosigkeit oder Zynismus abzugleiten, bedeutet eine feine Gratwanderung und stellt einen komplexen Prozess dar, der sich zum einen auf der äußeren Ebene (Verhalten) abspielt, zum anderen im Inneren (Gefühle und Gedanken). Wie in der folgenden Aussage thematisiert wird, kann eine zu stark abgegrenzte, also distanzierte DolmetscherIn („distanzierter Block“) ein Hindernis in der Therapie darstellen, weil ihre Anwesenheit die Schaffung eines einladenden Klimas erschwert, welches eine notwendige Voraussetzung für die emotionale Öffnung der KlientIn ist. Die befragte Therapeutin geht auch ausdrücklich auf die unbewusste Ebene ein und betont, dass DolmetscherInnen ihre Stimmungen auch unbewusst oder unwillkürlich einbringen können, wenn sie „es nicht mehr aushalten“. 191 7.5 Die DolmetscherIn, Teil zwei: Voraussetzungen, Eigenschaften, Belastung <?page no="192"?> Damit eine DolmetscherIn sich abzugrenzen lernt, muss sie bereit sein, sich auf eine feine Gratwanderung einlassen und sowohl der Forderung nach der Distanzierung nachkommen, als auch einladend wirken, um das Vertrauen der KlientInnen zu gewinnen: Ich glaube, das sind zwei Sachen. Es ist ein schwieriger Grenzgang, um einerseits die nötige Distanzierung zu haben, aber andererseits müssen die Klienten ja auch Vertrauen zur Dolmetscherin aufbauen. Also, wenn die Dolmetscherin nur als distanzierter Block da ist, dann wird es auch schwierig sein für die Klienten, sich da einzulassen. Also, ich glaube, dass es wirklich wichtig ist, ein Gespür dafür zu haben, was in der jeweiligen Situation passiert, und da ein Stück mitzuschwingen. Und sich nicht ganz rauszuhalten. (PT_5) Eine weitere Facette betrifft das Kontrollbedürfnis, das bewusst oder auch unbewusst ausagiert werden kann: Also was auch, denke ich, nicht so hilfreich ist, ist wenn man ein sehr starkes Kontroll‐ bedürfnis hat, das wirkt sich natürlich dann auch aus. Also Kontrollbedürfnis kann sich auswirken ganz offensichtlich, indem man während der Stunde zur Therapeutin sagt, nein, das übersetze ich jetzt nicht, das ist nicht gescheit, also wenn man wirklich probiert, einzugreifen. Es kann sich aber auch so auswirken, dass man eher unbewusst versucht, gegenzusteuern, indem man eine andere Stimmung reinbringt, weil man es zum Beispiel nicht mehr aushält. (PT_5) Und schließlich die Stimme der DolmetscherIn, ein Instrument, das von der Dol‐ metscherIn selbst nicht immer kontrolliert werden kann, wenn das Unbewusste überhand nimmt. Durch Selbstreflexion, so die Befragte, kann es der Dolmet‐ scherIn gelingen, die Situation zu erfassen und sich darin zu positionieren: Mit der Stimmlage transportiert man ja auch oft etwas mit, da kann man dann entweder total langsam werden, das kann man, oder total schnell werden, weil man die Stimmung nicht mehr aushält. Oder wenn man anfängt, so einen eigenen, saloppen Unterton in die Stimme zu legen, oder etwas sehr Freundliches durchscheinen lässt, wenn es aber um etwas ganz anderes geht. Man kann also auch mit Stimmungen steuern oder kontrollieren, ohne dass man das bewusst macht. Und das ist wahrscheinlich gar nicht so leicht zu beschreiben, was es da braucht, aber ich glaub, wirklich auch die Fä‐ higkeit, die Stimmung zu erfassen und auch flexibel zu sein in dem… ja also das auch mitzutragen. Und das, denk ich, können die Menschen wirklich unterschiedlich gut. Und das ist unabhängig von der Dolmetschkompetenz. Und was ich auch denke, ist, dass in den Therapien oder in den Beratungen, die Dolmetscherinnen auch an eigenen Geschichten berührt sein können, und da denk ich, ist es auch wichtig zu wissen, wo für einen die Grenze liegt, wo es genug ist, wo man sich selbst Unterstützung holen 192 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="193"?> muss. Ja, also einfach zu schauen, wo trifft es mich selber, eben auch die Fähigkeit zur Selbstreflexion, und dann damit umzugehen. (PT_5) Die Befragte PT_4 äußert sich dahingehend ähnlich, indem sie ebenfalls dafür plädiert, dass die DolmetscherInnen zumindest den Versuch unternehmen, sich selbst besser kennenzulernen: Einfühlungsvermögen ist sicher etwas Wichtiges, aber wichtig ist auch, dass man eine Art von Selbsterfahrung schon gemacht hat. Dass man also seine eigenen Anteile auch kennt. Und dann auch die Grenzen ziehen kann, zwischen dem, was einem selbst gehört, und dem, was dem anderen gehört. Was schon sehr viel verlangt ist. Also dazu braucht man sicher auch ein bisschen Selbsterfahrung oder… Eigentherapie möchte ich gar nicht sagen, aber Selbsterfahrung auf alle Fälle. (PT_4) Von der Herausforderung, die Gratwanderung zwischen Sich-Einlassen und Sich-Zurücknehmen zu bewältigen, spricht auch PT_12. Wenn die „Beziehung stimmt“ ist sie sogar bereit, Abstriche bei der sprachlichen Genauigkeit hinzu‐ nehmen („nicht so wichtig, eins zu eins übersetzt zu kriegen“): Also die sprachliche Kompetenz ist vorausgesetzt. Ja also, ich find, dass das sehr an‐ spruchsvoll ist, was da verlangt wird, nämlich diese Gratwanderung zwischen Sich-Einlassen, doch auch, weil ich glaub, es geht nicht anders, also es entsteht auch eine Form von Beziehung in diesem Dreiersetting. Und gleichzeitig aber sich doch so weit zurücknehmen, dass das Eigene nicht zu sehr in diesen Prozess miteinfließt, und das find ich ganz etwas Anspruchsvolles. Also sich nicht in den Vordergrund stellen, mit dem Eigenen, oder mit den Bildern oder Gedanken, die da auftauchen, aber trotzdem ein stückweit mit dabei sein bei dem Prozess. Also das ist vielleicht jetzt mal etwas ganz Spezielles, weil ich ja als klientenzentrierte Therapeutin sehr mit der Beziehung arbeite. (PT_12) Die Anwesenheit der DolmetscherIn hat einen maßgeblichen Einfluss auf die Atmosphäre, die insgesamt stimmig sein muss, um therapeutische Prozesse zu ermöglichen: Und ich hab schon das Gefühl, mir ist, das ist jetzt nicht sehr reflektiert, aber mit ist es, mir ist es ganz wichtig, dass die Beziehung stimmt. Und da spielt die Dolmetscherin einfach mit. Also mir ist es nicht so wichtig, eins zu eins übersetzt zu kriegen, wenn es irgendwie grob stimmt, als das Gefühl, da ist Vertrauen da, da entsteht eine Atmosphäre, die angenehm ist. Und dazu braucht es die Dolmetscherin schon auch. Das hab ich bis jetzt, muss ich sagen, noch nie erlebt, wenn’s da Aversionen gibt, zwischen Dolmetscherin und Klientin, dann fänd ich das sehr störend. (PT_12) 193 7.5 Die DolmetscherIn, Teil zwei: Voraussetzungen, Eigenschaften, Belastung <?page no="194"?> In den folgenden Aussagen nehmen einige befragte Psychotherapeutinnen Stellung zum Aspekt der Abgrenzung. Eine Befragte bezieht den Begriff „Ab‐ grenzung“ primär auf die Wünsche der KlientInnen, also auf die Fähigkeit der DolmetscherIn, Wünsche zurückzuweisen und es gewissermaßen auszuhalten, den explizit oder auch implizit geäußerten Wünschen nicht zu entsprechen und Angebote nach zusätzlichem Kontakt außerhalb der Therapie auszuschlagen: Und ich denke auch die Fähigkeit zur Abgrenzung, von den Wünschen, die von den Klientinnen kommen. Also das ist zwar schon etwas, was die Therapeutinnen und die Beraterinnen übernehmen sollten, aber man muss auch selber bereit sein, sich auf das einzulassen, dass man keine Freundschaften knüpft, oder dass man den Wünschen nicht entspricht. Weil es kommen ganz viele Wünsche, denke ich, von den Klientinnen immer wieder an die Dolmetscherinnen, und das ist nicht so leicht dann, nicht Bedürfnisbefriedigerin sein zu wollen und sich von dem abzugrenzen. Das ist nicht hilfreich, wenn man da jetzt außerhalb sich trifft oder wenn man am Rand noch woanders dolmetschen mitgeht, oder so kleine Hilfsdienste noch am Rande macht oder persönliche Beziehungen eingeht. Das ist aber eigentlich viel an Fähigkeit, Wünsche zurückweisen zu können, die an einen gestellt werden. (PT_5) Eine andere Befragte plädiert ebenfalls für einen sorgsamen Umgang mit der eigenen Empathiefähigkeit: Wenn jemand nicht eine grundsätzliche Empathiefähigkeit mitbringt, dann ist es nicht möglich. Die Empathiefähigkeit muss er zwar wieder zurückstellen, auf Grund seiner Funktion, aber wenn er die Empathiefähigkeit nicht mitbringt, dann ist er eher ein Hindernis als eine Hilfe in der Therapie, weil er ein bestimmtes Desinteresse ausstrahlt. Ein Desinteresse. Das ist nicht möglich. Oder eben, das kann dann verschieden interpretiert werden, bis zur Ablehnung. Und das ist unmöglich. Also Empathiefähigkeit und Interesse an einem therapeutischen Setting, und auch muss er genauso mittragen, dass dieses therapeutische Setting Sinn macht. (PT_7) Eine andere Befragte sieht sich als Therapeutin dafür zuständig, die Dolmet‐ scherIn beim Prozess der Abgrenzung zu unterstützen, sofern die DolmetscherIn bereit ist, ihre entsprechenden Schwierigkeiten anzusprechen. Ja, das möchte ich noch ergänzen, Abgrenzung ist, glaube ich, etwas ganz Wichtiges. Sich also soweit abgrenzen können, das heißt aber für mich nicht, alles wegstecken können, sondern so weit auf sich selbst zu schauen, wenn etwas zu nahe gegangen ist, oder zu weit gegangen ist, das auch dann ansprechen, mit mir. Also zu sagen, das war mir jetzt zu viel, oder das wird mir zu eng, oder die fixiert sich zu sehr auf mich, also diese Dinge ansprechen. Und aber auch immer wieder schaffen, es nicht zum 194 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="195"?> Persönlichen zu machen. Und das finde ich ziemlich viel, was da sozusagen zu leisten ist für die Dolmetscher. (PT_12) Dieselbe Befragte bringt an einer anderen Stelle den Aspekt der Ausbildung mit dem Faktor Abgrenzung in Verbindung: Ja, also ich finde, diejenigen, die von der Uni kommen, die bringen mehr mit von diesem Abgegrenzten. Da ist klarer, das ist ein Job. Ich weiß nicht, wie genau das passiert, das wird wahrscheinlich dort irgendwie… Und das macht’s oft leichter. Also wenn ich da an eine bestimmte Dolmetscherin denk, ich glaub, die kann das ganz gut, sich da auch draußen halten. Bei den muttersprachlichen ist eben andererseits die Gefahr, dass sie sich bei bestimmten Themen persönlich involvieren lassen, aber die bringen auf der anderen Seite genau das mit, wo ich sag, das ist so was… ja eben, eine gewisse, durch dieses Einlassen ergibt sich dann auch eine Beziehungsqualität. Das sind so Sachen, es ist nicht das eine weniger wichtig und das andere mehr wichtig, aber gewisse Unterschiede gibt es. (PT_12) Laut einer anderen Befragten kann die (Un)fähigkeit, sich selbst zurückzu‐ nehmen, was auch eine Facette der Abgrenzung ist, auch an der Stimme festmachen: PT_9: Er (der Dolmetscher, Anm. M.D.) muss die Eigenschaft mitbringen, sich zurückzu‐ nehmen. Also sich zurückzunehmen in seiner Persönlichkeit. Und gleichzeitig so viel Persönlichkeit mitbringen, dass der Klient sich auch verstanden fühlt. M.D.: Also nicht zu distanziert oder zu neutral auftreten? PT_9: Ja. Es ist eine ganz… also eine ganz ganz feine… Ich habe gestern zum Beispiel eine Dolmetscherin gesehen, die am lautesten von allen gesprochen hat. Und das habe ich als sehr störend empfunden. Sie war doppelt so laut wie der Klient und wie die Psychotherapeutin. Und das war sehr störend. Die befragte PT_13 hält fest, dass sie es ausdrücklich als ihre Aufgabe ansieht, die DolmetscherIn in Schutz zu nehmen, wenn seitens der KlientIn der Ver‐ such unternommen wird, die DolmetscherIn auf die eigene „Seite zu ziehen“. Darüber hinaus versucht sie nach Möglichkeit, dafür Sorge zu tragen, dass die DolmetscherIn nicht außerhalb der Therapie privaten Kontakt mit den KlientInnen unterhält und auch nicht unfreiwillig in Situationen gerät, in denen es ihr schwer fallen könnte, Distanz zu wahren (z. B. Hilfestellung beim Ausfüllen von Formularen, gemeinsam warten im Wartezimmer etc.). Die befragte Psychotherapeutin fühlt sich also dafür zuständig, die DolmetscherIn zu unterstützen, sich abzugrenzen. 195 7.5 Die DolmetscherIn, Teil zwei: Voraussetzungen, Eigenschaften, Belastung <?page no="196"?> Also, ich habe Dolmetscher gehabt für, ich weiß nicht mehr, irgendeine der afghani‐ schen Sprachen, also Afghanistan, und das war eine Katastrophe. Da hat also die Sprachkompetenz nicht hingehaut. Das war wirklich eine Katastrophe. Und zwar im Deutschen hat die Sprachkompetenz nicht hingehaut. Und außerdem, das war ein einziger Verbrüderungsakt mit dem Klienten. Also, es war furchtbar. Das war eine Katastrophe. Das heißt, da komme ich schon auf den für mich wichtigsten Punkt, das ist sozusagen die Abstinenz des Dolmetschers. Also seine Fähigkeit, ihre Fähigkeit, sich auch zu distanzieren in einer gewissen Weise von dem, was da gesprochen wird. Und sich nicht auf die Seite des Klienten ziehen zu lassen. Wobei ich natürlich auch weiß, dass es Therapeuten gibt, die versuchen, die Dolmetscherin auf ihre Seite zu ziehen. Das tu ich nicht. Für mich ist das Allerwichtigste, dass die Dolmetscherin wirklich alles übersetzt. Sie braucht nicht selber da sozusagen Kraftakte vollbringen, dass sie sich groß distanziert, wenn der Klient versucht, sie reinzuziehen, zu sich zu ziehen. Wenn sie es mir übersetzt, dann mach ich das. Das seh ich auch als meine Aufgabe. Und wenn wirklich alles übersetzt wird, dann… ich meine, alles im Sinne von, inhaltlich alles, ja? Dann kann ich drauf eingehen, noch etwas dazu sagen, noch einmal die Rolle der Dolmetscherin irgendwie thematisieren. Was ich am Anfang einer Therapie sowieso immer mache, wo ich dann sage, dass es da keinen privaten Kontakt gibt, dass die Dolmetscherin ausschließlich bei mir dolmetscht. Ich bin da sehr streng, ich mag es zum Beispiel auch nicht, dass meine Dolmetscher den Klienten irgendwoandershin begleiten. Das will ich nicht. Und das erkläre ich sowohl den Dolmetschern, als auch den Klienten. Und versuche auch den Klienten zu erklären, was die Funktion der Dolmetscher ist. Manchmal bringe ich auch ein Beispiel, dass es nicht darum geht, dass sie dann irgendwo Formulare ausfüllt oder so in der Wartezeit, wenn sie sich im Warteraum treffen, wenn sie da sind und ich noch eine Stunde hab. Sondern dass es wirklich drum geht, dass die Dolmetscherin uns beiden ihre Zunge borgt. (PT_13) Fazit: Aus den Antworten geht hervor, dass „Abgrenzung“ sich begreifen lässt als die Fähigkeit, „das eigene“ vom „Fremden“ zu unterscheiden und die Grenze dazwischen bewusst wahrzunehmen und zu akzeptieren, gegebenenfalls auch zu verteidigen, wenn es darum geht, sich von den Wünschen der KlientInnen zu distanzieren. Die „Wünsche“ der KlientInnen entstehen in der Regel auf dem Nährboden der extremen Hilfsbedürftigkeit, die sich unter anderem auch in der Sprachlosigkeit manifestiert. Die Gestalt des Dolmetschers bietet eine willkommene Projektionsfläche für den Wunsch, sich verständlich zu machen und zu verstehen. Abgrenzung ist in diesem Sinne also, verkürzt gesagt, die Fähigkeit, Wünschen dieser Art nicht nachzukommen, ohne dabei eine allzu große Enttäuschung beim Klienten hervorzurufen. Abgrenzung bedeutet immer eine Gratwanderung, da ein allzu stark abgegrenzter Dolmetscher zu wenig 196 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="197"?> einladend ist, während ein zu wenig abgegrenzter Dolmetscher Gefahr läuft, Burnout-Syndrome zu entwickeln. Zwar ist Sozialengagement grundsätzlich eine wichtige Voraussetzung dafür, um überhaupt mit Menschen aus Rand‐ gruppen zu arbeiten, aber eine überbordende, unreflektierte Hilfsbereitschaft seitens der DolmetscherIn kann sich negativ auf den therapeutischen Prozess auswirken. In der Dynamik der Triade kann es vorkommen, dass beide Gesprächsparter‐ Innen (bewusst oder unbewusst) versuchen, die DolmetscherIn auf ihre Seite zu ziehen und damit die (als Ideal) angenommene Neutralität der DolmetscherIn untergraben. Laut einer Befragten sind universitär ausgebildete DolmetscherInnen eher in der Lage, sich abzugrenzen, weil sie einen professionellen Zugang zu ihrer Tätigkeit mitbringen. Aus den einschlägigen Antworten geht hervor, dass Abgrenzung ein lau‐ fender Prozess ist, der der DolmetscherIn unter anderem abverlangt, mit Hilfe von Selbsterfahrung eigenen Traumatisierungen nachzugehen und gege‐ benenfalls das eigene Kontrollbedürfnis einzuschränken. Die DolmetscherIn ist angehalten, ihre Tätigkeit als SprachmittlerIn in der Psychotherapie einer lau‐ fenden Reflexion zu unterziehen, um sicherzustellen, dass sie die erforderliche Gratwanderung zwischen Sich-Einlassen und Sich-Distanzieren auf eine Weise bewältigt, die sowohl für sie selbst, als auch für die beiden anderen Beteiligten akzeptabel oder gar zufriedenstellend ist. Einige befragte Psychotherapeutinnen sehen es als ihre Zuständigkeit, die DolmetscherIn in diesem Prozess unterstüt‐ zend zu begleiten. 7.5.2 Kompetenz: Fachwissen und Hintergrundwissen Welche Kompetenzen sollten DolmetscherInnen für die Psychotherapie noch mitbringen? - dazu nahmen die befragten Psychotherapeutinnen folgender‐ maßen Stellung: Also von den Fähigkeiten her denke ich, ist es erstmal klar, dass es die sprachliche Fähigkeit braucht, in beiden Sprachen ausreichend zu sprechen, dass man sie transpor‐ tieren kann. (…) Und ja, was ich noch auf der Ebene der Kompetenz wichtig finde, ist, dass man wirklich so nah wie möglich am Text bleiben kann. Das ist ja je nach Sprache, mit der man arbeitet, unterschiedlich schwierig, ob mehr in Bildern gesprochen wird, oder… Sprachen sind ja unglaublich verschieden, in dem, wie sie sich ausdrücken, und was sie transportieren. Und wie gut man das in eine andere Sprache transportieren kann, mit allem, was da dranhängt, das, glaube ich, ist eine extreme Herausforderung. (PT_5) 197 7.5 Die DolmetscherIn, Teil zwei: Voraussetzungen, Eigenschaften, Belastung <?page no="198"?> Hier wird also explizit gefordert, „so nah wie möglich am Text“ zu bleiben. Das ist eine Spezifik im therapeutischen Arbeiten, denn normalerweise werden keine solchen Anforderungen an die DolmetscherInnen gestellt, weil es beim Dolmetschen in erster Linie darum geht, den Sinn herauszufiltern und den kommunikativen Bedürfnissen der GesprächsteilnehmerInnen auch dahinge‐ hend Rechnung zu tragen, dass die Verdolmetschung nicht allzu viel Zeit in Anspruch nimmt. Zusammenfassen ist also erlaubt, ebenso wie das Weglassen von Redundanzen. Das gilt jedoch nicht für das therapeutische Setting, wo häufig gerade das Nebensächliche, Redundante und nebenbei Gesagte wichtige Rückschlüsse erlaubt. Ohne ein Bewusstsein darüber, aus welchen Gründen TherapeutInnen die Forderung erheben, „so nah wie möglich am Text“ zu bleiben, ist es sehr schwierig, im mündlichen Modus dem Impuls zu widerstehen, das Original zusammenzufassen, sich primär auf den Sinn des Gesagten zu fokussieren und der Form lediglich eine sekundäre Bedeutung beizumessen. Und da ist es dann schon auch fein, wenn Dolmetscherinnen rückmelden können, was sie nicht transportieren können. Weil es ja immer wieder so ist, dass manche Dinge nicht gut transportierbar sind, oder manches so Fachjargon ist, den man auch nicht so gut transportieren kann, oder so Floskeln wie „das lassen wir jetzt im Raum stehen“, oder solche Dinge haben wir ja auch schon diskutiert immer wieder. Was lässt sich übersetzen, sodass es immer noch was bedeutet für die Leute, und was lässt sich eigentlich nicht übersetzen. Dass die Dolmetscher das rückmelden, das finde ich auch ganz wichtig. Oder wenn Menschen in anderen Sprachen auf die Frage „Wie geht es Ihnen? “ immer reagieren auf einer Ebene, die nichts aussagt, und „Wie geht es Ihnen? “ in ihrer Sprache keine wirkliche Frage ist, sondern ein Grüßgott ist, dass man solche Dinge auch vermitteln kann. Und ich mir nicht ein Jahr lang denke, die Person sagt auf „Wie geht es Ihnen? “ immer „Mir geht es gut“, und ich denk mir, es ist wirklich ein „Mir geht es gut“, dann ist das irgendwie ein Problem. Und das ist etwas, was nicht nur die Dolmetscherin verursacht hätte, sondern etwas, das auch ich mitverursacht hätte, wenn ich das ein Jahr lang glaube. Aber auf dieser Ebene braucht es, denke ich, die Fähigkeit auszutauschen, was heißt was in einer anderen Sprache. Damit ich das auch verstehen kann. (PT_5) Wichtig ist also laut PT_5 auch das Wissen der DolmetscherIn um die eigenen Grenzen, sowie das Wissen um die Grenzen der Übersetzbarkeit, und darüber hinaus die Fähigkeit bzw. Bereitschaft, diese Grenzen nach außen hin zu kommunizieren. Der therapeutische „Slang“ ist nicht immer auf den ersten Blick als Fachsprache erkennbar, weil es nicht unbedingt um Fachtermini geht, sondern eher um Redewendungen, die im therapeutischen Kontext mit einer Selbstverständlichkeit verwendet werden, die jedoch, wenn man sie auf ihren 198 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="199"?> inhaltlichen Gehalt hin prüft, was für die Übertragung in eine andere Sprache eine Grundvoraussetzung ist, sich als nur schwer übersetzbar erweisen. Die Befragte PT_5 führt an Beispiel die Floskel „das lassen wir jetzt im Raum stehen“ an. Andere Beispiele wären etwa „Was macht das mit Ihnen? “, „Was machen Sie mir Ihrer Wut? “, „Was konnten Sie aus der heutigen Stunde mitnehmen? “, „Was tut Ihnen gut? “. Das sind scheinbar leichte Sätze, aber es ist notwendig, bei der Verdolmetschung ergänzend oder interpretierend einzugreifen, damit die KlientIn auch eine Chance hat, das Gesagte zu verstehen. Dass sie auch sozusagen im Prinzip diesen Wert der Sprache, dass sie einen ebensolchen Wert, ebensolchen ist natürlich zu viel verlangt, auch einen Wert der Sprache beimisst, und dass es ihr wichtig ist, dass sie das Wort oder den Begriff wirklich erfasst. Und dass sie, wenn sie unsicher ist, mich auch fragt während der Situation, damit habe ich über‐ haupt noch nie ein Problem gehabt, das geht alles, auch in der therapeutischen Situation kann man zurückfragen, man kann danach fragen, man kann davor fragen. Mir war das wichtig. Also sozusagen als erstes würde ich dann schon sagen, Sprachmaschine. (…), wenn ich die Gewissheit habe, dass die Dolmetscherin, der Dolmetscher, wirklich, exakt und gut übersetzt. Mir ist das ganz wichtig. Ich bin vielleicht eine sehr sprachversessene Therapeutin, und das sind nicht alle. Sozusagen, ich liebe die Sprache, und ich glaube, dass die Sprache selbst auch eine therapeutische Wirkung hat. Jetzt nicht nur die Modulation der Sprache, sondern welches Wort ich jetzt genau verwende, und welches nicht. Und da ist es mir natürlich ein Anliegen, dass die Dolmetscherin das irrsinnig gut übersetzt, also im Sinne von Sprachmaschine. (PT_6) Die beiden zuletzt angeführten Antworten beziehen sich auf die Kernkompetenz der DolmetscherIn: ausgeprägtes Sprachgefühl, Sorgfalt im Umgang mit der Sprache, und darüberhinaus auch ein Anerkennen der Tatsache, dass in der Psychotherapie der Sprache ein besonderer Wert zukommt; damit geht die Bereitschaft einher, im Wissen um die Grenzen der eigenen Kompetenz bzw. der Möglichkeiten, den sprachlichen Ausdruck der einen Sprache in das System einer anderen zu transferieren, Fälle, in denen der sprachliche Transfer nicht gelingen kann, nach außen zu kommunizieren, zurückzufragen, und gemeinsam mit den Beteiligten nach Lösungen und Verständigungsmöglichkeiten zu su‐ chen. An anderer Stelle spricht die bereits zitierte Befragte PT_5 vom Faktor Ausbil‐ dung: Also, ich denke, dass es gut ist, wenn man Dolmetschen studiert hat, aber das haben wir leider für ganz viele Sprachen nicht, insofern geht das nicht. Und wir haben auch viele Dolmetscherinnen, die sind vorzügliche Dolmetscherinnen, ohne die 199 7.5 Die DolmetscherIn, Teil zwei: Voraussetzungen, Eigenschaften, Belastung <?page no="200"?> Ausbildung zu haben, auf Grund ihrer Zweisprachigkeit, die erwächst meistens aus dem eigenen Migrationshintergrund oder Fluchthintergrund von sich selbst oder von den Eltern. Es ist für viele möglich, auch sehr gut zu dolmetschen, wenn sie die Bereitschaft mitbringen, sich mit all dem auseinanderzusetzen. Und ich glaub auch, sie sind unterschiedlich gut, es braucht eine bestimmte Fähigkeit, die man zum Teil auch erlernt, und die manche mehr schon mitbringen als andere wahrscheinlich. Also ganz banal, zu memorieren, sich längere Sequenzen zu merken und dann so gut wie möglich dranbleiben, sich sehr stark konzentrieren zu können, also ich glaube, dass es da viele Detailfähigkeiten gibt, die das Dolmetschen ausmachen, die kann ich, glaube ich, nicht so gut beschreiben. (PT_5) Zwar sei eine Ausbildung in Form eines Dolmetschstudiums wünschenswert, um das „Handwerk“ des Dolmetschens (Gedächtnis, Notizen, Konzentration etc.) optimal zu beherrschen, allerdings wäre es illusorisch, in diesem Bereich von allen DolmetscherInnen eine solche Qualifikation zu fordern. Das liegt zum einen am fehlenden Sprachangebot in den entsprechenden Ausbildungs‐ institutionen, zum anderen an der Bezahlung, die für professionell ausgebildete DolmetscherInnen nicht attraktiv ist. Über das Sprachliche hinaus sind mehrere befragte Psychotherapeutinnnen jedoch auch der Meinung, dass es zusätzlich andere Voraussetzungen (oder auch Fähigkeiten und Eigenschaften) braucht, um in der Psychotherapie gute Arbeit zu leisten. In erster Linie ist die Rede davon, dass DolmetscherInnen Hintergrundwissen über die Psychotherapie haben sollten bzw. die Bereitschaft haben sollten, sich in diesen Bereich zu vertiefen, um den therapeutischen Prozess über den rein sprachlichen Ausdruck hinaus umfassend zu begreifen: Abgesehen davon, dass er dolmetschen kann, denke ich schon, dass man ein Interesse für Psychologie oder für die Menschen haben sollte. Eben, weil ich denke, dass man auch Zuhörer ist, und dass man das auch signalisieren sollte, um den Leuten zu erleichtern, sich zu öffnen. Und welche Fähigkeiten noch. Ja, also, ich habe das Gefühl, am Anfang, wenn wir uns so vorstellen, eine gewisse Wärme vermitteln können. Also, wir stellen uns beide vor, dass eine Vertrauensbasis geschaffen werden kann. Auch mit dem Dolmetscher. Also soziale Kompetenzen. (PT_10) Ja genau, ein Feingefühl. Und auch eine Bereitschaft, sich in so etwas einzuarbeiten. In so bestimmte Formen. Denn es ist doch recht unterschiedlich bei verschiedenen Therapeutinnen. (PT_7) PT_7: Ich hätte es gern, dass die Dolmetscher das therapeutische Setting auch von seinen Rahmenbedingungen her verstehen. M.D.: Du meinst, dass sie mit den Klienten keine persönlichen Freundschaften eingehen? 200 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="201"?> PT_7: Genau, dass sie das ernstnehmen, dass das sehr wichtig ist. Diese ganzen Rahmen‐ bedingungen finde ich äußerst wichtig. (…) Und wir haben eben ganz strenge ethische Verpflichtungen und gesetzlich, Schweigepflicht. Die Diskretionsverpflichtung ist mir äußerst wichtig. Und auch diese persönliche Abstinenz, wenn man jemandem begegnet im Alltag, dass man da Zurückhaltung übt. Darauf muss man sich, glaube ich, einstellen, dass man dieselbe Haltung wie die Therapeuten einnimmt. Sich mit dem auch ein bisschen auseinandersetzen, was das bedeutet, und warum. Ich glaub, wenn er die hat, dann… Sprachliche Kompetenz und Dolmetschkompetenz müsste eigentlich genügen, mit ein bisschen einem Hintergrundwissen, was Psy‐ chotherapie ist, und wie es ungefähr läuft. Also, dass das auch eine Art Entwicklung auch sein könnte, die passiert, dass das also nicht etwas ist, was direktiv vom Therapeuten ausgeht, dass der jetzt dem Klienten sagt, was er zu tun hat, sondern dass der Klient sich letztendlich entwickelt, in der Therapie. Also eigentlich so Hintergrundwissen, was ist Psychotherapie, was ist Psychologie, was ist ein Psychiater, dass er diese Punkte auseinanderhalten kann. (PT_4) Die Rolle der Stimme beim Dolmetschen wurde bereits in einigen Antworten angesprochen. Die Befragte PT_6 geht hier explizit darauf ein, dass ihrer Ansicht nach die DolmetscherIn darauf verzichten (können) sollte, die Stimme und den Tonfall der TherapeutIn zu stark nachzuahmen: Dann gibt es das zweite, wo ich mir denke, dass die Dolmetscherin oder der Dolmetscher, dass es ideal wäre, wenn sie im Prozess mitschwingt. Aber das hat man nicht immer. Also wenn er oder sie auch im weitesten Sinne etwas von einer therapeutischen Situation versteht. Oder von der Emotion. Oder was ist jetzt gerade. Von der therapeutischen Seite kann ich jetzt nur sprechen, von der therapeutischen Seite auch emotional zu vermitteln. Wobei ich nicht glaube, das ist glaube ich oft ein Fehler, dass man der Dolmetscherin, dem Dolmetscher, auch nahe legt, auch die Sprachmodulation zu übernehmen. Das halte ich nicht für notwendig. Genau. Also das halte ich nicht für notwendig. Das würde man erstens merken, und ich denke, die Sprache, die Melodie der Sprache, der Ton der Stimme, oder die Beruhigtheit, oder die Erregtheit, das sollte die Klientin über die Therapeutin erfahren. Und nicht über den Weg der Dolmetscherin oder des Dolmetschers. Das ist meine Auffassung. Ja, ja. Aber das habe ich manchmal das Gefühl gehabt, dass die Dolmetsche‐ rinnen sich denken, sie sind dann besonders gut, wenn sie so nahe jetzt an mir als Therapeutin sind, dass sie quasi fast mit mir mitschwingen. Oder, wenn ich vorgehe, dann gehen sie auch vor. Das wäre zum Beispiel nicht korrekt, würde ich sagen. Deshalb ja auch diese Sitzanordnung. Und wenn es gehen könnte, dass die Dolmetscherin oder der Dolmetscher… das ist schon ein bisschen eine blöde Rolle, finde ich, 201 7.5 Die DolmetscherIn, Teil zwei: Voraussetzungen, Eigenschaften, Belastung <?page no="202"?> für die Dolmetscherin wahrscheinlich, aber einfach so durchsprechen, wenn das ginge, das würde mir gut gefallen (lacht). (PT_6) In der folgenden Antwort spricht PT_5 einen zentralen Punkt an, nämlich die Wertschätzung der Dolmetschtätigkeit an sich. Ihre Beobachtung lässt sich in etwa folgendermaßen zusammenfassen: Eine Dolmetscherin, die ihre Tätigkeit selbst nicht ausreichend wertschätzt, ist eher geneigt, die Grenzen ihrer Rolle bzw. ihrer Funktion zu überschreiten, um sich „darüber hinaus“ mit Hilfe von Kontrolle oder Eimischung zusätzlich Geltung zu verschaffen. Dieser Punkt verdient besondere Beachtung, da die betreffende Therapeutin damit einen grundlegenden Mechanismus anspricht, nämlich die Tendenz, aus der „vorgeschriebenen“ Unsichtbarkeit und Neutralität „auszubrechen“, indem man sich nicht auf das „nur Dolmetschen“ beschränkt, sondern die eigenen Kompetenzen zu überschreiten, wohl auch aus dem Wunsch heraus, stärker in das Geschehen eingebunden zu sein und eine aktive(re) Rolle zu spielen: Jetzt das, was du als Eigenschaften bezeichnest, ich glaub, dass es wichtig ist, dass man sich wirklich darauf beziehen kann und das als Rolle annehmen kann, dass man Dolmetscherin ist, und dass man das wertschätzen kann, dass das eine wichtige Funktion ist, und dass man das am besten macht, wenn man sich darauf bezieht, und nicht das Gefühl hat, man muss noch etwas darüber hinaus mittragen, oder will darüber hinaus eigentlich den Prozess mitsteuern oder kontrollieren. Oder so das Gefühl haben, reinfunken zu müssen, indem man ein bisschen schönere Sätze macht, oder ein bisschen ausbessert, oder manche Sätze nicht übersetzt, weil man denkt, da hat sich jetzt die Therapeutin vergriffen. Also solche Dinge könnten ja auch passieren, und da muss man, denke ich, als Person die Fähigkeit haben, die Verantwortung tatsächlich abgeben zu können und bei der eigenen Kompetenz zu bleiben. (PT_5) Zugleich anerkennt die Befragte an, dass es nicht leicht ist, dieser scheinbar einfachen Forderung nachzukommen: Ich finde das eigentlich eine schwierige, keine leichte Aufgabe, und ich finde es eigentlich eine große Herausforderung auch an die Persönlichkeit von einem Menschen. Ich glaube nicht, dass alle dafür geeignet sind, sich wirklich auf eine Rolle zu beziehen und gleichzeitig die Verantwortung für das andere abzugeben. Und die Kompetenz jetzt bei der zu belassen, die jetzt für den therapeutischen Prozess da ist. (PT_5) Außerdem wird die Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur differenzierten Wahrneh‐ mung sowie zur Abgrenzung als unabdingbar bezeichnet: 202 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="203"?> Und dann, denke ich, geht es auch darum, dass man auch ein Stück Fähigkeit zur Selbstreflexion hat, und sich das anschauen kann. Und auch die Fähigkeit hat zur Distanzierung. Also sowohl von den Emotionen, die da auftauchen, also wenn man da ganz als Person da drinnen ist und das nicht mehr von sich differenziert, dann glaub ich, hat man es ganz schwer als Dolmetscher, weil viele Emotionen in einer solchen therapeutischen oder beraterischen Begleitung kommen, die auch bei einer selbst was auslösen. Und das dann wieder auseinanderzudifferenzieren, was ist da meins und was gehört zur Klientin, oder was gehört in den therapeutischen Prozess, das, glaube ich, ist auch eine totale Herausforderung. Und wenn man das auf die Dauer nicht schafft, dann ist man wahrscheinlich, dann kann man ausgebrannt werden, dann nervt es einen wahrscheinlich irgendwann, oder man wird frustriert oder man mag die Menschen nicht mehr, mit denen man arbeitet. Da können ganz viele Dinge passieren. (PT_5) Ein weiterer Punkt, der in der folgenden Antwort angesprochen wird, ist die Konkurrenz, die sich zwischen Dolmetscherin und Therapeutin etablieren kann und die der Entwicklung einer guten Teamarbeit im Weg steht: Es ist einfach sehr wichtig, dass viel Kontakt, oder guter Kontakt besteht zwischen der Dolmetscherin und der Therapeutin, dass es da nicht zu einer Konkurrenz kommt. Das ist das Wichtigste. Dass da Vertrauen ist, die Therapeutin macht etwas, davon verstehe ich nicht sehr viel, und die wird das schon gut machen. (PT_1) Abschließend sei noch ein weiteres Zitat von derselben Therapeutin angeführt, in dem die Zusammenarbeit mit DolmetscherInnen ausdrücklich positiv be‐ wertet wird: F: Gibt es sonst noch etwas, das dir einfällt? A: Ja, also, ich liebe die Arbeit mit Dolmetschern, weil ich nicht so allein bin, weil ich das austauschen kann, für die, die dafür interessiert sind. Ich habe viele Dolmetscherinnen, die selbst die Psychotherapieausbildung machen, mit denen kann ich mich fachlich sehr gut austauschen, die sind wahnsinnig interessiert, und das belebt für mich den Betrieb hier, das macht mir Spaß. (PT_1) 7.5.3 Professionalität Vorweg sei angemerkt, dass professionelles Verhalten nicht nur den ausgebil‐ deten DolmetscherInnen vorbehalten ist. Neben der Befähigung, die eigene fachliche Kompetenz abzurufen, bedeutet professionell zu agieren in erster Linie, seine Fähigkeiten einschätzen zu können und mit den eigenen Fehlern transparent und offen umzugehen, ohne etwas „unter den Teppich“ zu kehren. 203 7.5 Die DolmetscherIn, Teil zwei: Voraussetzungen, Eigenschaften, Belastung <?page no="204"?> Wer professionell agieren will, darf der Reflexion und der (Selbst-)kritik nicht aus dem Weg gehen. In der folgenden Aussage werden mehrere Aspekte der Professionalität erwähnt. Zunächst das Wissen um die eigenen Grenzen sowie die Bereitschaft, diese nach außen zu kommunizieren: Also ich meine, es wäre gut, wenn sie beide Sprachen gut beherrscht. Und es wäre noch wichtiger vielleicht, dass sie weiß, wo sie sie nicht beherrscht. Dass sie also eine Kenntnis davon hat, also jetzt habe ich etwas nicht ganz richtig verstanden, und dass sie mit sich selbst so gut in Kontakt ist, dass sie sich traut, das zu sagen. (PT_6) Die Befragte erklärt im weiteren Gesprächsverlauf, dass häufig gerade Dolmet‐ scherInnen, die sich in ihrer Fremdsprache sicherer sind, bereit sind, zuzugeben, wenn sie etwas nicht richtig verstanden haben. Sie plädiert für einen kulanten Umgang mit Fehlern: Aber da ist es wichtig, dass ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen der Therapeutin und der Dolmetscherin hergestellt wird, und dass man jedenfalls diese Fehlerkultur sozusagen miteinbezieht, dass man sagt, na ja, deshalb ist nicht die ganze Therapie kaputt, weil wir jetzt ein Wort nicht verstanden haben. (PT_6) Weiters ist es für die befragte Psychotherapeutin wichtig, informiert zu werden, wenn die DolmetscherIn eigenmächtige Interventionen setzt: (…) dass sie mir bitte alles übersetzen soll, und nicht Teile, dass sie niemals davon ausgehen soll, dass diese Person aus dieser Kultur das nicht verstehen wird, und dann selbst sozusagen diese Kulturvermittelungsleistung macht, ohne mich zu informieren. Das habe ich auch schon erlebt, das ist ganz blöd, weil ich nichts lerne, und die Klientin nichts lernt, beide werden wir im Ungewissen gelassen, und die Dolmetscherin löst etwas für unser Kulturproblem, ohne dass die Klientin und ich die Chance haben, uns dazu zu verhalten. (PT_6) Laut der Befragten sollte die DolmetscherIn auch eine „Äquidistanz zur Klientin und zur Therapeutin“ wahren können, „ein halbwegs gutes Selbstvertrauen“ mitbringen und insgesamt „diese Arbeit gerne machen“, um einen professio‐ nellen Eindruck zu hinterlassen. Interessant ist noch ein weiterer Punkt, den die Befragte nennt: Dass sie, und das ist für mich schon Voraussetzung, dass sie nicht sexistisch und nicht rassistisch ist. Das ist eine Voraussetzung. Und dass sie, falls sie Ressentiments oder Ähnliches mitbringt, dass sie bereit ist, diese zu reflektieren. 204 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="205"?> Hier wird eine nicht diskriminierende Grundeinstellung bzw. Weltanschauung explizit gefordert, kombiniert mit der Bereitschaft, die eigenen Wertvorstel‐ lungen und Haltungen zu reflektieren. Das ist durchaus eine berechtigte For‐ derung, angesichts dessen, dass in der Therapie vieles zur Sprache kommen kann, was im Leben außerhalb auf die eine oder andere Weise sanktioniert wird, wodurch bei der KlientIn ein starker Leidensdruck entsteht. Damit die DolmetscherIn diesen Rahmen mittragen kann, sollte sie mitunter bereit sein, eingefahrene Stereotypen und Ressentiments zumindest punktuell hinter sich zu lassen. Eine andere Befragte fügt weitere Aspekte hinzu: Auf keinen Fall darf passieren, dass der Dolmetscher selbst interpretiert. Weil er muss eins zu eins übersetzen. Der Dolmetscher darf von den Erzählungen nicht selbst emotional überwältigt sein. Also in der Situation darf er nicht überwältigt sein von den Dingen, die erzählt worden sind, oder emotional mitgehen. Er muss wirklich als Person sich rausnehmen (…) und sich wirklich als Instrument der Sprache sehen (…) Und gleichzeitig aber trotzdem als Person auftreten, die vertrauenswürdig ist, dass man Sachen erzählt und dass man sie auch übersetzt. Man muss also ganz schnell Vertrauen herstellen, und sich gleichzeitig als Person rausnehmen. Also diesen Switch finde ich sehr schwierig als Aufgabe von Dolmetschern. (PT_9) Fazit: Zur Professionalität gehört laut den Befragten neben der Sprach- und Dolmetschkompetenz ein transparenter Umgang mit eigenen Fehlern sowie ei‐ genen gesetzten Interventionen, die über das reine Sprachmitteln hinausgehen. Genannt wurde auch die Bereitschaft, die eigene Weltanschauung gegebenen‐ falls zu hinterfragen oder zu erweitern, sowie die Fähigkeit, sich als Person herauszunehmen und sich nicht emotional überwältigen zu lassen. 7.6 Vor- und Nachgespräche Dolmetscherunterstützte therapeutische Gespräche haben gegenüber anderen Gesprächssituationen im Bereich des Community Interpreting den Vorteil, dass jeder KlientIn von vornherein eine bestimmte Zeitspanne zugewiesen ist, nämlich 50 Minuten. Außerdem kommen KlientInnen in der Regel nur dann in die jeweilige Einrichtung, wenn sie einen Termin haben. Dadurch entsteht normalerweise kein Zeitdruck in den Therapiestunden, im Unterschied zu anderen Stellen wie etwa Rechtsberatung oder Sozialarbeit, in der die Bera‐ tungsgespräche zu festgelegten Bürozeiten stattfinden und wo die Anforderung 205 7.6 Vor- und Nachgespräche <?page no="206"?> am Arbeitsplatz lautet, so vielen Menschen wie möglich in der knappen Zeit zu helfen; unter solchen Bedingungen ist es selbstverständlich viel schwieriger, dem Aspekt des Dolmetschens gebührende Aufmerksamkeit zu zollen. In der dolmetscherunterstützten Psychotherapie ist es daher möglich und auch erwünscht, Vorund/ oder Nachgespräche zu führen, um die Qualität der Kommunikation und die Teamarbeit zwischen PsychotherapeutIn und Dolmet‐ scherIn stetig zu verbessern. Eine Befragte überlässt die Initiative allerdings den DolmetscherInnen selbst: Ich schaue es mir mal an. Ich schau, was passiert, weil oft ist es nicht so problematisch. Aber so wie Dolmetscher auch nur das leiseste Interesse haben, über Therapie zu sprechen, bin ich glücklich und spreche sehr gerne, weil ich denke, dass sie Teil sind eines Prozesses, der sozusagen durch ihren Körper fließt und auch für sie anstrengend ist und es wichtig ist, dass sie ein Bewusstsein dafür kriegen, was da eigentlich abläuft. Aber es ist nicht so, dass ich die Leute zwangsbeglücke, und kaum kommen sie her halte ich Vorträge über Psychotherapie. Ich warte eigentlich darauf, eingeladen zu werden. (PT_1) Aus der Antwort geht hervor, dass PT_1 den Sinn der Vor- und Nachgespräche in erster Linie darin sieht, der DolmetscherIn zu helfen, ein Bewusstsein für die therapeutischen Prozesse und ihre eigene Rolle darin zu entwickeln. Dabei äußert sie die Befürchtung, solche Gespräche könnten, sofern sie nicht von der DolmetscherIn explizit gewünscht sind, als zwangsbeglückende „Vorträge über Psychotherapie“ empfunden werden. 7.6.1 Vorgespräche Für eine Befragte stellt das Vorgespräch zugleich die Möglichkeit dar, die Begrüßung der KlientIn zu besprechen. Die KlientIn soll auf eine formalisierte, also bewusst inszenierte Weise willkommen geheißen werden: Am liebsten habe ich es, wenn man ein Vorgespräch mit den Dolmetscherinnen machen kann, und sich ein bisschen davor trifft. Das heißt also ganz kurz vor der Stunde, wo man zwei drei Worte miteinander wechseln kann und sagen, ich denk, heute geht’s um das, oder es könnte dieses oder jenes vorkommen. Dann, was mir sehr recht ist, ist, wenn man die Begrüßung bereits sehr formalisiert machen kann. Das heißt, wenn ich die Klientin oder den Klienten begrüßen kann, und die Dolmetscherin oder der Dolmetscher schon richtig so gut bei mir steht, dass wir also den Anfang schon so inszenieren, wie dann später die Therapiestunde selbst. Damit habe ich die positivsten Erfahrungen gemacht. (PT_6) 206 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="207"?> Für PT_7 stellen Vorgespräche eine Möglichkeit dar, die Komplikationen, die sich durch das Dolmetschen ergeben (z. B. Verlangsamung), abzufedern: Vorgespräche bei Bedarf. Ja, es ist sehr anders mit Dolmetscher. Es geht in der Therapie manchmal langsamer vorwärts, also das glaube ich schon. Manches kann es auch beschleunigen. Also, es ist schon unterschiedlich, aber insgesamt geht es langsamer, es können unterschiedliche Methoden nicht angewandt werden oder nicht so leicht, oder nur mit sehr viel Vorarbeit. (PT_7) Eine andere Befragte übernimmt gegebenenfalls selbst die Initiative zum Vor‐ gespräch und sieht darin eine Möglichkeit, die DolmetscherIn auf neue bzw. unbekannte therapeutische Interventionen vorzubereiten: Und im vorhinein mach ich das eher, wenn ich das Gefühl hab, ich probier heute mal was Neues, oder ich möchte jetzt bei einem bestimmten Thema nachgehen, wo ich so das Gefühl hab, ich möchte einfach, dass die Dolmetscherin vorbereitet ist, dass es vielleicht ein bisschen sperriger wird oder so. Aber das mach ich nicht so oft. (PT_12) Die Befragte macht jedoch von dieser Möglichkeit nicht oft, jedenfalls nicht routinemäßig Gebrauch, was sich mit der nächsten Aussage deckt: Ja, ich frage immer. Also, ich frage immer, Vorgespräche eigentlich nur, wenn es sich ergibt, weil die Dolmetscherin früher da ist, ja? Aber eigentlich nicht absichtliche Vorgespräche, also so dass ich sage, ich hätte gerne irgendwie das oder das, ob sie irgendwas braucht oder so. Aber ich frage immer am Schluss, ob alles in Ordnung ist, ob es irgendetwas gibt, das sie belastet oder ob sie noch irgendetwas reden möchte. (PT_13) Von der Möglichkeit, Vorgespräche zu führen, wird laut den Befragten nicht sehr häufig Gebrauch gemacht. Wie sich im weiteren Verlauf herausstellte, werden Nachgespräche bevorzugt. 7.6.2 Nachgespräche Zu den Nachgesprächen äußerten sich die Befragten wie folgt: Ich halte es an und für sich für eine absolute Selbstverständlichkeit, dass Zeit sein sollte. Wir haben es eine Zeitlang versucht als Standard einzuführen, als es muss sein, aber das war dann ein bisschen künstlich. Da sind wir dann wieder davon abgegangen. Es ist schon wichtig, dass, wenn entweder von mir oder von ihr, von der Dolmetscherin, das Bedürfnis da ist, nachzufragen oder nachzuhaken oder auch Kritik anzubringen, dass der Raum dafür wirklich da ist, und zwar gleich nach der Therapiestunde. (PT_11) 207 7.6 Vor- und Nachgespräche <?page no="208"?> Die Befragte PT_11 berichtet von Versuchen, Nachgespräche als Standard einzuführen, die daran gescheitert seien, dass sie als „künstlich“ empfunden wurden. Ohne ein echtes Bedürfnis nach Austausch könnten solche Gespräche nicht geführt werden. Es habe also keinen Sinn, sie von oben zu verordnen. Die nächsten beiden Befragten berichten, dass die Initiative zu Nachgesprächen meist von ihnen selbst ausgeht: Aber manchmal frage ich gezielt. Also zum Beispiel, hauptsächlich, wenn das irgend‐ welche afghanischen Stämme sind, oder ich weiß nicht, dann frage ich schon den Dolmetsch, wissen Sie, was das jetzt, oder kennen Sie diese Stadt, oder wissen Sie, wovon der jetzt spricht? Einfach auch, um orientiert zu sein, inwiefern das auch für einen Einheimischen verständlich ist, weil ich beurteilen muss, wie klar und verständlich ist die Kommunikation des Klienten. (PT_1) Ja, nachher meistens. Außer, es ist schon eine ganz lange Therapie, und ich kann aus den nonverbalen Reaktionen erkennen, was läuft. Aber ansonsten frag ich meistens nach, ob irgendwas war, was irritiert hat, oder ob alles passt. Oder eben, wenn ich selber, jetzt beispielsweise, ein Beispiel, eine Frau hat berichtet, dass sie eine Reihe von Schwangerschaftsabbrüchen gehabt hat, was eher verwunderlich war für mich, und dann die Dolmetscherin gemeint hat, sie hat keine so moralischen Bedenken geäußert. Und dann hab ich gemerkt, ja, das ist wahrscheinlich bei uns ein anderer Umgang damit. Und so, da frag ich dann nach. (PT_12) Die Befragte PT_4 räumt jedoch ein, dass die Initiative vom Dolmetscher ausgehen kann: Dann meistens, wenn ich das Gefühl habe, dass es beim Dolmetscher irgendetwas bewirkt hat oder bewegt hat. Dass ich ihn dann drauf anspreche und sag, ok, was war da. Oder der Dolmetscher spricht mich an und gibt irgendeinen Kommentar über die Therapie ab, dann schaue ich, was da für Hintergründe sind, oder was das Interesse an diesem Punkt ist. (PT_4) Fazit: Aus den Antworten zum Thema Vor- und Nachgespräche geht hervor, dass diese Möglichkeit zum Austausch gerne genutzt wird, und zwar zum einen, um die laufenden therapeutischen Gespräche zu kommentieren und zu reflektieren und zum anderen, um sich über Psychotherapie an sich zu unterhalten. Eine weitere Funktion solcher Gespräche besteht darin, sich über kulturelle Realien im Herkunftsland der KlientIn zu erkundigen, sowie sich des Wohlergehens der DolmetscherIn zu vergewissern beziehungsweise dafür zu sorgen, dass die DolmetscherIn allmählich lernt, mit den emotionalen Belastungen in der Therapie umzugehen. Mehrheitlich berichten die Befragten, dass die Initiative für solche Gespräche von ihnen selbst ausgehe. 208 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="209"?> 7.6.3 Intervision In einer Aussage wird angeregt, Intervision für DolmetscherInnen anzubieten: Was ich auch schon in der Intervision angeregt hab, was mir noch einfällt, ist, dass es auch für die Dolmetscher die Gelegenheit geben soll, und geben müsste, zu einer Intervisionsgruppe zu gehen, sich untereinander auszutauschen, eventuell mit einem Therapeuten zusammen, also nicht nur die Dolmetscher alleine, sondern dass sie auch Informationen kriegen, was ist Therapie, was ist da wichtig. Und ich denke, es gibt niemand, der das nicht braucht. Selbst wenn einer schon sehr sehr lange dolmetscht und sehr sehr perfekt und sehr gut ist, denke ich, brauchen so wie wir Therapeuten, auch die Dolmetscher immer wieder Unterstützung und Intervision. Da passiert irrsinnig viel, und es sind sehr belastende Dinge, die wir hier haben, ganz klar, und sehr viele eigene Anteile des Dolmetschers, die da dabei sind. Und ich glaube, dass das sehr hilfreich wäre für die Dolmetscher, sich immer wieder auszutauschen. (PT_4) Die Intervision bietet DolmetscherInnen die Möglichkeit, sich über eigene Probleme auszutauschen, ihre Tätigkeit zu reflektieren und ihre Kenntnisse über das psychotherapeutische Arbeiten zu vertiefen. Wie aus der zitierten Aussage hervorgeht, lässt sich die Intervision als eine laufende Begleitung begreifen, von der auch erfahrene DolmetscherInnen immer wieder aufs Neue profitieren können, denn im therapeutischen Arbeiten kann der Lernprozess niemals als abgeschlossen betrachtet werden. Das einzige Argument, das gegen die Intervision für DolmetscherInnen spricht, betrifft den finanziellen Aufwand (Honorar für die Fachkraft) und den zeitlichen Aufwand für die TeilnehmerInnen (in der Regel erhalten Dol‐ metscherInnen keine Aufwandsentschädigung für Intervisionstreffen). Eine Organisation, die in der Kommunikation mit ihrer Klientel auf die Arbeit von DolmetscherInnen angewiesen ist, ist gut beraten, in die Aufrechterhaltung solcher Gesprächsformate zu investieren, um langfristig die nötige Qualität zu gewährleisten. 7.7 Schwierigkeiten, Belastungen, Probleme Im Laufe der Gespräche mit den Psychotherapeutinnen wurden zahlreiche Schwierigkeiten und Probleme direkt oder auch implizit angesprochen. Im vorliegenden Abschnitt wird ein Schlaglicht auf die Belastungen in der Triade geworfen. Zunächst sei auf ein grundsätzliches Problem der Psychotherapie an sich verwiesen, nämlich auf ihre Stigmatisierung in der Gesellschaft. Psychotherapie 209 7.7 Schwierigkeiten, Belastungen, Probleme <?page no="210"?> als Methode zur Erlangung psychischer Gesundheit stößt weitgehend auf Akzeptanz, dennoch wird in der westlichen Leistungsgesellschaft ein psychi‐ sches Leiden als ein Makel betrachtet, der die Leistungsfähigkeit beeinträchtigt und damit den gesellschaftlichen Status potenziell gefährdet. In den Herkunfts‐ kulturen der KlientInnen bestehen möglicherweise andere oder andersartige Vorbehalte gegen Psychotherapie, die Untersuchung derer einen interessanten Forschungsgegenstand darstellen könnte. Eine befragte Psychotherapeutin umreißt diesen Sachverhalt folgender‐ maßen: Und ich glaube, dass das bei der Psychotherapie ein ganz spezielles Kapitel ist, weil, glaube ich, Psychotherapie etwas unheimlich Angstbesetztes ist. Auch in der allgemeinen Bevölkerung, wenn jemand Psychotherapie braucht, dann muss er ja schon deppert sein. Und Psychotherapie, das heißt, dass irgendetwas mit einem nicht stimmt. Und das ist ein Magier und ein Zauberer, und wir fürchten uns alle furchtbar vor dem seinen Tricks und seiner Macht, ja, der kann vielleicht durch einen hindurch sehen und alles sehen, da muss man sich verteidigen, das ist ja etwas ganz Natürliches. Und man erwartet jetzt aber von den Dolmetschern, dass sie da mit fliegenden Fahnen alles mitmachen bei einem Prozess, den sie unter Umständen gar nicht kennen aus eigener Erfahrung. Und ich glaube, Psychotherapie ist etwas, das man primär nur aus eigener Erfahrung kennenlernen kann, nicht? Dass man dieses Vertrauen zu einem Therapeuten hat, obwohl der einen ja gar nicht kennt. (PT_1) Die Befragte schildert in drastischen Worten die gängigen Vorbehalte gegen die Psychotherapie, die reflexartige Abwehr dagegen, sich von einer fremden Person durchleuchten zu lassen, und die diffuse Angst gegen eine schwer fassbare „Macht“, die ein solcher Therapeut („Magier“, „Zauberer“) über einen ausüben könnte, sofern man ihn nur lässt. Vor diesem Hintergrund bedeutet es eine nicht geringe Anforderung an die DolmetscherInnen, solche Vorbehalte zumindest ein Stück weit zu überwinden, um sich auf die Arbeit in der Therapie einzulassen. 7.7.1 Konkurrenz und Grenzüberschreitungen Wie bereits unter 7.2.1 (Sitzordnung und Blickkontakt) thematisiert wurde, buhlen TherapeutIn und DolmetscherIn gewissermaßen um die Aufmerksam‐ keit der KlientIn. Auch unter 7.4.2 („Kulturkompetenz“) wurde dieser Aspekt aufgegriffen. Im Folgenden nehmen befragte Psychotherapeutinnen Stellung zu dem Phä‐ nomen Konkurrenz in der Psychotherapie: 210 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="211"?> Sie ist schon länger da, aber ich glaube, dass sie dieses Problem an und für sich übergangen hat, dass sie eigentlich in einem massiven Konkurrenzverhältnis zu mir steht (…) Ich glaube, dass es im Grunde um ein psychisches Problem geht, es geht um die Konkurrenz, ja? Und wenn jemand nicht weiß, was Psychotherapie überhaupt ist, dann kann er ganz schlecht nachvollziehen, was er hier eigentlich dolmetscht, und er kritisiert dich dann für etwas, was er vermeintlich gut meint, aber er versteht einfach überhaupt nicht, um was es im Moment geht. (PT_1) Konkurrenz kann also entstehen, wenn das Verständnis für therapeutische Prozesse und Kommunikationsweisen gänzlich fehlt und die DolmetscherIn sich berufen fühlt, gegen eine vermeintlich schlechte Therapie zu agieren. Ein weiterer Grund für Konkurrenz zwischen den beiden arbeitenden Akteu‐ rInnen der Dyade (auch die KlientIn „arbeitet“ selbstverständlich mit, steht jedoch in keinem Dienstverhältnis) kann daraus erwachsen, dass die Dolmet‐ scherIn die Grenzen ihrer Rolle nicht ausreichend anerkennt: Dass es oft schwierig ist für den Dolmetscher, seine Grenzen zu wahren, sich rauszuhalten aus der Therapie, und den Verlauf der Therapie wirklich allein dem Therapeuten zu überlassen. Er muss einfach seine Rolle verstehen, und da gibt es oft Probleme diesbezüglich. Wenn das nicht ganz klar ist. Meistens sind das auch sehr spontane Aktionen vom Dolmetscher, der sicher nichts Negatives damit bewirken möchte. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert (lacht). Es ist ganz schwierig für den Dolmetscher, seine Grenzen wirklich einzuhalten. Und klar zu bleiben. (PT_4) In der folgenden Antwort wird ebenfalls eine Situation geschildert, in der die DolmetscherIn ihre Grenzen überschreitet und versucht, sich als die Fürsorgli‐ chere der beiden zu profilieren: Ja, also, das Schwierige ist, wenn ich merke, dass der Dolmetsch sehr verwickelt wird. Also, das Spitzenerlebnis war, wo ich einmal nach einer Therapiestunde versucht habe, die letzten drei Minuten für eine sanfte Landung zu verwenden, also den Patienten sehr gut orientiert aus der Stunde wieder zu entlassen, habe ich ganz gezielte Maßnahmen ergriffen, und mitten in diesem Versuch, die Stunde schnell abzurunden, hat der Dolmetsch plötzlich angefangen, dem Klienten irgendwelche Zeitungen zu verkaufen. Also, sie hat dann erzählt, es gibt so und so eine Zeitung, und die ist wunderbar, und die wird sie ihr beschaffen, und ich habe dann gefragt, was sprechen Sie so lang, und da hat sie mir dann gesagt, sie hat ihr nur ein paar Zeitungen empfohlen, die sie ihr vermitteln wird. Da muss man also sehr aufpassen sozusagen, dass die Überfürsorglichkeit nicht explodiert. (PT_1) Ein Interview, das unmittelbar nach der Eskalation eines lange schwelenden Konfliktes zwischen einer PsychotherapeutIn und ihrer DolmetscherIn ent‐ 211 7.7 Schwierigkeiten, Belastungen, Probleme <?page no="212"?> stand, illustriert anschaulich, wie es zu der einseitigen Aufkündigung der Zusammenarbeit kam: Das ist ein Problem, das sich schon seit langem abzeichnet, und das unterschwellig sozusagen schon lang besteht. Und heute ist es also extrem eskaliert. Es ist so, dass diese Dolmetscherin sich immer wieder anbietet und sozusagen… sozusagen von sich aus einschaltet, um außerhalb von der Therapie den Leuten behilflich zu sein. So, dann fängt die Stunde hier an, und die Dolmetscherin hat mich eigentlich wiederholt vor der Klientin zurechtgewiesen, mir Dinge nicht ausgerichtet, also nicht ihre Dolmetschfunktion übernommen, sondern sie hat sich in Privatgespräche mit der verwickelt, und ich bin zunehmend ungeduldig geworden. Und am Schluss hat es so geendet, dass sie explizit gesagt hat, na das übersetz ich nicht. (PT_1_A) Die Spannungen, die sich in der Zusammenarbeit schon länger angebahnt hatten, entluden sich schließlich in der Weigerung der DolmetscherIn, ihrem Auftrag nachzukommen. Aus der Sicht der befragten Psychotherapeutin nimmt sich die Situation folgendermaßen aus: Ja, und ich hab ihr gesagt, du, bitte, kannst du’s einfach übersetzen und Schluss? Ja, ich will die Stunde abschließen. Gut, und ich weiß dann gar nicht mehr… es war einfach schon unerträglich von der Stimmung her, ich hatte ständig das Gefühl, ich muss gegen die Dolmetscherin ankämpfen, um überhaupt durchzukommen. Und vor allem, das, was mich dann immer so wahnsinnig stört, ist, dass ich dann immer wieder von, also, dass ich das Gefühl habe, dass es um eine massive Konkurrenz geht. Wer ist die bessere Helferin, die Kompetentere, die Moralischere, die Integerere, die Verständnisvollere. Und das ist so wahnsinnig anstrengend als Therapeut, nicht? Weil ich versuche, irgendwie mit der Klientin klarzukommen, und ich muss mich aber ständig durchsetzen. Ich meine, heute war das wirklich schon wie eine Farce, wie sie mir dann gesagt hat, das übersetzt sie überhaupt nicht. Der geschilderte Zwischenfall enthält gewiss auch zahlreiche andere Aspekte, die ich bedauerlicherweise nicht in Erfahrung bringen konnte, weil ich mit der betreffenden Dolmetscherin kein Interview geführt habe. Allein die Perspektive der Therapeutin lässt jedoch darauf schließen, wie explosiv die Stimmung werden kann, wenn kein Konsens über die Zuständigkeiten erzielt werden kann. Eine andere Befragte erzählt davon, wie sich in der Triade Spannungen aufbauen können, wenn das Auftreten der DolmetscherIn sichtlich vom Wunsch geprägt ist, Kontrolle auszuüben: Menschen, die so eine gewisse Kontrollsucht haben, sind sehr schwierig als Dolmetscher. Also, sie können in der Situation nicht loslassen. Und dort habe ich auch für mich 212 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="213"?> beschlossen, dass ich mit gewissen Leuten nicht mehr arbeiten wollte, weil sie einfach nicht loslassen konnten und immer Kontrolle über die Situation erhalten wollten. Und das sind sicher Eigenschaften, die nichts mit der Dolmetschkompetenz zu tun haben. Das wäre zum Beispiel etwas. (PT_8) Fazit: Konkurrenz kann unterschiedliche Formen annehmen und sich unter anderem darin manifestieren, dass die DolmetscherIn, im Wunsch, der KlientIn Hilfestellung zu bieten, ihre Grenzen überschreitet und (unbewusst) versucht, das, was ihr an der therapeutischen Arbeit missfällt, auszugleichen oder kor‐ rigierend einzugreifen. Konkurrenz kann etwa dann entstehen, wenn eine DolmetscherIn sich in ihrer Rolle nicht ausreichend ausgelastet und gewürdigt erlebt und vor diesem Hintergrund versucht, diesen Zustand zu kompensieren, indem sie ihre Grenzen überschreitet und über das Dolmetschen hinaus agiert; umgekehrt kann seitens der PsychotherapeutIn Konkurrenzdenken daraus re‐ sultieren, dass die sprachliche (und unter Umständen „kulturelle“) Vertrautheit zwischen KlientIn und DolmetscherIn als bedrohlich und verunsichernd erlebt wird. 7.7.2 Grenzen der Übersetzbarkeit In mehreren Antworten wurde der Übersetzungsvorgang an sich - also die Grenzen der Übersetzbarkeit von Wörtern, Worten, Sätzen und Gedanken‐ gängen - thematisiert. Exemplarisch wird in einer Äußerung auf dieses Grund‐ satzproblem eingegangen: PT_7: Ich habe eine Situation erlebt, wo es ein Wort… oder die Dolmetscherin hat gesagt, dieses Wort gibt es nicht in der Übersetzung. Und da habe ich gedacht, das könnte eine Schwierigkeit sein, dass es in den anderen Sprachen gewisse Wörter einfach nicht gibt, und die das schwierig machen. Also in der Analyse, wo oft Wortspiele sind, glaube ich, eignet sich manchmal das Dolmetschen nicht. Weil da ist auch Übertragung und Gegenübertragung, das funktioniert nicht, wenn der Dolmetscher dabei ist. In anderen Therapieformen ist das, glaube ich, überhaupt kein Problem. In der Analyse, habe ich gedacht, könnte das schwierig werden. Und eben, dass ich glaube, dass es einige Wörter, dass es einige Sprachsinnbilder gibt, also jede Sprache hat ganz bestimmte Formen, wie man etwas ausdrückt, und das gibt es in anderen Sprachen überhaupt nicht. Und das, denke ich, ist schwierig für den Dolmetscher, das sinngleich zu übersetzen. M.D.: Man muss es wohl manchmal anders ausdrücken als Psychotherapeut. 213 7.7 Schwierigkeiten, Belastungen, Probleme <?page no="214"?> PT_7: Eben. Ich weiß zum Beispiel, im Chinesischen gibt es das Wort Entwicklung nicht. Was im deutschen Sprachgebrauch ganz zentral ist. Und da habe ich auch gedacht, wie macht man das dann? Wie haben Sie sich entwickelt? M.D.: Vielleicht, wie haben Sie sich verändert? PT_7.: Wahrscheinlich. Die Befragte PT_7 spricht von einzelnen Wörtern, die in einem therapeutischen Kontext Bedeutung erlangen können, insbesondere in der Psychoanalyse, wo Wortspielen unter Umständen eine wichtige Rolle zukommen kann. Man denke etwa an die Idee des Freud’schen Versprechers - die vielschichtigen Bedeu‐ tungen einer solchen sprachlichen Fehlleistung sind in der Übersetzung nur schwer oder gar nicht wiederzugeben. Im Zusammenhang mit den Grenzen der Übersetzbarkeit spricht die be‐ fragte Therapeutin ein weiteres Thema an, das in der Psychoanalyse einen zentralen Stellenwert genießt, das jedoch durch die Anwesenheit eines Dritten maßgeblich beeinträchtigt oder gar verunmöglicht wird, nämlich die Dynamik der Übertragung und Gegenübertragung. Wie genau diese Dynamik sich im einzelnen vollzieht, ist von außen sehr schwer nachvollziehbar, Faktum ist, dass die DolmetscherIn Teil dieses Beziehungsgeflechts ist und davon jedenfalls nicht unberührt bleibt. 7.7.3 Geschlecht Die folgende Aussage bezieht sich auf die häufige Konstellation männlicher Klient mit weiblicher Dolmetscherin: Also, was ich auch schwierig finde, ist, bei arabischsprechenden Männern, also bei moslemischen Männern, wenn die Psychotherapeutin weiblich ist und die Dolmetscherin weiblich ist, wenn dann ein Mann erzählen muss, wie er erniedrigt worden ist. Und er muss das zwei Frauen erzählen, wo die Religion oder die gesellschaftliche Rolle umgekehrt wird eigentlich. Also das, glaube ich, ist in der Situation auch sehr schwierig, wenn die Frau so dominant ist bei moslemischen Männern. Oder auch sehr stolze Männer, die erniedrigt worden sind, und das dann zwei Frauen erzählen müssen. Das müsste irgendwie anders gemacht werden. Das habe ich manchmal gedacht. Oder wenn Paartherapien sind, die Ehefrau sitzt da, eine Psychotherapeutin und die Dolmetscherin. Und der Mann dann allein. Also ich glaub, das stell ich mir schwierig für den Klienten vor, da nicht zu denken, ich bin allein, also das glaub ich. Aber das kann man nicht aufheben. (PT_9) 214 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="215"?> Die Befragte berichtet von den Schwierigkeiten, mit denen gedemütigte, männ‐ liche Folteropfer sich konfrontiert sehen, wenn sie angehalten sind, ihre Erin‐ nerungen zwei Frauen anzuvertrauen. Man könnte allerdings dagegen einwenden, dass für den Klienten das Ar‐ beiten mit einem oder zwei Männern in der Triade ebenfalls problematisch sein könnte, angesichts des Umstands, dass kriegerische (nicht selten auch sexualisierte) Gewalt von Männern ausgeht und daher eine weiblich dominierte Triade möglicherweise einen wohltuenden Gegensatz darstellen kann. Ein zweiter Punkt, der bei dieser Aussage Anlass zu weiteren Überlegungen bietet, ist der Einwand, für „moslemische“ und „arabischsprechende Männer“ sei eine Frau in einer Machtposition schwer zu akzeptieren. Die Befragte spricht gewiss aus eigener Erfahrung, dennoch soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass „die Macht der Frau“ in der „moslemischen Welt“ viele Facetten hat. Männern, die in islamischen Gesellschaften sozialisiert wurden, zu unterstellen, sie könnten einer Frau grundsätzlich nicht mit Respekt begegnen, wäre eine grobe Verkürzung bzw. Verzerrung. Fakt ist aber, dass die Rolle der Frau, insbesondere der berufstätigen, qualifizierten Frau, die ihren Platz im öffentlichen Raum einnimmt, unterschiedlich aufgefasst werden kann, und dass es im Falle von eklatant divergierenden Rollenzuschreibungen unbedingt nötig ist, einen Umgang zu finden, der im gegebenen Kontext die Würde der arbeitenden Frau(en) schützt. Mit einem falsch verstandenen Toleranzbegriff ist auf die lange Sicht keinem der Beteiligten geholfen. 7.8 Die Spezifik der Triade Die Therapie an sich ist ein hermetisch abgeschlossener Bereich, dessen Exklu‐ sivität durch die strenge Verschwiegenheitspflicht der TherapeutInnen nach außen hin gewahrt wird. In der Regelausbildung von TherapeutInnen ist das Arbeiten mit DolmetscherInnen nicht vorgesehen. Wenn auch im Asylbereich der Einsatz von DolmetscherInnen in der Therapie den Regelfall darstellt, so bildet doch für die TherapeutInnen selbst, ausgehend von ihrem theoretischen Hintergrund und ihrer sonstigen Erfahrung in der freien Praxis, die Triade als Arbeitsmethode eine Ausnahme: Naja, das ist ja immer eine neue Erfahrung für jede Therapeutin, die das nicht gewöhnt ist, weil ja gerade die Einzeltherapie eine komische Situation ist, so etwas Exklusives, da ist eben eine Therapeutin und eine Klientin, und man ist zu zweit. Das ist eigentlich die Erfahrung, die man lange gemacht hat, wenn man nicht mit Menschen 215 7.8 Die Spezifik der Triade <?page no="216"?> arbeitet, die einen im Deutschen nicht sofort verstehen. Das heißt, man ist es nicht gewöhnt. (PT_6) Natürlich ist es eine Form der sozialen Kontrolle. Aber das kann ja nicht schaden. (PT_2) Eine Befragte berichtet, dass sie sich im Laufe der Zeit so gut auf die Dolmetsch‐ situation eingestellt hat, dass sie rückblickend gar nicht rekonstruieren kann, ob eine Therapie mit oder ohne DolmetscherIn erfolgt ist: Wobei ich sagen muss, viel mehr fällt mir im Moment gar nicht ein, weil das so eingespielt ist jetzt, weil ich das schon so lang mach, dass ich manchmal, wenn ich über Therapien, die weit zurück liegen, nachdenk, es einen zusätzlichen Gedankenschritt braucht, um mich zu erinnern, ob da ein Dolmetscher dabei war oder nicht. (PT_11) Im vorliegenden, abschließenden Abschnitt soll herausgearbeitet werden, was die Spezifik des triadischen Settings konstituiert und wie sich das Arbeiten mit DolmetscherInnen in größeren Kontext der Psychotherapie verorten lässt. 7.8.1 Die Zeugenschaft der DolmetscherIn Die DolmetscherIn in der Psychotherapie ist gewissermaßen eine „Fliege an der Wand“, die Inhalte zu hören bekommt, die normalerweise exklusiv unter vier Augen ausgetauscht werden. Damit wird die DolmetscherIn zur Zeugin, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen Zeugin dessen, was die KlientIn erzählt, zum anderen Zeugin der Arbeitsweise der PsychotherapeutIn. Beides - also die Erzählperspektive der KlientIn und die Methodik der PsychotherapeutIn - sind Inhalte, die einen achtsamen, diskreten und respektvollen Umgang erfordern. Eine Befragte betont die Exklusivität der therapeutischen Situation und hebt deutlich hervor, dass die Anwesenheit eines Dritten in einem solchen Kontext gewissermaßen einen Tabubruch darstellt: Ja, das ist auch ein Tabu. Ja, die Psychotherapie, Psychotherapeuten stehen unter einem exklusiven Verschwiegenheitsgebot. Und es ist für die Forschung sehr schwierig, qualitative Evaluationsforschung zu machen, weil man eben in die Therapiestunden gar nicht hineinkommt, es ist ein Ding der Unmöglichkeit. Dolmetscher haben da plötzlich ein Türl gefunden, sich mitten in die intimsten Therapiestunden hineinzuschummeln, und haben oft wirklich nicht das Zeug, damit auch umzugehen, mit diesem heavy Material. (PT_1_A) Die Befragte verwendet den Ausdruck „hineinschummeln“, womit der Dolmet‐ scherIn implizit die Rolle eines Eindringlings zugeschrieben wird. Selbst für 216 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="217"?> die therapeutische „Community“ ist es nicht möglich, in einzelne Therapien „hineinzuschauen“, aber durch die Notwendigkeit des Sprachmittelns ist es für DolmetscherInnen möglich geworden, Teil dieses exklusiven Bereichs zu sein, ohne die entsprechende langwierige Ausbildung mitbringen zu müssen. Dieselbe Befragte thematisiert den Aspekt der Zeugenschaft intimer Begeg‐ nungen: Aber es geht auch nicht nur um Inhalte, sondern es geht auch um die Zeugenschaft von sehr intimen Begegnungen, wenn die Therapien gut laufen. Dann hat man dann schon eine sehr große Nähe, eine intime Nähe, und dann ist man wie ein Voyeur da mitten drinnen. Man ist ja infiziert, nicht? Das ist, wie wenn du selbst einen sexuellen Akt beobachtest, bist du erregt, ja? Es überträgt sich etwas, eine Art von Erregung. Auch hier, in dieser intimen Begegnung. Und du bist zwar erregt, bist aber doch eigentlich nicht gemeint, und es ist sehr schwierig, damit umzugehen, denk ich. Und da kommt oft eine massive Abwehr, um es einfach in Schach zu kriegen. Entwertung ist immer ein Abwehrmechanismus. Ein klassischer Abwehrmechanismus ist, Sachen zu entwerten. Damit man einfach besser damit umgehen kann. Es kleiner machen, nicht? Und das ist halt die Schwierigkeit bei Psychotherapie. (PT_1_A) Der Vergleich mit Voyeurismus mag im ersten Moment drastisch oder über‐ zogen anmuten, allerdings entbehrt es nicht einer Grundlage, das therapeutische Gespräch als eine Situation darzustellen, von der eine starke, geradezu magne‐ tische Anziehungskraft ausgeht, gerade weil sie hinter fest verschlossenen Türen stattfindet. Die Intensität der Situation und Konstellation kann bei der DolmetscherIn Abwehrmechanismen auf den Plan rufen, die es zu reflektieren gilt. Dieselbe Befragte führt im Rahmen eines anderen Interviews diesen Gedankengang etwas näher aus, also den Anspruch an die DolmetscherIn, gesellschaftliche Wertnormen außen vor zu lassen und sich nicht anzumaßen, unqualifizierte Werturteile abzugeben: Ja, also, ich denk mir, dieser Mut zum nicht Perfekten, der ist ganz wichtig in der Psychotherapie. Und ich denk mir, dieses Verständnis, dass er den Klienten nicht bloß stellt, sondern dass er ihm die Möglichkeit gibt, sein Unbewusstes zu integrieren, und dass es ihm gar nicht zusteht, darüber Richter zu sein, was ist jetzt comme il faut, was gibt man gerne weiter, wann ist man gesellschaftlich perfekt, und was muss man jetzt unter den Tisch kehren. Das ist nicht die Aufgabe des Dolmetsch, ich möchte einfach nur möglichst viel, wie er spricht, wie klar er spricht, das möchte ich alles mitgeteilt bekommen. (PT_1) Eine andere Befragte erlebt die Anwesenheit der dritten Person als eine Ein‐ schränkung ihrer Handlungsfreiheit als Therapeutin: 217 7.8 Die Spezifik der Triade <?page no="218"?> Der Unterschied ist, dass ich mich nicht um eine dritte Person im Raum kümmern muss. Also, es ist mir absolut lieber natürlich, alleine zu arbeiten mit dem Menschen. Ich kann tun und lassen, was ich will (lacht), und es gibt keine Zeugen (lacht). Und vor allem, ich kann mich bewegen. Also, ich muss nicht jeden Schritt und jede Bewegung, die ich mache, abwarten. Ich muss keine Pausen einhalten. Ich kann spontan aufstehen und durch den Raum gehen oder sonst was und sprechen, und ich weiß, die Dynamik von der Situation ist anders. (PT_8) Dem Arbeiten ohne „Zeugen“ wird eindeutig der Vorrang eingeräumt. Eine andere befragte Therapeutin spricht ebenfalls den Aspekt der Zeugenschaft an, wobei sie die geteilte, also gemeinsame Zeugenschaft als entlastend erlebt: Was ich auch manchmal merke, das hat so ein bisschen eine Verführung, dass ich manchmal froh bin, dass wir zu zweit sind. Also im Sinne vom Tragen von schweren Geschichten, wo schon klar ist, dass ich die Verantwortung trage, aber es gibt die Dolmetscherinnen, und sie kommen dem nicht aus, sie werden auch Zeuginnen von schweren Geschichten, und tragen das als Zeuginnen natürlich auch ein Stück mit. Und ich finde das insgesamt in einer Einrichtung, wo es um Flucht und Krieg und Trauma geht, dass es nicht unangenehm ist, auch zu dritt zu sein. (PT_5) Die Befragte empfindet es angesichts der belastenden Themen, um welche die Therapien kreisen („Flucht und Krieg und Trauma“) als erleichternd, nicht alleine damit konfrontiert zu sein, sondern einen anderen Menschen neben sich zu haben. Fazit: Aus der Sicht der befragten Therapeutinnen ist das Arbeiten in der Triade durchaus gewöhnungsbedürftig und erfordert eine Umstellung, weil die absolute therapeutische Exklusivität durch die Anwesenheit der dritten Person ein Stück weit aufgeweicht wird. Die Triade kann jedoch gerade angesichts der belastenden Thematik in der Arbeit mit Kriegs- und Folterüberlebenden als positiv erlebt werden. 7.8.2 Tempo und Zeitfaktor Rechnerisch betrachtet bedeutet Dolmetschen immer einen beträchtlichen Zeitverlust, weil sich die Sprechzeit beider Gesprächspartner verdoppelt. Aus den folgenden Antworten geht jedoch hervor, dass dieser Verlust sich unter Umständen auch zu einem Gewinn ummünzen lässt: 218 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="219"?> Ja, das Tempo ist massiv reduziert. Es geht viel langsamer. Die Unmittelbarkeit geht verloren, was manchmal mühsam ist. Aber gleichzeitig bringt es eine Zeugenschaft. (PT_7) Hier wird der Begriff „Zeugenschaft“ positiv gebraucht, geradezu als eine Kompensation für den Zeit- und Tempoverlust. In der folgenden Aussage wird die Verlangsamung des Gesprächs als ein Vorteil erlebt, weil durch die Dolmetschung der Therapeutin mehr Zeit bleibt, die Körpersprache der KlientIn zu studieren: Naja, das ist einmal die Zeit. Die Zeitschiene. Durch das Dolmetschen, weil ja doch in den seltensten Fällen konsequent simultan gedolmetscht wird, ist es einfach langsamer. Und das Zweite, was ich eigentlich mit sehr großem Interesse mache inzwischen, ist, dass ich die Klienten beobachten und sehen kann, ohne zu verstehen, was sie sagen. Also mich auf ihre Körpersprache und auf ihren körperlichen Ausdruck viel intensiver einlassen kann. Das empfinde ich als sehr spannend. (PT_2) Eine andere Befragte berichtet von ähnlichen Erfahrungen, dass also das Dolmetschen zusätzliche Kapazitäten für das therapeutische Arbeiten eröffnet: Ich finde es erstaunlich nett, ich arbeite fast lieber mit Dolmetschern mittlerweile, ich finde das total super (…) Weil ich nicht so alleine bin (lacht). Nein, was ich so toll finde, ist die Zeit, die ich dabei gewinne, das ist total großartig, das habe ich sonst nicht. Und ich habe irrsinnig viel Zeit zu schauen, einfach zuzuschauen und das Nonverbale anzuschauen und dann erst die Geschichte zu bekommen. Und dadurch habe ich viel mehr Zeit, mir zu überlegen, was ist mir noch wichtig zu fragen oder so. Also, es ist irgendwie, es ist mehr Zeit für mich eigentlich. (PT_10) Durch das Dolmetschen eröffnet sich der TherapeutIn also die Möglichkeit, sich auf das Nonverbale zu konzentrieren und die nächste Intervention durch‐ zudenken. Von der positiven Wirkung der Verlangsamung berichtet auch die Befragte PT_12, die jedoch auch einräumt, dass Sprach- und Wortspiele in einer dolmet‐ scherunterstützten Therapie nur begrenzt möglich sind: Und dann, das hat mich am Anfang ein bisschen irritiert, weil ich gerne auch so spiele mit Worten und mit der Sprache. Aber eigentlich hab ich dann gemerkt, das ist eher an der Oberfläche etwas, was es schwieriger macht, aber was Beziehung und Kontaktaufnahme anbelangt, brauche ich die Sprache eigentlich nicht, habe ich gemerkt, also es läuft auch über andere Kanäle, und der Vorteil, der hereinkommt über das Übersetzen, ist, dass ich immer wieder eine Pause habe, wo ich mich zurücknehmen kann, wo ich eben auf andere Ebenen achten kann. Es 219 7.8 Die Spezifik der Triade <?page no="220"?> verlangsamt ein bisschen den Prozess, aber das hat auch, das beinhaltet, dass ich mehr beobachten kann, dass ich mich selbst wieder ein bisschen zurücknehmen kann, und schauen kann, was da passiert. Ich hab es mir viel schwieriger vorgestellt, muss ich sagen, am Anfang. (PT_12) Fazit: Die Befragten registrieren, dass durch das Dolmetschen das Tempo des Gesprächs verlangsamt und dadurch insgesamt mehr Zeit benötigt wird, nehmen dieses Phänomen jedoch nicht als Nachteil wahr, sondern verbuchen die „verlorene Zeit“ gewissermaßen als eine „für sich gewonnene Zeit“, in der sie die Möglichkeit haben, sich verstärkt auf die Körpersprache, das Nonverbale und andere, also außersprachliche Kanäle zu konzentrieren, die für den Aufbau der therapeutischen Beziehung ebenfalls eine große Rolle spielen. 7.8.3 Sonstige Unterschiede zur Dyade Des weiteren wurden noch folgende Beobachtungen über die Unterschiede zwischen der Dyade und der Triade gemacht: Also ich mag diese Triangulation, würde ich jetzt sagen, ich mag diese Dreieckskons‐ tellation nicht ungern. (…) Aber in den meisten Fällen, also habe ich so erlebt, dass man das eigentlich auch für die Beziehung zum Klienten, zur Klientin, positiv nutzen kann, dass da jemand ist, der den Klienten, die Klientin, jedenfalls versteht, weil er die Sprache versteht. Vielleicht nicht jede psychische Dynamik versteht, aber verstehen tut er oder sie sie jedenfalls besser als die Therapeutin. Das ist nun mal so, und es kommt eine zweite Kompetenz dazu, die man in einsprachigen Therapien nicht braucht. Aber ich finde das eigentlich etwas Positives. (PT_6) In der nächsten Antwort berichtet die befragte Therapeutin von ihrem Anliegen, möglichst genau zu erfahren, wie die KlientIn spricht: Es ist wichtig, dass der Dolmetsch versteht, dass ich möglichst viele Informationen brauch über das, was der Klient sagt, in dem Sinne, dass ich jeden Irrtum, jeden Versprecher, jedes Stottern, jedes Zögern hören möchte… (PT_1) Irrtümer, Versprecher, Stottern und Zögern zählen zu jenen Phänomenen in der gesprochenen Sprache, die beim Dolmetschen in anderen Kontexten auto‐ matisch getilgt werden, weil sie für den reinen Informationsaustausch nicht benötigt werden. Aus therapeutischer Sicht können solche Phänomene jedoch aufschlussreich sein. Die Befragte führt ihr Anliegen näher aus und erklärt, warum eine exakte, dem Original möglichst stark angenäherte Dolmetschung wichtig ist, um einen Zugang zum Unbewussten der KlientIn zu bekommen: 220 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="221"?> Für mich ist das unheimlich wichtig, dass der Dolmetscher nicht versucht, das auszu‐ bessern. Also, oft merke ich, der Dolmetscher fragt zurück, wie haben Sie das jetzt gemeint, oder was ist das jetzt, und ich krieg dann das ausgebesserte Endergebnis. Und für meine Diagnostik, für meine Arbeit ist es wichtig, dass ich die Versprecher hör. Gerade diese sind wichtig. Wenn das Unbewusste heraufkommt, dann wird das natürlich abgewehrt vom Klienten. Aber genau das Unbewusste ist das, was integriert werden soll. Also, ich brauche gerade seine Versprecher, ich brauche gerade sein Zögern. (PT_1) Aus dieser Antwort geht anschaulich hervor, wie wichtig es ist, dass die DolmetscherIn die Arbeitsweise der TherapeutIn nachvollzieht, denn die Dol‐ metscherIn muss in einem solchen Kontext ihre Prioritäten überdenken und dem Reflex widerstehen, (vermeintlich) Redundantes zu tilgen und (vermeintlich) Unsinniges in sinnvolle Sprechakte zu verwandeln. Ähnliche Aspekte wurden bereits unter 7.7.2 Grenzen der Übersetzbarkeit thematisiert. Die Befragte illus‐ triert an einem konkreten Beispiel die Wichtigkeit einer exakten, auf höchste Sorgfalt bedachten Arbeitsweise der DolmetscherIn: Letzte Stunde hat mir jemand gesagt, er ist ein Einzelkind. Dann sagt er, oh Verzeihung, ich hab doch eine Schwester. Sage ich, wie viel ist sie älter? Ja, sie ist älter. Wie viel ist sie älter? Keine Ahnung. Sie muss viel älter sein. Nein, im Endeffekt waren es vier oder fünf Jahre, er konnte es mir nicht genau sagen und so weiter. Gerade das sind die interessanten Momente. Wie passiert es, dass jemand von sich sagt, er ist Einzelkind, und nachher kommt man drauf, eigentlich hat er eine Schwester, die nicht viel älter ist, sie sind zusammen aufgewachsen. Das sind Informationen, die mir über die Persönlichkeit ganz viel sagen. Wenn jetzt der Dolmetscher das einfach nur ausbessert und sagt, er hat eine Schwester, Punkt, dann geht mir Wertvolles verloren. (PT_1) Das angeführte Beispiel illustriert die Spezifik des therapeutischen Settings im Vergleich zu anderen kommunikativen Situationen. Nicht die faktische Wahr‐ heit ist es, die primär zählt, sondern die Mechanismen des Unbewussten, die die individuelle Art der Präsentation oder auch der Verschleierung der faktischen Wahrheit beeinflussen. Es ist nachvollziehbar, dass es für eine TherapeutIn einen großen Unterschied macht, ob sie diese Feinheiten selbst hören und erkennen kann, oder ob sie bei dieser geradezu detektivischen Feinarbeit auf die Leistung einer anderen Person angewiesen ist. Eine Befragte berichtet von Nachteilen in der Arbeit mit DolmetscherInnen, die sich in ihrem Fall so manifestieren, dass es für sie schwieriger ist, eine Beziehung zur KlientIn aufzubauen: 221 7.8 Die Spezifik der Triade <?page no="222"?> Ich hab bei den Therapien mit Dolmetschern wesentlich höhere Ausfallsquoten als bei Therapien ohne Dolmetscher (…) man ist ein bisschen faul auch, wenn man Dolmetscher hat, glaub ich. Also beziehungsfaul, als Therapeut (lacht). Ich glaub schon, ja. Also, es macht auch mit mir etwas, dass gedolmetscht wird. Also, das macht nur mit den Klienten etwas, das macht auch mit mir etwas. Und ja, ich bin da etwas beziehungsfauler, glaub ich. Ich meine, ich kann das jetzt nicht genauer analysieren, aber ich merke einfach, dass dieses zu zweit Sein und mit einer Sprache Herumwurschteln, wie auch immer, ja, oder versuchen, eine Sprache zu finden gemeinsam, etwas unheimlich Verbindendes ist. Und die Beziehung ist stabiler und verbindlicher. Die therapeutische Beziehung. Das würde ich generell so sagen. Ich denke schon, dass das so ist. Und ich muss ehrlich sagen, ich arbeite lieber mit Menschen, mit denen ich mich irgendwie sprachlich selbst verständigen kann. Manchmal geht’s natürlich nicht anders, und natürlich, die Arbeit mit Dolmetschern hat natürlich ihren Reiz, ja. Aber vom Therapeutischen her find ich’s anders. Also, ich find’s gescheiter, irgendeinen Weg des Miteinanderredens zu finden, wenn’s nur irgendwie geht. (PT_13) Die Therapeutin verwendet - wenn auch scherzhaft - den Begriff „beziehungs‐ faul“ und bringt damit zum Ausdruck, dass das Arbeiten mit DolmetscherInnen auf Kosten der Nähe zur KlientIn geht. Für diese Befragte ist das Arbeiten in der Dyade, selbst dann, wenn die Deutschkenntnisse der KlientIn dürftig sind, auf jeden Fall der Triade vorzuziehen. Interessanterweise berichtet dieselbe Befragte anschließend von einem ganz anderen Ansatz in einer französischen Einrichtung, in der DolmetscherInnen bewusst die Rolle von Ko-TherapeutInnen zugeschrieben wird, aus dem Be‐ streben heraus, das immanenten Machtgefälle zwischen TherapeutIn und Kli‐ entIn zu kompensieren: Ja, was mir noch eingefallen ist, dieses Setting, dieser Sprung von zwei auf drei, oder von drei auf vier, es gibt einen französischen Psychoanalytiker, der in einer großen Einrichtung in der Nähe von Paris arbeitet, und die arbeiten sehr viel mit Dolmetschern, und auch mit mehreren Therapeuten im Setting oft. Und oft ist es da so, dass die Dolmetscher und die Ko-Therapeuten ident sind da. Diese Vermischung. Aber das ist eine interessante Geschichte. Da ist es so, dass dieser Theoretiker meint, dass es für die Klienten auch eine Katastrophe ist, in einem therapeutischen Setting, das auch ein Machtverhältnis ist, in der Migration, eh schon außerhalb der eigenen Gruppe zu sein, dann in der Therapie auch außerhalb der eigenen Gruppe zu sein. Das heißt also sozusagen, dass eine zweite Person aus derselben Gruppe sozusagen den Machtunterschied in der Therapie ausgleicht. Und er meint, dass das therapeutisch wertvoll ist, wenn das so ist. Wenn dieser Machtunterschied ausgeglichen wird. Weil die Menschen oft sozusagen sozial angepasst, von Diskriminierungserfahrungen 222 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="223"?> entsprechend zum Beispiel auch in der Therapie reagieren. Und in dem Moment, wo in der Therapie eine zweite Person aus der Gruppe anwesend ist, das kann ein Ko-Therapeut sein, das kann ein Dolmetscher sein, das kann ein Familienmitglied sein, der Klient wesentlich offener ist. Diesen Ansatz gibt es also auch. Ich hätte es noch nicht so erlebt, aber den Ansatz gibt’s auch. (PT_13) An dieser Stelle soll und kann der beschriebene Ansatz nicht auf seine Zweckmä‐ ßigkeit hin bewertet werden, es ist jedoch bemerkenswert, dass im Rahmen einer solchen Arbeitsweise der Figur der DolmetscherIn eine zusätzliche Funktion zugeschrieben wird, nämlich das Machtgefälle, dass hier offenbar auch auf diskriminierende Migrationserfahrungen zurückgeführt wird, auszugleichen. Anschließend berichtete die Befragte PT_13 von ihrer Arbeit mit einer Alba‐ nischdolmetscherin (aus Albanien), die in der Therapie mit einer albanischen Klientin (aus dem Kosovo) wiederholt mit sprachlichen Problemen konfrontiert war, weil die beiden Frauen mitunter über einen unterschiedlichen Wortschatz verfügten. Die Bemühungen der Dolmetscherin, die Sprache der Klientin zu ver‐ stehen, hätten sich als produktiv erwiesen, und dazu geführt, dass die Klientin begonnen hat, sich mit ihrer eigenen Sprache verstärkt auseinanderzusetzen: Die haben sich das schon so angewöhnt. Die Klientin sagt was… die Dolmetscherin übersetzt was, und die Klientin versteht das Wort nicht gleich, was das heißt, weil es ein anderes Wort ist, und die sagt dann auch schon, dieses eine Wort versteh ich jetzt nicht. Die haben sich schon so zusammengespielt. Dass sie das selbstverständlich auch beide schon thematisieren. Und da hat die Dolmetscherin so eine Vorbildwir‐ kung gehabt. Also die Klientin hat gemerkt, dass die Dolmetscherin mir das gleich sagt, wenn es da irgendwelche sprachlichen Verwirrungen gibt. Sie hat mich sofort informiert. Und dann hat sie sich angewöhnt, das auch selber zu machen. Also das ist schon spannend. (PT_13) Fazit: Zum Thema Unterschiede zur Dyade äußerten sich die befragten Thera‐ peutinnen dahingehend, dass die Anwesenheit von drei Personen und (mindes‐ tens) zwei Sprachen es erfordert, eigens Mühe dafür aufzuwenden, um die sprachlichen Feinheiten und Nuancen zu ringen, um der exakten Ausdrucks‐ weise der KlientIn und den dahinter liegenden Mechanismen des Unbewussten auf die Spur zu kommen. Überwiegend sprechen die Befragten insgesamt von einer Bereicherung durch die Anwesenheit der DolmetscherIn, vereinzelt ist aber auch herauszuhören, dass der Dyade auf jeden Fall der Vorzug eingeräumt wird, weil das Arbeiten zu dritt als eine große Einschränkung für den Einsatz therapeutischer Interventionen erlebt wird. 223 7.8 Die Spezifik der Triade <?page no="224"?> 7.9 Abschließende Bemerkungen Dank der hohen Bereitschaft der befragten Psychotherapeutinnen, über ihre Arbeit mit DolmetscherInnen zu reflektieren, war es möglich, einen fundierten Einblick in die Funktionsweisen der Triade aus der Sicht der Therapeutinnen zu bekommen. Zur Sprache kamen arbeitstechnische Aspekte (Sitzordnung, Blickkontakt, Dolmetschmodi, direkte und indirekte Rede), das Thema des DolmetscherInnenwechsels, bei dem es implizit um die (Un)ersetzbarkeit der SprachmittlerIn geht; des weiteren äußerten sich die befragten Psychothera‐ peutinnen über die Person der DolmetscherIn, ihr Rollenverständnis, über die Möglichkeiten und Grenzen ihrer „Kulturkompetenz“, über Herkunft, Fach‐ wissen, Professionalität u. Ä. In den geführten Interviews kam das Thema Abgrenzung - als eine Gratwanderung zwischen Empathie und Distanzierung - ausführlich zur Sprache, und es zeichnete sich ab, dass die Fähigkeit der DolmetscherInnen, sich im richtigen Ausmaß abzugrenzen zu den wichtigsten Elementen im Hinblick auf die Eignung für diesen Einsatzbereich zu zählen ist. Um mit der DolmetscherIn ein Team zu bilden, kann es hilfreich sein, Vor-, Nach- und Intervisionsgespräche routinemäßig oder auch bei Bedarf zu führen, um wiederkehrende Probleme laufend zu besprechen und die DolmetscherIn dabei zu unterstützen, sich mit den Besonderheiten des psychotherapeutischen Set‐ tings vertraut zu machen. Thematisiert wurden explizit auch Schwierigkeiten in der Triade, wie etwa ein latentes Konkurrenzverhältnis zwischen TherapeutIn und DolmetscherIn, Grenzüberschreitungen seitens der DolmetscherIn oder Allianzenbildungen, die stets die Ausschließung des Dritten zu Folge haben. Einige Befragte versuchten, das dyadische mit dem triadischen Setting zu vergleichen und Parallelen bzw. Unterschiede auszuarbeiten, wobei sie zu unterschiedlichen Schlüssen kamen: Während die einen die Erweiterung der Dyade als eine Bereicherung erleben, sehen die anderen darin überwiegend eine Einschränkung. Überraschenderweise wurde der Zeitverlust, der durch das Dolmetschen entsteht, überwiegend positiv aufgefasst, als eine willkommene Möglichkeit, das Nonverbale und die Körpersprache eingehender zu studieren, als dies in einem direkten Gespräch möglich wäre. Zusammengenommen bilden die zahlreichen Aussagen und Beschreibungen der befragten Psychotherapeutinnen ein reichhaltiges Mosaik aus Eindrücken, Erfahrungen und Anregungen, die den Schluss nahelegen, dass in diesem spe‐ zifischen Bereich, in dem der Gebrauch der Sprache einen zentralen Stellenwert einnimmt, die Arbeit mit DolmetscherInnen von allen Beteiligten laufende Reflexionsbereitschaft erfordert, um ein Gelingen der Kommunikation und in weiterer Folge therapeutische Erfolge zu ermöglichen. 224 7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen <?page no="225"?> 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen Wie in 6.1 bereits angekündigt, wird die Perspektive der DolmetscherInnen an dritter Stelle abgehandelt, was die Entstehungsdynamik der Triade widerspie‐ gelt: Die ursprüngliche Dyade bestehend aus PsychotherapeutIn und KlientIn wird durch den Dritten - die DolmetscherIn - erweitert. Insgesamt konnte ich mit sieben Dolmetscherinnen und einem männli‐ chen Dolmetscher ausführliche Interviews führen. Je nach dem individuellen Hintergrund der befragten DolmetscherInnen (Ausbildung, Arbeitserfahrung, Sprachkombination, Reflexionsbereitschaft etc.) variierten die Schwerpunkte der Gespräche. Alle Befragten wurden jedoch gebeten, sich zu folgenden Fragen zu äußern: - Was können Sie über Ihre Arbeitstechnik in der Psychotherapie erzählen (Sitzordnung, Blickkontakt, direkte oder indirekte Rede)? - Empfinden Sie die Arbeit in der Psychotherapie als belastend? - Was fällt Ihnen zum Begriff „Abgrenzung“ ein? - Was bedeutet für Sie der Begriff „Kulturkompetenz“? - Sehen Sie sich selbst als „kulturkompetent“ an? - Wie würden Sie im Bereich Psychotherapie aus Ihrer Sicht „Professiona‐ lität“ oder „professionelles Verhalten“ beschreiben? - Wo sehen Sie Unterschiede zu anderen Kontexten, in denen Sie dolmet‐ schen? - Welche Probleme erleben Sie beim Dolmetschen in der Psychotherapie und wie gehen Sie damit um? Nachdem in den beiden vorangegangenen Kapiteln die Arbeit von Dolmetsche‐ rInnen von den beiden anderen Beteiligten in der Triade ausführlich beschrieben (und z.T. bewertet) wurde, sollen nun die DolmetscherInnen selbst zu Wort kommen und über ihre Tätigkeit sprechen, zunächst im Hinblick auf die Arbeitstechnik. 8.1 Arbeitstechnik Folgende Aspekte sollen unter dem Überbegriff Arbeitstechnik abgedeckt werden: Sitzordnung und Blickkontakt, Dolmetschmodus (simultan/ konse‐ kutiv), sowie das Verwenden der ersten bzw. dritten Person beim Dolmetschen. <?page no="226"?> Die Aufspaltung in die einzelnen Aspekte dient lediglich der Übersichtlichkeit - in der tatsächlichen Ausübung der Dolmetschtätigkeit gehen die einzelnen Aspekte selbstverständlich in einander über, bedingen einander und sind häufig im jeweiligen Moment nicht voneinander zu trennen. In der folgenden Antwort beschreibt eine Dolmetscherin, wie sich grundsätz‐ liche Überlegungen zur Herangehensweise auf ihre konkrete Arbeitstechnik auswirken: Ja, also technisch versuche ich irgendwie mit dem Klienten Kontakt herzustellen, obwohl ich, wie gesagt, nur Dolmetscherin bin. Aber trotzdem, ich glaube, es ist eine wichtige Position. Und ich versuche auch, irgendwie empathisch und authentisch zu sein, und auf der anderen Seite Distanz und Nähe ist mir auch ein Begriff, ist sehr wichtig für mich, abgrenzen zu können. Technisch, rein technisch ich versuche, den Klienten den Platz aussuchen zu lassen, wo sie sitzen. Dann halt die Psychotherapeutin, aber für mich ist es am liebsten, wenn ich dazwischen sitze. Und in unseren Räumlichkeiten lässt sich das eh machen, sehr angenehme Räumlichkeiten, gefällt mir sehr gut. Und ich versuche, sehr nah am Text zu dolmetschen, so nah wie möglich. (D_7) Einfühlsam beschreibt die Befragte, wie sie, obwohl sie sich selbst als „nur Dolmetscherin“ erlebt, versucht, Empathie, Authentizität, Distanz, Nähe, Ab‐ grenzung und Treue zum Original unter einen Hut zu bringen, und auf welche Weise sie mit Hilfe der Sitzordnung ihre eigene Positionierung in der Triade reguliert. 8.1.1 Dolmetschmodus: simultan/ konsekutiv Auf die Frage nach dem bevorzugten Dolmetschmodus, simultan oder konse‐ kutiv, äußerten sich die Befragten folgendermaßen: Konsekutiv, ja. (D_3) Ja, ich dolmetsche meistens konsekutiv (D_6) Konsekutiv, aber in manchen Fällen, wo das nicht geht, muss es auch simultan sein, weil sonst geht es nicht. (D_2) Unterschiedlich. Beides. Entweder gemischt oder ich schaue, wie das für die Klienten und für mich, das ist dieses Fingerspitzengefühl, was gerade passt. Das muss man auch irgendwie unterscheiden. Für mich persönlich wäre es angenehm, wenn ich gleichzeitig übersetze, für manche ist das unangenehm, glaube ich, wenn ich die ganze Zeit gleich‐ zeitig rede mit denen. Und wenn zu viel Information ist, dann muss ich das irgendwie so machen, habe ich das Gefühl, weil sonst schaffe ich das nicht. (D_7) 226 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="227"?> Die Befragte D_7 spricht von „Fingerspitzengefühl“, das nötig ist, um abzu‐ schätzen, welcher Modus gerade passend ist. Wenn es nach dem eigenen Rhythmus ginge, wäre simultan der bevorzugte Modus, allerdings ist sich die Dolmetscherin dessen bewusst, dass dies für die anderen Beteiligten störend wäre. Simultan kommt dann zum Einsatz, wenn es nicht anders geht, wenn ansonsten die Gefahr droht, dass Informationen verloren gehen. Von ähnlichen Erfahrungen berichtet auch die Befragte D_1: Dolmetschen tu ich in der Regel konsekutiv, weil das Simultane, das ist, das verwirrt beide. Das lenkt die Klientin ab und lenkt die Therapeutin ab, wenn die das nicht gewöhnt sind, dass sie zwei Sachen gleichzeitig hören und sich eigentlich nur auf eine konzentrieren sollen oder können. Also das mache ich eigentlich nur grundsätzlich konsekutiv, und wenn es zu lange wird, dann unterbreche ich halt und sage, ich muss jetzt dazwischen übersetzen. (D_1) Die Dolmetscherin sieht es also als ihre Aufgabe an, bei zu langen Passagen für eine Pause zu sorgen, um dolmetschen zu können. Dagegen ist es für den Befragten D_8m nur im äußersten Fall denkbar, selbst einen der Gesprächsteilnehmer zu unterbrechen: Ich versuche… na ja, ich kann nicht, ich bin nicht ein Mensch, dass ich jemanden unterbreche, das ist, da kann ich mich nicht abgrenzen, das ist, wenn jemand erzählt, ich versuche, alles bei mir aufnehmen und nicht vergessen, und natürlich bis zu einem gewissen Grad, dann sage ich selber Stop, damit ich nichts vergesse. Oder wenn ich weiß das Thema im Groben inhaltlich, dann dolmetsche ich nicht direkt, wo Klient redet und ich auch gleichzeitig, das mache ich kaum. (D_8m) Die Befürchtung, etwas zu vergessen, und also bei der Dolmetschung auszu‐ lassen, wiegt stärker als das Unbehagen, die sprechende KlientIn zu unterbre‐ chen. Eine andere Befragte berichtet von einem flexiblen Umgang mit den Dolmet‐ schmodi, allerdings hat sie im Hinblick auf die Wunschvorstellungen der TherapeutInnen etwas andere Erfahrungen gemacht: Das hängt davon ab, es ist so quasi-simultan, das ergibt sich oft bei Klienten, wenn es bei Klienten geht, dass man wirklich so dazwischen reinsprechen kann, das haben die Psychologen und Therapeuten bei uns eigentlich gern, weil sie dann irgendwie dran bleiben und relativ schnell einsteigen ins Gespräch, und nicht so lange Passagen sind und sie dann eigentlich nicht mitbekommen, um was es geht. Und ja, sonst halt konsekutiv, wenn’s passt (D_4). 227 8.1 Arbeitstechnik <?page no="228"?> Die Befragte bezeichnet den verwendeten Modus als „quasi-simultan“, wobei dies offenbar hauptsächlich von Seiten der TherapeutInnen gewünscht wird, um nahe am Original dran zu bleiben. Längere Passagen sind unerwünscht. Auch eine andere Befragte berichtet vom Abwägen zwischen den Wünschen der TherapeutInnen nach möglichst kurzen Sequenzen einerseits, und dem Wunsch der KlientInnen, ungehindert in „Monologen“ zu sprechen: Eher konsekutiv, allerdings versuche ich, relativ knapp dranzubleiben. Simultan habe ich das Gefühl, dass es die meisten Klienten irritiert, wenn ich gleichzeitig spreche, während sie noch sprechen. Aber ich versuche bei konsekutiv möglichst nah dranzubleiben, damit die Therapeuten möglichst schnell reagieren können auf das. Also damit nicht die Klienten, wenn sie es zulassen, ganze Monologe halten und ich das dann als Monolog wiedergeben kann, sondern möglichst nahe dran, also auch Halbsätze. Kommt auf die Klienten drauf an, wie sie es zulassen. Aber ich versuche für mich, möglichst knapp dranzubleiben. (D_5) Fazit: Die Befragten handhaben den Dolmetschmodus flexibel und passen sich an die momentanen kommunikativen Bedürfnisse der beiden Gesprächspart‐ nerInnen an. Wenn auch widerwillig, sind die DolmetscherInnen bereit, den Redefluss der KlientInnen zu unterbrechen, wenn es nötig ist, um das Gesagte vollständig wiedergeben zu können. Die Schwierigkeit, mit dem Simultanmodus gut umzugehen, wird eher auf der Seite der KlientInnen verortet. 8.1.2 Sitzordnung und Blickkontakt Wie bereits in 7.2.1 im Kapitel Perspektive der Psychotherapeutinnen werden auch an dieser Stelle die beiden Aspekte Sitzordnung und Blickkontakt ge‐ meinsam abgehandelt, weil sich in den Antworten der Befragten herauskristal‐ lisiert hat, dass hier ein enger Zusammenhang besteht, wie in der folgenden Äußerung beschrieben wird: Die Sitzordnung war meistens so, die Psychotherapeutin der Klientin gegenüber, ich war dann so in der Mitte, ein bisschen auf der Seite. Und wir hatten immer das Problem mit dem Blickkontakt, weil die Patientin immer mich angeschaut hat. Und die Psychotherapeutin hat das Gefühl gehabt, dass sie einfach da ausgeschlossen ist. Und dann haben wir auch die Sitzordnung geändert. (D_6) Hier wird ein wichtiger Gedanke angesprochen, nämlich dass in einer Triade derjenige, der nicht angeschaut wird, sich rasch kommunikativ „ausge‐ schlossen“ fühlt. In diesem Fall ist es also die Psychotherapeutin, die durch das Ausschlussprinzip zur einer „Dritten“ innerhalb der Triade wird. Diese 228 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="229"?> Schiefstellung im Hinblick auf die Aufmerksamkeitsverteilung wird durch eine Veränderung der Sitzordnung korrigiert, und zwar offenbar mit Erfolg. Eine Befragte beschreibt eine typische Begrüßungssituation, die dadurch ge‐ kennzeichnet ist, dass zuerst die KlientIn ihren Sitzplatz aussuchen darf, dann die TherapeutIn, und schließlich die DolmetscherIn den noch freien Platz einnimmt: Sitzordnung ist meistens vorgegeben durch die Therapeutin, die die Klientin fragt, wo sie sitzen will, und sie sagt dann, setz du dich am besten dorthin, und dadurch ist die Sitzordnung eigentlich schon vorgegeben. (D_1) Ähnlich auch die Erfahrung einer anderen Befragten, wobei ihr zuweilen auch ein Mitspracherecht eingeräumt wird: Es ist so, dass der Psychotherapeut immer bestimmt, wie ich sitzen soll. Wenn ich sage, ich will da sitzen oder da nicht, dann sagt mein Psychotherapeut, probieren wir es so, und wenn es nicht passt, können wir es ändern (…) Für mich passt es, wenn ich einfach gegenüber sitze und beide Gesprächspartner sehen kann. Sowohl den Psychotherapeuten, als auch den Patienten. (D_3) Normalerweise bietet sich ein gleichschenkliges Dreieck an, womit die Dolmet‐ scherIn eine Äquidistanz zu den beiden anderen GesprächsteilnehmerInnen signalisiert: Wir sitzen meistens so, dass Therapeut und Klient sich gegenübersitzen, und ich so in der Mitte, dass wir also so ein gleichschenkliges Dreieck bilden. (D_4) Also Sitzordnung ist meistens die Dreieckskonstellation, beziehungsweise, Therapeut und Klient sitzen sich meistens frontal gegenüber, und ich in der Mitte seitlich. (D_5) In der Psychotherapie wir sind zu dritt, also ich natürlich in der Mitte. Ich bin hier, der Klient ist da, und der Psychotherapeut ist da. (D_8m) Allerdings kann es nötig sein, von dieser „natürlichen“ Sitzordnung abzuwei‐ chen, wenn die Situation mit dem Blickkontakt unbefriedigend ist und die TherapeutIn es für nötig erachtet, die Konstellation zu korrigieren: Nein, es ist nicht immer ein gleichmäßiges Dreieck, und vor allem mit einer Therapeutin haben wir da schon einiges herumprobiert, weil da eine Situation war, wo ich gar nicht zufrieden war, oder eigentlich sie nicht zufrieden war, weil die Klientin sie nicht angeschaut hat. Und dann haben wir versucht, dass ich hinter ihr sitze, dass wir sozusagen wie eine Einheit bilden, aber das hat die Klientin nicht ausgehalten, weil 229 8.1 Arbeitstechnik <?page no="230"?> sie dann immer nach hinten geschaut hat, das hat dann auch nicht funktioniert. (D_1) Von einer ähnlichen Intervention seitens der Therapeutin berichtet auch eine andere befragte Dolmetscherin: Wir haben dann versucht, dass ich hinter der Klientin sitze, ein bisschen dahinter, damit sie mich nicht anschauen kann. Weil sie hat mir die ganze Zeit in die Augen geschaut. Und das war für die Psychotherapeutin ein Problem. (D_6) Von einer Ausnahme erzählt auch eine andere Befragte: Es gibt eine Ausnahme, wo die Psychotherapeutin und ich auf dem Sofa sitzen, und die Klientin vis-à-vis von uns. Das ist eine Ausnahme. Das ist auch ein Dreieck, aber da sind wir dann schon eher ein Team mit ihr, also gefühlsmäßig. (D_2) Durch die körperliche Nähe zwischen Dolmetscherin und Psychotherapeutin (gemeinsam auf dem Sofa) wird signalisiert, dass die beiden ein (Arbeits-)Team bilden. Die Befragte D_1 beschreibt, dass Sitzordnung und Blickkontakt als manifes‐ tierte Indikatoren dann an Bedeutung verlieren, wenn die Beziehung zwischen TherapeutIn und KlientIn solide und tragfähig ist: Und das Wichtigste sozusagen ist, dass die Beziehung zwischen Therapeutin und Klientin wirklich da ist, das ist ja auch eine persönliche Sache. Also eine Klientin habe ich zum Beispiel gehabt, die so fixiert war auf die Therapeutin, da war es völlig egal, wo ich gesessen bin, weil da war der Kontakt einfach immer da. Und eine habe ich, die eher schon auf mich fixiert ist, und da ist es schon schwierig, weil die Therapeutin immer wieder dazwischen sagt, sag ihr mal, sie soll mich anschauen.“ (D_1) Die zweite beschriebene Situation knüpft an einen Aspekt an, der bereits unter 7.7.1 Konkurrenz und Grenzüberschreitungen thematisiert wurde, näm‐ lich der latente Konkurrenzkampf zwischen TherapeutIn und DolmetscherIn um die Aufmerksamkeit der KlientIn. Man kann sich leicht vorstellen, wie wenig erfolgsversprechend es ist, Blickkontakt immer wieder „zu verordnen“, und wie unbefriedigend für die DolmetscherIn, eine solche Aufforderung zu dolmetschen. Die befragte Dolmetscherin führt weiter aus: Ja, also das ist eher sogar manchmal ein Problem von mir, weil ich brauch diesen Blickkontakt mit der Person, für die ich dolmetsche. Deswegen bin ich auch keine Simultandolmetscherin, weil ich das eigentlich überhaupt nicht mag, irgendwo in der Kabine sitzen und weiß Gott, wo der Redner ist. Und da habe ich dann oft das Gefühl, 230 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="231"?> dass die Therapeutin das nicht will, und sagt, nein, der Blickkontakt muss zu mir bestehen. Und das ist für mich manchmal ein bisschen ein Problem, weil ich sag, ich bin halt einfach nun mal da. Und ich brauche diesen Blickkontakt. Das gehört für mich irgendwie dazu. (D_1) Die Befragte - eine ausgebildete Dolmetscherin - zieht den Vergleich mit dem Simultandolmetschen in der Kabine, wo der Dolmetscher keine Möglichkeit hat, als Person im Gespräch präsent zu sein und damit sich die Frage nach dem Blickkontakt naturgemäß auch gar nicht stellt. Dass der Blickkontakt selbstverständlich „dazu gehört“, kann eine andere Befragte nur bestätigen: Ich habe ständig Blickkontakt. Bei mir ist es ganz normal. Also, Blickkontakt, das gehört dazu. Wenn ich sogar hinten sitze. Also einmal war ein Problem, ich habe Platz hinten genommen, und der Patient hat sich immer gedreht und geschaut. Das ist ganz okay, er will schauen, mit wem er es zu tun hat, und ob er mir vertrauen kann, ob er einfach mit mir zu tun haben will. (D_3) Die Dolmetscherin berichtet, dass nicht einmal eine geänderte Sitzordnung - sie saß hinter dem Klienten - den Blickkontakt zu kappen vermochte, weil es für den Klienten nicht akzeptabel war, zu sprechen, ohne die „Erstabnehmerin“ seiner Worte direkt anzuschauen. Dass TherapeutInnen es nicht gerne sehen, wenn die KlientInnen beim Sprechen den Dolmetscher anschauen, weiß auch der folgende Befragte aus seiner Praxis. Er übernimmt dann selbst die Initiative und fordert die KlientInnen auf, ihn nicht anzusehen: Manchmal versuche ich, weil ich hab auch für einige Klienten in der Therapie gedol‐ metscht, die kenne ich von unserer Stelle in der Caritas. Und die Therapeutin war ganz streng, dass ich, weil wir uns kennen, nicht sie anschaue, sondern die Therapeutin. Und das habe ich in solchen Fällen manchmal versucht, solche Situationen zu vermeiden, und habe auch wiederholt gesagt, bitte nicht mich anschauen. Und die Psycho‐ therapeutin hat das auch manchmal so gesagt. Und die Therapeuten sind auch unterschiedlich, manche sind für manche Sachen ganz streng, manche sind lockerer. Bei einer Therapeutin ist zum Beispiel alles ganz flexibel. Je nachdem. Ich schaue sie an, sie schauen mich an, und das heißt, sie reden mit mir eigentlich mehr, und dann übersetze ich. (D_8m) Der befragte Dolmetscher fühlt sich als der eigentliche Zuhörer wahrge‐ nommen, wenn der Klient beim Sprechen ihn anschaut. Nur eine von den Befragten berichtet, dass sie selbst den Blickkontakt meidet: 231 8.1 Arbeitstechnik <?page no="232"?> 21 Eye Movement Desensitization and Reprocessing, kurz EMDR, ist eine von Francine Shapiro den USA entwickelte Behandlungsmethode für Traumatisierte aus dem Bereich der Psychotraumatologie. Manche schaue ich (beim Dolmetschen, Anm. M.D.) gar nicht an. Bei manchen geht es gar nicht, sie nicht anschauen. Aber bei sehr vielen versuche ich einfach, den Blickkontakt zu vermeiden. Erstens denke ich mir, dass stört die Therapie selbst, weil so eine Art Beziehung zwischen Dolmetscherin und Klientin entsteht. Das, denk ich mir, lenkt den Klienten vom Psychotherapeutin ab. Dann ist das eher ungünstig. Und zweitens denke ich mir, das ist auch eine Art Schutz. (D_2) Die Befragte greift also die (ausgesprochene oder unausgesprochene) Forderung der TherapeutIn auf, die Therapie nicht „zu stören“, und nimmt sich bewusst zurück. Den fehlenden Blickkontakt empfindet sie außerdem als „eine Art Schutz“, der es ihr erlaubt, sich stärker auf ihre Rolle als Dolmetscherin zu fokussieren. Einen Sonderfall beschreibt eine andere Befragte, im Zusammenhang mit einer besonderen Intervention des Psychologen, im Zuge derer der Dolmetscher so platziert wird, dass ein Blickkontakt zwischen Dolmetscher und Klient verunmöglicht wird: Jetzt hat unser Psychologe eine Fortbildung gemacht in EMDR 21 , und da möchte er möglichst den Dolmetscher sozusagen aus dem Blickwinkel haben, sodass der Klient nicht hinsieht. Und das haben wir besprochen, dass wenn wir das mal einsetzen, dass der Dolmetscher eben hinter dem Klienten oder jedenfalls so sitzt, dass der Klient nicht hinschauen kann. (D_4) Dieselbe Befragte erzählt, dass sie den Blickkontakt, bzw. das Fehlen desselbigen mitunter auch bewusst einsetzt: Ich schaue meistens der Klienten an, weil ich es einfach brauch, auch von den Lippen abzulesen, und ich setze den Blickkontakt manchmal auch bewusst ein, indem ich zum Beispiel am Anfang vom Gespräch den Klienten bewusst nicht anschaue, sondern dass sich die beiden begrüßen, und dass irgendwie klar ist, die Rollenverteilung, dass also der Therapeut die Gesprächsführung hat. (D_4) Ein bewusst verweigerter Blickkontakt seitens der Dolmetscherin dient also dazu, die kommunikative Verbindung zwischen den beiden anderen Akteuren der Triade zu stärken. Vor dem Hintergrund der bereits beschriebenen Dy‐ namik (Ausschließung des Dritten) bedeutet eine solche Herangehensweise der Dolmetscherin, dass sie sich selbst zunächst kalkuliert ausschließt, um der Therapeutin den Vorrang einzuräumen. 232 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="233"?> Auch eine andere Befragte hat für sich einen Weg gefunden, den Blickkontakt zu steuern: Meistens habe ich mein Heft bei mir, damit ich mich auf etwas fokussieren kann, ohne unhöflich zu sein, damit der Blickkontakt zwischen Therapeut und Klient eher da ist. Und der Blickkontakt zu mir eher gelegentlich ist. Wenn ich keinen Block vor mir da hab, dann weiß ich nicht, wo ich hinschauen muss, und deshalb hab ich immer einen Block, auch wenn ich nichts mitschreiben muss, aber dafür kann ich dann wenigstens in meine Papiere reinschauen, dafür bin ich relativ dankbar (lacht). (D_5) Die Befragte lenkt also ihren Blick auf einen Notizblock, um sich zurücknehmen zu können, ohne unhöflich zu wirken und dadurch beim Klienten eventuell einen allzu distanzierten Eindruck zu hinterlassen. Die Anwendung dieser Strategie wird bei Bedarf von den TherapeutInnen auch eingefordert: Wenn es sich auf mich konzentriert, dann wird es von den einzelnen Therapeuten angesprochen. Und dann werde ich gebeten, möglichst meinen Blick auf meine Papiere zu senken, damit die Klienten sich eher auf die Therapeutin konzentrieren können. (D_5) Fazit: Die befragten DolmetscherInnen sind sich dessen wohl bewusst, dass der Blickkontakt mit den KlientInnen eine größere Nähe schafft, wodurch die TherapeutIn ein Stück weit aus dem kommunikativen Geschehen „gedrängt“ wird. Dennoch sind die meisten DolmetscherInnen nicht bereit, ganz auf den Blickkontakt zu verzichten, weil er für sie einen integralen Bestandteil der Kommunikation darstellt. Um sich dennoch herauszunehmen und im Hinblick auf den Blickkontakt mit der TherapeutIn nicht in Konkurrenz zu gehen bzw. ihr „das Feld zu überlassen“, entwickeln DolmetscherInnen unterschiedliche Strategien (z. B. Umstellung der Sitzordnung, bewusst gesteuerter Entzug des Blickkontakts oder das Richten des Blicks auf einen Notizblock auf dem Schoß, wobei zweitrangig ist, ob der Block tatsächlich für Notizen genutzt, oder lediglich als eine „Attrappe“ eingesetzt wird). Aus den Antworten geht hervor, dass zwischen Sitzordnung und Blickkontakt ein enger Zusammenhang besteht, dass die Versuche, die Sitzordnung dahingehend zu ändern, um den Blickkontakt zwischen DolmetscherIn und KlientIn ganz zu unterbinden, sich in der Regel als fruchtlos erwiesen haben. Ein Mindestmaß an Blickkontakt ist also notwendig und wird sowohl von seitens der KlientInnen, als auch seitens der DolmetscherInen gewünscht, oder anders gesagt, Kommunikation ganz ohne Blickkontakt wird wohl als unnatürlich oder entmutigend erlebt. Die bewusste 233 8.1 Arbeitstechnik <?page no="234"?> Steuerung des Blickkontakts ist also nur bis zu einem gewissen Grad möglich bzw. sinnvoll. 8.1.3 Erste Person und/ oder dritte Person Auf die Frage, ob sie beim Dolmetschen in der ersten oder in der dritten Person dolmetschen, antworten einige Befragte mit einem eindeutigen Ja: In der ersten. Immer nur in der ersten. (D_2) Immer in der ersten Person. (D_4) Erste Person. (D_5) Ja, ja. Nur in erster Person, ja. (D_1) Auf eine daran anschließende Frage an die Befragte D_1, was sie täte, wenn die KlientIn in die dritte Person wechselt und also die TherapeutIn nicht direkt anspricht, antwortet die Befragte: Dann übersetze ich das so, sagen Sie ihr, und dann muss die Therapeutin damit anfangen, was sie will. Also, sie kann dann sagen, so geht das nicht, oder sie akzeptiert das, oder… (D_1) Der Befragte D_8m, handhabt dieses Phänomen jedoch anders: Also, die meiste Zeit sage ich Er. Also die dritte Person (…) Das ist auch unterschiedlich. Manchmal sage ich wortwörtlich, wo ich gut und sinnvoll finde. Und manchmal achte ich nicht drauf, dass ich wortwörtlich dolmetsche, weil es geht um Inhalt. (D_8m) In Abschnitt 7.2.3 Direkte und indirekte Rede äußerten sich die Psychothe‐ rapeutInnen zu dem Thema, und angesichts der von den Therapeutinnen vorgebrachten einschlägigen Beschwerden sei an dieser Stelle die Mutmaßung erlaubt, dass die getreue Wiedergabe der ersten oder dritten Person nicht immer gegeben ist, sondern aus kommunikationstechnischen Gründen manchmal „unterschlagen“ wird. Möglicherweise geschieht diese „Unterschlagung“ unbe‐ wusst, oder geht im Gespräch unter. Zwar gibt es bei den DolmetscherInnen ein Bewusstsein dafür, dass „nah am Original“ gearbeitet werden soll, mehr als in anderen Kontexten, aber beim Thema erste oder dritte Person stellt sich die Frage, was wichtiger ist: die exakte Wortwahl der KlientIn beibehalten, oder seine/ ihre kommunikative Intention wiederzugeben. Eine Befragte äußert sich zu der Anforderung, nah am Original zu bleiben, folgendermaßen: 234 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="235"?> Am Anfang hab ich das gar nicht verstehen können, weil wir ja nicht Wörter übersetzen, sondern Sinn. Aber mit der Zeit versteh ich schon, dass, wenn man wirklich professionell und präzise arbeitet (…) geht es eher nah am Original. (D_2) 8.2 Belastung in der Arbeit mit kriegs- und foltertraumatisierten Menschen Für Kriegs- und Folterüberlebende zu dolmetschen, noch dazu in einem Kontext, in dem der Fokus auf die Bearbeitung quälender Erinnerungen liegt, bedeutet für die DolmetscherInnen zwangsläufig, dass sie belastenden Inhalten ausgesetzt werden. Im folgenden Abschnitt beschreiben die befragten DolmetscherInnen ihre Erfahrungen mit der psychischen Belastung in der Arbeit und ihren eigenen Umgang damit. Eine andere Befragte berichtet davon, dass es ihr zunächst gar nicht möglich war, die Belastung als eine solche zu identifizieren: Ich würde sagen, ziemlich belastend. Und bei mir war es so, dass ich diese Belastung am Anfang unterschätzt habe und ziemlich viel runtergeschluckt habe. Und zu einem bestimmten Zeitpunkt habe ich nicht mehr verstehen können, was mit mir los war. Und ich habe ziemlich viele Stunden gemacht, und noch dazu in meiner Freizeit ziemlich viel über Tschetschenien gelesen. Und das geht einfach nicht auf einmal. Und dann ging es mir wirklich elend, und erst danach habe ich verstanden, dass es schon ziemlich in Richtung Burnout geht. Und dann habe ich meine Therapeutin gefragt, wo schöpft sie ihre Kraft für die Arbeit. Und da hat sie verstanden, dass es mir schlecht geht (lacht). Das war nicht zu benennen wirklich, weil ich auch vorher ziemlich viel gedolmetscht habe, und das sich vorzustellen, dass manche Sachen auch emotionell so belastend sein können, das ist schwer abschätzbar. Nein, Das sind Erfahrungswerte, wirklich. Da kannst du nur aus eigenen Fehlern klug werden. (D_2) Die intensive Auseinandersetzung mit der Kriegsthematik - in diesem Fall im Kontext Tschetschenien - führte bei der betroffenen Dolmetscherin zu einem emotionalen Zustand nahe an einem Burnout. Dass es so sein würde, war für sie nicht vorhersehbar gewesen. Zwar vertraute sie sich der Therapeutin nicht direkt an, allerdings war die Therapeutin einfühlsam genug, den Zustand der Dolmetscherin richtig zu interpretieren. Auch eine andere Befragte berichtet von großen psychischen Belastungen in der Arbeit: 235 8.2 Belastung in der Arbeit mit kriegs- und foltertraumatisierten Menschen <?page no="236"?> Es war sehr belastend für mich psychisch, und ich habe es immer nach der Psychotherapie gemerkt. Ich war überfordert und gereizt, und ich musste nachher immer daran denken. Ich musste einfach die ganze Zeit, ich habe es mir immer und immer wieder im Kopf abgespielt, und das ist mir einfach zu nahe gekommen. Ich konnte da einfach nicht so Schluss machen und sagen, ok, das ist nur Arbeit, ich bin jetzt nicht dafür zuständig, dass es ihr besser geht, ich konnte da nicht so abschalten und mich abgrenzen. (D_6) Es war der Dolmetscherin also über weite Strecken nicht möglich, das Gehörte in der Kategorie „Arbeit“ abzuspeichern und sich von den Inhalten zu distanzieren. Ein anderer Befragter stellt einen Zusammenhang her zwischen den in der Therapie zur Sprache gebrachten Inhalten und den eigenen Erlebnissen, die dadurch wieder wachgerufen werden: Meine Erfahrungen werden wieder abgerufen. Zum Beispiel, wenn jemand sagt, mein Bruder in Haft gewesen und Folter. Genau das habe ich erlebt, Verfolgung habe ich auch erlebt. Und ich bin auch ein Mensch, ich will mich selbst nicht loben, aber ich bin ein Mensch, der für Menschenrechte, für Gerechtigkeit, für Menschlichkeit und und und. Wenn ich was höre, dass etwas ungerecht verlaufen ist, oder dass jemand ungerecht behandelt wurde…Das berührt mich. (D_8m) Verfolgung als Thema wirkt auf den Befragten retraumatisierend, und fremdes erlittenes Unrecht lässt den Dolmetscher ebenfalls nicht kalt. Eine andere Befragte dagegen empfindet die Inhalte nicht als Belastung, obwohl sie sich auch nach der Stunde mit ihnen gedanklich auseinandersetzt: Belastend ist einfach, wenn die Leute Dinge erzählen oder schlimme Dinge erzählen, dass die einem im ersten Moment natürlich durch den Kopf gehen. Es ist auch nicht so, dass ich die Sachen, die sie erzählen, gleich wieder vergesse. Nur ich empfinde sie nicht als Belastung. Also sie verfolgen mich teilweise schon, auch in meinem Alltag, und sie fallen mir wieder ein, und ich denke darüber nach. Aber ich empfinde sie nicht als Belastung. (D_5) Eine befragte Dolmetscherin empfindet das klare psychotherapeutische Setting in einem solche Ausmaß als passend, dass es ihr hilft, mit schwierigen Inhalten gut umzugehen: Also grundsätzlich muss ich sagen, dass ich für mich, weil ich auch in verschiedenen Settings arbeite, für mich das psychotherapeutische Setting das sauberste und klarste und einfachste ist, und am wenigsten belastend. Also wenn ich es vergleiche zum Beispiel beim Dolmetschen beim Arzt im Krankenhaus.(…) Weil die Rahmenbedingungen klar sind, weil die Rollenverteilung klar ist, weil wir auch ein eingespieltes Team 236 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="237"?> sind, weil wir uns kennen. Und weil diese Haltung des Therapeuten da ist, diese wertschätzende Haltung gegenüber dem Klienten, die man in anderen Settings oft nicht hat, gerade im Krankenhaus. Man ist vielleicht mit fremdenfeindlichen Personen konfrontiert, oder Polizei überhaupt. Dadurch ist es für mich sehr wenig belastend, weil ich das Gefühl habe, ich bin da in einer Situation, wo sich eh jemand dieser Person annimmt, und ich unterstütze diesen Prozess. (D_4) Die „wertschätzende Haltung gegenüber dem Klienten“ wird hervorgehoben, sowie die aktive Teilnahme an einem konstruktiven Prozess. Daraus bezieht die Dolmetscherin so viel Befriedigung, dass die Nachteile (belastende Inhalte etc.) nicht stark zum Tragen kommen. Allerdings beschreibt sie von einer Extremsituation, in der sie ihre Contenance nicht wahren konnte: Weil da waren wir auch räumlich in einem anderen Setting, und die hat dann zu weinen begonnen, hat irgendwie Bilder rausgeholt, von ihren Kindern, die umgekommen sind, und hat dann wirklich die Details erzählt, wie das war, und da habe ich einfach mitgeweint. Das war einfach zu belastend. Und die Psychologin hat dann auch gesehen, na ok, jetzt hat sie eigentlich zwei Klienten, oder was macht sie jetzt. Solche Extremsituationen gibt es natürlich. (D_4) In dieser konkreten Situation fühlte sich die Dolmetscherin mit der Klientin stark identifiziert und war von deren Hilflosigkeit erfasst, und zwar in einem Maße, dass sie davon ausgeht, die Psychologin würde sie nun ebenfalls als eine Klientin wahrnehmen („jetzt hat sie eigentlich zwei Klienten“). Manche Dolmetscherinnen erzählen wiederum, dass sie die Arbeit in der Psychotherapie gar nicht als belastend empfinden: Nein, nie. (D_3) Ich habe es nie als belastend empfunden. Ich habe es immer als total erfüllend empfunden. (D_5) Eine Befragte erzählt, dass sie sich die Belastung schlimmer vorgestellt hatte, und dass sie viel Energie aus dem Teamwork mit den TherapeutInnen schöpft: Zuerst habe ich mir gedacht, das wird schlimmer sein. Eigentlich kann ich mich ziemlich gut abgrenzen, weil für mich ist ein wichtiger Faktor das Team. Weil ich mit den Psychotherapeuten ein bisschen reflektieren kann nach dem Gespräch. Und damit kann ich mich sehr gut abgrenzen. Ich versuche, diese Geschichten da zu lassen, also nicht nach Hause mitnehmen. Und natürlich, wir sind alle Menschen, und ich glaube… Ja, wie äußert sich das… Ich merke, dass ich, wenn ich zu viele Termine habe, dann lässt meine Konzentration nach, und wenn anstrengende Termine waren, dann 237 8.2 Belastung in der Arbeit mit kriegs- und foltertraumatisierten Menschen <?page no="238"?> brauche ich einfach Ruhe, und ich will nicht unbedingt mit vielen Leuten sprechen, ich möchte mich ein bisschen zurückhalten und erholen. (D_7) Eine andere Befragte hält das Reflektieren über die Tätigkeit bzw. über die Auswirkungen auf einen selbst für unabdingbar: Ich denke, dass man als Dolmetscherin oder Dolmetscher immer sehr viel darüber reflektieren muss, was mit dir selbst passiert. Was ist mit mir, jetzt im Moment? Und warum? Sonst bringt dich das nicht weiter. Und wenn du dich nicht weiterentwickelst, dann denke ich kaum, dass das beruflich weiter funktionieren kann. (D_2) Eine andere Befragte machte den Versuch, sich mit einer Kollegin auszutau‐ schen, stieß allerdings aus wenig Verständnis: Ja, aber manche (KollegInnen, Anm. M.D.) haben mich nicht verstanden. Und sie waren wahrscheinlich viel professioneller als ich (lacht). Aber ja, ich habe mit einer aus Armenien gesprochen, und sie hatte das Problem überhaupt nicht. Sie konnte sich da abgrenzen, und sie hat einfach gemeint, das ist so eine Arbeit, die ich leiste, eine Leistung, und dann gehe ich weg und das war’s. Bei mir war es nicht so. (D_6) Interessant ist, dass die Dolmetscherin die Fähigkeit, sich abzugrenzen, als „professionell“ bezeichnet, wenn auch scherzhaft. Näheres zum Thema Profes‐ sionalität folgt im nächsten Abschnitt. Die befragten DolmetscherInnen gehen also unterschiedlich mit den belas‐ tenden Inhalten um. Es lässt sich mutmaßen, dass DolmetscherInnen der Gefahr von Retraumatisierung ausgesetzt sind, wenn die Thematik in der Therapie an eigene Erfahrungen anknüpft und entsprechende Erinnerungen auslöst. Im folgenden Abschnitt soll es anschließend darum gehen, welche Strategien DolmetscherInnen für sich entwickeln, um mit den Belastungen - sofern sie diese als solche wahrnehmen - umzugehen und sich abzugrenzen. 8.2.1 Abgrenzung Der Begriff Abgrenzung wurde unter 7.5.1 bereits umschrieben, und zwar aus dem Blickwinkel der Psychotherapeutinnen. Im Zusammenhang mit den DolmetscherInnen sei darauf hingewiesen, dass DolmetscherInnen das, was die KlientInnen sagen, aus erster Hand verstehen, und zum Teil in ihrer eigenen Muttersprache, manchmal auch aus einer eigenen Erfahrungswelt heraus. Zugleich sei auch nachdrücklich darauf hingewiesen, dass DolmetscherInnen - sowohl professionell ausgebildete, als auch LaiendolmetscherInnen - von ihrer 238 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="239"?> Ausbildung her nicht darauf vorbereitet sind, mit traumatisierten Menschen in Krisensituationen zu arbeiten. Dieses Faktum gilt es mitzubedenken. Für einen Befragten gibt es eine klare Definition von Abgrenzung: Abgrenzung ist, dass ich meine Rolle als Dolmetscher erkenne und bewusst sage, ich bin Dolmetscher. (D_8m) Ein interessantes Bild, das zum Nachdenken anregt, liefert eine andere Dolmet‐ scherin. Befragt nach ihrem Rollenverständnis fühlt sie sich an ein Interview mit der Sängerin Angelika Kirchschläger erinnert, das sie nachhaltig beeindruckt hat. Darin erzählt diese über ihre Rolle in der Oper „Sophie’s Choice“, worin sie die wahre Geschichte einer Mutter nachspielt, die von Nazis gezwungen wird zu entscheiden, welches ihrer beiden Kinder weiterleben darf und welches nicht: Und da ist sie gefragt worden, wie sie mit dieser Situation überhaupt persönlich umgeht, das muss ja ein Wahnsinn sein, sich in so eine Rolle hineinzudenken. Und da hat sie ein tolles Bild gebracht, das ich immer wieder mitnehme in die Psychotherapie. Sie sagte in etwa Folgendes: Ich habe in die Hand bekommen ein Tablett mit zerbrechli‐ chen Gläsern, und das muss ich vorsichtig hinübertransportieren. Es sind aber nicht meine Gläser. Ich muss sie nur heil und vollständig dort anbringen, wo derjenige, der damit umgehen muss, etwas machen muss. Und das ist für mich das Leitbild. Ich muss sie also nicht abwaschen, diese schmutzigen Gläser, ich darf sie auch nicht einfach nehmen wie eine Maschine und hinstellen, weil dann könnten sie zerbrechen. Also ich muss vorsichtig sein im Umgang, und es ist schon anders, als wenn ich Holzblöcke transportieren müsste, das wird einfacher sein, aber eigentlich habe ich damit nichts zu tun, sondern nehme das hier und bringe es dorthin, und passe gut drauf auf, dass sie so ankommen, wie sie waren. Ich denke oft an dieses Bild, und es hilft mir sehr, wenn mir nämlich eine Geschichte so nahe geht, dass ich mich distanzieren muss, dass ich das Bild hab, jetzt nimm das Tablett und stell’s ab, es gehört nicht dir. Weil sonst habe ich manchmal schon auch Geschichten, die ich höre, wo ich mir denke, da könnte ich jetzt eigentlich nur mehr losheulen. (D_1) Die Befragte wartet mit einem eindringlichen und aussagekräftigen Bild auf: „Ein Tablett mit zerbrechlichen Gläsern“, das es zu transportieren gilt, ohne dass etwas kaputt geht. Damit wird eine klar abgegrenzte Verantwortung zum Ausdruck gebracht, denn die Dolmetscherin ist nicht dafür verantwortlich, wie mit diesen „schmutzigen Gläsern“ am Zielort weiterverfahren wird, sie ist jedoch gewissermaßen voll und ganz für den Transport verantwortlich. Für die Befragte ist es hilfreich, sich dieses Bild zu vergegenwärtigen, zum einen, um sich ihrer eigenen Zuständigkeit zu vergewissern, zum anderen aber auch, um sich von Geschichten, die ihr ansonsten zu nahe gehen könnten („da könnte ich 239 8.2 Belastung in der Arbeit mit kriegs- und foltertraumatisierten Menschen <?page no="240"?> jetzt eigentlich nur mehr losheulen“), zu distanzieren. Die Aufgabe, diese fragile Fracht an einen Zielort zu transportieren, verlangt der Dolmetscherin Sorgfalt und Achtsamkeit ab, entbindet sie jedoch von der Verantwortung, damit „etwas machen“ zu müssen. Die folgende Aussage derselben Dolmetscherin illustriert einen gelungenen Prozess der Abgrenzung: Ja also, es ist eine Belastung, dass die Dinge mich natürlich schon sehr treffen. Ich stelle mir dann immer vor, dieser Mensch, der mir hier gegenübersitzt, der hat das wirklich erlebt. Sozusagen, das ist ein Mensch, den man angreifen kann. Und das ist jetzt nicht ein Zeitungsartikel über ein Massaker irgendwo, wo man auch denkt, wie schrecklich und so. Aber da ist schon wieder eine neutrale Stufe dazwischen. Also das ist etwas, was mich schon sehr trifft, und was dann schon zu einer Belastung wird, die allerdings eigentlich nur andauert in der Stunde. Also ich kann das ganz gut also sozusagen wirklich dann das Tablett hinstellen und das nicht mit mir nach Hause mitnehmen. (D_1) Die Fähigkeit, das gehörte (und gedolmetschte) Belastende nicht mit nach Hause zu nehmen, ist sicherlich eine sehr gute Voraussetzung, um als DolmetscherIn in der Psychotherapie langfristig bestehen zu können. Wie auch bereits in 7.5.1 ausgeführt wurde, umfasst der Begriff Abgrenzung mehrere Facetten: zum einen das Verhalten nach außen hin, im Umgang mit den KlientInnen, zum anderen ist es eine innere Kategorie, also eine Frage der Einstellung zu der Situation. Eine Befragte sieht die Forderung nach Abgrenzung an sich kritisch und hinterfragt diese Haltung, ganz im Gegensatz zu der zuvor zitierten Aussage: Das (Abgrenzung, Anm. M.D.) ist eines dieser Worte, das sie predigen seit zwei Jahren, mit dem ich nicht so wirklich viel anfangen kann (lacht). Weil ich mich nie abgrenzen wollte. Die Therapeuten sind wahrscheinlich unzufrieden mit mir, weil ich mich zu wenig distanziere, weil ich mich zu wenig abgrenze. Aber das Nichtabgrenzen ist für mich nie zu einem Problem geworden. Wie gesagt, die Dinge, die Geschichten bleiben in meinem Kopf hängen, ich denk darüber nach, aber…Ich fände es sehr traurig, wenn man aus einer Therapie mit einer schlimmen Geschichte rausgeht und das wie einen Mantel abstreift und in sein Restleben abtaucht. Ich fände das sehr traurig, wenn ein Dolmetscher so distanziert und abgegrenzt ist, dass er das wie eine Stunde Dolmetschen über irgendwelche Wirtschaftsthemen sieht und dann in sein Alltagsleben zurückkehrt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. (D_5) 240 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="241"?> Es lohnt sich, über diese Aussage nachzudenken und tatsächlich die Frage zu stellen, ob es „gut“ oder „nützlich“ ist, eine so starke professionelle Distanz aufzubauen, dass die gedolmetschten Inhalte beliebig austauschbar werden. An dieser Stelle soll erst gar nicht der Versuch gemacht werden, eine Antwort auf diese Frage zu geben oder eine Bewertung dieses Begriffs zu liefern, die Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erheben könnte, aber es ist durchaus bemerkenswert, einer solchen Stimme Gehör zu schenken, die nicht für mehr Abgrenzung (und also Distanzierung) plädiert, sondern im Gegenteil an Mitge‐ fühl und Anteilnahme appelliert. Mitgefühl ist ein Konzept, das auch eine andere Befragte zur Sprache bringt: Für mich ist es, etwas zu finden zwischen Mitgehen und … also, ich unterscheide immer zwischen Mitleid und Mitgefühl. Also nicht mitleiden, indem man wirklich mitweint und diese ganzen Emotionen, die der Klient erlebt, wirklich am eigenen Leib spürt, sondern eben Mitgefühl, sodass der Klient merkt, man ist bei ihm, man versteht das schon. Und schon auch Emotionen zeigen dürfen in dieser Situation, als Dolmetscher auch. Aber nicht so weit, dass man so selber involviert ist, dass man in die Rolle des Klienten schlüpft. Einfach spüren, wo ist die Grenze, wie weit lass ich das an mich heran, und wo bin ich. Was mir am Anfang und jetzt immer noch hilft, wenn ich merke, ich tendiere, zu stark da mitzugehen, dass ich dann denk, es geht nicht um mich. Das ist auch als Merksatz in meinem Kopf eingebrannt. Es geht also nicht um mich, sondern es ist seine Geschichte, sein Leid, es ist schlimm, aber es ist nicht meins, und deswegen muss ich jetzt nicht weinen oder da irgendwie mitgehen. (D_4) Für die Befragte bedeutet Abgrenzung also, sich in aller Deutlichkeit vor Augen zu halten, wessen Geschichte und wessen Leid das ist und sich selbst als Person herauszunehmen. Dazu hat die Dolmetscherin einige „Tricks“ entwickelt: Ich hab mir da selber alle möglichen Tricks ausgedacht, dass ich mich einfach auf meinen Atem konzentriere, und nicht mit dem Sprechrhythmus und dem Atemrhythmus des Klienten mitgeh, weil ich neig dazu, das zu tun manchmal. Ich bleib also einfach mehr bei mir. Oder wenn ein Klient weint, dass ich da gar nicht so mitgeh mit diesem Weinen, denn dann spricht er ohnehin nicht, dann beam ich mich auf eine Insel und liege dort gemütlich in der Hängematte, und wenn er wieder zu reden beginnt, bin ich eh automatisch da. Das sind einfach so Psychotricks, in Wahrheit, um mich zu schützen. (D_4) Die „Psychotricks“ der Dolmetscherin betreffen zunächst die körperliche Ebene, also den Kontrollgewinn über den eigenen Atem und über den eigenen Sprech‐ rhythmus. Salopp erzählt die Dolmetscherin von ihrer gemütlichen „Hänge‐ 241 8.2 Belastung in der Arbeit mit kriegs- und foltertraumatisierten Menschen <?page no="242"?> matte“ auf der Insel, auf die sie sich bei Bedarf gedanklich „hinbeamt“ und beschreibt damit die mentale Technik des inneren sicheren Orts. Abgrenzung kann sich auch auf einer interaktiven Ebene abspielen, als ein Set von Verhaltensweisen, die Distanzierung nach außen vermitteln: Eher so da sein, dolmetschen, nett sein, freundlich schon, damit die Klientin sich auch entspannen kann, aber nicht diese Grenze überschreiten. Schon auch kalt bleiben ein bisschen. Also nicht Nummern austauschen oder nach der Arbeit Kaffee trinken gehen oder ihr die Stadt zeigen, die Post, oder was weiß ich, sondern auch versuchen, sie mehr selbstverantwortlich zu machen. (D_6) Hier manifestiert sich Abgrenzung also durch „kalt bleiben“ und durch eine pro‐ fessionelle Distanz, im Rahmen derer Kontakt außerhalb der Therapiestunden untersagt ist. Zur Abgrenzung gehört also, den Wünschen der KlientInnen nach Ansprache und nach sozialer Unterstützung, bewusst nicht nachzukommen und etwaigen Kontakt mit den KlientInnen nicht dem Zufall zu überlassen, sondern sich so zu positionieren, dass eine solche Kontaktaufnahme schon im Keim erstickt und abgewehrt wird. Aber das (gemeint ist Abgrenzung, Anm. M.D.) ist nicht immer möglich, weil die Klienten untereinander auch irgendwie auf die Ideen kommen, wie man eine Telefonnummer kriegt von uns, aber ich halte das für ziemlich wichtig eben, diese Abgrenzung in meiner privaten Sphäre. (D_2) Die Befragte spricht hier das unter DolmetscherInnen bekannte Problem an, dass die Weitergabe der privaten Telefonnummer an eine KlientIn darin resul‐ tieren kann, dass die Telefonnummer unter der Hand weitergereicht wird, ohne dass die DolmetscherIn davon in Kenntnis gesetzt wird oder Kontrolle über diese Weiterverbreitung erlangen kann. So verständlich die Verhaltensweise der KlientInnen auch ist, angesichts ihrer prekären Lage, so nachvollziehbar ist es auch, dass die DolmetscherInnen selbst dafür sorgen müssen, dass ihre private Telefonnummer geschützt bleibt. Ähnlich beschreibt eine andere Dolmetscherin ihr persönliches Verständnis von Abgrenzung: Ja also für mich bedeutet es vor allem, dass ich die Geschichte dieser Person nicht zu meiner Geschichte mache. Das heißt aber nicht, dass ich über die Therapie hinaus zu dieser Person einen Kontakt haben könnte. Also ich habe eine Klientin, die hat mich und die Therapeutin einmal privat eingeladen. Und die Therapeutin hat gesagt, das tut sie eigentlich grundsätzlich nicht, aber in diesem Fall würde sie es trotzdem machen. Und also in der Familie, in ihrem privaten Umfeld, wo die Therapie und die Geschichte 242 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="243"?> überhaupt kein Thema sind, darüber redet man dann nicht, und das also eine ganz eine andere Basis hat. Insofern würde ich mich jetzt nicht abgrenzen so, dass ich sage, ich seh die Leute nur hier, und wenn ich sie auf der Straße sehe, dann erkenne ich sie nicht. Also, das würde für mich nicht dazugehören, weil ich denk, das ist auch nicht hilfreich für die KlientInnen. (D_1) Im Unterschied zu der zuvor angeführten Aussage ist die Befragte D_1 weniger strikt in ihrem Begriff von Abgrenzung und hält es nicht für hilfreich, die Distanzierungsstrategie zu hundert Prozent durchzuhalten. Allerdings zeugt ihre Aussage davon, dass ihr durchaus bewusst ist, welches Verhalten als die erwünschte Regel zu werten ist, und wann es vertretbar ist, eine Ausnahme davon zu machen. Kontakt außerhalb der Therapiestunden, beziehungsweise die Frage, wie sich dieser vermeiden lässt, ohne den KlientInnen eine Kränkung zuzufügen, beschäftigt auch diese Dolmetscherin: Ja, man muss einfach professionell bleiben. Es war einmal so, dass ein Klient nach meiner privaten Telefonnummer gefragt hat. Da habe ich gesagt, nein, kann ich leider nicht geben, ich arbeite einfach da, und das ist nicht unser Konzept, nicht erlaubt, und nein. Nicht persönlich nehmen. Aber wenn ich das klar und transparent irgendwie weitervermittle, dann habe ich überhaupt kein Problem damit. Und Abgren‐ zung, wenn zu emotionelle Sachen sind, kann ich irgendwelche Gegenstände in die Hand nehmen. Oder ein Schluck Wasser trinken. Oder wirklich sich viel mehr auf Sprache konzentrieren und nicht auf die Inhalte. Ja, und Nachbesprechungen sind, wie gesagt, sehr sehr wichtig für mich. (D_7) Hier wird „professionell“ als ein Synonym zu Abgrenzung verwendet. Die Dolmetscherin hat einen Weg gefunden, die Wünsche der KlientInnen nach privatem Kontakt abzuwehren, indem sie auf ihre Rolle als Dienstnehmerin hinweist und auf „unser Konzept“ verweist. Die andere Ebene der Abgrenzung betrifft die Situation in der Stunde selbst, wo sie, ähnlich wie bereits weiter oben beschrieben, für sich „Tricks“ entwickelt hat, um in heiklen Situationen gesammelt zu bleiben und ihre Tätigkeit zufriedenstellend auszuführen, ohne sich vom Sog der belastenden und schockierenden Inhalte überwältigen zu lassen. Der Wunsch seitens der KlientInnen nach privatem Kontakt, oder auch bloß das Anliegen, Näheres über die DolmetscherIn zu erfahren, kann bei den betroffenen DolmetscherInnen Unbehagen auslösen: Es gibt dieses Phänomen, dass sie gleich versuchen, dich als professionelle Kraft zu neutralisieren und zu einem Freund zu machen und irgendwelche Beziehungen, 243 8.2 Belastung in der Arbeit mit kriegs- und foltertraumatisierten Menschen <?page no="244"?> ja, mit Fragen, ja, haben Sie Kinder und woher kommen Sie, und so weiter. Ja, irgendwie auf seine Seite zu ziehen. Das versuche ich zu vermeiden natürlich. Manche Fragen sind mir unangenehm, weil manche Leute fragen zu direkt, und diese Nähe und Distanz muss man schon sehr beachten. (D_7) Fazit: Abgrenzung ist ein Aspekt, der die DolmetscherInnen in ihrer Arbeit auf mehreren Ebenen laufend beschäftigt. Zum einen wird Abgrenzung im Kontext des eigenen Rollenverständnisses und des professionellen Verhaltens verstanden, zum anderen als ein Umgang mit den Inhalten und mit den Klien‐ tInnen, der von einer Gratwanderung zwischen Empathie und Distanzierung charakterisiert ist. Die meisten befragten DolmetscherInnen haben ein klares Bewusstsein darüber, dass es nicht hilfreich ist, wenn sie sich von den Inhalten in der Therapie überwältigt fühlen oder nicht mehr in der Lage sind, die bespro‐ chenen Themen aus dem Kopf zu bekommen. Ebenso ist für die meisten klar, dass privater Kontakt mit den KlientInnen nur in Ausnahmefällen stattfinden soll, wenn überhaupt. Abgrenzung ist jedenfalls ein individueller Prozess, der wohl nie als ganz abgeschlossen zu betrachten ist und von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird, wie etwa eigenen Haltungen, Erfahrungen, dem Rollenverständnis und dem Umgang mit eigenen Gedanken und Gefühlen. 8.2.2 Vor- und Nachgespräche, Supervision, Intervision Dass Abgrenzung und Umgang mit Belastung sich nicht nur auf der individu‐ ellen Ebene abspielen müssen, sondern auch im Rahmen von Austausch mit KollegInnen und PsychotherapeutInnen stattfinden können, davon zeugen die folgenden Aussagen: Für mich sind immer sehr wichtig die Nachgespräche. Und durch das Nachgespräch habe ich dann das Gefühl, die Sache ist abgeschlossen. Das kann ich also dann jetzt abhaken. Wobei abhaken natürlich ein blöder Ausdruck ist, weil die Geschichte ist nicht abgehakt, sondern ist einfach eine tragische Geschichte, aber ich kann zu mir sagen, für mich das jetzt aus, ich weiß zwar, nächste Woche kommt das wieder, wenn das eine dauernde Geschichte ist, aber es nützt niemandem was, wenn ich sie zu meiner Geschichte mache. (D_1) Durch eine Nachbesprechung mit der PsychotherapeutIn gelingt es der Dolmet‐ scherin also, die Geschichte ein Stück weit von sich selbst wegzuschieben und damit zu verhindern, dass die belastenden Inhalte Teil des eigenen emotionalen Erlebens werden. 244 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="245"?> Auch andere DolmetscherInnen berichten davon, dass sie von Nachgesprächen mit TherapeutInnen profitieren. Eine Befragte thematisiert die Nähe, die in der psychotherapeutischen Arbeit entstehen kann: (…) dass es ganz wichtig ist, dieses Gefühl zu den Psychotherapeuten, mit denen du zusammenarbeitest. Manchmal ist es ein ganz seltsames Gefühl, als ob du mit ihnen zusammen atmest sogar. Wenn der Rhythmus da ist, ist das wie ein eingespieltes Team, und das ist eine feine Beziehung auch. (D_2) Der gemeinsame Gesprächsrhythmus, das „eingespielte Team“, die „feine Bezie‐ hung“, bis hin zu dem geradezu drastischen Bild, dass man sogar „zusammen atmet“ - all das unterstreicht den intimen Rahmen, in dem psychotherapeuti‐ sche Gespräche sich abspielen (können), wo die beiden DienstleisterInnen in der Ausübung ihrer jeweiligen Tätigkeit stark auf einander angewiesen sind. Eine Befragte berichtet von einem flexiblen Umgang mit dem Format Vor- und Nachgespräch, je nach Bedarf: Solche Gespräche finden immer statt, manchmal kürzer, manchmal länger. Je nachdem, ob jetzt irgendwas ist oder nicht. Also wir machen das Nachgespräch nicht immer, wenn es eigentlich nichts zu bereden gibt. Wenn es für beide passt, dann sitzen wir nicht fünfzehn Minuten irgendwie noch ab. (D_4) Eine andere Dolmetscherin erzählt davon, wie Vor- und Nachgespräche sich spontan ergeben: Also Vorgespräche haben wir meistens, wenn es neue Klienten sind, oder wenn man einspringt, dass ich mich mit der Therapeutin kurz zusammensetze, vor allem, wenn man einspringt für einen Termin, also wenn die Therapeutin den Klienten schon kennt, aber ich nicht, dass es dann ein kurzes Vorgespräch gibt, um was es gehen wird. Und Nachgespräch gibt es eigentlich fast immer, ist aber selten so als Nachgespräch deklariert. Es ist also eher so, man geht aus der Stunde raus, und es blubbert so heraus, was einen belastet, und das gibt es, wenn Zeit ist, eigentlich immer, und die fünf Minuten, die sind eigentlich immer da. (D_5) Die DolmetscherIn und TherapeutIn haben also keine festgesetzten Gesprächs‐ zeiten, sondern reagieren spontan auf die jeweils aktuellen Anforderungen. Die folgenden Aussagen beziehen sich auf die Erfahrungen der Dolmetscher- Innen mit der Supervision, also mit einer Form der Beratung, in welcher Ge‐ spräche einzeln oder in der Gruppe mit einer externen, qualifizierten Fachkraft (SupervisorIn) geführt werden. 245 8.2 Belastung in der Arbeit mit kriegs- und foltertraumatisierten Menschen <?page no="246"?> Ja, das war hilfreich, ja ja. Ich habe einen Fall gehabt, wo ich eigentlich nicht, da habe ich das Gefühl gehabt, da kann ich jetzt nicht weiter. Und das habe ich dann hier erzählt, und die Psychotherapeutin hat gesagt, ich soll eine Stunde Supervision in Anspruch nehmen, und das war eigentlich sehr sehr gut, weil das mir gezeigt hat, was da eigentlich der Grund war, weil das nämlich an ein Thema angestreift ist, was in meiner Lebensgeschichte auch von Bedeutung ist. Und seitdem, wenn mich etwas sehr trifft, dann überlege ich zum Beispiel auch, warum mich das so trifft, was hat denn das mit mir zu tun, und bringt mich in meinem Denken über mich selber weiter, weil ich da auf Dinge komme und merke, welche Dinge mich zum Beispiel ganz besonders treffen. Und bei anderen Dingen, wo andere sagen, um Gottes willen, da sage ich, ich kann damit leben, ich kann damit umgehen. (D_1) In diesem Fall war es also das Gespräch mit der Psychotherapeutin, das den Ausschlag für die Inanspruchnahme von Supervision gab. Die Dolmetscherin schlussfolgert aus der eigenen Reflexionserfahrung, dass der Grad der Belastung durch Inhalte primär vom Grad der eigenen, persönlichen Betroffenheit abhängt und daher nicht immer intersubjektiv nachvollziehbar ist. Die Supervision wird auch als Möglichkeit wahrgenommen, über sich selbst nachzudenken und das eigene Innenleben zu erforschen. Auch eine andere Befragte nahm eine Supervision in Anspruch, als sie merkte, dass eine Unterstützung von außen notwendig wurde, weil die Nachgespräche mit der Psychotherapeutin nicht mehr ausreichten: Ja, Supervision. Ohne sie ist es eine Zeitlang doch gegangen, aber nach einem halben Jahr habe ich verstanden, dass es manche Sachen gibt, wo ich nicht damit fertigwerde. Auch nicht mit Hilfe vom Psychotherapeuten oder der Psychotherapeutin, weil es schon besprochen wird, wie und was, und wie es mir geht, und manche Reaktionen und solche Sachen, aber für manche Sachen braucht man wirklich Supervision. (D_2) Für eine andere Befragte ist Gruppensupervision zumindest eine Gelegenheit, andere KollegInnen zu sehen: So tiefschürfende Probleme haben wir in den Supervisionen selten gewälzt, aber es war ein netter Austausch, nachdem sich die Dolmetscher sonst ja relativ selten sehen. Und dass man einfach so darüber spricht, wie es einem geht. (D_5) In der Tat ist das freiberufliche Dolmetschen zwar eine kommunikative, zugleich aber mitunter eine einsame Tätigkeit, in welcher jedeR DolmetscherIn in seinen/ ihren Entscheidungen und Dilemmata vorwiegend auf sich alleine gestellt ist. Vor diesem Hintergrund kann ein Austausch mit KollegInnen als hilfreich erlebt werden, sofern die Beteiligten die Bereitschaft aufbringen, sich offen 246 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="247"?> auszutauschen, auch über ihre eigenen „Fehler“ oder über unbefriedigend gelöste Situationen. Von einer solchen Gruppe berichtet eine andere Befragte: Wir haben so eine Dolmetscherintervisionsgruppe. Das ist freiwillig, da muss also niemand von uns hingehen, das wird angeleitet von unserem Psychologen, der dann auch Tipps gibt bezüglich Abgrenzung und auch ein bisschen Entlastung geben kann, wenn jemanden eine Geschichte mit einem Klienten sehr mitgenommen hat oder so, dass er da ein bisschen Entlastung findet. Wenn jemand wirklich sehr knabbert an einer Geschichte, dann kann man das mit einem solchen Treffen nicht aufheben, der müsste dann in Einzelsupervision. (D_4) Auch hier wird berichtet, dass der Austausch in der Gruppe als eine Unter‐ stützung erlebt werden kann, im Hinblick auf Abgrenzung und Entlastung. Einzelsupervision wird als eine mögliche Fortsetzung der Gruppenintervision empfohlen. Fazit: Um mit den Belastungen in der Arbeit besser umzugehen, schätzen die befragten DolmetscherInnen die Möglichkeit, sich mit den jeweiligen Psycho‐ therapeutInnen nach der Stunde zu besprechen, oder auch mit KollegInnen auszutauschen oder, falls es gravierende Schwierigkeiten oder Belastungen gibt, eine Supervision in Anspruch zu nehmen. Solche Gespräche sind nicht stark strukturiert, sondern finden tendenziell nach Bedarf oder spontan statt. Aus den Aussagen der DolmetscherInnen lässt sich unbedingt die Anforderung formu‐ lieren, dass die Stellen, in denen DolmetscherInnen in der Psychotherapie zum Einsatz kommen, Angebote für DolmetscherInnen ausarbeiten sollten, solche wie Intervision, Gruppen- und Einzelsupervision. Möglicherweise würden solche Angebote nicht gleich auf viel Resonanz stoßen, weil DolmetscherInnen von ihrer Ausbildung her in der Regel nicht mit Reflexionsmöglichkeiten, in denen das eigene Erleben im Mittelpunkt steht, in Berührung kommen. 8.3 „Kulturkompetenz“ Im vorigen Kapitel wurde unter 7.4.2 das Thema „Kulturkompetenz“ aus Sicht der befragten PsychotherapeutInnen beleuchtet. Die Tendenz ging da‐ hingehend, dass die befragten PsychotherapeutInnen das Wissen der Dolmet‐ scherInnen über kulturelle, politische und sonstige Realien aus den Herkunfts‐ ländern der KlientInnen zwar zu schätzen wissen, dass sie jedoch mit der „Kulturexpertise“ der DolmetscherInnen vorsichtig umgehen, um etwaigen vor‐ eiligen Überinterpretationen zuvorzukommen. Im folgenden Abschnitt erzählen nun die DolmetscherInnen selbst, wie sie mit ihrem Wissen umgehen. 247 8.3 „Kulturkompetenz“ <?page no="248"?> Eine Dolmetscherin sieht den therapeutischen Bereich diesbezüglich als einen privilegierten Rahmen, in dem Verfremdungseffekte durchaus Platz haben, sodass die Befragte sich nicht unbedingt dazu angehalten fühlt, alles erklären zu müssen: Kulturelle Aspekte, das ist mir gerade in der Therapie aufgefallen, also wenn man so von der Uni kommt, dann hat man immer diesen Gedanken mit Kulturexperten und so, und gerade bei der Therapie, finde ich, braucht man das gar nicht so sehr. Also man kann, ich bin da draufgekommen, dass man Metaphern oder irgendwelche Sprichwörter, ich lass das dann eher so, wie es im Russischen ist, oder wie es die Leute halt bringen, um diesen Verfremdungseffekt für den Therapeuten zu erhalten, damit dem auch bewusst ist, dass er da irgendwie mit einer anderen Kultur konfrontiert ist. Und die meisten Therapeuten fragen ja nach. Sie wollen ja wirklich verstehen. Diese Situation hat man ja sonst kaum in einem Dolmetschkontext irgendwo. Du hast also eine Person, die eh dauernd nachfragt. (D_4) Den Wunsch der TherapeutInnen, „wirklich zu verstehen“, sich also auch mit fremd anmutenden Bildern oder Ausdrucksweisen intensiver auseinanderzu‐ setzen, empfindet die Dolmetscherin gewissermaßen als entlastend, da es sie von der Aufgabe befreit, eigene Interpretationen zu liefern. Ein Beispiel zur Illustration: Und ich habe einmal ein ganz banales Beispiel gehabt, wo der Klient auf die Frage „wie geht’s“ geantwortet hat „normal’no“, also diese typische Antwort im Russischen, und auf Deutsch gibt es das nicht als Antwort, dass man sagt „normal“ auf die Frage, „wie geht es Ihnen? “ Das verstehen die Therapeuten, das kriegen Sie ja auch mit, „normal’no“, dass das irgendwie ähnlich ist, und sie fragen natürlich nach, und fragen na was heißt normal, und ob es ihm besser geht, besser als gestern oder besser als vor einem Monat, und dann fragen sie halt immer nach, und das kann man bei diesen kulturellen Sachen eigentlich auch so stehen lassen, und dann wird nachgefragt. Das funktioniert eigentlich sehr gut, da muss ich nichts erklären. (D_4) Von ihrer universitären Ausbildung her hätte die Dolmetscherin eher damit gerechnet, stärker eingreifen und ihre „Kulturexpertise“ einbringen zu müssen. Es stellte sich aber heraus, dass im therapeutischen Bereich die TherapeutInnen diesen Finessen lieber selbst auf die Spur kommen möchten, als es sich von der DolmetscherIn erklären zu lassen: Und ich denk schon, eine gewisse Kulturkompetenz braucht man, weil schon Realien oder irgendwas vorkommt, wo man dann zusätzliche Erläuterungen geben kann. Das kommt schon vor. Aber es ist für mich nicht so dieses, wie ich von der Uni 248 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="249"?> gekommen bin, habe ich gemerkt, dass es in diesem Kontext nicht so den Stellenwert hat. (D_4) Eine befragte Dolmetscherin sieht es nicht unbedingt als ihre Aufgabe an, als Kulturmittlerin aufzutreten: Also Kulturmitteln nicht unbedingt, ich glaube nicht, dass ich die Kultur weitergeben muss, weil die Kultur wird sowieso von den Klienten weitergegeben. Ich denke nur, dass der Dolmetscher ein gewisses Wissen über die Kultur haben sollte, eine gewisse Kompetenz darin haben sollte, dass er so Anspielungen versteht und auch übersetzen kann. (D_5) Um die Aussagen einer KlientIn richtig und vollständig übersetzen zu können, ist es jedoch, so D_5, wichtig, Anspielungen zu verstehen, und Anspielungen können nur dann verstanden werden, wenn das entsprechende Wissen vor‐ handen ist. Eine Russisch-Dolmetscherin differenziert ihre Sprach- und Kulturkompetenz aus: Ich arbeite mit Tschetschenen, mit Leuten aus Georgien, Usbekistan, Kirgisistan, unter‐ schiedlich, und manche sind aus der Ukraine, Weißrussland, und manche sind aus Russland, das kam auch schon vor, ja, das sind unterschiedliche Sitten und Bräuche, man kann das wirklich nicht alles kennen. (D_7) Die Dolmetscherin weist also darauf hin, dass ihre Russisch-Kenntnisse sie dazu befähigen, mit Menschen aus unterschiedlichen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu arbeiten, von deren Kultur sie mitunter sehr wenig weiß. Das bedeutet, aus ihren Sprachkenntnissen lässt sich keine „Kulturkompetenz“ ableiten. Sie führt weiter aus: Kulturkompetent… ich würde sagen, nicht immer. Zum Beispiel, ich habe vorher nicht viel über Moslems gewusst. Ich erfahre, ich lerne sehr viel selbst, aus den Psycho‐ therapiesitzungen. Irgendwie, die Leute erzählen so interessante Sachen, ich bin sehr interessiert an dieser Kulturgeschichte, an diesen multikulturellen Zusammenhängen, oder Phänomenen oder einfach Traditionen. Aber ich kenne das nicht alles, nein. Es ist sehr viel Neues für mich auch. Manche Sachen kenne ich natürlich, und manche sind für mich sehr neu. (D_7) Der Kontakt mit Menschen, über deren „Kultur“ man wenig weiß, wird von der befragten Dolmetscherin als interessant und lehrreich erlebt. 249 8.3 „Kulturkompetenz“ <?page no="250"?> Eine andere Dolmetscherin wiederum betont den gemeinsamen Hintergrund bzw. die gemeinsame „kulturelle“ Prägung Menschen aller Ethnien, die in der Sowjetunion sozialisiert wurden: Ja, Kulturmittlerin zum Teil, in dem Sinne, wenn man daran denkt, dass in der Sowjet‐ union ja alle im Sinne der Erziehung ziemlich ähnlich aufgezogen wurden, und dass Tschetschenen zum Beispiel dieselben Bücher wie wir gelesen haben, in dem Sinne kann man das schon sagen, dass eine bestimmte Kulturkompetenz vorhanden ist (…) Es gibt ja manche Begriffe oder manche Sachen, womit wir aufgewachsen sind, und die hier ganz ganz anders sind. Zum Beispiel in einer Sitzung hat ein Therapeut etwas über Spinat gesagt. Für Tschetschenen heißt Spinat genauso viel wie… wie Kokosnüsse. Das habe ich nachher erklärt. (D_2) Die Befragte begreift „Kultur“ also nicht etwa in einem ethnischen, historischen oder religiösen Sinn, sondern beruft sich auf die „Erziehung“, also im weitesten Sinne auf eine einheitliche, zentralistisch reglementierte Bildungspolitik, wie sie in der Sowjetunion vorherrschend war. Die sowjetische Periode war prä‐ gend für SowjetbürgerInnen, ganz gleich, welcher ethnischen Gruppierung sie angehörten. Die Dolmetscherin nähert sich einem Begriff - in diesem Fall war es „Spinat“ - indem sie die Unterschiedlichkeit der Konnotationen dazu ebenfalls berücksichtigt und dieses Wissen im Anschluss an die Stunde mit dem Therapeuten teilt. In diesem Fall ging es darum, den Therapeuten darauf aufmerksam zu machen, dass Spinat für den Klienten wohl einen exotischen Beiklang hat, wenn es denn überhaupt verstanden wird. Der Hinweis auf die sowjetische Dimension der Biographien von KlientInnen aus GUS-Ländern ist wichtig, weil in der öffentlich-medialen Wahrnehmung von Konflikten innerhalb der oder zwischen den GUS-Ländern dieser gemeinsame Hintergrund bzw. die sowjetische schulische (oder sonstige) Sozialisierung breiter Bevölke‐ rungsschichten häufig ausgeblendet wird. Da die KlientInnen naturgemäß aus Konfliktzonen kommen, ist es nicht unerheblich, um die Feinheiten bei der Bezeichnung von Sprachen, Ethnien und Glaubensbekenntnissen gut Bescheid zu wissen, wie eine befragte Dolmet‐ scherIn im Bezug auf den Balkanraum, also Balkankrieg erzählt: Ich glaub schon, dass das wichtig ist. Vor allem interkulturelle Konflikte, mit Religion auch, weil manchmal haben wir auch über Religion gesprochen. Und die Sprache. Die Psychotherapeutin hat nicht verstanden, ob die Klientin Serbin ist aus Bosnien, oder Kroatin in Serbien, oder was, und für mich war das einfach klar. (D_6) 250 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="251"?> Die gleiche Dolmetscherin lässt aber nicht unerwähnt, dass die Nähe zu den KlientInnen sich auch als belastend manifestieren konnte, weil die Identifikation mit den Schicksalen der KlientInnen mitunter zu stark war: Ja, auch als Kulturmittlerin, obwohl manchmal war es auch ein bisschen belastend. Weil ich das zu gut kenne. Und mich manchmal auch identifizieren konnte, mich identifiziert habe. Ja, es war manchmal, ich weiß nicht, so, es war vielleicht für die Klienten besser, dass ich aus der Kultur komme. (D_6) Interessant ist die Formulierung „weil ich das zu gut kenne“: Damit wird ausgedrückt, dass die Nähe zu einer bestimmten Thematik auch zur folge haben kann, dass man sich davon abgestoßen fühlt. 8.3.1 „Kultur“ als Thema in Nachgesprächen Die Befragte D_2 fand es passend, erst nach der Stunde über mögliche „kultu‐ rell“ bedingte Konnotationsunterschiede zu sprechen („Das habe ich nachher erklärt.“). Dass es sinnvoller ist, feine Bedeutungsunterschiede im Anschluss an die Stunde zu klären, davon ist auch eine andere Befragte überzeugt: Eher im Nachgespräch, weil es während der Therapie auch wieder, man müsste das wieder erklären, was ich ihr gesagt hab, weil ich kann ja jetzt nicht neben ihr anfangen, mit der Therapeutin Deutsch zu sprechen, weil dann weiß sie ja gar nicht, worum es geht. Also würde ich das eher nachher machen. (D_1) Der Grund dafür ist, dass ein kurzer Exkurs über die unterschiedlichen, möglicherweise „kulturell“ gefärbten Facetten eines Begriffs, eine Diskussion auf Deutsch erfordern würde, wodurch die KlientIn sich kommunikativ ausge‐ schlossen fühlen könnte. Ähnlich sieht das diese Befragte: Also zuständig in der Therapie, denke ich, primär für die Sprache, und wenn kultu‐ relle Missverständnisse auftauchen oder mir vorkommt, ich weiß, mir ist kulturell irgendetwas wichtig, oder ich weiß etwas, was der Therapeut nicht weiß, oder was ihm nicht so bewusst ist kulturell, dass ich das dann auch anspreche, aber nicht in der Therapie, sondern immer im Anschluss. Und der Therapeut kann das dann aufnehmen oder verarbeiten oder nachfragen, wie er meint. (D_5) Auch in der folgenden Aussage berichtet die befragte Dolmetscherin, dass sie Informationen, Assoziationen oder Konnotationen, die sie für relevant hält, im Anschluss an die Therapiestunde der TherapeutIn mitteilt: 251 8.3 „Kulturkompetenz“ <?page no="252"?> Ganz generell die geographischen Sachen, wo die Leute irgendwelche Städte sagen oder irgendwelche geographischen Sachen sagen, wo der Therapeut normalerweise nicht weiß, wo die einzelne Stadt ist. Wobei meine Klienten größtenteils aus dem Kaukasus kommen und ich inzwischen ein relativ fundiertes Wissen über den Kaukasus hab, und Therapeuten, die mit Flüchtlingen aus der ganzen Welt arbeiten, das nicht so wissen. Oder mit Politik, dass die Leute irgendwelche Namen… Dudajew ist für mich so ein Schlagwort, da weiß ich sofort, wer das ist, und der Therapeut, der das hört, der kann da überhaupt nichts assoziieren. Das sind dann meistens so Sachen, die ich im Anschluss… oder die Kadyrowzy, da wissen die Therapeuten auch nicht, wer das ist. Da sage ich im Anschluss, übrigens, das sind Kadyrow-Anhänger. Solche Sachen sage ich ihnen dann, weil ich denk mir, es ist eine wichtige Info, wobei ihnen vielleicht gar nicht bewusst ist, wie wichtig die Info ist. Und was sie dann damit machen oder nicht, das können sie ja selber entscheiden. (D_5) Die Grenzen zwischen politischem und „kulturellen“ Wissen sind natürlich fließend, denn über die Zeit hinweg prägen die politischen Realitäten selbst‐ verständlich auch das, was als „Kultur“ wahrgenommen wird. In der oben zitierten Aussage spricht die Dolmetscherin darüber, dass sie sich durch die Fokussierung auf KlientInnen aus einem geographischen bzw. politischen Raum (aus dem Kaukasus) ein entsprechendes Wissen angeeignet hat, das sie bei den PsychotherapeutInnen nicht voraussetzen kann, weil diese mit KlientInnen aus der ganzen Welt arbeiten und daher nicht die Möglichkeit haben bzw. auch nicht gezwungen sind, sich auf eine bestimmte Gruppe zu konzentrieren. Fazit: Aus den zitierten Aussagen geht hervor, dass die befragten Dolmetsche‐ rinnen es nicht für passend halten, in der Therapiestunde selbst zu Wort zu kommen, um den Gesprächsfluss zwischen den beiden GesprächspartnerInnen nicht zu stören oder auch, um nicht aufdringlich zu sein und durch ein Neben‐ gespräch mit der TherapeutIn die KlientIn kommunikativ auszuschließen. 8.3.2 Schwierigkeiten im Bezug auf „Kultur“ Missverständnisse und Kommunikationsprobleme werden nicht selten auf „kul‐ turelle“ Unterschiede oder Eigenheiten zurückgeführt. Es gilt in solchen Fällen zu prüfen, worauf ein Missverständnis zurückzuführen ist: Ist es tatsächlich die „Kultur“, als ein Set von tradierten Haltungen, Überzeugungen und Erwar‐ tungen, oder sind möglicherweise andere Faktoren ausschlaggebend, wie etwa eine individuelle (temporäre oder permanente) Befindlichkeit, soziale Aspekte oder unterschiedlicher Umgang mit Realien und Inhalten? Im Folgenden be‐ 252 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="253"?> schreiben die befragten DolmetscherInnen, mit welchem Schwierigkeiten im Bezug auf „Kultur“ sie sich konfrontiert sehen und wie sie damit umgehen. Ob es ein Vorteil oder ein Nachteil ist, aus der gleichen geographischen (und „kulturellen“? ) Gegend zu kommen wie die KlientInnen, lässt sich für eine befragte Dolmetscherin nicht eindeutig mit Ja oder Nein beantworten: Ich denk mir, so eindeutig kann man das auch nicht sagen, ob Vorteil oder Nachteil. Weil beides vorhanden ist. Es ist eher gut, dass ich nicht aus diesem Kulturkreis bin für die Klientinnen und Klienten, weil für manche Gespräche die eigenen Landsleute eben nicht passen. Zum Beispiel Sexualität bei Tschetschenen. Das geht gar nicht mit eigenen Leuten. Auf der anderen Seite kann ich manche Sachen, so wie die Psychotherapeuten, nicht nachvollziehen, gar nicht verstehen, weil ich aus einem anderen Kulturkreis bin. Das ist der Nachteil hier. (D_2) In 7.4.3.2 „Enger Kulturkreis“ wurde dieses Thema bereits angeschnitten, nämlich die Schwierigkeiten in der Konstellation tschetschenische KlientIn - tschetschenische DolmetscherIn. Das Kapitel, in dem die Perspektive der KlientInnen dargestellt wird, enthält ebenfalls Überlegungen dazu, unter 6.1.2.3 Herkunft. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Probleme in dieser Konstellation auch mit den sozialen Gegebenheiten zusammenhängen, mit den Strukturen der sozialen Kontrolle untereinander, die durch die kompakte Unter‐ bringung in Asylheimen begünstigt werden. Die Befragte geht davon aus, dass es aus „kulturellen“ Gründen schwierig sei, gewisse Dinge nachzuvollziehen, sowohl für sie selbst, als auch für die PsychotherapeutIn. Festzuhalten ist jedoch, dass es im Hinblick auf die Herkunft der DolmetscherIn und der KlientIn keine a priori „ideale“ Konstellation gibt, die mögliche Reibungspunkte von vornherein tilgen würde. In jeder Triade kann Diskussionsbedarf über „kulturelle“ Faktoren entstehen, der dann im jeweiligen Fall einzeln zu reflektieren ist. Auch eine andere Dolmetscherin erzählt, dass sie, bedingt durch einen Dolmetscherinnenwechsel, zufällig erfahren hat, wie schwierig es für eine tschetschenische Klientin war, mit einer tschetschenischen Dolmetscherin zu arbeiten: Einmal habe ich gehört, dass eine Tschetschenin gesagt hat, ja, voriges Mal war da eine tschetschenische Dolmetscherin, und ich habe mich nicht so wohlgefühlt bei ihr, weil ich das Gefühl gehabt habe, dass ich ihr irgendwie meine Probleme erzähle und sie hat das vielleicht selbst erlebt. Ja, und was ich oft gehört habe, ist dass sich Gerüchte verbreiten. (D_7) Die Problematik, die hier angesprochen wird, betrifft den angenommenen (und anzunehmenden) Erfahrungshorizont der Tschetschenisch-Dolmetscherin, die 253 8.3 „Kulturkompetenz“ <?page no="254"?> „das“ alles - also Krieg, Flucht, Asyl - „vielleicht selbst erlebt“ hat, was bei der KlientIn dazu führt, dass sie Hemmungen entwickelt, ihr eigenes Erleben in der Therapie in Worte zu fassen. Es lässt sich mutmaßen, dass diese Hemmungen zum einen daher rühren, dass die KlientIn sich unwohl fühlt, von leidvollen Erlebnissen zu berichten, weil es die DolmetscherIn retraumatisieren könnte, oder aber (auch), weil sie die „Deutungshoheit“ ihrer eigenen Erlebnisse und ihrer individuellen Perspektive durch die Präsenz einer Person aus ihrem ursprünglichen Kontext gefährdet sieht (siehe dazu auch 6.1.2.3). Ähnlich sieht das eine andere Befragte: Ja, und die Leute haben auf Grund der Traumatisierung einfach wenig Vertrauen in andere Leute, und natürlich wäre es für sie besser, rein technisch, dass jemand gut Russisch kann, und ihrer Familie nicht so nah steht oder so. Die Gefahr dabei ist, dass sie die Familie kennen. (D_7) Hier wird also die Vermutung ausgesprochen, dass die Angst davor, Gerüchte über einen selbst oder über die eigene Familie könnten sich innerhalb der eigenen „Community“ verbreiten, durch die Traumatisierung verstärkt wird. Eine Dolmetscherin spricht explizit von Problemen auf Grund von „Kultur“, wenn auch in einem anderen Kontext als der Psychotherapie: Also, ich habe bei einer Firma gearbeitet, wo ich auch Klienten hatte, die Tschetschenen sind und Georgier. Und es gab schon Probleme. Ich kenne die Kultur, ich kenne unsere Verhältnisse, aber wenn man näher kommt, dann entstehen Probleme. Ich kenne das, ich weiß, wie damit umgehen, aber es ist eine ganz andere Welt. (D_3) Dass es „eine ganz andere Welt“ sei, aus der die KlientInnen ursprünglich kommen und in der sie in ihrem Alltag in Österreich offenbar ein Stück weit weiterleben, stellt die DolmetscherIn vor Herausforderungen. Eine russische Dolmetscherin spricht ein heikles Thema an, nämlich den Umgang mit der Konstellation, in der DolmetscherIn und KlientIn ethnischen Gruppierungen zuzuordnen sind, die zum gegebenen Zeitpunkt in einem krie‐ gerischen Konflikt stehen: Ich weiß, ich kenne schon diese Meinungen, und ich kann das auf der einen Seite nach‐ vollziehen, weil man das natürlich hört, man sieht es, man propagiert das im Fernsehen und in den Medien, dass das so ist, und anscheinend haben sehr viele Österreicher und Menschen in europäischen Gesellschaften die Meinung, dass ja, Feinde… Aber ich finde, das ist einfach vorurteilsfördernd, wenn die mit den Klienten sprechen und sagen, ja, Sie können… (eine andere DolmetscherIn nehmen als die russische, Anm.d.Ü.) sie unterstützen sie dabei in ihren Vorurteilen, und natürlich, jeder 254 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="255"?> hat Vorurteile, das ist keine Frage. Aber sie unterstützen sie dabei, dass sie irgendwie noch mehr Feindbilder schaffen. Statt dem, dass sie das abbauen. Und ich habe schon Situationen erlebt, wo ich mich beworben habe, wo ich eine Arbeit gesucht habe, einfach aus zeitlichen Gründen, einfach zehn Stunden als Sekretärin irgendwo, in einer Psychotherapiepraxis, wo sehr viele Tschetschenen sind, die Mitarbeiter dort haben zu mir gesagt, nein, wir können Sie nicht nehmen, weil unsere Tschetschenen die Krise bekommen, dass da eine Russin arbeitet. Das fand ich, ehrlich gesagt, nicht ok, und ich arbeite sehr viel mit Tschetschenen, und sie freuen sich, diese Hilfe zu bekommen, und ich freue mich, dass ich weiterhelfen kann. Ich kann auch nichts dafür, dass das russische Militär, die Armee, dort einmarschiert ist. Und wir sind praktisch im ähnlichen Boot da, in einem fremden Land, ich bin schon lange da, aber das hat nichts mit mir zu tun, das hängt mit menschlicher Seite einfach zusammen. Ich würde mich gar nicht bewerben irgendwo, wo viele Tschetschenen sind, wenn ich da anderer Meinung wäre, wenn ich denken würde, ja, die sind Feinde und so. Dann würde ich denen nicht helfen, das wäre für mich einfach unlogisch. (D_7) In dieser Aussage wird ein äußerst wichtiger Punkt angesprochen, nämlich in‐ wiefern es wünschenswert ist, wohlmeinend von vornherein davon auszugehen, dass (wie in diesem Fall geschildert) tschetschenische KlientInnen aus politi‐ schen und/ oder „kulturellen“ Gründen nicht mit russischen DolmetscherInnen arbeiten möchten und diese Annahme strukturell zu verankern, indem tsche‐ tschenischen KlientInnen gegenüber bereits zu Beginn vermittelt wird, dass man als Organisation um solche eventuellen Bedenken Bescheid weiß und bereit ist, ihnen Rechnung zu tragen. Entsprechende Überlegungen wurden bereits unter 7.4.3.1 „Feindlicher Kulturkreis“ erörtert. In ihrer Aussage distanziert sich die Dolmetscherin ganz klar von der Politik ihres Herkunftslandes und führt ins Treffen, dass ihre Bereitschaft, für TschetschenInnen als Dolmetscherin zu arbeiten, bereits Ausdruck ihrer pazifistischen oder jedenfalls antinationalisti‐ schen Haltung ist. Dieses Statement von ihrer Seite sieht sie durch eine aus ihrer Sicht unnötig vorauseilende Bereitschaft der Organisation, Personen, die „verfeindeten“ Gruppierungen zugerechnet werde können, gewissermaßen un‐ tergraben. Die Überlegungen der Dolmetscherin ernstzunehmend und können für viele Konstellationen und Kontexte anwendbar sein, Tatsache ist jedoch auch, dass die Wünsche der KlientInnen selbst stets Vorrang genießen müssen und dass diesen seitens der Organisation möglichst nachzukommen ist. Dass jedoch nationale Ressentiments nicht strukturell befördert und gepflegt werden sollten, wenn auch aus guten Absichten, ist ebenso gültig. Für die Organisation ist es ein Balanceakt, die Wünsche der KlientInnen zu respektieren, ohne aus falsch verstandener Toleranz zugleich nationalistische Ressentiments unreflek‐ tiert zu übernehmen. 255 8.3 „Kulturkompetenz“ <?page no="256"?> Fazit: Aus den Aussagen der befragten DolmetscherInnen geht hervor, dass „Kultur“, „Kulturkompetenz“ oder „Kulturexpertise“ Themen sind, die laufend reflektiert werden (sollten). Je nach ihrer eigenen Herkunft sind die Dolmetsche‐ rInnen mit „kulturell“ bedingter Nähe oder Distanz zu der „Kultur“ der Klien‐ tInnen konfrontiert. Ein Teil dessen, was man jedenfalls als „Kulturkompetenz“ oder „Kulturexpertise“ bezeichnen könnte, betrifft das Wissen um politische, geographische, historische Realien, sowie die Kompetenz, Anspielungen richtig zu deuten. Gerade in der Psychotherapie gehen die DolmetscherInnen jedoch behutsam mit ihrem Wissen um, indem sie etwaige Rückmeldungen lieber in einem Nachgespräch mit der TherapeutIn klären, um den Ablauf der Stunde nicht zu stören, oder indem sie Verfremdungseffekte zulassen und damit die TherapeutIn nicht der Möglichkeit berauben, sich durch gezieltes Nachfragen selbständig der Bedeutung des Gesagten anzunähern. Es ist sicherlich der Spezifik des therapeutischen Settings geschuldet, dass die DolmetscherInnen dem Impuls, alles zu erklären, zu interpretieren und verständlich zu machen, gewissermaßen widerstehen. „Kulturelle“ Nähe zwischen DolmetscherIn und KlientIn bringt nicht zwangs‐ läufig nur Vorteile mit sich, sondern kann auch problematisch sein, wie von einigen DolmetscherInnen aus eigener oder indirekter Erfahrung berichtet wurde. Thematisiert wurden auch nationalistische Ressentiments, die mit (Bürger)kriegen zwangsläufig einhergehen. Es würde den Rahmen sprengen, an dieser Stelle zu versuchen näher auszuführen, wie kriegerische Handlungen und Nationalismen zusammenhängen, ob nationalistisches Gedankengut Auslöser für oder Folge von Konflikten ist, oder ob die nationalistische Rhetorik nicht vielmehr ein Deckmantel zur Verschleierung wirtschaftlicher Interessen ist. Auf jeden Fall ist seitens der Organisation zu berücksichtigen, dass in der Arbeit mit kriegstraumatisierten Menschen eine Sensibilisierung für deren Haltungen und durchaus auch für ihre „Vorurteile“ (wie eine Dolmetscherin es ausdrückt) da sein muss. Wie die Organisation mit problematischen Konstellationen zwischen KlientInnen und DolmetscherInnen in puncto Herkunft umgehen soll, ist wohl am besten von Fall zu Fall zu entscheiden, um unreflektierte und Automatismen (wie z. B. „keine türkischen DolmetscherInnen für kurdische KlientInnen“) zu vermeiden. 256 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="257"?> 8.4 Rollenverständnis Im folgenden Abschnitt erzählen die befragten DolmetscherInnen, wie sie ihre Rolle in der Psychotherapie begreifen und in weiterer Folge, was sie unter Professionalität verstehen. Wenig überraschend bietet sich zunächst das Bild der Brücke an: Von Anfang an war es mir absolut klar, dass ich so eine Vermittlungsperson bin, damit die zwei einander verstehen können, ich sollte eine Brücke sein. Ich bin diese Brücke. Und die Brücke muss auch tragen. Tragen in allen Sinnen. In allen Hinsichten. Belastung und Sprachkompetenz in zwei Sprachen und Kulturkompetenz vielleicht auch. Und all dieser Sachen bin ich mir auch bewusst. Dass sie von mir erwartet werden von beiden Seiten. Ich bin eher hinter der Psychotherapeutin. (D_2) Die Dolmetscherin sieht ihre Tätigkeit also als eine Brückenfunktion, wobei die Brücke Belastungen aushalten können muss und von beiden Seiten mit Erwartungen konfrontiert ist. Ein bewusster Umgang mit der Gesamtsituation sowie eine Teamzugehörigkeit zur Psychotherapeutin („eher hinter der Psycho‐ therapeutin“) gehören für die Befragte selbstverständlich dazu. Das Bild der Brücke ist auch für eine andere Befragte aussagekräftig: Mein Psychotherapeut hat gesagt, er sieht mich wie eine Verbindung, wie eine Brücke zwischen den beiden Kulturen. So sehe ich mich. Ich verstehe den Patienten, und es ist wichtig, dass ich die Sprache vom Psychotherapeuten richtig wahrnehmen kann. Dann kann ich wirklich übersetzen. Das ist nicht einfach, du beginnst zu übersetzen, aber du musst auch verstehen, was er sagen will. Es gibt auch die Logik der Sprache. Was jemand in Deutsch sagt, das muss man nicht unbedingt direkt übersetzen auf Russisch. Das verstehe ich, und ich versuche das, so schnell wie möglich so zu übersetzen, dass der Patient das versteht, dass er nicht sagt, oh Gott, das ist aber anstrengend, was will er sagen? (D_3) Die Befragte sieht ihre Rolle darin, eine „Brücke zwischen den beiden Kulturen“ zu bilden. Es ist auch nötig, der Logik der jeweiligen Sprache Rechnung zu tragen und dafür zu sorgen, dass die KlientIn sich nicht allzu stark anstrengen muss, um die Aussagen der KlientIn zu verstehen. Dass ihre Emotionen in der Triade Platz haben dürfen, ist für eine andere befragte Dolmetscherin selbstverständlich: Ich bin keine Maschine, ich bin ein Mensch, und ich möchte unbedingt, dass meine Emotionen da drinnen und meine Person einfach Platz haben dürfen, 257 8.4 Rollenverständnis <?page no="258"?> dass das für alle Beteiligten einfach okay ist, ich kann mich da drinnen ja nicht verstecken, ich bin Teil dieser Situation. (D_4) Immer wieder ist es ein Akt der Gratwanderung zwischen Einlassen und Sich-Zurücknehmen, berichtet dieselbe Dolmetscherin: Und ich sehe es schon auch so, dass der Dolmetscher durch seine Haltung schon beeinflussen kann, inwiefern die beiden eine Beziehung aufbauen können, in‐ wiefern eine Beziehung zwischen dem Klienten und dem Therapeuten entsteht. Dass man sich zurücknimmt, aber doch eben nicht völlig kalt ist, also nicht emotionslos und nicht uninteressiert wirkt. Also zu sehr abgegrenzt sein ist aus meiner Sicht kontraproduktiv. (D_4) Eine zu starke Abgrenzung, zu große Kälte, mangelndes Interesse und fehlende Emotionen werden also als kontraproduktiv eingestuft. Über eine ähnliche Gratwanderung zwischen Empathie und Distanzierung spricht eine andere Befragte: Ich kann nicht sagen, dass ich mich nur auf die Sprache konzentriere. Ich glaube, es ist sehr wichtig, sich auf die Sprache zu konzentrieren, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite, man soll, finde ich, das ist meine persönliche Meinung, dass man für die Klienten auch eine Empathie haben muss und authentisch sein muss. Das soll man auch zeigen, weil über den Dolmetscher gehen ja viele Emotionen. Man muss wirklich möglichst neutral sein auf der einen Seite. Auf der anderen Seite, ja, irgendwie auch das spüren ein bisschen, um weiterzuvermitteln. Weil sehr viele Sachen nicht nur in Sprache sind, sondern auch in Gestik und Mimik. (D_7) Die Befragte betont, dass die Sprache nur einen Teil der Kommunikation ausmacht, und dass die DolmetscherIn auch ein Gespür für andere Kanäle haben muss, wie etwa Gestik, Mimik, oder auch unausgesprochene bzw. nicht gezeigte Gefühle. In einer Aussage wird das eigene Rollenverständnis differenziert, je nachdem, ob es sich um ein Erstgespräch oder eine laufende Therapie handelt: Das ist für mich schon ein großer Unterschied, ob das ein Erstgespräch ist oder eine laufende Therapie. Im Erstgespräch fühle ich mich eigentlich wirklich nur für die Sprache zuständig. Und in der länger dauernden Therapie entwickelt sich einfach eine Beziehung, weil wir alle Menschen sind, darüber kann man einfach überhaupt nicht hinwegtäuschen. Und da geht meine Aufgabe auch darüber hinaus, also das ist für mich ganz klar, obwohl ich für mich immer, also ich mach das erst seit zwei Jahren, die Rolle für mich ständig überdenke, (…) Und da kann das in der Psychotherapie 258 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="259"?> auch schon mal sein, dass ich meine Rolle manchmal durchaus überschreite, wenn’s überhaupt irgendwo festgelegt ist. (D_1) Die Befragte nimmt in Kauf, die Grenzen einer ohnehin nicht fixierten Rolle gegebenenfalls zu überschreiten. Die Rolle wird hier tendenziell als ein unge‐ schriebenes Gesetz empfunden, das nach eigenem Ermessen interpretiert wird. Mehrere Aussagen beziehen sich darauf, dass eine Rolle als „Ko-TherapeutIn“ nicht akzeptabel ist: Ko-Therapeut, würde ich gefährlich sehen. Das ist dann eine Rollenvermischung für mich. Für mich ist es einfacher, und ich glaube für den Therapeuten auch, wenn die Rollen einfach klar sind, wer die Gesprächsführung hat, und ich würd mich da im Gespräch nie inhaltlich einmischen. (D_4) Ko-Therapeut ist er bestimmt nicht. Reine Sprachmaschine ist er wahrscheinlich auch nicht. Ich denk, der Dolmetscher ist eine dritte Person im Raum, die auch wahrge‐ nommen wird, die auch eine gewisse Sympathie ausstrahlen sollte. Also die vom Klienten bestimmt wahrgenommen wird und nicht als reiner Sprachvermittler da ist. Also ich denk, es baut sich wahrscheinlich auch eine Beziehung zwischen dem Klienten und dem Dolmetscher auf. Wobei meiner Meinung nach das Rollenverhältnis normalerweise ganz klar ist. Nur glaube ich, dass der Dolmetscher dem Klienten nicht total unsympathisch sein kann, wenn das Gespräch funktionieren soll. (D_5) Ko-Therapeut, das geht gar nicht. Nein, das ist eine ganz andere Rolle, und in die einzusteigen, nein. Ich mag das nicht… Und Sprachmaschine, das geht auch nicht, weil wir Menschen sind. Unsere Gefühle, sie bleiben hier (lacht). Wir sind Menschen. (D_2) Aus der letzten Aussage geht klar hervor, dass laut der Befragten Mensch-Sein bedeutet, Gefühle zu haben und damit ein rein maschinelles Rollenmodell als unerwünscht oder auch unrealistisch betrachtet wird. Fazit: Einige befragte DolmetscherInnen sehen sich als Brücke zwischen den beiden anderen Mitgliedern der Triade oder auch als Brücke „zwischen den beiden Kulturen“. Ein Rollenverständnis der DolmetscherIn als Ko-TherapeutIn wird abgelehnt. Die befragten DolmetscherInnen betonen bei der Reflexion über ihr Rollenverständnis, dass ihr eigenes Mensch-Sein, also ihre eigene Gefühlswelt in der Triade Platz haben muss, beziehungsweise sind sie mit einem maschinellen, rein auf die Vermittlung der Sprache abzielenden Modell, nicht einverstanden. Für die Befragten ist es evident, dass die Kommunikation zwischen KlientIn und PsychotherapeutIn mehr Dimensionen umfasst als nur den sprachlichen Ausdruck - die DolmetscherInnen betrachten es daher als Teil ihrer Aufgabe, eine Sensibilisierung für außersprachliche Kanäle mitzubringen. 259 8.4 Rollenverständnis <?page no="260"?> 8.4.1 Professionalität Gerade bei Berufen, die gesetzlich nicht geschützt sind, ist die Frage nach der Professionalität in der Berufsausübung einem permanenten Diskussionsprozess unterworfen. Im Folgenden nehmen einige befragten Dolmetscherinnen dazu Stellung, was es ihrem Verständnis nach bedeutet, im Kontext der Psychothe‐ rapie professionell zu agieren. Ich meine, professionell, dazu gehört soziale Kompetenz, und dass du den Psycho‐ therapeuten nicht störst mit deinen Ambitionen, deinen Meinungen, du musst einfach eine Unterstützung sein. (D_3) In dieser Aussage wird gezielt die Forderung ausgesprochen, auf das Konkur‐ renzprinzip zu verzichten und davon Abstand zu nehmen, die Triade als eine Plattform für die eigene Profilierung zu begreifen (Näheres dazu siehe 7.7.1 Konkurrenz und Grenzüberschreitungen). Zurückhaltung zu üben, auch unter kommunikativ schwierigen Bedin‐ gungen, ist auch für eine anderen Befragte ein wichtiges Merkmal für Profes‐ sionalität: Wenn Kinder dabei sind, ist das manchmal schon störend und schwierig, aber manchmal nicht anders zu handhaben, weil die Klientinnen die Kinder nirgends lassen können. Die Rollenverteilung, wenn die klar ist, das erleichtert die Arbeit enorm. Dass man sich nicht ins Wort fällt, dass man zu Ende spricht, manchmal hat der Therapeut nicht mitbekommen, dass man noch nicht fertig ist mit der Dolmetschung, weil sie oft sehr viel sagen, und dann hab ich oft den Eindruck, wir sollen das dann fast verkürzen, und ich versuche aber doch irgendwie, das Gesamte rüberzubringen, und das dauert dann auch seine Zeit. Da merk ich manchmal ein bisschen Ungeduld. (D_4) Werden beide Beteiligten innerhalb ihrer Rolle respektiert, fällt es leichter, professionell zu agieren. Eine andere Befragte verortet Professionalität sowohl äußerlich, als auch innerlich: Ich glaube, äußerlich und innerlich. Man sollte vielleicht nicht einen Kontakt auf menschlicher Basis suchen, was ich vielleicht gemacht habe. (D_6) Im Umkehrschluss zu der getätigten Aussage lässt sich festhalten, dass der Wunsch nach Kontaktaufnahme „auf menschlicher Basis“ der Weg hin zu einem unprofessionellen Auftreten und Verhalten ist. Eine befragte Dolmetscherin betont der Aspekt der Neutralität: 260 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="261"?> Professionalität bedeutet eine absolute Neutralität beim Dolmetschen. Du sitzt da, aber du nimmst keine Partei beim Dolmetschen, du bist neutral. Wirklich wie eine Sprachmaschine. Das muss zum Teil auch sein, sonst färbt sich das auf die Sprache ab. Auf die Wortwahl, weißt du? Es ist ziemlich wichtig, welche Wörter man nimmt. (D_2) Die Befragte insistiert also auf einen sorgfältigen, präzisen Umgang mit „Wör‐ tern“ - sie spricht an dieser Stelle nicht von „Worten“, sondern tatsächlich von „Wörtern“, also vom exakten sprachlichen Ausdruck. Im Hinblick auf ihr Plädoyer, „wirklich wie eine Sprachmaschine“ zu agieren, sei darauf hinge‐ wiesen, dass dieselbe Befragte an einer anderen Stelle den maschinellen Aspekt relativiert (zitiert unter 8.4. Rollenverständnis: Und Sprachmaschine, das geht auch nicht, weil wir Menschen sind. Unsere Gefühle, sie bleiben hier (lacht). Wir sind Menschen. (D_2) Fazit: Die Faktoren, die ins Treffen geführt wurden, um Professionalität zu beschreiben, beziehen sich auf Zurückhaltung und die Wahrung der Grenzen im Hinblick auf die eigene Rolle. Zum professionellen Verhalten gehört es au‐ ßerdem, davon Abstand zu nehmen, den Kontakt mit den KlientInnen außerhalb der Therapie zu suchen. Ein überaus sorgsamer Umgang mit dem sprachlichen Ausdruck der KlientInnen wird ebenfalls als ein konstituierender Bestandteil des professionellen Verhaltens gewertet. 8.5 Schwierigkeiten und Missverständnisse In der verdolmetschten Kommunikation können trotz Bemühungen aller Be‐ teiligten unterschiedliche Probleme oder Missverständnisse auftreten. Die be‐ fragten DolmetscherInnen berichten im Folgenden über einige davon. Ein mögliches Problem betrifft mangelnde Sprachkenntnisse der KlientInnen, die in der Psychotherapie nicht zwangsläufig in ihrer Muttersprache oder ihrer Erstsprache kommunizieren, sondern sich mitunter in ihrer Zweit- oder Bildungssprache mitteilen (dieser Aspekt wurde unter 6.1.2.3 Herkunft bereits angerissen). Die Kenntnisse in der Bildungssprache können von Fall zu Fall stark divergieren, je nach Bildungsniveau und Lebensumständen, und so beschreibt eine befragte Dolmetscherin die Problematik, die entstehen kann, wenn die Russischkenntnisse von tschetschenischen KlientInnen nicht ausreichend sind, um die Kommunikation aufrecht zu erhalten: 261 8.5 Schwierigkeiten und Missverständnisse <?page no="262"?> Manchmal klappt die Kommunikation gar nicht, wenn Tschetschenen, für die ich dolmetsche, sehr schlechte Russischkenntnisse haben. Dann geht es gar nicht. Dann ist es wirklich ein Aneinandervorbeisprechen. Das habe ich schon ein paar Mal erlebt. (D_2) Die Schwierigkeiten, die damit einhergehen, wenn tschetschenische Klien‐ tInnen mit TschetschenischdolmetscherInnen arbeiten, wurden bereits unter 7.4.3.2 „Enger Kulturkreis“ thematisiert. Das oben beschriebene „Aneinandervorbeisprechen“ kann sich auch aus anderen Gründen etablieren, die nicht unbedingt mit Sprachkenntnissen zusam‐ menhängen: Es hat auch Momente gegeben, wenn die eine etwas gesagt hat, und die andere etwas komplett Anderes geantwortet hat. Sie waren nicht auf der gleichen Ebene. Und da habe ich gemeint, ok, da passt etwas nicht. Ob es meine Schuld war, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, es ist auch schwierig, weil die Patientin starke psychische Probleme hatte. Ich glaube, manchmal war es auch einfach so, die Klientin konnte sich nicht konzentrieren, und sie konnte der Psychotherapeutin nicht folgen. Zum Beispiel, zeichnen, ihr Leben zeichnen, das war für sie irgendwie Unsinn, für die Patientin. (D_6) Hier werden Kommunikationsprobleme beschrieben, die vermutlich weniger mit sprachlichem Ausdruck zu tun haben, sondern mehr mit der momentanen psychischen Verfassung der Klientin, sowie mit ihren Schwierigkeiten, sich auf den therapeutischen Prozess an sich einzulassen. Möglicherweise sind die angewandten Methoden für die betreffende Klientin nicht überzeugend oder auch tatsächlich nicht geeignet, und es ist nachvollziehbar, dass eine Person, die eine kommunikative Situation als „irgendwie Unsinn“ erlebt, Schwierigkeiten haben wird, sich mitzuteilen und/ oder zu verstehen. Zweitens, wenn sie Angst vor mir haben, das habe ich auch ein paar Mal erlebt, deswegen sprechen sie nicht weiter. Aber das war nicht in der Psychotherapie, eher in der Sozialberatung. Dann habe ich gesagt, weißt du, ich habe so ein Gefühl, dass diese Person Angst vor mir hat. Es bringt nichts mehr, lassen wir das. Besonders bei den Berufungen muss man schon darauf aufpassen. Es funktioniert nicht, wenn die Klienten kein Vertrauen zu mir haben. Dann geht es gar nicht. Ich war schon in so einer Situation, und erst, nachdem wir hinter dem Berg waren, sozusagen, dann ging es wieder, weil ich da eingestiegen bin in eine Therapie, wo zuvor eine Kollegin von mir gedolmetscht hat. Und ja, ohne diese Vertrauensbasis geht es nicht. (D_2) Unter 6.1.4 wurde der Faktor Vertrauen bereits thematisiert, und zwar aus der Sicht der KlientInnen. Ein weiterer, ebenfalls bereits kurz angerissener Aspekt 262 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="263"?> betrifft die Wahrnehmung der Psychotherapie an sich, als eine Heilungsme‐ thode, die in den Herkunftsländern von AsylwerberInnen nicht annähernd den Verbreitungs- und Akzeptanzgrad hat wie im Aufnahmeland Österreich (siehe dazu 6.1.1 Grundverständnis über die Psychotherapie). Eine Dolmetscherin erzählt: Ja, weil die Frau (=die Klientin) auch nicht an Psychotherapie gewöhnt war, für sie war das ein großer Schritt, in eine Therapie zu gehen, weil sie darüber eine andere Meinung hat, was vielleicht üblich ist auf dem Balkan, für Menschen mit wenig Bildung. (D_6) Die Dolmetscherin bringt hier auch den Faktor Bildung ins Spiel und stellt damit implizit die Mutmaßung an, dass „auf dem Balkan, für Menschen mit wenig Bildung“ Psychotherapie schwer zugänglich ist, und dass es möglicherweise erst einer Überwindung von Scham und Vorurteilen bedarf, bis man sich dazu entschließt, einen solchen Raum aufzusuchen, metaphorisch gesprochen. Von Missverständnissen und der Herausforderung, als Dolmetscherin damit umzugehen, berichtet eine andere Befragte: Ja, was für mich sehr sehr belastend ist und auch schwierig ist, ist, wenn die Therapeutin fragt irgendwas und ich übersetze das, aber die Antwort ist ganz anders. Und dann ist es für mich die Frage. Soll ich selber sagen, bitte, das war nicht die Frage, oder soll ich wieder rückmelden und sagen, aber die Antwort war so. Und das mache ich auch gemischt, je nachdem, wie viel Zeit da ist, wie dringend ist diese Sache, dieses Thema, diese Frage. (D_8m) Das geschilderte Dilemma des Dolmetschers (sich aktiv einschalten und versu‐ chen, das Missverständnis aufzuklären, oder zunächst abwarten und hoffen, dass es sich von selbst aufklärt) ist eines, das in gedolmetschten Gesprächen häufig auftritt und für das es keine einheitliche „Lösung“ geben kann. Je nach Situation und je nach eigener Persönlichkeit treffen die DolmetscherInnen bewusst oder unbewusst ihre Entscheidung, ob sie die DolmetscherInnen-Rolle kurzzeitig verlassen, um nachzufragen oder eine Bemerkung zu machen, oder ob sie eine abwartende, passive Haltung einnehmen. Die Aussage des befragten Dolmetschers lässt darauf schließen, dass er ebenfalls keine bestimmte Strategie entwickelt hat, obwohl er häufig mit diesem Problem konfrontiert ist („Das mache ich auch gemischt“). Eine Dolmetscherin berichtet von psychischen Belastungen in der Arbeit, die sie schließlich zwangen, mit dieser einschlägigen Tätigkeit aufzuhören (dieses Thema wurde unter 8.2 Belastung in der Arbeit mit kriegs- und foltertraumati‐ sierten Menschen bereits näher beleuchtet). Sie erzählt rückblickend: 263 8.5 Schwierigkeiten und Missverständnisse <?page no="264"?> Vielleicht würde ich es gern wiedermachen, aber mit mehr Vorbereitung. Ich glaube, ich war damals überhaupt unvorbereitet und hatte keinen Schutz. Ich hatte keine Mittel, um mich abzugrenzen. Das war das Problem (…) Weil ich mich da in einem schrecklichen Film wiedergefunden habe, und ich wusste nicht, wie da rauskommen. Das hat mich dann auch immer verfolgt irgendwie, diese Frau. Ich muss jetzt immer noch manchmal an sie denken. Ein bisschen mehr psychisch darauf vorbereitet müsste ich sein. (D_6) Die befragte Dolmetscherin wählt drastische Worte, um ihren Zustand zu beschreiben („hatte keinen Schutz“, „schrecklicher Film“, „verfolgt“). Sie hatte über keine ausreichenden Mechanismen zur Abgrenzung verfügt und hatte die Auswirkungen der Arbeit in der Psychotherapie auf ihre eigene Psyche unterschätzt. Fazit: Beim Dolmetschen in der Psychotherapie können zahlreiche und unter‐ schiedliche Schwierigkeiten auftreten, die auch in den anderen Abschnitten implizit thematisiert wurden. Im vorliegenden Abschnitt wurden in erster Linie jene Probleme zusammengefasst, die sich direkt auf die sprachliche Kommunikation beziehen (mangelnde Sprachkenntnisse der KlientInnen, Miss‐ verständnisse). Darüber hinaus wurden andere Aspekte thematisiert, wie etwa fehlendes Vertrauen der KlientInnen oder fehlende Bereitschaft, sich auf die therapeutische Kommunikation einzulassen. Die Schwierigkeiten in der Arbeit können auch die eigene psychische Ebene betreffen, wenn die besprochenen Inhalte und/ oder die psychische Verfassung der KlientInnen als zu belastend erlebt werden. 8.6 Sonstige Rückmeldungen Im folgenden, abschließenden Abschnitt sollen noch weitere Aussagen von befragten DolmetscherInnen Erwähnung finden, die sich den zuvor angeführten Kategorien nicht zuordnen ließen, die jedoch Interessantes über die Arbeits‐ wirklichkeit der DolmetscherInnen erzählen und ihre Haltung zum Bereich Psychotherapie. Eine Dolmetscherin vergleicht ihre Erfahrungen als Gerichtsdolmetscherin mit der therapeutischen Situation: (…) weil ich fast ausschließlich für das Gericht dolmetsche, und da ist es ganz genau so, dass jeder Halbsatz und jeder noch so unmögliche Satz oder Blödsinn gedolmetscht werden muss. Und dadurch bin ich es einfach gewöhnt, so eins zu eins nach Möglichkeit eben zu dolmetschen. (D_1) 264 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="265"?> Die Erfahrung bei Gericht, wo exaktes Arbeiten ebenfalls eingefordert wird, hilft der befragten Dolmetscherin, auch in der Psychotherapie die Nähe zum Original zu wahren. Dieselbe Befragte führt weiter aus: Also, was ich immer merke, in jedem Kontext, in dem ich dolmetsche, und das ist meistens eben das Gericht, es muss sozusagen, also die Stimmung muss passen. Also wenn irgendjemand irgendwen ablehnt oder das Gefühl hat, mit dieser Person komme ich nicht zurecht, dann kann irgendwie nix Gutes herauskommen dabei. Das heißt, ich muss zur Therapeutin erstmal eine wirklich gute Beziehung haben, und die Klientin muss mich als Dolmetscherin wirklich voll akzeptieren, und auch die Therapeutin als Therapeutin. Und die Klientin muss auch ganz genau wissen, dass ich die Dolmetscherin bin und nicht die Therapeutin, und umgekehrt. Und ja, ich weiß nicht, ich muss auch die Möglichkeit haben, dass ich auch mal etwas zurückfrage, ohne dass jemand sagt, sie hat’s ja eh schon gesagt. Also, dass ich sagen kann, ich habe das nicht verstanden, ich möchte noch einmal rückfragen, dass das möglich ist in einem lockeren Rahmen. (D_1) Die Dolmetscherin betont also die Wichtigkeit von einer Akzeptanz des aufge‐ stellten Rollensettings und einer vertrauensvollen Atmosphäre, in der Fehler nicht sogleich sanktioniert werden, sondern wo ein konstruktiver Umgang mit Fehlern und Fehlleistungen gegeben ist. Zum Thema Vertrauen äußert sich auch eine andere Dolmetscherin: Also die Klienten, finde ich, bauen schneller Vertrauen auf als die Therapeuten teilweise. Und vor allem, wenn das Vertrauen von den Therapeuten, mit denen man regelmäßig zusammenarbeitet, nicht da ist, dann ist das… man wird dann auch wirklich schlechter, weil man das Gefühl hat, man ist schlechter, weil man sich ständig unter Druck fühlt. Das, glaube ich, schadet der Dolmetschung eigentlich. (D_5) Hier wird explizit das ausgesprochen, was in der vorigen Aussage angedeutet war, nämlich der Umstand, dass eine repressive, sanktionierende Atmosphäre die Leistungsfähigkeit der Dolmetscherin negativ beeinflussen kann. Eine ne‐ gative Erwartungshaltung der Abnehmer der Dolmetschleistung kann sich also, so die Befragte, geradezu als eine selbsterfüllende Prophezeiung entpuppen. Die Befragte führt weiter aus, worin sich, ihrer Meinung nach, die Erwartungshal‐ tungen der KlientInnen von denen der PsychotherapeutInnen unterscheiden: Also ich glaube, von den Klienten ist mal die Haupterwartung, dass ihre Gedanken, dass das, was sie gesagt haben, rübergebracht wird. Und von den Therapeuten ist 265 8.6 Sonstige Rückmeldungen <?page no="266"?> im Gegensatz dazu oft die Erwartung da, dass die einzelnen Wörter rübergebracht werden. (D_5) Laut der Befragten sind die PsychotherapeutInnen also „strenger“ in ihren An‐ forderungen an die Dolmetschung. Ohne an dieser Stelle den faktischen Wahr‐ heitsgehalt dieser Aussage kommentieren zu wollen, sei angemerkt, dass die DolmetscherIn insofern eine zutreffende Beobachtung gemacht haben könnte, als die PsychotherapeutInnen im Unterschied zu den KlientInnen Sprache als ihr Arbeitswerkzeug verwenden und daher ein geschärftes Bewusstsein dafür haben, dass ein exakter, sorgfältiger Umgang der DolmetscherIn mit den von ihnen, den PsychotherapeutInnen, bewusst gewählten Wörtern und Worten, unabdingbar ist, um die hohe Qualität der Kommunikation zu gewährleisten. Eine andere Dolmetscherin beschreibt aus ihrer Sicht die unterschiedlichen Anforderungen und Erwartungshaltungen, mit denen sie sich in der therapeu‐ tischen Triade konfrontiert sieht: D_2: Der Psychotherapeut will, dass ich wirklich ziemlich nah am Original bleibe beim Dolmetschen, dass kein Störbild entsteht. Dass man wirklich so viel, wie man aus den Worten verstehen kann, so viel kommt auch rüber. Ungestört von mir. Und dass ich dabei mich als Person nicht einbringe. Und einer von den Psychotherapeuten, mit dem ich gearbeitet habe, hat gesagt, dass es bei mir das Beste ist, dass ich mich wirklich nicht einmische. Dass meine Gefühle nicht im Spiel sind, dass sie sie nicht brauch zu filtrieren, sozusagen. M.D.: Und was glaubst du, welche Erwartungen die Klienten an dich haben? D_2: Dass alles, was ich höre, und das ist vielleicht das Wichtigste, dass alles, was ich höre, da bleibt, also Verschwiegenheit. Ja, dass es auch adäquat übersetzt wird. Was noch… Manche Erwartungen sind einfach falsch, und das habe ich auch mitgekriegt, dass man auch viel mehr Mitgefühl von mir erwartet beim Dolmetschen. Und dass es auch falsch interpretiert wird, im Nachhinein, dass ich ziemlich gleichgültig sei zu dem, was ich tu. Dass man keine emotionale Unterstützung von mir kriegt während der Sitzung. Ich habe schon eine Rückmeldung gekriegt, dass das so bei mir ist. Weil ich ziemlich neutral und distanziert bleibe beim Dolmetschen. Die Dolmetscherin beschreibt sehr genau das Dilemma, das sich aus den z.T. konfligierenden Erwartungshaltungen ergibt: Einerseits soll sie, um die Arbeit des Therapeuten nicht zu „stören“, dafür sorgen, dass sie als anwesende Person so wenig „Störung“ wie möglich verursacht, also möglichst distanziert und neutral auftritt und ihren Platz im Hintergrund verortet. Andererseits ist auf der Seite der KlientInnen der Wunsch da, die DolmetscherIn möge emotionale Anteilnahme zeigen und auch mit ihren menschlichen, fühlenden 266 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="267"?> Qualitäten Präsenz zeigen. Dieses Dilemma - geforderte Distanziertheit vs. geforderte Anteilnahme - bedingt einen ständigen Prozess der Gratwanderung und Selbstreflexion, bei dem es darum geht, eine Haltung zu entwickeln, im Rahmen derer die eigenen Kapazitäten ebenso eine Berücksichtigung finden wie die Erwartungshaltungen der beiden GesprächspartnerInnen. Ein Dolmetscher stellt Überlegungen zu den unterschiedlichen Herangehens‐ weisen der TherapeutInnen an, und mutmaßt, ob die Unterschiede durch die Ausbildung bedingt sind oder vom individuellen Charakter abhängen: Was interessant ist, ist, dass die Therapeuten unterschiedlich sind. Ich meine die Ausbildung. Weil es ist eine Ausbildung. Wie man sich verhält, wie man das macht. Und so weiter. Ich hab das nicht studiert und nicht gelernt, deswegen weiß ich nicht warum, und habe ich keine Phantasie, warum das so sein sollte. Oder ist es, denke ich, manchmal egal, was für eine Ausbildung ein Mensch hat, bleibt er sozusagen fifty-fifty als Individuum, diese Person ist so. Mit lockeren, mit strengen Regeln und so weiter, in jedem Bereich. Das ist es, was mir einfällt. (D_8m) Unter 7.7.2 Grenzen der Übersetzbarkeit wurde bereits thematisiert, dass trotz aller Bemühungen sich nicht immer alles von einer Sprache in die andere übertragen lässt, und dass man sich mitunter mit unbefriedigenden Kompro‐ misslösungen begnügen muss. Eine Dolmetscherin berichtet hier vom Umgang mit einer Metapher: Ja, manchmal habe ich versucht, das so der Kultur anzupassen. Was meiner Meinung nach vielleicht doch nicht so richtig war. Einmal hat die Psychotherapeutin das bemerkt, und hat gemeint, ich soll wirklich wortwörtlich eine Metapher übersetzen. Ich hab versucht, das anders zu machen, und dann musste ich es so sagen, wie es auf Deutsch auch war. (D_6) Selbstverständlich lässt sich nichts „wortwörtlich“ übersetzen, aber im alltägli‐ chen Sprachgebrauch wird eine solche Wendung häufig verwendet, um zum Ausdruck zu bringen, dass man sich für die genaue Wortwahl interessiert. Eine andere Dolmetscherin berichtet von ihren ähnlich gelagerten Erfahrungen mit Sprichwörtern: Ich habe schon auch Klienten, die mit Worten spielen. Ich habe einen Klienten, der liebt Sprichwörter, und er kündigt das auch immer so nett an (lacht), es gibt da ein Sprichwort im Russischen (lacht), ich krieg dann immer eine Gänsehaut (lacht), aber es geht (lacht). Und dann, manchmal bringt man ein Sprichwort einfach mit einem anderen Sprichwort rüber, oder man bringt’s wörtlich rüber, aber es wird verstanden, was gemeint ist, und dann passt das auch in der Situation, find ich. Ich mein, 267 8.6 Sonstige Rückmeldungen <?page no="268"?> wenn ich ein Sprichwort übersetze mit den Worten, die er sagt, aber es ist klar, was er meint, dann finde ich, passt das auch. Dann muss ich nicht krampfhaft nach dem deutschen Äquivalent suchen, weil ich weiß, das, was er sagen will, das kommt rüber. (D_5) Die Dolmetscherin pflegt also einen unverkrampften, kreativen Umgang mit schwer übersetzbaren Sprichwörtern: Wenn sich kein Äquivalent finden lässt, dann sucht sie eine Lösung, bei der das, was der Klient sagen wollte, „rüber‐ kommt“. Nachdem in den vorigen Abschnitten vorwiegend von Schwierigkeiten, Pro‐ blemen, Belastungen und mehr oder minder befriedigenden Kompromissen die Rede war, sollen abschließend ohne weitere Kommentare zwei Aussagen von Dolmetscherinnen zitiert werden, in denen zum Ausdruck gebracht wird, was an der Arbeit in der Psychotherapie auch als bereichernd und motivierend erlebt wird: Es ist unglaublich interessant, man erfährt so viele Sachen. Man sieht, wie Therapeuten unterschiedlich arbeiten, welche Techniken sie verwenden. Wie die Leute reagieren. Man sieht, wie die Leute sich wirklich ändern, im positiven Sinne, ja. Ich glaube, das gibt mir auch irgendwie Kraft und verbessert meine Laune, wenn ich sehe, dass etwas weitergegangen ist. Und manchmal ist es sogar lustig. (…) Diese Asylpolitik ist ganz ganz schlimm in Österreich, und es ist ein wahnsinnig großer Bedarf an Psychotherapie, und ich würde gerne mehreren Leuten helfen können, in Zusammenarbeit mit Psychotherapeuten. (D_7) Mir gefällt das total gut, und für mich ist das die befriedigendste Dolmetschsitu‐ ation, die ich mir vorstellen kann. (D_4) 8.7 Abschließende Bemerkungen Im vorliegenden Kapitel wurden zunächst arbeitstechnische Aspekte themati‐ siert, nämlich der Dolmetschmodus (simultan/ konsekutiv), Sitzordnung und Blickkontakt, sowie der Umgang mit der ersten bzw. dritten Person. Der letzte Punkt bezieht sich auf den Umstand, dass insbesondere KlientInnen (aber auch PsychotherapeutInnen) dazu neigen, von ihrer jeweiligen AnsprechpartnerIn in der dritten Person zu sprechen und zugleich die DolmetscherIn direkt anzusprechen („Sagen Sie ihm bitte, dass…“). Die befragten DolmetscherInnen berichteten davon, dass sie im Hinblick auf die Technik zwar klare Vorstellungen davon haben, wie es idealerweise ablaufen sollte (konsekutiv, in kurzen Ab‐ 268 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="269"?> schnitten, wenig Blickkontakt, durchgehender Gebrauch der ersten Person), dass sie jedoch in der Praxis von diesen Vorgaben häufig abweichen, um auf die realen kommunikativen Bedürfnisse flexibel reagieren zu können. Beispiels‐ weise erfordert ein ungebremster Redeschwall der KlientIn den Wechsel in den Simultan-Modus, Blickkontakt lässt sich nicht vollständig unterbinden etc. Im Hinblick auf die Arbeitstechnik berichten die befragten DolmetscherInnen also von einem ständigen Prozess des Abwägens zwischen den angestrebten Idealen des professionellen Arbeitens einerseits, und den konkreten kommunikativen Situationen andererseits. Ein anderes Thema, das die DolmetscherInnen in ihrer Arbeit mit kriegs- und foltertraumatisierten Menschen beschäftigt und laufende Reflexion erfordert ist der Umgang mit belastenden Inhalten, die in der Psychotherapie naturgemäß zur Sprache kommen und deren „ErstabnehmerInnen“ eben die Dolmetsche‐ rInnen sind, weil sie die Worte der KlientInnen aus erster Hand, in deren Sprache, und „ungefiltert“ vernehmen, ohne dass sie, im Unterschied zu den PsychotherapeutInnen, in ihrer Ausbildung Strategien gelernt hätten, um mit dieser Art von Belastung umzugehen. Der Gefahr einer sekundären Trauma‐ tisierung durch Zeugenschaft oder auch einer Retraumatisierung durch die Aktivierung eigener traumatischer Erlebnisse versuchen die DolmetscherInnen zu begegnen, indem sie sich mit den PsychotherapeutInnen, KollegInnen oder SupervisorInnen austauschen. Abgrenzung als ein laufender innerer Prozess, der den DolmetscherInnen ermöglicht, einen gewissen emotionalen Abstand zu den Belastungen in der Arbeit aufzubauen, wird ebenfalls als eine Strategie genannt, das eigene Wohlbefinden zu steigern bzw. aufrecht zu erhalten. Weiters thematisierten die befragten DolmetscherInnen ihren Umgang mit „Kultur“. Genannt wurden auch Schwierigkeiten, die im weitesten Sinne mit „Kultur“ zu tun haben, oder jedenfalls mit den „kulturellen“ Zuschreibungen, die angesichts des kriegerischen, nationalistisch aufgeladenen Kontexts, aus dem die AsylwerberInnen zwangsläufig kommen, sich mitunter als problematisch erweisen können. Gerade im Hinblick auf negative „kulturelle“ Zuschreibungen zwischen KlientIn und DolmetscherIn ist es nötig, dass die jeweilige Stelle, die Psychotherapie anbietet, sensibel und hellhörig reagiert, um einerseits nationalistischen Ressentiments Einhalt zu gebieten, aber andererseits das Wohlbefinden aller Beteiligten zu gewährleisten. Bei der Diskussion über das Rollenverständnis im Rahmen der Psychothe‐ rapie stellte sich heraus, dass die DolmetscherInnen sich zwar primär für die Sprache, also für die Sprachmittlung, zuständig fühlten, dass sie sich jedoch der (zwischen-)menschlichen Dimension, die ihre Anwesenheit in der Triade bedingt, durchaus bewusst sind. Ein rein maschinelles Arbeitsmodell als Orien‐ 269 8.7 Abschließende Bemerkungen <?page no="270"?> tierungshilfe wäre in einem solchen Kontext nicht brauchbar. Die Dolmetsche‐ rInnen müssen auch für nichtsprachliche Aspekte der Kommunikation offen sein und die spezifischen Anforderungen der therapeutischen Kommunikation nachvollziehen können. Diese Bereitschaft ist ebenso Teil einer professionellen Haltung wie auch die Fähigkeit, Zurückhaltung zu üben, Verschwiegenheit zu bewahren, und insgesamt über die eigene Tätigkeit in einem komplexen Umfeld zu reflektieren. 270 8 Die Perspektive der DolmetscherInnen <?page no="271"?> 9 Diskussion Wie aus den vorangegangenen Kapiteln hervorgeht, ist das Setting der dol‐ metscherunterstützten Psychotherapie komplex und zahlreichen Dynamiken unterworfen. Psychotherapie im Asylbereich findet in einem Spannungsfeld statt: zwischen (wachsender) gesellschaftspolitischer Brisanz einerseits und größtmöglicher Intimität andererseits. Eine klare und eindeutige Zuordnung von Rollen und Funktionen ist zwar ein erstrebenswertes Ideal, in der Praxis sind die Grenzen jedoch fließend, was allen Beteiligten ein beträchtliches Ausmaß an Flexibilität abverlangt. Daher wird im Rahmen dieser abschließenden Diskussion auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse ein Reflexionsmodell für DolmetscherInnen und Psy‐ chotherapeutInnen angeboten, das die VertreterInnen der beiden Berufsgruppen in der Triade dabei unterstützen soll, ein Bewusstsein für die eigene Rolle (aber auch für die der jeweils anderen AkteurIn) zu entwickeln und auf die stets neuen Herausforderungen in der Arbeit adäquat und flexibel zu reagieren. 9.1 Reflexion der Methodik Die durchgeführte Forschung dient einer (behutsamen) Durchleuchtung des nach außen hin hermetisch abgeschlossenen Settings der Psychotherapie, und zwar aus der Perspektive aller drei Akteure der Triade: KlientInnen, Psycho‐ therapeutInnen und DolmetscherInnen. Meine Annäherung an das Thema „Dolmetschen in der Psychotherapie“ erfolgte zum einen durch die eigene langjährige Arbeit als Dolmetscherin in der Psychotherapie mit den Sprachen Russisch und Bosnisch/ Kroatisch/ Serbisch, zum anderen durch meine Tätigkeit als Leiterin von praxisorientierten Seminaren für MitarbeiterInnen von Hilfs‐ organisationen (Sozial- und RechtsberaterInnen, PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen) sowie durch die Forschung selbst, also die Durchführung von halbstrukturierten, ausführlichen Interviews mit ausgewählten Gesprächs‐ partnerInnen. Als Dolmetscherin hatte ich die Möglichkeit, selbst an Gruppen‐ supervisionen teilzunehmen und somit die Schwierigkeiten, Überlegungen und Perspektiven meiner KollegInnen kennenzulernen. Alle drei Ebenen der Annäherung an das Thema - als Dolmetscherin, als Se‐ minarleiterin und als Forschende im engeren Sinn - ergänzen und beeinflussen sich gegenseitig, insofern als die Einblicke, die ich durch meine praktische <?page no="272"?> Tätigkeit gewonnen habe sowie die Anregungen der KollegInnen und der Se‐ minarteilnehmerInnen über die Jahre hinweg in meine Forschung eingeflossen sind und sich maßgeblich auf die Formulierung meiner Forschungsfragen ausgewirkt haben. Die Forschungsfragen betreffen zum einen die konkrete Arbeitsweise in der Triade, zum anderen die Rollenzuschreibungen (eigene und fremde), die Beziehungsdynamiken und Allianzen zwischen den AkteurInnen, sowie den Umgang mit psychisch belastenden Inhalten beziehungsweise den Umgang mit der eigenen Zeugenschaft. Des weiteren wurde die sozioökonomische Veror‐ tung der Psychotherapie im Asylbereich in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext thematisiert: Zum gegebenen Zeitpunkt ist angesichts der sogenannten „Flüchtlingskrise“ davon auszugehen, dass die Frage, wie eine Gesellschaft ge‐ denkt, mit schwer traumatisierten Flüchtlingen umzugehen, weiter an Relevanz gewinnen wird. Die durchgeführte Forschung zeigt die Realitäten des Arbeitsbereichs „dol‐ metscherunterstützte Psychotherapie“. Die Aussagen der Interviewpartner- Innen lassen Tendenzen erkennen und bieten einen exklusiven Einblick in diese spezifische Kommunikationssituation, die für zwei der AkteurInnen einen (mehr oder weniger prekären) Arbeitsplatz darstellt und für eine AkteurIn, die KlientIn, einen geschützten Raum bietet, in dem eine Auseinandersetzung mit den eigenen Erinnerungen, Traumata, Gedanken und Gefühlen möglich ist. Weitere Forschungen könnten sich mit den Langzeitauswirkungen von dol‐ metscherunterstützten Psychotherapien befassen. Interessant wäre es auch, sich verstärkt mit der inneren Mehrsprachigkeit von KlientInnen zu beschäftigen und der Frage nachzugehen, welche Unterschiede es gibt, ob die KlientInnen die psychotherapeutischen Gespräche in ihrer Muttersprache oder in ihrer Bildungssprache führen. 272 9 Diskussion <?page no="273"?> 9.2 Gratwanderungen, Oszillationen, Annäherungen 9.2.1 Gratwanderungen Beim Dolmetschen in der Psychotherapie sind DolmetscherInnen mit wieder‐ kehrenden Gratwanderungen konfrontiert, für deren Bewältigung es keine Einheitsrezepte gibt. Im Folgenden werden einige typische Spannungsfelder umrissen: - Empathie vs. Abgrenzung (Nähe vs. Distanz): Diese Gratwanderung bildet eine konstante Anforderung an die DolmetscherInnen in der Psychothe‐ rapie. Dem tendenziellen Wunsch der KlientInnen nach Anteilnahme und Zuwendung seitens der DolmetscherIn steht die Forderung der PsychotherapeutInnen nach größtmöglicher Distanzierung gegenüber. Im äußeren Verhalten lässt sich dieses Spannungsfeld durch die Regu‐ lierung der Sitzordnung und (z.T. daraus folgend) des Blickkontakts einigermaßen beeinflussen, ebenso durch das konsequente Meiden von privaten Kontakten außerhalb der Arbeit. Die innere Abgrenzung, also die Fähigkeit, einen passablen Umgang mit erschütternden Inhalten zu finden sowie mit Menschen in Krisen‐ situationen in einem intimen Rahmen zu arbeiten, ist ein komplexer, langwieriger und individueller Prozess, dem sich DolmetscherInnen im Kontext der Psychotherapie nicht verschließen dürfen, da eine einiger‐ maßen gelungene bzw. fortgeschrittene Abgrenzung eine notwendige Voraussetzung für das Arbeiten mit Kriegs- und Foltertraumatisierten ist. Dabei ist zu betonen, dass Abgrenzung keineswegs mit „Abstumpfung“ oder „Abhärtung“ zu verwechseln ist. Es ist vielmehr die Fähigkeit, die Grenze zwischen „dem Eigenen“ und „dem Fremden“ bewusst wahrzu‐ nehmen. - „Ausreden lassen“ vs. „Hören wollen“: Die kommunikativen Bedürfnisse der beiden GesprächspartnerInnen können aus Sicht der DolmetscherIn mitunter konfligierend bzw. schwer vereinbar sein. Es kann vorkommen, dass KlientInnen einen starken inneren Druck verspüren, sich mitzu‐ teilen, ohne Rücksicht auf die Dolmetschsituation zu nehmen. Zugleich ist es für die PsychotherapeutInnen wichtig, so nah wie möglich an der Erzählung der KlientIn dran zu sein, um gegebenenfalls Interventionen setzen zu können. Im äußersten Fall kann es notwendig sein, dass DolmetscherInnen selbst um eine Pause bitten. Falls sich der Redeschwall trotz mehrmaliger Ermahnung nicht einbremsen lässt, gibt es auch die 273 9.2 Gratwanderungen, Oszillationen, Annäherungen <?page no="274"?> Möglichkeit, in den Simultanmodus (also Flüsterdolmetschen) zu wech‐ seln. - Originaltreue vs. Pragmatismus: Zweifelsohne ist es in der psychothera‐ peutischen Kommunikation wichtig, so nah wie möglich am Original zu dolmetschen, d. h. sich an der genauen Ausdrucksweise und Wortwahl der KlientInnen zu orientieren. Zugleich spielen beim Dolmetschen immer auch pragmatische Überlegungen mit hinein, wie etwa die Frage, ob es sinnvoll ist, die dritte Person („sagen Sie ihm“) jedes Mal als solche zu dolmetschen und damit das Thema der direkten Ansprache aufzuwerfen, oder ob es nicht „einfacher“ und „schneller“ geht, dieses Thema zu um‐ schiffen, indem man beim Dolmetschen solche Feinheiten „unterschlägt“, um den Gesprächsfluss nicht zu stören. Es ist unmöglich, „wortwörtlich“ zu dolmetschen oder zu übersetzen - eine solche Forderung kann nur von Personen gestellt werden, die selbst keine Erfahrung im Übersetzen und Dolmetschen haben bzw. über etwaige solche Erfahrungen nicht bewusst reflektiert haben. Dennoch müssen DolmetscherInnen ein Bewusstsein dafür entwickeln, warum es in der Psychotherapie durchaus auf einzelne Wörter (und nicht nur Worte) ankommt und warum für PsychotherapeutInnen die exakte Aus‐ drucksweise der KlientInnen und die Bedeutungsnuancen ihrer Wortwahl wertvolles Arbeitsmaterial darstellen. - Bedürfnisse der GesprächspartnerInnen vs. eigene Bedürfnisse: Die Dol‐ metscherIn ist als Sprachrohr beiden GesprächspartnerInnen gleicher‐ maßen verpflichtet. Zugleich bedeutet das Dolmetschen auch eine men‐ tale Anstrengung, die es erforderlich macht, dass DolmetscherInnen ihre eigenen Bedürfnisse nicht aus dem Blick verlieren, um ihre Dienst‐ leistung in der erforderlichen Qualität anbieten zu können. Zu solchen Bedürfnissen zählen unter anderem Arbeitspausen und eine Sprechge‐ schwindigkeit und eine Ausdrucksweise, die der Dolmetschsituation Rechnung trägt. Es ist schwierig, die Sprechgewohnheiten von Klien‐ tInnen zu beeinflussen, weil diese nicht „professionell“ kommunizieren, sondern als Privatpersonen. Sehr wohl ist es aber möglich, Psychothe‐ rapeutInnen in Nachgesprächen dazu anzuhalten, ihre Sprache an die konkrete Situation anzupassen - es ist in ihrem ureigenen Interesse als qualifizierte DienstleisterInnen, die kommunikative Situation in der Triade zu optimieren. 274 9 Diskussion <?page no="275"?> 290 kommunizieren, sondern als Privatpersonen. Sehr wohl ist es aber möglich, PsychotherapeutInnen in Nachgesprächen dazu anzuhalten, ihre Sprache an die konkrete Situation anzupassen - es ist in ihrem ureigenen Interesse als qualifizierte DienstleisterInnen, die kommunikative Situation in der Triade zu optimieren. Abb. 1: Gratwanderungen Empathie Nähe Abgrenzung Distanz Eigene Bedürfnisse Pragmatismus Bedürfnisse der anderen Originaltreue Abb. 1: Gratwanderungen 9.2.2 Oszillationen Das Dolmetschen in der Psychotherapie ist in der Regel längerfristig angelegt, denn Therapien können mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Im Laufe der Zeit können gewisse Prozesse oder Pendelbewegungen stattfinden, die an dieser Stelle als Oszillationen bezeichnet werden: - Von Unsichtbarkeit hin zur Präsenz: Die DolmetscherIn als diejenige AkteurIn in der Triade, die nicht aktiv am Gespräch teilnimmt, ist angehalten, Zurückhaltung zu üben und sich bis zu einem gewissen Grad „unsichtbar“ zu machen, also nicht mehr aufzufallen als nötig. Selbstverständlich kann aber gerade auf einem engen Raum und in einem vertraulichen Rahmen keine Person „unsichtbar“ sein - jede Dol‐ metscherIn ist mit ihrer Persönlichkeit, ihrer individuellen Art und ihren Attributen (Geschlecht, Alter, evtl. auch Herkunft - mehr oder weniger eindeutig) präsent und damit auch sichtbar. Der Grad der Sichtbarkeit einer DolmetscherIn hängt nicht nur von ihrer eigenen Haltung ab, sondern auch von der Tragfähigkeit der Beziehung zwischen TherapeutIn und KlientIn: Je stärker die beiden GesprächspartnerInnen in Kontakt 275 9.2 Gratwanderungen, Oszillationen, Annäherungen <?page no="276"?> sind, desto leichter und automatischer tritt die DolmetscherIn in den Hintergrund. - Von SprachmittlerIn hin zur „(Kultur)expertIn: “ Sprache lässt sich nicht auf einer rein technischen Ebene abhandeln, sondern ist stets in einem kulturellen (und gesellschaftspolitischen) Kontext eingebettet. Dolmet‐ scherInnen sind auf Grund ihrer intensiven Beschäftigung mit Sprache meist gut informiert über kulturelle und politische Gegebenheiten, was jedoch weder die PsychotherapeutInnen, noch die DolmetscherInnen selbst dazu verleiten sollte, DolmetschrInnen als „KulturexpertInnen“ zu betrachten - auch wenn eine solche Annahme verführerisch ist, insofern, als sie der TherapeutIn suggeriert, eine verlässliche Auskunftsperson an ihrer Seite zu haben, und der DolmetscherIn das Gefühl vermitteln kann, nicht „nur“ eine SprachmittlerIn zu sein, sondern darüber hinaus auch eine „Kulturexpertin“. „Kulturexpertise“ ist aber immer eine relative Variable, und es ist in erster Linie die KlientIn, die über ihre eigene, individuelle Verortung innerhalb ihres kulturellen Bezugsrahmens am besten Auskunft geben kann. - Von „Sprachmaschine“ hin zur „Ko-TherapeutIn“: Die Rollendefinition der DolmetscherIn ist scheinbar klar und eindeutig (so nah wie möglich am Original dolmetschen, nichts weglassen, nichts hinzufügen), aber wie aus den Interviews hervorgegangen ist, finden im Beziehungsgeflecht der Triade auch Dynamiken, Allianzen, Zuschreibungen, Projektionen, Über‐ tragungen- und Gegenübertragungen statt. Die Rolle der DolmetscherIn wird sowohl von ihr selbst wie auch von den beiden Gesprächspartne‐ rInnen laufend angepasst, reflektiert und definiert. - Aufmerksamkeit: von der DolmetscherIn hin zur PsychotherapeutIn: Die DolmetscherIn ist die erste Ansprechperson für die KlientIn, und die DolmetscherIn ist somit die „ErstabnehmerIn“ dessen, was die KlientIn sagt. Daraus kann sich ein latenter Konkurrenzkampf zwischen The‐ rapeutIn und DolmetscherIn um die Aufmerksamkeit der KlientIn entwickeln. Auch wenn der erste Impuls der KlientIn dahin geht, die DolmetscherIn als erste Ansprechperson wahrzunehmen, sollte der Fokus mit der Zeit zur eigentlichen Ansprechperson, nämlich der PsychotherapeutIn wandern, und die DolmetscherIn sollte in den Hintergrund treten. 9.2.2.1 Allianzen in der Triade Im Spannungsfeld von Nähe und Distanz oszilliert die Aufmerksamkeit zwi‐ schen den jeweils beiden anderen Mitgliedern der Triade, und es entstehen Al‐ 276 9 Diskussion <?page no="277"?> 22 Aus Gründen der Lesefreundlichkeit wird in diesem Abschnitt auf die geschlech‐ terneutrale Schreibweise verzichtet: „Klient“, „Psychotherapeut“ und „Dolmetscher“ stehen hier für die jeweiligen Funktionen bzw. Rollen in der Triade, unabhängig vom Geschlecht der Person. lianzen, die auf der Ausschließung des jeweils Dritten beruhen, beziehungsweise diese zu Folge haben. Das heißt, Allianzen konstituieren sich nicht unbedingt mit dem Ziel, den Dritten auszuschließen: Ausschließung kann also sowohl Ursache als auch Folge einer Allianzbildung sein. Die DolmetscherIn als die Dritte ist per se eine AkteurIn, die das beidseitige (sprachliche) Defizit sichtbar und greifbar macht: Überspitzt gesagt ist die DolmetscherIn das fleischgewordene Unvermögen zweier Gesprächsteilneh‐ merInnen, sich in einer gemeinsamen Sprache zu unterhalten. Gerade die Psychotherapie wird jedoch stark mit Zweisamkeit (und folglich mit Intimität) assoziiert, aber in der Dreierkonstellation müssen KlientInnen von vornherein intime Inhalte nicht nur einer Person anvertrauen, sondern zweien, oder auch mehreren, falls die DolmetscherIn im Laufe der Therapie ausgetauscht oder zwischendurch ersetzt wird. Vordergründig ist die DolmetscherIn also die austauschbare AkteurIn in der Triade, jedoch ist ihre Austauschbarkeit nur bedingt vorhanden: Es ist nicht die Sprach- und Dolmetschkompetenz allein, die dafür ausschlaggebend ist, ob KlientInnen Vertrauen zu einer DolmetscherIn fassen können. Der/ die Dritte in der psychotherapeutischen Gesprächssituation kann als eine Bereicherung, Erweiterung und Komplettierung erlebt werden, aber auch als ein Eindringling, oder ein spaltendes, komplizierendes Element. Grob schematisch gesprochen sind in der psychotherapeutischen Triade folgende Allianzen möglich 22 : - Allianz Klient-Dolmetscher: meist in der Anfangsphase. Wenn der Klient zum ersten Mal den Therapieraum betritt, ist er mit der Präsenz zweier Personen konfrontiert, von denen die eine seine Sprache versteht, und die andere nicht. Folglich ist der Dolmetscher die erste Ansprechperson, und der Psycho‐ therapeut ist somit „der Dritte“. In dieser Phase ist es wichtig, dass der Dolmetscher sich in Zurückhaltung übt und den Vertrauensvorschuss nicht missbraucht, um sich unnötig viel Geltung zu verschaffen. - Allianz Dolmetscher-Psychotherapeut: Im Unterschied zum Klienten be‐ finden sich der Dolmetscher und der Psychotherapeut an ihrem Arbeits‐ platz, wenn auch mit einer unterschiedlichen Entlohnung und einem jeweils unterschiedlichen „symbolischen Kapital“ ausgestattet (für Psy‐ 277 9.2 Gratwanderungen, Oszillationen, Annäherungen <?page no="278"?> chotherapeuten ist das Arbeiten mit Traumatisierten ein Segment, das mit viel Erfahrung und einer guten Qualifizierung assoziiert wird, während am Markt der Dolmetschdienstleistungen das Arbeiten im Asylbereich am schlechtesten entlohnt ist und am wenigsten Prestige genießt). Trotz der unterschiedlichen Bewertung dieser Arbeit sind der Psychotherapeut und der Dolmetscher gemeinsam Teil eines Teams und haben bestimmte Qualitätsanforderungen zu erfüllen, auch wenn die Qualität für beide Berufsgruppen schwer messbar ist. Beide Akteure sind jedenfalls mit einer Forderung nach Verbindlichkeit konfrontiert, während eine solche Forderung für den Klienten nicht existiert. Diese Allianz macht den Klienten zum Dritten. Zugleich ist diese Allianz die Grundvoraussetzung für eine dolmetscherunterstützte Therapie, denn ohne eine tragfähige Beziehung zwischen den beiden „arbeitenden“ (im Sinne der Erwerbsarbeit) Akteuren kann die therapeutische Kommuni‐ kation auf die Dauer nicht funktionieren. - Allianz Psychotherapeut-Klient: Der Dolmetscher spricht zwar mehr als jeder andere einzelne Akteur in der Triade, er ist jedoch der einzige, der nicht im eigenen Namen spricht. Der Dolmetscher sagt „Ich“, meint aber nicht sich selbst, sondern das Ich der jeweils sprechenden Person. Der Dolmetscher ist also präsent, aber nicht aktiv am Gespräch beteiligt. Damit ist der Dolmetscher „der Dritte“. - Allianz Psychotherapeut-Klient: Der Dolmetscher spricht zwar mehr als jeder andere einzelne Akteur in der Triade, er ist jedoch der einzige, der nicht im eigenen Namen spricht. Der Dolmetscher sagt „Ich“, meint aber nicht sich selbst, sondern das Ich der jeweils sprechenden Person. Der Dolmetscher ist also präsent, aber nicht aktiv am Gespräch beteiligt. Damit ist der Dolmetscher „der Dritte“ . Abb. 2: Oszillationen 9.2.3 Annäherungen Wenn es um zwischenmenschliche Kommunikation geht, ist es nicht ungewöhnlich, dass Theorie und Praxis auseinanderklaffen, da Menschen sich nun einmal nicht immer so verhalten, wie es in einem Kodex vorgesehen ist. Im Kontext der Psychotherapie gibt es Ideale, die angestrebt werden und die handelnde AkteurInnen nicht aus dem Blick verlieren sollten; zugleich gilt es auch, die jeweilige Realität in ihrer Komplexität wahrzunehmen. Es Unsichtbarkeit Präsenz SprachmittlerIn "KulturexpertIn" Aufmerksamkeit: von der DolmetscherIn ... ... zur TherapeutIn Abb. 2: Oszillationen 278 9 Diskussion <?page no="279"?> 9.2.3 Annäherungen Wenn es um zwischenmenschliche Kommunikation geht, ist es nicht unge‐ wöhnlich, dass Theorie und Praxis auseinanderklaffen, da Menschen sich nun einmal nicht immer so verhalten, wie es in einem Kodex vorgesehen ist. Im Kontext der Psychotherapie gibt es Ideale, die angestrebt werden und die handelnde AkteurInnen nicht aus dem Blick verlieren sollten; zugleich gilt es auch, die jeweilige Realität in ihrer Komplexität wahrzunehmen. Es wird nicht ausbleiben, dass sich zwischen den Idealvorstellungen und der Wirklichkeit eine Kluft bildet, aber diese muss nicht zwingend als frustrierend erlebt werden, sondern bietet auch eine Chance, sich mit den Anforderungen in der Arbeit neu auseinanderzusetzen und zu neuen Schlussfolgerungen zu kommen. So ist es Teil der beruflichen Realität, sich mit bloßen Annäherungen zu begnügen. Im Folgenden werden einige solche Ideale angeführt, denen DolmetscherInnen in ihrer Arbeit in der Psychotherapie sich annähern: - Das Ideal der inhaltlichen Auseinandersetzung: In der psychotherapeu‐ tischen Arbeit mit Kriegs- und Foltertraumatisierten müssen sich Dol‐ metscherInnen mit unterschiedlichen Themen auseinandersetzen, die sie von ihrer Ausbildung her normalerweise nicht mitbringen: Psycho‐ therapie als Behandlungsmethode, Realitäten des Asylwesens, politi‐ sche Zusammenhänge in Bürgerkriegsgebieten, Burnout-Prävention in Sozialberufen, Retraumatisierung und sekundäre Traumatisierung durch die Arbeit mit Traumatisierten etc. Angesichts der bescheidenen Bezahlung wäre es zu viel verlangt, von den DolmetscherInnen zu erwarten, dass sie sehr viel Zeit und Ressourcen in die Beschäftigung mit allen angeführten Themenfeldern investieren, allerdings ist eine umfassende Bereitschaft, Neues zu lernen und sich auch auf einer persönlichen Ebene weiterzuentwickeln, eine wichtige Voraussetzung für das langfristige Arbeiten in diesem Gebiet. Die Praxis der Psycho‐ therapie ist terminologisch nicht so anspruchsvoll wie etwa der medi‐ zinische Bereich, aber es herrscht in der Psychotherapie ein bestimmter Zugang zum Sprachgebrauch an sich, mit dem DolmetscherInnen sich befassen müssen. - Das Ideal der „Kulturexpertise“: Von der Gefahr, eine Illusion der „Kultur‐ expertise“ aufzubauen, war bereits zuvor die Rede. An dieser Stelle sei lediglich noch einmal darauf hingewiesen, dass „Kulturexpertise“ ein erstrebenswertes Ideal darstellt und keine absolute Größe. - Das Ideal der Neutralität: DolmetscherInnen sollten nicht Partei ergreifen und sich für beide GesprächspartnerInnen gleichermaßen zuständig 279 9.2 Gratwanderungen, Oszillationen, Annäherungen <?page no="280"?> fühlen. Eine absolute Neutralität ist jedoch eine Anforderung, der man sich in einem kommunikativen, zwischenmenschlichen Kontext lediglich annähern kann. - Das Ideal der Professionalität: Professionalität setzt sich aus unterschied‐ lichen Komponenten zusammen, wobei zu den wichtigsten wohl die Fähigkeit zählt, um die eigenen Grenzen Bescheid zu wissen. Professionell verhalten sich DolmetscherInnen in erster Linie dann, wenn sie ihre sprachlichen Lösungen und Handlungen argumentieren können, wenn ihre Kommunikation mit den einzelnen GesprächspartnerInnen für den jeweils Dritten einigermaßen transparent bleibt, und wenn sie die Bereit‐ schaft haben, über das Geschehen und über ihre eigene Rolle darin zu reflektieren. - Das Ideal des Vertrauens und der Empathie: Vertrauen ist eine unabding‐ bare Voraussetzung für eine derart intime kommunikative Situation wie die Psychotherapie. Oft braucht es lange, bis traumatisierte KlientInnen Vertrauen zur PsychotherapeutIn und zur DolmetscherIn (die womöglich nicht immer dieselbe Person ist) fassen können. Aber auch DolmetscherInnen sollten im Laufe der Zeit Vertrauen zur psychotherapeutischen Methode entwickeln, um keine innere Ablehnung gegen die Interventionen der PsychotherapeutIn aufzubauen: Für Dol‐ metscherInnen kann es anfänglich befremdlich sein, dass Psychotherapie ein Rahmen ist, in dem von Bewertungen und Beurteilungen abgesehen wird (im Unterschied zu Kontexten, in denen die Wahrheitsfindung ein erklärtes Ziel ist, wie etwa Polizei, Gericht, Bundesasylamt etc.); zum psychotherapeutischen Arbeiten gehört auch dazu, dass die subjektive Wahrheit der KlientIn nicht zwingend als Lüge (ab)gewertet wird, son‐ dern auf ihre Funktion im seelischen Gefüge der Person hin untersucht wird. Für DolmetscherInnen ohne eigene therapeutische Erfahrung kann ein solcher Zugang gewöhnungsbedürftig sein. - Das Ideal der „idealen DolmetscherIn“: Jeder Mensch ist mehr als die Summe seiner Teile, und so ist es nicht sinnvoll, im Hinblick auf einzelne „Elemente“ von DolmetscherInnen Wunschvorstellungen zu formulieren, wie etwa Alter, Geschlecht, Nationalität oder Ausbildung. Im Asylbereich arbeiten viele DolmetscherInnen, die keine entsprechende Ausbildung mitbringen, was im Hinblick auf das Berufsbild und auf Qualitätsstan‐ dards zweifelsohne problematisch ist. Und dennoch gilt es festzuhalten, dass die Kompetenz einer DolmetscherIn in der Psychotherapie sich nicht auf die reine Sprach- und Dolmetschkompetenz beschränkt, sondern auch andere Fertigkeiten bzw. Charaktereigenschaften wie Einfühlungs‐ 280 9 Diskussion <?page no="281"?> vermögen, kommunikative und soziale Kompetenz, Lernbereitschaft etc. umfasst. - Das Ideal der Originaltreue und der perfekten Arbeitstechnik: Mehrfach wurde bereits darauf hingewiesen, dass es in der Psychotherapie auf einzelne Wörter und Nuancen ankommt. Zugleich bleibt das Bemühen um die exakte Wiedergabe des Gesagten und des sprachlichen Ausdrucks immer eine bloße Annäherung. Zu diesem Punkt gehört auch die Idee vom „richtigen“ Dolmetschen zwischen zwei GesprächspartnerInnen (nämlich konsekutiv, in kurzen Abschnitten, mit wenig Blickkontakt und mit einem durchgehenden Gebrauch der ersten Person) - auch in diesem Punkt gilt es darauf hinzuweisen, dass die realen kommunikativen Anforderungen die DolmetscherInnen häufig dazu zwingen, sich mit einer Annäherung an das Ideal zu begnügen. - Das Ideal des umfassenden Verstehens: Wer einen anderen umfassend verstehen will, muss sich neben den Wörtern/ Worten auch mit anderen Komponenten der Kommunikation befassen, wie etwa Tonfall, Kontext, Sprechabsicht etc. Auch in der einsprachigen Psychotherapie geht es darum, den Abstand zwischen dem Gedachten/ Gefühlten und dem Ge‐ sagten auszuloten. Dieser Prozess der Umwandlung von Gedanken/ Ge‐ fühlen in Worte lässt sich auch in einem einsprachigen Kontext durchaus als ein „Übersetzungsprozess“ begreifen. Die Notwendigkeit, das psycho‐ therapeutische Gespräch zu dolmetschen, steigert die Komplexität dieser Annäherung an das Unsagbare. Abb. 3: Annäherungen Ideal der "idealen Dolmetscherin" Originaltreue Perfekte Arbeitstechnik Ideal des umfassenden Verstehens Kulturexpertise Neutralität Professionalität Vertrauen Empathie ANNÄHERUNGEN AN DIE IDEALE: Abb. 3: Annäherungen Die folgende grafische Darstellung fasst die einzelnen oben beschriebenen Elemente zusammen: 281 9.2 Gratwanderungen, Oszillationen, Annäherungen <?page no="282"?> 299 Die folgende grafische Darstellung fasst die einzelnen oben beschriebenen Elemente zusammen: Abb. 4: Prekäres Gleichgewicht PREKÄRES GLEICHGEWICHT Annäherungen Annäherungen Gratwanderungen Oszillationen PREKÄRES GLEICHGEWICHT Annäherungen Annäherungen GRATWANDERUNGEN GRATWANDERUNGEN : Empathie/ Abgrenzung "Ausreden lassen" / "Hören wollen" Originaltreue/ Pragma tismus Bedürfnisse der Gesprächspartnerinn en / eigene Bedürfnisse OSZILLATIONEN OSZILLATIONEN : Von "Unsichtbarkeit" zur Präsenz Von "Sprachmaschine" hin zur "Ko-TherapeutIn" Aufmerksamkeit : oszilliert zwischen DolmetscherIn und TherapeutIn ANNÄHERUNGEN ANNÄHERUNGEN . .. an das IDEAL: der inhaltlichen Auseinandersetzung der "Kulturexpertise" der "Neutralität" der Professionalität des Vertrauens und der Empathie der "idealen Dolmetscherin" der Originaltreue und der perfekten Arbeitstechnik des umfassenden Verstehens Abb. 4: Prekäres Gleichgewicht 282 9 Diskussion <?page no="283"?> 9.3 Weiterführende Forschungsfragen Sprache und Sprechen ist ein zentrales Element in der Psychotherapie (wenn auch bei weitem nicht das einzige). Ein Punkt, der bislang noch nicht eigens er‐ forscht wurde, betrifft den Umstand, dass zahlreiche KlientInnen die psychothe‐ rapeutischen Gespräche nicht in ihrer Muttersprache oder Erstsprache führen, sondern in ihrer Zweit- oder Bildungssprache. Einen wichtigen Bezugspunkt zu einer möglichen weiteren Forschung zum Thema der inneren Mehrsprachigkeit bietet das Konzept des Sprachenrepertoires (Busch 2013). Busch hinterfragt die Annahme, Sprachen seien klar voneinander abgrenzbar und somit zählbar, und greift auf den Begriff der Heteroglossie zurück, um die „vielschichtige und facettenreiche Differenzierung, die lebendiger Sprache innewohnt“ zu erfassen (S. 9). Mit dem Konzept des sprachlichen Repertoires sollen Sprachbiographien nachgezeichnet werden und ein Bewusstsein über das Spracherleben entstehen. Unterschiedliche Dimensionen von Sprache - emotionale, körperliche, politische, historische - werden vor dem Hintergrund sprachideologischer Überlegungen reflektiert. Das Konzept des Sprachrepertoires bildet einen Bezugspunkt für weitere Forschungen im Kontext der Psychotherapie: Es wäre denkbar zu versuchen herauszufinden, wie sich der Sprachgebrauch in der Psychotherapie auswirkt, ob bestimmte Inhalte an bestimmte Sprachen gebunden sind und wie Klien‐ tInnen mit ihrer eigenen inneren Mehrsprachigkeit umgehen. Interessant wäre es außerdem, herauszufinden, inwiefern sich die jeweiligen psychotherapeutischen und psychoanalytischen Schulen unterscheiden, also beispielsweise herauszufinden, ob PsychoanalytikerInnen anders mit der Dol‐ metschsituation umgehen als SystemikerInnen, ausgehend von ihrer Ausbil‐ dung und ihrer Arbeitserfahrung. Eine solche Untersuchung könnte jedoch nur von jemandem durchgeführt werden, der selbst über eine entsprechende Qualifikation und Erfahrung verfügt, da die Unterscheidung der einzelnen psychotherapeutischen Ansätze viel Wissen über die Materie und langjährige Erfahrung voraussetzt. Die wohl interessanteste Forschungsfrage betrifft jedoch die Perspektive der KlientInnen: Wie sieht es mit den langfristigen Folgen von psychotherapeuti‐ schen Behandlungen aus, die mit Hilfe von DolmetscherInnen stattgefunden haben? Die Frage nach der Erfolgsquote oder nach der Qualität einer Psycho‐ therapie ist grundsätzlich schwer zu beantworten, weil es kein Parallelszenario gibt, das man der stattgefundenen Realität entgegensetzen könnte - es ist nicht möglich herauszufinden, wie der psychische Gesundheitszustand eines Menschen sich entwickelt hätte, wenn er/ sie keine Psychotherapie in Anspruch 283 9.3 Weiterführende Forschungsfragen <?page no="284"?> genommen hätte. Dennoch ist die Stimme der Flüchtlinge und Asylsuchenden selbst generell im Migrationsdiskurs notorisch unterrepräsentiert, und somit wäre eine weitere Auseinandersetzung mit der Perspektive der KlientInnen, mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, sicherlich lohnend. Der Bedarf an Psychotherapie mit DolmetscherInnen wird in Zukunft steigen, und es ist davon auszugehen, dass auch das Interesse, diese Arbeitssituation zu erforschen, ebenfalls steigen wird. Welche Vor- und Nachteile das Arbeiten mit den DolmetscherInnen hat, ist eine Frage, die sich inzwischen kaum mehr stellt - die Notwendigkeit, mit DolmetscherInnen zu arbeiten, ist nicht wegzudiskutieren, das heißt, es ist keine Frage von „ob“, sondern eine Frage des „wie“. Das Pandemiejahr 2020 stellte die Arbeit im Kontext der dolmetschgestützte Psychotherapie vor neue, ungeahnte Herausforderungen. Von heute auf morgen galt es, die Arbeit auf Online-Formate (Whatsapp, Telefon mit oder ohne Video, Skype oder Zoom) umzustellen. Dadurch entfielen einige arbeitstechnische Problemstellungen wie Sitzordnung und Blickkontakt, und es stellten sich neue Fragen: Wie kann ein sicherer Therapieraum gewährleistet werden, wenn die KlientInnen ihre Psychotherapie von zu Hause aus machen, wo sie häufig mit beengten Wohnverhältnissen konfrontiert sind? Wie umgehen mit schlechter Internetverbindung? Wie umgehen mit dem sozialen Gefälle zwischen den KlientInnen und den TherapeutInnen, das sich nunmehr noch schärfer mani‐ festierte, ja geradezu visuell greifbar wurde, wenn manche TherapeutInnen beispielsweise von ihrem Zweitwohnsitz am Land aus arbeiteten, während die KlientInnen in den bereits erwähnten, mitunter prekären Wohnverhältnissen die Gespräche führten? Ganz zu schweigen vom Aspekt des (fehlenden) Da‐ tenschutzes und von der grundsätzlichen Schwierigkeit, sich in den eigenen vier Wänden auf das Therapieren, das eigene Sprechen bzw. das Dolmetschen voll einzulassen und die nötige Konzentration aufrechtzuerhalten. Zum Publi‐ kationszeitpunkt der vorliegenden Arbeit sind die Pandemiemaßnahmen voll in Kraft, ein Ende des Ausnahmezustandes ist noch nicht in Sicht. Dennoch lässt sich jetzt schon vorhersagen, dass die pandemiebedingten Umwälzungen - die Verlagerung psychotherapeutischer Gespräche auf virtuelle und/ oder telefonische Kanäle - das dolmetschgestützte psychotherapeutische Geschehen auch über die Pandemie hinaus begleiten werden. Die neue Arbeitsweise lässt sich vielfach variieren: Beispielsweise können PsychotherapeutIn und KlientIn in einem Raum sitzen (mit Abstand und Maske), während die DolmetscherIn von zu Hause aus telefonisch oder online dazugeschaltet wird; ebenso ist es möglich, dass TherapeutIn und DolmetscherIn in einem Raum gemeinsam arbeiten 284 9 Diskussion <?page no="285"?> (mit Abstand und Maske), während die KlientIn zu Hause ist und am Handy angerufen wird; die dritte Variante ist, dass alle drei Beteiligten von zu Hause aus arbeiten bzw. sprechen. Das virtuelle Arbeiten in der dolmetschgestützten Psychotherapie wirft zahlreiche neue Forschungsfragen auf, nicht zuletzt die übergeordnete Frage, wie in einer Situation, in welcher Vereinzelung und social distancing das Gebot der Stunde sind, kommunikative Nähe hergestellt und Solidarität gelebt werden kann. 9.4 Der Aufschlusswert der Studie Die Studie soll zum einen diese wichtige und häufig unterfinanzierte Arbeit sichtbar machen. Der gesellschaftliche Nutzen der Psychotherapie für kriegs- und foltertraumatisierte Menschen lässt sich nicht in konkreten Zahlen ausdrü‐ cken, dennoch sollte es einer jeden Gesellschaft ein Anliegen sein, Betroffene nicht allein zu lassen und ihnen trotz der Sprachbarriere eine solche Möglichkeit zu bieten, sich in ihrer eigenen Sprache mitzuteilen und damit ihren Heilungs‐ prozess voranzutreiben. Zum anderen richtet sich die Studie an Personen, die im Asylbereich tätig sind - als DolmetscherInnen, BeraterInnen, PsychotherapeutInnen, Sozialar‐ beiterInnen, ÄrztInnen usw. Die gewonnenen Erkenntnisse und das Reflexi‐ onsmodell sollen sie dabei unterstützen, ihre eigenen Schwierigkeiten in der Arbeit zu reflektieren und ein Bewusstsein über ihre eigene Annäherung an die Idealvorstellungen ihrer jeweiligen Profession aufzubauen. Zu guter Letzt ist die durchgeführte Studie auch als eine Würdigung zu verstehen: eine Würdigung der Bemühungen von KlientInnen, durch Gespräche einen Weg zu finden, mit ihren belastenden Erinnerungen umzugehen und Zukunftsperspektiven für ihr Leben zu entwickeln. Thematisch ist die Studie als eine Fortführung und Vertiefung des beste‐ henden Forschungsstandes zu sehen, denn zahlreiche Themen wurden bereits von anderen AutorInnen bearbeitet, wie z. B. Sitzordnung bei Wadensjö (2001), indirekte Rede bei Bot (2005). Die in der vorliegenden Arbeit präsentierte Reflexion der Dynamiken in der Triade kann als Basis für weitere Forschungen dienen, etwa im Bereich der inneren Mehrsprachigkeit der KlientInnen, aber auch der DolmetscherInnen und PsychotherapeutInnen (vgl. Busch 2013). Im Modell des Prekären Gleichgewichts sind die zentralen Phänomene der Arbeit in der psychotherapeutischen Triade zusammengefasst (Gratwan‐ derungen, Oszillationen, Annäherungen). Dieses Reflexionsmodell soll Psy‐ chotherapeutInnen und DolmetscherInnen dabei helfen, ein Bewusstsein für 285 9.4 Der Aufschlusswert der Studie <?page no="286"?> emotionale, zwischenmenschliche, sprachliche und gesellschaftspolitische Phä‐ nomene in der triadischen Kommunikation zu entwickeln. Das Modell soll interessierten PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen dabei helfen, ihre eigenen Erfahrungen und Eindrücke entlang der gebotenen Kategorien zu verarbeiten, zu reflektieren und sowohl eigenständig als auch in Rücksprache mit ArbeitskollegInnen weiterzuentwickeln. 286 9 Diskussion <?page no="287"?> 10 Schlussbemerkungen In der vorliegenden Arbeit wurde eine leitfadengestützte Untersuchung vorge‐ stellt, die darauf abzielte, den Bereich der dolmetschergestützten Psychotherapie näher zu beleuchten. Da es sich bei der Psychotherapie für kriegs- und foltertraumatisierte Men‐ schen um einen Bereich handelt, in dem kulturellen Aspekten häufig eine große Bedeutung eingeräumt wird, erfolgte im Kapitel 2 zunächst eine Auseinander‐ setzung mit dem Thema Kultur, vorwiegend aus der psychoanalytischen und psychotherapeutischen Perspektive. Im Kapitel 3 geht es um die individuellen und kollektiven Folgen von Trauma. Eine Beschäftigung mit diesem Thema ist im vorliegenden Kontext unabdingbar, da die meisten KlientInnen in diesem Bereich unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Im Kapitel 4 erfolgte eine Einbettung des Themas in den Kontext des Community Interpreting, unter Berücksichtigung der Spezifik des dargestellten Settings und der berufsethischen Anforderungen an die DolmetscherInnen. Anschließend wurden ausgewählte themenrelevante Untersuchungen darge‐ stellt, mit einem Schwerpunkt auf die angewandten Methoden. Nach einer Diskussion einiger thematischer Schwerpunkte wurden die Forschungsdesirate der vorliegenden Studie skizziert. Methodische Vorüberlegungen zum Forschungsprojekt, die Erstellung der Interviewleitfäden, die Kodierung der Interviews und eine Reflexion der For‐ schungssituation im Feld sind im Kapitel 5 zu finden. Die Kapitel 6., 7. und 8. enthalten eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem erhobenen Material. Die gewonnen Erkenntnisse über das prekäre Gleichgewicht, das durch Dynamiken der Gratwanderungen, Oszillationen und Annäherungen an Idealvorstellungen bestimmt wird, sind in ein Modell zur Reflexion des prekären Gleichgewichts in der Triade eingeflossen und können Anregungen für die Praxis liefern und als Basis für weitere Forschungen in diesem Bereich dienen. <?page no="289"?> Bibliographie Ahamer, Vera (2013). Unsichtbare Spracharbeit. Jugendliche Migranten als Laiendolmet‐ scher. Integration durch „Community Interpreting“. Bielefeld: Transcript Akhtar, Salman (2007). Immigration und Identität. Gießen: Psychosozial-Verlag Alexieva, Bistra (2002). „Typology of Interpreter-mediated events“ In: Pöchhacker F. & Shlesinger M. (Hg.) (2002) The Interpreting Studies Reader. London/ New York: Routledge, S. 219-233 Anderson, R.B.W. (1976/ 2002). „Perspectives on the Role of Interpreter“ In: Pöchhacker F. & Shlesinger M. (Hg.) (2002). The Interpreting Studies Reader. 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Dolmetschen im therapeutischen Setting bedeutet unter anderem, Grat‐ wanderungen zu bewältigen, Oszillationen ausgesetzt zu sein und sich mitunter mit bloßen Annäherungen begnügen zu müssen. Die psychotherapeutische Unterstützung zählt zu den wichtigsten integra‐ tiven Maßnahmen für kriegs- und foltertraumatisierte AsylwerberInnen und Flüchtlinge. Da alle Formen der Psychotherapie stark an Sprache gebunden sind und die Schwierigkeit, sich in einer fremden Sprache zu verständigen, durch die Problematik, über traumatische Erlebnisse zu sprechen, verschärft wird, stehen DolmetscherInnen in der Psychotherapie vor besonderen Herausforderungen: Als Sprachrohr für PsychotherapeutIn und KlientIn gleichermaßen müssen DolmetscherInnen neben Sprach- und Dolmetschkompetenz auch Einfühlungs‐ vermögen und hohe Flexibilität und Belastbarkeit mitbringen, um die ständige Gratwanderung zwischen Distanz und Nähe (Abgrenzung und Empathie) in der Psychotherapie zu bewältigen. In der Psychotherapie dient Sprache nicht nur der Kommunikation im Sinne eines reinen Transfers von Informationen oder konventionellen Formalitäten, sondern ist auch diagnostisches Mittel. Das Wissen um den Sprachgebrauch des Klienten erlaubt es dem Therapeuten, Rückschlüsse über die jeweilige Persönlichkeit und den Gesundheitszustand zu ziehen. Daher ist eine klare Rollen- und Kompetenzverteilung ausschlaggebend für den kommunikativen und therapeutischen Erfolg. Dem Entwurf tragfähiger Rollenbilder in der Triade muss jedoch eine umfassende Diskussion vorausgehen, die auch und gerade die Perspektive der KlientInnen berücksichtigt, deren Stimme in der aktuellen Forschung ebenso wie in der medialen Darstellung weitgehend fehlt. Ziel der Auseinandersetzung mit dem Thema Dolmetschen in der Psychothe‐ rapie ist es, die Arbeit der DolmetscherInnen insgesamt sichtbar zu machen und diese kommunikative Arbeitssituation, die einerseits intim ist, und andererseits in einem gesellschaftspolitischen Kontext eingebettet ist, aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. Dabei sind individuelle Aspekte (psychische Belas‐ tung in der Arbeit mit Traumatisierten, Rollenverständnis) ebenso zu berück‐ <?page no="298"?> sichtigen wie kollektive und die Organisation als Gesamtes betreffende Faktoren (Gruppentreffen, Umgang mit Burnout-Risiko, Auswahl der DolmetscherInnen und Qualitätssicherung). Der vorliegenden Arbeit liegt eine leitfadenunterstützte qualitative Untersu‐ chung zugrunde, im Rahmen derer KlientInnen, PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen über das Arbeiten im psychotherapeutischen Setting be‐ fragt wurden. Das aus den gewonnenen Erkenntnissen heraus entwickelte Reflexionsmodell des Prekären Gleichgewichts fasst die zentralen Phänomene und Dynamiken in der psychotherapeutischen Triade zusammen. Es soll Psy‐ chotherapeutInnen und DolmetscherInnen dabei helfen, für Dynamiken zu sensibilisieren und ein Bewusstsein für die sprachlichen und emotionalen Anforderungen beim Arbeiten mit schwer traumatisierten KlientInnen zu ent‐ wickeln. Abstract: in English Precarious balance: Interpreting in psychotherapy Interpreter-mediated psychotherapy is characterised by precarious balance, and the interpreters play a significant role in supporting it. Psychotherapeutic assistance is one of the main ways of helping asylum seekers and refugees. Survivors of war and torture may encounter difficulties in speaking about their traumatic experiences for both linguistic and psychological reasons. Interpreters working in therapy sessions with traumatised clients therefore need particular skills, such as the ability to deal with upsetting or disturbing content and to function as gatekeepers whilst simultaneously remaining neutral and yet visible as individuals, characterised by their origin, age, gender, linguistic background, professional training, working experience etc. Intercultural interpreter-mediated psychotherapy can help traumatised asylum seekers and refugees to integrate in the host country. Interpreting in psychotherapy is embedded in the broader theoretical context of community in‐ terpreting, which refers to working with asylum seekers, refugees and migrants. In psychotherapy language not only serves for communication but is also crucial to diagnosis and therapy. Thus interpreters have to attach great care to what is being said and how it is being said. The current state of research suggests that there are various models of cooperation in interpreter-mediated psychotherapy, concerning the degree of empathy/ involvement or neutrality/ abstinence required of the interpreter. 298 Anhang <?page no="299"?> The research project presented in this paper aims to analyse the role of the interpreter in psychotherapy, taking into account the perspectives of all the parties involved, i.e. including that of the individual clients, who have so far been neglected in relevant research. The methodological core of the project includes semi-structured qualitative interviews with clients, psychotherapists and interpreters. The overall aim of the project is to help improve working conditions for interpreters and help optimise the communication within the given context. 299 Anhang <?page no="300"?> Interviewleitfäden für KlientInnen, PsychotherapeutInnen und Dolmetscher- Innen InterviewpartnerIn: KLIENTiN - Kurze Vorstellung des Forschungsprojekts, Ziel des Interviews; Hinweis darauf, dass Angaben vertraulich behandelt werden. Fragen: 1. Eingangsfragen - Wie lange und wie oft führen Sie psychotherapeutische Gespräche? - Arbeiten Sie immer mit derselben DolmetscherIn? (>>ist Ihnen lieber, wenn Sie immer mit derselben DolmetscherIn arbeiten? ) 2. Vertrauen - Haben Sie das Gefühl, dass Sie den DolmetscherInnen trauen können? (im Sinne der Verschwiegenheitspflicht) - Macht es einen Unterschied für Sie, wer dolmetscht - im Hinblick auf: Geschlecht Alter Herkunft? - Ist es wichtig für Sie, mehr über Ihre DolmetscherIn zu wissen? (Herkunft, wie lange schon in Österreich etc.? ) - Ist es schon einmal vorgekommen, dass Sie mit einer DolmetscherIn unzufrieden waren? - Wenn Ja, warum? Konnten Sie die DolmetscherIn wechseln? 300 Anhang <?page no="301"?> InterviewpartnerIn: PSYCHOTHERAPEUTiN - Vorstellung des Projekts, Ziel des Interviews; Hinweis darauf, dass An‐ gaben vertraulich behandelt werden. Fragen: 1. Eingangsfragen (Hintergrundinformationen): - Für welche Sprache(n) benötigen Sie DolmetscherInnen? 2. Rollenverständnis: - Wie sehen Sie die Rolle der DolmetscherIn in der Psychothe‐ rapie? - Sprechen Sie mit den DolmetscherInnen über die Therapien (vorher und nachher)? - Erwarten Sie von Ihrer DolmetscherIn auch Hintergrundinforma‐ tionen im Zusammenhang mit dem Kulturkreis der KlientInnen? 3. Qualität/ Professionalität - Welche Fähigkeiten/ Eigenschaften muss eine DolmetscherIn mit‐ bringen? - Welche Schwierigkeiten treten Ihrer Erfahrung nach beim Dolmet‐ scherIn-Wechsel auf ? - Was ist anders, wenn Sie mit DolmetscherInnen arbeiten, im Unter‐ schied zur Arbeitsweise in der Dyade? 301 Anhang <?page no="302"?> InterviewpartnerIn: DOLMETSCHERiN - Vorstellung des Projekts, Ziel des Interviews; Hinweis darauf, dass An‐ gaben vertraulich behandelt werden. Fragen: 1. Eingangsfragen (Hintergrundinformationen): - Mit welchen Sprachen arbeiten Sie in der Psychotherapie? - Ihre Muttersprache? - Seit wann dolmetschen Sie psychotherapeutische/ psychologi‐ sche/ psychiatrische Gespräche? - Gegebenenfalls: Woher kommen Sie? Wo sind Sie aufgewachsen? Wo haben Sie Deutsch gelernt? - Haben Sie eine Übersetzungs- oder Dolmetschausbildung? Dolmet‐ schen Sie auch in anderen Kontexten? 2. Themenkomplex Arbeitstechnik - Sitzordnung? - Blickkontakt? - Simultan oder konsekutiv? - Wie nah am Original versuchen Sie zu sein (1. oder 3. Person usw? ) - Anmerkungen/ Probleme/ … 3. Themenkomplex Rollenverständnis (und Kulturkompetenz) - Wie sehen Sie Ihre Rolle als DolmetscherIn in der Psychotherapie? (eher als Ko-Therapeutin oder als „Sprachmaschine? “) - Wofür fühlen Sie sich in der Therapie zuständig? (nur für Sprache, oder auch für andere Dinge? ) - Stammen Sie aus demselben Kulturkreis wie die meisten Ihrer Kli‐ entInnen? - spezifizieren Sie das bitte (z. B. dieselbe Sprache, aber andere ethnische Zugehörigkeit). Wenn Ja: Sehen Sie das eher als Vor- oder als Nachteil? Arbeiten Sie gerne mit Ihren Landsleuten? - Was fällt Ihnen ein zu den Begriffen KulturmittlerIn und Kulturkom‐ petenz ein? - Fühlen Sie sich als einE kulturkompetente KulturmittlerIn? - Haben Sie das Gefühl, dass Sie auf Grund Ihrer Herkunft die Anliegen der KlientInnen besser verstehen können als die TherapeutIn? 302 Anhang <?page no="303"?> 4. Themenkomplex Belastung in der Arbeit? - Empfinden Sie die Arbeit in der Psychotherapie als belastend? - wenn ja, wie äußert sich das? - Haben Sie selbst ähnliche Erfahrungen gemacht wie die KlientInnen, für die Sie dolmetschen? - Was tun Sie gegen die Belastung? - Sprechen Sie mit den PsychotherapeutInnen, mit denen Sie arbeiten, über die Belastung? Gibt es Vor- und Nachgespräche? - Findet Austausch mit den KollegInnen statt? - Wenn ja, empfinden Sie diesen als hilfreich/ unterstützend? - Möchten Sie langfristig in der Psychotherapie dolmetschen? - Nehmen Sie Supervision in Anspruch? Wenn ja, empfinden Sie Supervision als hilfreich/ unterstützend? 5. Themenkomplex Qualität/ Professionalität? - Was bedeutet für Sie Abgrenzung in der Arbeit mit KlientInnen? - Welche Faktoren müssen gegeben sein, damit Sie das Gefühl haben, dass die Kommunikation gut funktioniert hat? - Abschließend: Möchten Sie noch etwas hinzufügen? 303 Anhang <?page no="304"?> Translationswissenschaft herausgegeben von Klaus Kaindl und Franz Pöchhacker Die am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien herausgegebene Reihe versteht sich als offenes, internationales Forum für wissenschaftliche Beiträge zu Forschungsthemen im gesamten Spektrum der Disziplin. Neben zentralen Themenfeldern wie dem Literatur- und Fachübersetzen, dem Konferenz-, Gerichts- und Kommunaldolmetschen sowie dem mehrsprachigen Terminologiemanagement und den damit verbundenen theoretischen, methodischen und didaktischen Ansätzen und Fragestellungen umfasst die Reihe vor allem auch neue Entwicklungen im Zusammenhang mit multimodaler Kommunikation und technologiebasierter Translation. Die in der Reihe erscheinenden Monographien und Sammelbände unterliegen einem Begutachtungsverfahren, um ein möglichst hohes Maß an wissenschaftlicher Qualität wie auch Lesbarkeit zu garantieren. Bisher sind erschienen: Band 1 Hanna Risku Translationsmanagement Interkulturelle Fachkommunikation im Informationszeitalter 3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2016, 288 Seiten €[D] 59,90 ISBN 978-3-8233-6983-7 Band 2 Sonja Pöllabauer “I don’t understand your english, Miss” Dolmetschen bei Asylanhörungen 2005, 484 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6175-6 Band 3 Gyde Hansen Erfolgreich übersetzen Entdecken und Beheben von Störquellen 2006, 310 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6256-2 Band 4 Susanne Göpferich Translationsprozessforschung Stand - Methoden - Perspektiven 2008, XIV, 313 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6439-9 Band 5 Martin Will Dolmetschorientierte Terminologiearbeit Modell und Methode 2009, XVIII, 223 Seiten €[D] 49,00 ISBN 978-3-8233-6506-8 Band 6 Mira Kadric Dialog als Prinzip Für eine emanzipatorische Praxis und Didaktik des Dolmetschens 2011, 184 Seiten €[D] 39,00 ISBN 978-3-8233-6561-7 <?page no="305"?> Band 7 Ángela Collados Aís / Emilia Iglesias Fernández / E. Macarena Pradas Macias / Elisabeth Stévaux (Hrsg.) Qualitätsparameter beim Simultandolmetschen Interdisziplinäre Perspektiven 2011, 353 Seiten €[D] 64,00 ISBN 978-3-8233-6637-9 Band 8 Gerrit Bayer-Hohenwarter Translatorische Kreativität Definition - Messung - Entwicklung 2012, XVIII, 362 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6709-3 Band 9 Karin Reithofer Englisch als Lingua Franca und Dolmetschen Ein Vergleich zweier Kommunikationsmodi unter dem Aspekt der Wirkungsäquivalenz 2013, 308 Seiten €[D] 64,00 ISBN 978-3-8233-6795-6 Band 10 Don Kiraly / Silvia Hansen-Schirra / Karin Maksymski (Hrsg.) New Prospects and Perspectives for Educating Language Mediators 2013, VI, 229 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6819-9 Band 11 Daniela Di Mango The Role of Theory in Translator Training 2018, 440 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8161-7 Band 12 Larisa Cercel / Marco Agnetta / María Teresa Amido Lozano (Hrsg.) Kreativität und Hermeneutik in der Translation 2017, 469 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8074-0 Band 13 Mascha Dabi ć Dolmetschen in der Psychotherapie Prekäres Gleichgewicht 2021, 304 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-8234-8 Band 14 Sylvi Rennert Redeflüssigkeit und Dolmetschqualität Wirkung und Bewertung 2019, 204 Seiten €[D] 59,00 ISBN 978-3-8233-8281-2 Band 15 Katia Iacono Dolmetschen im Medizintourismus Anforderungen und Erwartungen an DolmetscherInnen in Deutschland und Österreich 2021, 360 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-8472-4 Band 16 Klaus Kaindl / Sonja Pöllabauer / Dalibor Miki ć (Hrsg.) Dolmetschen als Dienst am Menschen Texte für Mira Kadri ć 2021, 258 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-8433-5 Band 17 Sonja Pöllabauer / Mira Kadri ć (Hrsg.) Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext Translationskultur(en) im DACH-Raum 2021, ca. 300 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-8352-9 <?page no="306"?> ISBN 978-3-8233-8234-8 In der dolmetscherunterstützten Psychotherapie herrscht ein prekäres Gleichgewicht, an dessen Aufrechterhaltung Dolmetscher: innen maßgeblich beteiligt sind. Alle Formen der Psychotherapie sind stark an Sprache gebunden. Die Schwierigkeit, sich in einer fremden Sprache zu verständigen, wird durch die Problematik verschärft, über traumatische Erlebnisse zu sprechen. Die Dynamiken innerhalb der Triade Psychotherapeut: in - Dolmetscher: in - Klient: in sind u.a. von Gratwanderungen, Oszillationen und Annäherungen charakterisiert. Dabei werden die Dolmetscher: innen mitunter mit divergierenden Erwartungshaltungen konfrontiert. TW 13 Dabic� DOLMETSCHEN IN DER PSYCHOTHERAPIE TRANSLATIONSWISSENSCHAFT BAND 13 DOLMETSCHEN IN DER PSYCHOTHERAPIE Prekäres Gleichgewicht Mascha Dabic� 18234_Umschlag.indd Alle Seiten 18234_Umschlag.indd Alle Seiten 06.05.2021 15: 35: 05 06.05.2021 15: 35: 05