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Europäische Übersetzungsgeschichte

1203
2018
978-3-8233-9255-2
978-3-8233-8255-3
Gunter Narr Verlag 
Jörn Albrecht
Iris Plack
Iris Plack

Übersetzungen haben die europäische Literaturgeschichte wesentlich geprägt: Sie eröffnen den Zugang zu fremden Kulturen und Literaturen, sie bestimmen die Wahrnehmung kanonischer Werke und Autoren zum Teil über Jahrhunderte - und wenn sie gut sind, werden sie gar nicht wahrgenommen. Der Band bietet ein Panorama der europäischen Übersetzungsgeschichte und bringt dabei Aspekte zur Sprache, die in klassischen Übersetzungsgeschichten nur gestreift werden: die Forschungsmethoden und Erkenntnisinteressen der Übersetzungsgeschichte, die Zusammenhänge zwischen Übersetzungstätigkeit und Sprachgeschichte, die Abhängigkeit der Übersetzungskonzeptionen von geistesgeschichtlichen Strömungen, der Einfluss bedeutender Übersetzerpersönlichkeiten auf das Übersetzungswesen und einiges andere mehr. Beispiele aus unterschiedlichen Sprachenpaaren ermöglichen einen Einblick in Besonderheiten der Übersetzung auch aus wenig vertrauten Sprachen.

<?page no="1"?> Europäische Übersetzungsgeschichte <?page no="3"?> Jörn Albrecht / Iris Plack Europäische Übersetzungsgeschichte <?page no="4"?> © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8255-3 Umschlagabbildung: Guido Reni: Raub der Europa. The Yorck Project (2002): 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM). Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> In Erinnerung an Christine Albrecht (1967-2016) <?page no="7"?> 13 15 I. 17 1 19 1.1 20 1.2 21 1.2.1 22 1.2.2 23 1.3 24 1.3.1 24 1.3.2 25 2 29 2.1 31 2.2 33 2.2.1 34 2.2.2 35 2.2.3 37 3 39 3.1 41 3.2 43 3.3 50 4 53 4.1 53 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzungsgeschichte: Fragestellungen, Methoden, Erkenntnisinteressen einer wenig bekannten Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gegenstand der Übersetzungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Forschungsmethoden der Übersetzungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . Die Forschungsmethoden der äußeren Übersetzungsgeschichte . . Die Forschungsmethoden der inneren Übersetzungsgeschichte . . Die Erkenntnisinteressen der Übersetzungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische und translatologische Erkenntnisinteressen . . . . . . . . Sprachgeschichtliche Erkenntnisinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzen und Dolmetschen in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Beginn der römischen Literatur aus dem Geist der Übersetzung . . . . Cicero, Horaz, Hieronymus und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quintus Horatius Flaccus (65-8 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eusebius Sophronius Hieronymus (um 345-420 n. Chr.) . . . . . . . . . „Vertikales“ und „horizontales“ Übersetzen im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bemerkungen zur Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Arbeit der frühen Übersetzer oder „Vulgarisatoren“ und ihre sprachlichen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aufstieg der europäischen Volkssprachen in den Rang „würdiger“ Übersetzungssprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einfluss der Übersetzungen auf die jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Nutzen und Nachteil der Übersetzung für die Sprache . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 4.2 56 4.3 57 4.4 60 4.5 67 5 77 5.1 78 5.2 84 5.3 89 6 91 6.1 91 6.2 93 6.3 101 6.4 103 6.4.1 103 6.4.2 107 6.4.3 112 6.4.4 114 7 121 7.1 123 7.2 124 7.3 126 7.4 128 8 133 8.1 134 8.2 136 9 141 9.1 143 9.2 164 Der Beitrag der Übersetzer zum Ausbau der europäischen Volkssprachen Die „verdeckte“ Latinisierung des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verbreitung lexikalischen und syntaktischen Lehnguts durch die Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einführung und Verbreitung literarischer Gattungen über ihren Entstehungsbereich hinaus durch die Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vielschichtigkeit des Englischen im Lichte der Übersetzungsgeschichte . . . . . . . Die verschiedenen ethnisch-kulturellen und sprachlichen Schichten im chronologischen Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alt- und Mittelenglisch: Einige Informationen zu Sprache und Literatur und wichtigen Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Anteil der Übersetzer an der Entwicklung des Englischen zur lingua franca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelübersetzung in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offenbarungsreligion und „heiliger Text“. Übersetzungsoptimismus und -pessimismus bei den Buchreligionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiedliche Skopoí der Bibelübersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelübersetzungen im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelübersetzungen vom Spätmittelalter bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Französischer Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutscher Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Englischer Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spanischer und italienischer Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Renaissance zur Aufklärung: Die Vertreter der belles infidèles und ihre Gegner in Frankreich, England und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anekdotisches zum Ausdruck Les belles infidèles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gegner der belles infidèles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zweite Welle der belles infidèles im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . Die ‚Wende‘ der europäischen Übersetzungsgeschichte in der Romantik. Die Entstehung der philologisch-dokumentarischen Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Schleiermacher und der beginnende Historismus . . . . . . . . . . . . Einige Beispiele zur Übersetzungstheorie und -praxis . . . . . . . . . . . . . . . . Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur . . . . . . . . . . . . . Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spanien und die iberische Halbinsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 9.3 182 9.4 215 9.5 244 9.6 274 9.7 287 9.8 321 10 333 10.1 333 10.2 335 10.3 336 10.4 340 10.5 342 10.6 344 10.7 347 10.8 349 10.9 352 10.10 354 II. 357 11 359 11.1 371 11.2 376 12 383 12.1 383 12.1.1 384 Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Großbritannien und Irland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutschland, Österreich, Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere europäische Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metamorphosen des Pantheons: Statusverschiebungen von literarischen Werken durch die übersetzerische Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutende Übersetzerpersönlichkeiten von der frühen Neuzeit bis heute . . . . . . . . Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau-Saarbrücken (um 1395-1456) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ludwig I., Fürst von Anhalt-Köthen (1579-1650) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johann Christoph Gottsched (1700-1766) und Luise Adelgunde Victorie Gottsched geb. Kulmus: die Gottschedin (1713-1762) . . . . . . . . . . . . . . . . . Johann Joachim Christoph Bode (1731-1793) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johann Diederich Gries (1775-1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ferdinand Freiligrath (1810-1876) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Heyse (1830-1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henri Albert (1869-1921) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Reisiger (1884-1968) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Swetlana Geier (1923-2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systematischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzungsströme. Die übersetzerische „Handelsbilanz“ Europas im Überblick . . Hic sunt leones: Die „weißen Flecken“ in der übersetzerischen Rezeption Steuerung der Übersetzungsströme durch Zensur und ähnliche Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderformen der Übersetzungswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Umwegübersetzungen‘ oder Übersetzungen aus zweiter Hand . . . . . . . . Welche Gründe veranlassen Übersetzer dazu, auf eine oder mehrere bereits vorliegende Übersetzungen in der Sprache, in die übersetzt wird, oder in einer dritten Sprache zu rekurrieren? . . . . 9 Inhalt <?page no="10"?> 12.1.2 387 12.1.3 388 12.2 405 12.3 409 13 413 13.1 413 13.2 416 13.3 417 13.3.1 418 13.3.2 420 13.3.3 421 14 425 14.1 429 14.2 436 15 441 15.1 441 15.2 450 16 465 16.1 467 16.2 467 16.3 471 17 475 Welche Faktoren haben historisch betrachtet dazu beigetragen, dass sich das Französische zur bevorzugten „Mittlersprache“ entwickelt hat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie wirkt sich die Praxis der Übersetzung aus zweiter Hand auf die Rezeption einzelner Werke und Autoren im Zielland der Übersetzung aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückübersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Selbstübersetzungen“ (autotraductions) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Status und Rolle der Übersetzer im Literaturbetrieb von der frühen Neuzeit bis heute Otium cum dignitate: Die Übersetzung als gelehrter Zeitvertreib . . . . . . . Die Entstehung des Übersetzerberufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriftsteller als Übersetzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Motive veranlassen Schriftsteller dazu, sich als Übersetzer zu versuchen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was unterscheidet übersetzende Schriftsteller von ‚gewöhnlichen‘ Übersetzern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muss man über schöpferische literarische Begabung verfügen, um große Literatur übersetzen zu können, oder verleitet nicht eben diese Begabung den übersetzenden Autor dazu, die ‚Grenzen der Übersetzung‘ zu überschreiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aufstieg der ‚niedrigen Register‘ in die ‚Schöne Literatur‘ in den europäischen Sprachen und die Folgen dieser Entwicklung für die Übersetzung und die Lexikographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . England und Frankreich als ‚Vorreiter‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutschland und Italien als ‚Nachzügler‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Berücksichtigung des Faktors „Übersetzung“ in der Sprach- und Literaturgeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzung und Sprachgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzung und Literaturgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung des Übersetzungs- und Übersetzerrechts und deren Folgen für den Übersetzungsbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Berner Übereinkunft von 1886 bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzungs- und Übersetzerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schutzwürdigkeit von Übersetzungen aus juristischer Sicht . . . . . . . Nachwort und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Inhalt <?page no="11"?> 18 479 18.1 479 18.1.1 479 18.1.2 479 18.1.3 479 18.1.4 482 18.1.5 486 18.1.6 490 18.2 491 18.2.1 491 18.2.2 513 539 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundbibliographie zur Übersetungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine bibliographische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthologien zur Geschichte der Übersetzung und der Übersetzungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Übersetzungsgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Länderspezifische Übersetzungsgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partielle Übersetzungsgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzungsbibliographien und -anthologien . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Inhalt <?page no="13"?> Vorwort Das vorliegende Buch ist in jahrelanger Zusammenarbeit entstanden. Aus dem Literatur‐ verzeichnis geht hervor, dass es nicht die erste Gemeinschaftsarbeit der beiden Autoren ist. Für den älteren von ihnen ist es eine Art von Summa, die viele früher behandelten Gegen‐ stände noch einmal aufgreift und in einen neuen Kontext stellt. So erklärt sich die große Zahl der zitierten eigenen Arbeiten. Wo auf Älteres zurückgegriffen wurde, soll dies auch klar erkennbar sein. Ein Vorwort informiert nicht über den Inhalt eines Buchs. Dazu ist die Einführung da. So wollen wir hier nur auf eine ganz allgemeine Frage eingehen. Warum wurden hier unter den deutschsprachigen Autoren - die Frage ließe sich auch für die übrigen Sprachräume stellen - Thomas Murner und Wilhelm Raabe behandelt, nicht jedoch Franz Kafka oder Robert Musil? Nun, eine Übersetzungsgeschichte wird unter Umständen einem poeta minor größere Aufmerksamkeit schenken als einem Angehörigen des literarischen Pantheons, wenn die Rezeptionsgeschichte seiner Werke aus übersetzungsgeschichtlicher Sicht be‐ sonderes Interesse verdient. Nur so viel zum Inhalt. Hier soll vor allem denen gedankt werden, ohne deren Hilfe dieses Buch nicht hätte entstehen können. Irene Kunert hat die bibelgeschichtlichen Kapitel kri‐ tisch gegengelesen und die erste Fassung des Skripts angefertigt. Stefan Schneider hat ge‐ duldig Auskünfte zum Russischen erteilt und russische Originalzitate geliefert. Valeska Lembke hat als Verlagslektorin die Entstehung des Werks mit außergewöhnlicher Gründ‐ lichkeit und großem Sachverstand kritisch, aber erfreulicherweise doch wohlwollend be‐ gleitet. Und - last but not least - hat der Verleger Gunter Narr auch dann noch an dem Projekt festgehalten, als erkennbar wurde, dass der ursprünglich geplante Umfang deutlich überschritten werden würde. Heidelberg, im Juli 2018 Jörn Albrecht, Iris Plack <?page no="15"?> Vorbemerkungen Europäische Übersetzungsgeschichte - ein vielversprechender, möglicherweise zu viel ver‐ sprechender Titel. Zutreffender wäre wohl eine Formulierung wie „Einige ausgewählte Fakten und systematische Aspekte der Übersetzungstätigkeit in Europa von der Antike bis heute“ gewesen. Ist so etwas als Buchtitel denkbar? Selbst wenn es dem Verlag gelänge, ein solches Monstrum graphisch ansprechend auf dem Umschlag unterzubringen - wer wollte ein Buch mit einem so abschreckenden Titel überhaupt aufschlagen, geschweige denn lesen? So soll denn der Leser, wie so häufig, nicht durch den Titel, sondern aus den Vorbe‐ merkungen erfahren, was ihn erwartet. Der vorliegende Band möchte eine Art von Panorama der europäischen Übersetzungs‐ geschichte bieten. Dass es sich dabei um eine Auswahl aus der unübersehbaren Menge von mitteilenswerten Fakten handelt, geht hoffentlich aus dem Inhaltsverzeichnis hervor. Es wäre vermessen, Repräsentativität oder gar Vollständigkeit anzustreben. Es gibt inzwischen eine größere Anzahl von Übersetzungsgeschichten und Übersetzungsbibliographien, von denen die wichtigsten dem Literaturverzeichnis vorangestellt werden. Wer über etwas in diesem Band nur Angedeutetes genauer Bescheid wissen will, wird dort in vielen Fällen fündig werden. Im historischen Teil spielt (von wenigen Teilkapiteln abgesehen) das Deut‐ sche als Zielsprache eine möglicherweise überprivilegierte Rolle. Daneben werden jedoch auch Übersetzungen aus dem Deutschen in andere Sprachen und solche zwischen anderen Sprachen berücksichtigt werden (cf. infra Kap. 9). Alexander Fraser Tytlers Übersetzung von Schillers Räubern, John (Giovanni) Florios Übersetzung der Essais von Montaigne ins Englische oder die verschiedenen französischen Übersetzungen des Don Quijote müssen natürlich behandelt werden. In der langen Reihe von Übersetzungen der Werke Shakes‐ peares ins Französische spiegelt sich in nuce der Wandel der Übersetzungskonzeptionen vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Neben der sog. „schönen Literatur“ sollen auch religiöse, philosophische und fachliche Texte in den Blick genommen werden. Darüber hinaus wollen wir aufzeigen, welchen Einfluss bedeutende Übersetzerpersönlichkeiten auf die Art und Weise des Übersetzens in verschiedenen historischen Epochen ausgeübt haben. Trotz der bereits im Titel angekündigten Bemühung um Beschränkung, musste das neunte Kapitel „Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur“ unverhältnismäßig umfangreich ausfallen. Einige Teilkapitel übertreffen an Umfang sogar die meisten Haupt‐ kapitel. Dieses Kapitel bildet im Hinblick auf die mitgeteilten historischen Fakten so etwas wie den ‚harten Kern‘ des gesamten Buchs. Nicht selten wird ein Passus aus einem literarischen Werk zusammen mit seiner Über‐ setzung in verschiedene Sprachen (oft auch mit mehreren Übersetzungen in dieselbe Sprache) angeführt. Das erinnert ein wenig an die Arbeiten zum multilateralen Sprachver‐ gleich Mario Wandruszkas (vgl. z. B. Wandruszka 1969). Der Zweck, der mit diesen Bei‐ spielen verfolgt wird, ist jedoch ein anderer. Es geht nicht um Sprachvergleich, sondern um Übersetzungsforschung. Im Übrigen eignen sich diese Beispiele nicht für einen strengen <?page no="16"?> philologischen Verleich; denn es war uns öfter nicht möglich zu entscheiden, ob der jewei‐ lige Übersetzer genau die Textvorlage vor Augen hatte, die wir zitieren. Im systematischen Teil des Bandes werden vorzugsweise Aspekte behandelt, die der Geschichte des Übersetzungswesens oder, salopper, des allgemeinen Übersetzungsbetriebs zuzurechnen sind. In der spezifischen Auswahl der mitgeteilten historischen Fakten (z. B. in einer starken Betonung der sprachgeschichtlichen Begleitumstände vornehmlich der frühen Übersetzungstätigkeit) sowie in der Behandlung der systematischen Aspekte im zweiten Teil, die in den meisten Übersetzungsgeschichten nur nebenbei erwähnt werden, liegt die Originalität, die die Autoren für sich beanspruchen. Das Buch wendet sich an ein breiteres Publikum mit philologischen und kulturge‐ schichtlichen Interessen, nicht nur an Translatologen. Fremdsprachige Zitate - mit Aus‐ nahme der englischen - erscheinen in deutscher Übersetzung oder, wenn sie sprachlich nicht besonders anspruchsvoll sind, im Original mit anschließender Paraphrase. Wo es an‐ gezeigt erscheint, wird die originale Fassung in den Fußnoten aufgeführt. So viel Pedanterie muss sein. Die von verschiedener Seite gebetsmühlenartig vorgetragene Behauptung, Fuß‐ noten störten den „Lesefluss“, mag für Trivialliteratur ihre Berechtigung haben, nicht je‐ doch für wissenschaftliche Literatur und auch nicht für Publikationen, die aufgrund des weitgehenden Verzichts auf hermetischen Fachjargon von einigen Fachkollegen gern als ‚populärwissenschaftlich‘ eingestuft werden. Wer es ‚so genau gar nicht wissen will‘, kann über Fußnoten mühelos hinweggehen. Das gilt auch für die zusätzlichen Literaturangaben, die an Ort und Stelle zu einem sehr spezifischen Faktum angeführt werden. Sie erscheinen, im Gegensatz zu der nur in der üblichen Kurzform angegebenen Literatur, nicht im Lite‐ raturverzeichnis. 16 Vorbemerkungen <?page no="17"?> I. Historischer Teil <?page no="19"?> 1 Übersetzungsgeschichte: Fragestellungen, Methoden, Erkenntnisinteressen einer wenig bekannten Disziplin Die Übersetzung ist das, was man in der Gestaltpsychologie ein „Hintergrundphänomen“ nennt. Sie ist aus unserem täglichen Leben nicht wegzudenken, jedoch werden wir nur dann auf sie aufmerksam, wenn sie aus irgendwelchen Gründen nicht unseren Erwartungen entspricht. Vergleichbares gilt natürlich auch für das Dolmetschen. Dass sich Sprecher un‐ terschiedlicher Sprachen nur mit Hilfe von Dolmetschern verständigen können, gilt als so selbstverständlich, dass es als Faktum meist stillschweigend übergangen wird. So ist im 4. Gesang der Ilias von dem verwirrenden Sprachengemisch die Rede, das im Heer der Trojaner und ihrer Bundesgenossen herrschte: Also erscholl das Geschrei im weiten Heere der Troer; Denn nicht gleich war alles Getön, noch einerlei Ausruf, Vielfach gemischt war die Sprach’ und mancherlei Stammes die Völker. (Ilias IV, 436 ff.) Wie sich die Krieger miteinander verständigt haben, erfahren wir nicht. Einigen Lesern mag aufgefallen sein, dass der zitierte Passus in der berühmten Übersetzung von Johann Hinrich Voß (1751-1826) nicht sehr ‚deutsch‘ anmutet. Das dürften schon die zeitgenössi‐ schen Leser der Übersetzung so empfunden haben. Die Voß’sche Übersetzung ist ein be‐ sonders eindrucksvolles Zeugnis für jene ‚Wende‘ der europäischen Übersetzungsge‐ schichte, von der im 8. Kapitel die Rede sein wird. Übersetzungsgeschichte besteht, wie wir gleich noch genauer sehen werden, nicht nur darin, darüber zu berichten, was übersetzt wurde, sondern auch darin, zu beschreiben, wie übersetzt wurde. Angesichts der geringen Beachtung, die man dem Phänomen der Sprachmittlung, dem Dolmetschen und dem Übersetzen, schenkte, nimmt es nicht weiter wunder, dass die Über‐ setzungsgeschichte - wie übrigens die gesamte sog. „Übersetzungswissenschaft“ - eine relativ junge Disziplin ist. Die Übersetzungsgeschichte hat bis heute keinen festen Platz im universitären Curriculum und spielt auch in den universitären Übersetzer- und Dolmet‐ scherinstituten eine kümmerliche Rolle. Aber auch junge Disziplinen haben verhältnis‐ mäßig frühe Vorstufen. In Frankreich hat die Übersetzungsgeschichte eine gewisse Tradi‐ tion. Man darf nicht vergessen - darauf wird im 7. Kapitel zurückzukommen sein -, dass im 17. Jahrhundert die Übersetzung klassischer Autoren zu den vornehmsten Aufgaben der Mitglieder der Académie Française gehörte. Und bereits im Jahr 1741 hat der Abbé Lebeuf, Mitglied der Académie Royale des Inscriptions et Belles-Lettres (der sog. „Petite Académie“), ein Memorandum über die ältesten Übersetzungen ins Französische vorgelegt (Lebeuf 1741), in dem er u. a. eine Technik des Spontanübersetzens schildert, das in der jüdischen und in der arabischen Welt z.T. noch heute üblich ist: die unmittelbare Transposition eines in der hochsprachlichen Version des jeweiligen Kulturraums redigierten Textes (im früh‐ mittelalterlichen Frankreich das Lateinische) in die jeweilige volkstümliche Varietät durch den Priester. <?page no="20"?> Aber nun zurück zur Übersetzungsgeschichte als einer bereits existierenden, aber noch nicht fest etablierten Disziplin. Wir wollen hier drei Fragen an die Disziplin „Überset‐ zungsgeschichte“ richten; drei klassische Fragen, die sich im Grunde in Bezug auf jede Forschungsrichtung stellen lassen: 1. Die Frage nach dem Gegenstand der Disziplin 2. Die Frage nach ihren Forschungsmethoden 3. Die Frage nach dem Erkenntnisinteresse, m. a. W. die Frage nach Sinn und Zweck des Ganzen 1.1 Der Gegenstand der Übersetzungsgeschichte Die erste der drei Fragen ist vielleicht am leichtesten zu beantworten. Die Aufgabe der Übersetzungsgeschichte besteht in der Identifizierung, Sichtung, Beschreibung und Unter‐ suchung vorhandener Übersetzungen. Von all diesen Aufgaben ist die erste, die Identifizie‐ rung, die schwerste. Zunächst einmal stellt sich die rein bibliographische Frage: Wo findet man Angaben über wichtige Übersetzungen? In den einschlägigen Übersetzungsbibliogra‐ phien, von denen einige im Literaturverzeichnis aufgeführt sind. Diese Repertorien sind allerdings für weit zurückliegende Zeiträume notgedrungen ziemlich lückenhaft. Darüber hinaus setzt die Identifizierung von Übersetzungen voraus, dass man schon weiß, was man unter einer Übersetzung zu verstehen hat. Nicht alle Texte, die sich selbst als Übersetzungen ausgeben, sind tatsächlich welche. So müssten wir den größten Teil des Don Quijote für eine Übersetzung halten, wenn wir der witzigen Behauptung Cervantes’ Glauben schenken würden, er habe sich den größten Teil des Romans für das Honorar von dreiundzwanzig Kilo Korinthen und zwei Scheffel Weizen von einem morisco aus dem Arabischen über‐ setzen lassen. Es gibt viele Fälle, in denen eine burleske Mystifikation dieser Art nicht so leicht zu erkennen ist. Ein Autor, der etwas Bedenkliches mitzuteilen hat, versteckt sich öfter hinter der Behauptung, er habe lediglich eine Übersetzung vorgelegt, für den mitgeteilten Inhalt sei er nicht verantwortlich zu machen. Nicht selten wurden auch Originale von ihren Au‐ toren zur Aufrechterhaltung oder zur Erzeugung der verschiedenartigsten Fiktionen als Übersetzungen ausgegeben. Wohl eines der berühmtesten Beispiele ist James Macphersons angeblich aus dem Gälischen übersetztes Epos The Works of Ossian, The Son of Fingal (1765). Durch die Berufung auf einen archaisch anmutenden schottischen Text aus dem 3. Jahr‐ hundert als fiktive Quelle gelang es dem Autor, einer neuartigen, in ihrer Ursprünglichkeit an Homer gemahnenden Form der Dichtung einen Platz im Literaturkanon seiner Zeit zu sichern. Nicht von ungefähr sollte das Werk in Deutschland über Herder und Goethe zur Entstehung der Sturm und Drang-Bewegung beitragen (vgl. Rambelli 2009, 211). Selbst die Tatsache, dass es in der Folge als Fälschung angesehen wurde, tat seiner Beliebtheit keinen Abbruch (vgl. Stierstorfer 2009). Auch heute noch geben angesehene Verlage Originalwerke als Übersetzungen aus, um das Interesse gewisser Leserkreise zu wecken und dadurch den 20 1 Übersetzungsgeschichte: Fragestellungen, Methoden, Erkenntnisinteressen <?page no="21"?> 1 Vgl. Elmar Krekeler: „Warum immer mehr Verlage ihre Autoren erfinden“, Die Welt, 15.08. 2012. 2 Beata Spieralska: „Entre latin et ancien français: deux versions des sermons de Maurice de Sully“. In: Traduire de vernaculaire en Latin au Moyen Âge et à la Renaissance. Études réunies par Françoise Fery-Hue, Paris, École des Chartes 2013, 21-36. Verkauf zu fördern. 1 Wenn zwei verschiedensprachige Texte desselben Autors vorliegen, ist es oft schwer zu entscheiden, welche Fassung als das Original und welche als Überset‐ zung anzusehen ist, so z. B. im Falle der sermons des Pariser Bischofs Maurice de Sully. 2 Andererseits gibt es natürlich auch viele angebliche Originaltexte, die sich bei genauerem Hinsehen als Bearbeitungen oder Übersetzungen erweisen. Ein bekanntes Kirchenlied von Paul Gerhard: O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, O Haupt zum Spott gebunden, mit einer Dornenkron … erweist sich bei genauerem Hinsehen als Nachdichtung einer zu Beginn des 13. Jahrhun‐ derts entstandenen Sequenz des Arnulf von Löwen: Salve, caput cruentatum, Totum spinis coronatum, Conquassatum, vulneratum … Für einige mittelalterliche höfische Romane von Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach werden die Werke von Chrétien de Troyes meist nur als „Quellen“ angegeben. Eine genauere Untersuchung zeigt, dass es sich zumindest stellenweise um ziemlich wört‐ liche Übersetzungen handelt (vgl. Huby 1968). Abgesehen von den bereits erwähnten Übersetzungsbibliographien geben sowohl die Sprachgeschichten als auch die Literaturgeschichten über Übersetzungen Auskunft - aus ganz unterschiedlichen Gründen, wie wir im 16. Kapitel sehen werden. 1.2 Die Forschungsmethoden der Übersetzungsgeschichte Die Übersetzungsgeschichte stellt das wichtigste Bindeglied zwischen Literatur- und Sprachgeschichte dar. Ein guter Übersetzungshistoriker muss sich sowohl im Bereich der Sprachals auch in dem der Literaturwissenschaft einigermaßen auskennen. Er kann also dazu beitragen, dass sich die beiden Teildisziplinen der Einzelphilologien, die sich in den letzten fünfzig Jahren sehr weit auseinanderentwickelt haben, wenigstens wieder ein wenig aufeinander zubewegen. Es soll hier - ähnlich wie vom Sonderforschungsbereich „Literarische Übersetzung“ der Universität Göttingen angeregt - zwischen „äußerer“ und „innerer“ Übersetzungsge‐ schichte unterschieden werden (vgl. Frank/ Kittel 2004, 39-42). Die zuerst genannte betrifft das „Was“, die zuletzt genannte das „Wie“ der dokumentierten Übersetzungstätigkeit. 21 1.2 Die Forschungsmethoden der Übersetzungsgeschichte <?page no="22"?> 3 Isabelle Genet: Honoré Balzacs Roman Eugénie Grandet in italienischen Übersetzungen, Heidelberg 1994 (unveröffentlicht). 4 Sabine Hainski: Victor Hugo: Notre Dame de Paris. Die Rezeption des Romans im Spiegel der Überset‐ zungen. Heidelberg 2011 (unveröffentlicht). 1.2.1 Die Forschungsmethoden der äußeren Übersetzungsgeschichte Aufgabe der äußeren Übersetzungsgeschichte ist es, die historischen Fakten zu sichern. Was wurde wann, von wem und wo übersetzt? Wer war der Auftraggeber der Übersetzung? Wie oft wurde ein bestimmtes Werk übersetzt? Kannte der spätere Übersetzer die Arbeiten seiner Vorgänger? Wenn ja, hat er sich von ihnen inspirieren lassen? Nennt er seinen Vor‐ gänger, oder schreibt er einfach ab, ohne ihn zu nennen? Burkhart Kroeber, einer der deutschen Übersetzer Umberto Ecos, dokumentiert in einem Bericht über seine Neuübersetzung von Manzonis Promessi sposi gewissenhaft, was er bei der Lektüre von Vorgängerübersetzungen in verschiedene Sprachen gelernt und was er hin und wieder daraus übernommen hat (Kroeber 2001). Dergleichen ist keineswegs die Regel. Grazia Deledda, Nobelpreisträgerin für Literatur, hat eine Übersetzung der Eugénie Grandet von Balzac angefertigt, die weithin Anerkennung gefunden hat. Eine genauere Untersu‐ chung dieser Übersetzung ergab, dass sie nur die ersten siebzehn Seiten wirklich neu über‐ setzt hat. Für den Rest hat sie auf eine fünfundzwanzig Jahre ältere Übersetzung zurück‐ gegriffen, die keine Beachtung gefunden hatte. Immerhin hat sie an wenigen Stellen eine Kleinigkeit geändert. 3 Von den einundzwanzig deutschen Übersetzungen des Romans Notre-Dame de Paris von Victor Hugo, die im Rahmen einer Masterarbeit ermittelt und untersucht wurden, sind acht mehr oder weniger reine Plagiate, die dessen ungeachtet einen Verleger gefunden haben. 4 Das Verhältnis zwischen Original und Übersetzung kann sich nicht nur im Rahmen der inneren, sondern schon im Rahmen der äußeren Übersetzungsgeschichte als problematisch erweisen: Ist das Original, das einer Übersetzung zugrunde zu liegen scheint, wirklich die Vorlage, die der Übersetzer vor Augen hatte? Man trifft in der einschlägigen Literatur oft auf subtile Spekulationen über festzustellende ‚Abweichungen‘ vom Original und ‚Frei‐ heiten‘, die sich der Übersetzer genommen habe. Irgendwann stellt sich dann heraus, dass dem Übersetzer eine andere Version des Originalwerks vorgelegen hat als dem Kritiker. So geht Goethes Übertragung von Diderots Neveu de Rameau mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf die heute als „Original“ angenommene Fassung der Satire zurück. Dazu sind eine Reihe von gelehrten Hypothesen aufgestellt worden. Ein Blick in die vor einiger Zeit bei Insel erschienene zweisprachige Ausgabe genügt, um diese Hypothesen zu stützen (Diderot 1984). Goethe zeigt sich in den zahlreichen Übersetzungen, die er im Lauf seines Lebens angefertigt hat, als ziemlich vorsichtiger, sich eng an die Vorlage haltender Übersetzer. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass er sich die ‚Freiheiten‘ im Umgang mit seiner Vorlage herausgenommen hätte, die die genannte zweisprachige Ausgabe zu dokumentieren scheint (vgl. Albrecht 1998, 188 ff.). Wie schon oben bemerkt, gilt es nicht nur, vermeintliche Originale als Übersetzungen - und somit in gewisser Hinsicht als Plagiate - zu enttarnen. Sehr häufig ist das Gegenteil der Fall, angebliche Übersetzungen erweisen sich als Originale. Viele altfranzösische Texte beginnen mit der Versicherung, der Autor habe den Text aus dem Lateinischen, aus dem 22 1 Übersetzungsgeschichte: Fragestellungen, Methoden, Erkenntnisinteressen <?page no="23"?> Keltischen oder aus einer anderen Sprache übersetzt (vgl. Baehr 1981). Davon kann natür‐ lich keine Rede sein. Der Autor hat das angebliche Original allenfalls als Quelle benutzt. Die Autoren des Hochmittelalters waren der Fiktion der Authentizität in hohem Maße ver‐ pflichtet. Man wollte nur ja nicht ‚schöpferisch‘ sein, und schon gar nicht wollte man sich nachsagen lassen, man habe etwas frei erfunden. Wer seiner Einbildungskraft allzu freien Lauf ließ, wie Wolfram von Eschenbach, der Dichter des Parzival, musste sich wegen seines lockeren Umgangs mit der Authentizitätsfiktion herbe Kritik gefallen lassen. In seinem berühmten, in den Tristan eingeschobenen literaturkritischen Exkurs bezeichnet Gottfried von Straßburg seinen Kollegen, ohne ihn namentlich zu nennen, als vindaere wilder maere, „Erfinder unglaubwürdiger Geschichten“ (Vers 4650). Gegen einen solchen Vorwurf musste man sich damals zur Wehr setzen. Und so wurde die Übersetzung oft zu einer Schutzbehauptung, hinter der sich die eigene freie Schöpfung verbergen ließ. Man brauchte sich nur als Übersetzer einer ebenfalls erfundenen Quelle auszugeben, um behaupten zu können, man habe nichts erfunden, sich vielmehr streng an eine anderssprachige Vorlage gehalten, die die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit enthalte. 1.2.2 Die Forschungsmethoden der inneren Übersetzungsgeschichte Die innere Übersetzungsgeschichte beginnt dort, wo die äußere aufhört. Wenn die Über‐ setzungen in dem Bereich, in dem man arbeitet, erst einmal vollständig erfasst und hin‐ sichtlich ihres Status überprüft sind, müssen sie im Hinblick auf ihre Beschaffenheit kritisch untersucht werden. „Kritisch untersuchen“ heißt nicht kritisieren im herkömmlichen Sinn. Es geht nicht darum, die Übersetzungen anhand einer abstrakten Norm zu beurteilen, es geht darum herauszufinden, welches die Norm gewesen sein könnte, an die sich der Über‐ setzer tatsächlich gehalten hat. In diesem Zusammenhang scheint ein kleiner Exkurs angebracht: In der gegenwärtigen Übersetzungswissenschaft gibt es zwei Richtungen, die prospektiv-präskriptiv und die retrospektiv-deskriptiv ausgerichtete. Bei der ersten geht es darum, Anhaltspunkte dafür zu erarbeiten, wie die Übersetzung eines gegebenen Textes unter vorher genauer zu defi‐ nierenden Umständen aussehen sollte oder könnte. Die zweite befasst sich mit bereits vor‐ handenen, mitunter recht alten Übersetzungen, um sie kritisch zu analysieren und gege‐ benenfalls herauszufinden, warum sie so und nicht anders ausgefallen sind. Die Vertreter der beiden Richtungen polemisieren gelegentlich gegeneinander, ohne zu bemerken, dass sie sich in ihrer Arbeit so gut wie nie in die Quere kommen. Die Übersetzungsgeschichte gehört zur retrospektiv-deskriptiven Richtung und tut gut daran, den Vertretern der prospektiv-präskriptiven Orientierung keine ungebetenen Ratschläge zu erteilen. Aller‐ dings wird mancher Übersetzungshistoriker sich angesichts scheinbar revolutionärer Ent‐ würfe seiner prospektiv-präskriptiv eingestellten Kollegen nicht eines ironischen Kom‐ mentars enthalten können: „Alles schon einmal dagewesen“. Wie geht man nun im Einzelnen vor, wenn man als Vertreter der retrospektiv-deskrip‐ tiven Richtung einen Beitrag zur inneren Übersetzungsgeschichte leisten möchte? Ganz ohne Systematik geht es nicht; impressionistisch-essayistische Vorgehensweisen sind in der Wissenschaft nun einmal wenig hilfreich, wenn man ihnen auch deshalb nicht jeden Wert absprechen darf. Am besten konstruiert man sich eine Art von Untersuchungsraster: 23 1.2 Die Forschungsmethoden der Übersetzungsgeschichte <?page no="24"?> - Inwieweit wurde die Makrostruktur des Originals erhalten oder modifiziert? - Wie wurde mit den sog. „Realien“ umgegangen, d. h. mit Gegenständen und Sach‐ verhalten, die den Lesern des Zieltexts weniger vertraut sind als denen des Aus‐ gangstexts? Wurden sie den präsumtiven Kenntnissen des Lesers der Übersetzung angeglichen („eingebürgert“) oder wurden sie bewusst als ‚fremde‘ Elemente stehen gelassen? - Wie wurden die Eigennamen behandelt? - Wie eng folgt der Übersetzer dem Text in rein sprachlicher Hinsicht? - Hält er sich so eng an ihn, dass die Regeln der Zielsprache verletzt werden? → Interlinearversion; - Übersetzt er sprachlich korrekt, bleibt jedoch so eng am Text, dass das fremde Muster durchscheint? → philologisch-dokumentarische Übersetzung; - Löst er sich häufig stärker von seiner Vorlage, als es Grammatik und Lexik der Ziel‐ sprache erfordern würden, hält sich jedoch im Großen und Ganzen genau an den Inhalt des Textes? → idiomatische Übersetzung oder „verdeckte“ Übersetzung (d. h. Übersetzung, die als Original gelten will; die Vertreter der prospektiv-präskriptiven Richtung sprechen hier gern von „professioneller“ Übersetzung); - Weicht der Übersetzer oft in stärkerem Umfang von seiner Vorlage ab, ohne dass erkennbar würde, dass er dies nur tut, um seinem Leser das Verständnis der Vorlage zu erleichtern? Nimmt er erkennbar eigenmächtige Zutaten oder Weglassungen vor? → Bearbeitung. Es gibt keine festen Grenzen zwischen diesen Typen. Alle sind aus übersetzungshistorischer Sicht gerechtfertigt. Es wäre im präzisen Sinn des Wortes „unhistorisch“, wollte man kri‐ tisieren, dass Jacques Amyot (1513-1593) in seiner berühmten Plutarch-Übersetzung die antiken Realien in vielen Fällen durch Ausdrücke wiedergegeben hat, die aus der Lebens‐ welt seiner französischen Zeitgenossen stammten. Man darf sich allenfalls darüber amü‐ sieren, dass man in einem römischen Tempel auf Nonnen statt auf Vestalinnen trifft. 1.3 Die Erkenntnisinteressen der Übersetzungsgeschichte Die Erkenntnisinteressen der Übersetzungsgeschichte lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: Die erste berührt literarische und übersetzungstheoretische Ziele und Zwecke, die zweite sprachgeschichtliche. 1.3.1 Literarische und translatologische Erkenntnisinteressen Hier geht es um eine ganze Reihe von eng miteinander verbundenen Fragen, von denen hier nur einige explizit gestellt werden können: „Was wurde wann, warum, wie übersetzt, und warum wurde es so übersetzt? “ (Kittel 1988, 160). Inwiefern lassen sich die „Überset‐ zungsströme“ als Indikatoren für die Kräfteverhältnisse zwischen einzelnen Sprachräumen auffassen? Welches Sprachgebiet hat zu welcher Zeit besonders viel zu bieten? (cf. infra, Kap. 11). Darüber hinaus geht es auch um die Frage, ob und inwiefern Übersetzungen das literarische und philosophische Klima der Zielkultur verändert haben. Dabei hat man sich 24 1 Übersetzungsgeschichte: Fragestellungen, Methoden, Erkenntnisinteressen <?page no="25"?> 5 La regla de oro para toda traducción es, a mi juicio, decir todo lo que dice el original, no decir nada que el original no diga, y decirlo todo con la corrección y naturalidad que permita la lengua a la que se traduce. (García Yebra 1984, I, 43). freilich mit dem berühmt-berüchtigten „Henne-Ei-Problem“ auseinanderzusetzen: War ein solcher geistesgeschichtlicher Wandel Anlass für die Entstehung von Übersetzungen, oder haben Übersetzungen einen solchen Wandel erst ausgelöst? 1.3.2 Sprachgeschichtliche Erkenntnisinteressen Für die moderne Übersetzungstheorie in ihren vielfältigen Ausprägungen stellt die Ziel‐ sprache eine nahezu unverrückbare, unwandelbare Größe dar. Darin sind sich die meisten modernen Übersetzungstheoretiker einig. Selbst ein sehr konservativer Gelehrter wie Va‐ lentín García Yebra, der nichts von einem allzu freien Umgang mit dem Ausgangstext hält, vertritt die Ansicht, dass die anzustrebende „Treue“ nicht zu Lasten der Akzeptabilität der zielsprachlichen Formulierungen gehen darf: Die goldene Regel einer jeden Übersetzung besteht m. E. darin, alles auszudrücken, was im Original enthalten ist, nichts vorzubringen, was nicht im Original steht und alles mit der sprachlichen Richtigkeit und Natürlichkeit zu formulieren, die die Zielsprache zulässt. 5 Es versteht sich nahezu von selbst, dass ein Vertreter der gemäßigt pragmatischen Über‐ setzungstheorie wie Peter Newmark noch entschiedener denselben Standpunkt vertritt: … for the vast majority of texts, you have to ensure: (a) that your translation makes sense; (b) that it reads naturally, that it is written in ordinary language, the common grammar, idioms and words that meet that kind of situation. (Newmark 1987, 24) Die Übersetzungsgeschichte zeigt, dass das nicht immer so gewesen ist. In der Frühzeit unserer europäischen Volkssprachen standen die Übersetzer nahezu hilflos dem erdrückenden Prestige des Lateinischen gegenüber. Wir werden uns damit vor allem im vierten Kapitel genauer beschäftigen. Hier, im ersten, allgemein einführenden Kapitel genügt es, darauf hinzuweisen, dass die Übersetzer vor allem in der Frühzeit des Übersetzens ihre eigene Sprache derjenigen des Originals angepasst haben. Es gibt also, vor allem in der frühen Entwicklungsphase der europäischen Volkssprachen, einen Einfluss der Überset‐ zungstätigkeit auf die Sprache. Ein solcher Einfluss besteht auch heute noch, wenn er auch aus anderen Gründen zustande kommt. Wer hundertmal in der Woche das Syntagma it makes no sense unter Zeitdruck übersetzen muss, schreibt eben es macht keinen Sinn, und wenn das viele tun, dann wird aus diesem Anglizismus irgendwann einmal ganz normales Deutsch. (Für das vorliegende Buch gilt dies noch nicht.) Die frühen Übersetzer verfuhren auf diese Weise nicht aus Gedankenlosigkeit und aus Zeitmangel, sondern mit Bedacht, da sie sich nicht anders zu helfen wussten. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, hat sich schon Cicero Gedanken darüber gemacht, mit Hilfe welcher Entlehnungstechniken man Bezeichnungslücken im Lateinischen füllen könnte. Im dritten Kapitel werden wir dann sehen, dass die romanischen Übersetzer bei der Auffüllung von Bezeichnungslücken ganz anders verfahren sind als die germanischen. 25 1.3 Die Erkenntnisinteressen der Übersetzungsgeschichte <?page no="26"?> Mit einem müssen sich Sprach- und Übersetzungshistoriker abfinden: Es lässt sich so gut wie nie im strengen Sinne beweisen, dass sprachliche Neuerungen auf dem Wege der Über‐ setzung ausgelöst wurden. Man kann nur Plausibilitätserwägungen anstellen, etwa der fol‐ genden Art: Woher sollen denn diese Latinismen im Französischen kommen, wenn nicht aus dieser berühmten Übersetzung, wo sie zum ersten Mal belegt sind? Werner Koller hat sich Gedanken darüber gemacht, mit welchen methodischen Schritten man bei der Be‐ weisführung vorzugehen hat. Später wurden Versuche unternommen, das Kollersche Schema noch etwas zu verfeinern (vgl. Koller 1984; 1998; Albrecht 1995, 30 f.). Weit wich‐ tiger ist eine andere Frage, mit deren Beantwortung dieses einführende theoretische Kapitel abgeschlossen werden soll: Welche Bereiche einer Sprache lassen sich überhaupt durch Übersetzungen beeinflussen und welche nicht? Wie immer man den Einfluss der Übersetzertätigkeit einschätzen mag, man wird nicht umhin können zuzugestehen, dass es sich dabei um eine Erscheinung handelt, die ihren Ursprung im Bereich der geschriebenen Sprache hat. Es gibt „Kernbereiche“ der Sprache, in denen die geschriebene Form nicht oder kaum auf die gesprochene zurückwirkt. Wir wollen sie „übersetzungsresistente“ Bereiche nennen. Darüber hinaus gibt es andere Be‐ reiche, die in stärkerem Maß durch schriftlich vorgegebene Modelle modifizierbar sind. Diese wollen wir „übersetzungsnachgiebige“ Bereiche nennen: - „übersetzungsresistente“ Bereiche das phonologische Inventar und die gesamte Prosodie die Morphologie (Formenlehre ohne Wortbildung) die Syntax des einfachen Satzes die Grundstrukturen des Wortschatzes - „übersetzungsnachgiebige“ Bereiche die phonologische Distribution („Phonotaktik“) die Wortbildung die komplexe Syntax sowie die Textsyntax, d. h. die satzübergreifenden Verfahren zur Herstellung von Kohäsion die sekundären Strukturen des Wortschatzes, d. h. die quasi-terminologischen Rand‐ bereiche und die usuelle Tropik die Phraseologie (cf. Albrecht 1995, 32) Über die „übersetzungsresistenten“ Bereiche soll hier nicht viel gesagt werden. Es ist kaum anzunehmen, dass durch Übersetzungen aus dem Französischen oder Russischen der stimmhafte palatale Reibelaut / ʒ/ sich fest im deutschen Phonemsystem etablieren wird oder dass der Unterschied im Englischen zwischen heaven und sky durch häufiges Über‐ setzen aus Sprachen, wo es ihn nicht gibt, vom Verschwinden bedroht ist. Die oben ange‐ deuteten, im Übersichtsschema nicht eigens aufgeführten Kollokationen gehören bereits zum „übersetzungsnachgiebigen“ Bereich. Aus In 2016 it makes no sense … wird leicht ein neudeutsches in 2016 macht es keinen Sinn. Was die oben angeführten „übersetzungsnach‐ giebigen“ oder „übersetzungsanfälligen“ Bereiche betrifft, so sollen an dieser Stelle jeweils nur wenige Beispiele zur Illustration angeführt werden, damit klar wird, worum es geht. Weiteres sprachliches Material wird in den folgenden Kapiteln geliefert: 26 1 Übersetzungsgeschichte: Fragestellungen, Methoden, Erkenntnisinteressen <?page no="27"?> - phonologische Distribution: scola → iskola → école; stella → istelle → étoile; spatha → ispada → épée etc. Die Nexus sk; st; sp am Wortanfang waren im frühen Westromanischen „nicht aus‐ sprechbar“ und erhielten einen „Vorschlagvokal“, der in den „Erbwörtern“ (cf. infra) des modernen Französischen meist als é erhalten ist. Durch die massenhafte Ent‐ lehnung von Latinismen nicht zuletzt durch die Übersetzer: scolaire, stellaire, spécial usw. werden diese Nexus zunächst in die Schriftsprache eingeführt und sind heute (im Gegensatz zum Spanischen) auch in den niedrigsten Registern des gesprochenen Französischen völlig üblich. Engl. especial (neben special) aus lat. species dokumen‐ tiert einen älteren französischen Lautstand. - Wortbildung: Kindergarten → jardin d’enfants; sky scraper → gratte ciel Wortbildungsverfahren werden selten durch schriftliche Sprachkontakte über‐ nommen, sehr wohl jedoch Wortbildungsprodukte. Sie werden, wie die angeführten Beispiele zeigen, mit Hilfe der in der ‚Nehmersprache‘ üblichen Verfahren nachge‐ bildet; das deutsche Kompositum durch ein französisches präpositionales Syntagma, das englische Kompositum durch einen unterschiedlichen Typ von Kompositum im Französischen. Verfügen zwei Sprachen über identische Verfahren, so können die Produkte mühelos entlehnt oder aber unabhängig voneinander spontan gebildet werden: Von wheelchair accessible washroom führt der Weg direkt zu rollstuhlzu‐ gängliche Toilette, in die eine oder die andere Richtung. Beide Mehrwortbenen‐ nungen könnten auch unabhängig voneinander gebildet worden sein. - komplexe Syntax: Ceterum censeo Carthaginem esse delendam/ England expects everybody to do his duty A peine arrivé à Heidelberg, il tomba sur des gens qu’il aurait voulu éviter. ? Kaum in Heidelberg angekommen, traf er auf Leute, denen er lieber aus dem Wege gegangen wäre. Der im ersten Beispiel wiedergegebene lateinische Satz, den Cato der Ältere anlässlich des dritten Punischen Kriegs geäußert haben soll, dient in vielen Schulgrammatiken als Mus‐ terbeispiel für eine typisch lateinische Konstruktion, den Accusativus cum Infinitivo (A.c.I.). In den europäischen Volkssprachen war diese Konstruktion nur in Verbindung mit Verben der Wahrnehmung üblich (Typ: ich sehe/ höre ihn kommen), dehnte sich dann jedoch vor allem durch die Übersetzungstätigkeit schnell auf andere, im Lateinischen übliche Fälle aus. Später wurde sie im Französischen und im Deutschen durch die Puristen zurückgedrängt. Nicht so im Englischen, das einer sehr viel stärkeren Latinisierung unterworfen war als die übrigen europäischen Sprachen. Der zweite englische Satz wird von Historikern Admiral Nelson in den Mund gelegt. In Wirklichkeit dürfte der alte Seebär bei der Schlacht von Trafalgar jedoch auf den eleganten A.c.I. verzichtet und gesagt haben: England expects that everybody will do his duty. Partizipialkonstruktionen wie im zweiten Beispiel waren im Lateinischen mit beiden Partizipien völlig üblich. Jede Schulgrammatik gibt darüber Auskunft. Es ist umstritten, ob sie in der Frühphase der romanischen Sprachen aufgrund mündlicher Tradition bereits 27 1.3 Die Erkenntnisinteressen der Übersetzungsgeschichte <?page no="28"?> geläufig waren oder nicht. Es lässt sich dagegen kaum bestreiten, dass diese Konstruktionen durch häufiges Übersetzen aus dem Lateinischen vollkommen eingebürgert worden sind. Auch im Deutschen ist die Konstruktion mit Partizip Perfekt sehr häufig anzutreffen. Sie wird allerdings bis heute von Puristen bekämpft. - usuelle Tropik: domus „Himmelsabschnitt“ im astrologischen Sinn → maison, Haus, casa, house Lexikalisierte Tropen (vor allem Metaphern, gelegentlich auch Metonymien) wurden in der Frühzeit der europäischen Volkssprachen durch die Übersetzer ein‐ fach schematisch nachgebildet. Für die lat. Metapher domus treten in allen Volks‐ sprachen die nächstliegenden Entsprechungen ein. Analog dazu wurde die englische Metapher mouse „Zusatzgerät zur Bedienung von Rechnern“ schematisch in viele anderen Sprachen übernommen, so z. B. dt. Maus. Genau so wird mit Metonymien wie la Casa d’Austria „Dynastie, Geschlecht“ verfahren: das Haus Österreich, la maison d’Autriche, the House of Austria usw. Dergleichen ist in neuerer Zeit nicht mehr üblich. Eine Schneedecke ist kein *blanket of snow, sondern ein carpet of snow und keine *couverture de neige, sondern eine couche de neige. - Phraseologie: ultimam manum imponere → letzte Hand anlegen faire la cour à qn.; jemandem den Hof machen; jemand het hof maken; fare la corte a qlcno.; hacer la corte a algien; fer la cort a alg. etc. In der Frühzeit der Übersetzungstätigkeit in Europa war es üblich, Redewendungen me‐ chanisch aus dem Lateinischen in die Volksprachen zu übertragen. Das galt eine Zeitlang auch noch für die „horizontale“ (cf. infra) Übersetzung zwischen den Volkssprachen; die Wendung jemandem den Hof machen, die sich in vielen europäischen Sprachen in genauer Nachbildung wiederfindet, stammt vermutlich aus dem Französischen. Heute ist ein derartiges Verfahren nur noch in Ausnahmefällen üblich. Ein Phraseologismus der Ausgangs‐ sprache wird in der Regel durch eine Wendung der Zielsprache wiedergegeben, oder er wird paraphrasiert: So wird man, wenn keine sehr spezifischen Umstände vorliegen, kick the bucket nicht mit *den Eimer umtreten, sondern durch ins Gras beißen oder den Löffel abgeben wiedergeben, und frz. cela ne fait pas un pli nicht durch *das bildet/ wirft keine Falte, sondern durch da gibt’s kein Problem, das ist todsicher. Auf einige der hier nur angedeuteten Aspekte wird im dritten Kapitel zurückzukommen sein. 28 1 Übersetzungsgeschichte: Fragestellungen, Methoden, Erkenntnisinteressen <?page no="29"?> 2 Übersetzen und Dolmetschen in der Antike 21 Sie sprachen aber untereinander: Das haben wir an unserm Bruder verschuldet! Denn wir sahen die Angst seiner Seele, als er uns anflehte, und wir wollten ihn nicht erhören; darum kommt nun diese Trübsal über uns. 22 Ruben antwortete ihnen und sprach: Sagte ich’s euch nicht, als ich sprach: „Versündigt euch nicht an dem Knaben, doch ihr wolltet nicht hören? Nun wird sein Blut gefordert.“ Sie wussten aber nicht, dass es Joseph verstand; denn er sprach durch einen Dolmet‐ scher. 24 Und er wandte sich von ihnen und weinte.“ (1. Mose 42, 22 ff., Luthertext 1964) Die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern ist zumindest in groben Zügen auch Lesern mit mäßigen Bibelkenntnissen vertraut: Joseph, der zweitjüngste Sohn und Liebling seines alternden Vaters, wurde von den älteren Brüdern gefangen genommen; sie wollten ihn aus Eifersucht umbringen. Ruben, der älteste, überredete seine Brüder dazu, von diesem Vor‐ haben abzulassen. Den verhassten Liebling des Vaters könne man auch loswerden, ohne sich eine Todsünde aufzubürden. Und so wurde er gegen Geld einer vorbeikommenden Karawane übergeben, die ihn in Ägypten weiterverkaufte. Joseph macht eine erstaunliche Karriere am Hof des Pharao und zeichnet sich durch beachtliche oneiromantische Fähig‐ keiten aus. Als der Pharao ihm von einem Traum erzählt, in dem sieben fette Kühe von sieben ihnen nachfolgenden mageren Kühen gefressen werden, deutet er diesen Traum sofort. Es konnte sich nur um sieben fette Jahre mit reicher Ernte handeln, denen sieben Hungerjahre mit Missernten folgen würden. Er ließ Getreidespeicher anlegen, in denen der Ernteüberschuss der guten Jahre gelagert werden konnte. Als nun die mageren Jahre an‐ gebrochen waren - es scheint sich um ein großräumiges klimatisches Phänomen gehandelt zu haben -, schickte Jakob, der Vater, der seinen einstigen Liebling längst verloren gegeben hatte, die übrigen Brüder nach Ägypten, um Getreide zu kaufen. Ein Teil der Unterredung wird im oben aufgeführten Bibelzitat wiedergegeben. In verschiedenen Bibelübersetzungen, die hier nicht eigens vorgestellt werden müssen, weil dies im sechsten Kapitel nachgeholt werden wird, erscheint an dieser Stelle ein Wort für „Dolmetscher“, das sich von den Benennungen eines Übersetzers unterscheidet: Die King James Version hat interpreter, die Bible de Jérusalem interprète, Buber und Rosenzweig ziehen, wie Thomas Mann, die ältere Wortform Dolmetsch vor. Im Übrigen schenkt der Autor von Joseph und seine Brüder der Tätigkeit des Dolmetschens weit mehr Aufmerk‐ samkeit, als dies im nüchternen biblischen Bericht der Fall ist. So gibt bei ihm ein Dolmetsch eine Rede „rasch und geschäftsmäßig eintönig“ wieder (p. 1162), und an einer anderen Stelle „echot“ er das Gesagte „rappelnd und ohne Betonung auf kanaanäisch“ (ibid., 1163). Be‐ sonders wichtig im Zusammenhang mit der Geschichte des Dolmetschens ist das Motiv, das einen hohen Beamten dazu veranlasst, sich eines Dolmetschers auch dann zu bedienen, wenn er die Gegenpartei mühelos versteht. In der Bibel geht es vorrangig darum, dass Joseph sich gegenüber seinen Brüdern nicht zu erkennen geben will. Bei Thomas Mann erscheint ein anderer Grund, der in der Diplomatie eine große Rolle spielt. Ein offizieller Vertreter eines angesehenen Staats lässt sich nicht in einer Fremdsprache anreden, schon <?page no="30"?> 1 Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Frankfurt am Main, 2007: S. Fischer, Sechstes Hauptstück: Das Verhör. 2 Claudia Wiotte-Franz et al.: Hermeneus und Interpres. Zum Dolmetschwesen in der Antike. Saarbrücken 1997. gar nicht, wenn es sich um das weithin unbekannte Idiom eines Nomadenstammes handelt. „Übellaunig“ fährt Joseph in Thomas Manns Roman fort: Daß ihr die Sprache der Menschen nicht redet, ist dabei der Schwierigkeiten geringste. Ich bedaure euch übrigens, wenn ihr erwartet, daß ihr mit Pharaos oberstem Mund in eurem Kauderwelsch würdet verkehren können. Ein Mann wie ich spricht Babels Sprache, er spricht auch chetisch, zum Chabirischen aber und dergleichen Aulasaukaula läßt er sich schwerlich herbei … Pause und Übersetzung (ibid., 1164). 1 Thomas Mann hat für diesen monumentalen Roman fast wie ein Journalist zu den ver‐ schiedensten Gebieten gründlich recherchiert, höchstwahrscheinlich auch zur Geschichte des Dolmetschens. Es ist bekannt, dass Gesandte, die im römischen Senat auf Griechisch vortrugen, gedolmetscht werden mussten - aus Gründen des politischen Prestiges. Für die Dolmetscher war dies eine peinliche Aufgabe; denn die meisten Senatoren konnten besser Griechisch als sie und mokierten sich über die häufig auftretenden Fehlleistungen. Wahr‐ scheinlich liegt hier einer der Gründe für Ciceros verächtliche Beurteilung von Dolmet‐ schern und Übersetzern; er spricht immer einmal wieder von interpretes indiserti, sprachlich unbeholfenen Dolmetschern. Das Dolmetschen ist viel älter als das Übersetzen, und die Geschichte des Dolmetschens ist weniger bekannt als die des Übersetzens. Verba volant, scripta manent, sagt ein römisches Sprichwort. Das gilt auch für die strenge Schriftkritik, die Platon in seinem Dialog Phaidros seinem Lehrer Sokrates in den Mund gelegt hat. Hätte er das nicht aufgeschrieben, so hätten wir heute keine Kenntnis von seinen Bedenken gegenüber der Einführung der Schrift bei der Weitergabe von Wissen. Wie dem auch sei, die Geschichte des Dolmetschens ist nicht Gegenstand dieses Buchs; daher mag ein knapper bibliographischer Hinweis genügen. 2 Das Dolmetschen im Altertum soll hier nur als Kontrastfolie zur Frühgeschichte des Übersetzens herangezogen werden. Übersetzt werden konnte nur in „Schriftkulturen“, d. h. in Gesellschaften, in denen zumindest die intellektuelle Elite mit der Technik des Schreibens und Lesens hinreichend vertraut war. Mit der Einführung der Schrift änderte sich das Verhältnis der Sprecher zu ihrer Sprache, wie Walter J. Ong in seinem Buch über Mündlichkeit und Schriftlichkeit eindrucksvoll gezeigt hat: Though words are grounded in oral speech, writing tyrannically locks them into a visual field forever. A literate person, asked to think of the word ‘nevertheless’, will normally (and I strongly suspect always) have some image, at least vague, of the spelled-out word and be quite unable ever to think of the word ‘nevertheless’ for, let us say, 60 seconds without adverting to any lettering but only to the sound. This is to say, a literate person cannot fully recover a sense of what the word is to purely oral people. (Ong 1982, 12) Bei stark flektierenden Sprachen wie Altgriechisch und Latein kam noch eine weitere Schwierigkeit hinzu. „Wörter“ traten immer in enger Verbindung mit syntaktischen Be‐ stimmungen auf, selten als deutlich isolierte Repräsentanten einer lexikalischen Bedeutung. 30 2 Übersetzen und Dolmetschen in der Antike <?page no="31"?> Nicht umsonst wurden Texte in der Antike zusammenhängend, ohne Wortabstände ge‐ schrieben. Hier nur ein kleines Beispiel zur Illustration: Was heißt feminum? In einer rein oralen Kultur wäre eine solche Frage sinnlos erschienen, sie hätte sofort die Frage „In wel‐ chem Zusammenhang? “ nach sich gezogen. Ein Lateinschüler lernt heute, eine solche Form zu „lemmatisieren“, d. h. sie auf eine „Grundform“ zurückzuführen, die man im Wörterbuch nachschlagen kann. Mit einiger Mühe wird er erkennen, dass diese Form nichts mit femina zu tun haben kann und wird sie dann schließlich als Genitiv Plural von femen „Ober‐ schenkel“ (eine Nebenform von femur) bestimmen. Mit dem Auftreten von Glossaren und Lexika gewinnt das „Wort“ an Autonomie im Bewusstsein der Sprecher. Zufriedenstellend definieren lässt sich der Begriff des Wortes allerdings bis heute nicht. Die Einführung der Schrift war so etwas wie ein Kulturschock, und erst dort, wo sie vollzogen wurde, trat plötzlich ein Phänomen auf, das wir heute mit dem vieldeutigen Ausdruck „wörtliches Übersetzen“ benennen. In der Frühzeit der Schriftlichkeit taten die Dolmetscher weiterhin das, was sie schon immer getan hatten: Sie versuchten, den globalen Sinn einer Aussage, so wie sie ihn verstanden hatten, in einer anderen Sprache wiederzu‐ geben, und hielten sich nicht an den „Wortlaut“: Am Anfang des Dolmetschens stand die Hilfe, jemandem in gegebener Situation einen Sinn in einer Aussage zu erklären, damit die Kommunikation, oder Interaktion, weitergehen könne […] Anders als der Übersetzer erhielt der ‚Diplomat‘, der Königsbote, der an einen fremden Hof ge‐ schickt wurde, seine Botschaft mündlich […] Er trug sie am Zielort mündlich entweder selbst in der Zielsprache vor oder wurde gedolmetscht. Jedenfalls war der Vortrag keine wörtliche Wie‐ derholung des „Ausgangstextes“, konnte es nicht sein. (Vermeer, 1992, 43 f.) 2.1 Der Beginn der römischen Literatur aus dem Geist der Übersetzung Die frühe römische Literatur, die lange vor der sogenannten „goldenen Latinität“ entstand, besteht vorwiegend aus Übersetzungen und Bearbeitungen griechischer Werke. Dabei standen die Epik und die Dramatik im Vordergrund. Die Autoren waren meist zweisprachig oder sogar dreisprachig aufgewachsen (Griechisch, Lateinisch, Osko-Umbrisch), einige unter ihnen Sklaven. Das Griechische spielte in Rom fast zu allen Zeiten eine bedeutende Rolle; Kulturträger waren in der Frühzeit nicht selten Personen mit griechischem ‚Migra‐ tionshintergrund‘. Genauere Ausführungen über die Bedeutung der in angesehenen Patri‐ zierfamilien tätigen, oft hochgebildeten Sklaven müssen wir den Spezialisten überlassen. Hier sollen nur einige Autoren aufgeführt werden, deren lateinische Werke auf anders‐ sprachige, meist griechische Vorlagen zurückgehen: Livius Andronicus, ein Freigelassener griechischer Herkunft (240-207 v. Chr. = Schaffens‐ daten). Sein wichtigstes Werk: Odusia, eine in römischen Saturniern gehaltene Nachdich‐ tung der homerischen Odyssee; später überlieferte Fragmente sind in Hexametern verfasst. Er gilt nicht nur als Stammvater der römischen Literatur, sondern auch, lange vor Hiero‐ nymus, als Gründervater des Übersetzungswesens. Die von der Universität León heraus‐ gegebene Zeitschrift Livius. Revista de Estudios de Traducción ist nach ihm benannt. 31 2.1 Der Beginn der römischen Literatur aus dem Geist der Übersetzung <?page no="32"?> 3 Ihre Dissertation enthält jedoch am Ende einen Exkurs über die Livius Andronicus-Forschung, Seele 1995, 109-112. Naevius (265 (? )-204 v. Chr.), römischer Dramatiker und Epiker; Verfasser meist nur frag‐ mentarisch überlieferter Nachdichtungen und Bearbeitungen griechischer Werke. Ennius (239-169 v. Chr.), er stammte im Gegensatz zu seinen Vorläufern aus einer vor‐ nehmen Familie; er verfügte über eine vollendete griechische Bildung und sagte von sich, er habe drei Herzen, weil er Griechisch, Latein und Oskisch konnte. Er darf als einer der Begründer der Satire gelten. Überliefert sind auch Fragmente von Dramen nach griechi‐ schen Vorlagen. Plautus (254 (? )-184 v. Chr.): Mit ihm beginnt der Teil der römischen vorklassischen Li‐ teratur, der auch außerhalb des Kreises einiger weniger Spezialisten bekannt ist. Seine Werke, fast alle Komödien, waren wie die seiner Vorgänger griechischen Vorlagen nach‐ gebildet. Sie verfügten aber über so viel Eigenständigkeit, dass sie später als Zeugnisse römischer Literatur in viele europäische Volkssprachen übersetzt wurden. Schon im 15. Jahrhundert fertigte der Humanist Albrecht von Eyb Übersetzungen der plautinischen Komödien an, von denen einige Anfang des 16. Jahrhunderts in Augsburg im Druck er‐ schienen. Publius Terentius Afer (=Terenz) (etwa 190-159 v. Chr.), ein Freigelassener und, wie Jahr‐ hunderte nach ihm Augustinus, ein Berber, also Afrikaner, der lateinisch dachte und schrieb und damit viel zum europäischen Kulturerbe beigetragen hat. Im Gegensatz zu Augustinus verfügte er auch über eine ausgezeichnete Kenntnis der griechischen Sprache und Literatur. In seinem kurzen Leben hat er es mit seinen sehr erfolgreichen Komödien (am bekanntesten vielleicht Eunuchus) weit gebracht; seinen bemerkenswerten Aufstieg verdankte er wohl einflussreichen Gönnern. Allein schon die Existenz moderner Namensformen wie Terenz, Térence, Terence usw. zeigt, dass wir es mit einem Autor zu tun haben, der zur europäischen Kultur gehört. Wie Plautus wurde auch er bereits frühzeitig von einem süddeutschen Hu‐ manisten ins Deutsche übersetzt. Auf dem Titelblatt der von Hans Neidhart 1486 in Ulm veröffentlichten Übersetzung des Eunuchus heißt es: Hernach volget ain maisterliche vnd wolgesetzte Comedia zelesen vnd zehören lüstig vnd kurtzweylig. Die der Hochgelert vnd grosz Maister vnd Poet Therencius gar subtill mit grosser Kunnst und hochem Fleysz gesetzt hat. (Rössig 1997, 9) In den einschlägigen Übersetzungsgeschichten (s. Grundbibliographie) findet man nur wenig über die Anfänge der Übersetzungstätigkeit in der römischen Antike. Ein Beispiel: … die erste systematische Beschäftigung mit der Kunst und dem Handwerk des Übersetzens ist in Rom zu beobachten, wo von Livius Andronicus, Ennius und Naevius bis hin zu Plautus und Terenz die Literatur praktisch aus der Übersetzung oder wenigstens aus der Adaptation entstanden ist. (Mounin/ Stammerjohann 1967, 23 f.; vgl. ebenfalls Ballard 1995, 38 f.) Auch Astrid Seele, die sich in ihrer Dissertation ausschließlich mit römischen Übersetzern beschäftigt hat, widmet dieser Epoche nicht viel mehr als eine Seite. 3 Sie weist darauf hin, dass die Freiheiten, die sich insbesondere die Übersetzer und Bearbeiter von Komödien gegenüber ihrer Vorlage herausnehmen, gattungsbedingt sind und nicht unbedingt auf eine 32 2 Übersetzen und Dolmetschen in der Antike <?page no="33"?> spezifische Strategie des jeweiligen Übersetzers zurückgeführt werden müssen (Seele 1995, 6 f.). Bevor wir uns nun drei antiken Autoren zuwenden, die für die europäische Überset‐ zungsgeschichte von zentraler Bedeutung sind, muss noch etwas zur Terminologie gesagt werden. Es gibt eine Menge von Verben und Phraseologismen im Lateinischen, die „über‐ setzen“ oder „dolmetschen“ bedeuten. Es sollen hier nur einige unter den gebräuchlichsten aufgeführt werden: interpretari; transferre; vertere; transvertere, convertere, tradere Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem eines: Es gab in klassischer Zeit kein wirkliches verbum proprium, kein „eigenes Wort“ für das Übersetzen. Daraus lässt sich schließen, dass Übersetzen noch keine klar definierte, fest umrissene kulturelle Tätigkeit und Einrichtung war. Die neuere Terminologie, die sich in den europäischen Volkssprachen herausgebildet hat, soll erst zu Beginn des dritten Kapitels behandelt werden. Hier soll nur auf einige Schwierigkeiten im Umgang mit dem lateinischen Erbe hingewiesen werden. Die Stammformen des lateinischen Verbs ferre tuli latum, mit denen wir schon in der Schulzeit unsere Schwierigkeiten hatten, tragen noch heute zur Verwirrung bei, da moderne Termini teils vom Präsens-, teils vom Supinstamm abgeleitet sind: Der Kulturtransfer, von dem heute so viel die Rede ist, wird von der Translatologie oder Translationswissenschaft eifrig unter‐ sucht. Translation soll nach dem Willen einiger Schulen im Deutschen als Oberbegriff für „Übersetzen“ und „Dolmetschen“ herhalten und den bewährten, aber etwas sperrigen Aus‐ druck Sprachmittlung ersetzen. Damit gerät man in Konflikt mit der Weltsprache Englisch; denn translation bedeutet nun gerade nur „Übersetzung“, nicht auch „Verdolmetschung“. Interpetari und das dazugehörige Substantiv interpres können ebenfalls Anlass zur Verwir‐ rung geben. In allen romanischen Sprachen und im Englischen sind diese Wörter auf das Dolmetschen und den Dolmetscher beschränkt, können jedoch auch, wie im Deutschen, „interpretieren“ bzw. „Interpret“ bedeuten. Darin liegt jedoch keine krasse Polysemie; denn jede Übersetzung beruht schließlich notwendigerweise auf Interpretation. 2.2 Cicero, Horaz, Hieronymus und die Folgen Zwei antike Autoren haben sich - mehr oder weniger beiläufig - zum Übersetzen und zu den Übersetzern geäußert. Diese Äußerungen finden sich, nicht selten auf Latein, in vielen Einführungen in die Übersetzungswissenschaft, in die Übersetzungsgeschichte und in den Anthologien wichtiger übersetzungstheoretischer Texte. Sie werden bis heute falsch inter‐ pretiert, obwohl seit der Renaissance immer wieder Übersetzungstheoretiker auf die feh‐ lerhaften oder zumindest irreführenden Interpretationen hingewiesen haben. Schuld daran ist, wie wir gleich sehen werden, Hieronymus, der Übersetzer der Bibel. Seine Version der Bibel, die sogenannte „Vulgata“, ist seit dem Konzil von Trient für die katholische Kirche in Glaubensfragen maßgeblich. Aber zunächst zurück zu Cicero. Er hat weit mehr zu Fragen der Übersetzung beigetragen, als in dem einen immer wieder zitierten Text enthalten ist, den wir natürlich auch zur Kenntnis nehmen müssen. Zunächst soll jedoch auf einige zu‐ 33 2.2 Cicero, Horaz, Hieronymus und die Folgen <?page no="34"?> 4 Postea mihi placuit, eoque sum usus adolescens, ut summorum oratorum Graecas orationes expli‐ carem, quibus lectis hoc adsequebar, ut, cum ea, quae legeram Graece, Latine redderem, non solum optimis verbis uterer et tamen usitatis, sed etiam exprimerem quaedam verba imitando, quae nova nostris essent, dum modo essent idonea. 5 Weit mehr zu diesem Thema findet sich bei Boskamp 2001, 56-66. mindest unter Übersetzungshistorikern weniger bekannte Texte Ciceros eingegangen werden. 2.2.1 Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.) Cicero gilt als wichtigster Repräsentant der sog. „Goldenen Latinität“, und dies hat ihm zu spätem Nachruhm verholfen: Er wurde zum Schreckgespenst all derjenigen, die das La‐ tinum ablegen müssen. Er hat nicht nur beispielhafte Texte verfasst, er hat nebenbei auch übersetzt. Was veranlasste ihn dazu, was waren seine Motive? In einer seiner Schriften erteilt er die folgende Auskunft: Später hat es mir gefallen, und das habe ich mir als junger Mann angewöhnt, die griechischen Reden der führenden Redner zu erläutern. Nach der Lektüre bin ich so verfahren, dass ich, indem ich das, was ich griechisch gelesen hatte, lateinisch wiedergab, nicht nur die besten der bereits gebräuchlichen Wörter verwendete, sondern einige Wörter durch Nachahmung prägte, die in un‐ serer Sprache neu waren, wenn sie sich nur dazu eigneten. 4 (De oratore 1, 155) Hier klingen zwei der wichtigsten traditionellen Motive für das Übersetzen an: die Verbes‐ serung der eigenen Ausdrucksfähigkeit und die Bereicherung der Zielsprache durch Nach‐ bildung des Vorgefundenen (cf. infra Kap. 4). In der modernen Sprachdidaktik ist diese Motivation fast völlig verloren gegangen. Was für die Erlernung einer Fremdsprache zu rein praktischen Zwecken von begrenztem Wert sein mag, erweist sich als wichtiges Hilfs‐ mittel zum Erwerb von Fähigkeiten, die über die Bedürfnisse der Alltagskommunikation hinausweisen. Wer anspruchsvolle Texte in die Muttersprache übersetzt, wird einerseits zum genauen Lesen, zum sog. close reading gezwungen, andererseits dazu veranlasst, etwas in der eigenen Sprache auszudrücken, das er möglicherweise nie von sich aus verbalisiert hätte. Und genau hier setzen Ciceros Bemerkungen zur Übersetzungstechnik an, wenn auch auf dem bescheidenen Niveau der „Bezeichnungslücken“: Es können ja für bislang unbekannte Dinge noch keine Bezeichnungen existieren [neque enim esse possunt rebus ignotis nota nomina] … so kommt es in allen theoretischen Bereichen vor, dass, wenn etwas benannt werden soll, das infolge der fehlenden Kenntnis der Sache selbst zuvor keinen Namen trug [propter rerum ignorationem ipsarum nullum habuerit ante nomen], die Notwendig‐ keit uns zwingt, entweder ein neues Wort zu bilden oder von einem ähnlichen Sachverhalt ein Wort herzuleiten (aut novum facere verbum aut a simili mutuari) (Orator 211). 5 Nun aber endlich zu dem Text Ciceros, den jeder Übersetzungshistoriker kennt - ein Text, der am Anfang einer langen Tradition von Missverständnissen steht. In der kleinen Ab‐ handlung De optimo genere oratorum, eigentlich eine Art von Vorrede zu zwei nicht erhal‐ tenen Übersetzungen, die Cicero angefertigt haben will, heißt es: 34 2 Übersetzen und Dolmetschen in der Antike <?page no="35"?> 6 Converti enim ex Atticis duorum eloquentissimorum nobilissimas orationes inter seque contrarias, Aeschini et Demostheni; nec converti ut interpres, sed ut orator, sententiis isdem et earum formis tamquam figuris, verbis ad nostram consuetudinem aptis. In quibus non verbum pro verbo necesse habui reddere, sed genus omne verborum vimque servavi. Non enim ea me adnumerare lectori putavi oportere, sed tamquam appendere. (Cicero De optimo genere oratorum §. 14). 7 Cf. Woll 1988. Ich habe nämlich von den attischen Autoren zwei der bekanntesten Reden der eloquentesten Redner übersetzt, Reden des Aischines und des Demosthenes, die beide gegeneinander gerichtet haben; und ich habe sie nicht wie ein Dolmetscher, sondern wie ein Redner übersetzt, unter Wah‐ rung des Sinnes und der Wort- und Redefiguren, aber mit Worten, die unserer eigenen Sprache angemessen sind. Dabei habe ich es nicht für nötig gehalten, Wort für Wort wiederzugeben, son‐ dern habe die Art der Wörter insgesamt und ihre Bedeutung beibehalten. Denn ich glaubte nicht, dass ich dem Leser die Worte zuzählen, sondern dass ich sie ihm gleichsam zuwägen sollte. 6 (Übersetzung leicht modifiziert nach Seele 1995, 81) In der Übersetzungstheorie und Übersetzungsgeschichte wird dieser Textausschnitt immer wieder als Beleg dafür abgeführt, dass Cicero die sog. „freie“ Übersetzung befürwortet habe. So kann man z. B. in einer frühen deutschsprachigen Arbeit zur Übersetzungsgeschichte lesen: Die von Cicero formulierten Grundsätze der freien Übersetzung werden von Quintilian und dem jüngeren Plinius übernommen und in Richtung auf das der primitiven Wörtlichkeit entgegenge‐ setzte Extrem weiterentwickelt: das Original tritt immer weiter zurück und damit auch die Ab‐ hängigkeit des Übersetzers von ihm … (Kloepfer 1967, 23). An dieser Behauptung ist allenfalls „etwas Wahres dran“. Bei genauerem Hinsehen lässt sich jedoch im Hinblick auf die Übersetzung im engeren Sinn eher das Gegenteil erkennen. Cicero hält es für ganz normal, dass die von ihm wenig geschätzten Übersetzer sich eng an die Vorlage halten. Er erklärt nur, dass er in diesem Fall anders verfahren sei, weil es sein Ziel gewesen sei zu zeigen, wie eine vorbildliche lateinische Rede aussehen könne. Er wollte keine interpretatio stricto sensu, sondern eine imitatio, eine Nachahmung, oder sogar eine aemulatio, eine das Original übertreffende Umgestaltung vorlegen. Er fordert keineswegs, man solle grundsätzlich in allen Fällen auf diese Weise verfahren. 7 2.2.2 Quintus Horatius Flaccus (65-8 v. Chr.) Im Fall von Horaz ist der getreulich weitergegebene Interpretationsirrtum noch eindeutiger. Es geht um eine kurze Stelle aus der Epistula ad Pisones, einem in Versen abgefassten Brief, der allgemein als ars poetica bezeichnet wird: publica materies privati iuris erit, si non circa vilem patulumque moraberis orbem, nec verbum verbo curabis reddere fidus interpres … (Epistula ad Pisones, bekannt als „Ars poetica“ v. 131 ff.) 35 2.2 Cicero, Horaz, Hieronymus und die Folgen <?page no="36"?> 8 Cette erreur [dans l’interprétation des vers d’Horace] est venue peut-être de quelques excellents hommes de notre temps qui publièrent […] ces Huit merveilleuses Oraisons de Cicéron en notre langue et mirent ces vers au devant de leur traduction, non par erreur, à mon avis, mais à dessein, détournant un peu (comme il est quelquefois permis) ce passage de sa signification naturelle. […] Ainsi ce passage, qu’on allègue pour établir la liberté des traducteurs, établit plutôt la contrainte et la servitude à laquelle ils sont obligés. (Paul Pellisson 1651, zit. nach Zuber 1968, 143). 9 Cf. García Yebra 1994, 63. War der Stoff Gemeingut, kann er doch rechtsgültig dein Eigentum werden. Nur mußt du dich nicht in dem bequemen, oft betretenen Kreise aufhalten, mußt nicht peinlich Wort für Wort mit Dolmetschers Treue wiedergeben … (Üb. von Wilhelm Schöne, vor 1967) You may acquire private rights in common ground, provided you will neither linger in the one hackneyed and easy round; nor trouble to render word for word with the faithfulness of a trans‐ lator … (Robinson 1992, 40) Diese Verse enthalten eine syntaktisch zweideutige Stelle, nec verbum verbo curabis reddere fidus interpres, die man, isoliert betrachtet, unterschiedlich übersetzen kann: Und du wirst nicht wie ein getreuer Übersetzer alles Wort für Wort wiedergeben (ein Übersetzer tut so etwas) Und wie ein getreuer Übersetzer wirst du nicht alles Wort für Wort wiedergeben (ein Übersetzer tut so etwas nicht) (vgl. Seele 1995, 94). Der Kontext deutet jedoch eindeutig auf die erste Lesart hin, und das kommt auch in den oben wiedergegebenen Übersetzungen gut zum Ausdruck. Die meisten Horaz-Übersetzer haben die betreffende Stelle besser verstanden als die Übersetzungshistoriker. Horaz äußert sich zur Dichtung, nicht zur Übersetzung; die interessiert ihn überhaupt nicht. In freier Paraphrase unter Berücksichtigung des hier nicht wiedergegebenen Kontexts lässt sich der Sinn der Verse folgendermaßen wiedergeben: Für den Dichter, der das Publikum von seinen Fähigkeiten überzeugen will, ist es oft wirkungsvoller, sich nicht mit einem selbst erfun‐ denen, sondern mit einem allgemein bekannten Stoff vorzustellen. Dabei darf er sich al‐ lerdings nicht genau an seine Vorlage halten, wie ein gewissenhafter Übersetzer, und auch als Nachahmer darf er keine Scheu vor eigenwilligen Abweichungen zeigen. Diese Verse sind also eher von literaturtheoretischem als von übersetzungstheoretischem Interesse. In der Zeit der belles infidèles, von denen im siebten Kapitel die Rede sein wird, meinte ein witziger Kritiker, die Idee, Horaz habe mit diesen Versen die freie Übersetzung emp‐ fehlen wollen, beruhe vielleicht gar nicht auf einem Irrtum, sondern auf Absicht: Man könne einen Text ruhig einmal ein wenig missverstehen, wenn er den eigenen Zwecken so besser dient. Die Stelle, die gemeinhin als Plädoyer für die freie Übersetzung angeführt werde, weise eigentlich auf die Zwänge hin, denen die Übersetzer unterworfen sind. 8 Schon früh hat der spanische Humanist Gregorio Morillo darauf hingewiesen, der In‐ terpretationsirrtum beruhe darauf, dass die Verse aus dem Zusammenhang herausgerissen wurden, 9 und Pierre Daniel Huet, ein Übersetzungstheoretiker im 17. Jahrhundert, gibt den 36 2 Übersetzen und Dolmetschen in der Antike <?page no="37"?> 10 Illud ergo, ex Horatii sententia, fidi interpretis munus est, verbum verbo diligenter referre (Huet 2002, 156). 11 Übersetzung mit kleinen Modifikationen nach W. Buchwald in Störig 3 1973, 1. Die erste Auflage dieser Anthologie enthält an dieser Stelle einen groben Fehler. 12 Cf. Vermeer 1992, 299 ff. Sinn der Verse korrekt in wenigen Zeilen wieder und betont am Schluss, Horaz sei der Meinung gewesen, ein getreuer Übersetzer habe alles Wort für Wort wiederzugeben. 10 Dennoch wird bis in die jüngste Vergangenheit hinein immer wieder behauptet, Horaz habe die freie Übersetzung empfohlen. Selbst der hochgebildete Literaturtheoretiker George Steiner unterliegt diesem Irrtum, wenn er schreibt: The first period would extend from Cicero’s famous precept not to translate verbum pro verbo, in his Libellus de optimo genere oratorum of 46 B.C. and Horace’s reiteration of this formula in the Ars poetica some twenty years later … (Steiner 1975, 236). Der eigentliche Ursprung dieses Missverständnisses liegt beim dritten der Autoren, von denen dieses Kapitel handelt. 2.2.3 Eusebius Sophronius Hieronymus (um 345-420 n. Chr.) Von Hieronymus, dem Schöpfer der Vulgata, wird noch einmal ausführlicher im sechsten Kapitel die Rede sein. Hier geht es ausschließlich um seine Berufung auf Cicero und Horaz zur Verteidigung seiner eigenen Übersetzungsstrategie, mit der er die Rezeption der beiden klassischen Autoren bis in die Gegenwart beeinflusst hat. Ähnlich wie später Luther, der sich auf ihn berief, musste sich Hieronymus gegen Feinde und Kritiker zur Wehr setzen, die behaupteten, er verfälsche mit seinen zu freien Übersetzungen das Wort Gottes. In einem Brief an seinen Studienfreund Pammachius nimmt er zu diesen Anwürfen Stellung. Zwei Stellen aus dem berühmten Brief (auch Luther wird die Verteidigung seines Vorgehens in Anlehnung daran Sendbrief vom Dolmetschen nennen) sind für uns relevant; die erste von beiden findet sich in fast allen Handbüchern: Ego enim non solum fateor, sed libera voce profiteor me in interpretatione Graecorum absque scripturis sanctis, ubi et verborum ordo mysterium est, non verbum e verbo, sed sensum exprimere de sensu … (Epist. 57, V, 2 f.) Ich gebe es nicht nur zu, sondern bekenne es frei heraus, dass ich bei der Übersetzung griechischer Texte - abgesehen von den Heiligen Schriften, wo selbst die Wortfolge ein Mysterium ist - nicht ein Wort durch ein anderes, sondern einen Sinn durch einen anderen wiedergebe … 11 Hieronymus nimmt sich seine „Freiheiten“ also nur für weltliche Texte heraus; die bibli‐ schen Schriften sind für ihn sakrosankte Texte (cf. infra, Kap. 6), bei denen höchste Vorsicht geboten ist. Wer seine Übersetzungen nicht-religiöser griechischer Texte in Augenschein nimmt, wird feststellen, dass es sich um ziemlich wörtliche, aber eben nicht um Wort-für- Wort-Übersetzungen handelt. 12 Wenige Zeilen nach der oben angeführten Stelle beruft er sich zur Verteidigung seiner Strategie auf die beiden klassischen Autoren: 37 2.2 Cicero, Horaz, Hieronymus und die Folgen <?page no="38"?> 13 […] sufficit mihi ipsa translatoris auctoritas, qui ita in prologo earundem orationum locutus est: (es folgt das Cicero-Zitat, cf. supra) […] Sed et Horatius, vir acutus et doctus, hoc idem in Arte poetica erudito interpreti praecipit: (Es folgt das Horaz-Zitat, cf. supra). Mir genügt die Autorität des Übersetzers selbst, der sich im Vorwort zu den genannten Reden so geäußert hat: [hier folgt das oben angeführte Cicero-Zitat] Aber auch Horaz, ein scharfsinniger und gelehrter Mann, schreibt genau dasselbe in der ‚Ars poetica‘ dem gebildeten Übersetzer vor [es folgen die oben angeführten Verse] (Störig 3 1973, 1 f.) 13 Hieronymus steht also eindeutig am Anfang der langen Geschichte dieses Interpretations‐ irrtums. Wie konnte ein hochgebildeter Gelehrter sich derart täuschen? Dazu gibt es eine immer einmal wieder angeführte These: Hieronymus habe in seinem Leben eine schwere religiöse Krise durchgemacht, nach deren Überwindung er geschworen habe, dem eitlen Leben eines Literaten abzuschwören und keinen Blick mehr in die Schriften der antiken, also heidnischen Autoren zu werfen. Er habe sich zwanzig Jahre später an die besagten Stellen nur noch undeutlich erinnert und den Kontext vergessen, in den sie eingebettet sind. Plausibler erscheint eine andere Hypothese. Wer sich gegen Kritiker verteidigen will, beruft sich gern auf allgemein anerkannte Autoritäten, im oben wiedergegebenen Zitat ist aus‐ drücklich von „Autorität“ die Rede. Hieronymus musste sich gegen Kritiker zur Wehr setzen, die unter „treuer Übersetzung“ eine nahezu unverständliche Interlinearversion ver‐ standen. Da kamen ihm möglicherweise die aus dem Zusammenhang gerissenen Klassi‐ kerzitate zu seiner Verteidigung gerade recht. Nach diesem kurzen Abstecher in die Antike machen wir einen zeitlichen Sprung ins Mittelalter und wenden uns den Anfängen des Übersetzens im Bereich der neueren Spra‐ chen zu. 38 2 Übersetzen und Dolmetschen in der Antike <?page no="39"?> 1 … me parece que el traducir de una lengua en otra, como no sea de las reinas de las lenguas, griega y latina, es como quien mira los tapices flamencos por el revés; que aunque se ven las figuras, son venas de hilos que les oscurecen, y no se ven con la lisura y tez de la haz; el traducir de lenguas fáciles, ni arguye ingenio ni elocución, como no le arguye el que traslada, ni el que copia un papel de otro papel. Y no por esto quiero inferir que no sea loable este ejercicio del traducir; porque en otras cosas peores se podría ocupar el hombre … 3 „Vertikales“ und „horizontales“ Übersetzen im Mittelalter In einer häufig angeführten Stelle des Don Quijote (2. Teil, Kap. 62) trifft der Held in einer Druckerei auf einen Mann, der aus dem Toskanischen ins Kastilische übersetzt. In Ka‐ pitel 3.3 werden wir auf diese Sprachbezeichnungen zurückkommen. Don Quijote versi‐ chert mit geheuchelter Bescheidenheit, er verstehe auch etwas Toskanisch, einige Verse aus dem Ariost seien ihm durchaus geläufig. Mit gespielter Neugier fragt er den Übersetzer nach diesem und jenem toskanischen Wort und seiner Entsprechung im Kastilischen und lässt durchblicken, dass er das alles nicht ernst nehmen kann. Er ist verwundert angesichts der Tatsache, dass jemand mit so einer Kinderei sein Leben verbringen kann. Übersetzen! Aus einer Volkssprache in eine andere! Da ist es schon besser, gegen Windmühlen zu kämpfen. Die sich daran anschließende übersetzungsskeptische Reflexion wird meist nur bruchstückweise zitiert, sie soll hier im Zusammenhang wiedergegeben werden: … es scheint mir, dass es sich mit dem Übersetzen aus einer Sprache in eine andere - es sei denn, es handele sich um die Königinnen der Sprachen, Griechisch und Latein - so verhält, wie wenn man flandrische Wandteppiche von hinten betrachtet. Man erkennt zwar die Gestalten, aber sie sind durch die Menge von Fäden entstellt, und man sieht sie nicht in der Glätte und Farbenfrische der Vorderseite. Das Übersetzen aus leichten Sprachen erfordert weder Geist noch Beredsamkeit, wie auch derjenige beides nicht benötigt, der übersetzt oder etwas von einem Papier auf ein anderes abschreibt. Daraus möchte ich jedoch nicht folgern, dass das Übersetzen keine lobenswerte Tä‐ tigkeit sei, denn der Mensch könnte sich mit schlimmeren Dingen abgeben … (Übers. Ludwig Braunfels, modifiziert) 1 Wie so viele übersetzungsskeptische Äußerungen ist auch diese widersprüchlich oder zu‐ mindest interpretationsbedürftig. Einerseits soll das Übersetzen eine kinderleichte Tätig‐ keit sein, andererseits ist ihr Ergebnis in hohem Maße unbefriedigend. Sollte das nicht daran liegen, dass die Methode, die Cervantes vorschwebt, nämlich das Ersetzen eines ausgangs‐ sprachlichen Wortes durch ein zielsprachliches, nicht nur kinderleicht, sondern zugleich unzulänglich ist und nur zu unbefriedigenden Ergebnissen führen kann? Diese Überlegung kann hier nicht weiter verfolgt werden. Hier interessiert vor allem Cervantes’ Unterschei‐ dung zwischen den „lenguas faciles“, den noch im Ausbau befindlichen romanischen Volks‐ sprachen, und den „reinas de las lenguas“, den klassischen Sprachen Griechisch und Latein. Im Mittelalter und noch weit bis in die frühe Neuzeit hinein unterschied man verschiedene Typen von Übersetzung, je nachdem, welche Sprachen beteiligt waren und in welche Rich‐ <?page no="40"?> 2 Vgl. u. a. Alewyn 1911; 11 f.; Hess 1971; 56 f. und 375-384; Albrecht 1998, 143-147. 3 Vgl. u. a. Leo Weisgerber: Der Sinn des Wortes ‚Deutsch‘, Göttingen 1949. tung man übersetzte. Die Termini horizontal und vertikal sind natürlich neueren Datums, sie wurden von Übersetzungshistorikern geprägt. Vertikales Übersetzen: darunter versteht man das Übersetzen zwischen einer prestigerei‐ chen angesehenen, grammatisch geregelten Sprache und einer noch ‚wildwüchsigen‘ Volkssprache, entweder von oben nach unten, also Latein → Französisch; Deutsch (des‐ census), oder aber von unten nach oben, also Französisch; Deutsch → Latein (ascensus). 2 Horizontales Übersetzen: darunter versteht man das Übersetzen von einer Volkssprache in die andere, eine Tätigkeit, die zumindest anfangs, ähnlich wie noch bei Cervantes, als keine besonders anspruchsvolle Tätigkeit angesehen wurde. Hierzu sind noch einige Erläuterungen nötig: Die volkstümlichen Formen des Latein‐ ischen wurden mit dem Adjektiv vulgaris, vulgare bezeichnet; der deutsche Terminus Vul‐ gärlatein erinnert noch daran. „Vulgär“ im modernen Verständnis sind vulgärlateinische Texte allerdings nur selten. Die Evangelien, um nur ein besonders gewichtiges Beispiel zu nennen, sind es nicht; die Wandinschriften von Pompei dagegen schon. Formen wie it. volgare und, weit seltener, frz. vulgaire bezeichnen nicht etwa besonders volkstümliche Formen der romanischen Sprachen, sondern diese Sprachen selbst. Die frühen Formen der romanischen Sprachen wurden zunächst als vulgaria, d. h. volkstümliche Formen des La‐ teinischen angesehen. So nennt Dante z. B. die von ihm angestrebte, für ganz Italien vor‐ bildliche Sprachform volgare illustre. Die Übersetzungen aus dem Lateinischen in die ver‐ schiedenen in Italien gesprochenen Varietäten wurden volgarizzamenti genannt (cf. infra 3.2). Die Emanzipation der Volkssprachen vom Lateinischen, die sich in dem Bewusstsein der Sprecher manifestiert, keine volkstümliche Form des Lateinischen, sondern eine eigene Sprache zu sprechen, ist (vermutlich aus rein lautlichen Gründen) am frühesten in Nord‐ frankreich, am spätesten in Italien eingetreten. Darüber hinaus gab es schon früh einen Ausdruck, der die romanischen Volkssprachen in ihrer Gesamtheit umfasste. Aus dem Adverb romanice entwickelten sich altfranzösisch romanz, italienisch romanzo, spanisch romance usw. Wörter wie Roman oder romantisch gehören ebenfalls zu dieser Familie. Romanice sprechen oder schreiben hieß vor allem „nicht lateinisch sprechen oder schreiben“. Diese Ausdrucksweise wurde im Germanischen genau nachgeahmt. Das Wort deutsch hatte ursprünglich keinerlei ethnische Assoziation. Es geht auf ahd. theod, mhd. diet „Volk“ zurück und hat seine heutige Form durch Vermittlung der latinisierten Form theotiscus, theotisce erhalten. Das Wort betraf ursprünglich nur die Sprache. In lingua theotisca bezog sich zunächst nicht auf eine bestimmte germanische Va‐ rietät, sondern hieß schlicht „in der Volkssprache, nicht auf Latein“. Erst spät wurde daraus die Bezeichnung eines Volkes. 3 Im Englischen, wo die Deutschen „Germans“ heißen, obwohl die Engländer selbst, rein ethnisch gesehen, diese Bezeichnung eher verdienten als die Deutschen, hat sich das Wort auf einen kleinen Bereich der Kontinentalgermanen spezia‐ lisiert: dutch bedeutet „niederländisch“. 40 3 „Vertikales“ und „horizontales“ Übersetzen im Mittelalter <?page no="41"?> 3.1 Bemerkungen zur Terminologie Die verwirrend vielfältige lateinische Terminologie nimmt im Romanischen nur langsam eine einheitlichere Form an. Es gibt immer noch eine Menge von konkurrierenden Aus‐ drücken. So verwendet die in England im anglo-normannischen Literaturdialekt schrei‐ bende Marie de France im Nachwort zu ihrer Fabelsammlung nach Aesop neben translater auch en romanz traire („ins Romanische versetzen“), del griu en latin turner („vom Griechi‐ schen ins Lateinische wenden“) und schließlich rimer en franceis („in französische Verse bringen“) (cf. Pöckl 2016, 16). Alonso de Madrigal, genannt el Tostado (1410-1455), ver‐ wendet in synonymischer Variation ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied trasladar de, interpetar de, mudar de, sacar de, tornar de, volver en (cf. Santoyo 2008, 68). Wie man sieht, spielte es bei der Wahl des Ausdrucks eine gewisse Rolle, ob man die Ausgangs- oder die Zielsprache betonen wollte. Langsam beginnt sich jedoch die aus dem Supinstamm von transferre gebildete Form tra(n)slatare durchzusetzen, wohl nicht zuletzt, weil sie die Bil‐ dung von regelmäßigen Reihen vom Typ Verb, nomen actionis, nomen agentis zuließ: afrz. translater, translation, translateur; altit. translatare, translazione, translatore; altspan. trasladar, traslación, traslador. Diese terminologische Reihe blieb nur in England erhalten, wo die anglo-normannische Variante des Französischen jahrhundertelang Bildungssprache war: translate, translation, translator. Im Altfranzösischen gibt es auch einen Fachausdruck für das Übersetzen ins Lateinische, den ascensus (cf. infra): latinier bedeutet nicht nur „Latein sprechen“, sondern auch „ins Lateinische übersetzen“. Die Terminologie für „Dolmetscher“ ist in der frühen Phase der Entwicklung der Volks‐ sprachen noch verwirrender. Hier kann nur eine flüchtige Skizze geboten werden. Für den romanischen Sprachraum ist zunächst ein arabisches Wort bedeutsam, mit dem die Kreuz‐ ritter in Berührung gekommen waren: tarǧūmān, ein Dolmetscher, der Aufgaben wahr‐ nahm, die heutzutage ein community interpreter übernehmen würde, d. h. nicht nur Sprach‐ mittlung, sondern Beratung im Umgang mit Behörden, sozialen Institutionen usw. Das Wort erscheint in zahlreichen Varianten in verschiedenen romanischen Sprachen, so z. B. als turcimanno oder dragomanno im Italienischen, als truchement im Französischen (vgl. Pöckl 2015; 2016, 17 f.). Diese Wörter sind heute, wie dt. Dragoman, nur noch als historische Fachausdrücke geläufig. Im modernen Französischen steht die übertragene Bedeutung par le truchement de „durch Vermittlung von“ im Vordergrund. Erst später setzt sich in allen romanischen Sprachen wie im Englischen der Typ interpres durch. In all diesen Sprachen können die darauf zurückgehenden Wörter, wie im Deutschen, im Sinne von „Interpret“ verwendet werden. Diese Polysemie tritt im Deutschen nicht auf. Während im Mittelhoch‐ deutschen, ähnlich wie heute noch im Niederländischen und in einigen skandinavischen Sprachen, die Form tolk(e) üblich war, setzt sich in der frühen Neuzeit Dolmetsch, Dolmet‐ scher durch. Beide Wörter scheinen aus Asien zu stammen und sind durch Vermittlung der slawischen Sprachen nach Mitteleuropa gelangt. Expressive Bildungen wie Truzzelmann, ein Wort, das sporadisch im Frühneuhochdeutschen belegt ist, oder volksetymologische Umdeutungen wie mhd. trougmunt (vgl. trouc „trog“) deuten darauf hin, dass man Dolmet‐ 41 3.1 Bemerkungen zur Terminologie <?page no="42"?> schern nicht so recht über den Weg traute (vgl. Albrecht 1998, 37). Im Englischen konnte Latiner nicht nur einen Lateinkundigen, sondern auch einen Dolmetscher bezeichnen. Das Wort ist heute obsolet. In der frühen Neuzeit deutet sich eine terminologische Umgestaltung an, die nicht nur den romanischen, sondern auch den germanischen und z.T. sogar den slawischen Sprach‐ raum erfasst. An Stelle des klassischen transferre mit seinen vom Supinstamm abgeleiteten Formen, von denen oben die Rede war, beginnt sich traducere (transducere) auszubreiten. Wer im bewährten Georges unter traduco nachschlägt, wird feststellen, dass dieses Verb viele konkrete Bedeutungen hat, die sich der Idee des Versetzens eines Gegenstandes von einem Ort an einen anderen subsumieren lassen, unter anderem „mit einem Boot über einen Fluss setzen“, oder sogar „jmdn. dem allgemeinen Spott aussetzen“, aber nicht „einen Text übersetzen“. Im Traktat des italienischen Humanisten Leonardo Bruni: De interpretatione recta (≈ 1420) heißt es: Dico igitur omnem interpretationis vim in eo consistere, ut, quod in altera lingua scriptum sit, id in alteram recte traducatur“ (Bruni 1928 [1420], 83; unsere Kursivierung, J.A. und I.P.). Ich behaupte also, dass das Wesen jeder Übersetzung darin besteht, dass das, was in einer Sprache geschrieben steht, richtig in eine andere übertragen werde. Das klingt ähnlich überzeugend wie die Antwort des Bachelierus in Molières Malade ima‐ ginaire auf die Prüfungsfrage, worin denn nun die einschläfernde Wirkung des Opiums liege, eine Antwort, die in einer Mischung aus Französisch und Küchenlatein vorgetragen wird: „A quoi respondeo, / Quia est in eo / Vertus dormitiva, / Cujus est natura / Sensus assoupire“ (troisième intermède). Das Wesen der Übersetzung besteht also darin, dass richtig übersetzt wird, und Opium fördert den Schlaf, weil in ihm eine schlaffördernde Kraft steckt. In diesem Zusammenhang interessiert allerdings weniger die übersetzungstheoretische Argumentation als vielmehr das Vorkommen des Verbs traducere. In einem sprachlichen Kontext ist es in den Noctes Atticae des römischen Autors Aulus Gellius (2. Jh. nach Chr.) belegt: vocabulum vetus traductum in linguam romanam „ein altes Wort, das in die römische Sprache entlehnt (überführt) wurde“. Es geht hier um das Wort selbst, nicht um seine Be‐ deutung, also um Übernahme, nicht um Übersetzung. Zu diesem Sachverhalt sind ver‐ schiedene Hypothesen aufgestellt worden: Zunächst wurde behauptet, Bruni habe die Stelle bei Aulus Gellius gekannt, das Partizip traductum jedoch falsch interpretiert. Andere For‐ scher widersprechen dieser Ansicht. Er habe das Wort bewusst mit der neuen Bedeutung verwendet, um seine eigene Konzeption der Übersetzung klar von der seiner Vorgänger zu unterscheiden (vgl. z. B. Folena 1991, 72). Wenn dem so wäre, möchte man einwenden, hätte er doch wohl besser schon im Titel traductio statt interpretatio verwendet. Inzwischen wissen wir, dass das Wort schon viel früher mit der neuen Bedeutung erscheint - so bei Notker dem Deutschen (950-1022), der im Kloster St. Gallen gewirkt hat (vgl. u. a. Pöckl 2016, 19). Es dauerte Jahrhunderte, bis das neue Wort das alte translatare völlig verdrängt hatte. Der französische Humanist und Übersetzer Robert Estienne (1503-1559) greift es auf und bildet traduire. Etienne Dolet (1509-1546), Verfasser des übersetzungstheoretischen Trak‐ tats La manière de bien traduire d’une langue en aultre (1540), fügt traduction, traducteur 42 3 „Vertikales“ und „horizontales“ Übersetzen im Mittelalter <?page no="43"?> hinzu. Er ist jedoch nicht, wie oft in französischen Einführungen zu lesen ist, der Schöpfer dieser Terminologie; man findet die Ausdrücke sporadisch schon in früheren Texten. Erst im 18. Jahrhundert finden wir in den wichtigen romanischen Sprachen regelmäßige ter‐ minologische Reihen: frz. traduire, traduction, traducteur; it. tradurre, traduzione, traduttore; span. traducir, traducción, traductor; port. traduzir, traduç-o, tradutor. Das deutsche Wort übersetzen geht auf eine metaphorische Lehnbedeutung zurück. Aus‐ zugehen ist von übersetzen, mit betontem und abtrennbarem Verbzusatz. Jemand setzt zum anderen Ufer über. Bei metaphorisch gebrauchten zusammengesetzten Verben verlagert sich der Akzent meist auf den verbalen Bestandteil, und die Verbindung wird fest: einen Text übersetzen, jemand übersetzt ein Buch, nicht *er setzt es über (vgl. ein Fahrrad unterstellen vs. jmdm. etwas unterstellen). Im Russischen verhält es sich ähnlich: перевод, переводить sind dem Romanischen nachgebildet: über + fuhr, führen. Phonetisch-syntak‐ tische Unterschiede zwischen „eigentlicher“ und „übertragener“ Bedeutung wie im Deut‐ schen gibt es nicht; der Unterschied zwischen „übersetzen“ und „dolmetschen“ wird nur durch attributive Zusätze ausgedrückt. Das Wort переводить wird auch im Sinne von „(einen Geldbetrag) überweisen“ gebraucht. 3.2 Die Arbeit der frühen Übersetzer oder „Vulgarisatoren“ und ihre sprachlichen Konsequenzen Die wichtigste Art der Übersetzung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war die ver‐ tikale Übersetzung und innerhalb dieser der descensus, der Abstieg. Es wurde vor allem aus dem Lateinischen in die Volkssprachen übersetzt; das Griechische kam erst später hinzu. Für diese Art der Übersetzung gab es besondere Ausdrücke; am bekanntesten ist der italienische Terminus volgarizzamento. Im Spanischen spricht man von romanceamiento, im Französischen, wenn auch weit seltener, von vulgarisation. Bei dieser Art von Überset‐ zung handelt es sich nicht nur um einen rein sprachlichen Vorgang. Es ging immer auch um einen „descensus“, um einen Abstieg in inhaltlicher Hinsicht. Die Übersetzer waren darum bemüht, die schwierigen Texte einem weniger gebildeten Publikum zugänglich zu machen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der elfte Gesang aus dem Purgatorio der Divina commedia, in dem Dante die oratio dominica, das Vater unser, ins Toskanische übersetzt und gleichzeitig erklärt: O padre nostro, che ne’ cieli stai, non circunscritto, ma per più amore ch’ai primi effetti di là su tu hai, laudato sia ’l tuo nome e ’l tuo valore da ogni creatura, com’è degno di render grazie al tuo dolce vapore. (Purgatorio XI, 1-6) 43 3.2 Die Arbeit der frühen Übersetzer oder „Vulgarisatoren“ und ihre sprachlichen Konsequenzen <?page no="44"?> 4 Prosaübersetzung von Walter Naumann, Darmstadt 2004. O unser Vater, der du im Himmel weilst, nicht dort eingegrenzt, sondern aus mehr Liebe, die du zu den ersten Schöpfungen dort oben hegst, gelobt sei dein Name und deine Stärke von jedem Geschöpf, wie es geziemend ist, deinem lieblichen Hauch Dank darzubringen. 4 Das französische Wort vulgarisation ist nur zum Teil ein Pendant von it. volgarizzamento. Noch im 19. Jahrhundert konnte Émile Zola von vulgarisation scientifique sprechen; im modernen Französischen verwendet man eher divulgation, divulguer: „porter à la connais‐ sance du public“; vulgariser ist zunehmend pejorativ konnotiert. Im Deutschen ist „vulga‐ risieren“ in diesem Sinn noch heute üblich; der Ausdruck ist keineswegs ausschließlich negativ konnotiert (vgl. engl. vulgarise (vulgarize) „to make common or ordinary“, aber auch „to make unrefined or coarse“). Wie im ersten Kapitel bereits angedeutet, hatte diese Art des Übersetzens bedeutende Auswirkungen auf die Zielsprachen, man spricht in diesem Zusammenhang von der „Re‐ latinisierung“ der romanischen Sprachen. Bis ins hohe Mittelalter hatten sich die romanischen Sprachen immer weiter auseinanderentwickelt, nun findet zumindest auf den oberen Etagen wieder eine Annäherung statt: Das jahrhundertealte Nebeneinander des Lateins und der (west)romanischen Sprachen führte dabei sowohl zu einer Annäherung des Spanischen an das Latein oder des Französischen und Italienischen an das Latein, also zu einer Relatinisierung romanischer Sprachen, wie auch zu einer immer deutlicher ausgeprägten Konvergenz der romanischen Sprachen untereinander, da in immer stärkerem Maße hier dieselben Elemente der Gelehrtensprache mit identischen Funktionen produktiv werden. (Schmitt 1988, 184) Die direkt aus dem Lateinischen entlehnten Wörter (frz. mots savants; span. cultismos; dt. Buchwörter) waren untereinander sehr viel ähnlicher als die volkstümlichen, die sog. Erb‐ wörter (frz. mots populaires), wie aus dem folgenden Beispiel unmittelbar hervorgeht: frz. droit, employer it. dritto, impiegare span. derecho, emplear → Erbwörter frz. direct; impliquer it. diretto; implicare span. directo; implicar → Buchwörter Man spricht in diesem Fall von Dubletten: Ein bestimmtes Wort hat sich normal aus dem Lateinischen zum Romanischen hin entwickelt, wobei sowohl auf der Seite der Lautform als auch auf der der Bedeutung oft beträchtliche Veränderungen stattgefunden haben. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wird das Wort nun nochmals aus dem Lateinischen entlehnt. Ein solches Paar, Erbwort und dazugehöriges Buchwort, nennt man eine Dublette: droit - direct. Die Ähnlichkeit der Buchwörter in verschiedenen romanischen Sprachen zeigt, was mit der „Konvergenz“ der romanischen Sprachen gemeint ist. Zwei Beobachtungen scheinen in diesem Zusammenhang besonders wichtig: 44 3 „Vertikales“ und „horizontales“ Übersetzen im Mittelalter <?page no="45"?> - Buchwörter wurden nicht allein durch „Übersetzen“ im engeren Sinne eingeführt, sondern durch ständige Beschäftigung mit lateinischen Texten, also durch Über‐ setzen im weitesten Sinne. Das Übersetzen hatte jedoch einen entscheidenden Anteil an der Motivation zur Entlehnung, denn niemand fühlte sich so stark zur Füllung einer Bezeichnungslücke gedrängt wie ein Übersetzer, der in einem lateinischen Text etwas vorfand, das er in der Volkssprache nicht auszudrücken vermochte. In einigen einschlägigen romanischen Sprachgeschichten wird ausdrücklich auf die Rolle der Übersetzer verwiesen (cf. Albrecht 2003, 9-11). Ob die gelehrten Entlehnungen nun über die Übersetzung stricto sensu oder über die Beschäftigung mit lateinischen Texten in die Volkssprachen gelangten, die Übernahme fand in jedem Fall im Me‐ dium der Schrift statt. So blieben Buchwörter zunächst auf das bildungssprachliche Register beschränkt und verbreiteten sich langsam „von oben nach unten“. Was die Verhältnisse in Italien betrifft, so betont Carlo Tagliavini in seiner Einführung in die romanische Philologie (Le origini delle lingue romanze), dass die gelehrten Entleh‐ nungen im Laufe der Zeit in die gesprochene Sprache und sogar auch in die Dialekte Einzug hielten, die keine Literatur hervorgebracht haben (cf. Tagliavini 5 1969, 326). - Die Entlehnungen aus dem Lateinischen hatten im Französischen größere Konse‐ quenzen als in den übrigen romanischen Sprachen, da sich das Französische in laut‐ licher Hinsicht weiter vom Lateinischen entfernt hatte. Die folgenden Beispiele zeigen, dass die Unterschiede zwischen Erbwort und Buchwort im Französischen ausgeprägter sind als in den südromanischen Sprachen: frz. eau/ aqueux (aquatique) span. agua/ aguajoso it. acqua/ acquoso frz. beaucoup/ multitude span. mucho/ multitud it. molto/ moltitudine In vielen Fällen dürfte es dem Übersetzer oder dem Gelehrten, der ein Wort aus dem La‐ teinischen entlehnte, nicht bewusst gewesen sein, dass das betreffende Wort ‚eigentlich schon vorhanden‘ war. Die Laut- und Bedeutungsunterschiede zwischen orteil „großer Zeh“ und article „Artikel“, zwischen sanglier „Wildschwein“ und singulier „einzeln“ oder zwischen sevrer „einen Säugling entwöhnen“ und séparer „trennen“ sind so groß, dass man über sprachhistorische Kenntnisse verfügen muss, um zu erkennen, dass beide Wörter den gleichen Ursprung haben. Viel stärker beeinflussen gelehrte Entlehnungen die lebendige, d. h. dem gewöhnlichen Sprecher zugängliche Sprachstruktur, wenn sie zur Ergänzung von Wortfamilien vorgenommen werden. In diesem Punkt unterscheidet sich das Vor‐ gehen der romanischen Übersetzer stark von dem der deutschen. In den romanischen Sprachen wurden fehlende Glieder aus dem Lateinischen entlehnt und lautlich einiger‐ maßen an die jeweiligen phonetischen Verhältnisse angepasst. Im Deutschen wurden sie Morphem für Morphem aus eigenem Material nachgebildet. Zur Illustration beschränken wir uns auf einen Vergleich zwischen dem Französischen und dem Deutschen: cœur - cordial; frère - fraternel; loi - légal; eau − aqueux Herz - herzlich; Bruder - brüderlich; Gesetz - gesetzlich; Wasser − wässrig main - manuel; sûr - sécurité; aveugle - cécité; haut - altitude Hand - Handbuch; sicher - Sicherheit; blind - Blindheit; hoch - Höhe 45 3.2 Die Arbeit der frühen Übersetzer oder „Vulgarisatoren“ und ihre sprachlichen Konsequenzen <?page no="46"?> 5 Affranchi d’associations formelles, le mot se fait plus abstrait et s’intellectualise. Il ne porte pas en lui-même les indices explicites de sa signification: il se définit par rapport à d’autres termes, au champ associatif qui l’entoure. (Ullmann 1952, 130). semaine - hebdomadaire; foie - (maladie) hépatique Woche - Wochenzeitschrift; Leber − Leberkrankheit Das Französische geht in dieser Hinsicht weiter als die übrigen romanischen Sprachen. Wo im Italienischen dem Lexem settimana „Woche“ ein ‚durchsichtig‘ gebildetes settimanale „Wochenzeitschrift“ gegenübersteht, gibt es im Französischen einen Sprung zwischen einem Wort lateinischer zu einem Wort griechischer Herkunft. Für das Deutsche haben Sprachhistoriker gezeigt, dass die Nachbildungen lateinischer Wörter mit deutschem Sprachmaterial häufig in Übersetzungen auftreten (vgl. u. a. Eggers 1963, Kap. XI). Es han‐ delt sich dabei teils um genaue Nachbildungen, sog. Lehnübersetzungen, teils um freie Nachbildungen, sog. Lehnschöpfungen (vgl. Betz 1959). Zur Illustration seien wiederum nur wenige (etwas vereinfachte) Beispiele angeführt: contradictio → widersprâcha → Widerspruch (cf. frz. contradiction) redemptio → erlôsunga → Erlösung (wörtl. „Erlös“) (cf. frz. rédemption) circumstantia → umbestand → Umstände (cf. frz. circonstances) Im Englischen wurde nur in der frühesten Zeit ähnlich wie im Deutschen verfahren; bald nach der normannischen Eroberung durch William the Conqueror (1066) schließen sich englische Gelehrte und Übersetzer dem französischen Modell an und gehen später noch weit darüber hinaus. Nirgendwo wurde so unbekümmert aus den klassischen Sprachen entlehnt wie im Englischen. Ab dem 19. Jahrhundert gilt das bonmot: „Each Greek or Latin word is potentially an English word.‟ An dieser Stelle scheint ein kleiner sprachtypologischer Exkurs angebracht, der durchaus gewisse Verbindungslinien zur Übersetzungsgeschichte aufweist. Es geht um die Struktur‐ unterschiede zwischen dem deutschen und dem französischen Wortschatz. Der deutsche Wortschatz weist, wie die oben angeführten Beispiele gezeigt haben, einen weit höheren Grad an „Bildungsdurchsichtigkeit“ auf. Zwischen sicher und Sicherheit oder zwischen heidnisch und Heidentum besteht eine größere formale Kohäsion als zwischen sûr und sécurité oder zwischen païen und paganisme. Diese Erscheinung ist häufig im Sinne eines hohen Grades an Abstraktheit des französischen Wortschatzes interpretiert worden. So z. B. von Stephan Ullmann, in seinem Précis de sémantique française. Ullmann folgt hier einer von Charles Bally, dem Nachfolger Ferdinand de Saussures, vorgegebenen Interpre‐ tationslinie: Das Wort löst sich von allen formalen Anklängen und gewinnt damit einen abstrakteren und intellektuelleren Charakter. Die expliziten Anzeichen seiner Bedeutung haften ihm nicht unmit‐ telbar an, seine Definition ergibt sich vielmehr aus den Beziehungen zu anderen Ausdrücken, zu dem Assoziationsfeld, von dem es umgeben ist. (Eigene Übersetzung, J.A.) 5 An all dem ist sicherlich „etwas Wahres“ dran. Es stellt sich lediglich die Frage, ob man darin ein Zeichen von „Abstraktion“ zu sehen habe (vgl. Albrecht 1970, 26 ff.). Viel später geprägte charakterisierende Termini wie grammatische Sprache für das Deutsche und se‐ 46 3 „Vertikales“ und „horizontales“ Übersetzen im Mittelalter <?page no="47"?> mantische Sprache für das Französische treffen das Phänomen besser und sind frei von ideologischen Konnotationen. Im Übrigen darf man nicht vergessen, dass diese Erscheinung keineswegs auf das Fran‐ zösische beschränkt ist. In einer Mischsprache wie dem Englischen tritt sie ebenfalls häufig auf, doch hat unseres Wissens niemand deshalb dem Englischen einen besonders „ab‐ strakten“ Charakter zuschreiben wollen. Zunächst einige Beispiele für Dubletten oder Tripletten im Englischen: begin − commence − initiate hinder − prevent end − finish − conclude hide − conceal help − aid feed − nourish mount − ascend ask - question Natürlich sind diese Dubletten oder Tripletten in sprachhistorischer Hinsicht nicht genau mit den romanischen vergleichbar; vom Gesichtspunkt der Auswirkungen der Überset‐ zungstätigkeit auf den „Ausbau“ einer Volkssprache sind sie es jedoch sehr wohl. Der Wortschatz des Englischen insgesamt, d. h. unter Einbeziehung aller Varietäten vom sa‐ loppen Slang bis zur gepflegten Literatursprache, hat einen ungeheuer heterogenen Cha‐ rakter. Unmittelbar vergleichbar mit dem Französischen ist dagegen die sog. „Bildungsun‐ durchsichtigkeit“; auch das Englische weist oft sehr heterogene „Wortfamilien“ auf, wie die folgenden Beispiele zeigen: mouth - oral star - stellar nose - nasal town - urban eye - ocular man - human - viril Es lassen sich auch kuriose Gegenbeispiele angeben: frz. voler voleur vol dt. stehlen Dieb Diebstahl it. rubare ladro furto Ausgerechnet das Französische, dem viele Autoren einen hohen Grad an Bildungsundurch‐ sichtigkeit zuschreiben, erweist sich hier ‚durchsichtiger‘ als das Italienische oder das Deutsche. Nun aber schleunigst zurück zu unseren Übersetzern. Sie sind keineswegs allein für die hier besprochenen Erscheinungen verantwortlich zu machen. Sie haben unseres Erachtens jedoch mehr Anteil daran, als man gemeinhin zuzugestehen bereit ist. Das lässt sich belegen. Viele Übersetzer beklagen sich über die Armut ihrer Sprache und weisen z.T. ausdrücklich auf die Wörter hin, die sie aus dem Lateinischen übernehmen mussten, weil sie nichts Passendes in der Volkssprache gefunden haben. So beklagt ein lothringischer Übersetzer den Mangel an geeigneten Ausdrücken im Französischen; manche Gegenstände und Sachverhalte müsse man in der Volkssprache selonc lou latin, nach lateinischem Vorbild ausdrücken, wie z. B. iniquitas, iniquiteit, redemptio, redemption, misericordia, misericorde (vgl. Brunot 1966, I: 568f.). Die deutschen Übersetzer im Mittelalter standen vor derselben Schwierigkeit; anstatt zu entlehnen, behalfen sie sich mit Lehnübersetzungen: Un-gleich-heit; Barm-herz-ig-keit; Er-lös-ung. 47 3.2 Die Arbeit der frühen Übersetzer oder „Vulgarisatoren“ und ihre sprachlichen Konsequenzen <?page no="48"?> In italienischen oder spanischen Übersetzervorreden findet man ähnliche Klagen der Übersetzer über den Mangel an passenden Ausdrücken in ihren Sprachen, und gelegentlich entschuldigen sie sich ausdrücklich dafür, dass sie sich nur mit Entlehnungen zu helfen wussten. Da sich jedoch das Italienische in lautlicher Hinsicht weit weniger weit vom La‐ teinischen entfernt hat als das Französische (das Spanische nimmt diesbezüglich eine Mit‐ telposition ein), sind die Latinismen ziemlich unauffällig. Nur ein geschultes italienisches Ohr nimmt den Unterschied zwischen dem erbwörtlichen famiglia und dem dazugehörigen entlehnten Adjektiv familiare überhaupt wahr. In seiner umfassenden Untersuchung über Das Schicksal des lateinischen Wortschatzes in den romanischen Sprachen spricht Arnulf Stefenelli von einem lateinischen „Kultursu‐ perstrat“ in den romanischen Sprachen und unterscheidet drei Übernahmemotive und Funktionen der Latinismen: Auffüllung von eigentlichen Bezeichnungslücken (v. a. in den abstrakten Begriffsbereichen); Schaffung eindeutigerer und einfacherer Ausdrucksformen; die Ausbildung stilistisch gehobener Bezeichungsvarianten (Stefenelli 1992, 205). In den Fällen a) und b) spricht man traditionell von „Bedürfnislehnwörtern“; im Fall c), der im Deutschen und im Englischen häufiger vorkommt als in den romanischen Sprachen, von „Luxuslehnwörtern“. Einige wenige Beispiele müssen zur Illustration genügen; wir beschränken uns auf die in dieser Hinsicht besonders gut erforschte französische Sprache: Typ a) nature; opinion; présent; Typ b) éternel (statt: pardurable, qui n’a fin ni commencement); facile (statt: léger, ce qui est sans difficulté); ambition (statt: convoitise d’honneur); Typ c) vieillissement/ sénescence; pas d’âne/ tussilage; pet/ flatuosité Bei dem zuletzt angeführten Beispiel dient das „Luxuslehnwort“ als Euphemismus. Wer sich scheut, das Wort Furz zu schreiben, wird auf schamhafte Umschreibungen oder aber auf den Latinismus Flatulenz zurückgreifen. Der Typ c) verbreitet sich insbesondere in der Renaissance und in der frühen Neuzeit. Beteiligt sind vor allem Übersetzer im weitesten Sinne, d. h. Gelehrte, die regelmäßig sowohl mit lateinischen als auch mit volkssprachlichen Texten umgehen. Was die weitere Ent‐ wicklung angeht, so lässt sich im Deutschen und im Englischen weit eher von „Luxusent‐ lehnungen“ sprechen als im Französischen und in anderen romanischen Sprachen. In der Romania, ganz besonders im Französischen, treten die Luxuslehnwörter an die Stelle der volkstümlichen, die mit der Zeit völlig aus dem Sprachgebrauch verschwinden. Nicht so im Deutschen; hier entsteht in weiten Bereichen ein „zweistöckiger“ Wortschatz, der dem Sprechenden oder Schreibenden Wahlmöglichkeiten bietet: Advokat Alliteration Altruismus Ambiguität Appendizitis autochthon Anwalt Stabreim Nächsten‐ liebe Zweideutig‐ keit Blinddarm‐ entzündung eingeboren Im Bereich der Übernahmemotive b) und c) tritt eine Erscheinung auf, die die Gestalt der Texte im Mittelalter bis in die frühe Neuzeit hinein stark beeinflusst hat. Sie hat ihren Ursprung in der Übersetzung im engeren Sinn. Die Übersetzer entlehnen zwar ein Wort 48 3 „Vertikales“ und „horizontales“ Übersetzen im Mittelalter <?page no="49"?> 6 Cf. Curtius 2 1954, 36, Fn. 2. Dort werden weitere lateinische Übersetzungen und Bearbeitungen frz. und dt. mittelalterlicher Werke aufgeführt. aus dem Lateinischen, trauen dann aber ihren Lesern nicht so recht zu, dass sie dieses Wort wirklich verstehen, und hängen daher zur Erklärung ein volkstümlicheres (meist nicht im strengen Sinne synonymes) Wort hinten an. Man hat dieses Vorgehen „Synonymendopp‐ lung“ (binôme synonymique) genannt. So findet man z. B. in der berühmten Übersetzung von Schriften des Aristoteles, die Nicolas Oresme zwischen 1370 und 1377 angefertigt hat, folgende Synonymenpaare: agent et faiseur puissance auditive ou puissance de oïr vélocité et hastiveté „Täter“ „Hörfähigkeit“ „Geschwindigkeit“ In der ebenfalls sehr bekannten Liviusübersetzung von Pierre Bersuire (Berchoire; um 1350) heißt es: „les nouveaulx scripteurs cuident et opinent dire et réciter tousiours aucune chose plus vraie et plus certaine‟ (die neuen Schriftsteller denken und meinen immer etwas Wah‐ reres und Gewisseres zu sagen und vorzutragen; cf. Albrecht 1995, 21). Diese redundante Ausdrucksweise verselbständigte sich schnell zu einer Art von Stilmittel, das sich auch in Sprachen findet, in denen die Synonymendopplung im engeren Sinn ursprünglich nicht aufgetreten war, wobei die Reihenfolge oft umgekehrt wurde; das ‚schwierigere‘ Wort folgte dem ‚leichteren‘: swaz man guoter decke und kuvertiure vant (Kudrunepos, 13. Jh.) Shakespeare greift dieses Verfahren, das sich zu seiner Zeit bereits in den Kanzleistil aus‐ gebreitet hatte, in spielerischer Form auf, wie der folgende Passus aus Wie es euch gefällt belegt: Therefore, you clown, abandon - which is in the vulgar leave, - the society, - which in the boorish is company, − of this female, - which in the common is woman; which together is, abandon the society of this female … (Shakespeare, As You Like it, V, 1) Nun noch einige wenige Worte zum ascensus. Vereinzelt wurden auch im Hochmittelalter schon einige volkssprachliche Werke ins Lateinische übersetzt, so z. B. Heldenepen, chan‐ sons de geste. So gibt es eine im 13. Jahrhundert entstandene, stark kürzende und freie Übersetzung des Rolandliedes Carmen de prodicione Guenonis, „Lied vom Verrat des Ga‐ nelon“. 6 Auch dadurch wurde der Prozess der Relatinisierung verstärkt, so seltsam das auf den ersten Blick scheinen mag. Die Übersetzer, die lateinische Äquivalente für volkstüm‐ liche Wörter zu finden hatten, verwendeten diese später dann auch in französischen Texten, natürlich in leicht französierter Form. Insgesamt ist der ascensus im romanischen und im germanischen Bereich bis heute ein Forschungsgebiet weniger Spezialisten geblieben. Das hängt mit einer allgemeinen Ge‐ ringschätzung der Übersetzungsliteratur zusammen. Zur mittelalterlichen Literatur der ro‐ manischen und germanischen Völker gibt es eine reiche Literatur; das Gleiche gilt für die original mittellateinischen Texte. Die Übersetzungsliteratur wird meist stiefmütterlich be‐ handelt. Vor wenigen Jahren fand in Paris ein Kolloquium statt, das den Übersetzungen aus 49 3.2 Die Arbeit der frühen Übersetzer oder „Vulgarisatoren“ und ihre sprachlichen Konsequenzen <?page no="50"?> den romanischen Volkssprachen, in erster Linie aus dem Altfranzösischen, ins Lateinische gewidmet war. Dabei war mehrfach von Fällen die Rede, in denen zwei verschiedenspra‐ chige Texte desselben Autors vorliegen. Dabei ist es oft nicht leicht zu entscheiden, welche Fassung als Original und welche als Übersetzung anzusehen ist (cf. Fery-Hue 2014). Wie descensus und ascensus sich ergänzen können, zeigt der zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstandene Romulus Roberti, eine Fabelsammlung, die einen Teil des Isopet der Marie de France in freier lateinischer Übersetzung enthält. Die im 12. Jahrhundert in England le‐ bende französische Dichterin hatte ihren Stoff wiederum aus den lateinischen Fabeln des Aesop bezogen (cf. Brun 2013). Im Übrigen war der ascensus oft eine notwendige Zwischenstufe für die ersten Anfänge der horizontalen Übersetzung, die oft über eine lateinische Zwischenstufe erfolgte. Sebas‐ tian Brants 1494 in Basel erschienene, außerordentlich erfolgreiche Satire Das Narrenschiff wurde von Jakob Locher ins Lateinische übersetzt: Stultifera navis (Straßburg 1497). Diese Version war dann Grundlage für die französische und die englische Übersetzung: La nef des fous (1497); The Skyp of Folys (1509). Wir haben es hier mit frühen Beispielen für „Überset‐ zungen aus zweiter Hand“ zu tun (cf. Kap. 12). 3.3 Der Aufstieg der europäischen Volkssprachen in den Rang „würdiger“ Übersetzungssprachen Wie wir gesehen haben, hielt noch Cervantes zu Beginn des 17. Jahrhunderts das Übersetzen von einer Volkssprache in die andere, also das, was wir heute am häufigsten tun, für eine alberne Kinderei. Aber bereits im 15. Jahrhundert beginnt die horizontale Übersetzung eine immer größere Bedeutung anzunehmen. Es lässt sich ziemlich klar so etwas wie eine his‐ torische Reihenfolge erkennen, in der die verschiedenen europäischen Sprachen in den Rang ernst zu nehmender Sprachen aufsteigen, aus denen es sich zu übersetzen lohnt. Das lässt sich nicht nur anhand der französischen, sondern nahezu vollkommen analog auch anhand der deutschen Übersetzungsgeschichte belegen, wenn man die Chronologie der wichtigen Übersetzungen in diese beiden Sprachen zum Maßstab nimmt. Wir müssen uns an dieser Stelle mit sehr generischen Angaben begnügen; im neunten Kapitel werden ge‐ nauere Hinweise folgen: 1. Italienisch (zunächst fast ausschließlich Toskanisch genannt): Unter den tre corone sind es vor allem Petrarca und Boccaccio, die das Prestige des Toskanischen als Literatursprache begründen. Dante, ein auch im umgangssprachlichen Sinn des Wortes „mittelalterlicher“ Dichter, findet erst sehr viel später größere Beachtung. Antoine de Rivarol, der Herold der clarté française, zeigt sich entgegen seinen ästhetischen Überzeugungen fasziniert von den, wie er pflichtschuldig versichert, „bizarren“, aber äußerst präzisen und eindringlichen Bil‐ dern, die den Leser auf seiner Reise durch das Jenseits erwarten, und leitet mit seiner Pro‐ saübersetzung des Inferno ausgerechnet im Zeitalter der Aufklärung eine Dante-Renais‐ sance ein. Die beiden Renaissancedichter Ludovico Ariosto und Torquato Tasso sowie der florentinische politische Schriftsteller Niccolò Machiavelli stabilisieren das Ansehen, das sich das Italienische unter den Gebildeten in Europa erworben hat. 50 3 „Vertikales“ und „horizontales“ Übersetzen im Mittelalter <?page no="51"?> 2. Spanisch (genauer gesagt Kastilisch): Neben den großen Dramatikern des Siglo de Oro Lope de Vega und Calderón sind es vor allem die Vertreter der literatura picaresca, allen voran Mateo Alemán, die das Interesse der Übersetzer für spanische Texte wecken. Miguel de Cervantes wird, vor allem mit seinem Don Quijote, schnell zu einem Autor mit weltlite‐ rarischer Geltung. Das klassische französische Drama beginnt mit einem spanischen Stoff: le Cid von Pierre Corneille. 3. Französisch: Von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an gewinnt das Französische den hohen Rang und Verbreitungsgrad zurück, den es im Mittelalter schon einmal besessen hatte. Französische Autoren dominieren die europäische Literatur in allen literarischen und wissenschaftlichen Gattungen mit Ausnahme der Lyrik. Einige französische Sprachtheo‐ retiker sind geradezu stolz auf diese Tatsache - eine Sprache der Vernunft eigne sich nun einmal nicht für Lyrik. Sie sollten erst im 19. Jahrhundert mit dieser Ansicht Lügen gestraft werden, zu einer Zeit, als der Status des Französischen als einer langue universelle bereits etwas geschwächt war. 4. Englisch: Das Englische gewinnt seinen Rang als ‚bedeutende‘ Sprache zunächst nicht aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen, sondern aufgrund der Bedeutung der Schriftsteller, die diese Sprache gebrauchten. Schotten und Iren standen dabei den Englän‐ dern nicht nach. Neben den Vertretern der schönen Literatur, die die Frühromantik in Eu‐ ropa einleiten, sind es vor allem die Verfasser philosophischer und wissenschaftlicher Texte, die das Interesse der Übersetzer wecken. John Lockes Essay on Human Understanding wurde früh ins Französische übersetzt und hatte über Leibniz beträchtliche Auswirkungen auf die deutsche Philosophie. David Hume soll Kant, nach dessen eigener Aussage, aus seinem „dogmatischen Schlummer“ gerissen haben. Shakespeare wurde in seiner Eigenart am frü‐ hesten in Deutschland erkannt; ein deutscher oder französischer Shakespeare, der dem Original einigermaßen gerecht wurde, entstand jedoch erst im 19. Jahrhundert. 5. Deutsch: Zwei Werke der deutschen Literatur stehen am Anfang eines „Übersetzungs‐ exports“ (cf. Kap. 9) von nennenswerter Bedeutung: Goethes Werther, den sogar Napoleon gelesen hat, und Schillers Räuber. Von Anfang an beruhte das Ansehen des Deutschen als Übersetzungssprache weniger auf belletristischen als auf philosophischen und wissen‐ schaftlichen Texten. Die Anstrengungen, mit denen sich französische Übersetzer des deut‐ schen Idealismus von Kant bis Hegel angenommen haben, sind in übersetzungstheoreti‐ scher Hinsicht besonders bemerkenswert (cf. Espagne 2004). Fritz Nies hat nachgewiesen, dass das Deutsche in Frankreich bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach dem Lateinischen die wichtigste Ausgangssprache für Übersetzungen war. Dabei standen allerdings Sachtexte im Mittelpunkt (cf. Nies 2009, 61). 6. Russisch: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tritt die russische Literatur einen regelrechten Siegeszug in Europa an. Die Rezeption erfolgte zunächst über das Französi‐ sche, wobei die Werke in der frühen Phase der Übersetzungstätigkeit bis zur Unkenntlich‐ keit umgestaltet wurden. Fasziniert zeigte sich Mittel- und Westeuropa vor allem von neuen, ungewohnten Themen, die Autoren wie Turgenjew und Dostojewskij behandelten. Puschkin, Gogol oder Tolstoj profitierten von dieser Faszination etwas später. Was die übersetzerische Rezeption in Deutschland angeht, so spielten die zweisprachigen und bi‐ kulturellen Baltendeutschen eine bedeutende Rolle. Sie erfüllten eine Forderung, die Schlei‐ ermacher am Anfang des Jahrhunderts gestellt hatte: „Verfremden“ als „Verfahren im 51 3.3 Der Aufstieg der europäischen Volkssprachen in den Rang „würdiger“ Übersetzungssprachen <?page no="52"?> großen“ (Schleiermacher 1838, 230), durch das der Leser stufenweise in die ihm zunächst befremdlich erscheinende Welt versetzt wird. Das Russische hat das Deutsche als Ausgangssprache für Übersetzungen der schönen Literatur sehr schnell überholt. Das Deutsche hat sich jedoch bis zum Beginn des Natio‐ nalsozialismus noch als Ausgangssprache der Wissenschaft, vor allem der Sprachwissen‐ schaft, eine starke Position bewahrt. Vor allem in Italien wurde sehr viel aus dem Deutschen übersetzt. Heute ist ein dramatischer Prestigeverlust des Deutschen festzustellen. Das hat nicht nur politische Gründe. Es hängt bis zu einem gewissen Grad auch damit zusammen, dass viele Deutsche auf ihr ziemlich mäßiges Englisch so stolz sind, dass sie freiwillig darauf verzichten, sich ihrer Muttersprache zu bedienen. Manchen ist dabei nicht wirklich klar, wie erbärmlich diese Ausdrucksweise auf gebildete Amerikaner und Briten wirkt. 52 3 „Vertikales“ und „horizontales“ Übersetzen im Mittelalter <?page no="53"?> 1 Cf. Albrecht 1998, Kap. 4.3. 4 Der Einfluss der Übersetzungen auf die jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen Im dritten Kapitel ging es um einen spezifischen Aspekt der Übersetzungstätigkeit im Mit‐ telalter und in der frühen Neuzeit; nun soll unter einem allgemeineren Gesichtspunkt auf die Bedeutung der Übersetzung für den Ausbau der europäischen Sprachen und Literaturen insgesamt eingegangen werden. Zunächst wollen wir noch einmal etwas gründlicher auf einen Aspekt zurückkommen, der in Kapitel 1.3.2 bereits angeklungen ist, auf die Übertra‐ gung von Elementen einer (in der Regel prestigereichen) Ausgangsprache auf die Ziel‐ sprache auf dem Wege der Übersetzung. 4.1 Vom Nutzen und Nachteil der Übersetzung für die Sprache 1 Die Idee, man könne das Übersetzen dazu nutzen, die eigene Muttersprache zu bereichern, tritt schon in der Antike in Erscheinung. Bei Quintilian, der das System der antiken Rhetorik in eine Form gebracht hat, die für über ein Jahrtausend gültig blieb, steht zunächst die Verbesserung der individuellen Ausdrucksfähigkeit im Vordergrund. Im zehnten Buch seines Hauptwerks, der Institutio oratoria (X, 5, 2), heißt es: Die Übung, Griechisches in Latein zu verwandeln, haben unsere alten Redner für das beste hierbei [scil. zur Bereicherung der eigenen Ausdrucksfähigkeit] erachtet. […] Auch liegt ja der Sinn dieser Übung auf der Hand; denn schon in der Fülle der Gegenstände, von denen sie reden, sind die griechischen Autoren überreich und haben auch auf ihren Ausdruck die höchste Kunst aufgewendet; und sodann kann man, wenn man diese Muster ins Lateinische überträgt, die besten Worte verwenden […]. Bei den Redefiguren, in denen hauptsächlich der Schmuck der Rede liegt, besteht zudem geradezu die Notwendigkeit, für sie und ihren bunten Wechsel immer wieder neue Möglichkeiten auszudenken, weil hier das Römische meist vom Griechischen abweicht. (Quinti‐ lian/ Rahn 2 1988, 515) Dieses Motiv, die Bereicherung der eigenen Ausdrucksfähigkeit durch die Übersetzung, wird dann ab dem Spätmittelalter und der Frührenaissance durch ein eng damit zusam‐ menhängendes weiteres Motiv ergänzt: die Bereicherung der Muttersprache, der Ziel‐ sprache des Übersetzers. Besonders eindringlich hat dies Heide Pohling, eine der Pionierinnen auf dem Gebiet der Übersetzungsgeschichte, zum Ausdruck gebracht: Bis hinein ins 18. Jahrhundert waren spracherzieherische Bestrebungen, das Anliegen, die Mut‐ tersprache zu bereichern und zu vervollkommnen, sie in den Rang einer Dichtersprache zu er‐ heben, ja ihren Gebrauch erst einmal zu verteidigen und zu rechtfertigen, spürbar als Antrieb und Zielstellung mit der Übersetzungstätigkeit verknüpft. (Pohling 1971, 141) <?page no="54"?> 2 … les Traductions quand elles sont bien faites, peuvent beaucoup enrichir une Langue. Car le Tra‐ ducteur pourra faire Française une belle locution Latine ou Grecque: et apporter en sa Cité, avec le poids des sentences, la majesté des clauses et élégances de la langue étrangère … (Peletier Du Mans 1939 [1555]), 106 f.). Die phonetische Orthographie des Sprachreformers Peletier wurde den heutigen Normen angepasst. 3 Du Bellay hatte die Schrift, eine Verteidigung des Toskanischen, in Rom kennengelernt und Teile davon wörtlich übernommen. Überall dort, wo von lingua toscana die Rede ist, hat er langue françoise eingesetzt. Einige Zitate, vorwiegend von Autoren, die sich unter anderem auch auf dem Gebiet der Sprachpflege hervorgetan haben, sollen dieses Anliegen dokumentieren: Sir Thomas Elyot, der zur Zeit Heinrichs VIII. lebte und ein lateinisch-englisches Wör‐ terbuch verfasst hat, versichert in der Vorrede zu seinem Buch Of the Knowledge which Maketh a Wise Man (1533), er habe die Absicht … to augment our Englyshe tongue, whereby men shulde as well expresse more abundantly the thynge that they conceyued theyr hartis […] hauynge words apte for the pourpose: as also inter‐ prete out of greke, latyn or any other tongue into Englyshe. (zit. nach Nevalainen 1999, 359; cf. Amos 1920, 95) Jacques Peletier du Mans, neben Joachim Du Bellay und Pierre Ronsard eines der bekannteren Mitglieder der auf sprachpflegerischem Gebiet sehr aktiven französischen Dichter‐ gruppe La Pléiade, beschreibt in seinem Art poétique genauer, wie man dabei vorzugehen hat: … die Übersetzungen können, wenn sie gut gemacht sind, eine Sprache sehr bereichern; denn der Übersetzer kann aus einer schönen lateinischen oder griechischen Redewendung eine französische machen und seinem Heimatland zugleich mit dem Gewicht der mitgeteilten Gedanken auch die Erhabenheit der Ausdrucksweise und die Feinheiten der fremden Sprache zukommen lassen. (ei‐ gene Übersetzung, J.A.) 2 Sein Kollege Du Bellay war da zunächst einmal anderer Meinung. In seinem berühmten Traktat La Deffence et Illustration de la Langue Francoise (1549), der erst Ende des 19. Jahr‐ hunderts als partielles Plagiat des Dialogo delle lingue von Sperone Speroni entlarvt wurde 3 , ist ein Kapitel folgendermaßen überschrieben: Dass die Übersetzungen nicht aus‐ reichen, um der französischen Sprache Vollkommenheit zu verleihen (Que les traductions ne sont suffisantes pour donner perfection à la Langue Francoise: Teil I; Kap. 5). Du Bellay spricht sich gegen Entlehnungen und für freie Nachbildungen aus. Für die strengen Wissenschaften macht er allerdings eine Ausnahme. Auf dem Gebiet des enzyklopädischen Wissens sei der „Eifer der getreuen Übersetzer“ (l’Industrie des fidèles Traducteurs) durchaus nützlich und notwendig; schließlich hätten die Römer selbst Wörter wie Rhetorique, Musique, Arithme‐ tique, Gëometrie und Phylosophie aus dem Griechischen übernommen (Ibid., Teil I, Kap. 10). Niklas von Wyle (um 1410-1478), ein Schweizer, der meist im Dienste schwäbischer freier Reichsstädte stand, ist wegen seiner extrem wörtlichen Übersetzungsmethode bekannt. Er bekennt sich auch ausdrücklich dazu und sieht in diesem Verfahren ein Mittel der Sprach‐ bereicherung. Er vertritt die Auffassung: 54 4 Der Einfluss der Übersetzungen auf die jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen <?page no="55"?> 4 Zit. nach Strauß 1912, 3. Vgl. ebenfalls Pohling 1971, 138 und Koller 1984, 121. … daz ein yetklich tütsch, daz usz gutem zierlichen und wol gesatzten latine gezogen und recht und wol getransferyeret wer, ouch gut zierlich tütsche und lobes wirdig, haissen und sin müste … 4 Der Schlesier Martin Opitz, der sich durch die Wiederentdeckung des Prinzips der akzent‐ zählenden Metrik, die im Gegensatz zur silbenzählenden Metrik der romanischen Sprachen steht, den Beinamen „Vater der deutschen Poesie“ erworben hatte, bekennt sich noch zu einer Zeit zu diesem Verfahren, als in Frankreich bereits die Epoche der belles infidèles begonnen hatte: Eine guete art der vbung aber ist/ das wir vns zueweilen auß den Griechischen vnd Lateinischen Poeten etwas zue vbersetzen vornemen: dadurch denn die eigenschafft vnd glantz der wörter/ die menge der figuren/ und das vermögen auch dergleichen zu erfinden zue wege gebracht wird. (Opitz 1978 [um 1625], Bd. II, 409 f.) Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658), Mitglied des sog. Pegnesischen Blumenordens, einer der zahlreichen deutschen Sprachgesellschaften, die fast alle älter sind als die Académie Française, wurde wegen seiner reichlich mechanischen Poetik als Erfinder des poetischen Trichters - vulgo „Nürnberger Trichter“ − verspottet. Auch er sieht in der Übersetzung ein Mittel der Sprachbereicherung: Wir haben denen, welche gute Bücher in Teutsch übersetzen, so viel Dank zu sagen, als welche Wege, Brucken, Stege bauen, oder nutzbare Brunnen graben, und sie gemein machen. (Harsdörffer, Gesprächspiele, Dritter Theil, 1643, 60) Und selbst noch am Anfang des 19. Jahrhunderts spricht sich Wilhelm von Humboldt, der Sprachphilosoph und Reformator der preußischen Universität, nun allerdings in einem völlig neuen ideengeschichtlichen Zusammenhang, dafür aus, durch Übersetzungen, spe‐ ziell durch die Übersetzung von Literatur, nicht nur die eigene Sprache, sondern auch die eigene Kultur zu bereichern. In der Vorrede zu seiner Übersetzung des Agamemnon von Aischylos schrieb er: Das Uebersetzen und gerade der Dichter ist vielmehr eine der nothwendigsten Arbeiten in einer Literatur, theils um den nicht Sprachkundigen ihnen sonst ganz unbekannt bleibende Formen der Kunst und der Menschheit, wodurch jede Nation immer bedeutend gewinnt, zuzuführen, theils aber und vorzüglich, zur Erweiterung der Bedeutsamkeit und der Ausdrucksfähigkeit der eignen Sprache. Denn es ist die wunderbare Eigenschaft der Sprachen, dass alle erst zu dem gewöhnlichen Gebrauche des Lebens hinreichen, dann aber durch den Geist der Nation, die sie bearbeitet, bis ins Unendliche hin zu einem höheren, und immer mannigfaltigeren gesteigert werden können. (Hum‐ boldt 1973 [1816], 81) In späteren Epochen, spätestens dann, wenn die Sprachpfleger der Ansicht sind, ihre Mut‐ tersprache habe einen hinreichenden Grad an Vollkommenheit erreicht und es gelte nun, ihre Eigenständigkeit zu wahren, werden Übernahmen aus fremden Sprachen nicht mehr als „Bereicherung“, sondern als „Verunstaltung“ empfunden. Als einer der Ersten sprach 55 4.1 Vom Nutzen und Nachteil der Übersetzung für die Sprache <?page no="56"?> sich Justus Georg Schottel (Schottelius) gegen allzu viele Entlehnungen beim Übersetzen aus. Er dachte dabei wohl nicht so sehr an absichtliche Entlehnungen als vielmehr an Über‐ nahmen aus Gedankenlosigkeit. Seine Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache (1663), die erste ausgearbeitete neuhochdeutsche Grammatik, enthält ein Kapitel, das mit „Wie man recht verteutschen soll“ überschrieben ist. Dort wird das gedankenlose Entlehnen der Übersetzer aus fremden Sprachen bereits als Unart kritisiert (cf. Albrecht 1998, 152). Wir werden auf die negativen Kommentare zu den Entlehnungen noch einmal zurück‐ kommen (cf. infra 4.4). Für die moderne Übersetzungspraxis gilt die Zielsprache gemeinhin als unveränderliche Größe (cf. supra 1.3.2). Übernahmen aus der Ausgangssprache müssen eigens gerechtfertigt werden. Kick the bucket mit „den Eimer umtreten“ statt mit „den Löffel abgeben“ oder „ab‐ kratzen“ wiederzugeben, darf sich allenfalls ein Peter Handke erlauben, und auch er muss sich Kritik gefallen lassen, wenn er sich dergleichen mit slowenischen Phraseologismen erlaubt. Übernahmen aus Nachlässigkeit beim Übersetzen im engeren und weiteren Sinn sind hingegen Legion. Man wagt schon kaum mehr darauf hinzuweisen, dass Fügungen wie „in 2016 macht das keinen Sinn“ ‚kein Deutsch‘ sind. Wir werden im achten Kapitel in einem anderen Zusammenhang auf die Übernahmen aus der Ausgangssprache eingehen, die nicht so sehr als Bereicherung der Zielsprache zu verstehen sind, sondern eher als Kunstgriff zur Erzielung bestimmter Wirkungen. 4.2 Der Beitrag der Übersetzer zum Ausbau der europäischen Volkssprachen Das Wichtigste hierzu ist bereits in Kapitel 3.2 ausgeführt worden, als es um die Auswir‐ kungen des vertikalen Übersetzens auf die europäischen Volkssprachen ging. Der Einfluss der Übersetzung aus dem Lateinischen war naturgemäß in den romanischen Sprachen be‐ sonders spürbar. Wir haben gesehen, dass das Übersetzen aus dem Lateinischen die „Rela‐ tinisierung“ dieser Sprachen gefördert hat. Dadurch wurde der Jahrhunderte andauernde Prozess der Diversifizierung zumindest in den höheren Registern in sein Gegenteil verkehrt. Je höher das Register, in dem man sich bewegt, desto ähnlicher werden sich die modernen romanischen Sprachen. Der Gebildete, der z. B. Spanisch nicht wirklich gelernt hat, findet sich - wenn er, nehmen wir einmal an, Französisch kann - im wissenschaftlich abstrakten Vokabular am leichtesten zurecht, weil er dort fast alles spontan wiedererkennt. Das gilt mutatis mutandis auch für das Englische, von dem im nächsten Kapitel die Rede sein wird. Im Deutschen ist der Einfluss des Lateinischen nicht so unmittelbar sichtbar. Wer sieht einem bieder deutsch aussehenden Wort wie Barmherzigkeit schon an, dass es nach lateinischem Vorbild geprägt wurde? Wir wollen in solchen Fällen von „verdeckter Latinisie‐ rung“ sprechen. Die slawische Welt ist im Hinblick auf den Einfluss des Lateinischen zwei‐ geteilt: Während das Lateinische spürbar auf die westslawischen Sprachen eingewirkt hat, blieb das Russische dieser Einwirkung lange Zeit entzogen. Hier hat es lediglich einen in‐ direkten griechischen Einfluss über das Altkirchenslawische gegeben. Für die „verdeckte Latinisierung“ des Deutschen gilt in noch höherem Maße als für die Relatinisierung der romanischen Sprachen, dass es sich dabei um ein auf die Übersetzungs‐ 56 4 Der Einfluss der Übersetzungen auf die jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen <?page no="57"?> tätigkeit zurückzuführendes Phänomen handelt, auf Übersetzung im engeren, gelegentlich auch im weiteren Sinn, in jedem Fall jedoch auf schriftlichen Sprachkontakt. Entlehnungen, die auf mündliche Sprachkontakte zurückgehen, manifestieren sich in ganz anderer Form. Wenn ein mittelalterlicher Gelehrter in einem lateinischen Text auf ein Wort stieß, das seinem Ausdrucksbedürfnis entgegenkam, und er es in seinen eigenen Text nicht als Lati‐ nismus, sondern in Form einer Lehnübersetzung einfügte, so wollen wir von „Übersetzung im weiteren Sinn“ sprechen. 4.3 Die „verdeckte“ Latinisierung des Deutschen Die oratio dominica, das Pater noster, gehört zu den am häufigsten übersetzten Texten überhaupt. Missionare haben es in die entlegensten Sprachen der Welt übertragen, auch in solche, in die die Bibel nie vollständig übersetzt wurde. Nicht umsonst hat der deut‐ sche Sprachforscher Johann Christoph Adelung seine große Übersicht über die Sprachen der Welt anhand des „Vaterunser“ dokumentiert: Mithridates oder allgemeine Sprachen‐ kunde mit dem Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünfhundert Sprachen und Mund‐ arten (Berlin 1806). Das Werk wurde drei Jahre später von Johann Severin Vater durch einen zweiten Teil abgeschlossen (cf. Lüdtke 1978, 9). Von diesem Gebet, das Jesus seine Jünger auf deren ausdrückliche Bitte hin gelehrt hat, gibt es zwei Fassungen: Die bekanntere erscheint bei Matthäus 6, 9-13 in der Bergpredigt; die weniger bekannte steht bei Lukas 11, 2-4. Diese enthält nur fünf an Stelle von sieben Bitten und dürfte der aramäischen Urfassung näher kommen als die bei Matthäus wieder‐ gegebene Version. Während dort die Anrede in der lateinischen Fassung Pater noster lautet, wie wir es gewohnt sind, heißt es bei Lukas schlicht Pater (abba). Nur die dritte Bitte ist in der Fassung bei Lukas in der späteren Überlieferung weiter verbreitet als die durch Mat‐ thäus überlieferte. Während es bei Lukas schlicht heißt: Panem nostrum quotidianum da nobis hodie ist bei Matthäus, in der Vulgataversion, von panem nostrum supersubstantialem die Rede. Bei Luther steht - wohlgemerkt in der Matthäusversion - unser täglich Brot, in der King James-Version our daily bread. Auch die Bible de Jérusalem (wir werden auf die hier nur kurz erwähnten Bibelversionen im sechsten Kapitel zurückkommen) hat bei Mat‐ thäus pain quotidien, weist jedoch in einer Fußnote auf Interpretationsprobleme hin, ge‐ meint sei vermutlich das Brot der Eucharistie. Die neueren deutschen Übersetzungen wei‐ chen hier stark von der altvertrauten Fassung ab und stützen sich sichtlich auf neuere Forschungen: Die Einheitsübersetzung hat: Gib uns heute das Brot, das wir brauchen, und in der Gute Nachricht Bibel findet man: Gib uns, was wir heute zum Leben brauchen. Hier wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Brot für Deutsche nicht unbedingt ein Grundnah‐ rungsmittel ist. In beiden Fällen ist der Bezug zu dem bei Lukas zu findenden Attribut quotidianum unverkennbar. Hier soll nun gezeigt werden, wie sich deutsche Übersetzer im Mittelalter mit der syn‐ taktisch schwierigen Fassung der ersten Bitte bei Matthäus abgequält haben. Sie lautet in der Vulgata: Pater noster, qui es in caelis: sanctificetur nomen tuum. 57 4.3 Die „verdeckte“ Latinisierung des Deutschen <?page no="58"?> 5 Alle Texte nach Eggers 1963, Anhang II. Der Passus aus Otfrids Evangelienbuch wurde aus der Aus‐ gabe der Altdeutschen Textbibliothek, Nr. 49, Tübingen 1957, p. 94 ergänzt. In verschiedenen althochdeutschen Versionen wird sie folgendermaßen wiedergegeben: Fater unseer, thû pist in himile, uuîhi namun dînan … (St. Galler Paternoster, Ende 8. Jh. alemannisch) Fater unsêr, der ist in himilom, kaeuuîhit werde dîn namo … (Paternoster, bairisch, 9. Jh.) Fater unsêr, thu in himilom bist, giuuîhit sî namo thîn. (Weißenburger Katechismus, Anfang 9. Jh., rheinfränkisch) Q U O M O D O S I T O R A N D U M , E T D E O R A T I O N E D O MI N I C A […] Sos ih íuih ubar ál hiar nu léren scal; Firfáhent iogilícho thiu iz allaz gáralicho: Fáter unser gúato, bist drúhtin thu gimýato In hímilon io hóher, wih si námo thiner. (Aus dem Evangelienbuch des Otfrid von Weißenburg II, 21, südrheinfränkisch, um 870) 5 Es soll nun auf einige sprachliche Schwierigkeiten eingegangen werden, mit denen sich die deutschen Übersetzer im frühen Mittelalter auseinanderzusetzen hatten: 1. Ungewöhnliche Wortstellung: Nachgestellte Possessivpronomen wie Pater noster und nomen tuum dürften in den germanischen Dialekten des frühen Mittelalters genauso un‐ gewöhnlich gewesen sein wie in den heutigen germanischen Sprachen. Da die althoch‐ deutsche Literatur im Wesentlichen aus Übersetzungen oder Nachdichtungen besteht, ist es nicht immer leicht zu entscheiden, ob ein Phänomen dem damaligen Sprachgefühl ent‐ spricht oder ob es der lateinischen Vorlage nachgebildet ist. Bemerkenswert scheint, dass in Otfrids poetischer Nachdichtung (ein volgarizzamento, das an dasjenige Dantes im Pur‐ gatorio erinnert; cf. supra 3.2) in beiden Fällen die lateinische Wortfolge gewahrt bleibt. Die Reihenfolge Vater unser ist in allen hier wiedergegebenen althochdeutschen Texten er‐ halten; der Typ Namen deiner ist ebenfalls stark vertreten, nur der altbairische Text weist bereits die moderne Wortstellung auf. Luther hatte von Anfang an Unser Vater in dem Himmel, daneben ist jedoch bis in die jüngere Vergangenheit der Typ Vater unser, der du bist im Himmel verbreitet. Dieser Wortfolgetyp geht auf eine Übersetzungsauffassung zu‐ rück, die in der Bibel einen sakrosankten Text sieht, an dem so wenig wie möglich verändert werden darf (cf. infra 6.1). Er hat sich im Laufe der Zeit verselbständigt; man könnte von einer Lexikalisierung des Syntagmas sprechen. Mit das Vater unser oder mit Vater unser, der du bist … haben wir keine Schwierigkeiten, jedoch würde niemand sagen: „*Vorsicht, Vater unser ist heute mal wieder schlechter Laune! “ In den westromanischen Sprachen ist die Voranstellung des Possessivpronomens (genauer des Possessivadjektivs) schon früh mit dem Übergang des Artikels zur Proklise eingetreten. In süditalienischen Dialekten kann es heute noch nachgestellt werden. Daher lässt sich nicht so einfach entscheiden, ob Il Padre nostro oder Padre nostro che sei nei cieli … als Übersetzungslatinismus oder als altertümliches bzw. regionales Italienisch anzusehen ist. Da es aber im Spanischen ebenfalls Padre nuestro 58 4 Der Einfluss der Übersetzungen auf die jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen <?page no="59"?> 6 In einer von Klaus Heger (1967) zusammengestellten Sammlung des Vater unser in 39 romanischen Sprachen und Dialekten ergibt sich folgende Verteilung: Immerhin 22 unter ihnen weisen den Typ pater noster, nur 7 dagegen den Typ nomen tuum auf. und Padre nuestro, que estas en los cielos… heißt, scheint die Annahme eines Übersetzungs‐ latinismus plausibler. 6 2. Der Plural caeli oder coeli im christlichen Latein wird anfangs noch nachgeahmt, später nicht mehr. Unter den oben wiedergegebenen Beispielen hat nur das Sankt Gallener Pa‐ ternoster bereits den Singular. Das Wort Himmel bedeutete ursprünglich „Himmelsge‐ wölbe“ und galt nicht als Wohnsitz der germanischen Götter. Da kam der Plural mögli‐ cherweise gerade recht; denn er deutete klar an, dass mit dem Wort etwas Besonderes gemeint sein musste. Er leitet sich von der bereits in der Antike verbreiteten Vorstellung mehrerer übereinanderliegender Himmel ab. Der Plural findet sich sporadisch auch im neueren Deutsch. In Christian Fürchtegott Gellerts dem 19. Psalm nachgedichteten Lied Die Ehre Gottes aus der Natur, das von Beethoven vertont wurde, heißt es „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre …“. In den romanischen Sprachen ist der Plural, wie bereits deut‐ lich wurde, im Bibeltext weiterhin üblich, auch im Französischen. In der Bible de Jérusalem findet man: Notre Père qui es dans les cieux; in früheren katholischen Bibeln, in denen Gott mit Sie angeredet wird: Notre Père qui vous êtes dans les cieux. 3. Ein Relativsatz, der mit der 2. Person an sein Bezugswort anschließt, ist im Deutschen einigermaßen ungewöhnlich. Dafür gibt es bis heute nur zwei Möglichkeiten: Einfügung des Pronomens du oder Ausweichen auf die dritte Person, der du im Himmel bist oder der im Himmel ist. Unter den oben wiedergegebenen Beispielen weist nur der bairische Text überhaupt einen Relativsatz auf (mit Anschluss in der dritten Person). Wie die Beispiele zeigen, kann in den romanischen Sprachen die lateinische Konstruktion nachgeahmt werden. Das gilt auch für das ältere Englisch. In der King James Version lautet die erste Bitte: Our Father which (sic! ) art in heaven … Luther hat die Schwierigkeit mit einer idio‐ matischen Lösung umgangen: „Unser Vater in dem Himmel“. 4. Der Optativ Passiv sanctificetur „werde geheiligt“. So etwas gab es im älteren Deutsch noch nicht; wahrscheinlich sind an der Entstehung der Umschreibung des Passivs durch sein oder werden (cf. die oben wiedergegebenen Beispiele) im Deutschen die frühen Über‐ setzer beteiligt, die bestimmte lateinische Formen nachbilden mussten. In der Sprachge‐ schichte von Hans Eggers (1963, 194) wird die Fassung des Sankt Gallener Paternosters wîhi namun dînan „weihe deinen Namen“ als „Übersetzungsfehler“ eingestuft. Diese Lösung scheint jedoch einem modernen Verständnis dieser Bitte zu entsprechen. In der Gute Nach‐ richt Bibel, eine nach amerikanischem Vorbild in moderner Umgangssprache gehaltene Bi‐ belfassung, findet man: „Mach deinen Namen groß in der Welt“. Das waren nur wenige Beispiele für die Wirkung, die das Lateinische, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Übersetzungstätigkeit, in nicht unmittelbar erkennbarer Form auf das Althochdeutsche ausgeübt hat. Eine weitere „verdeckte Latinisierung“ des Deutschen hat sich bereits in vorchristlicher Zeit vollzogen. Ein Teil der Namen unserer Wochentage (Dienstag, Donnerstag und Freitag) leiten sich von germanischen Gottheiten aus dem Ge‐ schlecht der Asen ab, wobei die jeweils entsprechenden römischen Gottheiten Pate ge‐ standen haben - die antike und die germanische Mythologie sind so eng verwandt, dass es 59 4.3 Die „verdeckte“ Latinisierung des Deutschen <?page no="60"?> 7 All dies wird ausführlicher in Albrecht (erscheint), Abschnitt 2 dargestellt. für eine solche Substitution keines Gelehrten bedurfte. So trat z. B. für Venus (Veneris dies, vendredi usw.) Freia ein (Freitag), beide waren die femmes fatales der jeweiligen Götterwelt. Auch der Mond galt als Gottheit. So findet sich der Tag des Mondes (lunae dies, lundi etc.) im Deutschen als Montag wieder. Die Frage, ob diese Entsprechungen auf mündlichen oder schriftlichen Sprachkontakt zurückzuführen sind, dürfte sich nicht leicht entscheiden lassen. 4.4 Die Verbreitung lexikalischen und syntaktischen Lehnguts durch die Übersetzung 7 Die Übersetzung ist eine der Formen des Sprachkontakts, über den Lehngut vermittelt werden kann. Umfangreiche Wörterbücher geben manchmal Übersetzungen als Erstbelege für ein entlehntes Wort an. Dass einige Übersetzer in ihren Vorreden selbst auf die Entleh‐ nungen hinweisen, die sie vorgenommen haben, wurde bereits in Kapitel 3.2 erwähnt. In seltenen Fällen ist die Geschichte einer Übernahme genau dokumentiert: Als sich der be‐ kannte Übersetzer Johann Joachim Christoph Bode (cf. infra, Kap. 10.4) anschickte, Lau‐ rence Sternes Sentimental Journey through France and Italy (1768) zu übersetzen, empfahl ihm Lessing, sentimental durch die Lehnschöpfung empfindsam wiederzugeben. Die Über‐ setzung erschien dann unter dem Titel Yori(c)ks empfindsame Reisen durch Frankreich und Italien. Die Lehnschöpfung empfindsam wurde schließlich zur Bezeichnung einer Epoche der deutschen Literaturgeschichte herangezogen. Vor der Behandlung des eigentlichen Themas möchten wir zunächst einmal einen not‐ gedrungen grob schematischen Überblick über die Aspekte liefern, unter denen das Ge‐ samtphänomen „Sprachkontakt“ betrachtet werden kann. In diesem Zusammenhang stellen sich zunächst zwei zusammengehörige Fragen: 1. In welcher Form kann sich Sprach‐ kontakt manifestieren, und 2. welches sind die Bereiche einer Sprache, auf die er sich aus‐ wirkt? Der Übersetzung, unserem eigentlichen Thema, soll dabei unsere besondere Auf‐ merksamkeit gelten: 60 4 Der Einfluss der Übersetzungen auf die jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen <?page no="61"?> Was die erste Unterscheidung betrifft, so genügt es in diesem Zusammenhang an einige Fakten zu erinnern, die aus der Mündlichkeit-Schriftlichkeit-Forschung wohlbekannt sind: Mündliche Kontakte treten früher auf als schriftliche, sie führen in der Regel zu weniger einheitlichen Ergebnissen (das heißt, sie weisen in der Regel mehr Varianten auf als schrift‐ liche) und sie sind weniger stark an bestimmte soziale Schichten gebunden. Der schriftliche Sprachkontakt breitet sich beim Übergang von der sporadischen zur systematischen Form (cf. infra) in der Regel von „oben“ nach „unten“ aus. Es dauert gewöhnlich lange, bis seine Auswirkungen auch die niedrigeren Soziolekte und Register erreichen. Mündliche Sprachkontakte sollen „sporadisch“ genannt werden, wenn sie sich bei ein‐ zelnen Individuen beobachten lassen. Dazu gehören Entlehnungen der unterschiedlichsten Art, die (noch) nicht von der Allgemeinheit übernommen wurden. Zu den systematischen Manifestationen des mündlichen Sprachkontakts zählen alle Entlehnungen, die Gemeingut geworden sind. Das heißt nicht, dass sie im gesamten Varietätenspektrum einer Sprache präsent sein müssen; die Ergebnisse mündlicher Sprachkontakte „wandern“ - ganz im Ge‐ gensatz zu den Auswirkungen der schriftlichen Kontakte - gelegentlich von „unten“ nach „oben“. Was nun die Sprachkontakte im Medium der Schrift angeht, die uns hier interessieren, so lässt sich die Unterscheidung zwischen „sporadisch“ und „systematisch“ nur in Form von Kreuzklassifikation mit einer weiteren Unterscheidung auf den Gegenstandsbereich anwenden, nämlich mit der Unterscheidung zwischen „Nachahmung fremder Muster“ und „Übersetzung stricto sensu“ (cf. supra, unser Schema). In beiden Fällen können sporadische, d. h. nur in einzelnen Texten beobachtbare Entlehnungen auftreten und in beiden Fällen können Entlehnungen (zumindest innerhalb bestimmter Varietäten einer Sprache) Ge‐ meingut werden. Die „Nachahmung fremder Muster“ wollen wir hier als „Übersetzung im weiteren Sinn“ verstehen und mitberücksichtigen. Darüber hinaus müssen wir uns die Frage stellen, welche Bereiche einer Einzelsprache vom Sprachkontakt betroffen sein können. Für die hier verfolgten Ziele genügt eine sehr einfache Gliederung: 61 4.4 Die Verbreitung lexikalischen und syntaktischen Lehnguts durch die Übersetzung <?page no="62"?> - Lexikon - Grammatik (im weiteren Sinn) - Textgestaltung (Diskurstraditionen) Die Untersuchungen zum Lehngut, gewissermaßen die „Keimzelle“ der Sprachkontaktfor‐ schung, haben sich von jeher auf den Wortschatz konzentriert. In der Tat sind lexikalische Entlehnungen als Folge von Sprachkontakten ein Phänomen, das selbst dem unaufmerk‐ samen und ungeschulten Beobachter am ehesten auffällt. Weniger auffällig sind die Aus‐ wirkungen von Sprachkontakten auf die Grammatik einer Sprache. Der Begriff „Gram‐ matik“ soll hier viel weiter gefasst werden als zum Teil noch heute in den romanischen Ländern üblich, wo er auf die Morphologie und die Morphosyntax beschränkt ist. Hier soll darunter ein sehr weiter Bereich verstanden werden, der von der Phonologie bis zur Syntax der Periode reicht und in seiner Gesamtheit von Sprachkontakten betroffen sein kann. Zumindest aus zwei Gründen müssen auch Textgestaltungsmuster („Diskurstraditionen“) bei der Untersuchung berücksichtigt werden. Zum einen sind gerade in diesem Bereich Kontaktphänomene sehr zahlreich, man denke nur an die Gruß- und Anredeformen sowie an die Phraseologie. Zum anderen stehen Diskurstypen in der kollektiven Vorstellung häufig stellvertretend für Sprachen. Wenn z. B. behauptet wird, das Lateinische sei beson‐ ders logisch und fördere daher das logische Denken oder das Französische sei besonders „klar“, so betreffen Aussagen dieser Art, wenn sie denn überhaupt einen Sinn haben, nicht die betreffende Sprache insgesamt, sondern gewisse Diskurstraditionen, die in der betreff‐ enden Sprachgemeinschaft einen besonderen Stellenwert besitzen (cf. Albrecht 2001, Ab‐ schnitt 2.1). Und so geht es, wenn von dem starken Einfluss die Rede ist, den eine bestimmte Sprache in einer gewissen Epoche auf eine andere ausgeübt haben soll, bei genauerem Hinsehen meist um einen bestimmten Diskurstyp, nicht um die gesamte Sprache. Diskurs‐ typen werden am häufigsten spontan durch die Übersetzung modifiziert oder überhaupt erst in eine Sprache neu eingeführt (cf. infra 4.5). Schließlich hat man bei der Untersuchung der Auswirkungen von Sprachkontakten da‐ rauf zu achten, ob diese mehr oder weniger zufällig eingetreten sind oder aber geplant vorgenommen wurden. Im spezifischen Fall der Übersetzung bedeutet dies: Übernahme aus Bequemlichkeit oder Gedankenlosigkeit oder aber bewusste Übernahme zur Erzielung eines bestimmten Zwecks. Wenn es um die Bewertung von Entlehnungen als „Bereiche‐ rung“ oder als „Verunstaltung“ der Sprache geht (cf. supra 4.1), werden selbst eingefleischte Puristen vom Übersetzer bewusst vorgenommene Entlehnungen eher akzeptieren als solche, die ihm aus Gedankenlosigkeit oder Bequemlichkeit unterlaufen sind. Die Entlehnungen im Bereich des Lexikons sind in den meisten Sprachen Legion. Es ist in vielen Fällen leichter zu zeigen, dass sie durch mündlichen Sprachkontakt zustande ge‐ kommen sein müssen, als umgekehrt mit Sicherheit zu belegen, dass die Entlehnung im Medium der Schrift stattgefunden haben muss. Bei deutschen Lehnwörtern aus dem La‐ teinischen wie Tisch > discus; Ziegel > tegula oder Tünche > tunica ist z. B. schriftlicher Kontakt aus rein lautlichen Gründen auszuschließen. Es gibt natürlich sehr viele lexikali‐ sche Entlehnungen, bei denen aus sachlichen Gründen schriftlicher Sprachkontakt plau‐ sibel ist, da sie Gegenstände und Sachverhalte bezeichnen, über die man gemeinhin nicht spricht. Ein Beweis dafür, dass eine lexikalische Entlehnung durch Übersetzung im engeren Sinn erfolgt ist, scheint dagegen nahezu unmöglich; denn selbst wenn ein Lexikograph 62 4 Der Einfluss der Übersetzungen auf die jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen <?page no="63"?> einen Erstbeleg in einer Übersetzung findet, ist damit nicht ausgeschlossen, dass irgend‐ wann einmal ein früherer Beleg in einem Originaltext entdeckt wird. Dass man den Einfluss der Übersetzung in einem bestimmten Bereich nicht im strengen Sinn beweisen kann, heißt natürlich nicht, dass er nicht stattgefunden hat. Es ist sogar höchstwahrscheinlich, dass es ihn gegeben hat. Wir müssen also in den folgenden Abschnitten auf sichere Belege ver‐ zichten und uns mit dem Hinweis auf Wahrscheinlichkeiten zufriedengeben. Dabei gilt eine einfache Faustregel: Je komplexer der untersuchte Bereich ist, desto größer ist die Sicher‐ heit, mit der sich ein Einfluss durch die Übersetzung behaupten lässt. Am besten ist der Einfluss der Übersetzung im weiteren und im engeren Sinn auf den Wortschatz der europäischen Sprachen ex negativo dokumentiert, nämlich durch die zahl‐ reichen puristischen Gegenbewegungen gegen allzu unbekümmertes Entlehnen. Geoffroy de Tory und Rabelais mokieren sich über die französischen latiniseurs. In der häufig zitierten Episode des écolier limousin, der sich vor Pantagruel mit seinem Schullatein brüstet, ant‐ wortet der Student auf Pantagruels Frage, wie er und die anderen Studenten denn in Paris ihre Zeit verbrächten: Nous transfretons la Sequane au dilicule et crepuscule ; nous deambulons par les compites et quadrivies de l’urbe ; nous despumons la verbocination latiale, et comme verisimiles amorabonds, captons la benevolence de l’omnijuge, omniforme et omnigene sexe feminin … (Gargantua et Pan‐ tagruel, II, 6; der Passus ist in modifizierter Form übernommen aus Geoffroy de Tory, Le Champ Fleury, 1529) Wir transfretieren die Sequana (Seine) vom Diluculum bis zum Crepusculum, wir deambulieren auf den Compiten (Abzweigungen) und Quadrivien (Kreuzungen) der Urbs; wir despumieren (schlürfen den Schaum ab) die verbalen Ausdrucksformen Latiums, und als veritable Amorabundi (Liebestolle) kaptieren wir die Benevolenz des omniiudicialen, omniformen und omnigenen weiblichen Geschlechts (eigene Nachbildung, J.A.) Natürlich ist das alles satirisch übersteigert; Georges Gougenheim (1970, 413) gibt jedoch zu bedenken, dass der écolier limousin stolz darauf hätte sein können, wenn er es denn je erfahren hätte, dass nicht weniger als achtzehn der Latinismen, mit denen er seine Erzäh‐ lung aufplustert, später in das Französische eingegangen sind (nicht alle kommen in dem zitierten kurzen Passus vor): académie, capter, célèbre, crépuscule, déambuler, féminin, génie, horaire, indigène, méritoire, nocturne, origine, patriotique, pécune, pénurie, révérer, sexe, vé‐ nérer. Von den Wörtern hingegen, die Henri Estienne, ebenfalls in satirischer Absicht, in seine Deux dialogues du nouveau langage françois italianizé (1578) einfließen lässt, Wörter wie stanse (stanza); past (pasto); spaceger (passeggiare), strade (strada), sbigotit (sbigottito) usw. usf., ist keines in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Es handelt sich um sporadische Entlehnungen, die auf mündliche Kontakte bei Hof zurückgehen - zu Zeiten von Catherine de Médicis galt das Einstreuen von Italianismen in der Konversation bei Hof als chic. In England, wo die gelehrten Entlehnungen aus den klassischen Sprachen in der frühen Neuzeit besonders zahlreich werden (cf. supra 3.2), regt sich der Widerstand der Puristen gegen die sog. inkhorn terms. Während sich Thomas Elyot noch ausdrücklich für die Be‐ reicherung des Englischen durch Übersetzen aus den klassischen Sprachen ausgesprochen hatte (cf. supra 4.1), schlägt Thomas Chaloner in der Vorrede seiner Übersetzung des Moriae 63 4.4 Die Verbreitung lexikalischen und syntaktischen Lehnguts durch die Übersetzung <?page no="64"?> encomium (Lob der Torheit) von Erasmus von Rotterdam vor, diejenigen, die ihre Schriften „mit inkhornterms pudern“, nicht philosophers, sondern eher foolelosophers zu nennen (Baugh/ Cable 1951, 217). Und Thomas Wilson erklärt in seiner Arte of Rhetorique (1553), die auch Shakespeare benutzt haben soll, kategorisch: Among all other lessons this should first be learned, that wee never affect any straunge ynkehorne termes, but to speake as is commonly received: neither seeking to be over fine, not yet living over-carelesse, using our speech as most men doe, and ordering our wittes as the fewest have done (zit. nach Baugh/ Cable 1951, 217). Schon der Ausdruck inkhorn terms, „Tintenfasswörter“, deutet auf Entlehnungen im Me‐ dium der Schrift hin. Wilsons Ermahnung kann durchaus als Sorge um die Bewahrung einer gewissen „Bildungsdurchsichtigkeit“ interpretiert werden (cf. supra 3.2) - wer einfach nur übernimmt, was er in einer fremden Vorlage vorfindet, verzichtet auf ein tieferes Ver‐ ständnis. In der englischen Sprachgeschichte sind solche Reaktionen Episode geblieben. Kaum ein Wortschatz weist einen so heterogenen Charakter auf wie der englische und nirgendwo hat die Übersetzung in der Frühzeit der Sprachentwicklung eine so große Rolle gespielt wie auf den britischen Inseln (cf. infra Kap. 5). In Deutschland hat es ebenfalls Reaktionen auf die ‚Überfremdung‘ der Sprache durch gelehrte Entlehnungen gegeben; sie wurden am vehementesten durch die Mitglieder der Sprachgesellschaften im 17. Jahrhundert vorgetragen (cf. Otto 1972). Es ging aber auch um die zahlreichen Entlehnungen aus den romanischen Sprachen, insbesondere aus dem Fran‐ zösischen. Es wurde sogar ein eigener Ausdruck dafür geprägt, Alamode. In einer deutschen Sprachgeschichte wird dieses Phänomen wie folgt kommentiert: … die verächtlichen Schlagwörter, die den Modebewußten von ihren Zeitgenossen angehängt wurden, Alamode oder allomodo, sind Ausdruck der Opposition gegen romanischen Einfluß, nicht gegen das Lateinische. Entlehnungen aus dem Frz. waren weit weniger gebräuchlich als aus dem Lat., aber sie erregten weit mehr Anstoß, weil sie aus sozialen, nicht aus ‚funktionalen‘ Gründen übernommen waren, außerdem von einem lebenden europäischen Rivalen, nicht einem toten an‐ tiken Vorbild. (Wells 1990, 291; vgl. ebenfalls Kramer 1992, 60 ff.) Zunächst ist man geneigt anzunehmen, dass es sich dabei, ähnlich wie bei Henri Estiennes françois italianizé, um sporadische Entlehnungen handelte, die auf mündliche Sprachkont‐ akte zurückgingen und bald wieder aus dem Sprachgebrauch verschwanden. Das trifft je‐ doch nur teilweise zu. Damals übernommene Wörter wie sich amüsieren, Dekolleté, Ele‐ ganz, Kompliment, Nuance, Parfüm, oder, mit einer besonderen Bedeutungsentwicklung, Friseur, ordinär, Visage sind noch heute weithin üblich und legen allein schon aufgrund ihrer Schreibweise nahe, dass zunächst schriftlicher Sprachkontakt stattgefunden haben muss, der sich dann in andere Register ausbreitete. Im Bereich der Grammatik ist die Wahrscheinlichkeit, dass Entlehnungen der Überset‐ zung im engeren Sinn zuzuschreiben sind, höher als in dem des Wortschatzes, und ihre Auswirkungen auf die Zielsprache sind größer als die lexikalischer Entlehnungen. Diese Ansicht hat bereits Samuel Johnson, der Vater der englischen Lexikographie, vertreten. Im Vorwort zu seinem Dictionary of the English Language (1755) wendet er sich geradezu wü‐ 64 4 Der Einfluss der Übersetzungen auf die jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen <?page no="65"?> tend gegen die Entlehnungen, die, wie er meint, vor allem auf die Übersetzer zurückzu‐ führen sind: No book was ever turned from one tongue into another, without imparting something of its native idiom; this is the most mischievous and comprehensive innovation; single words may enter by thousands, and the fabrick of the tongue continue the same, but new phraseology changes much at once; it alters not the single stones of the building, but the order of the columns. If any academy should be established for the cultivation of our stile … let them, instead of compiling grammars and dictionaries, endeavour, with all their influence, to stop the licence of translatours, whose idleness and ignorance, if it be suffered to proceed, will reduce us to babble a dialect of France. (zit. nach Nevalainen 1999, 360; cf. infra 9.4) Entlehnungen aufgrund von schriftlichen Sprachkontakten wollen wir hier, möglicher‐ weise etwas zu großzügig, der Kategorie „Übersetzung im weiteren Sinne“ subsumieren. Was nun die Übersetzung im engeren Sinn betrifft, von der Samuel Johnson eindeutig spricht, so könnte erst die Verfügbarkeit großer Korpora übersetzter Texte, die sich leicht nach gewissen Elementen durchsuchen lassen, größere Gewissheit in der historischen Übersetzungsforschung schaffen. Im folgenden Fall sind wir einstweilen auf Spekulationen angewiesen: Medio-passivische Konstruktionen (oder „ergative“; die Terminologie braucht uns in diesem Zusammenhang nicht sonderlich zu interessieren) mit einem Reflexivpronomen waren schon in den niedrigen Registern des Lateinischen üblich, z. B. se adflictare „betrübt sein“ (Plautus); fecit se hora quinta „es kam die fünfte Stunde“ (Itinerarium Egeriae). Sie sind in den romanischen Sprachen weit verbreitet: la porte s’ouvre; le vent se lève; le luci si ac‐ cendono „gehen an, werden angezündet, man zündet sie an“; estos vocablos se documentan en la Edad Media „diese Wörter sind im Mittelalter belegt“ usw. usf. Bei all diesen Fügungen vertritt das Reflexivpronomen kein Satzglied, wie etwa im Falle echter Reflexivität (sie wäscht sich) oder Reziprozität (sie schreiben sich täglich), bei denen sich genau angeben lässt, wofür das Wort sich steht. Bei se adflictare, s’ennuyer oder sich langweilen weiß man das nicht, genauso wenig bei Syntagmen vom Typ: das Rad dreht sich; und es erhub sich ein Streit (Offenbarung, Lutherversion); das sagt sich leicht; das rechnet sich nicht etc. Konstruktionen dieser Art kommen in den romanischen Sprachen und - wenn auch mit geringerer Frequenz - im Hochdeutschen vor. Man hat sich zu fragen, warum sie im Nie‐ derdeutschen (und im Friesischen), im Niederländischen und im Englischen fast vollständig fehlen: Ce livre se vend bien / / das Buch verkauft sich gut / / this book sells well Dar röhr keen Blatt an Bom (Klaus Groth) / / da rührte sich kein Blatt am Baum Het woont hier prettig / / Hier wohnt es sich angenehm Ein Vergleich des Englischen mit dem Deutschen ist in dieser Hinsicht besonders auf‐ schlussreich: A good tent builds up in about ten minutes („lässt sich aufbauen“) Her books translate well („lassen sich gut übersetzen“) The table polishes up badly („lässt sich schlecht abwischen“) 65 4.4 Die Verbreitung lexikalischen und syntaktischen Lehnguts durch die Übersetzung <?page no="66"?> 8 Die Geschichte des Verbs sich rentieren aus mhd. renten „Ertrag liefern“ (cf. afrz. renter) wäre eine eigene, rein sprachgeschichtliche Untersuchung wert. Speziell die Verhältnisse in den eng benachbarten Varietäten Niederdeutsch und Nieder‐ ländisch deuten darauf hin, dass das Hochdeutsche, stärker als diese, vom Romanischen, insb. durch das Französische, beeinflusst worden sein könnte. Franz August Brandstäter (1874, 188 ff.) führt in seinen nicht ohne nationalistische Untertöne verfassten Gallicismen in der deutschen Schriftsprache eine Kategorie „Reflexivum für’s Passivum“ auf: „Nicht selten steht das Reflexivum für’s Passivum, was bekanntlich dem Französischen (den roman. Spr.) besonders eigen ist …“. Es folgen eine lange Liste von Verben und zahlreiche Belege aus deutschen Autoren, die zu dokumentieren scheinen, dass im 19. Jahrhundert mediopassivische Reflexiva noch häufiger waren als heute (cf. Albrecht 2015). Otto Behagel ver‐ tritt in seiner Deutsche[n] Syntax (1924, II, §. 632) die Meinung, bestimmte Verben seien zusammen mit dem Reflexivpronomen aus dem Französischen ins Deutsche übernommen worden. Unter seinen Beispielen finden sich einige aus mittelhochdeutschen höfischen Ro‐ manen, die altfranzösischen romans courtois nachgedichtet wurden. Am plausibelsten er‐ weist sich diese Hypothese bei Verben, bei denen man unter synchronischem Gesichtspunkt von „lexikalisierter Reflexivität“ sprechen würde: sich amüsieren; sich genieren; sich interessieren; sich kaprizieren; sich mokieren; sich prostitu‐ ieren (cf. Albrecht 2011, 19) Die medio-passivischen Konstruktionen, die das Hochdeutsche von den nördlicheren ger‐ manischen Varietäten unterscheiden, erklärt dies nicht hinreichend. 8 Dass Partizipialkonstruktionen vom Typ Wie gewonnen so zerronnen auf schriftlichen Sprachkontakt zurückzuführen sind, wird allgemein für möglich gehalten. In den romanischen Sprachen und im Englischen ist dergleichen völlig üblich; im Deutschen wirken Konstruktionen dieser Art leicht archaisch und literarisch: Die folgenden drei Überset‐ zungen eines Passus aus Montaignes Essais lassen vermuten, dass sie besonders häufig dann auftreten, wenn eine ausgangssprachliche Vorlage dafür vorhanden ist: … car pourquoy craindrions nous de perdre une chose, laquelle perdue ne peult estre regrettee? (Essais, I, 19) … for why should we feare to lose a thing, which being lost, cannot be moaned? ( John Florio, 1603) … denn warum sollten wir eine Sache zu verlieren fürchten, welche verloren nicht bedauert werden kann? ( J.J.C. Bode 1793-1799) … denn warum sollten wir das Leben zu verlieren fürchten, das wir, einmal verloren, gar nicht mehr beklagen können? (Hans Stilett 1998) In einem mittleren, der Umgangssprache angenäherten Register des Deutschen würde man hier erwarten: „denn warum sollten wir befürchten, etwas zu verlieren, das wir, wenn wir es verloren haben, gar nicht mehr bedauern können? “. Schließlich sei noch ein Beispiel angeführt, das besonders gut geeignet ist zu zeigen, was man unter „Übersetzung im weiteren Sinn“ verstehen kann. In seiner bereits erwähnten 66 4 Der Einfluss der Übersetzungen auf die jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen <?page no="67"?> Deffence et Illustration de la Langue Francoyse äußert sich Du Bellay wie folgt zu den fran‐ zösischen Dichtern: Quand à moy, si i’etoy’ enquis de ce, que me semble de notz meilleurs Poëtes Francoys, ie diroy’ à l’exemple des Stoïques, qui interroguez si Zenon, si Cleante, si Chrysippe sont Saiges, repondent, ceulx la certainement auoir eté grands, et venerables, n’avoir eu toutefois ce, qui est plus excellent en la Nature de l’homme, ie repondoy’ (dy-ie) qu’ilz ont bien ecrit … (I, 2; édition Person 1892, 106) Wenn man mich fragen würde, was ich von den besten französischen Dichtern halte, so würde ich nach dem Vorbild der Stoiker antworten. Als diese befragt wurden, ob sie Zenon, Kleanthes und Chrysippos für weise hielten, gaben sie zur Antwort, jene seien zweifellos groß und verehrungs‐ würdig gewesen, doch hätten sie das, was die Natur des Menschen als höchstes in sich birgt, nicht erreicht. Ich würde genau so antworten, dass sie zwar gut geschrieben haben … (freie Paraphrase J.A.) Du Bellay verwendet dort, wo er sich auf die Stoiker bezieht, répondre „antworten“ mit einer Partizipialkonstruktion, unmittelbar darauf gebraucht er dann dasselbe Verb dort, wo er für sich selbst spricht, mit einem normalen französischen Objektsatz. Dem französischen Sprachhistoriker Alexandre Lorian (1967, 168) ist das aufgefallen, und als belesener Mann hat er die Quelle für die eingeschobene ‚lateinische‘ Konstruktion bei Du Bellay schnell gefunden. In der ebenfalls bereits erwähnten Institutio oratoria von Quintilian heißt es (XII, 1, 18): … quo modo Stoici, si interrogentur, an sapiens Zeno, an Cleanthes, an Chrisippus ipse, respon‐ deant, magnos quidem illos ac venerabiles, non tamen id, quod natura hominis summum habet, consecutos. Du Bellay hatte die Stelle quasi wörtlich in Erinnerung und bei der ‚inneren‘ Übersetzung ins Französische ist ihm ein Übersetzungslatinismus unterlaufen. Konstruktionen dieser Art sind nicht dauerhaft ins Französische eingegangen. Der dritte unter den oben angeführten Bereichen, in denen Übersetzungen auf die Ziel‐ sprache Einfluss nehmen können, die Textgestaltung (oder, wenn man will, die Diskurstraditionen), hat eine starke Affinität zur Literatur. Er soll daher im nächsten Unterkapitel behandelt werden. 4.5 Die Einführung und Verbreitung literarischer Gattungen über ihren Entstehungsbereich hinaus durch die Übersetzungen Dass Nationalliteraturen durch Übersetzungen bereichert und verändert werden können, ist eine Binsenweisheit. Wir haben im zweiten Kapitel gesehen, dass die römische Literatur mit Übersetzungen und Bearbeitungen griechischer Werke beginnt. Der schöpferische As‐ pekt der Übersetzungstätigkeit kommt besonders deutlich im Untertitel der deutschen Übersetzung eines Buches zur Übersetzungstheorie zum Ausdruck. 1963 veröffentlichte der tschechische Literaturtheoretiker Jiří Levý ein Buch mit dem Titel Umění překladu, „Kunst der Übersetzung“. Die erweiterte und inhaltlich modifizierte deutsche Übersetzung dieses Werks erschien später unter dem Titel Die literarische Übersetzung. Theorie einer Kunstgat‐ 67 4.5 Die Einführung und Verbreitung literarischer Gattungen über ihren Entstehungsbereich hinaus <?page no="68"?> tung (Levý 1969). Damit wird - zumindest implizit - die Gesamtheit der übersetzten lite‐ rarischen Texte als Teil der Literatur ausgewiesen, was in der traditionellen philologischen Forschung allenfalls ansatzweise der Fall war, nämlich dann, wenn es sich erkennbar um freie Bearbeitungen handelte. So geht der Doyen der deutschen Literaturgeschichtsschrei‐ bung, Georg Gottfried Gervinus, relativ ausführlich auf Johann Fischarts Geschichtsklitte‐ rung ein, eine freie Bearbeitung des ersten Buchs von Rabelais’ Gargantua et Pantagruel. Der barocke Titel dieses Werks verdient es, in diesem Zusammenhang wenigstens aus‐ zugsweise zitiert zu werden: Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtsklitterung … Etwan von M. Frantz Rabelais ent‐ worffen: Nun aber vberschrecklich lustig in einen Teutschen Model vergossen und ungefaerlich oben hin wie man einen Grindigen lauset in unser Mutterlallen vber oder drunter gesetzt … Deutlicher kann man sich nicht von dem absetzen, was in einer bestimmten Richtung der modernen Übersetzungsforschung ironisch-abschätzig als das „heilige Original“ bezeichnet wird (vgl. Frank/ Kittel 2004, 3). Darauf wird gleich zurückzukommen sein. Zunächst bleibt festzuhalten, dass Übersetzungen lange Zeit in der Literaturwissenschaft nur dann als ei‐ genständige geistige Leistungen ernstgenommen wurden, wenn sie sich sehr weit von ihrer Vorlage entfernten. In der Rechtsprechung hat sich daran bis heute nicht viel geändert (cf. infra Kap. 16). Sollte man daraus ableiten, dass nur ‚freie‘ Übersetzungen die Zielliteratur bereichern und verändern können? Wir werden im siebten Kapitel sehen, dass manchmal genau das Gegenteil der Fall sein kann: Extrem freie Übersetzungen dienten zur Zeit der belles infidèles zur Bestätigung und Stabilisierung der bestehenden literarischen Normen. Das müssen auch Armin Paul Frank und Harald Kittel einräumen, trotz ihrer Vorbehalte gegen eine einseitig ausgangstextbezogene Übersetzungsbetrachtung: Die Bereicherung zielseitiger Literaturproduktion durch Import geschieht unter Bedingungen, die wir Portale nennen möchten. Ein Portal öffnet sich, wenn ein Autor - oder deren mehrere - direkt oder indirekt aus einer Übersetzung (nahezu) unverändert oder (fast unvermeidlich) mit Verände‐ rungen ein literarisches Element (Kunstmittel, Figurentyp, Handlungsabschnitt usw.) übernimmt, das in der eigenen Literatur bisher unbekannt war. (Frank/ Kittel 2004, 60) Im achten Kapitel soll gezeigt werden, dass gerade extrem, man möchte sagen ‚verstörend treue‘ Übersetzungen Innovationen auslösen können. Zunächst soll nun aber eine notge‐ drungen knappe Auswahl von Fällen aufgezeigt werden, in denen Übersetzer dazu beige‐ tragen haben, dass sich eine neue Gattung oder ein neues Muster der Textgestaltung in einer Nationalliteratur durchgesetzt hat, in der sie zuvor nicht heimisch war. Ein besonders gut dokumentiertes Beispiel ist der mittelhochdeutsche höfische Roman, eine Gattung, die fast ausschließlich aus Nachdichtungen französischer romans courtois besteht (cf. supra 1.1). Michel Huby hat gezeigt - nicht unbedingt zur Freude seiner deut‐ schen Kollegen - dass an manchen Stellen so genau übersetzt wurde, dass man erkennen kann, welche handschriftliche Fassung dem deutschen Dichter vorgelegen haben muss. So sind z. B. von Chrétien de Troyes’ Yvain v. 768 in zwei Manuskripten zwei unterschiedliche Versionen überliefert (a) tant qu’il vint au santier tot droit „bis er geradewegs zu dem Pfad gelangte“ und (b) tant qu’il vit le santier estroit „bis er den schmalen Pfad erblickte“. Bei 68 4 Der Einfluss der Übersetzungen auf die jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen <?page no="69"?> Hartmann findet sich unz er den engen stîc vant. Er muss also die Version (b) vor Augen gehabt haben (cf. Huby 1968, 103). Besonders eindrucksvoll erscheint der literarische Wandel, der durch die dichterische und übersetzerische Rezeption der romans courtois ausgelöst wurde, im mittelhochdeutschen Nibelungenlied. Vom Stoff her gehört es der Gattung der Heldenepen an, die ihr Pendant in den französischen chansons de geste haben. Rein stofflich gesehen handelt es sich um eine Kompilation verschiedener vor allem nord‐ europäischer Heldenlieder. Die erste Strophe (nach Handschrift B) erinnert vom Ton her deutlich daran: Uns ist in alten mæren wunders vil geseit Von helden lobebæren, von grôzer arebeit Von fröuden, hôchegezîten von weinen und von klagen, von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen. Allein schon die Reimstrophe zeigt jedoch, dass es sich nicht um ein Heldenepos handeln kann. Der nicht genau zu identifizierende Dichter, der aus dem heutigen Österreich stammen dürfte, kannte die höfischen Romane und hat das Heldenepos, dem zeitgenössi‐ schen literarischen Geschmack folgend, in die Form eines höfischen Romans umgegossen. Allerdings erinnern manche Passagen, vor allem dort, wo von Kriemhilds Rache berichtet wird, an das alte Heldenepos. Die Troubadourlyrik als Quelle des Minnesangs hat die Nationalphilologien bereits in ihrer Entstehungszeit beschäftigt. Es gilt als gesichert, dass Minnesänger wie Friedrich von Hausen, Heinrich von Veldeke, Heinrich von Morungen und letztlich auch Walther von der Vogelweide durch die Troubadourlyrik beeinflusst waren und z.T. über entsprechende Sprachkenntnisse verfügten. Diese Einflüsse betrafen wohl weniger die Lexik oder die Syntax als die Diskurstraditionen, die Textgestaltungsmuster, um bei der oben eingeführten Terminologie zu bleiben. Einiges davon ist in volkstümlichen Strophenformen bis heute erhalten. Karl Vossler vertrat sogar die Ansicht, die mittelhochdeutsche Dichtersprache, die keine eindeutigen Anklänge an die gesprochenen Varietäten aufwies, sei als „Stilsprache“ der Sprache der Troubadours nachgebildet. Als Quelle für die Bemühungen um den Ausbau von Literatursprachen auf volkstümlicher Grundlage in der Romania nennt er Dantes Aus‐ führungen zum volgare illustre. (cf. Vossler 1967 [1937], 467; Albrecht erscheint, 3.2) Ein weniger bekanntes, kurzes Lied Walthers von der Vogelweide beginnt folgender‐ maßen: Wol mich der stunde, daz ich si erkande, diu mir den lîp und den muot hât betwungen, Sît deich die sinne sô gar an sie wande, der si mich hât ir güete verdrungen. (Ausg. Paul Nr. 18; Ausg. Lachmann 110, 13) In seiner Abhandlung „Minnesänger und Troubadours“ meint Theodor Frings dazu: Diese Strophe läßt sich Wort um Wort, Begriff um Begriff, Zeile um Zeile ins Provenzalische über‐ tragen, … Für Thema, Wortwahl, Versform und Strophe war Vorbild die Kanzone des Troubadour Guilhem de Cabestanh … (Frings 1963 [1949], 18) 69 4.5 Die Einführung und Verbreitung literarischer Gattungen über ihren Entstehungsbereich hinaus <?page no="70"?> 9 Einen heute noch sehr nützlichen und gründlichen Überblick findet man in Hoffmeister 1997. Der Beginn der viel längeren Kanzone des katalanischen Troubadours Guillem de Cabes‐ tany, okzitanisch Guilhem de Cabestanh hat folgenden Wortlaut: Lo jorn qu’ie us vi, dompna, primeiramen, Quan a vos plac que us mi laissetz vezer, Parti mon cor tot d’autre pessamen E foron ferm en vos tug mey voler; … (Lommatzsch 1917, 159) Man erkennt unmittelbar, auch wenn man nicht jeden Vers genau versteht, die inhaltlichen Parallelen: Seit der ersten Begegnung mit der angebeteten Dame ist der Dichter von ihr im ursprünglichen Sinn des Wortes vollständig ‚eingenommen‘. In beiden Fällen liegen Kreuz‐ reime vor, und - das ist vermutlich ein Zufall - im Mittelhochdeutschen wie im Okzitani‐ schen handelt es sich um „grammatische“ Reime. Guilhem de Cabestanh hat die Literatur‐ geschichte auch noch durch seine Biographie bereichert. Er soll, so berichtet seine vida, die Gattin seines Lehnsherrn nicht nur angehimmelt, sondern auch verführt haben. Dieser soll ihn dann auf der Jagd getötet und seiner Frau das Herz ihres Liebhabers als Leckerbissen vorgesetzt haben. Als er ihr anschließend mitteilte, was sie da mit sichtlichem Vergnügen zu sich genommen hatte, erklärte sie ihrem Gatten, das Gericht sei so vorzüglich gewesen, dass sie niemals mehr etwas essen wolle, und stürzte sich vom Balkon: « Seigner, ben m’avez dat si bon manjar que ja mais non manjarai d’autre. » Et quant el auzi so qu’ella dis, el coret a sa espaza e vole li dar sus en la testa; et ella s’en anet al balcon e se laisset cazer jos, e fo morta. (Vida de Guillem de Cabestaing) Die Episode findet sich in Boccaccios Decameron, von dem gleich die Rede sein wird (Vierter Tag. Neunte Novelle), und auch in den Cantos von Ezra Pound (Canto IV). Zwei italienische, genauer gesagt toskanische Dichter, die sich persönlich kannten und schätzten, haben die europäischen Nationalliteraturen stark beeinflusst. Am Anfang der Rezeption stand die Übersetzung im engeren Sinn; wichtiger wurde später die freie Nach‐ bildung. Ihre auf den ersten Blick völlig unterschiedlichen Hauptwerke haben eine Ge‐ meinsamkeit: Sowohl Francesco Petrarcas Canzoniere als auch Giovanni Boccaccios Deca‐ meron (vulgo Decamerone) sind Sammlungen von Texten, die sich einzeln rezipieren lassen und die auch in der Frühzeit der Rezeption oft einzeln übersetzt worden sind, die aber über eine Makrostruktur verfügen, die jedem einzelnen Fragment einen festen Platz zuweist. Im Fall des Canzoniere gilt dies zumindest für die von Petrarca selbst veranlasste Ausgabe letzter Hand. Er wollte seine Sammlung von Gedichten unterschiedlicher Art (317 Sonette, 4 Madrigale, 7 Balladen, 29 Kanzonen und 9 Sestinen) keineswegs als Hauptwerk gelten lassen (er sah sich eher als Meister lateinischer Prosa). So versah er sie mit dem Titel Rerum vulgarium fragmenta, etwa „Bruchstücke alltäglicher Dinge“; gelegentlich sprach er auch von rime sparse („verstreute Reime“) und meinte damit vermutlich auch seine übrigen volkssprachlichen Liedersammlungen. Es ist vermessen, in wenigen Zeilen etwas über die Petrarca-Rezeption in Europa aussagen zu wollen, allein der Terminus Petrarkismus weist darauf hin, dass sie kaum zu überblicken ist. 9 Hier sollen nur zwei sehr allgemeine Aspekte hervorgehoben werden: 70 4 Der Einfluss der Übersetzungen auf die jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen <?page no="71"?> 10 Cf. Wilhelm Pötters: Chi era Laura? Strutture linguistiche e matematiche nel „Canzoniere“ di Francesco Petrarca. Bologna: Il Mulino 1987. Zum einen stellt der Reim, der in der klassischen Antike nicht verwendet wurde, die Übersetzer mitteleuropäischer oder nordeuropäischer Sprachen vor große Probleme. Zwar hatten die Minnesänger nach provenzalischem, die Dichter des höfischen Romans nach französischem Vorbild gelernt, Reimstrophen zu verfassen, doch stellen die komplizierten Reimschemata des Canzoniere - man denke nur an das klassische Sonett - erhöhte Anfor‐ derungen rein technischer Art an Übersetzer wie Nachahmer. In einer Sprache wie dem Italienischen, in der es oft leichter ist, Reime zu finden, als Reime zu vermeiden, lassen sich vergleichsweise leicht komplizierte Strophenschemata realisieren. In einer Sprache wie dem Englischen fällt dies sehr viel schwerer. Dazu kommt der Gesichtspunkt der Rezeption durch den Hörer/ Leser. Im Italienischen ist der Reim ein verhältnismäßig ‚diskretes‘ Aus‐ drucksmittel; er drängt sich dem Hörer/ Leser nicht auf, weil er sich häufig ungewollt ein‐ stellt. In Sprachen mit geringerem Reimangebot könnte die mit Mühe dem italienischen Original nachgebildete Reimstruktur ‚aufdringlich‘, zumindest auffällig wirken. Zum anderen hat der Canzoniere in der Ausgabe letzter Hand eine Makrostruktur; es handelt sich nicht um eine lose Sammlung, bei der die Reihenfolge der einzelnen Gedichte keine Rolle spielen würde. Die Entschlüsselung dieser Struktur bleibt umstritten. Der deut‐ sche Romanist Wilhelm Pötters ist so weit gegangen, aus numerischen Charakteristika der Anordnung (Silbenzahl; Verszahl, Strophenzahl usw.) abzuleiten, dass Laura, Petrarcas (fiktive? ) Geliebte, die eigentliche Protagonistin des gesamten Werks, nichts anderes als die Zahl π gewesen sei. 10 Auch wer dieser These nicht zustimmen will - und das sind viele - wird zugeben müssen, dass der Canzoniere im strengen Sinn der Floskel mehr ist als die „Summe seiner Teile“. Das wurde von den frühen Übersetzern nicht erkannt. Übersetzer und Nachdichter in Spanien, Frankreich, Deutschland und England ziehen es vor, einzelne Gedichte herauszupicken (so z. B. Louise Labé und Martin Opitz), statt sich an eine Über‐ tragung des Gesamtwerks zu wagen. Die erste englische Gesamtübersetzung erschien erst 1851 (Hoffmeister 1997, 128). Bei Boccaccios Decameron (1351) ist die Makrostruktur viel leichter zu erkennen. Eine Gruppe von zehn jungen Damen und Herren aus guten Familien sieht sich genötigt, vor der Pest aus der Stadt Florenz zu fliehen und auf dem Land Zuflucht zu suchen. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählen sie sich nachmittags zehn Tage lang Geschichten, jeweils zehn an jedem Tag. Die Novellen sind also durch eine Rahmenerzählung miteinander ver‐ bunden, und der Leser ist gehalten, die einzelne Novelle in Bezug auf das vom jeweiligen Erzähler gewählte Rahmenthema zur Kenntnis zu nehmen. Dennoch beginnt die überset‐ zerische Rezeption mit der Übertragung einzelner Novellen, und kein Geringerer als Petrarca hat mit dieser Praxis begonnen. Er hat die letzte Novelle des zehnten Tages, die Geschichte von Griselda (Griseldis), der Tochter eines einfachen Bauern, die von ihrem Mann, einem Markgrafen, auf harte Proben gestellt wird, ins Lateinische übersetzt und die Geschichte somit einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht. Schon zwanzig Jahre später erschien diese Novelle in der Übersetzung des schwäbischen Humanisten Heinrich Steinhöwel unter dem Titel: Von grosser stätigkait einer frowen Grisel gehaissen. Geoffrey Chaucers etwa dreißig Jahre später entstandene Canterbury Tales weisen viele Ähnlich‐ 71 4.5 Die Einführung und Verbreitung literarischer Gattungen über ihren Entstehungsbereich hinaus <?page no="72"?> 11 … je croy qu’il n’y a nul de vous qui nait leu les cent Nouvelles de Boccace, nouvellement traduictes d’ytalien en françois, que le roy François, premier de son nom, monseigneur le Dauphin, madame la Dauphine, madame Maguerite, font tant de cas, que si Boccace, du lieu ou il estoit, les eut peu oyr, il debvoit resusciter à la louange de telles personnes. (Edition Benjamin Pifteau, Paris 1884, 10. Die Übersetzung, von der die Rede ist, stammt von Antoine Le Maçon und ist 1545 erschienen.) keiten mit dem Decameron auf, obwohl der Name Boccaccio nie erwähnt wird. Die Ge‐ schichte von der geduldigen Griseldis findet sich in The Clerk’s Tale wieder, ein Kapitel, das unmittelbar auf Petrarcas lateinische Version zurückgeht: But hye [“schnell”] God somtyme senden kan His grace into a litel oxes stalle; Janicula men of that throop [“Dorf ”] hym calle. A doghter hadde he, fair ynogh to sighte, And Grisildis this yonge mayden highte. (Vers 206 ff.) Marguerite de Navarre, die Schwester von François I., einem der bedeutendsten französi‐ schen Könige, weist in ihrem Heptaméron (postum 1759; sie hat es nur auf sieben Tage und zweiundsiebzig Novellen gebracht) ausdrücklich auf Boccaccio und auf die französische Übersetzung hin, die ihr vorgelegen haben dürfte: Ich glaube es gibt niemanden unter euch, der nicht die hundert Novellen des Boccaccio gelesen hätte, die soeben aus dem Italienischen ins Französische übersetzt wurden. Der König François, erster dieses Namens, der Kronprinz und seine Gemahlin, Madame Marguerite, sind davon so angetan, dass Boccaccio, wenn er sie denn von dort, wo er ist, hätte hören können, wieder aufer‐ stehen müsste bei so viel Lob solch hochgestellter Persönlichkeiten. (eigene Übersetzung, J.A.) 11 Die wichtigste Innovation, die die übersetzerische und schriftstellerische Rezeption des Decameron mit sich gebracht hat, ist die Belebung der Technik der Rahmenerzählung, die in den orientalischen Literaturen weit verbreitet war. Es handelt sich um einen ganz un‐ aufdringlichen „Verfremdungseffekt“, ganz im Gegensatz zu dem von Brecht intendierten. Der Hörer/ Leser mag noch so hingerissen von einer spannenden Handlung sein; von Zeit zu Zeit wird er darauf hingewiesen, dass dies alles ja ‚nur eine Geschichte‘ ist. Einige wenige Bemerkungen noch zum Theater. Zur Wiederbelebung dieser Gattung, die im frühen Mittelalter fast völlig unbekannt war, haben die Übersetzer ebenfalls einen Beitrag geleistet. Das mittelalterliche Theater beginnt mit szenischen Darstellungen von Episoden aus der Bibel, die teils in den Kirchen, teils auf den Kirchentreppen an bestimmten Festtagen aufgeführt wurden. Es gibt eine ganze Reihe von altokzitanischen und altfran‐ zösischen Übersetzungen von biblischen Szenen, die man zunächst für Fragmente verloren gegangener Bibelversionen hielt. Erst später hat man erkannt, dass es sich um Überset‐ zungen handelte, die eigens für szenische Aufführungen angefertigt worden waren (cf. Albrecht 2006, 1390). Die klassische griechische Tragödie war lange Zeit allenfalls einigen Gelehrten in Süditalien bekannt. Jorge Luís Borges zeigt in seiner phantastischen Erzählung La busca de Averroes, wie der große arabische Philosoph die seltsamsten Hypothesen über Aristoteles’ Poetik aufstellt, weil ihm das Theater als literarische Gattung völlig unbekannt ist. Nachdem Erasmus von Rotterdam die Tragödien des Euripides ins Lateinische übersetzt hatte, beginnt das Interesse für ein Theater nach antikem Vorbild zu erwachen. Dieses 72 4 Der Einfluss der Übersetzungen auf die jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen <?page no="73"?> 12 Alle Zitate in der Übersetzung von Manfred Fuhrmann aus der von ihm besorgten Ausgabe, Stuttgart: Reclam 7828, 1982. unterschied sich stark vom volkstümlichen mittelalterlichen Theater, das aus sakralen oder burlesken Stücken bestand. Das spanische Theater des siglo de oro setzt diese Traditionen, wenn auch mit gewissen Modifikationen, noch weit ins 17. Jahrhundert hinein fort. Das sog. Jesuitentheater in Deutschland stand ganz im Dienste der Gegenreformation. In Frank‐ reich jedoch beginnt bereits im 16. Jahrhundert mit Étienne Jodelle (seine Cléopâtre captive aus dem Jahr 1552 gilt als erste französische Tragödie) und Robert Garnier eine Neubele‐ bung der antiken Tragödie und Komödie, die stark von Übersetzungen klassischer Stücke abhing. Mit diesem Neubeginn, der anfangs nur in einem kleinen Kreis von Kennern Zu‐ stimmung fand, gelangte auch die Lehre von den „drei Einheiten“ in den Theaterbetrieb, die nach Ansicht ihrer Verfechter auf Aristoteles zurückging. Der ‚Cheftheoretiker‘ der französischen Klassik, Nicolas Boileau-Despréaux, hat ihr in seinem Art poétique eine Fas‐ sung gegeben, die bis heute in französischen Literaturgeschichten für Gymnasiasten nicht fehlen darf. Der Passus wird hier etwas ausführlicher als üblich wiedergegeben, weil er eine in diesem Zusammenhang aufschlussreiche Kritik am spanischen Theater enthält: Que le lieu de la scène y soit fixe et marqué. Un rimeur, sans péril, delà des Pyrénées, Sur la scène en un jour renferme des années, Là souvent le héros d’un spectacle grossier, Enfant au premier acte, est barbon au dernier. Mais nous, que la raison à ses règles engage, Nous voulons qu’avec art l’action se ménage ; Qu’en un lieu, qu’en un jour, un seul fait accompli Tienne jusqu’à la fin le théâtre rempli. (Art poétique, III, 38 ff.) Der Ort der Handlung solle klar erkennbar sein. Diese Reimerlinge jenseits der Pyrenäen ließen Jahre an einem Tag verstreichen, ohne befürchten zu müssen, Missfallen zu ernten. Da sei der Held eines groben Spektakels im ersten Akt ein Kind, im letzten ein Greis. So etwas gehe in Frankreich nicht. Hier fordere man, dass sich die Handlung kunstvoll be‐ schränke und dass ein in sich abgeschlossenes Ereignis, das sich an einem Tag und an einem Ort abspielt, für ein volles Theater sorge. Es geht also um die Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung, die seit der Renaissance auf die Poetik des Aristoteles zurückgeführt werden. Dort liest man indessen: Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich abgeschlossenen Handlung von bestimmter Größe … (Kap. 6) Wir haben festgestellt, daß die Tragödie die Nachahmung einer in sich geschlos‐ senen und ganzen Handlung ist, die eine bestimmte Größe hat; es gibt jedoch auch etwas Ganzes ohne nennenswerte Größe. Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. (Kap. 7) [Die Tragödie unterscheidet sich von der Epik durch das Versmaß] Ferner in der Ausdehnung: die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen … (Kap. 5). Für die Begrenzung, die der Natur der Sache folgt, gilt, daß eine Handlung, was ihre Größe betrifft, desto schöner ist, je größer sie ist, vorausgesetzt, daß sie faßlich bleibt … (Kap. 7) 12 73 4.5 Die Einführung und Verbreitung literarischer Gattungen über ihren Entstehungsbereich hinaus <?page no="74"?> Die Einheit, die wirklich gefordert wird, ist somit die Einheit der Handlung. Was die Einheit der Zeit angeht, so finden wir eine Beschreibung des bisher Üblichen und eine Empfehlung, die mit der Rezeptionskapazität der Zuschauer begründet wird. Von der Einheit des Ortes ist nirgendwo die Rede. Es handelt sich also bestenfalls um eineinhalb Einheiten. Die Lehre von den drei Einheiten geht offensichtlich auf einen volgarizzatore zurück: Sie findet sich vermutlich zum ersten Mal in: Lodovico Castelvetro: Poetica d’Aristotele vulgarizzata e sposta (1570). Dies ist sicher nicht der einzige Fall, in dem eine vulgarisierende Übersetzung eines klassischen Werks zu einer verfälschenden Rezeption geführt hat. Bisher war nur von der Einführung neuer Gattungen durch die Übersetzung oder mit ihrer Hilfe und nur andeutungsweise von Diskurstraditionen die Rede. Fast noch wichtiger, wenn auch schwerer darzustellen oder nachzuweisen, ist die Einführung neuer Textgestal‐ tungsmuster in eine Zielliteratur bzw. die Übertragung von Diskurstraditionen, die dort vorher nicht beheimatet waren, wie etwa die Übernahme der Form des japanischen Haikus in die meisten europäischen Literaturen. Es handelt sich dabei um ein untrennbares Amalgam von sprachlicher Form und mitgeteilten Inhalten, wie Frank und Kittel treffend bemerken: Nun sind die Fragen des Diskurses sicher nicht rein sprachlicher Natur. Denn Diskurse sind Rede- oder Schreibweisen, die in einem Wechselverhältnis zu Wahrnehmungs- oder Denkweisen stehen und, richtig verstanden, diese auch vermitteln. […] Gleichwohl wird die Übersetzung eines neuen Diskurses von den Beteiligten - den Übersetzern und ihren sowohl zustimmenden als auch ab‐ lehnenden Lesern - zumeist als zuallererst sprachliche Veränderung empfunden, je nach Einstel‐ lung als Bereicherung, Erneuerung oder Beschädigung. (Frank/ Kittel 2004, 23) Unser erstes Beispiel für die Einführung eines neuen Diskurstyps hat nur sehr weitläufig etwas mit Übersetzung zu tun. Im zweiten Band seiner unvollendet gebliebenen Tetralogie Les chemins de la liberté zeigt sich Jean-Paul Sartre durch John Dos Passos’ Roman Man‐ hattan Transfer beeindruckt. In Le Sursis („Der Aufschub“; der Titel spielt auf das Münchner Abkommen an, das den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hinausgeschoben hat) imitiert er - etwas pedantisch - die Simultantechnik des amerikanischen Vorbilds, die verschiedene Episoden und Personen aus ständig wechselnder Erzählperspektive vorführt und ganz be‐ wusst auf einen vom Erzähler konstruierten größeren Zusammenhang verzichtet - den muss sich der Leser schon selbst herstellen. Die Reaktion beim Publikum fiel genau wie von Frank und Kittel beschrieben aus: begeisterte Zustimmung bei einigen avantgardistisch eingestellten Kritikern, heftige Ablehnung bei den konservativen Liebhabern des klassi‐ schen französischen Romans. Im dritten Band der Reihe, La mort dans l’âme (deutsch unter dem kitschigen Titel Der Pfahl im Fleische erschienen), kehrte Sartre zu einer konventionellen Erzählweise zurück. Ein wenig anders verhält es sich mit dem sizilianischen Autor Elio Vittorini. Er lebte zeitweise in Mailand und war professioneller Übersetzer. Sein Arbeitsgebiet waren die eng‐ lische und vor allem die nordamerikanische Literatur. Er übersetzte u. a. Romane von Edgar Allan Poe, John Steinbeck und - last but not least - William Faulkner. In seinem zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erschienenen Roman Conversazione in Sicilia scheint eine Schreib‐ weise auf, die in Italien als neu und schockierend empfunden wurde: Kurze Sätze statt 74 4 Der Einfluss der Übersetzungen auf die jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen <?page no="75"?> wohlgerundeter Perioden, Verzicht auf argumentative oder einordnende Übergänge, lange Anreihungen von Vorgefallenem: Ero in viaggio, e a Firenze, verso mezzanotte, cambiai treno, verso le sei del mattino dopo cambiai un’altra volta a Roma Termini, e verso mezzogiorno giunsi a Napoli, dove non pioveva e spedii un vaglia telegrafico di lire cinquanta a mia moglie. Le dissi: − Torno giovedì. (Kap. 3, erster Abschnitt) Ich war auf Reisen, und in Florenz, gegen Mitternacht, stieg ich um, gegen sechs Uhr früh stieg ich in Rom, Stazione Termini, nochmals um und kam gegen Mittag in Neapel an, wo es nicht regnete, und schickte eine telegrafische Überweisung über fünfzig Lire an meine Frau. Ich teilte ihr mit: Komme Donnerstag zurück. (eigene Übersetzung, J.A.) Hier geschieht das, was Rabelais mit nous despumons la verbocination latiale gemeint haben könnte (cf. supra 4.4), hier wird der Schaum einer gewissen ‚Schreibe‘ abgeschlürft, einer Schreibweise, die man gelegentlich in Light in August wiederfindet. Schließlich sei schon hier auf die Bedeutsamkeit von Übersetzungen hingewiesen, die sich als solche ausgeben, ohne es zu sein: Don Quijote, Candide, The Works of Ossian, um nur einige besonders bekannte Beispiele zu nennen (cf. Plack 2014). Darauf wird im drei‐ zehnten Kapitel zurückzukommen sein. Zunächst wollen wir uns jedoch den britischen Inseln zuwenden, wo die Sprach- und Übersetzungsgeschichte besonders abwechslungs‐ reich verlaufen ist. 75 4.5 Die Einführung und Verbreitung literarischer Gattungen über ihren Entstehungsbereich hinaus <?page no="77"?> 5 Die Vielschichtigkeit des Englischen im Lichte der Übersetzungsgeschichte Der Herausgeber der mehrbändigen Cambridge History of the English Language (zumindest was die ersten vier Bände angeht, handelt es sich eher um eine Mischung aus Sprachge‐ schichte und Historischer Grammatik) beschreibt in seinem Vorwort zum Gesamtwerk das Englische als einigermaßen ungewöhnliche Sprache: … English, when compared with other languages, has some rather infrequent or unusual charac‐ teristics. Thus, in the area of vocabulary, English has an exceptionally high number of words borrowed from other languages (French, the Scandinavian languages, American Indian languages, Italian, the languages of Northern India and so on). (Hogg 1992, xvi) Eine lexikalische Unterscheidung wie die zwischen heaven und sky (auf die zurückzu‐ kommen sein wird) ist in der Tat im Vergleich mit den benachbarten europäischen Sprachen ziemlich ungewöhnlich, und wer einen etwas anspruchsvolleren englischen Text nicht im Hinblick auf seinen Inhalt, sondern auf seine sprachliche Form liest, ist beeindruckt von der Vielfältigkeit der Elemente, aus denen er sich zusammensetzt. Das führt auch dazu, dass ein wenig gebildeter Engländer oder Amerikaner größere Schwierigkeiten mit elaborierten Texten seiner Muttersprache hat als etwa ein Spanier. Der ‚Mischcharakter‘ des Englischen, das in mancherlei Hinsicht an eine Kreolsprache erinnert, geht auf die außerordentlich komplizierte Sprachgeschichte zurück, die sich auch auf den Übersetzungsbetrieb ausge‐ wirkt hat. Das gilt besonders für die Zeit, als die Amalgamierung der verschiedenen sprach‐ lichen Schichten (cf. infra 5.1) noch nicht abgeschlossen war. Erst im Spätmittelalter und in der Frührenaissance begann sich das Englische gegenüber dem bis dahin das öffentliche Leben dominierenden Französischen (genauer gesagt dem Anglonormannischen) durch‐ zusetzen und z.T. auch schon in Bereiche einzudringen, die bislang dem Lateinischen vor‐ behalten waren. In dieser Zeit entstand eine Textgattung, die erst in jüngster Vergangenheit genauer untersucht worden ist: dreisprachig redigierte Texte, die es weniger gebildeten Engländern erleichtern sollten, die Situation der Triglossie (Englisch, Französisch, Latein) vor allem im Bereich der Schrift zu meistern (cf. Nissille 2013). Der viel zu früh verstorbene Romanist David Trotter, der sich auch mit der Geschichte seiner Muttersprache beschäftigt hat, schildert anschaulich die zu dieser Zeit im schriftlichen Bereich praktizierte Vielspra‐ chigkeit: … many writers, major, minor and anonymous, in all registers, were clearly at ease with two or more languages. Outside literary texts, documents in two or more languages, and language mixing within the same text, were widespread, and this phenomenon, an oddity to modern eyes, patently created no obstacle to effective communication. (Trotter 2000, 2) Mit diesem Kapitel soll natürlich kein vollständiger Überblick über die englische Sprach‐ geschichte angestrebt werden; dergleichen wäre noch nicht einmal in knappster Form möglich. Es sollen lediglich einige Fakten ‚herausgepickt‘ werden, in denen sich das Zu‐ <?page no="78"?> sammenwirken von politischer Geschichte, Sprach-,Literatur und Kulturgeschichte beson‐ ders eindrucksvoll widerspiegelt. Ein kleiner Einblick in die komplizierte englische Sprach‐ geschichte scheint uns hilfreich für das Verständnis des Verhältnisses zwischen den west-, nord- und zentraleuropäischen Volkssprachen zu sein. Schließlich soll auch der Frage nach‐ gegangen werden, ob überhaupt und wenn, inwiefern die Übersetzer etwas zum Aufstieg des Englischen zu einer allgemeinen Verkehrssprache beigetragen haben. 5.1 Die verschiedenen ethnisch-kulturellen und sprachlichen Schichten im chronologischen Überblick Englische Sprachgeschichten beginnen im Allgemeinen mit der Besiedlung von Teilen der britischen Inseln durch die Angeln, Sachsen und Jüten (cf. infra), die auf die vier Jahrhun‐ derte dauernde römische Besatzung folgte. Sie folgen damit der Historia ecclesiastica gentis Anglorum (um 731) des Benediktinermönchs Beda Venerabilis (engl. Bede), die später von Alfred dem Großen (King Alfred) ins Altenglische übertragen wurde. Wir wollen hier noch ein wenig weiter zurückgehen und bei den keltischen Stämmen anfangen; schließlich leiten sich von den Britons, die einst den größten Teil Englands besiedelten, so wichtige Wörter wie Britain und British ab. - Keltische Grundschicht Was die wirkliche ethnische ‚Grundschicht‘ eines geographischen Raums ist, wird sich wohl nie mit Sicherheit sagen lassen. Genetische Vergleiche von fossilen Resten mit der heute in der Nähe des Fundorts lebenden Bevölkerung deuten darauf hin, das Ethnien, von denen wir nicht einmal die Namen kennen, sich mit den späteren, ins Licht der Geschichte getre‐ tenen Eroberern vermischt haben müssen. Die Kelten haben sich ausgehend vom heutigen Ostbayern, Tschechien und Oberösterreich noch in vorchristlicher Zeit im Osten bis nach Kleinasien (vgl. den Brief des Paulus an die Galater), im Westen über ganz Süddeutschland, Norditalien, Frankreich, Nordspanien und die Britischen Inseln ausgebreitet. Sie haben nie einen einheitlichen Staat gegründet. Ihre Abgrenzung gegenüber den Germanen war bereits in der Antike umstritten und ist es auch heute noch. Mit der Expansion des Römischen Reichs einerseits und dem Vordringen der Germanen nach Süden andererseits wurden sie bis auf kleine Enklaven aufgerieben. Auf den Britischen Inseln und in der Bretagne, wohin sich keltische Stämme unter dem Druck der eindringenden Angeln, Sachsen und Jüten zurückzogen, gibt es noch keltische Sprachinseln (cf. Kausen 4 2010, 101-103). Aus den äl‐ teren, z.T. hoch entwickelten keltischen Kulturen gibt es so gut wie keine schriftliche Über‐ lieferung. Die stärksten sprachlichen Spuren hat das Keltische im Französischen hinter‐ lassen. In Cornwall war noch bis zum 18. Jahrhundert ein keltischer Dialekt beheimatet. In Irland, Schottland und vor allem in Wales, wo z.T. noch keltische Dialekte gesprochen werden (in Irland immerhin als Schul- und Amtssprache), beeinflussen sie bis heute das dort gesprochene Englisch. Im Wortschatz des Standardenglischen finden sich nur wenige Relikte des Keltischen, am stärksten ist es im Bereich der Toponymie vertreten (cf. Strang 1970, 391; Kastovsky 1992, 317-320). 78 5 Die Vielschichtigkeit des Englischen im Lichte der Übersetzungsgeschichte <?page no="79"?> Lohnt es sich überhaupt, im Rahmen einer Übersetzungsgeschichte auf das Keltische einzugehen, eine Gruppe von Dialekten, von denen es nur sehr spärliche schriftliche Zeug‐ nisse gibt? Es lohnt sich durchaus, denn das Keltische hat die mittelalterliche europäische Literatur stark beeinflusst, vor allem über eine lateinische Zwischenstufe: Geoffrey von Monmouth behandelt in seiner Historia regum Britanniae (1136), einer wilden Mischung aus Legenden und historisch Verbürgtem, den Sagenkreis um King Arthur, der Spuren bis zu Richard Wagner hinterlassen und auch Shakespeare Vorlagen geliefert hat (z. B. King Lear). Die Affäre „Ossian“, einer der größten Literaturskandale des 18. Jahrhunderts, bei dem die Übersetzung eine zentrale Rolle spielt, hat ebenfalls einen keltischen Hintergrund. Auf all dies wird in späteren Kapiteln zurückzukommen sein. - 43-418 n. Chr. Römische Besatzung bis zum Hadrianswall Die im 1. Jahrhundert n. Chr. beginnende, schon von Caesar vorbereitete Besetzung der britischen Hauptinsel durch römische Legionen reichte ziemlich genau bis zur heutigen Grenze zwischen England und Schottland. Der römische Kaiser Hadrian (Regierungszeit 117-138) ließ sie durch einen nach ihm benannten Schutzwall sichern, der heute noch in großen Teilen erhalten ist. Nördlich davon lebten wegen ihrer Wildheit gefürchtete kelti‐ sche Stämme. Das Latein als lebende Sprache hat im besetzten England nur wenige Spuren hinterlassen, denn es konnte sich ja nur in den keltischen Dialekten ausbreiten, die später schnell von den angelsächsischen und skandinavischen Dialekten verdrängt wurden. Mög‐ licherweise stammen Wörter wie port ( P O R TU S ) und street ( S T RATA ) aus dieser frühen Zeit (cf. Baugh/ Cable 3 1978, 3). Von den in Vindolanda, einem römischen Lager direkt am Had‐ rianswall, aufgefundenen beschriebenen Holztäfelchen hatte man sich in sprachlicher Hin‐ sicht viel versprochen. Sie erwiesen sich zwar als Fundgrube für Kulturhistoriker, waren jedoch in sprachlicher Hinsicht nicht sehr interessant. Die Briefe, die die Legionäre von ihren Angehörigen und Freunden erhielten, waren von professionellen Schreibern verfasst, die einheitlichen Mustern folgten. - 5. Jahrhundert n.Chr.: Einwanderung der Angeln, Sachsen und Jüten aus Norddeutsch‐ land und Dänemark Mit der Einwanderung germanischer Stämme aus dem heutigen Norddeutschland und Dä‐ nemark endet die Vorgeschichte der englischen Sprache und es beginnt die eigentliche Geschichte. Einiges deutet darauf hin, dass sie bereits vor dem Ende der römischen Besat‐ zung begonnen hat, möglicherweise ausgelöst durch germanische Legionäre im römischen Heer, die England kennen und schätzen gelernt hatten. Mit „Sachsen“ ist das nördliche Niedersachsen gemeint, die Angeln stammen aus dem östlichen Schleswig-Holstein (die Gegend zwischen Kiel und Flensburg heißt noch heute so), und die Jüten kamen aus Jütland, dem festländischen Teil des heutigen Dänemarks. Das Kompositum angelsächsisch (Anglo-Saxon) dient heute als eine Art von Sammelbegriff für alles, was mit englischer Herkunft und Kultur zu tun hat. Im Englischen kann das gleichlautende Substantiv wei‐ terhin mit der spezifischeren Bedeutung „English person of the period before the Norman Conquest“ gebraucht werden. 79 5.1 Die verschiedenen ethnisch-kulturellen und sprachlichen Schichten im chronologischen Überblick <?page no="80"?> - Ab dem 8. Jh.: Einwanderung skandinavischer Stämme (Wikinger) Das Angelsächsische des 8. Jahrhunderts war noch weit davon entfernt, eine anerkannte Kultursprache zu sein, aber es diente bereits als eine Art von Kanzleisprache. Von den Einfällen und Plünderungen dänischer und norwegischer Gruppen gibt es Zeugnisse in angelsächsischen Chroniken, in denen auch der Ausdruck Wikinger sporadisch auftritt. Es handelt sich nicht um eine ethnische, sondern eher um eine Berufsbezeichnung. Wikinger waren meist jüngere Söhne aus skandinavischen und baltischen Familien, die entweder zeitlich begrenzt auf „Abenteuer“ (um es euphemistisch auszudrücken) auszogen, oder aber dauerhaft Gebiete eroberten (Normandie, Sizilien, Ukraine usw.). Den eigentlichen Höhe‐ punkt der Wikingerzeit in England stellt die normannische Eroberung dar (cf. infra). Die ab dem 8. Jahrhundert nach England und Irland eindringenden Nordgermanen waren mit den einige Jahrhunderte früher angekommenen Angelsachsen und Jüten eng verwandt; sie fanden in England eine Sprache vor, die sie möglicherweise sogar andeutungsweise ver‐ standen, die ihnen in jedem Fall nicht völlig fremd war. So gelang es King Alfred, der nicht nur ein begabter Heerführer, sondern auch ein geschickter politischer Taktiker war, einen Ausgleich zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen herbeizuführen. Aus der angelsächsischen und der skandinavischen Schicht rekrutiert sich heute bis zu einem gewissen Grad das basic English. Die später hinzugekommene anglonormannische Schicht bildet zusammen mit den aus dem Humanistenlatein stammenden inkhorn terms (cf. supra 4.4) das ‚Obergeschoss‘. Jedoch gibt es auch Fälle, in denen das alltägliche Wort romanischer, das poetische, regionale oder archaische Wort germanischer Herkunft ist: valley - dale; pigeon - dove; action - deed; enemy - foe; port - harbour − haven Die angelsächsische Zeit vor der normannischen Eroberung hat bereits eine u. a. auf Über‐ setzungen gründende Literatur hervorgebracht, die zum größten Teil (vom im nächsten Abschnitt zu behandelnden Beowulf einmal abgesehen) nur wenigen Spezialisten bekannt ist. Hier sollen nur wenige Verse als Kostprobe aus einer Elegie mitgeteilt werden, die vermutlich im 8. Jahrhundert entstanden, aber erst im 10. Jahrhundert im sog. Exeter Kodex überliefert wurde. Sie hat den Titel The Wanderer erhalten (eardstapa ist der, der die Erde beschreitet) und nimmt das alte Thema der Klage über die Vergänglichkeit auf: ubi sunt qui ante nos … Swa cwæð eardstapa, earfeþa gemyndig Wraþra wælsleahta winemæga hryre. (ed. Dunning and Bliss, zit. n. Hogg, 1992, 22) So sprach der Wanderer eingedenk der Sorgen der grausamen Schlachten des Fallens seiner Sippe. Es handelt sich um stabreimende (alliterierende) Verse, wie sie auch im Althochdeutschen üblich waren. Ihre sprachliche Gestalt zeigt wenige Gemeinsamkeiten mit dem modernen Englischen; keine europäische Sprache hat sich im Laufe der Geschichte so stark verändert wie das Englische. 80 5 Die Vielschichtigkeit des Englischen im Lichte der Übersetzungsgeschichte <?page no="81"?> - 1066 William the Conqueror (Guillaume le Conquérant): die Eroberung Englands durch die Normannen Die Eroberung Englands durch die zu diesem Zeitpunkt bereits vollständig frankophonen Normannen stellt einen bedeutsamen Einschnitt in der englischen Sprachgeschichte dar. Nicht umsonst beginnt der zweite Band der Cambridge History of the English Language mit dem Jahr 1066. Die dynastischen Verwicklungen, die dazu geführt haben, dass der nor‐ mannische Herzog Wilhelm Anspruch auf die Herrschaft über England erhob, brauchen uns hier nicht zu interessieren. Entscheidend ist, dass die Normannen („Nordmänner“), die sich in der noch heute nach ihnen benannten Normandie niedergelassen hatten, nach we‐ nigen Generationen vollständig romanisiert waren. Sie suchten sich ihre Frauen vor Ort, und diese erzogen die Kinder in ihrer Sprache. Die nordgermanische Sprache, die die ersten Eroberer mitgebracht hatten, ließ nur wenige Spuren (ein sog. „Superstrat“) im Französi‐ schen zurück. In England wird nun Französisch („Anglonormannisch“) die dominierende Sprache und bleibt es bis ins Spätmittelalter hinein. Sie übt auch großen Einfluss auf das nur von der Unterschicht gesprochene Angelsächsische aus und bewirkt so die erste große Romanisierung des Englischen, das danach nur noch bedingt als „germanische Sprache“ angesehen werden kann. In der frühen Zeit der normannischen Herrschaft entstanden zwei besonders wichtige literarische Werke, die, obschon in England geschrieben, nicht der englischen, sondern der französischen Literatur angehören und in französischen Literaturgeschichten behandelt werden: das Rolandslied (chanson de Roland) und der Ysopet (Esope) der Marie de France, der ersten femme poète der französischen Literatur. Von beiden Texten sollen hier kleine Kostproben mitgeteilt werden: Das Rolandslied (chanson de Roland) ist das bekannteste französische Heldenepos (chanson de geste). Es ist vermutlich im 11. Jahrhundert entstanden; das im 12. Jahrhundert angefertigte, in Oxford aufbewahrte anglonormannische Manuskript gilt als die zuverläs‐ sigste Textgrundlage. Heldenepen gehen auf mündliche Traditionen zurück und werden meist erst zu einem Zeitpunkt aufgeschrieben, zu dem sie in gewisser Hinsicht bereits ‚mu‐ seal‘ geworden sind, d. h. wenn sie nicht mehr das unmittelbare Lebensgefühl ihrer Zeit ausdrücken. Es ist ebenso unmöglich wie unnötig, hier auf die komplizierte Überliefe‐ rungsgeschichte einzugehen. Wir geben einige Verse vom Schluss des Werks wieder, wo aus der chanson de Roland längst eine chanson de Charlemagne geworden ist: Li reis se culcet en sa cambre voltice. Der König legt sich in seiner gewölbten Kammer nieder. Saint Gabriël de part Deu li vint dire : Gott ließ ihm durch Erzengel Gabriel aus‐ richten: « Carles, sumun les oz de tun empire ! „Karl, ruf die Heere deines Reichs zusammen! Par force iras en la tere de Bire, Du sollst mit Gewalt ins Land Bire eindringen Rei(s) Viviën si succuras en Imphe, Und dem König Vivien in Imphe helfen, A la citét que paien unt asise ; Der Stadt, die die Heiden belagern, Li crestiën te recleiment e criëent. » Die Christen verlangen und rufen nach dir.“ Li empereres n’i volsist aler mie: Der Kaiser wäre lieber nicht dorthin gegangen: « Deus! » dist li reis, « si penuse est ma vie! » „Gott! “ rief der König, „so qualvoll ist mein Leben! “ 81 5.1 Die verschiedenen ethnisch-kulturellen und sprachlichen Schichten im chronologischen Überblick <?page no="82"?> Plouret des oilz, sa barbe blanche tiret … Er weint aus den Augen und rauft den weißen Bart … Ci falt la geste que Turoldus declinet. Hier endet das Lied, das Turoldus erzählt. (Ed. Hilka/ Rohlfs 1965, 141) (eigene freie Übersetzung, J.A.) Über die genaue Bedeutung des Verbs decliner (cf. Christmann 1978 [1965]) ist genauso häufig diskutiert worden wie über die Identität des Turoldus, von dem man so gut wie nichts weiß. Ernst Robert Curtius nimmt an, dass er über rhetorische Kenntnisse verfügt haben muss (Curtius 1978 [1960]). Damit wäre die anglonormannische chanson de Roland etwas mehr als eine naive, poetisch ausgeschmückte Aufzeichnung mündlich tradierter Erzäh‐ lungen. Marie de France wurde im 12. Jahrhundert in Frankreich geboren, hat aber wohl den größten Teil ihres Lebens in England verbracht. Sie gehörte möglicherweise als illegitime Tochter dem Haus Plantagenet an und muss über eine solide Bildung verfügt haben. Unter ihren Dichtungen ist die Sammlung von Fabeln nach dem römischen Fabeldichter Aesop am bekanntesten. Der Epilog zu diesem Werk ist für uns besonders interessant, da sich die Verfasserin dort selbstbewusst nennt und gleichzeitig die Genese des Werks als eine Folge von Übersetzungen schildert: Al finement de cest escrit, Am Ende dieses Textes, Qu’en romanz ai traité e dit, Den ich in romanischer Volkssprache verfasst habe, Me numerai pur remembrance : Nenne ich zur Erinnerung meinen Namen: Marie ai num, si sui de France. Ich heiße Marie und bin aus Franzien. […] […] Pur amur le cunte Willalme, Dem Grafen Wilhelm zu Gefallen, Le plus vaillant de cest reialme, Dem Tapfersten dieses Königreichs M’entremis de cest livre faire Machte ich mich daran, dieses Buch zu schreiben E de l’engleis en romanz traire. Und aus dem Englischen ins Französische zu bringen. Esope apelë um cest livre, Esope nennt man dieses Buch. Kil translata e fist escrivre Aesop war es, der es übersetzte und auf‐ schreiben ließ, Del griu en latin le turna. Der es aus dem Griechischen ins Lateinische wendete. Li reis Alvrez ki mult l’ama, König Alfred, der es sehr schätzte, Le translata puis en engleis, Übersetzte es dann ins Englische, E jeo l’ai rimé en franceis … Und ich habe es in französische Reime ge‐ bracht … (Ed. Warnke 2 1962, 46) (Eigene freie Übersetzung, J.A.) Die Vielfalt der Ausdrücke für „übersetzen“, die in diesen wenigen Versen in Erscheinung tritt, ist wohl dem rhetorischen Prinzip variatio delectat geschuldet. - Der Einfluss der beiden klassischen Sprachen auf das Englische ab der Renaissance Wie überall in Europa führen Gelehrte, Schriftsteller und Übersetzer mit Beginn der Re‐ naissance zunehmend lateinische, später auch griechische Elemente in die Schriftsprache 82 5 Die Vielschichtigkeit des Englischen im Lichte der Übersetzungsgeschichte <?page no="83"?> ein (inkhorn terms cf. supra). Dieser Einfluss ist im Englischen stärker als in allen anderen europäischen Volkssprachen. Ein großer Teil der sog. hard words ist direkt oder indirekt griechisch-lateinischen Ursprungs. Es gab zwar puristische Reaktionen gegen diese Ent‐ wicklung (cf. supra 4.4), doch waren sie weniger erfolgreich als etwa im Französischen und im Deutschen. Dies lässt sich besonders gut anhand eines syntaktischen Phänomens, des sog. A.c.I (Accusativus cum Infinitivo) zeigen. Ein klassisches Beispiel für diese Konstruktion ist der Ausspruch des älteren Cato, den dieser im dritten Punischen Krieg getan haben soll: Ceterum censeo Carthaginem esse delendam *Im Übrigen bin ich der Meinung Karthago zu sein eine zu Zerstörende Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden müsse In den meisten europäischen Volkssprachen gibt es diese Konstruktion nur in Verbindung mit Verben der Wahrnehmung oder Veranlassung: Ich sehe ihn kommen; ich höre ihn singen, ich lasse ihn vorsingen usw. In der Renaissance treten die typisch lateinischen Konstruktionen vermehrt auf, vor allem im Französischen, aber auch im Deutschen. Das gilt zumindest für die geschriebene Sprache: J’advoue le tort estre mien (Marguerite de Navarre) *Ich gestehe das Unrecht zu sein meines Ich gestehe, dass das Unrecht bei mir liegt Le sommelier, qui pensoit ce vin ne luy avoir esté recommandé que pour sa santé (Rabelais) ? Der Kellermeister, der dachte, diesen Wein nur zu seiner Gesundheit empfohlen bekommen zu haben Der Kellermeister, der dachte, man habe ihm diesen Wein nur zu seiner Gesundheit empfohlen (beide Zitate nach Gougenheim 1951, 156) Im Frühneuhochdeutschen treten diese Konstruktionen zunächst bei den Frühhumanisten in Übersetzungen aus dem Lateinischen auf; später erscheinen sie auch in volkstümlichen Texten: Biß daß er wust, sein Nachbarleut und das ganze Dorf beysammen seyn. (Fischart) Bis er wusste, dass seine Nachbarn und das ganze Dorf beisammen sein würden Hochzeit haben, lange leben, wünscht im ieder sein gegeben. (Logau) Jeder wünscht, es möge ihm gegeben sein, zu heiraten und lange zu leben. (beide Zitate aus Paul 2 1968, Bd. IV, 111) Bis zum 18. Jahrhundert sind im Französischen und im Deutschen Konstruktionen dieser Art weitgehendend verschwunden − auch aus der geschriebenen Sprache. Nicht so im Englischen. Über die Admiral Nelson zugeschriebene A.c.I-Konstruktion England expects every man to do his duty wurde bereits in Kap. 1.3.2 berichtet. Früher, als die Schulgrammatiken der modernen Sprachen noch nach lateinischem Muster gestaltet wurden, pflegte man in einem solchen Fall auch im Englischen von einem 83 5.1 Die verschiedenen ethnisch-kulturellen und sprachlichen Schichten im chronologischen Überblick <?page no="84"?> A.c.I. zu sprechen, was natürlich bei einer schwach flektierenden Sprache nicht angebracht ist. Heute spricht man eher von infinitve clauses. Sätze wie I would like the President to be successful They expected him to finish the talk in five minutes sind (im Gegensatz zum Deutschen oder zum Französischen) keineswegs ungewöhnlich. Die verschiedenen sprachlichen Schichten des Englischen sind im Bewusstsein von Sprechern mit ausgebildetem Sprachgefühl durchaus präsent. In einem bekannten Song der Beatles wird mit Elementen unterschiedlicher Herkunft gespielt: Imagine there’s no heaven It’s easy if you try No hell below us Above us only sky ( John Lennon) Heaven ist ein angelsächsisches Wort, verwandt mit dt. heben und etwas entfernter auch mit Himmel; es hat sich im Laufe der Geschichte spezialisiert auf die Bedeutung „Sitz Gottes, der Engel und der Heiligen“. Sky ist ein skandinavisches Wort, das auf altnordisch sky „Wolke, düster bewölkter Himmel“ zurückgeht und sich auf die Bedeutung „Himmel als Firmament“ spezialisiert hat. Ein lexikalischer Unterschied dieser Art besteht weder im Deutschen noch in den romanischen Sprachen; die Differenzierung der beiden Bedeu‐ tungen wird dem Kontext überlassen: Du kommst nicht in den Himmel; der Himmel wurde blutrot. Übersetzungstechnisch stellt die lexikalische Differenzierung normalerweise kein Problem dar, wenn Englisch die Ausgangssprache ist. In den meisten Fällen kann für heaven oder sky einfach Himmel, ciel, cielo, celo usw. verwendet werden; man hat nur darauf zu achten, dass die durch den sprachlichen Kontext bewirkte Determinierung im Zieltext hin‐ reichend klar ist. Wenn nun aber John Lennon die beiden Lexeme miteinander konfrontiert, wird aus einer virtuellen, einer sprachlichen Opposition eine aktuelle, eine Textopposition: „Stell dir vor, es gäbe keinen heaven und auch keine Hölle, sondern nur sky.“ In einem solchen Fall muss sich der Übersetzer etwas einfallen lassen. 5.2 Alt- und Mittelenglisch: Einige Informationen zu Sprache und Literatur und wichtigen Übersetzungen Einige Fakten aus der neueren Übersetzungsgeschichte Großbritanniens (wichtige Über‐ setzungen ins Englische und aus dem Englischen) werden in Kapitel 9.4 mitgeteilt werden. Hier soll zunächst in höchst fragmentarischer Form ein kurzer Einblick in die ältere eng‐ lische Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte vermittelt werden, der sich im Hinblick auf ein besseres Verständnis der europäischen Übersetzungsgeschichte insgesamt als hilfreich erweisen könnte. Schauen wir uns zunächst einmal ein paar Verse aus Beowulf an, dem einzigen einigermaßen vollständig erhaltenen englischen Heldenlied. Es ist im 8., mögli‐ cherweise sogar schon im 7. Jahrhundert entstanden und wurde um das Jahr 1000 von zwei Schreibern aufgezeichnet. Es besteht aus über dreitausend Langzeilen und ist somit das bei weitem umfangreichste Dokument aus altenglischer Zeit. Als Nationalepos - wie das Ro‐ 84 5 Die Vielschichtigkeit des Englischen im Lichte der Übersetzungsgeschichte <?page no="85"?> lands- oder das Nibelungenlied - eignet es sich nicht; denn das Geschehen spielt sich in Skandinavien ab, und die Protagonisten sind Skandinavier − Nordgermanen wie diejenigen, die noch vor der normannischen Eroberung Teile der britischen Inseln besiedelt haben (cf. supra). Der Verfasser des Beowulf muss ein hochgebildeter Geistlicher gewesen sein, der mit der altgermanischen Metrik ebenso vertraut war wie mit der antiken Rhetorik. Es ging ihm offenbar darum, die Erinnerung an die glanzvolle Zeit der germanischen Heldenwelt unter einem christlichen Deckmantel aufscheinen zu lassen. Die hier wiedergegebenen Verse sind nur ein Teil der ausführlichen Schilderung von Beowulfs Vorbereitungen zum Kampf gegen „das furchtbare Fremdwesen“, gegen die Mutter von Grendel, die den durch Beowulf herbeigeführten Tod ihres Sohnes rächen will: ac se hwīta helm hafelan werede, Auch der hellglänzende Helm, der ihm das Haupt schützte, sē þe meregrundas … menġan scolde musste mitgehen auf den Meeresgrund sēċan sundġebland sinċe ġeweorðad, Das Wogengewühl durchwandern, mit einem wertvollen Kleinod geschmückt befongen frēawrāsnum swā hine fyrndagum Von teuren Reifen umgeben, wie ihn in Tagen der Vorzeit worhte wāpna smið wundrum tēode, Der Waffenschmied schuf, der ihn wunderbar verzierte besette swīnlīcum þæt hine syðþan nō Mit Eberbildern besetzte, so dass ihm seit eh und je brond ne beadomēċas bītan ne meahton. Nicht eines der Schlachtschwerter schaden konnte (Verse 1448-1454) (Übersetzung Martin Lehnert) His shining helmet protected his head; / soon it would plunge through heaving waters, / stir up the bottom, its magnificent head-band / inset with jewels, as in times long past / a master smith worked it with his wondrous skill, / set round its boar plates, that ever afterwards / no sword or war-ax could ever bite through it. (Übersetzung: Howel D. Chickering jr.) Diese wenigen Verse mit ihren Übersetzungen geben Anlass zu einigen Beobachtungen: Manche Wörter und Syntagmen sind für den unbefangenen deutschen Leser aus dem altenglischen Original leichter zu erraten als aus der neuenglischen Übersetzung: mere‐ grundas; wāpna smið; bītan ne meahton „nicht beißen mochten“. Ein Blick auf wenige Verse eines etwa zur selben Zeit entstandenen deutschen Heldenliedes, des Hildebrandslieds, lässt die enge Verwandtschaft mit der kontinentalgermanischen Dichtung deutlich werden: Hadubrant gimahalta, Hiltibrantes sunnu: Hadubrand sagte Hildebrands Sohn ‚dat sagetun mi unseriu liuti Das sagten mir unsere Leute Alte anti frote, dea erhina warun, Alte und weise die früher (eher) waren dat Hiltibrant hætti min fater ich heittu Hadubrant‘ dass Hildebrand hieße mein Vater ich heiße Hadubrand. 85 5.2 Alt- und Mittelenglisch: Einige Informationen zu Sprache und Literatur <?page no="86"?> Beide Lieder bestehen aus vierhebigen, mit einer Art von Zäsur versehenen Versen, die keine Endreime, sondern Stabreime (Alliterationen) aufweisen. Die Knappheit des Ausdrucks kann weder in der deutschen noch in der englischen Über‐ setzung erreicht werden. Das hat zwei Gründe. Zum einen sind Altenglisch und Althoch‐ deutsch stark flektierende Sprachen, die eine Kondensierung der übermittelten Information erleichtern. Zum anderen haben alle Übersetzer älterer Sprachstufen die Tendenz, statt Standardäquivalenten Paraphrasen zu verwenden und gegebenenfalls erklärende Zusätze einzuschieben. Beide Übersetzungen des Beowulf haben, obwohl die Übersetzer sichtlich bemüht sind, etwas vom Ton des Originals durchschimmern zu lassen, keinen autonomen Status; sie sind als Lesehilfen gedacht. Die von uns in die Verse des Hildebrandslieds ein‐ geschobenen Zeilen sind weit weniger: Es sind schlichte Interlinearversionen. Covert Translations im Sinne von Juliane House (2016, 78 ff.), d. h. Übersetzungen, die sich nicht als solche zu erkennen geben, sondern wie ein Original gelesen werden wollen, verfahren ganz anders. Von Beowulf gibt es vermutlich mehr als hundert. Schon Ludwig Uhland hat im 19. Jahrhundert eine Art von Paraphrase angefertigt. J. R. K. Tolkiens Über‐ setzung weist begreiflicherweise zahlreiche Parallelen zu seinen erfolgreichen Fantasy- Romanen auf. Dank seines Namens hat Seamus Heaney, der irische Nobelpreisträger, mit seiner Übersetzung dem altenglischen Epos Leserkreise erschlossen, die sich sonst schwer‐ lich für altenglische Heldenlieder erwärmt hätten. Wir wollen hier keine weitere intralin‐ guale Übersetzung, sondern eine freie Bearbeitung mit geändertem skopós zum Vergleich heranziehen: Dragon Slayer. The Story of Beowulf ist eine Nacherzählung für Kinder. Die Autorin, Rosemary Sutcliff, hat mit ihren historischen Romanen vor allem die Vor- und Frühgeschichte Englands, Schottlands und Irlands mit viel Einbildungskraft begleitet. Die unten wiedergegebene Stelle gehört zu einer früheren Episode des Lieds als der oben wie‐ dergegebene Text. Sie schildert die Ankunft Beowulfs und seiner Begleiter am Hofe Hroth‐ gars, des Dänenkönigs, dem Beowulf gegen das Ungeheuer Grendel Hilfe leisten soll: In the doorway one of the household thanes stood leaning on a spear; a dark man with beads of yellow see-washed amber round his neck. His gaze was upon them as they came to a halt before him; and he asked, as the Coast Warden had asked: “Who are you, strangers who come in war-harness to the threshold of Hrothgar the King? And what is it that you seek here? ” “As to who we are - I am sister’s-son to Hygelac, King of the Geats, and these with me are my swordbrothers and heart-companions,” Beowulf replied, as he had done before. (Dragon Slayers, 2. Kap.) Obwohl sie für Kinder schreibt, spielt die Autorin doch bewusst mit den verschiedenen Schichten des Englischen und mutet ihren jungen Leserinnen und Lesern einiges zu. Das germanische Element ist - im Vergleich zu einem durchschnittlichen modernen englischen Text - überrepräsentiert. So ist z. B. nicht von einem nephew (neveu) die Rede, der Sohn entweder des Bruders oder der Schwester von Hygelac hätte sein können, sondern präziser von einem sister’s son. Natürlich geht es nicht ganz ohne anglonormannische Elemente (strangers; companions). Der dunkle Torwächter mit der ausgewaschenen Bernsteinkette um den Hals macht keinen sehr nordischen Eindruck. Das Material, aus dem die Perlen seiner Kette gemacht sind, wird denn auch mit einem mittellateinischen Lehnwort aus dem Arabischen bezeichnet: ambra, wobei nicht sicher ist, ob hier „Bernstein“ oder „Amber“ gemeint ist. 86 5 Die Vielschichtigkeit des Englischen im Lichte der Übersetzungsgeschichte <?page no="87"?> Nun aber zurück zur Übersetzungsgeschichte im engeren Sinn. Die Angeln, Sachsen und Jüten waren, nachdem sie Kontinentaleuropa verlassen hatten und bevor sie sich mit den Wikingern herumschlagen mussten, relativ schnell zu einer von der spätrömischen Antike geprägten Hochkultur gelangt. Das galt in erster Linie für den Adel und den Klerus: Von Beda Venerabilis (672-735), einem Geistlichen und Universalgelehrten, war bereits die Rede (cf. supra 5.1); ebenso von King Alfred (Alfred the Great; 849-899), der nicht nur die einge‐ drungenen Nordgermanen in ihre Schranken verwies, sondern auch Bedas Historia Eccle‐ siastica Gentis Anglorum (731) ins Altenglische übertrug. Nachdem die Angeln, Sachsen und Jüten den europäischen Kontinent verlassen hatten, waren sie, nicht zuletzt auf dem Weg über die Übersetzung, schnell mit der Sprache und Kultur der römischen Spätantike in Verbindung gekommen. In Süddeutschland fand dieser Kontakt erst etwa zweihundert Jahre später statt - Norddeutschland, die einstige Heimat der Angelsachsen, blieb noch längere Zeit unberührt vom Christentum und der römischen Kultur. Ein Musterbeispiel für einen gebildeten Herrscher der frühen altenglischen Epoche ist König Alfred. Er ist nicht nur wegen seiner militärischen und politischen Leistungen, sondern auch als Förderer von Kunst und Wissenschaft und - last but not least - als Übersetzer in Erinnerung geblieben. Besonders wichtig ist - neben seiner Version der Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum - seine Übersetzung von Boethius’ De consolatione philosophiae (um 520), einem der am häu‐ figsten übersetzen Werke der Spätantike. Es handelt sich um eine freie, stark einbürgernde Übersetzung, die den Wertvorstellungen der noch ziemlich rauhen Germanen Rechnung trägt: Of the early translators he [i.e. King Alfred] is the freest in his handling of the content of his sources, and a similar freedom is evident in his language. The element of conscious choice is evident particularly in Alfred’s response to the demands of technical terminology. Faced with difficult terms like fortuna, fata, providentia, Alfred looks for approximate English equivalents such as wyrd and woruldgesælð or employs a paraphrase rather than borrowing the Latin terms. He acknow‐ ledges that Boethius was a consul but immediately explains ‘which we call heretoga’ and uses the word thereafter … (Godden 1992, 524) König Alfred war nicht der erste, der aus einem Konsul einen Herzog machte. Man kann immer wieder lesen, die frühen Übersetzer seien ausnahmslos durch eine „primitive Wört‐ lichkeit“ gekennzeichnet gewesen. Das stimmt nicht; freie und vor allem einbürgernde Übersetzungen hat es schon immer gegeben. Sie lösten die ‚eng am Text klebenden‘ Über‐ setzungen nicht ab, sondern koexistierten und konkurrierten mit ihnen. Die Beschäftigung mit King Alfred gibt Anlass zu einem kleinen Exkurs über gekrönte Häupter, die sich um die Literatur und die Kunst des Übersetzens verdient gemacht haben: Heinrich VI., in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts deutscher Kaiser aus dem Ge‐ schlecht der Staufer (Sohn des zu mythischem Ruhm gelangten Barbarossa), ist als Minne‐ sänger hervorgetreten. Alfonso El Sabio (= Alfonso X.) regierte zwischen 1252 und 1284 nicht nur Spanien, sondern zeichnete sich ebenfalls als Schriftsteller und Übersetzer aus. Charles V., der zwischen 1364 und 1380, während eines verhältnismäßig friedlichen Inter‐ valls des sog. „Hundertjährigen Krieges“, Frankreich regierte, sorgte mit einer Art von ‚Übersetzungspolitik‘ dafür, dass die wichtigsten Texte der Antike ins Französische über‐ 87 5.2 Alt- und Mittelenglisch: Einige Informationen zu Sprache und Literatur <?page no="88"?> setzt wurden; er war der Mäzen einer Reihe von französischen Übersetzern, darunter Nicole Oresme. Zurück zur altenglischen Zeit. Erwähnt werden muss noch Ælfric of Eynsham (etwa 955-1010), ein Abt, der wegen seiner Beschäftigung mit philologischen Fragen den Bei‐ namen Alfricus Grammaticus erhielt. Neben zahlreichen hagiographischen Schriften schuf er ein Lehrwerk zur lateinisch-englischen Grammatik, Lexik und Phraseologie, das von vornherein so konzipiert war, dass die Benutzer es gegebenenfalls vervollständigen und korrigieren konnten. In die Übersetzungsgeschichte ist er mit einer Version der Genesis eingegangen, die als früheste Teilübersetzung der Bibel ins Englische gilt und von deren Wert er selbst offenbar nicht sehr überzeugt war. Das, was in der antiken Rhetorik numerus genannt wurde, schien ihm (wie viel später Etienne Dolet oder Henri Meschonnic) beson‐ ders wichtig gewesen zu sein: Despite his emphasis on simplicity in theory and practice, rhythm and alliteration play an impor‐ tant part in Ælfric’s writing, though characteristically it is ornament that is closely associated with meaning. (Godden 1992, 529) Zum Abschluss dieser kurzen historischen Übersicht wollen wir einen Sprung in die mit‐ telenglische Zeit wagen, zu einem Dichter, der am Anfang der neueren englischen Literatur steht: Geoffrey Chaucer (um 1340-1400). Sein bekanntestes Werk sind die unvollendet ge‐ bliebenen Canterbury Tales. Sie sind stark beeinflusst von Giovanni Boccaccios kurz zuvor entstandenem Decameron (Decamrone) (verfasst um 1359, über hundert Jahre später zum ersten Mal gedruckt). Es handelt sich wie beim toskanischen Vorbild um einen Kranz von Erzählungen - z.T. recht frivoler, erotischer Natur -, die in eine Rahmenhandlung einge‐ bunden sind. Es beginnt nun eine Zeit des engen Kontakts der englischen Literatur mit den romani‐ schen Literaturen, ein nicht zuletzt durch Übersetzungen geförderter Kultur- und Litera‐ turkontakt zwischen mehr oder weniger zeitgenössischen Autoren. Auch Petrarca, vor allem seine Lyrik, wird frühzeitig in England nachgeahmt. Durch Übersetzungen werden vor allem literarische Gattungen in das Gebiet der Zielsprache übernommen. So gelangt das Sonett verhältnismäßig früh nach England. Zur Zeit Chaucers verschwindet das Fran‐ zösische, genauer gesagt das Anglonormannische, mehr und mehr aus dem Sprachgebrauch der herrschenden Schichten (die Bauern haben natürlich immer Englisch gesprochen). Eine ironische Episode in den Canterbury Tales deutet darauf hin: Ther was also a Nonne, a Prioresse, That of hir smylyng was ful symple and coy (quiet) […] And Frenssh she spak ful faire and fetisly (properly and elegantly). After the scole of Stratford atte Bowe For Frenssh of Parys was to hire unknowe. (Canterbury Tales, General Prologue, v. 118 ff.) Offenbar galt es zu dieser Zeit bereits als snobistisch, Französisch statt Englisch zu sprechen, insbesondere dann, wenn dieses Französisch in Stratford at Bowe (heute ein Teil von London) und nicht in Paris beheimatet war. Die wenigen Verse zeigen, dass sich das Mit‐ telenglische zu dieser Zeit schon weit vom Altenglischen entfernt hatte. 88 5 Die Vielschichtigkeit des Englischen im Lichte der Übersetzungsgeschichte <?page no="89"?> 5.3 Der Anteil der Übersetzer an der Entwicklung des Englischen zur lingua franca Dieses kurze und höchst lückenhafte Kapitel soll mit einigen Überlegungen zum heutigen Status des Englischen als einer lingua franca abgeschlossen werden. Es gibt kaum eine andere europäische Sprache, die sich so unbekümmert allen Einflüssen von außen geöffnet hat wie die englische. Wie wir gesehen haben, gilt dies nicht nur für den Wortschatz, son‐ dern auch für die Syntax. Lässt sich der Aufstieg des Englischen zu einer Weltsprache mög‐ licherweise dadurch erklären, dass viele Sprecher anderer Sprachen im Englischen etwas Vertrautes wiederfinden? Naive Hypothesen wie diese erscheinen zunächst verführerisch einleuchtend, erweisen sich jedoch schon bei einer oberflächlichen Überprüfung als nicht haltbar. Wie den meisten fragwürdigen Hypothesen haftet jedoch auch dieser das sprich‐ wörtliche „Körnchen Wahrheit“ an. Und dieses Körnchen betrifft weniger das Englische als lingua franca in der Alltagskommunikation (cf. infra) als vielmehr den Status des Englischen als Sprache der Wissenschaft. Hier lässt sich eine Rückkehr zu den Anfängen konstatieren. Jahrhunderte lang haben sich die Volkssprachen vom Lateinischen emanzipiert; das Dach einer einheitlichen Wissenschaftssprache ging dabei verloren. Heute kehrt dieses Dach wieder zurück in Form eines stark mit Elementen aus beiden klassischen Sprachen ange‐ reicherten Englisch. Und an dieser starken Latinisierung der höheren Register haben die Übersetzer durchaus einen Anteil: Academic life was fostered by the establishment of two universities in England. While these pro‐ moted the use of Latin more than of English, they also injected new ideas and concepts into the intellectual life of the country which in turn found their way into writings in the vernacular. In particular, there was an enormous growth in the amount of translation, from both Latin and French. In the fourteenth and fifteenth centuries it is through this translating activity that many loan words make their first appearance in English, for a translator often wishes his own version to be as stylistically elegant and ornate as the original. Many translators keep very closely to their original and in this way introduce both the words and the syntactic structures of their originals into English (Blake 1992, 18). Dass sich dieser Einfluss bis in die jüngste Vergangenheit ausgewirkt hat, zeigt der Verfasser selbst ungewollt mit einer jener eleganten A.c.I.-Konstruktionen, von denen oben die Rede war: „a translator … wishes his own version to be as stylistically elegant …as …“. Die Frage, worin denn nun die Eignung des Englischen für die Rolle einer lingua franca oder gar einer ‚Weltsprache‘ liege, ist eine Frage der Sprachbewertung. Dabei hat man zwischen intrinsi‐ schen und extrinsischen Kriterien zu unterscheiden. Bei den intrinsischen geht es um Eigenschaften der Sprache selbst, bei den extrinsischen um das Verhältnis der Sprache zu ihrem Umfeld, also um historisch-politische Gegebenheiten: Zahl der Sprecher, Vorhan‐ densein einer bedeutenden Literatur und einiges andere mehr (ausführlicher bei Albrecht 2001, 532-535). Für uns Philologen ist die Versuchung groß, intrinsische Kriterien für die hervorgehobene Rolle einer Sprache ausfindig zu machen, unter den extrinsischen akzep‐ tieren wir am ehesten noch das Vorhandensein einer bedeutenden Literatur als Argument. Versuchen wir also zunächst einmal einige intrinsische Kriterien dingfest zu machen, die für die Rolle des Englischen als lingua franca sprechen: 89 5.3 Der Anteil der Übersetzer an der Entwicklung des Englischen zur lingua franca <?page no="90"?> Das moderne Englisch hat den größten Teil seiner Flexion verloren und dabei außerhalb des pronominalen Bereichs nur Spuren des grammatischen Genus bewahrt. Das Genus kann zusätzlich markiert werden, wenn der Sexus ausgedrückt werden soll: boy friend, girl friend, he-goat, she-goat usw., oder es erscheint versteckt in pronominalen Konstruktionen: England is proud of her poets. In der Alltagskommunikation spielt die Kenntnis des gram‐ matischen Geschlechts eine weit geringere Rolle als im Deutschen oder in den romanischen oder slawischen Sprachen. Darüber hinaus verfügt das Englische (vordergründig be‐ trachtet) nur über ein einstufiges Anredesystem. Die Form you wird von vielen für die verallgemeinerte Form der vertrauten Anrede gehalten, in Wirklichkeit handelt es sich um die generalisierte Höflichkeitsform, die aus der 2. Person Plural hervorgegangen ist (der in Randgruppen verbliebene Gebrauch von thou spielt praktisch keine Rolle mehr). So gilt das Englische vielen als ‚leichte‘ Sprache, und diese Einschätzung hat etwas für sich, wenn es um elementare Kommunikationsbedürfnisse von Nicht-Muttersprachlern geht, allerdings nur dann, wenn man sich ausschließlich im Präsens ausdrückt und verbliebene Umlaut‐ plurale wie feet, teeth, geese oder mice meidet. Wer eine romanische Sprache oder Deutsch lernen will, steht schon ganz am Anfang vor größeren Schwierigkeiten. Dies alles (und einige hier nicht erwähnte Eigenschaften mehr) erklärt jedoch allenfalls den Status des Englischen als lingua franca auf der untersten Ebene, nicht auf den höheren Etagen des Kulturbetriebs. Jeder, der wirklich anspruchsvolle englische Texte lesen will oder muss - vom Verfassen anspruchsvoller englischer Texte ganz zu schweigen −, wird feststellen, dass es sich, allein schon wegen des ungeheuren lexikalischen Reichtums, um alles andere als um eine ‚leichte‘ Sprache handelt. „Sáco per conclusión muy cierta: que siempre la lengua fue compañera del imperio“, schrieb Antonio de Nebrija einst im Vorwort zu seiner Gramática della lengua castellana (1492). In sehr freier Paraphrase: „Eines ist sicher: die Geltung einer Sprache geht immer einher mit dem politischen Einfluss des Staats, in dem sie gesprochen wird“. Die Weltgel‐ tung des Englischen begann mit der Etablierung des British Empire, das später zum Com‐ monwealth of Nations wurde. Sie konnte über den Niedergang der Bedeutung Großbritan‐ niens hinaus stabilisiert werden, weil sich das Englische in ganz Nordamerika durchsetzen konnte. Natürlich ist für Autoren eines Buchs über die Übersetzungsgeschichte, die bemüht sind, den Einfluss der Übersetzer auf die Geschichte der Sprache und Literatur gebührend her‐ vorzuheben, die Versuchung groß, auch den Einfluss der Übersetzer auf den Aufstieg des Englischen geltend zu machen. Jede diesbezügliche Hypothese steht jedoch auf schwachen Füßen. 90 5 Die Vielschichtigkeit des Englischen im Lichte der Übersetzungsgeschichte <?page no="91"?> 6 Bibelübersetzung in Europa Im westlichen Kulturkreis ist die Bibel bis heute das am häufigsten übersetzte Buch. Ganze Übersetzungstheorien sind allein im Hinblick auf das spezielle Problem der Bibelüberset‐ zung konzipiert worden. Genau genommen ist die Bibel gar kein Buch. Sprachhistorisch gesehen ist der Terminus Bibel ein falscher Singular; er geht auf griech. ta biblía „die Büch‐ lein“ zurück. In der Tat handelt es sich bei der Bibel eher um eine Textsammlung als um einen Text. In den romanischen Sprachen wird auch heute noch häufig der Plural gebraucht: Les Saintes Ecritures, i libri sacri, le Sacre Scritture usw. Und diese Textsammlung ist auch nicht in einer einzigen Originalsprache abgefasst; ein Übersetzer oder ein Theologe, der zu den Quellen zurückgehen will, muss mehrere „alte Sprachen“ beherrschen. 6.1 Offenbarungsreligion und „heiliger Text“. Übersetzungsoptimismus und -pessimismus bei den Buchreligionen Die Bibel ist der „heilige Text“ einer Offenbarungsreligion, das Schrift gewordene Wort Gottes. Im Gegensatz zum Koran, der ebenfalls heiliger Text einer eng verwandten Offen‐ barungsreligion ist, enthält die Bibel das Wort Gottes, der Koran hingegen ist das Wort Gottes - zumindest für die Strenggläubigen beider Religionen. Darüber hinaus ergeben sich bei der Bibel einige zusätzliche Probleme. Es bestehen unterschiedliche Ansichten darüber, welche Texte überhaupt zur Bibel ge‐ hören oder besser gehören sollen. Den Juden gilt nur die hebräische Bibel als heiliger Text; jüdische Übersetzer wie Buber und Rosenzweig sprechen ganz bewusst vom „sogenannten“ Alten Testament (cf. infra). In den vorchristlichen jüdischen Gemeinden bestand keine Ei‐ nigkeit darüber, was in den Kanon der heiligen Schriften aufzunehmen sei und was nicht, und diese Uneinigkeit wurde an die frühchristlichen Gemeinden vererbt. Alles was nach Ansicht einer bestimmten Glaubensgemeinschaft nicht zum Kanon gerechnet werden sollte, wurde als apokryph, d. h. „verborgen, unecht“, bezeichnet. Schon der Bestand des sog. Alten Testaments war umstritten. Mit dem Aufkommen der Evangelien, der Briefe der Apostel und weiterer neutestamentarischer Schriften wird die Lage noch weit kompli‐ zierter. Einige Bücher des Alten Testaments, die in katholischen Bibelausgaben enthalten sind, wurden von Luther (und anderen Reformatoren) nicht berücksichtigt, weil es keine hebräisch-aramäischen Urtexte gibt, die eine Überprüfung der Authentizität gestatten würden. Unter den zahlreichen Apokalypsen ist nur die sog. Offenbarung des Johannes (mehr oder weniger zufällig? ) in den Kanon der biblischen Schriften gelangt. Eine ganze Reihe von meist nur bruchstückhaft überlieferten Evangelien wurde nicht in den Kanon aufgenommen; sie sind nur einigen Spezialisten genauer bekannt (apokryphe Evangelien). Darüber hinaus sind die biblischen Schriften in zwei, drei oder wenn man so will drei‐ einhalb Ausgangssprachen abgefasst, in Hebräisch, Aramäisch, Griechisch und in einem <?page no="92"?> stark vom Hebräischen beeinflussten Griechisch (wie z. B. die Apokalypse, die Offenbarung des Johannes). Es ist auch nicht immer ratsam, auf die sprachliche Version zurückzugreifen, in der der betreffende Text ursprünglich tatsächlich verfasst wurde; denn die griechische Fassung eines biblischen Textes kann sich unter Umständen im Lichte der wissenschaftli‐ chen Forschung als ursprünglicher, vollständiger und zuverlässiger erweisen als der in einer anderen Traditionslinie lückenhaft überlieferte hebräisch-aramäische Text. Legt ein mo‐ derner Übersetzer in einem solchen Fall die griechische Fassung seiner Arbeit zugrunde, so hätte man das Griechische als faktische, das Hebräische als fiktive Originalsprache anzu‐ sehen. Zur Zeit der Herausbildung des Christentums herrschte allgemein Übersetzungsopti‐ mismus. Die verschiedenen Sprachen wurden als unterschiedliche Nomenklaturen für vor- und außersprachlich vorgegebene Inhalte angesehen und die Übersetzung als eine Art von schlichter Umkodierung verstanden. Im sog. Aristeasbrief wird die Legende verbreitet, zweiundsiebzig jüdische Gelehrte (später ein wenig ungenau als die Septuaginta bezeichnet) hätten in Klausur eine Übersetzung des Pentateuchs (der 5 Bücher Mose) ins Griechische angefertigt. In der späteren Überlieferung kam noch die Behauptung hinzu, alle zweiund‐ siebzig Übersetzer hätten aufgrund göttlicher Inspiration unabhängig voneinander genau den gleichen Text erstellt. Mohammed vertrat hingegen eine völlig andere Position, was die Übersetzung eines heiligen Textes betrifft. Der Koran sei ihm in arabischer Sprache offenbart worden, und so müsse er auch gelesen werden. Die Islamwissenschaftler Ernst Werner und Kurt Rudolph versichern in diesem Zusammenhang, „eine Übersetzung des Koran in eine andere Sprache“ sei „für einen Muslim unmöglich und auch unzulässig“ (Werner/ Rudolph o. J., 28). Viel später, ab dem ausgehenden Mittelalter, entwickelte sich auch bei den christlichen Gelehrten ein gewisser Übersetzungsskeptizismus. Die Erfahrungen, die die Bibelüber‐ setzer bei ihrer Arbeit machten, und die häretischen Bewegungen, die - so wurde zumindest im Hinblick auf die Hussiten angenommen - durch eine naive Bibellektüre ausgelöst wurden, führten zu einer immer stärker ausgeprägten skeptischen, gelegentlich auch pes‐ simistischen Einstellung gegenüber der Möglichkeit der Übersetzung. Einerseits wurden sich die Verantwortlichen zunehmend der Tatsache bewusst, dass jede Übersetzung, wenn sie für den Sprachunkundigen auch nur ein wenig verständlicher sein soll als das Original, eine Art von Exegese, von Auslegung sein muss - notwendiger- und unvermeidlicherweise. In seinem berühmten Brief an Pammachius (Brief Nr. 57; cf. infra) hatte bereits Hieronymus auch auf das eng mit der Übersetzung verquickte Problem fehlerhafter Überlieferung hin‐ gewiesen. So legten die Evangelisten manchmal Jesus falsche oder mit falscher Quellenan‐ gabe versehene Zitate in den Mund. Den Septuaginta weist Hieronymus verschiedene Fehler beim Umgang mit ihren Quellen nach. In solchen Fällen müsse sich der Übersetzer überlegen, ob er korrigierend eingreifen dürfe (cf. Hieronymus 1910 [1973]). Andererseits - und das ist in der europäischen Übersetzungsgeschichte vielleicht noch wichtiger - barg jede Übersetzung in eine der in Entstehung begriffenen europäischen Volkssprachen die Gefahr in sich, dass Personen die biblischen Texte lasen (oder vorgelesen bekamen), die - zumindest nach Ansicht kirchlicher Autoritäten - auf diese unmittelbare Kenntnisnahme nicht vorbereitet waren. Am Ende des Mittelalters stellte sich - nicht zu‐ letzt aufgrund der frühen Ketzerbewegungen - eine zunehmend restriktive Einstellung 92 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="93"?> gegenüber der Übersetzung ein. Das gilt dann ganz besonders für die Gegenreformation, die sich gegen Luthers Forderung richtete, jeder Gläubige müsse unmittelbaren Zugang zum Text der Bibel erhalten. Auf dem Konzil von Trient wurde 1546 eine lat. Übersetzung, die sog. Vulgata, die im Wesentlichen auf Hieronymus zurückgeht, zur für die römisch-ka‐ tholische Kirche verbindlichen Version erklärt. Das war nun gewiss nicht der „Urtext“, aber diese Übersetzung hatte den Vorteil, dass jeder Geistliche in der westlichen Welt, nicht jedoch jeder Laie den Text lesen und verstehen konnte. Wenn denn in Volkssprachen über‐ setzt wurde, so musste der Wortlaut von theologisch geschulten Experten auf seine Unbe‐ denklichkeit hin überprüft werden: Auf katholischer Seite entwickelte sich eine Art von ‚Exegesemonopol‘ der Kirche. Anders auf protestantischer Seite - und in dieser Hinsicht ist bereits der Kirchenvater Augustinus als ‚Protestant‘ anzusehen: Theologen aus dieser Traditionslinie haben der Er‐ griffenheit des Exegeten einen höheren Stellenwert eingeräumt als dem philologisch-his‐ torisch kunstgerechten Umgang mit den überlieferten Texten. Nicht philologisch-herme‐ neutische Überlegungen, sondern ihre eigene Inspiration galt ihnen als Rechtfertigung für den Wortlaut ihrer Übersetzung. Die Übersetzungspessimisten aller Schattierungen sahen hingegen in der göttlichen Offenbarung einen einmaligen, nicht wiederholbaren Akt, der nur durch Treue zum ‚heiligen Original‘ unverfälscht an spätere Generationen weiterge‐ geben werden konnte. Wir werden im folgenden Kapitel sehen, dass der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit das Hauptproblem der Offenbarungsreligionen darstellt. Die Aufzeichnung des geoffenbarten Textes zerstört nämlich die sogenannte „Homöostase“, die für orale Gesellschaften kennzeichnend ist. 6.2 Unterschiedliche Skopoí der Bibelübersetzung Die sog. Skopostheorie (von griech. σκοπόϛ „das Ziel, der Zweck“) wurde im Wesentlichen von Hans J. Vermeer begründet, wenn auch einige vor ihm mehr oder weniger das Gleiche gesagt haben, ohne dabei auf das griechische Wort zu rekurrieren. Sie besagt, dass das wichtigste Kriterium zur Beurteilung der Angemessenheit einer Übersetzung deren Zweck im weitesten Sinne sei: An welche Adressaten richtet sich die Übersetzung, was will der Übersetzer (oder sein Auftraggeber) mit ihr erreichen? Anhand der Bibelübersetzung lässt sich zeigen, dass diese Theorie sehr gut beschreibt, was bei der Gestaltung des Zieltextes zu beachten ist, wenn auch - wie sich in der späteren Diskussion gezeigt hat - die Rück‐ bindung an den Ausgangstext im Rahmen der Theorie unbestimmt bleibt. In der Tat ver‐ folgen Bibelübersetzer unterschiedliche Ziele, die unter Umständen zu Konflikten führen können: 93 6.2 Unterschiedliche Skopoí der Bibelübersetzung <?page no="94"?> Die Übersetzer, die in der Bibel in erster Linie einen heiligen Text sehen, befinden sich, was die zu wählende Übersetzungsstrategie betrifft, in einer ‚Zwickmühle‘. Das zeigt sich bereits im sog. Brief an Pammachius, den Hieronymus, der Übersetzer der Vulgata, verfasst hat, um sich gegen Kritiker seiner Übersetzungen zu verwahren. Er bekennt sich prinzipiell zur freien Übersetzung; normalerweise übersetze er nicht Wort für Wort, sondern dem Sinn nach: non verbum e verbo, sed sensum […] de sensu. Aber er äußert dabei sofort einen Vor‐ behalt: Bei der Übersetzung der Heiligen Schrift gehe er nicht so vor, da mache er eine Ausnahme, denn dort sei sogar die Wortstellung ein Geheimnis: absque Scripturis sanctis, ubi et verborum ordo mysterium est … (cf. Hieronymus 1910 [1973]). Das liest sich, in einem größeren Kontext betrachtet, fast wie eine Schutzbehauptung. Von seiner Ausbildung her war Hieronymus nämlich ein rhetorisch und philologisch geschulter Schriftsteller, und als solcher empfand er das Bedürfnis, einen lesbaren, sprachlich ansprechenden Text zu ver‐ fassen, der die Leser mitreißen und von den Heilswahrheiten des Christentums überzeugen sollte. In einer ähnlichen Situation befanden sich alle Übersetzer sakrosankter Texte, solange sie diese ausschließlich als religiöse Botschaft und nicht etwa als kulturgeschichtliches Do‐ kument zu übertragen hatten. Mit dem Auftrag, einen heiligen Text zu übersetzen, ist im Allgemeinen die Forderung verbunden, sehr vorsichtig und ‚treu‘ zu übersetzen, ‚dunkle‘ Stellen des Originals lieber behutsam nachzubilden als eigenmächtig exegetisch aufzu‐ hellen. Andererseits enthalten viele Offenbarungstexte jedoch einen Missionsauftrag. So heißt es z. B. bei Matthäus 28,19f.: Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker; taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe“ (Luthertext 1964). 94 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="95"?> Daraus kann nun wiederum die Forderung nach besonders freiem, einbürgerndem, „wir‐ kungsäquivalentem“ Übersetzen abgeleitet werden. Der Text soll von jedermann ver‐ standen werden und er soll überzeugen. Die Geschichte der Bibelübersetzung von Hiero‐ nymus bis Eugene A. Nida liefert Beispiele für eine ständige Suche nach Auswegen aus diesem Dilemma. Wie die meisten anderen Weltreligionen ist auch das Christentum eine Offenbarungs‐ religion. Religionen dieser Art beruhen auf einem oder mehreren ‚heiligen‘ Texten. Sie sind fast alle in einem frühen Stadium der Schriftkultur entstanden, zu einer Zeit, in der das Instrument der Schrift einer kleinen Elite vorbehalten war und nicht selten zur Tradierung von „Herrschaftswissen“ im wahrsten Sinne des Wortes diente. Ganz anders verhielt es sich bei früheren Religionen, wie z. B. bei der griechisch-römischen und der germanischen My‐ thologie, die auf gemeinsame Wurzeln zurückgehen. Sie waren in oralen Kulturen ent‐ standen und unterlagen somit dem Prinzip der „Homöostase“. In einer solchen Kultur passt sich der mythologische ‚Überbau‘ geschmeidig den gesellschaftlichen Bedingungen an: … oral societies live very much in a present which keeps itself in equilibrium or homeostasis by sloughing off memories which no longer have present relevance. […] Print cultures have invented dictionaries in which the various meanings of a word as it occurs in datable texts can be recorded in formal definitions. Words thus are known to have layers of meaning, many of them quite irre‐ levant to ordinary present meanings. (Ong 1982, 46) Durch die Verschriftung werden also nicht nur religiöse Vorstellungen fixiert, die nicht mehr so recht zu der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu passen scheinen; es wird auch (allerdings nur bis zu einem gewissen Grad) die Erinnerung an ältere Sprachzustände in der Gesellschaft wachgehalten. Natürlich hatten auch orale Kulturen mnemotechnische Methoden, die der Fixierung von Botschaften dienten: Metrum, Reim, Alliteration, rheto‐ rische Figuren - Techniken, die in modernen Schriftkulturen zum großen Teil auf das Ni‐ veau von Merkversen und ‚Eselsbrücken‘ abgesunken sind. In einer Zeit, als die christliche Religion, nachdem sie sich einmal durchgesetzt hatte, das gesellschaftliche Leben vollständig bestimmte, war die Bibel in erster Linie ein heiliger Text, der nur in der Art einer Interlinearversion übersetzt werden durfte. Dafür gab es auch rein sprachliche Gründe. Die noch nicht ausgebauten Volkssprachen stellten die Ausdrucks‐ mittel für idiomatisches Übersetzen in vielen Fällen gar nicht zur Verfügung. Was uns heute „idiomatisch“ erscheint, geht nicht selten auf extreme Wörtlichkeit zurück (cf. supra 4.2; 4.3). In ‚aufgeklärten‘ Gesellschaften, in denen die Religion eine immer geringere Rolle spielt und die über eine ausgebaute und bis zu einem gewissen Grad fixierte Sprache verfügen, steht der von der Heilswahrheit des Christentums weiterhin überzeugte Übersetzer vor einer ganz anderen Aufgabe. Nun gilt es, die Bibel als „frohe Botschaft“ den Menschen wieder nahezubringen. Dies erreicht man am ehesten mit zeitgemäßen sprachlichen Mit‐ teln. Vor allem moderne Bibelübersetzer haben manchmal etwas krampfhaft versucht, ein sehr religionsfernes Publikum mit stark an die Umgangssprache angenäherten Formulie‐ rungen für die Bibel zu gewinnen. Dabei geht der auratische Charakter der Botschaft ver‐ loren; es entsteht ein gewöhnlicher appellativer Text, der sich auf rationale Argumente zu stützen scheint. 95 6.2 Unterschiedliche Skopoí der Bibelübersetzung <?page no="96"?> „Heiliger Text“ oder „Frohe Botschaft“? Einige bedeutende Übersetzer und Überset‐ zungstheoretiker nehmen in dieser Frage eine zweideutige Haltung ein: Hieronymus (347-419), der ins Lateinische, eine voll ausgebaute Sprache mit reichen Ausdrucksmöglichkeiten, übersetzte, behauptete, wie wir gesehen haben, sich zumindest bei der Übersetzung der Bibel sehr eng an den Text zu halten, tat das aber nicht immer. Manchmal übersetzte er auch Bibelstellen sinngemäß. Martin Luther (1483-1546) (cf. infra) gilt - vor allem aufgrund seiner eigenen Äußerungen - als einer der entschiedensten Vertreter eines zielsprachenorientierten, pragmatisch-kom‐ munikativen Übersetzens. Schließlich hatte er sich in seinem berühmten Sendbrief vom Dolmetschen (in bewusster Anlehnung an Hieronymus’ Brief an Pammachius) nachdrück‐ lich zu einer idiomatischen Übersetzung bekannt: Die Treue zum Ausgangstext höre da auf - so behauptet er wenigstens -, wo man um ihretwillen die Norm der Zielsprache antasten müsste: … den man mus nicht die buchstaben inn der lateinische(n) sprachen frage(n) / wie man sol Deutsch rede(n) / wie diese esel thun / sondern / man mus die mutter jhm hause / die kinder auff der gassen / den gemeinen man(n) auff dem marckt drumb fragen / un(d) den selbige(n) auff das maul sehen / wie sie reden / und darnach dolmetzschen / so verstehen sie es den / un(d) mercken / das man Deutsch mit jn redet. (Luther 1909 [1530], 637) In Wirklichkeit hält er sich jedoch an schwierigen Stellen - auf Kosten der Verständlichkeit - sehr ängstlich an den Ausgangstext und gesteht dies auch ein. Die folgende Stelle wird in der einschlägigen Literatur weit weniger häufig zitiert, da sie dem weitverbreiteten Bild des Mannes, der „dem Volk aufs Maul schauen“ will, entschieden widerspricht: Doch hab ich widerumb nicht allzu frey die buchstaben lassen faren, Sondern mit grossen sorgen sampt meinen gehülffen drauff gesehen, das, wo etwa an einem ort [i. e. einer Stelle] gelegen ist; hab ichs nach den buchstaben behalten. [Es folgt ein Beispiel, das man seiner Ansicht nach idio‐ matischer hätte wiedergeben können]. Aber ich habe ehe wöllen der deutschen sprache abbrechen, denn von dem wort weichen (ibid., 640). Vergleichbares gilt für einen der berühmtesten unter den neuen Übersetzungstheoretikern, Eugene A. Nida (1914-2011). Er war ursprünglich Missionar und hat später Linguistik stu‐ diert, ausschließlich mit dem Ziel, ein guter Bibelübersetzer zu werden. Er steht am Anfang der modernen, pragmatisch orientierten Übersetzungswissenschaft. Für ihn hat - das be‐ hauptet er wenigstens - die Wirkung des Textes auf den Leser Priorität gegenüber allen anderen Faktoren. Er fordert also „wirkungsäquivalentes“ Übersetzen und hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „dynamic equivalence“ geprägt: Dynamic equivalence is therefore to be defined in terms of degree to which the receptors of the message in the receptor language respond to it in substantially the same manner as the receptors in the source language (cf. Nida/ Taber 1969, 24). Bei genauerem Hinsehen kommt Nida bei seinen Bibelübersetzungen nur da seiner Forde‐ rung nach „dynamischer Äquivalenz“ nach, wo es um Äußerlichkeiten geht; z. B. bei bild‐ haften Gleichnissen. So berichtet der Evangelist Markus von einem Gleichnis, mit dem Jesus auf das Kommen Christi hinweist: 96 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="97"?> An dem Feigenbaum aber lernet ein Gleichnis: Wenn sein Zweig jetzt treibt und die Blätter kommen, so wißt ihr, das der Sommer nahe ist. Also auch, wenn ihr seht, daß solches geschieht, so wisset, daß es nahe vor der Tür ist. (Markus 13,28f., Lutherversion 1965) Die Maya auf der Halbinsel Yucatán, gibt Nida zu bedenken, kennen keine Jahreszeiten in unserem Sinn und unglücklicherweise verliert der Baum, der einer Feige am nächsten kommt, zu Beginn der heißen Trockenzeit (wie die meisten Bäume) seine Blätter. Also solle man hier statt „Sommer“ einen Monat einsetzen, in dem die Regenzeit beginnt und in dem manche Bäume neue Blätter bekommen (Nida 1945, 196 f.). Bei theologisch bedeutsamen Stellen hält sich jedoch auch Nida sehr eng an seine Vorlagen. Für all jene, die immer nur das Neueste für lesens- und erwähnenswert halten, sei hinzugefügt, dass sein zusammen mit Charles R. Taber erarbeitetes, inzwischen Jahrzehnte altes Buch zur Bibelübersetzung eine Fülle von Beispielen enthält, aus denen man viel lernen kann, auch wenn man die von den Autoren vorgeschlagenen Lösungen nicht billigt. Bisher haben wir uns nur mit den christlichen Bibelübersetzern beschäftigt, denen es um die Vermittlung einer Offenbarung geht. Es gibt jedoch noch einen anderen Typ von Bi‐ belübersetzern, die mit ihren Übersetzungen ganz andere Skopoí verfolgen. Für sie ist die Bibel - es geht dabei in erster Linie um das sog. „Alte Testament“ - ein literarisches Kunst‐ werk, und infolgedessen leugnen sie, dass in der Bibel eine Art von „Kernbotschaft“ ent‐ halten sei, die man ohne weiteres von der sprachlichen Form ablösen könne. (Dieser Ansicht sind auch die meisten Übersetzer literarischer Werke). Meist handelt es sich dabei um Übersetzer jüdischer Herkunft mit Kenntnissen des Hebräischen und Aramäischen. Die berühmten deutschsprachigen Bibelübersetzer Martin Buber (1878-1965) und Franz Rosen‐ zweig (1886-1929) liegen auf dieser Linie - wenn auch Buber ausdrücklich bestritten hat, dass er die Bibel als literarisches Kunstwerk betrachten wolle. Der Österreicher Buber und der Deutsche Rosenzweig haben die Übersetzung der hebräischen Bibel gemeinsam be‐ gonnen; nach Rosenzweigs frühem Tod hat Buber das Unternehmen unter widrigen Be‐ dingungen zu Ende geführt. In einer „Beilage“ zum ersten Band (in der von uns benutzten Ausgabe fungiert sie als eine Art von Nachwort) versuchen die beiden Übersetzer zuerst einmal die „Gattung“ ihres Textes zu bestimmen: Der lebendige Geist […] will, daß die Schöpfung sich aus sich vollende. Dieses Willens und des gebotenen Dienstes am lebenverbundenen Geist Zeugnis will das „Alte Testament“ sein. Faßt man es als „religiöses Schrifttum“, einer Abteilung des abgelösten Geistes zugehörig, dann versagt es, und dann muß man sich ihm versagen. Faßt man es als Abdruck einer lebenumschließenden Wirklichkeit, dann faßt man es, und dann erfaßt es einen. Der spezifisch heutige Mensch aber vermag dies kaum noch. Wenn er an der Schrift überhaupt noch „Interesse nimmt“, dann eben ein „religiöses“ - zumeist nicht einmal das, sondern ein „religionsgeschichtliches“ oder ein „ästheti‐ sches“ und dergleichen mehr, jedenfalls ein Interesse des abgelösten, in autonome „Bereiche“ auf‐ geteilten Geistes. (Buber/ Rosenzweig 12 1997 [ 1 1954], I, [3]f.) Wie immer man das verstehen will, es geht aus dem hier wiedergegebenen Text ex negativo klar hervor, dass die beiden Übersetzer die hebräische Bibel keinem gängigen „Texttyp“ und keiner gängigen „Textsorte“ zuordnen möchten. Was nun die Unterschiede ihrer Arbeits‐ sprachen betrifft, so vertreten sie eine Art von ‚Universalitätshypothese‘, die auf ein mit rationalen Mitteln kaum erreichbares Tertium comparationis zurückgreift: 97 6.2 Unterschiedliche Skopoí der Bibelübersetzung <?page no="98"?> Jeder Dolmetsch ist ja unter einer Doppelheit von Gesetzen gestellt, die einander zuweilen zu widerstreiten scheinen: das Gesetz der einen und das der andern Sprache; für den die Schrift Übertragenden tritt eine andere Doppelheit hinzu: das Gesetz, das aus dem Eigenrecht der ein‐ zelnen Stelle, und das andere, das aus der biblischen Ganzheit spricht. Aber wie jene zwei sich aus der Tatsache versöhnen, vielmehr verbünden, daß es nur vorletztlich Sprachen, letztlich aber - unlösbar doch unüberhörbar - die eine Sprache des Geistes […] gibt, so überwindet sich der Wi‐ derstreit zwischen Recht des Satzes und Recht des Buches immer neu aus der Tatsache, daß beide ihren Sinn von der einen dialogischen Begegnung ableiten … (ibid., [14] f.) Schließlich nimmt Buber noch Bezug auf ein Problem, das in der älteren Theorie der Bi‐ belübersetzung eine große Rolle gespielt hat und das der heutigen Übersetzungstheorie und -praxis so fremd ist, dass es allein aus diesem Grunde verdient, in Erinnerung gerufen zu werden: die Forderung nach einer ‚Isotopie‘ der Wortstämme im Textverlauf („Leitwörter“): Unter Leitwort ist ein Wort oder ein Wortstamm zu verstehen, der sich innerhalb eines Textes, einer Textfolge, eines Textzusammenhangs sinnreich wiederholt: wer diesen Wiederholungen folgt, dem erschließt oder verdeutlicht sich ein Sinn des Textes oder wird auch nur eindringlicher offenbar. Es braucht, wie gesagt, nicht dasselbe Wort, sondern nur derselbe Wortstamm zu sein, der solcherweise wiederkehrt; durch die jeweiligen Verschiedenheiten wird sogar oft die dynami‐ sche Gesamtwirkung gefördert. Dynamisch nenne ich sie, weil sich zwischen den so aufeinander bezogenen Lautgefügen gleichsam eine Bewegung vollzieht: wem das Ganze gegenwärtig ist, der fühlt die Wellen hinüber und herüber schlagen. (ibid., [15]) Beide Übersetzer fühlten sich der deutschen Kultur stark verbunden und waren am Anfang ihrer Arbeit darum bemüht, sich nicht allzu weit vom Luthertext zu entfernen, doch erwies sich dies als undurchführbares Vorhaben, da sich ihre Textauffassung stark von derjenigen Luthers unterschied: Natürlich begannen wir mit dem Versuch, Luther zu revidieren. Wir nahmen einen Vers nach dem andern vor und änderten, was uns von unserem hebräischen Sprachwissen und Sprachbewußtsein aus änderungsbedürftig erschien. Nach einem Tag Arbeit standen wir vor einem Trümmerhaufen. Es hatte sich erwiesen, daß man auf diesem Weg nirgends hinkam. Es hatte sich erwiesen, daß Luthers „Altes Testament“ in aller Dauer ein herrliches Gebild blieb, aber schon heute keine Über‐ tragung der Schrift mehr war. (ibid., [39]) In vieler Hinsicht vergleichbar mit Buber und Rosenzweig sind die Ansichten des franzö‐ sischen Schriftstellers, Sprach- und Literaturwissenschaftlers Henri Meschonnic (1932-2009). Obwohl er erst als junger Erwachsener begonnen hatte, Hebräisch zu lernen, hat er sich schnell einen ganz anderen Zugang zu den alttestamentarischen Texten ver‐ schafft als diejenigen, die nur an der Herauslösung einer ‚Kernbotschaft‘ interessiert waren. Wie Buber und Rosenzweig ist auch er der Meinung, dass Form und Inhalt eines biblischen Texts eine unauflösbare Einheit bilden, dass man in der Form keine ornamentale Zutat zu einem vorgegebenen Inhalt sehen dürfe: Un texte est le sens de ses formes autant que le sens de ses mots, „der Sinn eines Textes besteht ebenso aus dem Sinn seiner Formen wie aus dem seiner Wörter“ (Meschonnic 1973, 420). Wie schon für Buber und Rosenzweig sind auch für Meschonnic Elemente wichtig, auf die andere Übersetzer, die in der Bibel in erster Linie 98 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="99"?> eine religiöse Botschaft sahen, gar nicht geachtet haben: Rhythmus, Gliederung des Textes in sprechbare Abschnitte, etymologische Beziehungen zwischen den im Text vorkommenden Wörtern usw. usf. Für Nidas Prinzip der dynamic equivalence hat Meschonnic nur Hohn und Spott übrig. Wütend wendet er sich gegen diejenigen, die glauben, man könne sich bei der Bibelübersetzung auf eine andere Version als auf den hebräischen Urtext be‐ ziehen: Si vous ne savez pas l’hébreu, traduisez autre chose, „wenn Sie kein Hebräisch können, übersetzen Sie lieber etwas anderes“ (ibid., 417). Wir können leider kein Hebräisch, daher müssen wir unseren Leserinnen und Lesern am Ende dieses Teilkapitels anhand von Beispielen aus neueren Sprachen veranschaulichen, wie sich die Verfolgung unterschiedlicher Übersetzungsziele auf den jeweiligen Zieltext auswirkt. Zunächst drei deutsche Versionen des sog. „2. Gebots“ (nach römisch-katholischer und lutherischer Zählung; 2. Mose 20,7): Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht vergeblich führen, denn der Herr wird den nicht für schuldlos halten, der seinen Namen vergeblich führt. (Ältere Lutherversion, leicht mo‐ difiziert: nahe am Text in rein inhaltlicher Hinsicht) Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht mißbrauchen, denn der Herr wird jeden be‐ strafen, der das tut. (Gute Nachricht Bibel 1997: pragmatisch paraphrasierend, auf den ‚Kern‘ der Botschaft konzentriert) Trage nicht / Seinen deines Gottes Namen / auf das Wahnhafte, / denn nicht straffrei läßt ER ihn, der seinen Namen auf das Wahnhafte trägt. (Buber/ Rosenzweig: „ausgangstextorientiert“ und somit dem zielsprachlichen Leser einiges abverlangend) Man vergleiche vor allem die ‚redundanzfreie‘ Formulierung „…der das tut“ in der Gute Nachricht Bibel mit der nahezu wörtlichen Wiederholung des Gebots im Relativsatz bei Luther und bei Buber/ Rosenzweig. Nun zu einem etwas schwierigeren Fall; es geht um eine sog. ‚dunkle‘ Stelle aus der Offenbarung des Johannes, der „Apokalypse“, um den Kampf des Erzengels Michael gegen den Drachen. Der Text ist in einem vom Hebräischen beeinflussten Griechisch geschrieben; die Dunkelheit geht allein auf den sprachlichen Ausdruck, nicht auf theologisch bedeutsame Inhalte zurück. Es ist eine berühmte Stelle, die Komponisten wie Heinrich Schütz, Johann Sebastian und Johann Christoph Bach zu Motetten und Maler wie z. B. Albrecht Dürer zu Holzschnitten angeregt hat: 7 Καὶ ἐγένετο πόλεμος ἐν τῷ οὐρανῷ, ὁ Μιχαὴλ καὶ οἱ ἄγγελοι αὐτοῦ τοῦ πολεμῆσαι μετὰ τοῦ δράκοντος. καὶ ὁ δράκων ἐπολέμησεν καὶ οἱ ἄγγελοι αὐτοῦ, 8 καὶ οὐκ ἴσχυσεν οὐδὲ τόπος εὑρέθη αὐτῶν ἔτι ἐν τῷ οὐρανῷ. (Novum Testamentum Graece (NA 27): online-Ausgabe / Bibelwissenschaft) 7 Et factum est praelium [sic] magnum in caelo: Michael, et angeli eius praeliabantur cum dracone, et drago pugnabat, et angeli eius, 8 et non valuerunt, neque locus inventus est eorum amplius in caelo. (Novum Testamentum Latine … curavit D. Eberhard Nestle. Editio nona, Stuttgart 1961) Man braucht über keine überragenden Griechischkenntnisse zu verfügen, um zu erkennen, dass Hieronymus, dem öfter allzu freier Umgang mit seinen Vorlagen vorgeworfen wurde, hier dem griechischen Text im Lateinischen sehr eng gefolgt ist. Das tun auch in der Regel die älteren Übersetzer, gleichgültig, ob sie der griechischen oder der lateinischen Version folgen: 99 6.2 Unterschiedliche Skopoí der Bibelübersetzung <?page no="100"?> 7 Und es erhub sich ein streit im Himel / Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen / Und der Drach streit und seine Engel / 8 und siegeten nicht, auch ward ihre Stete nicht mehr funden im Himel. (Luther 1545) 7 Und es erhob sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten wider den Drachen. Und der Drache stritt und seine Engel 8 und siegten nicht, auch ward ihre Stätte nicht mehr ge‐ funden im Himmel. (Luther 1965) 7 Und es entbrannte ein Kampf im Himmel: Michael und seine Engel kämpften gegen den Drachen. 8 Und der Drache kämpfte und seine Engel, und er siegte nicht, und ihre Stätte wurde nicht mehr gefunden im Himmel. (Luther 2017) 7 And there was war in heaven: Michael and his angels fought against the dragon; and the dragon fought and his angels. 8 And prevailed not; neither was their place found any more in heaven. (Authorized Version, London o. J. = 20. Jhdt.) 7 Og der blev en Strid i Himmelen: Michael og hans Engle strede mod Dragen, og Dragen stred og dens Engle. 8 Men de mægtede Intet; ei heller blev deres Sted üdermere fundet i Himmelen (Bibelen, Kopenhagen 1900; stark vom Luthertext beeinflusst). Wir haben es hier mit einer Reihe von behutsamen, textnahen Übersetzungen zu tun. Wir erfahren nur, dass der Drache und seine Engel nicht die Oberhand gewonnen haben. Von einem Sieg Michaels ist nicht direkt die Rede. Die dunkle Stelle „auch ward ihre Stätte nicht mehr gefunden im Himmel“, genau dem lateinischen „neque locus inventus est eorum amplius in caelo“ nachgebildet, evoziert einen Augenblick lang, bevor man weiterliest, das Bild eines rätselhaften Verschwindens, eines endgültigen Verlorengehens, einer damnatio memoriae. Man bekommt fast eine Gänsehaut. Auch in der zum Reformationsjubiläum er‐ schienenen revidierten Lutherfassung von 2017 wurde die entscheidende Formulierung nicht geändert. Ganz anders neuere Übersetzer, die bemüht sind den ‚Sinn‘ dieses Passus herauszuar‐ beiten, ohne sich dabei eng an den Wortlaut zu halten: 7 Es erhob sich dann ein Kampf im Himmel: Michael und seine Engel kämpften mit dem Drachen; und der Drache und seine Engel setzten sich zur Wehr, 8 doch gewannen sie den Sieg nicht, und ihres Bleibens war nicht länger im Himmel. (Üb. Hermann Menge 1923) 7 Alors, il y eut une bataille dans le ciel : Michel et ses Anges combattirent le Dragon. Et le Dragon riposta, appuyé par ses Anges, 8 mais ils eurent le dessous et furent chassés du ciel. (Bible de Jérusalem 1956) 7 Da entbrannte im Himmel ein Kampf; Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften, 8 aber sie konnten sich nicht halten und verloren ihren Platz im Himmel. (Einheitsübersetzung, 1980). 7 Then war broke out in heaven. Michael and his angels fought against the dragon, who fought back with his angels; 8 but the dragon was defeated, and he and his angels were not allowed to stay any longer. (Good News Translation, Internet) 100 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="101"?> 7 Dann brach im Himmel ein Krieg aus. Michael mit seinen Engeln kämpfte gegen den Drachen. Der Drache mit seinen Engeln wehrte sich; 8 aber er konnte nicht standhalten. Er und seine Engel durften nicht länger im Himmel bleiben. (Gute Nachricht Bibel, 1997) Diese Übersetzungen lassen das Gefühl des Unheimlichen erst gar nicht aufkommen. Sie versuchen, den ‚harten Kern‘ der Botschaft herauszuschälen. Nach Michaels Sieg ist für den Drachen und seine Engel fortan kein Platz mehr im Himmel. Das hört sich ganz vernünftig an und lässt sich leicht nachvollziehen. Für die Übersetzer (und Theologen) in der Nachfolge Nidas ist dieses Vorgehen sicherlich legitim. Buber, Rosenzweig und Meschonnic, wenn sie sich denn für das „Neue Testament“ interessiert hätten, wären mit diesen Lösungen sicher‐ lich nicht einverstanden gewesen. Vielleicht hält Henri Meschonnic die Bible de Jérusalem wegen solch glättender, ‚vernünftiger‘ Formulierungen für la version la plus insidieusement mauvaise, „die auf hinterhältigste Art schlechte“ unter allen Bibelübersetzungen (Me‐ schonnic 1973, 418). Luther hat jedenfalls in diesem Fall dem Volk nicht „aufs Maul gesehen“ (cf. Albrecht 2016). 6.3 Bibelübersetzungen im Mittelalter Es ist allgemein bekannt, dass die Reformation so etwas wie der ‚Motor‘ der Bemühungen um die Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen war. So ist vor allem in Deutschland die Meinung verbreitet, die Geschichte der Übersetzung der Bibel ins Deutsche beginne mit Martin Luther. Nun erschien aber die erste gedruckte deutsche Bibel des Straßburger Dru‐ ckers Johannes Mentelin im Jahr 1466, also fast 20 Jahre vor Luthers Geburt. Und vor dem Erstdruck der Lutherbibel im Jahre 1534 waren bereits fast zwanzig hoch- oder nieder‐ deutsche, mehr oder weniger vollständige Bibelübersetzungen im Druck erschienen. Es gibt Werke, die sich speziell der Geschichte der deutschen Bibelübersetzung vor Luther widmen (Kehrein Hrsg. 1972). Die katholische Kirche war also keineswegs zu allen Zeiten gegen eine Übersetzung der Bibel in die Volkssprache, und vor allem in Frankreich, das über eine besonders weit zurückreichende Tradition verfügt, sind bereits im Mittelalter viele Bibel‐ übersetzungen entstanden. Die frühen, vorreformatorischen Bibelübersetzungen (meist handelte es sich um Über‐ setzungen ausgewählter Teile) hatten vor allem der Ausbildung des Klerus gedient und waren von der Kirche sogar gefördert worden. Mit dem Aufkommen der ersten häretischen Bewegungen wurde das Vorhandensein volkssprachlicher Bibeltexte als Gefahrenquelle erkannt. Es schien angeraten, dass nur diejenigen einen unmittelbaren Zugang zu den hei‐ ligen Texten haben sollten, die dafür theologisch vorbereitet waren. Die oft dunkle Bild‐ sprache der biblischen Texte führt bei einfachen, ungebildeten, aber von religiösem Eifer ergriffenen Menschen oft zu wild spekulativen Auslegungen. Dies galt z. B. für die extrem wörtliche Übersetzung des englischen Frühreformators John Wycliffe (oder Wyclif, ver‐ schiedene Schreibungen sind überliefert) (≈ 1320-1384), die noch ausschließlich auf der Vulgata beruht. Er hat sie wohl nicht allein angefertigt. Sie wurde bald auf den Index gesetzt. Auf dem Konzil von Konstanz wurde Wycliffe zum Ketzer erklärt und seine Gebeine wurden verbrannt. 101 6.3 Bibelübersetzungen im Mittelalter <?page no="102"?> In Frankreich ging zunächst alles viel friedlicher und auch organischer zu. Das gilt na‐ türlich nicht für den Süden, für den okzitanischen Sprachraum, der ja durch eine der mäch‐ tigsten häretischen Bewegungen gekennzeichnet war, durch diejenige der Katharer. Das deutsche Wort Ketzer leitet sich von dieser Bezeichnung ab. Nach den Albigenserkriegen wurde durch das Konzil von Toulouse bereits im Jahr 1229 der Besitz von volkssprachlichen Bibeln unter Strafe gestellt. In der übrigen Romania setzt eine vergleichbare Entwicklung erst sehr viel später ein, in Verbindung mit der Gegenreformation. Vor den vollständigen Bibelübersetzungen entstanden vor allem Teilübersetzungen markanter Episoden, die die Phantasie anregten und später auch zu Theaterstücken aus‐ gebaut wurden. Man hat sie früher oft fälschlich für „Bruchstücke“ von Bibelübersetzungen gehalten, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass es sich um Übersetzungen ausgewählter Stellen handelte, die den unterschiedlichsten Zwecken dienten. Besonders an lyrischen Texten wie dem Hohen Lied Salomons (canticum canticorum) oder den Psalmen haben sich zu allen Zeiten immer wieder Übersetzer versucht. Die frühesten einigermaßen vollständigen Bibelübersetzungen entstanden in Frankreich. Zwei Versionen sollen hier wenigstens kurz vorgestellt werden: La Bible Historiale de Guyart Desmoulins (1291-1295). Der Übersetzer war Domherr im Artois (heute Pas-de-Calais); er folgte dem Text der Vulgata. Das Verb historier bedeutete zunächst „erzählen“, später „durch Bilder illustrieren und erklären“. Die Form historial ist heute nicht mehr üblich, sehr wohl jedoch historié. Der Terminus spielt möglicherweise darauf an, dass diese Bibel Erklärungen enthält. Sie eröffnet damit eine in Frankreich ver‐ breitete Tradition; bei der Bible de Jérusalem (cf. infra) verschwindet der Text manchmal fast völlig unter den ihn umgebenden Anmerkungen. Bible de Raoul de Presles (1375-1382). Diese französische Bibel ist während des hundert‐ jährigen Kriegs auf Initiative von Charles V., dem „Übersetzerkönig“, entstanden (cf. supra, 5.2). Der Übersetzer war Mitglied des Parlement de Paris. Charles V. schätzte ihn wegen seines eleganten Lateins. Seine Version des Vaterunsers nach Matthäus 6,9ff. zeigt zwei Eigentümlichkeiten. Gott wird mit Du angeredet, nicht mit Sie, wie in späteren katholischen Versionen (cf. infra), und der schwierige Terminus panis supersubstantialis (bei Lukas 11,3 heißt es schlicht panem nostrum quotidianum „unser täglich Brot“) wird mit einem Rela‐ tivsatz ausführlich erläutert: Nostre Pere qui es es cieulx, ton nom soit sainctifié. Ton royaume adviengne. Ta voulente soit faitte aussi en la terre comme ou ciel. Donne nous aujourd’uy nostre pain supersubstanciel, qui seur‐ monte toute vie corporelle et donne vie pardurable. Et nous laisse noz debtes, si comme nous les laissons à nos debteurs. Et ne nous maine pas en temptacion, mais nous delivre de mal. Ainsi soit il. (zit. n. Lortsch 1910, 81 f.) Das griechische τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον „das für uns hinreichende Brot“ wurde von Luther auch in der Fassung bei Matthäus mit „täglich Brot“ wiedergegeben. Die Frühgeschichte der französischen Bibelübersetzung ist besonders gründlich er‐ forscht worden (cf. Berger 1884, 2 1967; Lortsch 1910; Bogaert 1991). Im Vergleich zu Frank‐ reich ist die Bibelübersetzung im Mittelalter in den anderen europäischen Ländern schwach entwickelt. Es gibt durchaus verschiedene Teilübersetzungen; sie können jedoch hier nicht berücksichtigt werden. 102 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="103"?> 6.4 Bibelübersetzungen vom Spätmittelalter bis heute 6.4.1 Französischer Sprachraum Im Gegensatz zu Deutschland, England und Spanien gibt es in Frankreich (der „ältesten Tochter der Kirche“, wie französische Katholiken gerne versichern) eine Verbindungslinie zwischen mittelalterlichen und nachreformatorischen Bibelübersetzungen. Der Pionier auf dem Gebiet der Erforschung der französischen Bibelübersetzung, Samuel Berger, hat dies immer wieder betont. So schreibt er mit Blick auf die berühmte Übersetzung von Oli‐ vétan, einem Verwandten Calvins: … la grande et célèbre traduction du XVI e siècle, faite par un parent et un ami de Calvin, n’est pas sans dépendre en quelque mesure de la version du moyen âge faite à Paris avant l’an 1250. (Berger 2 1967, 313) Wie in Deutschland pflegt man auch in Frankreich für die Zeit während und nach der Reformation zwischen einer protestantischen und einer katholischen Traditionslinie zu unterscheiden. Dabei lassen sich - wie in Deutschland - die katholischen Übersetzungen in der Zeit der Gegenreformation als Reaktionen auf die protestantischen auffassen. 6.4.1.1 Die protestantische Traditionslinie - Bible de Jacques Lefèvre d’Etaples (Jacobus Faber Stapulensis; um 1450-1537) Diese erste vollständige französische Bibelübersetzung erschien in Etappen; das Nouveau Testament 1523, die Gesamtbibel 1530. Der Übersetzer, ein vielseitiger Gelehrter, einer der ersten französischen Gräzisten, sympathisierte mit den Ansichten Luthers und musste des‐ halb, nachdem sein Gönner François I. in Italien in Gefangenschaft geraten war, in die damals noch zum Heiligen Römischen Reich gehörige freie Reichsstadt Straßburg fliehen. Nach der Rückkehr von François I. wurde er von diesem unterstützt. Seine Übersetzung beruht im Wesentlichen auf der Vulgata, in einigen Teilen jedoch auch auf griechischen Texten. Damit wird die protestantische Traditionslinie in Frankreich eröffnet; wenn Lefèvre d’Etaples auch nie offiziell mit der katholischen Kirche gebrochen hatte, zeigte seine Über‐ setzung doch deutlich reformatorische Züge. Einige Formulierungen wichen entschieden von der offiziellen kirchlichen Interpretation ab. Der bereits erwähnte Beschluss des Konzils von Trient aus dem Jahre 1546, den Text der Vulgata zur einzig gültigen Grundlage in Sachen des Glaubens zu machen, kann als Reaktion auf diese als bedrohlich empfundene Entwicklung verstanden werden. - La Bible d’Olivétan (1535) Pierre-Robert Olivétan (1506-1538), möglicherweise ein Vetter, in jedem Fall ein Verwandter Calvins, stammt wie dieser aus der Pikardie, also aus dem äußersten Norden Frankreichs. Er studierte eine Zeitlang alte Sprachen in Straßburg und wurde 1532 von der Synode der Waldenser (vaudois) in Piemont mit der Übersetzung der Bibel ins Französische beauftragt − obwohl die Muttersprache der Waldenser eigentlich Provenzalisch oder Frankoproven‐ zalisch war, wie sich noch heute an den Familiennamen ablesen lässt, die in einigen Dörfern 103 6.4 Bibelübersetzungen vom Spätmittelalter bis heute <?page no="104"?> des Kraichgaus (Baden-Württemberg) üblich sind. Dorthin ist ein Teil der als Ketzer ver‐ urteilten Mitglieder der Religionsgemeinschaft ausgewandert. Olivétan lebte zwischen 1532 und 1535 in Piemont, wo er in gut zwei Jahren seine Übersetzung der Bibel abschloss. Die wichtigsten Hilfsmittel, die er dazu benötigte, muss er mitgebracht haben; in den abgele‐ genen Alpentälern gab es keine Bibliotheken. Es gibt nur spärliche Lebenszeugnisse von ihm; aus seiner Übersetzung geht hervor, dass er gut Hebräisch gekonnt haben muss. Seine Bibel wurde im schweizerischen Neuchâtel gedruckt. In finanzieller Hinsicht war das Un‐ ternehmen ein Fehlschlag, nur wenige Exemplare wurden verkauft. Heute sind die über‐ lieferten Exemplare bibliophile Kostbarkeiten. Was die Bedeutung für den französischen Sprachraum betrifft, so lässt sich die Bibel Olivétans nicht mit der Lutherbibel oder der King James Version vergleichen. Immerhin bildet die revidierte Fassung aus dem Jahr 1553 bis heute die Grundlage der protestantischen Traditionslinie im französischen Sprachraum. Olivétan muss mit 32 Jahren unter mysteriösen Umständen irgendwo in Italien gestorben sein - man kennt nur sein Todesjahr. Der Text der Olivétan-Bibel wurde ständig revidiert, u. a. von Calvin selbst. Eine zweite wichtige Überarbeitung wurde 1588 durch Théodore Bèze vorgenommen, den Mitstreiter und Nachfolger Calvins. Trotz aller Überarbeitungen veraltete der Text sprachlich sehr bald; denn im 17. Jahrhundert machte das Französische unter dem Einfluss der Sprachnormie‐ rung und Sprachpflege noch einmal einen gewaltigen Entwicklungsschub durch. Besonders wichtig und auch erfolgreich war die Überarbeitung, die der Schweizer Jean-Frédéric Ostervald (1663-1747) in hohem Alter anfertigte. Sie ist 1744 erschienen und ist sprachlich moderner, aber auch ‚gefälliger‘. Als Kostprobe mag das Vaterunser aus der ursprünglichen Fassung dienen: Nostre Pere qui es és cieulx, / ton nom soit sanctifié. / Ton royaume advienne. / Ta volounté soit faicte ainsi en la terre comme au ciel. / Donne nous aujourd’huy nostre pain quotidien. / Et nous quicte noz debtes, comme aussi nous quictons à ceulx qui nous doibvent. / Et ne nous induitz point en tentation, mais delivre nous du mauvais. Innerhalb der protestantischen Traditionslinie gibt es sehr viele weitere Überarbeitungen der auf Olivétan zurückgehenden Fassung, z.T. auch von dieser Version unabhängige Teil‐ übersetzungen. Hier soll nur noch eine besonders wichtige Neuübersetzung genannt werden: - Bible de Louis Segond (1880) Der Schweizer Theologe Louis Segond, Sohn einer protestantischen Genfer Mutter und eines katholischen Vaters, hatte ein gründliches Studium der alten Sprachen absolviert. Er hatte sich einige Zeit in Deutschland aufgehalten und verfügte über eine gute Kenntnis des Deutschen, die es ihm erlaubte, einige theologische Schriften von Schleiermacher ins Fran‐ zösische zu übersetzen. Seine Übersetzung der Bibel, erst des Alten, dann des Neuen Tes‐ taments, hat er in reiferem Alter vorgenommen. Die nach seinem Tod revidierte Fassung von 1910 war außerordentlich erfolgreich. Es handelt sich in gewisser Hinsicht um eine späte Belle Infidèle: sprachlich gefällig, von den ‚Ecken und Kanten‘ älterer protestantischer Versionen ist kaum etwas übrig geblieben. Dennoch bleibt die Stelle aus der Apokalypse, die uns oben beschäftigt hat (cf. 6.2), ‚dunkel‘ wie in allen älteren Versionen: 104 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="105"?> Et il y eut guerre dans le ciel. Michel et ses anges combattirent contre le dragon. Et le dragon et ses anges combattirent, mais ils ne furent pas les plus forts, et leur place ne fut plus trouvée dans le ciel (Apocalypse, 12,7-8) Französische Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts zitieren die Bibel häufig nach dieser Version; auch in den verschiedenen französischen Zitatenwörterbüchern ist sie stark vertreten. Was die Verbreitung der protestantischen Versionen betrifft, so wurde sie dadurch ein‐ geschränkt, dass sich die Reformation in Frankreich eben letztlich doch nicht durchgesetzt hat, obwohl - vielleicht aber auch weil - die französischen Reformatoren viel radikaler waren als Luther. So blieben die protestantischen Bibelversionen im Wesentlichen auf die Schweiz beschränkt, auf die Suisse Romande. Erst die Bibel von Louis Segond fand Anklang in der gesamten französischen Sprachgemeinschaft. 6.4.1.2 Die katholische Traditionslinie Wenn man von den zahlreichen mittelalterlichen Bibelübersetzungen einmal absieht, dann beginnt die katholische Traditionslinie etwa hundert Jahre später als die protestantische. - Isaac Lemaistre de Sacy (1613-1684); seine Übersetzung erschien postum 1696; sie ist allgemein unter dem Namen Bible de Port-Royal bekannt. Lemaistre de Sacy war hugenottischer Herkunft. Er ist zwar zum katholischen Glauben übergetreten, war jedoch (wie Blaise Pascal oder Jean Racine) Jansenist, ein Anhänger des flämischen Bischofs Cornelius Jansen ( Jansenius), der unter Berufung auf Augustinus vor allem im Hinblick auf die Gnadenlehre Positionen vertrat, die nicht mit der offiziellen, d. h. vom Königshaus vertretenen katholischen Doktrin Frankreichs vereinbar waren. Er lebte und arbeitete im Kloster Port-Royal, einer der Hochburgen des Jansenismus. Wie alle Jansenisten wurde er unter Ludwig XIV. verfolgt: Seine Wartburg war die Bastille, wo er unter vergleichsweise erträglichen Bedingungen längere Zeit gefangen gehalten wurde. Während Luther jedoch auf der Wartburg das Neue Testament übersetzt hatte, übersetzte Lemaistre de Sacy in der Bastille das Alte, und zwar auf der Grundlage der Vulgata. Eine besonders wichtige sprachliche Eigenheit: Gott wird mit vous angeredet: Notre père qui êtes dans les cieux, / que votre nom soit sanctifié, / Que votre regne arrive / Que votre volonté soit faite en la terre comme au ciel / Donnez-nous aujourd’hui notre pain de chaque jour / Et pardonnez-nous nos offenses … Ebenso siezen die Jünger Jesus. Am Ende des Lukasevangeliums fordern die Jünger Jesus auf, sie bei einbrechender Nacht nicht zu verlassen: Demeurez chez nous, parce qu’il est tard, et le jour est déjà sur son déclin. (Lukas 24,29) Im deutschen Sprachraum gibt es einen bekannten Kanon auf diese Stelle des Evangeliums mit folgendem Wortlaut: Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget 105 6.4 Bibelübersetzungen vom Spätmittelalter bis heute <?page no="106"?> Könnte man sich dieses Lied in der Höflichkeitsform vorstellen? Nur ganz wenige protes‐ tantische Versionen schließen sich dieser förmlichen Tradition an, die meisten bleiben beim Duzen. Obwohl Lemaistre de Sacy aus religiösen Gründen verfolgt wurde, war seine Bibelüber‐ setzung später für Katholiken zugelassen, die protestantischen waren es nicht. Die Bible de Port-Royal ist sprachlich auf der Höhe der französischen Klassik; vielen ist sie zu literarisch. Textgrundlage ist die Vulgata, sehr viele davon abweichende Stellen sind allerdings ange‐ geben, stehen aber in Klammern. Die Version bleibt in protestantischen Kreisen umstritten. Es gibt noch eine ganze Reihe von Übersetzungen innerhalb der katholischen Traditi‐ onslinie, die keinen großen Bekanntheitsgrad erlangt haben. Wir beschränken uns zum Abschluss auf die Version, die für die französischen Katholiken heute maßgeblich ist: - Bible de Jérusalem (1953), mehrere Neubearbeitungen Es handelt sich um ein gelehrtes, philologisches Werk, an dem viele Bibelforscher und Übersetzer mitgearbeitet haben - wie bereits erwähnt verschwindet der Text manchmal völlig unter den Anmerkungen. Wie wir anhand der kurzen Stelle aus der Apokalypse sehen konnten (cf. supra 6.2), fehlt dem Text fast völlig der auratische Charakter älterer Überset‐ zungen. An der Stelle aus dem Römerbrief, die eine große Rolle in der Diskussion um die ‚Erbsünde‘ gespielt hat und weiterhin spielt, ist zunächst nichts Auffälliges: Voilà pourquoi, de même que par un seul homme le péché est entré dans le monde, et par le péché la mort*, et qu’ainsi la mort a passé en tous les hommes, du fait que tous ont péché** - … (Römer 5,12) Charakteristisch ist jedoch, dass dieser kurze Passus gleich zwei Anmerkungen enthält, die zumindest ältere Leser nur mit einer Lupe zu entziffern im Stande sind (hier aus Gründen der Platzersparnis nicht im Original, sondern in eigener Übersetzung): * Die Sünde trennt den Menschen von Gott. Diese Trennung ist der „Tod“, ein geistiger und „ewiger“ Tod, dessen Zeichen der physische Tod ist. (Es folgen Hinweise auf einige Parallelstellen) ** Umstrittener Sinn. Entweder, weil sie an Adams Sünde teilhaben: „alle haben in Adam ge‐ sündigt“, oder aufgrund ihrer persönlichen Sünden. Hier wird also für denjenigen, der die von Augustinus und später von Luther vertretene Auffassung von der ‚Erbsünde‘ nicht teilt, eine Hintertür für eine abweichende Auslegung offen gelassen, sofern er die Randbemerkung in winzigen Lettern überhaupt zur Kenntnis nimmt. Schließlich gibt es in Frankreich genau wie in Deutschland eine Reihe von modernen Sonderformen der Bibel, die hier lediglich erwähnt werden sollen: Traduction Œcuménique de la Bible (1977); sie entspricht der deutschen „Einheitsüber‐ setzung“, sowie zwei Versionen in geläufigem Alltagsfranzösisch (vgl. Gute-Nach‐ richt-Bibel): Bible en français courant (1982); Bible de la Colombe (1978). 106 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="107"?> 6.4.2 Deutscher Sprachraum Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt gab es im deutschen Sprachraum bereits vor Luther eine größere Anzahl von mehr oder weniger vollständigen hoch- und niederdeutschen Bi‐ belübersetzungen (cf. supra 6.3). Unter den niederdeutschen Versionen ist die sorgsam aus‐ gestattete, mit Kommentaren und hochwertigen Illustrationen versehene Lübecker Bibel von 1494 besonders hervorzuheben. Sie folgt im Wesentlichen der Vulgata und dürfte, aus‐ weislich des Untertitels, auf eine Gemeinschaftsarbeit zurückgehen: … recht na deme latine in dudesch auerghesettet. Mit vorluchtinge unde glose des hochghelerden Postillatoers Nicolai de Lyra Vnde anderen velen hilighen doctoren. Obwohl das Niederdeutsche damals eine literarisch produktive Sprache war, hingen die niederdeutschen Versionen der Bibel damals schon von den hochdeutschen, cum grano salis süd- oder mitteldeutschen Versionen ab. Es wird sogar behauptet, dass die viel zu eng am Hochdeutschen klebende Übersetzung von Luthers Freund Bugenhagen (1533/ 34; auch sie ist unter dem Namen Lübecker Bibel bekannt) den Niederdeutschen den Geschmack an dieser Fassung genommen hätte; das wollten sie dann doch lieber gleich auf Hochdeutsch lesen. Johannes Bugenhagen (1485-1558) stammte aus Pommern (heute Polen); er war mit Luther befreundet und übersetzte neben Luthers Bibel auch einiges aus Luthers sonstigen Schriften ins Niederdeutsche. Immerhin scheint er durch seine niederdeutsche Fassung der Lutherschen Version die dänische Bibelübersetzung beeinflusst zu haben. 6.4.2.1 Die protestantische Traditionslinie Über Martin Luther (1483-1546), den Begründer der protestantischen Traditionslinie der Bibelübersetzung im deutschen Sprachraum, ist so viel geschrieben worden, dass an dieser Stelle einige knappe Hinweise genügen mögen. Zunächst erschien 1522 sein Neues Testa‐ ment, dann 1534 das Alte Testament. Die Ausgabe letzter Hand Die gantze Heilige Schrifft Deudsch wurde im Jahr 1545 gedruckt. Der Luthertext wird seither in regelmäßigen Ab‐ ständen dem jeweiligen Sprachgebrauch angepasst; die derzeit neueste Version ist 2016 erschienen, trägt jedoch (wohl wegen des Reformationsjubiläums) das Datum 2017. Wer den Mythos von Luther als dem „Schöpfer der deutschen Sprache“ anhand der Bibelversion erhärten will, die in seinem Bücherregal steht oder die er im Gottesdienst vorfindet, sollte einmal einen Blick in die Version von 1545 werfen: Diese Sprache wird ihm ziemlich fremd‐ artig vorkommen. Es braucht hier nicht eigens betont zu werden, dass Luther eine überaus bedeutsame Erscheinung war, der man in einem kleinen Unterkapitel nicht gerecht werden kann. Wir sehen uns daher einmal mehr genötigt, aus der Not eine Tugend zu machen und Wohlbe‐ kanntes knapp und möglicherweise simplifizierend darzustellen, dafür jedoch Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die von der communis opinio abweichen. Zunächst zum religionsgeschichtlichen Aspekt. Im Gegensatz zu dem Nordfranzosen Jean Calvin (oder Cauvin; 1509-1564), der später hauptsächlich in Genf wirkte und von dort aus vor allem Süddeutschland stark beeinflusste, war Luther ein sehr maßvoller Reformator. Er wollte die Kirche reformieren, nicht spalten. Einiges von dem, worin er sich theologisch von der zu seiner Zeit gültigen Lehrmeinung der katholischen Kirche unterschied, ist bei Augustinus angelegt, der immerhin bis heute zu den Heiligen der katholischen Kirche zählt. 107 6.4 Bibelübersetzungen vom Spätmittelalter bis heute <?page no="108"?> Calvins Haltung war ungleich härter und wich stärker vom main stream der katholischen Theologie ab; er war ein „Protestant“ im engeren Sinn des Wortes. Eine weitere Legende, mit der wir uns hier nur ganz kurz auseinanderzusetzen haben, besagt, Luther sei der „Schöpfer der deutschen Sprache“ gewesen. Diese Behauptung hat sich längst zu einer allgemein verbreiteten Überzeugung verfestigt, die sich heute kaum mehr erschüttern lässt. Viele Spezialisten haben in vorsichtiger oder in entschiedener Form dagegen Stellung bezogen. Da es hier um Übersetzung und nicht um Sprachgeschichte geht, mag eine sehr generische Stellungnahme zu diesem Topos genügen: Luthers Werke (nicht nur die Bibelübersetzung) haben die Entstehung einer neuhochdeutschen Schriftsprache zweifellos gefördert; sie waren jedoch nicht Ursache für, ja nicht einmal Anstoß zu dieser Entwicklung. Der große Erfolg seiner Übersetzung lag nicht allein in deren intrinsischer Qualität, sondern beruhte auch auf den äußeren Umständen ihrer Entstehung, vor allem jedoch auf der Person des Übersetzers selbst. Mit dem Erfolg reformatorischen Gedankenguts vor allem in Norddeutschland beginnt der Abstieg des Niederdeutschen. Die wichtigen Texte, die vor allem im Norden große Wirkung entfalteten, waren auf Hochdeutsch verfasst. Es sei in diesem Zusammenhang lediglich erwähnt, dass ein gebürtiger Niederdeutscher, Justus Georg Schottel(ius) (1612-1663), die erste ausführliche hochdeutsche Grammatik vorgelegt hat. Immerhin hat Luther, der nicht weit von der niederdeutschen Sprachgrenze lebte, manche mitteldeutsche und niederdeutsche Elemente aufgegriffen und damit zu dem Ausgleichsprozess beige‐ tragen, der die Entstehung des Gemeindeutschen - für lange Zeit allerdings nur im Medium der Schrift - begleitet hat (vgl. u. a. Wolf 1980, Kap. 3). Schließlich noch einige Bemerkungen zu Luthers Übersetzungskonzeption; einiges wurde bereits in Kap. 6.2 angeführt, wo es um die unterschiedlichen Skopoí der Bibelüber‐ setzung ging. Luther gilt den meisten Interpreten als ein entschiedener Vertreter eines ziel‐ sprachen- und zieltextorientierten, pragmatisch-kommunikativen Übersetzens. Diese An‐ sicht kann nicht ungeprüft weitergegeben werden. Zunächst muss daran erinnert werden, dass nicht nur Luthers politisch-theologische, sondern auch seine sprachlich-übersetzungs‐ theoretischen Positionen im Laufe seines Lebens eine Wandlung durchgemacht haben. Luthers Bibel-Deutsch, so ein anerkannter Lutherspezialist, „ist überhaupt keine Gegeben‐ heit, sondern ein genetischer Prozeß über 24 Jahre, in deren Verlauf aus einem radikalen Draufgänger ein vorsichtig abwägender, auch vor sprachlichen Wagnissen zurückschreck‐ ender Politiker wird.“ (Schirokauer 2007 [1957], 215) Luthers Übersetzungskonzeption steht in engem Zusammenhang mit seinen religiösen Reformbestrebungen. Sola scriptura, die Schrift allein, ist die Berufungsinstanz in Glaubensfragen. In diesem Bekenntnis liegt eine Bekräftigung und Erneuerung des Grundgedankens jeder Offenbarungsreligion. Wie an‐ dere (meist weit radikalere) Reformatoren vor und nach ihm stellt Luther das Exegesemo‐ nopol der Kirche in Frage. Luther bricht auch mit der Lehre vom vierfachen Schriftsinn, die fast so alt ist wie das Christentum selbst. Für ihn ist entscheidend, ‚was tatsächlich dasteht‘, d. h. der sensus litteralis oder historicus. Dass er diesen eben auch nur in seiner Auslegung wiedergeben kann, ist ihm sicherlich bewusst; er vertraut jedoch in dieser Hinsicht - ähn‐ lich wie lange zuvor Augustinus und im Gegensatz zum typischen Philologen Hieronymus - auf die von Gott gegebene Inspiration. Einwände seiner Gegner weist er häufig mit sprachlichen Argumenten ab. Charakteristisch dafür ist seine wütende Replik im Sendbrief 108 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="109"?> auf die Kritik, die seine Gegner an der Übersetzung einer theologisch bedeutsamen Stelle von Paulus’ Römerbrief geübt hatten: Arbitramur enim iustificari hominem per fidem sine operibus legis (Römer 3,28) „So halten wir es nu / das der Mensch gerecht werde / on des Gesetzes Werk / alleine durch den Glauben“ (Luther 1983 [1530], 486] Auf die Kritik seiner Gegner an dieser Übersetzung, für das Wort alleine gebe es weder im griechischen noch im lateinischen Text ein Äquivalent, antwortet er mit dem bekannten Zornesausbruch in seinem Sendbrief, der bereits zitiert wurde (cf. supra 6.2; hier nur der Beginn des Passus): Diese vier Buchstaben stehen nicht drinnen, welche buchstaben die Eselsköpf ansehen, wie die kue ein new thor, Sehen aber nicht, das gleichwol die meinung des text ynn sich hat, und wo mans will klar und gewaltiglich verteutschen, so gehoret es hinein […] (Luther 1909 [1530]. 636 f.) Luther begründet die Verwendung des Wortes alleine nicht theologisch, sondern aus der Idiomatik des Deutschen und führt dazu mehrere ähnlich konstruierte Beispiele an; statt „nicht durch x, sondern durch y“ sage man im Deutschen nun einmal eher „nicht durch x, sondern allein durch y“. Dazu ist einiges zu bemerken. Luthers Gereiztheit erklärt sich vor dem Hintergrund der langen Tradition des Interlinearprinzips bei der Übersetzung sakro‐ sankter Texte. Dieses Prinzip stammt aus der Frühphase einer Offenbarungsreligion, die mit dem kulturellen Schock zusammenfällt, den die Einführung der Schrift in eine Gesell‐ schaft mit sich brachte. Übersetzer, die gegen diese Tradition rebellierten und Freiheiten für sich in Anspruch nahmen, übersetzten in der Regel nicht „frei“ im modernen Sinn, sondern, wenn nicht immer zielsprachlich akzeptabel, so doch einigermaßen verständlich. Das gilt auch für Hieronymus, der seinem Kritiker Augustinus gegenüber eingestanden hatte, dass er auch die Bibel gelegentlich ‚sinngemäß‘ übersetzt habe. Vermeer (1992, 278) drückt es besonders drastisch aus: „Er [scil. Hieronymus] setzte […] auf Verstehen, Hin‐ tergrundwissen und Sprachkompetenz […] und blieb doch bei der Wörtlichkeit bis zur Agrammatikalität“. Ganz unschuldig ist Luthers Berufung auf Idiomatizität der Zielsprache allerdings nicht. Nicht ganz zu Unrecht haben ihm seine Gegner vorgeworfen, er habe die Bibel in theologischer Hinsicht „auff seyn vorteil“ übersetzt (cf. Gardt 1992, 94; 99). Der Passus alleine durch den Glauben mag idiomatisch sein, er unterstreicht aber gleichzeitig Luthers Position in einer für ihn entscheidenden Frage, und ‚unidiomatisch‘ wird der Satz nicht, wenn man das Wort weglässt. Ähnlich wie die Bible de Jérusalem bietet auch die derzeit neueste Version der Lutherbibel eine Kompromisslösung. Im Text bleibt das Entscheidende beim Alten: So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. (2017) In einer Fußnote wird jedoch ausdrücklich vermerkt, dass eine wörtliche Übersetzung an‐ ders lauten würde: Wörtlich: „dass der Mensch aus Glauben gerechtfertigt wird, ohne Werke des Gesetzes“. Zum Schluss seien noch einige Beispiele für Revisionen des Luthertextes angeführt: 109 6.4 Bibelübersetzungen vom Spätmittelalter bis heute <?page no="110"?> Psalm 121,1-2 Ich hebe meine augen auff zu den bergen, von welchen mir hülfe komet (1545) Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt (1892) Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe (1965, unverändert in der Version von 2017) Matthäus 8,24 καὶ ἰδοὺ σεισμὸς μέγας ἐγένετο ἐν τῇ θαλάσσῃ (et ecce motus magnus factus est in mari) Und siehe da erhub sich ein gros ungestüm im Meer (1545) Und siehe, da erhob sich ein großes Ungestüm im Meer (1965) Und siehe, da erhob sich ein gewaltiger Sturm auf dem See (1984) Und siehe, da war ein großes Beben im Meer (2017) 1. Korinther 13,1 Wenn ich mit Menschen und mit Engel Zungen redet, und hette der Liebe nicht so were ich ein donend ertz oder eine klingende Schelle. (1545) Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. (1965) … und hätte die Liebe nicht … (1984) … und hätte der Liebe nicht … (2017) Wie man sieht, folgt die Revision der Lutherbibel nicht nur der Sprachentwicklung, sondern auch den gewandelten Überzeugungen der Revisoren. Die derzeit neueste Version trägt in einigen Fällen dem eingetretenen Bedeutungswandel Rechnung. So heißt es in der „Berg‐ predigt“ nicht mehr Selig sind die Friedfertigen (darunter versteht man heute eher passive Naturen), sondern Selig sind die, die Frieden stiften (Personen, die um des Friedens willen aktiv eingreifen). Darüber hinaus zeigt diese Fassung eine deutliche Tendenz, Modernisie‐ rungen der Version von 1984 zurückzunehmen. Es geht nicht mehr um Verständlichkeit im Alltag (dafür gibt es Fassungen wie die Gute Nachricht Bibel), sondern um eine Wiederan‐ näherung an Formulierungen, die die deutsche Kultur Jahrhunderte hindurch geprägt haben. Selbst die ‚modernistische‘ Version von 1984 ist nicht so radikal, wie es auf den ersten Blick scheint. Sie bleibt bei der „klingenden Schelle“, die nur Süddeutsche unmittelbar als „Glocke“ oder „Glöckchen“ identifizieren werden. Die Gute Nachricht Bibel, die in erster Linie um Verständlichkeit, weit weniger um Wahrung des kulturellen Erbes bemüht ist (das gilt auch für die englischsprachige Urfassung), kann sich weit unbekümmerter an die Quelle halten: (Si linguis hominum loquar, et angelorum, charitatem autem non habeam, factus sum velut aes sonans, aut cymbalum tinniens) Wenn ich die Sprachen aller Menschen spreche und sogar die Sprache der Engel, aber ich habe keine Liebe - dann bin ich doch nur ein dröhnender Gong oder eine lärmende Trommel. Besonders hervorzuheben aus übersetzungstheoretischer Sicht ist die Art und Weise, wie die Revisoren zu verschiedenen Zeitpunkten mit Luthers „Einbürgerungen“ verfuhren, um es im üblichen übersetzungswissenschaftlichen Jargon auszudrücken. Wo die Jünger, wie 110 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="111"?> es in der Antike üblich war, „zu Tische liegen“, sitzen sie bei Luther in der Urfassung von 1545; in den neueren Versionen liegen sie wieder. In 1. Samuel 10,3 ist von drei Männern die Rede, die drei Böcklein, drei Stück Brot und einen Schlauch mit Wein tragen. Luther macht daraus eine Flasche - schon zu seiner Zeit das übliche Behältnis für Wein: … da werden dich da selbs antreffen drey menner […] einer tregt drey bocklin, der ander drey stuck brods, der dritte eyn pflassen mit Wein (1545) Die neueren Versionen (einschließlich der von 2017) haben hier Krug; sie rechnen mit dem ‚historisch informierten‘ Leser, der das, was Luther seinen Lesern verständlich machen wollte, nunmehr befremdlich finden muss. Gab es denn im ersten vorchristlichen Jahrtau‐ send bereits Flaschen? Der Krug ist ein entschieden zeitloseres Gefäß; allerdings eignet er sich schlecht zum Transport. Daran scheinen die Revisoren des Luthertexts nicht gedacht zu haben. 6.4.2.2 Katholische und sonstige Übersetzungen Die katholische Traditionslinie beginnt mit der Gegenreformation; noch zu Luthers Leb‐ zeiten erscheinen einige gegen Luther gerichtete sog. „Korrekturbibeln“, die, von einigen Einzelheiten abgesehen, jedoch stark von seiner Version abhängen: Hieronymus Emser (1478-1527), bei dem Luther Vorlesungen gehört hatte, veröffentlichte 1519 eine Streitschrift mit dem Titel: „Auß was grund vnnd vrsach Luthers dolmatschung vber das nawe testament dem gemeinen man billich verbotten sey“. 1527 folgte sein Neues Testament, in dem er sich dort, wo Luther dem griechischen Text abweichend von Hieronymus gefolgt war, wieder enger an den Schöpfer der Vulgata anlehnte. Johannes Eck, eigentlich Johannes Mayer (1486-1543), nicht zu verwechseln mit dem Reformator Johann Eck, war verschiedentlich in Streitgesprächen mit Luther aneinandergeraten. 1537 veröffentlichte er, den Prinzipien Emsers folgend, seine Übersetzung der gesamten Bibel. Eine weitere ‚Korrekturüberset‐ zung‘ stammt von Johann Dietenberger (1475-1537). Sie erschien 1534. Alle „Korrekturbi‐ beln“ waren in den Gegenden Süddeutschlands, die katholisch geblieben oder wieder ka‐ tholisch geworden waren, besonders erfolgreich, und zwar nicht zuletzt aus sprachlichen Gründen. Wenn sie auch, wie Luther selbst spöttisch vermerkte, vieles aus seiner Version übernommen hatten, waren sie doch stärker oberdeutsch eingefärbt und entsprachen somit den sprachlichen Gewohnheiten Süddeutschlands eher als die Lutherbibel. Weitere Übersetzungen können hier nur eben erwähnt werden: Die Dietenberg Bibel (auch Mainzer Bibel genannt) wurde von Caspar Ulenberg (1630) und später von Joseph Franz von Allioli (1830-1837) überarbeitet. Die Zürcher Bibel geht auf Zwingli zurück und ist in ihrer frühesten Form fast gleichzeitig mit der Lutherbibel entstanden. Sie ist fast ebenso oft revidiert worden wie die Lutherbibel und vor allem für reformierte protestan‐ tische Christen verbindlich. Schließlich wäre noch die Elberfelder Bibel zu erwähnen: Das Neue Testament erschien erstmals 1855, das Alte Testament 1871. Auch dieser Bibeltext wurde später revidiert. Es handelt sich um eine ausgangtextorientierte, um philologische Exaktheit bemühte Version, in gewisser Hinsicht ein protestantisches Pendant zur Bible de Jérusalem. Wie für die meisten europäischen Sprachen gibt es auch für den deutschen Sprachraum eine ökumenische Bibel, an deren Entstehung beide Konfessionen beteiligt waren. Die sog. 111 6.4 Bibelübersetzungen vom Spätmittelalter bis heute <?page no="112"?> Einheitsübersetzung erschien zunächst 1972 als Gemeinschaftsarbeit katholischer Diözesen; die Fassung von 1980 wurde dann auch vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland gebilligt. Die bereits kurz erwähnte Gute Nachricht Bibel (1997) geht auf die Bibel in heutigem Deutsch (1982) zurück. Sie wurde ebenfalls von beiden Konfessionen abgesegnet; sie möchte nicht nur in rein sprachlicher Hinsicht dem religionsfernen Durchschnittsbürger entge‐ genkommen, sondern enthält auch zahlreiche sachliche Erklärungen. Das Modell für Un‐ ternehmungen dieser Art, die es auch in anderen Sprachräumen gibt, sind die amerikani‐ schen Good News for Modern Man. Über weitere deutsche Bibelübersetzungen informiert ausführlich Stefan Sonderegger (1998). 6.4.3 Englischer Sprachraum Wie in anderen europäischen Ländern gibt es auch in den englischsprachigen Ländern eine Fülle von Teilübersetzungen (schon in alt- und mittelenglischer Zeit), die - wenn über‐ haupt - erst sehr spät, eher zu philologischen als zu religiösen Zwecken gedruckt wurden. Es gibt jedoch keine vollständigen mittelalterlichen Bibeln wie in Frankreich. Eine Unter‐ scheidung zwischen protestantischen und katholischen Übersetzungen ist für den engli‐ schen Sprachraum wenig sinnvoll. Die seit Heinrich VIII. mit kurzen Unterbrechungen herrschende „anglikanische“ Kirche ist mit ihren verschiedenen Fraktionen eine schwer durchschaubare Mischung aus Katholizismus und Protestantismus. Hier kann nur eine grobe Übersicht über die Geschichte der Bibelübersetzung im englischen Sprachraum ge‐ geben werden. Im Jahre 1382 legte der Präreformator John Wyclif(fe) (1330-1384), der z.T. weit kühnere Thesen vertrat als diejenigen, mit denen Luther später die Reformation auslösen sollte, eine englische Bibelversion vor, die er aus einer Reihe von früheren Teilübersetzungen auf der Grundlage der Vulgata zusammengestellt hatte. Er beeinflusste damit den böhmischen Reformator Jan ( Johannes) Hus (1369-1414). Dieser wurde unter Zusage freien Geleits auf das Konzil von Konstanz (1414-1418) gelockt und dort als Ketzer verbrannt. Seine Anhänger, die sog. „Hussiten“, unternahmen daraufhin, teils aus religiösen, teils aus politischen Mo‐ tiven, Kriegszüge in Böhmen und in den benachbarten Gebieten des Reichs. Diese Vorfälle verstärkten den Übersetzungsskeptizismus auf katholischer Seite, der sich früher schon einmal anlässlich der Bewegung der Katharer in Südfrankreich gezeigt hatte. William Tyndale (um 1494-1536) gilt als der erste englische Bibelübersetzer, der auf he‐ bräische und griechische Texte zurückgriff. Inwieweit er das tat, ist bis heute umstritten. Er hielt sich längere Zeit in Deutschland auf, suchte auch Martin Luther in Wittenberg auf und übernahm Anregungen aus dessen deutscher Bibelübersetzung. Teilübersetzungen der Bibel erschienen an verschiedenen Orten außerhalb Englands (z. B. das Neue Testament 1526). Eine vollständige Übersetzung konnte er nicht mehr vorlegen. Wie etwa zur selben Zeit Etienne Dolet in Paris wurde auch er wegen ‚fehlerhafter‘ Übersetzungen angeklagt. Die ‚Nachweise‘ erbrachte Sir Thomas More (Thomas Morus), der Kanzler Heinrichs VIII. Dieser entledigte sich der beiden Kontrahenten auf seine Art. Thomas Morus wurde wegen seiner Treue zum Papst und der Verweigerung des Suprematseids 1535 enthauptet, Tyndale ein Jahr später als Ketzer verbrannt. Seine Übersetzung, obschon zu Lebzeiten ihres Ur‐ hebers der Verbreitung häretischer Positionen verdächtigt, stellt die Grundlage für die 112 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="113"?> wirkmächtigste Bibelübersetzung im englischen Sprachraum dar, die sog. King James Ver‐ sion, von der gleich die Rede sein wird. Als Kostprobe zitieren wir eine Stelle aus dem Markusevangelium (16,15ff.), in der, ähnlich wie im oben (6.2) angeführten Passus aus dem Matthäusevangelium, ein „Missionsgebot“ ausgesprochen wird: Goo ye in to all the worlde and preache the glad tyges to all creatures 16 he that beleveth and is baptised shall be saved. But he that beleveth not shal be dampned. 17 And these signs shall folowe them that beleve: In my name they shall cast oute devyls and shall speake with newe tonges … Myles Coverdale (1488-1569) vervollständigte Tyndales Übersetzung. Wegen Sympathien mit den Ideen der Reformation musste er zeitweise emigrieren; er lebte u. a. in Tübingen und in Bad Bergzabern. Später konnte er nach England zurückkehren und wurde zum Bi‐ schof von Exeter ernannt. Seine Übersetzung erschien 1539. Sie wird allgemein als Great Bible bezeichnet und gilt als „first authorised version“. Der Name Tyndale wird nicht er‐ wähnt, da die Übersetzung sonst nicht hätte erscheinen können. Die sog. Bishops Bible (1568 und dann nochmals gründlich revidiert 1572) ist eine überarbeitete Version der Great Bible. Auf der Grundlage der Bishops Bible wurde von fast fünfzig Gelehrten eine neue Version erarbeitet, die unter King James ( Jakob I.) im Jahr 1611 erschien. Sie firmiert unter dem Namen King James Bible und nimmt im englischen Sprachraum etwa die Position ein, die der Lutherbibel im deutschen Sprachraum zukommt. Wie diese wurde auch die King James Version immer wieder revidiert. Sie gilt allgemein als „authorised version“. Die Revised Standard Version von 1952 lehnt sich nur noch lose an die King James Version an; sie hat sich jedoch nicht allgemein durchgesetzt. In den Nachttischschubladen kleiner amerikani‐ scher Hotels im mittleren Westen findet man noch heute Ausgaben, in denen die zweite Person Plural des Pronomens ye statt you lautet und die dritte Person Singular der Verben auf -th endet (giveth statt gives). Die oben wiedergegebene Stelle aus dem Markusevangelium in der Version der Tyndale Bibel kommt nach knapp hundert Jahren in der King James Version dem modernen Engli‐ schen schon deutlich näher: Go ye into all the world, and preach the gospel to every creature. 16 He that believeth and is baptized shall be saved; but he that believeth not shall be damned. 17 And these signs shall follow them that believe; In my name shall they cast out devils; they shall speak with new tongues … Zusätzlich sei noch das „Herr bleibe bei uns“ aus Lukas 24,29 aufgeführt (cf. supra 6.4.1.2): Abide with us: for it is toward evening, and the day is far spent. Außerhalb der anglikanischen Tradition befinden sich Versionen, die wie in Frankreich und Deutschland einer der beiden christlichen Konfessionen zugerechnet werden können. Die Douay-Rheims Bible (1582 NT; 1609/ 10 AT) wird allgemein als katholische Version be‐ zeichnet. Bekannter ist die Geneva Bible (Genfer Bibel, 1560), die Version der britischen Protestanten, die unter Maria I. (Bloody Mary), der Tochter Heinrichs VIII., in die Schweiz geflohen waren. Sie zeigt deutlich calvinistische Züge, die sich allerdings eher in den Rand‐ bemerkungen als im Text selbst bemerkbar machen. Die Geneva Bible wurde ebenfalls öfters revidiert und stand bis ins 18. Jahrhundert hinein in Konkurrenz zur King James Version. 113 6.4 Bibelübersetzungen vom Spätmittelalter bis heute <?page no="114"?> Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts konnte sich diese als quasi kanonische Fassung im englischen Sprachraum durchsetzen. In der jüngeren Vergangenheit entstanden ähnliche Versionen wie in den meisten an‐ deren Sprachräumen: wissenschaftlich-philologische Ausgaben; populäre, für die breite Masse bestimmte ‚verständliche‘ Fassungen und von jüdischen Gelehrten für ein jüdisches Publikum angefertigte Übersetzungen. Auf sie kann hier nicht näher eingegangen werden; einige summarische Angaben müssen genügen: Die New English Bible (1970; dazu mehrere ‚gelehrte‘ Versionen, die mindestens teilweise auf die Bible de Jérusalem zurückgreifen. Die Good News Bible (1876, aus der Today’s English Version hervorgegangen), die Complete Jewish Bible (1998) und unzählige andere mehr. Einen umfassenden Überblick bieten u. a. Amos (1920, Kap. II); (Savory 1957, Kap. VIII); Daniell (2003). 6.4.4 Spanischer und italienischer Sprachraum 6.4.4.1 Spanien Wie in den bisher behandelten Sprachräumen beginnt auch in Spanien die Geschichte der Bibelübersetzung mit Fragmenten. Aufgrund der starken Präsenz jüdischer Gelehrter war die Kenntnis des Hebräischen weiter verbreitet als im restlichen Europa. Schon im Hoch‐ mittelalter entstanden erste Übersetzungen alttestamentlicher Texte aus dem Hebräischen in verschiedene spanische Varietäten, meist als Gemeinschaftsarbeit von jüdischen und christlichen Übersetzern. Dem katholischen Klerus missfiel diese Praxis. Auf dem Konzil von Taragona wurde 1233 durch Jakob I. von Aragon ein Verbot der Übersetzung biblischer Texte aus dem Hebräischen erlassen. Dieses Verbot galt allerdings nicht für Kastilien, dem in sprachlicher und politischer Hinsicht dominierenden Teil Spaniens. Unter Ferdinand III. (1217-1252) und Alphons dem Weisen (Alfonso el Sabio, 1221-1284; cf. supra 5.2) entwickelte sich eine rege Übersetzungstätigkeit an der sog. „Schule von Toledo“. Diese für die Über‐ setzungsgeschichte bedeutsame Institution bestand aus einer multiethnischen Gemein‐ schaft von Gelehrten, die die verschiedensten Texte aus dem Arabischen, Griechischen und Hebräischen ins Lateinische übertrug. Nicht nur die wichtigsten Werke von Aristoteles, sondern auch Teile des Korans wurden damals zum ersten Mal in Westeuropa bekannt (cf. Ballard 1995, 70-81). Auf Veranlassung von Alphons dem Weisen entstand ab 1270 die Grande e General Estoria, eine mythische Geschichte Spaniens, die mit Elementen der klassischen Mythologie und Bibeltexten verwoben ist. Werke dieser Art entsprachen dem Zeitgeist der Epoche. Die Übersetzer der eingestreuten Bibeltexte sind unbekannt, mit einer Ausnahme: Hermán el Alemán (Hermannus Alemannus), ein vermutlich aus Süddeutschland stammender Ange‐ höriger der Schule von Toledo, übersetzte einen großen Teil der Psalmen und ist somit der erste namentlich bekannte spanische Bibelübersetzer. Er ist auch als Übersetzer wichtiger Texte von Aristoteles bekannt. Wegen ihrer zahlreichen Anmerkungen und Illustrationen verdient die zwischen 1422 und 1433 entstandene Biblia de Alba besondere Beachtung: Es handelt sich wohlgemerkt um eine Teilübersetzung; sog. „Vollbibeln“ entstanden erst viel später. Das Alte Testament wurde aus dem Hebräischen unter Berücksichtigung der Vulgata übersetzt; möglicherweise 114 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="115"?> handelt es sich auch um eine Kompilation von revidierten bereits bestehenden spanischen Übersetzungen. Das sogenannte Siglo de Oro, die fast zwei Jahrhunderte umfassende klassische Epoche der spanischen Literatur, wurde 1492 mit der Entdeckung Amerikas, dem Ende der recon‐ quista und nicht zuletzt mit der Vertreibung der Juden, der sog. Sefarden (Sephardim; auch Spaniolen), aus Spanien eingeläutet. Bald sollte es kaum mehr Kenner des Hebräischen in Spanien geben. Die einsetzende Gegenreformation machte Übersetzungen aus dem Hebräischen nahezu unmöglich. Eine rühmliche Ausnahme stellt der Augustinermönch Fray Luis de León dar, ein hu‐ manistisch gebildeter Theologe und Dichter, der sich der an der Universität von Salamanca beheimateten Schule der „Hebraisten“ verbunden fühlte. Innerhalb der spanischen Kirche bestand damals ein Konflikt zwischen „Hebraisten“ und „Latinisten“ in der Frage, auf wel‐ cher Grundlage die Bibelexegese betrieben werden sollte. Besonders die Dominikaner - seit den Katharer- und Waldenserbewegungen die ‚Schirmherren‘ der Inquisition - bestanden auf der Autorität der Septuaginta und der Vulgata und standen dem Rückgriff auf hebräi‐ sche Texte ablehnend gegenüber. Sie erreichten, dass Fray Luis de León wegen seiner Über‐ setzung des Hohelieds direkt aus dem Hebräischen 1572 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Dieser nutzte die im Gefängnis verbrachte Zeit für die Übersetzung des Buchs Hiob und kam 1576 frei, nachdem er sich im Prozess erfolgreich selbst verteidigt hatte. Unter seinen zahlreichen Übersetzungen finden sich auch Werke griechischer und lateinischer Autoren. Er gehört zu den übersetzungstheoretisch versierten Übersetzern, die ihr Tun reflektieren. In der Vorrede zu seinen Übersetzungen des Hohelieds und des Buchs Hiob legt er Rechenschaft über seine Vorgehensweise ab: Lo que hago enesto son dos cosas. La vna es bolver en nuestra lengua palabra por palabra el texto deste libro. En la 2. a , declaro con breuedad no cada palabra por sy, sino los pasos donde se ofreçe alguna obscuridad en la letra afin que claro su sentido asy en la corteza y sobre haz poniendo al principio el capitulo todo entero, y despues su declaracion. Acerca delo primero procure confor‐ marme quanto pude con el original hebreo: cotejando juntamente todas las traduciones griegas y latinas que del ay, que son muchas. Statt einer Übersetzung geben wir hier nur eine Paraphrase, die an dieser Stelle für die von uns verfolgten Ziele ausreicht: Fray Luis de León gibt zunächst eine Interlinearversion des hebräischen Texts, die anschließend durch ein volgarizzamento (cf. supra), eine freie, mit zusätzlichen Erklärungen versehene Übertragung, ergänzt wird. Ein solches Vorgehen war unter den herrschenden kirchenpolitischen Verhältnissen wohl nur ihm möglich, wegen des großen Ansehens, das er als Gelehrter genoss. Eine Reihe von Teilübersetzungen und zumindest eine Vollübersetzung erschienen au‐ ßerhalb Spaniens, weil die Übersetzer aus religiösen Gründen ins Exil mussten. Zwei Fälle verdienen es, hier wenigstens erwähnt zu werden: Francisco de Enzinas (auch Franciscus Dryander; 1518-1552) verbrachte den größten Teil seines kurzen Lebens im Exil in den Niederlanden, in Deutschland und in England; er stu‐ dierte Griechisch bei Philipp Melanchthon und ist auch Luther und Calvin begegnet. Sein Nuevo Testamento traduzido del Griego a la Lengua Castellana. Dedicada al Emperador Carlos V (Antwerpen 1543) brachte ihm keinen Dank des Widmungsträgers, sondern poli‐ 115 6.4 Bibelübersetzungen vom Spätmittelalter bis heute <?page no="116"?> tische Verfolgung ein. Bei seiner Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen hat er die lateinische Übersetzung Erasmus’ von Rotterdam mitberücksichtigt. La Biblia de Ferrara (1553) ist eine von vertriebenen sefardischen Juden erstellte Über‐ setzung des Alten Testaments ins Judenspanische (judeoespañol), eine altspanische Varietät, die man heute noch in Thessaloniki hören kann. Die dem Herzog von Ferrara gewidmete Ausgabe wurde nicht, wie sonst üblich, in hebräischen, sondern in lateinischen Lettern gedruckt. Sie diente Casiodoro de Reina, von dem nun die Rede sein wird, als wichtige Quelle in Zweifelsfragen. Die erste spanische Vollbibel - die sog. Biblia Reina-Valera - wurde außerhalb Spaniens übersetzt und veröffentlicht (Basel 1569). Der erste Übersetzer, Casiodoro de Reina (1520-1594), ein zum Protestantismus konvertierter Mönch, emigrierte zunächst nach Genf, später nach Frankfurt am Main, wo er auch gestorben ist. Auf dem Titelblatt der anonym publizierten Version ist als Emblem ein Honig plündernder Bär zu sehen. Daher ist diese Bibelversion auch unter der Bezeichnung Biblia del Oso bekannt. Casiodoros jüngerer Freund Cipriano Valera (1532-1602), ebenfalls ein konvertierter Mönch, hat dessen Version nochmals gründlich überarbeitet. Die nach den beiden Übersetzern benannte Version er‐ schien erstmals 1602. Im Vorwort betont Valera die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Bibelübersetzungen in die Volkssprachen. Die Biblia Reina-Valera wurde später häufig re‐ vidiert, sogar noch in jüngster Vergangenheit. Sie war lange Zeit bei den spanischen Pro‐ testanten in Gebrauch und ist es heute noch, vor allem in Süd- und Mittelamerika. Unsere kurze Zusammenschau dürfte gezeigt haben, dass die ältere spanische Praxis der Bibelübersetzung stark von jüdischen und später von protestantischen Gelehrten beein‐ flusst wurde. In einem Land, das besonders heftig auf die verschiedenen Reformbewe‐ gungen mit einer harten „Gegenreformation“ reagiert hat, ist die Erinnerung an die Frühzeit der Geschichte der Bibelübersetzung nicht gerade gefördert worden. Von der katholischen Kirche gebilligte Vollbibeln entstehen erst verhältnismäßig spät: Im Jahr 1793 erschien eine Bibelübersetzung in zehn Bänden mit dem Titel Biblia Vulgata Latina traducida al Español y anotada conforme al sentido de los Santos Padres y Exposi‐ tores. Nach dem für das Gesamtwerk verantwortlichen Übersetzer Felipe Scio de San Miguel wurde sie auch Biblia de Scio genannt. Die Übersetzung folgt der Vulgata, enthält jedoch aus hebräischen und griechischen Texten übersetzte Varianten in Form von Randbemer‐ kungen. Sie wurde als römisch-katholische Bibel offiziell genehmigt und mehrmals sowohl in einsprachiger als auch in zweisprachiger Fassung (Lateinisch-Spanisch) aufgelegt. Die Biblia Petisco-Torres Amat löst 1822 die Übersetzung von Scio de San Miguel als of‐ fizielle Bibel ab. Die Hauptarbeit leistete der Jesuitenpater und an der Universität von Sa‐ lamanca lehrende Gräzist José Petisco. Schon der Untertitel traducida de la Vulgata Latina teniendo a la vista los textos originales zeigt, dass nun auch im streng katholischen Milieu Spaniens die Abneigung gegenüber Rückgriffen auf ältere Textgrundlagen im Schwinden begriffen war. Nach dem Tod Petiscos im Jahre 1800 wurde die Übersetzung auf königliche Anordnung hin durch Félix Torres Amat vollendet. Sie war bis ins 20. Jahrhundert hinein als offizielle Bibel der katholischen Kirche in Spanien gebräuchlich und wurde mehrfach neu aufgelegt. Wie groß der Anteil von Torres Amat an der Fertigstellung war, ist bis heute nicht geklärt. 116 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="117"?> Mit den beiden offiziellen römisch-katholischen Bibelübersetzungen wurde zwar die im katholischen Milieu herrschende Übersetzungsskepsis gemildert, aber nicht wirklich auf‐ gehoben. Beide hier genannten Übersetzungen waren im charakteristischen „Bibelspani‐ schen“ verfasst. Als extrem ausgangstextorientierte Versionen (spanische Lexik mit hebräischer und lateinischer Syntax) waren sie für mäßig gebildete Laien nur schwer ver‐ ständlich und damit ‚ungefährlich‘. Erst unter Papst Leo XIII. (Amtszeit 1878-1903) fand eine generelle Kehrtwende statt, die von der Ablehnung über die Tolerierung hin zur För‐ derung von Bibelübersetzungen in die Volkssprachen (unter Berücksichtigung hebräischer und griechischer Originaltexte) führte. Nach und nach entstanden, wie in den anderen Sprachräumen auch, Übersetzungen mit den unterschiedlichsten Zielsetzungen: Verständ‐ lichkeit für moderne Leser, Berücksichtigung wissenschaftlicher Ansprüche, Herausheben des literarischen Charakters vor allem des Alten Testaments, Akzeptabilität für beide Kon‐ fessionen usw. In alle diese neuen Versionen fließen sowohl die neuesten Erkenntnisse der Bibelwissenschaft als auch der Übersetzungsforschung ein. Sie können als Hinweis dafür gelten, dass auch im „katholischsten Land Europas“ die Kirche inzwischen ihre Vorbehalte gegen die Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen, auch auf der Grundlage hebräischer und griechischer Texte, weitgehend abgelegt hat. Diese zahlreichen neueren und neuesten Übersetzungen können hier nicht berücksichtigt werden. Genauere Informationen zur nicht besonders gut bekannten Geschichte der spanischen Bibelübersetzung finden sich u. a. bei Berger (1977); Schökel/ Mateos ( 5 1993); Ruiz Casanova (2000). Zum Schluss geben wir als Leseprobe einen Ausschnitt aus der Bergpredigt (Matthäus 5,3-8) aus einer mo‐ dernen Version (1960) der Biblia Reina-Valera: Bienaventurados los pobres en espíritu, porque de ellos es el reino de los cielos. / Bienaventurados los que lloran, porque ellos recibirán consolación. / Bienaventurados los mansos, porque ellos recibirán la tierra por heredad. / Bienaventurados los que tienen hambre y sed de justicia, porque ellos serán saciados. / Bienaventurados los misericordiosos, porque ellos alcanzarán misericordia. / Bienaventurados los de limpio corazón, porque ellos verán a Dios. Wie man sieht, sind hier die Friedfertigen (mites in der Vulgata) bei ihrem sanftmütigen Charakter geblieben und nicht wie in der neuesten Lutherversion in aktive „Friedenstifter“ umgedeutet worden. 6.4.4.2 Italien Im Jahre 1399 verfertigte der venezianische Staatsmann Jacopo Gradenigo eine Evangeli‐ enharmonie nach dem Vorbild des Diatessaron des syrischen Gelehrten Tatian, der im 2. Jahrhundert nach Christus eine chronologisch geordnete und kohärente Lebensgeschichte Jesu aus den vier Evangelien kompiliert hatte. Die lateinische Übersetzung dieses Textes wurde früh ins Althochdeutsche übertragen, und der elsässische Mönch Otfrid von Wei‐ ßenburg verfertigte im 9. Jahrhundert auf dieser Stoffgrundlage sein Evangelienbuch - nicht in Stabreimen, wie damals im angelsächsischen und althochdeutschen Bereich noch weit‐ gehend üblich, sondern in Langversen mit noch etwas holprigen Endreimen. Gradenigos Evangelienharmonie ist hingegen wie Dantes Commedia in kunstvoll gestalteten Terzinen gehalten. Sie ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, dass es im italienischen Mit‐ telalter oft gebildete Laien waren, die sich berufen fühlten, den weniger Gebildeten biblische 117 6.4 Bibelübersetzungen vom Spätmittelalter bis heute <?page no="118"?> Texte zugänglich zu machen. Das war auch das Anliegen des Domenico Cavalca, der um 1340 ein volgarizzamento der Apostelgeschichte angefertigt hatte und sich in der Vorrede zu seiner Vorgehensweise äußert: Volendo, a petizione e per divozione di certe persone, recare a volgare comune e chiaro lo divoto libro degli Atti degli Apostoli, […] io do a intendere che, perché le parole scritte in gramatica non si possono investigare e recarle in volgare, per la profondità delle sentenzie loro, e per la molteplice significazione e intenzione delle parole della santa Iscrittura, muto in certi, ma per pochi luoghi l’ordine delle parole, per meglio e più chiaramente esprimere in volgare la sentenzia e lo ’ntendi‐ mento di santo Luca, e delle parole del detto libro. Alcuna parola pongo da me, per meglio isporre alcuna parola del detto libro … (zit. nach Leonardi 1996, 182) Wer ein solches Vorhaben in frommer Absicht gewissen Leuten zuliebe durchführen wolle, so der Übersetzer, könne sich nicht immer genau an die Wortstellung des Textes „in gram‐ matica“ (d. h. auf Latein) halten, denn dann bleibe der Text gerade für diejenigen unver‐ ständlich, für die er bestimmt sei. Hin und wieder müsse man auch um der besseren Ver‐ ständlichkeit willen ein Wort hinzufügen. Die Gegenüberstellung volgare comune vs. gram(m)atica zeigt, dass noch im 14. Jahrhundert das Italienische in seinen verschiedenen Ausprägungen nicht eigentlich als eigene „Sprache“, sondern immer noch als eine Art von ungeregeltem Latein angesehen wurde. Es gab im 13. und vor allem im 14. Jahrhundert eine größere Anzahl von Teilüberset‐ zungen, vor allem ins Toskanische. Bei einigen unter ihnen handelt es sich um „horizontale“ Übersetzungen aus dem Französischen. Samuel Berger, der sich schon frühzeitig gründlich mit den Übersetzungen der Bibel in die romanischen Sprachen beschäftigt hat, nimmt an, dass es der größere sprachliche Abstand zum Lateinischen war, der dazu geführt hat, dass religiöse Texte besonders früh ins Französische übersetzt wurden. Die Weiterübersetzung in die südromanischen Sprachen war dann für manche Übersetzer der bequemere Weg (vgl. Berger 1894). 1471 erschien die erste italienische Vollbibel in Venedig im Druck. Nach dem Übersetzer, einem Mönch namens Nicolò Malermi, wurde sie allgemein als Bibbia del Malermi bekannt. Es handelt sich nicht, wie man gelegentlich lesen kann, um die erste im Druck erschienene Bibel in einer modernen Sprache; die Mentelin-Bibel (cf. supra 6.3) ist fünf Jahre früher erschienen. Wie fast alle Übersetzungen ins Italienische in älterer Zeit ist sie auf der Grund‐ lage der Vulgata entstanden. Sie fand großen Anklang bei den Gläubigen und wurde mehr‐ mals neu aufgelegt. Es gibt auch für das Italienische eine Reihe von protestantischen Übersetzungen. Die wichtigste und wirkmächtigste unter ihnen ist diejenige von Giovanni Diodati (1576-1649), die zum ersten Mal 1607 in Genf erschien und später mehrmals gründlich überarbeitet wurde. Sie wurde nicht auf der Grundlage der Vulgata, sondern aus den hebräischen und griechischen Originaltexten übersetzt und gilt auch in stilistischer Hinsicht als besonders hervorhebenswert. Die British and Foreign Bible Society vertreibt noch heute die revidierte Version von 1894. Die Tatsache, dass sich die Zahl der Bibelübersetzungen ins Italienische weniger schnell vergrößerte als in anderen europäischen Sprachgebieten, hängt mit besonderen kirchen‐ politischen Umständen zusammen. Da wir uns hier mit Übersetzungsgeschichte, nicht mit 118 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="119"?> Kirchengeschichte befassen, müssen die diesbezüglichen Angaben reichlich generisch aus‐ fallen. Auf dem Konzil von Trient wurde sowohl die Übersetzung der Bibel in die Volks‐ sprachen als auch die Lektüre volkssprachlicher Bibeltexte nicht ausdrücklich verboten. Es wurde jedoch den Bischöfen anheimgestellt, besonders ‚anstößige‘ Übersetzungen in ihren Diözesen zu verbieten. Da nun aber auf demselben Konzil die Vulgata zur einzig zulässigen Version in Glaubensfragen erklärt worden war, ergab sich die Notwendigkeit einer Text‐ revision, um offenkundige Versehen in der Überlieferung zu beheben. Offenbar haben die dabei aufgetretenen Schwierigkeiten, mit denen sich verschiedene Kommissionen jahr‐ zehntelang abgequält haben, zu einer neuerlich verstärkten Übersetzungsskepsis geführt: Wenn schon gelehrte Kleriker so große Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der wahren Überlieferung haben, so sollte man Laien am besten die Lektüre fragwürdiger Überset‐ zungen erst gar nicht gestatten. Der Klerus reagierte auch auf die zunehmende Alphabeti‐ sierung breiterer Schichten, die in Italien später eingesetzt hatte als im Westen und im Norden Europas. Vor allem Frauen sollten von der Lektüre volkssprachlicher biblischer Texte abgehalten werden. Das Ergebnis der mühevollen Textrevision, die sog. „sixtinisch-clementinische“ Version der Vulgata, erschien 1592. 1596 wurden selbst Teilübersetzungen der Bibel auf den Index gesetzt. Das Verbot galt allerdings nur für Italien, Spanien und Portugal. Die Auswirkungen des Verbots scheinen in Italien besonders stark gewesen zu sein: „The 16 th century is seen as central in interpreting Italian history, and as signaling a rupture between Italy and the rest of Europe“ (Fattori 2014, 666). Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das Übersetzungsverbot gelockert. Zwi‐ schen 1776 und 1781 legte der katholische Priester Antonio Martini eine Bibelübersetzung in zwölf Bänden auf der Grundlage der Vulgata vor, die zunächst großen Anklang fand. Martini war allein schon dadurch verdächtig, dass er mit der jansenistischen Glaubens‐ richtung (cf. supra 6.4.1.2) sympathisierte. Papst Pius VII., der sich in den napoleonischen Kriegen als geschickter Politiker erwiesen hatte, verbot neuerlich alle volkssprachlichen Bibelübersetzungen - auch diejenige von Monsignore Martini. Nach der oben erwähnten „Kehrtwende“ unter Papst Leo XIII., und erst recht nachdem Papst Pius XII., dem später allzu große Nachgiebigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus vorgeworfen wurde, in seiner Enzyklika Divino Afflante Spiritu am 30. September 1943 die gelehrte Bibelexegese ausdrücklich begrüßt und die Übersetzer zum Rückgriff auf die Ur‐ texte ermutigt hatte, schien Italien all das in kürzester Zeit nachholen zu wollen, was es vorher versäumt hatte. Es erschien eine Fülle neuer Übersetzungen für Katholiken. Pro‐ testanten, Juden und die Zeugen Jehovas, die von den vorher ausgesprochenen päpstlichen Verboten nicht betroffen waren, reagierten ebenfalls auf die neue Freizügigkeit mit zahl‐ reichen neuen Bibelversionen. Eine besondere Stellung unter den katholischen Überset‐ zungen darf die Traduzione Cei (Conferenza Episcopale Italiana; 1971, revidiert 2008) für sich beanspruchen. Ausführlichere Informationen zur italienischen Bibelübersetzung findet man unter anderem bei Leonardi (ed. 1998), Leonardi (2012) und bei Rizzi (2010). Wir be‐ schließen diesen kurzen Überblick mit einem Ausschnitt aus der Weihnachtsgeschichte nach Lukas (2,1ff.), den wir der von der Genfer Bibelgesellschaft herausgegebenen Nuova Riveduta (1994) entnehmen. Die Verfasser dieser Version sind um ein allgemeinverständli‐ ches Italienisch bemüht, ohne sich allzu stark an informelle Register anzulehnen: 119 6.4 Bibelübersetzungen vom Spätmittelalter bis heute <?page no="120"?> In quel tempo uscì un decreto da parte di Cesare Augusto, che ordinava il censimento di tutto l’impero. Questo fu il primo censimento fatto quando Cirinio era governatore della Siria. Tutti andavano a farsi registrare, ciascuno alla sua città. Dalla Galilea, dalla città di Nazaret, anche Giuseppe salì in Giudea, alla città di Davide chiamata Betlemme, perché era della casa e famiglia di Davide, per farsi registrare con Maria, sua sposa, che era incinta. Mentre erano là, si compì per lei il tempo del parto; ed ella diede alla luce il suo figlio primogenito, lo fasciò, e lo coricò in una mangiatoia perché non c’era posto per loro nell’albergo. Diese Übersetzung ist bei aller Wahrung der Allgemeinverständlichkeit auch um einen etwas feierlich-altertümlichen Ton bemüht. Das Syntagma ed ella diede, mit der typisch biblischen Verwendung der Konjunktion und am Anfang und dem bildungssprachlichen Pronomen ella, wird von einem modernen italienischen Korrekturprogramm als „zu ar‐ chaisch“ verworfen. In der etwa um die gleiche Zeit entstandenen Traduzione CEI heißt es denn auch schlicht, ohne Pronomen: Diede alla luce. Zum Schluss sei noch auf ein Ereignis hingewiesen, das für alle hier behandelten Sprach‐ räume von Bedeutung ist, nicht nur für den italienischen: das Zweite Vatikanische Konzil (Vaticanum II). Es wurde von Papst Johannes XXIII. im Jahr 1962 einberufen und nach seinem Tod von Papst Pius VI. 1965 beendet. Für die Übersetzungsgeschichte sind vor allem zwei dort getroffene Entscheidungen von Bedeutung: die Öffnung der Liturgie für die Volkssprachen und der Auftrag zur Erarbeitung der sog. „Nova Vulgata“. Diese neue offi‐ zielle lateinische Version berücksichtigt die Originaltexte. Sie ist 1979 erschienen. Wir hoffen, dass dieses Kapitel gezeigt hat, dass die Bibel im Zentrum zumindest der älteren europäischen Übersetzungsgeschichte steht. Die Geschichte der Bibelübersetzung wirft auch Licht auf ein Problem, das bisher noch kaum angeklungen ist, die Entstehung einer „kanonischen Übersetzung“, die in einem Sprachraum wirklich an die Stelle des Ori‐ ginals tritt. Dies lässt sich für den Luthertext und für die King James Version behaupten. In den romanischen Sprachräumen gibt es eine große Anzahl von höchst unterschiedlichen und, wenn man so will, ‚eigenwilligen‘ Übersetzungen, aber es gibt keine, die buchstäblich ‚in aller Munde‘ ist. 120 6 Bibelübersetzung in Europa <?page no="121"?> 7 Von der Renaissance zur Aufklärung: Die Vertreter der belles infidèles und ihre Gegner in Frankreich, England und Deutschland Die belles infidèles, die „schönen Ungetreuen“, sind nicht nur für die französische Überset‐ zungsgeschichte, sondern für die gesamte französische Kulturgeschichte von herausragender Bedeutung. Wir werden im nächsten Teilkapitel ausführen, wie dieser Ausdruck entstanden ist. Zunächst muss eine vorläufige Begriffserklärung genügen: Es geht - im weiteren Sinn - um ein gefälliges, einbürgerndes, leserfreundliches Übersetzen, das, um das bereits zitierte Bonmot von Friedrich Schleiermacher nochmals zu bemühen, „den Leser möglichst in Ruhe lässt und den Schriftsteller ihm entgegenbringt“. Das Phänomen hat von jeher das Interesse der Übersetzungshistoriker erregt und ist daher umfassend dokumen‐ tiert. Wir können uns also kurz fassen, das Wohlbekannte mit der gebotenen Knappheit darstellen, auf die einschlägige Literatur verweisen und versuchen, im Hinblick auf das weniger gut Bekannte eigene Akzente zu setzen. Die Art des Übersetzens, von der hier die Rede sein soll, ist eng mit dem Ideal des honnête homme verbunden, einem der drei großen, miteinander zusammenhängenden Leitbilder der europäischen Kultur: cortegiano (modern: cortigiano) → honnête homme → gentleman Am Anfang steht der „Hofmann“, dem der italienische Schriftsteller Baldassar Castiglione mit seinem Dialog Il cortegiano (1528) ein Denkmal gesetzt hat. Die Eigenschaft, die ihn auszeichnet, ist die sprezzatura, die Nonchalance, eine Ungezwungenheit bei der Ausübung der zahlreichen eigenen Fertigkeiten, die verbergen soll, dass deren Erwerb einst Mühe gekostet hatte. In seinem Buch Europäisches Sprachdenken nennt Jürgen Trabant coolness als mögliches modernes Äquivalent (Trabant 2006, 92). Etwa ein Jahrhundert später passt Nicolas Faret in seinem Traktat L’Honnête homme ou l’art de plaire à la cour (1630) Castigliones cortegiano den gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen an. Die Szene, auf der sich der honnête homme zu bewähren hatte, war nun nicht mehr die begrenzte Welt des Hofs von Urbino, sondern der französische Hof des 17. Jahrhunderts, an dem die alte Aris‐ tokratie (noblesse d’épée) immer mehr entmachtet und teilweise vom Verdienstadel (noblesse de robe) in den Schatten gestellt wurde. Wie sein Vorgänger hat auch der honnête homme auf allen Gebieten Bescheid zu wissen, aber ja nicht gar zu genau. Nur sein Gegenbild, der pédant, legt Wert auf präzise Einzelheiten, der honnête homme lässt es bei allgemeinen Hinweisen bewenden und verbirgt geradezu ängstlich, dass er es im Grunde besser weiß. Eine weitere Demokratisierung der europäischen Verhaltenslehre findet mit der Heraus‐ bildung des Ideals des gentleman statt - spätestens ab dem 19. Jahrhundert eigentlich nur noch ein Herr, der die Kunst beherrscht, in keiner Umgebung und keiner Situation unan‐ genehm aufzufallen. <?page no="122"?> 1 Diese Version wurde 1579 von Thomas North ins Englische weiterübersetzt und hat im anglophonen Sprachbereich den Boden für die Übersetzungen ‚à la française‘ bereitet. Ein Übersetzer, der dem Leitbild des honnête homme verpflichtet ist, drängt sich seinem Leser nicht auf, etwa mit pedantisch wiedergegebenen Gegenständen und Sachverhalten einer fremden Welt, die er im zu übersetzenden Text vorfindet. Er bemüht sich, das Fremde dem Geschmack seines Publikums anzupassen, einem Geschmack - davon ist er insgeheim überzeugt -, der demjenigen des Originalautors überlegen ist. Herder hat dies in einem seiner Literaturbriefe (cf. infra 9.5) „Von der griechischen Litteratur in Deutschland“ sehr schön charakterisiert: Die Franzosen, zu stolz auf ihren Nationalgeschmack, nähern demselben alles, statt sich dem Ge‐ schmack einer anderen Zeit zu bequemen. Homer muß als Besiegter nach Frankreich kommen, sich nach ihrer Mode kleiden, um ihr Auge nicht zu ärgern […] Französische Sitten soll er an sich nehmen, und wo seine bäurische Hoheit noch hervorblickt, da verlacht man ihn als einen Barbaren. - Wir armen Deutschen hingegen, noch ohne Publikum beinahe und ohne Vaterland, noch ohne Tyrannen eines Nationalgeschmacks, wollen ihn sehen, wie er ist. (Herder 1985, Bd. I, 307) Der Göttinger Übersetzungsforscher Jürgen von Stackelberg möchte bereits in der Renais‐ sance ein Vorspiel zu der übersetzungsgeschichtlich außerordentlich wichtigen Epoche der belles infidèles sehen; er spricht nämlich von drei Jahrhunderten, in denen die europäische Übersetzungsgeschichte im Zeichen der „schönen Ungetreuen“ gestanden sei. Die Über‐ setzer, die diesem Ideal verpflichtet waren, charakterisiert er mit folgenden Worten: Nur ausnahmsweise stellten Übersetzer sich auf den Standpunkt der Originaltreue - und auch das vor allem in der Theorie. In der Regel galt ihnen die Rücksicht auf den Leser mehr, als die Verant‐ wortung gegenüber dem Original: vielmehr, da sie meinten, nur eine Übersetzung, die dem Ge‐ schmack des Lesers entgegenkomme, werde gelesen, glaubten sie durchaus auch im Sinne der Autoren zu handeln, die sie übersetzten, wenn sie sie verschönten, erklärten, modernisierten und mit allen erdenklichen Mitteln im eigenen Lande heimisch zu machen versuchten. (Stackelberg 1972, 11) Es handelt sich hierbei um eine Form der Loyalität, die dem traditionellen Begriff der „Treue“ entgegensteht. Es geht nun nicht mehr in erster Linie um Treue gegenüber dem Wortlaut des Ausgangstexts, sondern um eine (Selbst)verpflichtung gegenüber einem Autor, dessen Erbe es unter gewandelten Rezeptionsbedingungen zu wahren galt. Bereits ein Jahrhundert vor dem Auftreten der belles infidèles im engeren Sinn hatte Jacques Amyot (1513-1593) mit seiner Übersetzung von οἱ βίοι παράλληλοι, Vitae parallelae des griechi‐ schen Schriftstellers Plutarch die Vorform einer „schönen Ungetreuen“ vorgelegt - relativ ‚treu‘ in rein sprachlicher Hinsicht, aber unbekümmert einbürgernd, was die Kulturspezi‐ fika betrifft: Da wurde schon einmal aus einer römischen Vestalin eine französische reli‐ gieuse, eine Nonne, und aus den Begleitern Alexanders des Großen auf seinen Feldzügen „Kammerherrn“ (gentilshommes de la chambre) (vgl. Stackelberg 1971, 584) 1 . Die Überset‐ zung hatte einen großen Erfolg; während Plutarch bis dahin nur einigen Spezialisten be‐ kannt war, fand er nun einen weit größeren Leserkreis. Amyots Übersetzung wurde zwar 1635 von Claude Gaspard Bachet de Méziriac in seiner Antrittsrede anlässlich seiner Auf‐ 122 7 Von der Renaissance zur Aufklärung: Die Vertreter der belles infidèles <?page no="123"?> nahme in die Academie Française von einem streng philologischen Standpunkt aus ‚ver‐ rissen‘ − es gab, wie wir gleich sehen werden, auch zur Blütezeit der belles infidèles Ge‐ genströmungen -, jedoch konnte das der herrschenden Praxis des stark einbürgernden, dem (präsumtiven) Geschmack des Zielpublikums entgegenkommenden Übersetzens keinen Abbruch tun. Die Theorie, die sich in zahlreichen Übersetzervorreden oder Nach‐ worten manifestierte, folgte dieser Praxis. Im Bereich der Übersetzung geht die Praxis fast immer der Theorie voraus - und zwar nicht nur in chronologischer, sondern auch in sys‐ tematischer Hinsicht. Der Übersetzungstheoretiker glaubt, in strenger, rationaler Deduk‐ tion die Grundelemente seiner Theorie aus den allgemeinen Bedingungen des Übersetzens abzuleiten. In Wirklichkeit expliziert er jedoch verinnerlichte Grundüberzeugungen, die sich in einem historisch-gesellschaftlichen Prozess herausgebildet haben. Die Theorie le‐ gitimiert eine Praxis, die bereits vorher existierte. 7.1 Anekdotisches zum Ausdruck Les belles infidèles Die Bezeichnung belle infidèle geht auf eine boutade des französischen Philologen Gilles Ménage (1613-1692) zurück. Sie richtete sich gegen seinen Duzfreund Perrot d’Ablancourt (1606-1664) und war nicht böse gemeint. Zu dessen Übersetzung eines Werks von Lukian äußerte er sich folgendermaßen: Lors que la version de Lucien de M. d’Ablancourt parut, bien des gens se plaignirent de ce qu’elle n’étoit pas fidèle. Pour moi, je l’appelai la belle infidèle, qui étoit le nom que j’avois donné étant jeune à une de mes maîtresses. (Ménage 1694, 329, zit. nach Balliu 2002, 83) Ménage war zwar ein Etymologe und somit einem strengen Wissenschaftsbegriff ver‐ pflichtet. Was er da über die Übersetzung seines Freundes schreibt, klingt jedoch fast schon wie eine Entschuldigung: Meine Geliebte, an die mich diese Übersetzung erinnert, war auch nicht treu, aber schön war sie. Später wurde das alles anekdotisch ausgeschmückt, man stößt auch in der wissenschaft‐ lichen Literatur auf zahlreiche Varianten dieser Benennungsgeschichte, die sich nicht auf Textbelege stützen. Das gilt auch für ein Beispiel, das besonders häufig zur Illustration von Perrot d’Ablancourts Art des Übersetzens herhalten muss. Sowohl der Originaltext als auch die Übersetzung werden in der Literatur meist nicht genau wiedergegeben. Hier wollen wir aus Primärquellen schöpfen: In Tacitus’ De situ ac populis Germaniae (allgemein als Ger‐ mania bekannt) ist von einem Germanenstamm die Rede, den Hariern (les Ariens), die sich besonders wüst anmalten, um die Feinde zu erschrecken: … nullo hostium sustinente novum ac velut infernum aspectum; nam primi in omnibus proeliis oculi vincuntur (Germania 43) … kein Feind hält den ungewohnten und geradezu höllischen Anblick aus; bei allen Kämpfen werden ja die Augen zuerst besiegt (eigene Übersetzung). 123 7.1 Anekdotisches zum Ausdruck Les belles infidèles <?page no="124"?> 2 Les Œuvres de Tacite de la Traduction de N. Perrot Sieur d’Ablancourt. 4 è édition revue et corrigée, Paris 1658. Verfügbar im Internet: Zitat S. 743, Remarque, S. 845. Daraus hatte Perrot d’Ablancourt gemacht: [de sorte qu’ils ressemblent à une armée infernale], dont on ne sçauroit seulement souffrir la vue ; Car les yeux sont les premiers vaincus aussi bien en guerre comme en amour. In den Bemerkungen, in denen er sorgfältig alle seine Abweichungen vom Wortlaut des lateinischen Texts protokolliert, heißt es im Hinblick auf den Zusatz en amour: … i’ay adjousté ces deux mots, pour égayer la pensée à l’imitation de l’Autheur, qui décrit tout cecy auec beaucoup de grace, outre que de dire : car des [sic ! ] yeux sont les premiers vaincus à la guerre : ie trouvais cela trop court pour en reprendre vne periode toute seule. 2 Den Zusatz „wie in der Liebe“, so der Übersetzer, habe er ganz im Sinne des Autors eingefügt, um dessen anmutig-leichtem Stil gerecht zu werden, und außerdem wäre der Satz ohne diesen Zusatz ein wenig kurz ausgefallen. Perrot d’Ablancourt war ein philologisch versierter, sorgfältiger Übersetzer. All seine Abweichungen vom Originaltext, die ihm von Zeitgenossen als „mangelnde Treue“ ausge‐ legt wurden, sind auf seine Übersetzungsstrategie und nicht auf Nachlässigkeit zurückzu‐ führen. „Tous mes pechez ne sont pas des pechez d’ignorance“ (zit. nach Zuber 2 1995, 189), „keine meiner Sünden [als Übersetzer] ist auf Unwissenheit zurückzuführen“, hat er einmal versichert. Die philologische Exaktheit hat er in die Remarques zu seinen Übersetzungen ausgelagert; der Wortlaut des Originals ist somit für den gründlichen Leser weitgehend rekonstruierbar. Gelegentlich flickt er auch seinen Autoren in sachlicher Hinsicht am Zeug: Wenn Tacitus den Rhein mit der Weser verwechselt, so wird dies ausdrücklich korrigiert (cf. ibid; Fn. 2 und S. 83). Es versteht sich fast von selbst, dass sich die Verfechter des gefälligen, leserfreundlichen Übersetzens (dazu gehörten neben Perrot d’Ablancourt auch Guez de Balzac, Valentin Conrart, der erste Sekretär der Akademie, und einige andere mehr, die hier nicht genannt werden können; cf. Zuber 2 1995, chap. II und III) gelegentlich auf die Texte von Cicero und Horaz beriefen, die wir im 2. Kapitel vorgestellt und diskutiert haben. 7.2 Einige Beispiele Zunächst muss auf den Zusammenhang hingewiesen werden, der zwischen der vorherrschenden Strategie des Übersetzens und der Stellung des Übersetzers im literarischen Leben besteht: In der Blütezeit der belles infidèles hatten die sprachliche Eleganz des Zieltextes und seine Wirkung auf das gebildete Publikum Vorrang vor allem anderen. Damit kam einem großen Übersetzer derselbe Rang wie einem großen Schriftsteller zu. Fast alle Schriftsteller waren auch Übersetzer; die Übersetzung klassischer Autoren gehörte zu den Aufgaben der Mitglieder der Académie Française. In dieser Hinsicht war Perrot d’Ablancourt ein durchaus ungewöhnlicher Vertreter seiner Zunft, denn er hat so gut wie nichts Eigenes verfasst; sein Werk bestand fast ausschließlich aus Übersetzungen: „Voilà donc un inventeur, 124 7 Von der Renaissance zur Aufklärung: Die Vertreter der belles infidèles <?page no="125"?> dont l’ouvrage consiste en copies“, führt Roger Zuber das Perrot d’Ablancourt gewidmete Kapitel seines Buchs ein ( 2 1995, 165), ein Erfinder soll vorgestellt werden, dessen Werk aus Kopien besteht. Nach der ‚Wende‘ der europäischen Übersetzungsgeschichte, auf die wir im nächsten Kapitel kurz eingehen werden, stand nicht mehr der Zieltext, sondern der Ausgangstext im Zentrum der Bemühungen. Damit wurde der Übersetzer vom Literaten zum Philologen. Er verlor seinen Rang innerhalb der kulturellen Elite und musste sich mit der Wertschätzung eines engen Kreises von Fachleuten zufriedengeben. Dazu kam, dass das Übersetzen immer seltener im Rahmen des Ideals eines otium cum dignitate als Nebenbeschäftigung betrieben, sondern immer häufiger als bezahlte Arbeit ausgeübt wurde (cf. infra Kap. 13). Die belles infidèles hatten ihre Blütezeit im 17. und dann noch einmal im 18. Jahrhundert. Sie wurden später durch andere Übersetzungsauffassungen abgelöst, sind jedoch bis zu einem gewissen Grad eine Konstante in der europäischen, vor allem aber der französischen Übersetzungsgeschichte geblieben. In der Blütezeit der Bewegung, um die es hier geht, wurde vor allem aus dem Griechischen und dem Lateinischen übersetzt. Da der Schwer‐ punkt unserer Darstellung auf der neueren Übersetzungsgeschichte liegt, werden wir auch ein Beispiel für die horizontale Übersetzung zwischen neueren Sprachen bringen. Für ter‐ minologische Puristen sei hinzugefügt, dass es sich dabei natürlich um belles infidèles im weiteren Sinn handelt. Zunächst jedoch noch ein Originalbeispiel aus einer Übersetzung von Perrot d’Ablancourt: Quae, in alios consules egressa, coniunxi (Tacitus, Annales XIII, 10) Welche [Angelegenheiten], unter verschiedenen Konsuln vorgefallen, ich zusammengefügt habe. J’ai traité ces choses conjointement pour la commodité de l’histoire, quoy qu’elles soient arrivées en des années differantes [sic]. (zit. nach Zuber 2 1995, 349) Hier sind zwei unterschiedliche Erscheinungen zu beobachten: Zum einen eine Auswei‐ tung, die allein der Übersetzungst e c h n i k geschuldet ist; die berühmte lateinische Knapp‐ heit kann im Französischen aus rein sprachlichen Gründen nicht nachgebildet werden - selbst unsere deutsche Interlinearversion ist länger als der lateinische Text. Zum anderen ein erläuternder Zusatz, pour la commodité de l’histoire (sehr frei und reichlich modern wiedergegeben: „aus rein erzähltechnischen Gründen“), der im Rahmen einer bestimmten Übersetzungss t r a t e g i e eingefügt wurde, ohne dass eine sprachliche Notwendigkeit vor‐ gelegen hätte. Strenge Befürworter des Wörtlichkeitsprinzips, die es auch in der Blütezeit der Bewegung gab, unterscheiden zwischen diesen beiden Typen von ‚Abweichungen‘ meist nicht konsequent. Wer Genaueres über die Zeit der belles infidèles im engeren historischen Sinn und über den im Grunde wenig bekannten Übersetzer Perrot d’Ablancourt erfahren möchte, sei auf das mehrfach zitierte Werk von Roger Zuber verwiesen - ein schönes Beispiel für die tra‐ ditionelle, heute etwas aus der Mode gekommene französische Gelehrsamkeit. Der Ver‐ fasser versichert, es handle sich um eine rein literarische Studie, „une recherche strictement littéraire“ (Zuber 2 1995, 9). Die ausführlichen Übersetzungsanalysen, bei denen manchmal fünf verschiedene Übersetzungen desselben Werks miteinander verglichen werden (cf. ibid., 320 ff.), machen es jedoch auch zu einer Fundgrube für Übersetzungsforscher. 125 7.2 Einige Beispiele <?page no="126"?> Das Phänomen der belles infidèles war nicht auf Frankreich beschränkt. Der englische klassizistische Dramatiker Alexander Pope (1688-1744) darf als typischer Vertreter dieser Gattung gelten. Bei dem folgenden Beispiel, das wir seiner berühmten Übersetzung der Ilias entnehmen, geht es weniger um Ausschmückung als vielmehr um Raffung: ‚Unnötige‘ De‐ tails, die den Leser langweilen oder auch schockieren könnten, werden elegant übergangen. Statt des griechischen Originals wählen wir zum Vergleich die sehr ausgangstextorientierte Übersetzung von Johann Hinrich Voß, in der der griechische Satz- und Versbau fast bis zur Unverständlichkeit nachgeahmt werden: Doch Antiphos, rasch in dem Panzer, Sandt’ ihm, Priamos Sohn, die spitzige Lanz’ im Gewühl her, Fehlend zwar, doch dem Leukos, Odysseus’ edlem Genossen, Flog das Geschoß in die Scham (βουβόν), da zurück den Toten er schleifte. (Ilias, Vierter Gesang, 489 ff.) Bei Pope wird das weit weniger präzise geschildert; statt schwerfälliger „deutscher Hexa‐ meter“ − ein Gegenstand nicht enden wollender Diskussionen - erscheinen vergleichsweise schlichte fünfhebige, paarweise gereimte Jamben: At Ajax, Antiphous his Jav’lin threw; The pointed Lance with erring Fury flew, And Leucus, lov’d by wise Ulysses, slew. (Pope 1967 [1716], Book IV, 562 ff.) Wohin genau die Lanze geflogen war, wollte damals in England offenbar niemand so genau wissen (vgl. Albrecht 1998, 70 f.). 7.3 Die Gegner der belles infidèles Keine Strömung ohne Gegenströmung - auch in der Blütezeit der belles infidèles gab es Gelehrte, die sich dieser Tendenz entgegenstellten und für ein philologisch exakteres Über‐ setzen plädierten. Gilles Ménage haben wir bereits kennengelernt. Er war ein typischer Philologe, darf als einer der Begründer der modernen Etymologie gelten, wenn auch seine Etymologien später oft verspottet worden sind, und er hat der Bewegung mit seinem spöttischen Bonmot den Namen gegeben. Eine Frau war es, die nach dem Abebben der ersten Welle der belles infidèles für die von den Gelehrten alten Stils bevorzugte philologisch-dokumentarische Übersetzung eintrat: Anne Lefevbre, besser bekannt unter dem Namen Mme Dacier (1647-1720). Sie war die Gattin des Gelehrten André Dacier und verfügte über ausgezeichnete Griechisch- und La‐ teinkenntnisse - für eine Frau damals völlig ungewöhnlich. Sie übersetzte die beiden großen Homerischen Epen, die Ilias (Iliade 1699) und die Odyssee (Odyssée 1716). Obwohl sie sich weit eher dem „goût du collège“, der philologischen Korrektheit, als dem „goût du Louvre“, der stilistischen Eleganz, verpflichtet fühlte, blieb sie doch sehr ihrer Zeit verhaftet und unterschied sich daher zumindest in ihrer Übersetzungspraxis gar nicht so sehr von Perrot d’Ablancourt und seiner Schule. „Anne Dacier conjugue approche cibliste et rigueur phi‐ lologique, ce qui détermine une fidélité ‚à mi-chemin‘ …“, präzisiert Christian Balliu (2002, 126 7 Von der Renaissance zur Aufklärung: Die Vertreter der belles infidèles <?page no="127"?> 107), sie vereine zieltextorientiertes Übersetzen mit philologischer Strenge, was zu einer auf halbem Weg stehen gebliebenen Treue führe. In der Vorrede zu ihrer Übersetzung der Ilias bringt Anne Dacier zum Ausdruck, dass sie wie die Vertreter der belles infidèles nicht gewillt war, die Lebensverhältnisse der Bronzezeit ungefiltert in ihre Übersetzung einfließen zu lassen, die für ein raffiniertes Publikum des klassischen französischen Jahrhunderts bestimmt war: Homère parle souvent de chaudrons, de marmites, de sang, d’intestins &c. On y voit des Princes dépouiller eux-mêmes les bêtes & les faire rôtir. Les gens du monde trouvent cela choquant. (zit. nach Konopik 1997, 23) Wasserkessel, Kochtöpfe, Blut, Eingeweide, Fürsten, die eigenhändig Tiere ausweiden und braten - das wollte auch sie ihren Lesern nicht zumuten. Berühmt ist ihre Wiedergabe einer Stelle aus dem elften Gesang der Ilias: Ajax befürchtet, die Troer könnten die griechischen Schiffe angreifen und zerstören. Er tritt einen hinhaltenden Rückzug an und muss dabei in Kauf nehmen, dass ihn die nachrückenden Troer mit Lanzenwürfen und Schwerthieben traktieren. Der Dichter vergleicht ihn an dieser Stelle mit einem Esel, der ungeachtet der Stockhiebe der Hütejungen, die ihn davon abhalten wollen, in ein Kornfeld eindringt, um sich an der frisch aufgegangenen Saat gütlich zu tun (11. Gesang, v. 556 ff.). Das Wort ὄνος „Esel“ wollte Mme Dacier keineswegs mit dem unmittelbaren französischen Äquivalent âne wiedergeben. Sie wählte die reichlich umständliche Periphrase animal patient et robuste, mais lent et paresseux. Zeitgenössische Kritiker warfen ihr vor, sie wisse offenbar nicht, dass der Esel in der Antike auch hochgestellten Persönlichkeiten als Reittier gedient habe und dass sein Name in früheren Zeiten keineswegs als Schimpfwort habe herhalten müssen. Damit wurden sie ihrem Stilempfinden nicht gerecht. Es ging ihr - und damit ist sie ihren scheinbaren Gegnern ziemlich ähnlich - um die Wirkung auf ihre historisch nicht vorge‐ bildeten zeitgenössischen Leser. Und für die waren allzu präzise Benennungen in den ‚hohen‘ Gattungen schockierend. Racine sprach von mère, fils und fille auch in Fällen, in denen er genau wusste, dass es sich um Großmütter, Enkel oder Enkelinnen handelte; prä‐ zise genealogische Termini wie grand-mère, petit fils oder gar tante waren dem hohen Stil der Tragöde, dem genus sublime, nicht angemessen. Spätere Übersetzer (wie z. B. Schiller) haben die Terminologie oft korrigiert (vgl. Albrecht 2002, 412 f.). Einer der imponierendsten Gegner der Schule von Perrot d’Ablancourt war Pierre Daniel Huet (1630-1721), zeitweise Bischof der Stadt Avranches in der Normandie, der uns bereits im zweiten Kapitel flüchtig begegnet ist (cf. supra 2.2). Er gab zusammen mit Anne Lefevbre, der späteren Mme Dacier, eine Reihe lateinischer Klassiker ad usum delphini heraus, Klas‐ sikerausgaben, die für den Kronprinzen bestimmt und deshalb von allen sittlich bedenkli‐ chen Stellen gereinigt waren. Bekannt geworden ist Huet durch seinen Traité de l’origine des romans (erstmals 1670), der ihn als einen Wegbereiter der Literaturgeschichtsschreibung ausweist. Weniger bekannt, aber für uns von besonderem Interesse ist sein Dialog De optimo genere interpretandi (1661; 1680; 1693), Teil eines größeren Werks über die Übersetzung. Wie schon bei Platon dient auch hier die Form des Dialogs dazu, das Für und Wider vor‐ getragener Ansichten und Argumente dem Leser übersichtlich vor Augen zu führen. Es gehört zu der von Platon begründeten Tradition, dass sich der Autor hinter einem der 127 7.3 Die Gegner der belles infidèles <?page no="128"?> Dialogpartner verbirgt. Bei Platon war dies Sokrates, bei Huet ist es Causabon, der, wie der Name verrät, die gute Sache vertritt. Huet äußert hinter der Maske des Causabon Ansichten, die dem Zeitgeist geradezu ins Gesicht schlagen. Für ihn sollte sich nämlich eine Übersetzung keineswegs so lesen wie ein Original. Eine Übersetzung sollte sich durchaus als eine solche zu erkennen geben. Nicht zielsprachliche Eleganz war seiner Meinung nach anzustreben, sondern eine Art von „Treue“, die nicht nur die Eigentümlichkeiten der fremden Sprache, sondern auch die Schwächen des Originals erkennen lässt; denn … aliud est enim, ut acute distinguis, accurate scribere; aliud interpretari … hier muss man deutlich unterscheiden: präzise schreiben ist eine Sache, übersetzen eine andere (Huet/ De Later 2002, 138) In übersetzungstheoretischer Hinsicht besonders interessant ist seine Stellungnahme zum Problem der Exegese, die notwendigerweise mit jeder Übersetzung verbunden ist. Während sich seine Zeitgenossen rühmten, sie hätten die unklaren und dunklen Stellen ihrer Vorlage erst verständlich gemacht und aufgehellt, hält Huet dergleichen für ein völlig unzulässiges Vorhaben. Eine unklare Stelle müsse nach Möglichkeit auch unklar wiedergegeben werden; es sei nicht zulässig, dass dem Leser des Zieltextes eine der potentiellen Interpretationen des Textes durch den Übersetzer so präsentiert werde, dass keine anderen Möglichkeiten der Auslegung übrig blieben: Verbum ambigue dictum est & duplicem admittit explicationem, cur in alteram illud trahis, vacuam alteram relinquis? cur sententiae partem lectori largiris, hunc altera defraudas; tuamque secutus opinionem, nullum conjecturae aut privati judicii locum huic relinquis? Certe res in medio posita ut erat, ita debuit consistere, & verbum anceps ancipiti verbo reddi, ipsaque sententiae ambiguitas representari. (Huet/ De Later 2002, 146) Nehmen wir an, ein Wort wird zweideutig verwendet und erlaubt eine zweifache Auslegung - warum bestehst du auf die eine und verwirfst die andere als nichtig? Warum drängst du dem Leser einen Teil des Sinns auf und betrügst ihn um den anderen? Und, nachdem du deiner Meinung gefolgt bist, warum gibst du ihm keine Gelegenheit zu eigenen Hypothesen und eigenem Urteil? Wenn eine Sache als unsicher dargestellt wird, so soll sie gewiss auch so bleiben, und ein mehr‐ deutiges Wort soll durch ein mehrdeutiges wiedergegeben werden, wie auch die Mehrdeutigkeit des Sinns ausgedrückt werden soll (eigene freie Paraphrase nach Art der belles infidèles). Hier wird eine strenge Forderung ausgesprochen, die nicht nur der gängigen Praxis wider‐ spricht (hier kann doch wohl nur das gemeint sein, also übersetze ich so), sondern die auch schwer zu erfüllen ist. In den meisten Fällen ist es für den Übersetzer leichter, eine dunkle Stelle aufzuhellen, als deren Dunkelheit im Zieltext genau nachzubilden. 7.4 Die zweite Welle der belles infidèles im 18. Jahrhundert Die belles infidèles hatten ihre erste Hochblüte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Roger Zuber, der die Geschichte der belles infidèles am gründlichsten aufgearbeitet hat, setzt 128 7 Von der Renaissance zur Aufklärung: Die Vertreter der belles infidèles <?page no="129"?> den Höhepunkt der Gattung um 1640 an und ihren Niedergang - er spricht sogar von disparition - seltsam präzise auf 1653. So genau braucht uns das in diesem Zusammenhang nicht zu interessieren. Im 18. Jahrhundert nimmt die Gattung noch einmal einen unge‐ heuren Aufschwung, und zwar in verstärkter Form. Während die Übersetzungen Perrot d’Ablancourts aus heutiger Sicht durchaus als Übersetzungen durchgehen können, würde man die Produkte, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden sind, heute eher als Bearbeitungen bezeichnen. Symptomatisch für das Wiederaufleben des Genres im 18. Jahrhundert ist die Kontro‐ verse zwischen Mme Dacier und Antoine Houdar de la Motte (1672-1731), die im Rahmen der berühmt-berüchtigten Querelle des anciens et des modernes ausgetragen wurde. Auf diesen Streit können wir hier nicht ausführlich eingehen, es ging, vereinfacht ausgedrückt, um die Frage, ob die zeitgenössischen französischen Autoren den antiken im Hinblick auf Geschmack und Ausdrucksvermögen überlegen seien oder ob die Klassiker der Antike weiterhin als unerreichbare Vorbilder zu gelten hätten. Einige der bedeutendsten Autoren des klassischen französischen Jahrhunderts standen auf der Seite der anciens; Houdar de la Motte vertrat entschieden die Partei der modernes. In der Vorrede zu seiner Übersetzung der Ilias (1714), bei der er das Epos von vierundzwanzig auf zwölf Gesänge verkürzte, um seinen Lesern ‚Nebensächliches‘ zu ersparen, legte er seine Auffassung nicht nur zu Fragen der Übersetzung, sondern auch der Poetik dar. Es ging ihm vor allem um die Frage, ob man, wie Mme Dacier es getan hatte, metrisch gebundene Sprache in Prosa übertragen, oder ob man ein in der Zielkultur übliches Versmaß dabei verwenden solle: L’Iliade d’Homère … m’a paru mériter d’être mise en Vers François, pour amuser la curiosité de ceux qui ne sçavent pas la langue originale (Œuvres de M. Houdar de la Motte, Vol. III, zit. nach Balliu 2002, 120) Er wählte also ‚französische Verse‘, Alexandriner, um die Neugier derjenigen zu befriedigen, die Homer nicht in der Originalsprache lesen konnten. Zu diesen gehörte er selbst. Er gab freimütig zu, kein Griechisch zu können. Es wird vermutet, dass er als Vorlage u. a. auch die von ihm scharf kritisierte Übersetzung von Mme Dacier herangezogen und zur Kontrolle wahrscheinlich zusätzlich eine lateinische Übersetzung verwendet habe (vgl. Van Hoof 1951, 51 f.). Christian Balliu vermutet, dass es die selbst bei den partisans des modernes schlecht auf‐ genommene Übersetzung gewesen sei, die Anne Dacier im Nachhinein als strenge Philo‐ login und Gegenerin der belles infidèles erscheinen ließ, obwohl sie durchaus dem Zeitge‐ schmack verhaftet gewesen sei: C’est vraisemblablement la piètre traduction d’Houdar de la Motte qui fit d’Anne Dacier un parangon de rigueur philologique, alors qu’elle payait également un lourd tribut aux goûts du siècle. (Balliu 2002, 117). Mit Houdar de la Motte, so Balliu, sei das Genre der belles infidèles endgültig verschwunden (ibid., 123). Dieser Ansicht wollen wir uns nicht anschließen. Gerade im 18. Jahrhundert ist eine Fülle von Übersetzungen erschienen - man denke nur an die Shakespeareüberset‐ zungen von La Place und Le Tourneur (cf. infra 9.4) -, die die Tradition des Genres fort‐ führen. Von ganz besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist eine der beiden 129 7.4 Die zweite Welle der belles infidèles im 18. Jahrhundert <?page no="130"?> Übersetzungen, die Voltaire, wohl einer der einflussreichsten Schriftsteller im Europa des 18. Jahrhunderts, von dem Selbstmordmonolog aus Shakespeares Hamlet angefertigt hat. Sehen wir uns zuerst das Original an: To be, or not to be, that is the question - Whether ’tis nobler in the mind to suffer The slings and arrows of outrageous fortune, Or to take arms against a sea of troubles, And by opposing end them. To die, to sleep - No more; and by a sleep to say we end The heart-ache and the thousand natural shocks That flesh is heir to - ’tis a consummation Devoutly to be wished. To die, to sleep - To sleep, perchance to dream. Ay, there’s the rub, For in that sleep of death what dreams may come, When we have shuffled off this mortal coil, Must give us pause. (Hamlet, 3. Akt 1. Szene) Zu einer Zeit, als Shakespeare in Frankreich noch weitgehend unbekannt war, übersetzte Voltaire Hamlets berühmten Selbstmorddialog so, wie er glaubte, ihn für ein französisches Publikum ‚aufbereiten‘ zu müssen, um ihn lesbar zu machen: Demeure : il faut choisir et passer à l’instant De la vie à la mort ou de l’être au néant : Dieux cruels ! S’il en est, éclairez mon courage. Faut-il vieillir courbé sous la main qui m’outrage, Supporter ou finir mon malheur et mon sort ? Qui suis-je ? Qui m’arrête ? et qu’est-ce que la mort ? C’est la fin de nos maux ; c’est mon unique asile ; Après de longs transports, c’est un sommeil tranquille : On s’endort et tout meurt. Mais un affreux réveil Doit succéder peut-être aux douceurs du sommeil. On nous menace, on dit que cette courte vie De tourments éternels est aussitôt suivie. O mort ! Moment fatal ! Affreuse éternité. (zit. nach Billaz 1997, 375) Shakespeares Hamlet ist hier kaum wiederzuerkennen. Man nimmt ihm nicht ab, dass er sich mit Gedanken an Suizid abquält. Er erscheint als rhetorisch versierter Agnostiker, der beim Anruf der Götter nicht vergisst hinzuzufügen „sofern es welche gibt“ (3. Vers). Wer diesen Text genau mit dem Original vergleicht, kann nicht entscheiden, welche Passagen der Übersetzung welchen Stellen des Originals zuzuordnen sind. Hier gilt im strengen Sinn, was manche Übersetzungstheoretiker für alle Übersetzungen behaupten: Die Überset‐ zungseinheit ist der gesamte Text. Zum Vergleich führen wir hier einen Ausschnitt aus der Schlegel-Tieckschen Übersetzung an, die im deutschen Sprachraum kanonisch geworden 130 7 Von der Renaissance zur Aufklärung: Die Vertreter der belles infidèles <?page no="131"?> ist, obwohl später immer wieder versucht wurde, eine neue Shakespeare-Übersetzung durchzusetzen: Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: Ob’s edler im Gemüt, die Pfeil’ und Schleudern Des wütenden Geschicks erdulden oder, Sich waffnend gegen eine See von Plagen, Durch Widerstand sie enden. Sterben - schlafen - Nichts weiter! - und zu wissen, daß ein Schlaf Das Herzweh und die tausend Stöße endet. Die unsers Fleisches Erbteil - ’s ist ein Ziel Aufs innigste zu wünschen. Sterben - schlafen - Schlafen! Vielleicht auch träumen! - Ja da liegt’s: Wenn wir den Drang des Ird’schen abgeschüttelt, Das zwingt uns, stillzustehen. Hier lassen sich ohne weiteres kleinere Übersetzungseinheiten abgrenzen, Syntagmen, die einem Syntagma im Originaltext unmittelbar zugeordnet werden können. Ein Vergleich der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel mit derjenigen von Voltaire verschafft einen klaren Eindruck von dem Phänomen, das im nächsten Kapitel recht knapp behandelt werden soll, von der ‚Wende‘ in der europäischen Übersetzungsgeschichte und vom Ende der belles infidèles als einem Leitbild der Übersetzungsstrategie - nicht hingegen der Über‐ setzungspraxis. Man spricht zwar offiziell vom „Ende“ der belles infidèles, jedoch hat sich diese Art zu übersetzen auf den ‚unteren Etagen‘ des Kulturbetriebs bis heute erhalten, wenn auch in gemilderter Form. Das sei anhand der französischen Übersetzung eines Kriegsromans aus den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gezeigt: Geräuschvolles Wiedersehen entstand (25) Ils manifestaient bruyamment leur joie de se revoir. [Sie bezeugten lautstark ihre Freude über das Wiedersehen] Wie in fast jeder Nacht fanden Überfliegungen statt, meist durch Minenflugzeuge, kommend und gehend (179). Comme presque chaque nuit des avions ennemis survolaient le secteur, pour la plupart des poseurs de mines allant exécuter des missions ou regagnant leurs bases. [Wie in fast jeder Nacht überflogen feindliche Flugzeuge das Gebiet, meistens Minenflugzeuge, die zu Einsätzen aufbrachen oder zu ihren Stützpunkten zurückkehrten.] Eine Schlechtwetterfront war durchgezogen, und jetzt mit der Rückseite breitete sich eine Bläue über die Landschaft (198) Une masse de nuages compacts venait de traverser le ciel, et maintenant derrière elle, un grand morceau d’azur se déployait au-dessus du paysage. [Eine kompakte Wolkenmasse hatte gerade den Himmel überquert, und nun, hinter ihr, breitete sich ein Stück Azurblau über der Landschaft aus.] Es handelt sich um den 1953 erschienenen Roman Die sterbende Jagd von Gerd Gaiser (hier zit. nach der Ausgabe München 1978). Der Titel bezieht sich auf eine Staffel von Jagdflug‐ 131 7.4 Die zweite Welle der belles infidèles im 18. Jahrhundert <?page no="132"?> zeugen. Der etwas manieristische Stil und vor allem der elegische Grundton haben manchen Kritikern missfallen, vor allem, weil sie wussten, dass der Autor nicht gerade ein Wider‐ standskämpfer gewesen war. Die 1958 unter dem Titel Agonie de la chasse erschienene Übersetzung von R. Chenevard ist eine belle infidèle après la lettre. Übersetzungen dieser Art sind in der französischen Unterhaltungsliteratur bis heute üblich. Der meteorologisch fachsprachliche Ausdruck mit der Rückseite (des Tiefdruckgebiets) wird gemeinsprachlich wiedergegeben. Die in eckigen Klammern angegebenen Rückübersetzungen sollen zeigen, dass sich der Autor ebenso hätte ausdrücken können, wenn er denn gewollt hätte (vgl. Albrecht 1980). Die Rückübersetzung ist ein wichtiges heuristisches Mittel bei der Analyse von Übersetzungen und manchmal sogar beim Übersetzen in praxi. 132 7 Von der Renaissance zur Aufklärung: Die Vertreter der belles infidèles <?page no="133"?> 8 Die ‚Wende‘ der europäischen Übersetzungsgeschichte in der Romantik. Die Entstehung der philologisch-dokumentarischen Übersetzung In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeichnete sich eine Wende in der allgemeinen Auffassung der literarischen Übersetzung ab. Georges Mounin hat diesen Prozess des Um‐ denkens in seinem früher viel gelesenen und häufig zitierten Buch über die belles infidèles als einer der ersten mit einem Wandel des politischen und geistesgeschichtlichen Klimas in Verbindung gebracht: Auf den „ewigen“ Menschen in einer von der Kirche und der Mo‐ narchie geprägten Gesellschaft sei der „historische Mensch“ gefolgt (Mounin 1955, 98). Nietzsche hat in dem „historischen Sinn“, der das 19. Jahrhundert und seine Übersetzer auszeichnete, eine Art von Schwäche gesehen: Man kann den Grad des historischen Sinns, welchen eine Zeit besitzt, daran abschätzen, wie diese Zeit Übersetzungen macht und vergangene Zeiten und Bücher sich einzuverleiben sucht. Die Fran‐ zosen Corneilles, und auch noch der Revolution, bemächtigten sich des römischen Altertums in einer Weise, zu der wir nicht den Mut hätten - dank unserm höhern historischen Sinne. (Die fröhliche Wissenschaft, §. 83; zit. nach der Ausgabe von Schlechta, München 3 1962) Diese Einschätzung ist zunächst einmal Nietzsches masochistischer Bewunderung für alle Manifestationen unreflektierter Lebenstüchtigkeit zuzuschreiben. Der Begriff „historischer Sinn“ charakterisiert jedoch die gewandelte Auffassung vom Übersetzen recht gut. Das Neue an der sich nun langsam durchsetzenden Auffassung der Übersetzung war natürlich nur eine Konsequenz eines viel umfassenderen Wandels in der Ideengeschichte. Mit der Ablösung der Klassik durch die Romantik ging der Glaube an zeitlose, absolut gültige Vor‐ bilder verloren. Der unbegrenzte Kulturoptimismus der Aufklärung schlug in einen Ge‐ schichtsrelativismus um. Nun war das Mittelalter keine glücklicherweise überwundene Epoche mehr, an die man mit Schaudern zurückdachte, sondern eine geheimnisvolle Zeit mit ihren ureigenen Gesetzen, die es wiederzuentdecken galt. Man wollte einen finsteren, mittelalterlichen Autor wie Dante nicht nach zeitgenössischem Geschmack aufbereitet lesen, wie ihn Antoine de Rivarol, der Herold der clarté française, seinem Publikum vorge‐ setzt hatte, man wollte ihn als einen dunklen, mittelalterlichen Autor neu kennenlernen. Schon bei Rivarol selbst findet man Spuren dieses neu aufkommenden Geschmacks am Ungewohnten. In der Vorrede zu seiner Übersetzung des Inferno zeigt er sich entgegen seinen ästhetischen Überzeugungen fasziniert von den, wie er pflichtschuldigst versichert, „bizarren“, aber äußerst präzisen und eindringlichen Bildern, die den Leser auf seiner Reise ins Jenseits erwarten: Quant à ses idées les plus bizarres, elles offrent aussi je ne sais quoi de grand et de rare qui étonne et attache le lecteur. […] Enfin, du mélange de ses beautés et de ses défauts, il résulte un poème qui ne ressemble à rien de ce qu’on a vu, et qui laisse dans l’âme une impression durable. (Rivarol 1808, tome II, XXIIf.) <?page no="134"?> Das mittelalterliche Gedicht - und hier deutet sich die Neubewertung an - wird nun nicht mehr als alt und ungenießbar, sondern als etwas vollkommen Neues empfunden, das beim Leser einen dauerhaften Eindruck hinterlässt. 8.1 Friedrich Schleiermacher und der beginnende Historismus Die eigentliche Gegenbewegung zur französischen Übersetzungstradition ging von Deutschland aus. Sie entstand in der Zeit des Sturm und Drang und der Frühromantik und war keineswegs frei von nationalistischen Vorbehalten gegenüber dem französischen Geist. Der französische Übersetzungshistoriker Antoine Berman ging sogar so weit zu behaupten, dass sich die deutsche Übersetzungstheorie in Reaktion auf die französische Übersetzungs‐ praxis herausgebildet habe: A l’époque où, en Allemagne, elle [scil. la fidélité à l’original] commence à être célébrée avec des accents quasi conjugaux par Breitinger, Voss et Herder, la France traduit sans le moindre souci de fidélité et poursuit sa tradition, jamais entièrement abandonnée, de traductions « enjolivantes » et « poétisantes ». La théorie allemande de la traduction se construit consciemment contre les traductions « à la française ». (Berman 1984, 61 f.) Für Berman ist also die Tradition der belles infidéles keineswegs schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erloschen, wie Zuber behauptet (cf. supra). Er beeilt sich hinzuzufügen, dass die deutschen Literaturtheoretiker mit diesem Bekenntnis zur „Treue“ aus der Not eine Tugend machen wollten. Eine ‚starke‘ Literatur wie die französische brauche keine Erwei‐ terung durch Erfahrung des Fremden, eine ‚schwache‘ Literatur wie die deutsche dagegen sehr wohl: Ce mode de traduire est en parfaite conformité avec la position dominante de la culture française de l’époque, qui n’a nullement besoin de passer par la loi de l’étranger pour affirmer son identité. […] Dans ces conditions, il n’y a pas de place pour une quelconque conscience de fidélité. La position des traducteurs allemands au XVIII e siècle n’en acquiert que plus de poids. […] La langue allemande manque de ‘culture’, et pour l’acquérir, elle doit passer par un certain élargissement, lequel présuppose des traductions marquées par la fidélité. (ibid., 62 f.) Das entspricht den zentralen Thesen der „literarischen Polysystemtheorie“ von Itamar Even-Zohar, auf die wir später (Kap. 9.8) zurückkommen werden. Das Argument greift jedoch ein wenig zu kurz. Die allgemeine Wirkung dieser von Deutschland ausgehenden neuen kulturhistorischen Strömung war nämlich so stark, dass sie bald auch auf Frankreich übergriff. Wie im nächsten Teilkapitel zu zeigen sein wird, fanden sich zumindest in den oberen Etagen des Literaturbetriebs - weniger im Bereich der Unterhaltungsliteratur - bald auch in Frankreich Übersetzer, die ihre Leser lieber schockieren wollten, als ihnen Altge‐ wohntes nach französischem Geschmack vorzusetzen. Die ‚Wende‘ der europäischen Übersetzungsgeschichte lässt sich am besten anhand des berühmten Aufsatzes „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens“ (1813) von Friedrich Schleiermacher illustrieren. Der Begründer der neueren Hermeneutik wendet sich dort gegen eine Maxime, die auch heute noch an Philologenstammtischen zu hören ist; 134 8 Die ‚Wende‘ der europäischen Übersetzungsgeschichte in der Romantik <?page no="135"?> denn in den unteren Etagen des Kulturbetriebs ist die Zeit der belles infidèles nie wirklich zu Ende gegangen. Man müsse, so wird auch heute immer wieder einmal gefordert, einen Autor so übersetzen, wie er sich ausgedrückt hätte, wenn er unsere Sprache gesprochen und unser Zeitgenosse gewesen wäre. Genau das hatte der im vorhergehenden Kapitel erwähnte Houdar de la Motte in der Vorrede zu seiner Homer-Übersetzung getan: … il faut plus songer à son expression, mais se demander à soi-même, comment ce Poëte […] exprimeroit un tel sens, s’il vivoit parmi nous … (zit. nach Konopik 1997, 41). Eine solche Maxime mag beim ersten Hinhören ganz plausibel klingen, bei genauerem Nachdenken erweist sie sich als absurd. Schleiermacher hat die richtige Antwort darauf gegeben: Ja man kann sagen, das Ziel, so zu übersezen wie der Verfasser in der Sprache der Uebersezung selbst würde ursprünglich geschrieben haben, ist nicht nur unerreichbar, sondern es ist auch in sich nichtig und leer; denn wer die bildende Kraft der Sprache, wie sie eins ist mit der Eigenthümlichkeit des Volkes, anerkennt, der muß auch gestehen daß jedem ausgezeichnetsten am meisten sein ganzes Wissen, und auch die Möglichkeit es darzustellen, mit der Sprache und durch sie angebildet ist, und daß also niemanden seine Sprache nur mechanisch und äußerlich gleichsam in Riemen anhängt, und wie man leicht ein Gespann löset und ein anderes vorlegt, so sich jemand auch nach Belieben im Denken eine andere Sprache vorlegen könne … (Schleiermacher 1838, 233). Und ein wenig später schwingt er sich im gleichen thematischen Zusammenhang zu einem boshaften Bonmot auf: Ja was will man einwenden, wenn ein Uebersezer dem Leser sagt, Hier bringe ich dir das Buch, wie der Mann es würde geschrieben haben, wenn er es deutsch geschrieben hätte; und der Leser ihm antwortet, Ich bin dir eben so verbunden, als ob du mir des Mannes Bild gebracht hättest, wie er aussehen würde, wenn seine Mutter ihn mit einem andern Vater erzeugt hätte. (ibid., 239) Schleiermacher plädiert vorsichtig für ein philologisch-dokumentarisches, verfremdendes Übersetzen. Er verspricht sich davon nicht nur eine Bereicherung der eigenen Sprache; das hatte man, wie wir gesehen haben, schon viel früher getan. Er verspricht sich davon vor allem eine Bereicherung der eigenen Kultur. Und in diesem Zusammenhang entwickelt er einen wichtigen ‚rezeptionsästhetischen‘ Gedanken. Die verfremdende Übersetzung, so betont er, erfordere, wenn sie denn wirklich kulturelle Wirkung entfalten wolle, durchaus ein Verfahren im großen, ein Verpflanzen ganzer Litteraturen in eine Sprache […]. Ein‐ zelne Arbeiten dieser Art haben nur einen Werth als Vorläufer einer sich allgemeiner entwik‐ kelnden und ausbildenden Lust an diesem Verfahren. Regen sie diese nicht auf, so haben sie auch im Geist der Sprache und des Zeitalters etwas gegen sich; sie können alsdann nur als verfehlte Versuche erscheinen, und auch für sich wenig oder keinen Erfolg haben. (ibid., 231) Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts verebbt der vom Geist der Romantik getragene Schwung, der zur Aneignung des Fremden ermuntern sollte, zugunsten eines Bedürfnisses nach historisch-philologischer Exaktheit. Die Romantik geht unmerklich in den Histo‐ rismus über. Es bildet sich die philologisch-dokumentarische Übersetzung, die ‚Schulüber‐ 135 8.1 Friedrich Schleiermacher und der beginnende Historismus <?page no="136"?> 1 Alle Seitenangaben beziehen sich auf den Wiederabdruck der Rezension bei Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt (Hrsg. 2009). 2 Bei Kitzbichler et al. wird irrtümlich Vers 235 angegeben. setzung‘ als ‚neutrale‘ Form des Genres aus, der gegenüber alle zweckbetonten Formen der Übersetzung als ‚Abweichungen‘ empfunden werden. 8.2 Einige Beispiele zur Übersetzungstheorie und -praxis Ein Vorbote der Wende ist Johann Hinrich Voß mit seinen beiden Homer-Übersetzungen (Odyssee erstmals 1781; Ilias erstmals 1793). Einige wenige Verse aus seiner Ilias mögen dies zeigen. Diomedes wird von einem Kampfgenossen aufgefordert, sich vor zwei auf ihn zu‐ stürmenden schwer bewaffneten Reitern in Sicherheit zu bringen. Er weist diesen Rat em‐ pört zurück: Nichts von Flucht mir gesagt, denn schwerlich möcht’ ich gehorchen! Mir nicht ist’s anartend, zurückzubeben im Kampfe Oder hinab mich zu schmiegen; noch fest mir dauret die Stärke. (5. Gesang, V. 252-254) Hier führt das Bestreben, die sprachlichen Strukturen des Ausgangstexts so genau wie möglich nachzubilden, hart an die Grenze der Unverständlichkeit. In einer ausführlichen Rezension der Voß’schen Übersetzungen (1796) geht August Wilhelm Schlegel - obschon durchaus schon mit jenem „höheren historischen Sinn“ ausgestattet, von dem bei Nietzsche die Rede war - kritisch auf die sprachlichen Eigentümlichkeiten und die „absichtlichen Uebertretungen der Sprachgesetze“ (38) 1 bei Voß ein. Er zitiert Klopstock, der in seinen Grammatischen Gesprächen (1794) bemerkt hatte, „Homer könne nun, wenn er unterginge, aus dem Verdeutscher wieder vergriecht werden“ (14). Das ist eine scharfsinnige Bemer‐ kung, mit der Voßens Übersetzung treffend charakterisiert wird. Die Erfahrung zeigt näm‐ lich, dass aus keiner zielsprachlich einigermaßen ‚lesbaren‘ Übersetzung das Original durch Rückübersetzung ohne weiteres rekonstruiert werden kann. Aus Interlinearversionen lässt sich der ursprüngliche Text viel leichter zurückgewinnen. Schlegel ist durchaus bereit, Vo‐ ßens Leistung im Ganzen anzuerkennen. Im Einzelnen geht er jedoch hart mit ihm ins Gericht. So bezeichnet er den Vers 15 aus dem zehnten Gesang: Viel alsdann aus dem Haupt mit den Wurzeln rauft’ er sich Haare nicht ganz zu Unrecht als Beispiel „eines gleichsam an allen Gliedmaßen verrenkten Satzes“ (32) 2 . Von besonderem Interesse ist Schlegels Kritik an Voßens hypertrophem Gebrauch von Substantiv- und Adjektivkomposita: Wir haben schon zu viel solcher furchtbaren Wörter wie Kopfschmerzen, Kopfwerkzeug u. s. w. als daß wir noch neue erfinden sollten, wie Hn. V. einige entschlüpft sind: Siegstärke, schwarzschau‐ ernd, erzstarrend, starkrädrig … Die mit um zusammengesetzten Beywörter, die Herr V. vorzüglich liebt, bekommen leicht ein allzukünstliches Aussehen: der sternumleuchtete Himmel, die erzum‐ schirmten Achaier, der schwarzumwölkte Kronion, der helmumflatterte Hektor. (25) 136 8 Die ‚Wende‘ der europäischen Übersetzungsgeschichte in der Romantik <?page no="137"?> Die Leichtigkeit der Bildung von Komposita ist ein Charakteristikum, das das Deutsche mit dem Griechischen gemein hat. Die „schmückenden Beiwörter“ bei Homer füllten in der Regel ein Hemistichion. Dem fahrenden Sänger, der das Epos auswendig vortrug, dienten sie häufig als reine Gedächtnisstütze. Bei Voß werden sie zu einem ‚Stilmittel‘, das moderne L e s e r ermüden mag, weit weniger jedoch den H ö r e r, dem der Text von einem geschulten Sprecher vorgetragen wird. Bald finden sich auch französische Übersetzer, die sich sehr genau an den Ausgangstext halten und nicht davor zurückschrecken, ihre Leser zu schockieren, ja sogar, wie Voß, die Regeln der Zielsprache verletzen, um näher am Originaltext bleiben zu können. Wir müssen uns hier mit wenigen Beispielen zufriedengeben. François René de Chateaubriand (1768-1848), ein bedeutender, heute wenig geschätzter und gelesener französischer Schriftsteller, übersetzte ein Werk des englischen Dichters John Milton (1608-1674): Paradise lost, ein biblisches Epos, dessen eigentlicher Held Satan ist und das auch bei der Entstehung von Klopstocks Messias (1773) Pate gestanden hat. In der Vorrede zu seiner 1836 veröffentlichten Übersetzung, die den irreführenden Titel Essai sur la littérature anglaise trägt, bekennt er sich zu einer rigorosen Wörtlichkeit, die sich nur so weit wie unbedingt nötig von einer Interlinearversion entfernt: La traduction littérale me paraît toujours la meilleure : une traduction interlinéaire serait la per‐ fection du genre, si on lui pouvait ôter ce qu’elle a de sauvage. (zit. nach D’hulst 1990, 168) Symptomatisch ist die folgende, schon mehrfach kommentierte Stelle seiner Übersetzung: … many a row of starry lamps … / Yielded light / As from a sky plusieurs rangs de lampes étoilées … / émanent la lumière comme un firmament Diese grammatisch falsche Übersetzung hat er folgendermaßen kommentiert: Or je sais qu’émaner en français n’est pas un verbe actif [scil. ein transitives Verb]; un firmament n’émane pas de la lumière, la lumière émane d’un firmament; mais traduisez ainsi, que devient l’image? Du moins le lecteur pénètre ici dans le génie de la langue anglaise; il apprend la différence qui existe entre les régimes des verbes dans cette langue et dans la nôtre. (zit. nach Steiner 1975, 316 f.) Ein Verb wird bewusst syntaktisch fehlerhaft verwendet, um das Bild des Originaltexts zu bewahren. Damit sind wir - freilich auf einem höheren theoretischen Niveau - wieder zu den Anfängen des „vertikalen Übersetzens“ im Mittelalter zurückgekehrt. Was damals ge‐ legentlich aus Hilflosigkeit geschah, wird nun ganz bewusst in Verfolgung einer be‐ stimmten Ausdrucksabsicht ausgeführt. Als Musterbeispiel eines Gegenentwurfs zu den belles infidèles in ihrem Herkunftsland darf die Ilias-Übersetzung des dezidiert anti-romantischen Dichters Leconte de Lisle gelten (1866). Bei ihm wird das Epos nicht in chants (Gesänge), sondern (vermutlich nach dem Vorbild der Prolegomena ad Homerum von Friedrich August Wolf) in rhapsodies eingeteilt; anatomische Details bei Verletzungen durch Schwerthiebe und Lanzenstiche werden präzise geschildert und Eigennamen in leicht französisierter Form beibehalten. Wo bei Mme Dacier von les Grecs (die Griechen) oder dem vent du sud (Südwind) die Rede war, erscheinen 137 8.2 Einige Beispiele zur Übersetzungstheorie und -praxis <?page no="138"?> bei Leconte de Lisle les Akkhaiens (die Achaier) und le Notos (νότος, ein Regen bringender Südwestwind; vgl. Albrecht 2012, 742). Die ‚Wende‘ der europäischen Übersetzungsgeschichte wurde nicht überall begeistert aufgenommen. Der englische Dichter und Kulturhistoriker Matthew Arnold vertrat in seinem Essay On Translating Homer (1861) die These, eine Übersetzung solle auf den Leser so wirken, wie das Original auf das Publikum gewirkt hat, für das es bestimmt war. Es handelt sich also um genau die Forderung, die Eugene A. Nida unter dem Stichwort dynamic equivalence ein Jahrhundert später erhob (cf. supra, Kap. 6). Für einen literarischen Schön‐ geist mag eine solche Forderung plausibel klingen, selbst dann, wenn er in der Sache die entgegengesetzte Position vertritt. Für den Vertreter eines ‚harten‘ Wissenschaftsbegriffs klingt sie absurd. Wie bitte soll man die Wirkung, die ein Text und seine Übersetzung auf die jeweiligen Adressaten ausübt, mit einiger Zuverlässigkeit ermitteln und darüber hinaus noch die jeweiligen Wirkungen miteinander vergleichen? Im Grunde handelt es sich um die gleiche Auffassung, über die Schleiermacher sich lustig gemacht hatte (cf. supra 8.1), nur dass sie dieses Mal nicht aus der Perspektive des Textproduzenten, sondern aus der des Rezipienten vorgetragen wird. Fritz Güttinger erweist sich in seinem Buch Zielsprache als später Gegner der Art von Übersetzung, die, wie es Schleiermacher ausgedrückt hat, den „Schriftsteller möglichst in Ruhe [lässt], und den Leser […] ihm entgegen [bewegt]“ (Schleiermacher 1838, 218), und spricht sich entschieden für die entgegengesetzte Art aus, die „den Leser möglichst in Ruhe [lässt] und […] den Schriftsteller ihm entgegen [bewegt]“ (ibid.). Die zuerst genannte sei nur etwas für Gelehrte, und so seien auch diejenigen, die sich für sie eingesetzt hätten, vorwiegend Hochschullehrer gewesen. Er lässt ihre Auffassung nur mit einer Einschrän‐ kung gelten: Man könnte den Gelehrten ihre paradoxen Behauptungen verzeihen, wenn sie sie mit einer ein‐ zigen Einschränkung versehen hätten, wenn sie nämlich deutlich gemacht hätten, dass die Art von Übersetzung, die sie befürworten, ausschließlich für denjenigen bestimmt ist, der sich unterrichten will. Dass es daneben auch noch den Leser gibt, der lediglich zum Vergnügen liest, daran dachten sie wohl gar nicht. (Güttinger 1963, 29 f.) Das erinnert an die Ars poetica des Horaz: Aut prodesse volunt aut delectare poetae (v. 333). Nun gibt es einen Übersetzer, der aus dem Horaz’schen „Entweder-oder“ ein „Sowohl als auch“ zu machen versuchte, Melchiorre Cesarotti (1730-1808), dem wir in Kapitel 9 noch einmal begegnen werden. Er hatte 1786 zwei Übersetzungen der Ilias vorgelegt, eine in Prosa, eine in Versen, mit denen er zwei unterschiedliche Zielsetzungen verfolgte: Due sono gli oggetti ch’io mi son proposto con essa: l’uno di far gustare Omero, l’altro di farlo conoscere. […] Per far gustare un originale straniero la Traduzione dee esser libera, per farlo co‐ noscere con precisione è necessario ch’ella sia scrupolosamente fedele. Ora la fedeltà esclude la grazia, la libertà l’esattezza. (zit. nach Mattioli 1982, 49) Die Versübersetzung war also für diejenigen gedacht, die Homer genießen, die Prosaüber‐ setzung hingegen für jene, die ihn genau kennenlernen wollen. Für die einen müsse die Übersetzung frei, für die anderen unbedingt treu sein. Da gebe es keinen Mittelweg, die 138 8 Die ‚Wende‘ der europäischen Übersetzungsgeschichte in der Romantik <?page no="139"?> beiden Ziele schlössen sich gegenseitig aus. Wenn man beide verfolgen wolle, müsse man eben zwei unterschiedliche Übersetzungen anfertigen. Gegen diese Alternative wäre einiges einzuwenden, vor allem gegen die Form, in der sie bei Güttinger auftritt. Nicht jeder Leser, der einen Autor genau kennenlernen möchte, muss deshalb gleich ein ‚Gelehrter‘ sein, und das genaue Kennenlernen eines literarischen Kunst‐ werks kann durchaus mit Genuss verbunden sein. Die Unterscheidung scheint vielmehr auf zwei Typen von Literatur hinauszulaufen: eine, die eine wohlbekannte Wirklichkeit abbildet, und eine andere, die eine unbekannte Wirklichkeit schafft. Natürlich treten die beiden Typen nirgendwo in Reinform auf; die beiden hier gelieferten, reichlich generischen Explikationen bezeichnen zwei Pole einer gleitenden Skala. Zumindest die derzeit übliche Übersetzungspraxis scheint die hier angedeutete Unterscheidung weitgehend zu respek‐ tieren. Je anspruchsvoller sich ein Text im allgemeinen Kulturbetrieb präsentiert, desto eher sind die Übersetzer (und nicht nur die ‚akademischen‘) geneigt, in Fällen, auf die es anzu‐ kommen scheint, auf naheliegende idiomatische Lösungen zu verzichten und das Fremd‐ artige so weit wie möglich nachzubilden. 139 8.2 Einige Beispiele zur Übersetzungstheorie und -praxis <?page no="141"?> 1 Cervantes starb zehn, möglicherweise auch elf Tage vor Shakespeare. In England galt noch der ju‐ lianische, in Spanien schon der gregorianische Kalender. 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur Wir kommen nun zum Kern des historischen Teils unserer Darstellung. Der Titel dieses trotz der angestrebten extremen Beschränkung doch sehr umfangreichen Kapitels zeigt deutlich an, dass hier keine zusammenhängenden Übersetzungsgeschichten der wich‐ tigsten europäischen Sprachräume zu erwarten sind. Die gibt es bereits, zum Teil in aus‐ führlicher Form, zum Teil nur ansatzweise, und wir werden gegebenenfalls auf sie ver‐ weisen. Dennoch könnte der Titel des Kapitels zu Missverständnissen Anlass geben, die gleich zu Beginn ausgeräumt werden sollten. Drei Punkte müssen anfangs besonders her‐ vorgehoben werden: - Die Reihenfolge, in der die verschiedenen europäischen Sprachen behandelt werden, entspricht der Chronologie des Aufstiegs der Volkssprachen in den Rang ‚würdiger Übersetzungssprachen‘, die in Kap. 3.3 kurz skizziert wurde. Die Rubrik 9.7 „Weitere europäische Länder“ mag einigen Lesern etwas lieblos erscheinen; es ist jedoch im Rahmen dieses Buchs nicht möglich, allen europäischen Sprachen und Literaturen gleichermaßen gerecht zu werden. - Nationale oder einen bestimmten Sprachraum betreffende Übersetzungsgeschichten behandeln in der Regel nur Übersetzungen i n die jeweilige Sprache, nicht die Über‐ setzungen a u s der jeweiligen Sprache. Im Französischen wurden für die beiden Übersetzungsrichtungen die Termini intraduction und extraduction geprägt, die später in leicht ‚eingebürgerter‘ Form ins Deutsche übernommen wurden: Intra‐ duktion und Extraduktion (cf. Plack 2016, 671 und infra, Kap. 11). Man könnte auch von Übersetzungsimport und Übersetzungsexport reden. Wir wollen uns hier nicht streng an diese Regel halten. In einigen Fällen sollen auch Extraduktionen aus dem behandelten Sprachraum berücksichtigt werden. Das gilt vor allem für Autoren, die einen großen Einfluss auf die benachbarten Literaturen ausgeübt haben. So werden Cervantes und Shakespeare, die beide - darin wollten manche einen bedeutungs‐ vollen Zusammenhang erkennen - am 23. April 1616 gestorben sind, wenn auch nach unterschiedlichen Zeitrechnungen 1 , zusammen mit dem spanischen bzw. dem englischen Sprachraum behandelt. Einerseits ist in einem solchen Fall gerade der Übersetzungsexport von besonderer Bedeutung für das Prestige der betreffenden Sprachen, andererseits lassen sich die Übersetzungsgeschichten der betreffenden Autoren in mehreren Sprachen gleichzeitig und vergleichend behandeln. - Die dritte einführende Bemerkung gilt dem u. a. von Goethe eingeführten Begriff der „Weltliteratur“, der sich bei genauerem Hinsehen als recht vieldeutig erweist (cf. Albrecht 1998, 161-172). Er soll hier nicht, wie es vor allem im deutschen Sprachraum <?page no="142"?> zu geschehen pflegt, auf die sog. „schöne Literatur“ eingeschränkt werden. Vielmehr sollen auch philosophische oder wissenschaftliche Texte berücksichtigt werden, die gerade durch ihre Übersetzung in andere Sprachen die europäische Geistesge‐ schichte beeinflusst und - das ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig - auch auf die Wertschätzung der betreffenden Werke in ihren Ursprungsländern zu‐ rückgewirkt haben. Als Beispiele seien Lockes Essay Concerning Human Understan‐ ding in der französischen Übersetzung von Pierre Coste (1700) und James Burnets, Lord Monboddos Of the Origin and Progress of Language in der durch Herder ver‐ anlassten deutschen Übersetzung genannt (vgl. Burnet 1784). Schließlich noch zwei Bemerkungen weit allgemeinerer Natur, die nicht nur dieses Kapitel, sondern den gesamten historischen Teil des Buches betreffen: - Bei der Übersetzung kanonisierter Literatur, d. h. solcher Werke, die sich über die Zeit ihrer Entstehung hinaus einen Platz im Gedächtnis der Kulturnationen bewahrt haben, gibt es unterschiedliche Typen, die sich auf die Zeitspanne zwischen Er‐ scheinen des Originals und Entstehung der Übersetzung und davon abhängend auf unterschiedliche Entstehungsmotive zurückführen lassen: a. Zeitgenössische Übersetzungen, die aus lebendigem literarischen Interesse und aktuellem Informationsbedürfnis heraus entstehen. b. Zeitverschobene, spätere Übersetzungen, die vorwiegend ab der europäischen Romantik aus dem Bedürfnis entstehen, Versäumtes nachzuholen und Exoti‐ sches verfügbar zu machen. c. Neuübersetzungen, die mehr oder weniger bewusst das Ziel verfolgen, das Bild eines Autors oder Werks, das sich durch bestehende Übersetzungen verfestigt hat, zu verändern oder zu ‚aktualisieren‘ (so z. B. im Fall von Shakespeare oder Cervantes). d. Programmübersetzungen längst kanonisierter Autoren oder Werke, die dem Bedürfnis angesehener Verlage nachkommen, ‚ihren‘ Voltaire, Manzoni oder Victor Hugo im Programm zu haben. Unter ihnen finden sich besonders häufig Übersetzungsplagiate, Texte, die ein Übersetzer mit geringen Modifikationen von einem wenig erfolgreichen Vorgänger abgeschrieben und erfolgreich einem Verleger angeboten hat. Es versteht sich von selbst, dass die Grenzen zwischen diesen Typen fließend sind. Wir werden auf alle stoßen. Da es uns vor allem um Geschichte, um die historisch dokumen‐ tierten (oder doch wenigstens dokumentierbaren) Wirkungen geht, die Übersetzungen auf die europäische Kultur ausgeübt haben, werden wir den Schwerpunkt auf Fälle legen, bei denen sich dergleichen Wirkungen bereits nachweisen lassen. Die neuesten Publikationen - und seien sie noch so aufsehenerregend - müssen (von einigen Ausnahmen abgesehen) ausgespart bleiben. Die Übersetzung der Ilias durch Raoul Schrott aus dem Jahre 2008 und die sie begleitenden Hypothesen im Hinblick auf die Lokalisierung Troias und die Person Homers haben viel Staub aufgewirbelt, doch anschließend ist es erstaunlich schnell still um dieses Ereignis geworden. Wird es unsere Sicht auf Homer und auf die mündlich tradierten Epen insgesamt dauerhaft beeinflussen? Wir wissen es nicht - Geschichte ist glücklicher‐ weise unvorhersehbar. 142 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="143"?> 2 Der Komplex sowohl der klassischen als auch der neueren „Questione della lingua“, der hier nur angedeutet werden kann, wird gründlich und übersichtlich bei Maurizio Vitale ( 2 1978) dargestellt. Wenn im Folgenden Übersetzungen analysiert und möglicherweise im Hinblick auf ‚Ab‐ weichungen‘ gegenüber dem Original beschrieben werden, so ist das ausschließlich im Sinne einer retrospektiv-deskriptiven Übersetzungsforschung zu verstehen. Es geht um kritische Beschreibung und Analyse, nicht um ‚Kritik‘ im landläufigen Sinn. Wir wollen zeigen, wie Rivarol mit Dantes Inferno umgegangen ist, wir wollen ihn nicht wegen seiner ‚Freiheiten‘ tadeln. In diesem Kapitel geht es - bei allen Sprachräumen - in erster Linie um einige ausge‐ wählte Werke und einige besonders wirkmächtige Übersetzungen, die ein wenig ausführ‐ licher vorgestellt und in ihrer Bedeutung für die europäische Übersetzungsgeschichte ge‐ würdigt werden sollen. Größere Zusammenhänge werden im elften Kapitel behandelt, wo von den „Übersetzungsströmen“ die Rede sein wird. Einige Überschneidungen werden sich dabei nicht vermeiden lassen. 9.1 Italien As a language directly developed from Latin, Italian has had to strive for many centuries in order to acquire an autonomous status. The process of identification, carried out in parallel with other European Languages, took several centuries. […] It was not until the sixteenth century that an identifiable Italian language finally emerged and was sanctioned as an official accepted standard. (Duranti 2001, 474 f.) Dies alles gilt - mutatis mutandis - auch für die meisten übrigen europäischen Volksspra‐ chen, jedoch verdienen es zwei Einzelheiten, besonders hervorgehoben zu werden: Die Grundlage dessen, was später „Italienisch“ genannt werden sollte, ist ein (von einigen Ausnahmen abgesehen) besonders konservativer Kulturdialekt, das Toskanische. In man‐ cherlei Hinsicht hat es sich vom Lateinischen weniger weit entfernt als andere Dialekte Italiens. In seinem Traktat De vulgari eloquentia (1303-1305), in dem sich Dante auf die Suche nach dem volgare illustre, cardinale, aulico und curiale begibt, d. h. nach einer wür‐ digen, höheren Ausdrucksbedürfnissen genügenden Volkssprache für ganz Italien, lässt er die verschiedenen italienischen Dialekte Revue passieren und verwirft sie als ungeeignet. Das Toskanische in seiner florentinischen Ausprägung, seine eigene Muttersprache, kommt dabei besonders schlecht weg. Jahrhunderte später hat ihn Machiavelli in seinem Discorso o dialogo intorno alla nostra lingua (1516) scharf dafür gerügt und nachgewiesen, dass er in seinen volkssprachlich verfassten Werken genau die sprachlichen Formen verwendet habe, die er in seiner lateinischen Abhandlung abwertend beurteilt hatte. Etwa zur selben Zeit hatte der Venezianer Pietro Bembo in seinem Traktat Prose della volgar lingua (1525) eben‐ falls zugunsten des Toskanischen Stellung genommen, und zwar für das zu dieser Zeit schon etwas antiquiert anmutende Toskanisch der tre corone, der Dichter Dante, Petrarca und Boccaccio, denen diese Varietät das hohe Ansehen verdankt, das sie schon frühzeitig als Kultursprache und würdige Ausgangssprache für Übersetzungen genoss. 2 Selbstverständ‐ lich haben nicht alle Eigentümlichkeiten dieser regionalen Ausprägung Eingang in die ita‐ 143 9.1 Italien <?page no="144"?> 3 Jakobson verstand unter „intralingualer Übersetzung“ ursprünglich eine Paraphrase in derselben Sprache. Inzwischen wird der Terminus so verstanden, wie er hier verwendet wird. lienische Standardsprache gefunden, so dass man heute das volkstümliche Toskanisch sehr wohl als einen italienischen Dialekt unter anderen bezeichnen kann. Das Faktum, dass einer der Dialekte eines größeren Territoriums in den Rang einer Nationalsprache aufgestiegen ist, hat das Italienische mit dem Spanischen gemein. Das castellano wurde spätestens nach dem Siglo de oro (cf. infra) zumindest außerhalb von Spanien mit dem Spanischen schlechthin identifiziert; für viele Spanier ist es allerdings auch heute noch nur eine der lenguas de España. Allein für das Italienische ist eine weitere Erscheinung charakteristisch: die zögerliche Emanzipation in diachronischer Hinsicht. In Italien hat es besonders lange gedauert, bis sich die verschiedenen volkssprachlichen Varietäten auch im Bewusstsein der Sprecher vom Lateinischen gelöst hatten. Man sah in ihnen lange Zeit volgari, d. h. volkstümliche, informelle Formen des Lateinischen. Und dennoch ist der Ausbau des Italienischen zu einer weithin anerkannten Kultursprache besonders früh gelungen. Italienisch ist die einzige europäische Sprache, die vor Erfindung des Buchdrucks ‚klassisch‘ geworden ist. Dante wird (von einigen Ausnahmen abgesehen) wie alle mittelalterlichen Autoren (cf. Walter, Wolfram usw.) noch mit dem Vornamen zitiert, erst bei Petrarca und Boccaccio erscheint der Familienname. Zwar gab es zu Dantes Zeit eine bedeutende altfranzösische und mit‐ telhochdeutsche Literatur, doch besteht zwischen den mittelalterlichen und den neueren Phasen dieser Sprachen ein Bruch. Die Werke Chrétien de Troyes‘ oder Wolframs von Eschenbach werden heute nur von Philologen im Original gelesen - Dantes Commedia wird auch heute noch - allerdings mit zahlreichen sprachlichen Anmerkungen versehen - ge‐ bildeten italienischen Lesern im Original zugetraut oder manchmal auch zugemutet. Vor allem in der frühen Übersetzungsgeschichte des Italienischen spiegeln sich die so‐ eben skizzierten historischen Umstände wider. Die „Intraduktion“ besteht in der Frühphase vor allem aus volgarizzamenti, aus mit Erklärungen versehenen Übersetzungen lateinischer Texte (cf. supra 3.2). Es handelt sich dabei einerseits, wie im dritten Kapitel erläutert, um „vertikale“ Übersetzungen, andererseits aber in gewisser Hinsicht auch um „intralinguale“ Übersetzung im Sinne Roman Jakobsons, d. h. Übersetzungen aus einer Varietät einer Sprache in eine andere (cf. Jakobson 1959) 3 ; denn schon der Terminus volgarizzamento zeigt an, dass damit keine eigentliche Sprachgrenze überwunden werden soll. Die volgarizza‐ menti sind gut beschrieben, wir wollen uns daher hier mit einem Hinweis auf die einschlä‐ gige Literatur begnügen (schon im 18. Jahrhundert Maffei 1720; in unserer Zeit Lapucci 1983; Guthmüller 1989; Folena 1991). Ein berühmtes Beispiel, Dantes volkssprachliche Ver‐ sion des Pater noster im Purgatorio, wurde in Kapitel 3.2 behandelt. Zumindest in einem weithin bekannt gewordenen Fall spielt im Rahmen der frühen ver‐ tikalen Übersetzungen nicht nur der Abstieg, der descensus, sondern auch der Aufstieg, der ascensus (cf. supra Kap. 3) eine wichtige Rolle. Die letzte Novelle in Boccaccios Decameron handelt von Griseldis, einer Frau, die alle ihr von ihrem autoritären Ehemann auferlegten Prüfungen geduldig erträgt und sich damit - zumindest in seinen Augen - als vorbildliche, treu ergebene Gattin erweist. Diese Novelle wurde von Petrarca ins Lateinische übersetzt und damit anderen europäischen Übersetzern und Nachdichtern (unter ihnen Geoffrey 144 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="145"?> 4 Petrarca hat an der endgültigen Fassung bis zu seinem Tod im Jahre 1374 gearbeitet. Es ist nicht immer leicht herauszufinden, auf welchen Originalversionen die frühen Übersetzungen beruhen. 5 Die Einteilung des gesamten Zyklus in einen Teil, der zu Lebzeiten und einen, der nach dem Tod von Laura, der fiktiven Geliebten, entstanden ist, wurde von den ersten Herausgebern vorgenommen. Chaucer, cf. supra 4.5 und infra) zugänglich gemacht. Wurden in Boccaccios Originalfas‐ sung die grausamen Prüfungen des Gatten noch für den Leser erkennbar kritisch beleuchtet, so steht in Petrarcas lateinischer Fassung die Hingabe und Treue der Gattin als erstrebens‐ werte Tugend im Vordergrund. Feministinnen sollten also lieber zu Boccaccios Original greifen. Bei den frühen interlingualen horizontalen Übersetzungen in Italien sind das Okzitani‐ sche (Troubadourlyrik) und das Französische (chansons de geste) die wichtigsten Ausgangs‐ sprachen. Hierzu gibt es zahlreiche hoch spezialisierte Arbeiten, die wir den Spezialisten überlassen müssen, für die sie bestimmt sind. Wir werden uns hier auf einige ausgewählte Etappen der Übersetzungsgeschichte beschränken, die für das literarische Leben in Europa besonders bedeutsam waren oder aus sonstigen Gründen von besonderem Interesse sind. Le tre corone, zunächst Petrarca und Boccaccio, erst später der noch reichlich ‚mittelal‐ terlich‘ anmutende Dante, erwiesen sich früh als regelrechte „Übersetzungsschlager“; daher sollen sie hier als Beispiele für italienischen ‚Übersetzungsexport‘ behandelt werden. Erstaunlicherweise übte ein Werk der Lyrik eine besonders große Anziehungskraft auf Übersetzer und Nachahmer in ganz Europa aus. Unter den zahlreichen Werken Petrarcas hat ein Gedichtzyklus, der heute unter dem Namen Canzoniere bekannt ist, bald nach seiner Veröffentlichung besondere Wertschätzung gefunden (cf. supra 4.5). Der lateinische Titel Rerum vulgarium fragmenta  4 „Bruchstücke volkssprachlicher Dinge“ (oder, für diejenigen, die es salopp mögen, „Sächelchen“) soll den Eindruck erwecken, es handele sich um eine leicht hingeworfene Nebenarbeit des Verfassers. In der Tat hat Petrarca sich selbst als la‐ teinischen Autor gesehen; er gehörte zu jenen Humanisten, die sich um die Wiederbelebung eines an den klassischen Autoren ausgerichteten Lateins verdient gemacht haben. So haben ihn zunächst auch die Übersetzer im deutschsprachigen Raum verstanden. Der Traktat De remediis utriusque fortunae wurde besonders häufig ins Deutsche übersetzt, unter anderen durch die zum Kreis der „süddeutschen Frühhumanisten“ gehörigen Übersetzer Niklas von Wyle und Heinrich Steinhöwel (cf. Albrecht 2002, 3-4). Die 1532 in Augsburg erschienene, mit kostbaren Illustrationen versehene Übersetzung von Peter Stahel und Georg Spalatin trägt bereits einen typisch ‚barocken‘ Titel, der im Gegensatz zum knappen lateinischen Titel wie damals allgemein üblich eine kleine Inhaltsangabe liefert. Glück wird hier noch im Sinne von fortuna, „Geschick“ verstanden: Von der Arzney bayder Glück, des guten und widerwertigen. Unnd weß sich ayn jeder in Gelück und unglück halten sol. Aus dem Lateinischen in das Teütsch gezogen. Mit künstlichen fyguren durchauß lustig und schoen gezyeret. Die ersten Sonette aus dem Canzoniere wurden erst im 17. Jahrhundert von den barocken Dichtern Paul Flemming und Martin Opitz ins Deutsche übersetzt. Das Sonett 132 aus dem ersten Teil („In vita di Madonna Laura“) 5 wurde nicht nur von beiden der hier Genannten, sondern - fast noch zu Lebzeiten Petrarcas - von dem englischen Dichter Geoffrey Chaucer (cf. infra) übersetzt. Wir geben eine kurze Kostprobe: 145 9.1 Italien <?page no="146"?> 6 Alle Zitate nach der Ausgabe von Gianfranco Contini, Turin 1964. S’amor non è, che dunque è quel ch’io sento? Ma s’egli è amor, perdio, che cosa et quale? Se bona, onde l’effecto aspro mortale? Se ria, onde sí dolce ogni tormento? (CXXXII) 6 If Love it’s not, O God, what feel I so? If Love it is, what sort of thing is he? If Love be good, from where then comes my woe? If he be ill, wondrous it seems to me That every torment and adversity That comes from him I can so joyous think; For more I thirst, the more from him I drink. (Geoffrey Chaucer) Ist Liebe lauter nichts / wie daß sie mich entzündet? Ist sie dann gleichwol was / wem ist jhr thun bewust? Ist sie auch recht und gut / wie bringt sie böse Lust? Ist sie nicht gut / wie daß man Freud auß ihr empfindet? (Martin Opitz) Während Chaucer die erste Strophe des Sonetts gleich um drei Verse verlängert, bleibt Opitz recht nah am Text, ohne dabei ‚unidiomatisch‘ zu werden. Die den modernen Leser etwas wunderlich anmutende Diktion entspricht genau derjenigen von Opitz’ eigenen Versen. Die lange Tradition der übersetzerischen Rezeption Petrarcas kann hier nicht dokumen‐ tiert werden. In neuerer Zeit wurde mitunter recht eigenwillig mit seinen Versen umge‐ gangen. An der Version, die der rumänisch-deutsche Dichter Oskar Pastior von Sonett 146 angefertigt hat, scheint vor allem bemerkenswert, dass sie von einem angesehenen deut‐ schen Verlag als „Übersetzung“ präsentiert wurde. Pastior, so die Verlagswerbung, reihe sich in die lange Geschichte der Petrarca-Übersetzungen ein, allerdings indem er die Me‐ taphern der vorhandenen Übersetzungen abklopfe, um auf diese Weise zu ‚seinem‘ Petrarca zu gelangen. Unsere Leser mögen selbst beurteilen, ob ihm dies gelungen ist: O d’ardente vertute ornata et calda Alma gentil chui tante carte vergo; o sol già d’onestate intero albergo, torre in alto valor fondata et salda … (CXLVI) Gewissermaßen vom heißen Zahn des Innewohnenden am Horn-Ball, d. h. von der gemeinen Mutmaßung der Wörtlichkeit; einmal also von schlanker Gabe, Kür, Tand, Nadelstreif-Ticket; von dem Solo-Schach, der integren Statur, dem Gang durchs Gebirg; also auch vom Turm im Flug und der Verankerung im Zähen, Salzigen: Fluß (Lötvorgang) … (Oskar Pastior, zit. nach Albrecht 2002, 12) Auf die Verächter petrarkistischer Lyrik mag diese ‚neopetrarkistische‘ Version eines von früheren Übersetzern wenig beachteten Sonetts erfrischend wirken. Vielleicht hätte sie sogar Wilhelm Heinse, dem Verfasser des Romans Ardinghello und die glückseligen Inseln 146 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="147"?> 7 Das Zitat findet sich in: Sämtliche Werke. Bd. IV, Leipzig 1904, 64 und wird in der neueren Literatur zu Petrarca öfter angeführt. 8 Vgl. u. a. Hoffmeister 1997, 2 f. 9 Hierzu gibt es eine reichhaltige Literatur. Zu den verschiedenen Hypothesen s. u. a. in knapper Form: Neumann 1998, 43 ff. An den diesbezüglichen Spekulationen hat sich auch der Marquis de Sade beteiligt. (1787) gefallen, der sich dort sehr kritisch über die deutsche Rezeption des italienischen Dichters äußerte: Petrarca hat mit einem Geächz und Gejammer schier unsere ganze Poesie zu Grunde gerichtet. Die Thoren seufzen ihm Jahrhunderte lang nach, und mancher besang bei einer feilen Dirne die Grausamkeit der berühmten Provenzalin in unerträglichem Einerley, anstatt die verschiedenen Reize der Erdentöchter, in ihrer Mannigfaltigkeit, wie die heiteren Griechen aufzuempfinden. (zit. nach Neumann 1998, 147) 7 Wir wollen nun noch einmal zur langen Geschichte der vorhandenen Übersetzungen zu‐ rückkehren und besonders darauf achten, was es mit der „Grausamkeit der berühmten Provenzalin“ auf sich hat - einer der verschiedenen Hypothesen zufolge war sie schließlich eine frühe Vorfahrin des Marquis de Sade. 8 Zunächst eine knappe Bemerkung zum sog. „Petrarkismus“. Man versteht darunter die Nachahmung der Liebeslyrik, für die der Can‐ zoniere das Modell geliefert und damit das ältere Vorbild der Troubadourlyrik und des Min‐ nesangs abgelöst hat. Es geht also nicht um interpretatio, sondern um imitatio oder aemu‐ latio (cf. supra Kap. 2.2.1). Als „petrarkistische“ Dichter können (neben unzähligen heute weitgehend vergessenen) gelten: Pietro Bembo, der Verfasser der Prose della volgar lingua (cf. supra) und Torquato Tasso in Italien, Garcilaso de la Vega und Fray Luis de León in Spanien, Luís Vaz de Camões in Portugal, Maurice Scève, Louise Labé, Pierre Ronsard, Joachim Du Bellay in Frankreich, Sir Philip Sidney, Edmund Spenser und William Shakespeare (Sonette) in England, Martin Opitz und andere Mitglieder der „schlesischen Dich‐ terschule“ in Deutschland (vgl. u. a. Hoffmeister 1997, Kap. 2.3 und 2.4). Was nun Laura, die „berühmte Provenzalin“, betrifft, müssen wir etwas weiter ausholen. Schon einer der wichtigsten Interpreten, Petrarcas Freund Boccaccio, war kein Anhänger des historisch-biographischen Zugangs zur Literatur. Die Bedeutung der realen Laura, wer immer sie gewesen sein mag 9 , für den Gedichtzyklus schätzte er gering ein. Der etymolo‐ gische Zusammenhang zwischen Laura und lauro, dem Lorbeer - Petrarca war in Rom zum poeta laureatus gekrönt worden - führte ihn zu der Vermutung, dass es sich um eine fiktive Geliebte mit hohem symbolischen Wert handeln müsse. Gestützt wird diese Annahme durch die ausgeklügelte Makrostruktur des Zyklus, der eine schwer zu entschlüsselnde Zahlenmystik zugrunde liegt. Schon das im dritten Sonett in verschlüsselter Form angege‐ bene Datum des ersten Zusammentreffens mit Laura, Karfreitag der 6. April 1327, gab zu Spekulationen Anlass. Dieser Tag fiel in Wirklichkeit auf einen Ostermontag, es muss sich also um ein mit Bedeutung aufgeladenes fiktives Datum handeln, das vor allem einen Autor inspiriert hat, der in seinen Dichtungen „Bruchstücke einer einzigen großen Konfession“ gesehen hat. So beginnt eines von Goethes Sonetten: 147 9.1 Italien <?page no="148"?> 10 Nr. XVI „Epoche“; zit. nach der Artemis-Gedenkausgabe, Bd. 1, 276. 11 Blumensträuße italienischer, spanischer und portugiesischer Poesie, Berlin 1804; zit. nach Albrecht 2004, ohne Paginierung. 12 Laura e il π rappresentano l’obiettivo della philosophia nel suo senso etimologico, “amore per la sapienza”. (Pötters 1987 (vgl. Fn. 34), 117) Mit Flammenschrift war innigst eingeschrieben Petrarcas Brust vor allen andern Tagen Karfreitag. Ebenso, ich darf ’s wohl sagen Ist mir Advent von Achtzehnhundertsieben … 10 Wie bereits erwähnt (Kap. 4.5) besteht der Canzoniere in seiner endgültigen Form aus 366 Gedichten (317 Sonette; 4 Madrigale; 7 Balladen; 29 Kanzonen und 9 Sestinen). Unter den Kanzonen ist wohl Italia mia die berühmteste (Nr. 128 im ersten Teil), nicht zuletzt wegen des ‚germanophoben‘ Aufschreis in der dritten Strophe: Ben provide Natura al nostro stato, quando de l’Alpi schermo pose fra noi et la tedesca rabbia … den August Wilhelm Schlegel wie folgt wiedergegeben hat: Wohl sorgsam wollt’ uns die Natur umfassen, Da mit der Alpen Schutze Dem deutschen Rasen sie ein Ziel gesatzet. 11 In der vor wenigen Jahren erschienenen Auswahlübersetzung von Karlheinz Stierle (Darm‐ stadt 2011) lautet der Passus folgendermaßen: Natur war wohl auf unseren Schutz bedacht, als sie der Alpen Mauer zum Wall uns vor der Deutschen Wut erbaut. Hinter der sorgsamen Anordnung verschiedener Gedichtformen mit unterschiedlichen Strophen- und Verszahlen, wobei die Verse wiederum unterschiedliche Silbenzahlen auf‐ weisen können, hat man schon früh eine Art von Zahlenmystik vermutet. Niemand ist allerdings so weit gegangen wie der bereits in Kap. 4.5 erwähnte deutsche Romanist Wil‐ helm Pötters, der auf die im Titel seines Buchs gestellte Frage Chi era Laura? eine einfache Antwort gefunden zu haben glaubt: „Laura ist die Zahl π“. Laura und π, so Pötters, stellten das Ziel der Philosophie in ihrer etymologischen Bedeutung dar: die Liebe zur Weisheit. 12 Was haben nun die gewagten Zahlenspekulationen bei der Analyse der Gesamtstruktur des Canzoniere mit seiner Übersetzung zu tun? Mehr als man zunächst anzunehmen geneigt ist. Wenn sich hinter dieser Gesamtstruktur eine höhere, latente Bedeutung verbirgt (wie immer diese beschaffen sein mag), dann gehört diese numerisch fassbare Struktur zu den Invarianten der Übersetzung, zu den bei der Übersetzung zu bewahrenden Eigenschaften des Textes (cf. supra 4.5). Es wäre dann durchaus problematisch, einzelne Teile davon he‐ rauszuzupfen und sie zusammen mit anderen Elementen zu Blumensträußen zu binden, wie es August Wilhelm Schlegel getan hat (cf. Fn. 11 ). Die wenigsten Übersetzer haben sich 148 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="149"?> 13 Es wurden also der Canzoniere und die Trionfi, eine weniger bekannte Sammlung, zusammen über‐ setzt. 14 Hiervon handelt ausführlich das erste Kapitel von Stackelberg 1984, 2 2012. an diese Überlegung gehalten, auch Karl Förster nicht, dessen erste vollständige Übertra‐ gung ins Deutsche schon im Titel erkennen lässt, dass dem Übersetzer keine einheitliche Gesamtstruktur vorschwebte: Francesco Petrarca’s sämmtliche Canzonen, Sonette, Ballaten und Triumphe (Mannheim 1818/ 19) 13 . Bei vielen der zurzeit auf dem Markt befindlichen Übersetzungen handelt es sich um Auswahlen, nicht um vollständige Übersetzungen. Eine wie immer geartete Gesamtstruktur kann dabei nicht erkennbar werden. Giovanni Boccaccios Hauptwerk Il Decameron („Zehntagewerk“), heute meist in italia‐ nisierter Form Decamerone genannt, hat eine ähnliche Behandlung durch Nachahmer und Übersetzer erfahren wie Petrarcas Canzoniere (cf. supra 4.5). Das Werk verfügt über eine sorgfältig ausgestaltete Gesamtstruktur; jeweils zehn Novellen werden von zehn verschie‐ denen Erzählern an zehn Tagen vorgetragen; die Gesamtzahl Hundert folgt dem Vorbild von Dantes Commedia mit ihren hundert Gesängen. Das Werk wird durch eine cornice narrativa, einen Erzählrahmen oder - im Deutschen üblicher - eine Rahmenerzählung zu‐ sammengehalten: Zehn junge Florentiner, sieben Frauen und drei Männer, fliehen vor der Pest aus der Stadt in ein nahe gelegenes Landhaus und vertreiben sich die Zeit durch das Erzählen von Geschichten. In zwei Punkten ähnelt die Rezeption des Werks derjenigen des Canzoniere: Zum einen haben sich die Nachahmungen als literarisch bedeutsamer erwiesen als die Übersetzungen stricto sensu, zum anderen haben sich die Übersetzer wenig um die Gesamtstruktur ge‐ kümmert und bevorzugt einzelne Geschichten herausgegriffen. Wie wir gesehen haben, hat dabei Petrarca mit seiner lateinischen Griseldis den Anfang gemacht. Das volkssprachliche Decameron fand unmittelbar nach seiner Entstehung in der Zeit des aufblühenden lateinischsprachigen Humanismus innerhalb Italiens weniger Anklang als außerhalb. Die beiden wichtigsten Imitationen oder Adaptationen sind Chaucers Can‐ terbury Tales (vor 1400) und das Heptaméron von Marguerite de Navarre (1540-1549), der Schwester von François I. (cf. supra 4.5). Der Titel des zuletzt Genannten, „Siebentagewerk“, stammt vom ersten Herausgeber. Die Autorin aus königlichem Geschlecht hatte ebenfalls ein „Zehntagewerk“ schreiben wollen und sich dazu das Decameron als Vorlage eigens ins Französische übersetzen lassen, aber sie starb, bevor sie ihr Vorhaben beenden konnte. In beiden Fällen handelt es sich um freie Nachbildungen, die durch verschiedene Zwischen‐ stufen vermittelt wurden. Weder Chaucer noch Marguerite de Navarre dürfte Boccaccios Originaltext vorgelegen haben, Chaucer hat jedoch sicherlich u. a. Petrarcas lateinische Übersetzung gekannt, in der aus Boccaccios Griselda eine Griseldis wurde. 14 Am anschau‐ lichsten treten Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Werke bei einem Vergleich der jeweiligen Einführungen hervor, in denen die Rahmenerzählung entwickelt wird: … dico che, stando in questi termini la nostra città, d’abitatori quasi vuota [wegen der Pest], ad‐ divenne, sí come io da persona degna di fede sentii, che nella venerabile chiesa di Santa Maria Novella, un martedì mattina, non essendovi quasi nessuna altra persona, uditi gli divini uffici in abito lugubre, quale a sí fatta stagione si richiedea, si ritrovarono sette giovani donne, tutte l’una all’altra o per vicinanza o per amistà o per parentado congiunte, delle quali niuna il ventiottesimo 149 9.1 Italien <?page no="150"?> anno passato avea né era minor di diciotto […] Mentre tra le donne erano così fatti ragionamenti, ed ecco entrar nella chiesa tre giovani, non per ciò tanto che meno di venticinque anni fosse l’età di colui che piú giovane era di loro […] E ordinatamente fatta ogni cosa opportuna apparecchiare, e prima dove intendevan andare, la seguente mattina, cioè il mercoledì, in su lo schiarir del giorno, le donne con alquante delle lor fanti e i tre giovani con tre lor famigliari, usciti dalla città, si misero in via; né oltre a due piccole miglia si dilungarono da essa, che essi pervennero al luogo da loro primieramente ordinato. (Ed. Cesare Segre, Mailand 2 1970, 37-42) Ein Prosatext besteht, grob gesehen, aus Erzählung, Beschreibung und Kommentar. Bilden Erzählung und Beschreibung ein Amalgam, so spricht man von Schilderung. Wer bei Boc‐ caccio die für die Fabel wirklich wichtigen Elemente zusammenstellen möchte, muss die betreffenden Passus über Seiten hinweg zusammensuchen und bei der Suche nach Ereig‐ nissen zahlreiche Partizipialkonstruktionen ausklammern, die Nebensächliches enthalten. Der erste Tag des Decameron beginnt mit einer ausführlichen Schilderung der Pest und ihrer körperlichen Symptome. Die für die Rahmenerzählung bedeutsamen Fakten verteilen sich über viele Seiten. Hier eine Zusammenfassung: Sieben junge Damen, zwischen achtzehn und achtundzwanzig Jahre alt, teils benachbart, teils befreundet, teils miteinander verwandt, treffen sich eines Dienstagmorgens in der Kirche Santa Maria Novella. Später kommen drei junge Männer hinzu, der jüngste ist im‐ merhin schon fünfundzwanzig. Am folgenden Mittwoch begeben sie sich zu dem vorher ausgewählten, knapp zwei Meilen entfernten Ort. Bei Chaucer bleibt nur die Grundidee erhalten; die äußeren Umstände der Zusammen‐ kunft und die Personen ändern sich erheblich, ebenso die Erzähldichte, nicht zuletzt des‐ halb, weil die metrische Form zu einer Verdichtung zwingt: In Southwerk at the Tabard as I lay Redy to wenden on my pilgrymage To Caunterbury with ful devout corage, At nyght was come into that hostelrye Wel nyne and twenty in a compaignye, On sondry folk, by aventure yfalle In felaweshipe, and pilgrims were they alle, That toward Caunterbury wolden ryde. (Prologue 20 ff.) Auf seiner Pilgerfahrt nach Canterbury gelangt der Dichter in ein Wirtshaus in Southwerk (bei London), wo er auf neunundzwanzig weitere Pilger trifft, die sich ebenfalls auf dem Weg nach Canterbury (zum Grab von Thomas Becket) befinden. Soweit der hier wieder‐ gegebene Text. Im Gegensatz zu den wohlgesitteten jungen Leuten handelt es sich hier um eine bunt gemischte Gesellschaft: ein Knyght (Ritter), ein Squier (Knappe), ein Yeman (Wildhüter), eine Prioresse (Äbtissin), die leider nur anglisiertes Französisch beherrscht, eine None und ein Monk, ein Frere (Mitglied eines Bettelordens), ein Marchant, ein Clerk of Oxenford (Priesteranwärter aus Oxford), ein Sergeant of the Law (hoher Justizbeamter) und einige andere mehr. Der Wirt des Gasthauses schließt sich den Pilgern an und schlägt vor, jeder solle auf dem Hinweg und dem Rückweg je zwei Geschichten zum besten geben, und derjenige, der dabei am besten abschneiden würde, solle bei der Rückkunft im Gasthaus des mitgereisten Wirts ein köstliches Mahl erhalten. Es versteht sich von selbst, dass dieser bei 150 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="151"?> 15 Es handelt sich um die Übersetzung von Antoine Le Maçon von 1545. Eine weit ältere Übersetzung muss Chaucer vorgelegen haben (cf. infra Kap. 11.1). der Wette in jedem Fall der Gewinner sein würde. Von den geplanten 120 Geschichten wurde nicht einmal ein Viertel vollendet. Die Stoffe stammen aus den verschiedensten Quellen, nur zu einem geringen Teil von Boccaccio. Ähnlich wie Boccaccio holt auch Marguerite de Navarre weit aus, bevor sie zum Kern der Geschehnisse gelangt, die letztlich dazu führen, dass sich eine Gruppe von Personen dazu entschließt, sich zum Zeitvertreib gegenseitig Geschichten zu erzählen. In einem Ba‐ deort in den Pyrenäen treffen eine Gruppe von Spaniern und Franzosen zusammen, die sich dem üblichen Kurbetrieb unterziehen. Schreckliche Unwetter brechen herein; die Spanier können durch die Berge entkommen, die Franzosen werden durch andauerndes Hoch‐ wasser an der Heimreise gehindert. Nachdem sie eine Reihe von gefährlichen Abenteuern bestanden haben, bei denen die ursprüngliche Gruppe stark dezimiert wurde, beschließt der Rest, die Reparatur einer Brücke abzuwarten und sich die Wartezeit gemeinsam zu vertreiben. Die fromme Oisille schlägt Bibellesungen vor, doch Parlamente, hinter der sich die Autorin verbirgt, hat eine andere Idee: Parlamente, voiant que le fort du jeu estoit tombé sur elle, leur dist ainsy : « Si je me sentois aussy suffisante que les antiens, qui ont trouvé les arts, je inventerois quelque passetemps ou jeu pour satisfaire à la charge que vous me donnez ; mais, congnoissant mon sçavoir et ma puissance, qui à peine peult rememorer les choses bien faictes, je me tiendrois bienheureuse d’ensuivre de près ceulx qui ont desja satisfoit à vostre demande. Entre autres, je croy qu’il n’y a nul de vous qui n’ait leu les cent Nouvelles de Boccace, nouvellement traduictes d’ytalien en françois 15 , que le roy Fran‐ çois, premier de son nom, monseigneur le Dauphin, madame la Daulphine, madame Marguerite, font tant de cas […]. Et à leur joye, les deux dames dessus nommées, avecq plusieurs autres de la court, qui se delibererent d’en faire autant, sinon en une chose differente de Boccace : c’est de n’escripre nulle nouvelle qui ne soit veritable histoire. (Heptaméron, éd. Benjamin Pifteau, Paris 1884, 10) Parlamente hält sich für nicht begabt genug, einen völlig neuen Zeitvertreib zu erfinden, und so schlägt sie vor, man solle dem allgemein bekannten Beispiel des Boccaccio folgen und sich gegenseitig Geschichten erzählen. Der Vorschlag findet Beifall, mit einem Unter‐ schied zu Boccaccio: Es solle sich ausschließlich um wahre Geschichten handeln. Hier kommt die mittelalterliche Authentizitätsfiktion noch einmal zum Tragen. So viel zu den beiden besonders berühmten Nachahmungen des Decameron. Von den zahlreichen Übersetzungen in andere Sprachen soll hier nur eine kurz vorgestellt werden: Eine 1620 in London erschienene Übersetzung, die allgemein dem Montaigne-Übersetzer John Florio (cf. infra) zugeschrieben wird. Wir zitieren hier einen Teil der Passus aus dem ersten Tag, die oben im Original wiedergegeben wurden: I say that our Citie being in this case, voide of inhabitants, it came to passe (as afterward I under‐ stoode by some of good credite) that in the venerable Church of S. Marie la Neufue, on a Tuesday morning, there being then no other person, after the hearing of divine Service, in mourning habits (as the season required) returned thence seven discrete Gentlewomen, all allyed together, either by friendship, neighbor-hood or parentage. She among them that was most entred into yeares, 151 9.1 Italien <?page no="152"?> 16 Übersetzung John Florio zugeschrieben, London 1620. Zit. nach der im Netz (ohne Paginierung) verfügbaren Ausgabe der University of Adelaide Library. 17 Commedia hat wenig mit der neueren Gattungsbezeichnung Komödie zu tun; es handelt sich um ein episches Gedicht mit glücklichem (oder zumindest nicht-tragischem) Ausgang. Das Epitheton divina erscheint erst in einer Ausgabe von 1555; es wurde von späteren Herausgebern hinzugefügt, die schon im Titel darauf hinweisen wollten, dass es hier um ‚überirdische‘ Dinge geht. Dieser Titel hat sich schnell eingebürgert; so konnte Balzac sein großes Gesellschaftspanorama des 19. Jahrhunderts in Anspielung auf Dante Comédie humaine nennen. exceeded not eight and twenty; and the yongest was no lesse then eighteene […]. While this discourse thus held among the Ladies, three young Gentleman came foorth of the Church (yet not so young, but the youngest had attained to five and twenty yeares … 16 Wer unter unseren Leserinnen und Lesern Zeit und Lust dazu hat, möge diese Übersetzung mit dem oben wiedergegebenen Originaltext vergleichen. Sie bildet alle umständlichen Wendungen (z. B. die Altersangaben) erstaunlich genau nach. Das würde dafür sprechen, dass John (Giovanni) Florio tatsächlich der Übersetzer war. Translate dieser Art werden häufig von Übersetzern verfertigt, die aus ihrer Muttersprache in eine Fremdsprache über‐ setzen. Es gäbe noch viel über die Übersetzungen des Decameron in weitere europäische Spra‐ chen mitzuteilen. Die erste Übersetzung ins Deutsche hat Arigo um 1475 in Ulm vorgelegt. Lange Zeit galt Arigo als Pseudonym von Heinrich Steinhöwel, heute ist man sich dessen nicht mehr so sicher (cf. Albrecht 2011, 74). Die Reihe der Neuübersetzungen setzt sich bis in die unmittelbare Vergangenheit fort. Der wichtigste ‚Exportartikel‘ Italiens ist das Werk Dantes (eigentlich Durante degli Al(l)ighieri). Allerdings setzt die intensive Rezeption später ein als im Falle Petrarcas oder Boccaccios. Gründe dafür wurden bereits im achten Kapitel angedeutet. Obwohl Dante sehr viel mehr als die Divina Commedia  17 geschrieben hat, müssen wir uns hier aus Platzgründen auf dieses Werk beschränken. Einige quantitative Angaben mögen verdeutlichen, wie illu‐ sorisch das Vorhaben allein der Vermittlung eines globalen Überblicks ist. Der umfassende Forschungsbericht, den Werner P. Friederich über die Dante-Rezeption bei Dichtern, Über‐ setzern und Literarhistorikern in Spanien, Frankreich, England, Deutschland, der Schweiz und den Vereinigten Staaten für die Zeit von 1350 bis 1850 vorgelegt hat, umfasst 582 Seiten (Friederich 1950). Die von der Deutschen Dante-Gesellschaft zusammengestellte Liste der Übersetzungen der Göttlichen Komödie von 1767 bis 2015 enthält 52 Titel. Dazu kommen unzählige Teilübersetzungen, die, wenn sie von Goethe, A.W. Schlegel, Schelling oder Stefan George stammen, unter Umständen besondere Aufmerksamkeit verdienen. Wir müssen uns also hier von vornherein damit abfinden, eine höchst persönliche Auswahl von Überset‐ zungsbeispielen vorzulegen. In der Mitte seines Lebensweges verirrt sich der Dichter in einem dunklen Wald und trifft nach angstvollem Umherirren auf Vergil, den ihm seine Geliebte Beatrice zur Hilfe geschickt hat. Dieser bedeutet ihm, dass der Ausweg aus dem Wald nur durch eine vor‐ weggenommene Reise durch das Jenseits gefunden werden kann: Inferno (Hölle), Purgatorio (Fegefeuer oder Läuterungsberg) und schließlich Paradiso (Paradies). Vergil kann ihn al‐ lerdings nur durch das Inferno und durch den größten Teil des Purgatorio begleiten. Im 27. Gesang des Fegefeuers verabschiedet er sich; als Ungetauftem bleibt ihm das Paradies ver‐ 152 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="153"?> schlossen. Von nun an übernimmt Beatrice die Führung. Nur so viel zum Inhalt. Die späteren Kommentatoren haben sich, ebenso wie die Übersetzer, vor allem für die Hölle interessiert, nicht zuletzt deshalb, weil Dante dort viele Päpste untergebracht hat. Die beiden übrigen cantiche, Purgatorio und Paradiso, stießen auf geringeres Interesse. So wollen auch wir mit der Hölle anfangen. Der dritte Gesang der Commedia beginnt mit einer Inschrift voller „dunkler Worte“ (parole oscure), die der Dichter über dem Tor zur Hölle erblickt, die er betreten möchte oder muss: Per me si va nella città dolente, Per me si va nell’etterno dolore, Per me si va tra la perduta gente. Giustizia mosse il mio alto fattore: Fecemi la divina potestate, La somma sapienza e ’l primo amore. Dinanzi a me non fuor cose create Se non eterne, e io etterna duro. Lasciate ogni speranza voi ch’entrate. (III; 1-9) Obwohl die Reimstruktur, wie gleich zu zeigen sein wird, in der Commedia weit mehr als nur eine rein ornamentale Zutat ist, soll hier zunächst zum genauen Verständnis des Inhalts eine Prosaübersetzung angeführt werden: Durch mich geht es in die Stadt des Leidens, durch mich geht es in das ewige Leid, durch mich geht es unter die verlorenen Scharen. Gerechtigkeit bewog meinen hohen Schöpfer; Mich schuf die göttliche Allmacht, die höchste Weisheit und die erste Liebe. Vor mir gab es keine geschaffenen Dinge, nur ewige, auch ich verbleibe ewig. Gebt alle Hoffnung auf, ihr, die ihr eintretet. (Dante/ Naumann 2004, I, 19). Die Inschrift über dem Höllentor scheint Exegeten und Übersetzer besonders fasziniert zu haben. Der deutsche Romanist Karl Bartsch hat in einer Münchner Bibliothek ein Manu‐ skript aus dem Jahr 1479 entdeckt, auf dessen letzter Seite sich einige Verse der Inschrift in sehr fehlerhaftem Italienisch befinden und dazu eine Übersetzung der ersten drei Verse in veränderter Reihenfolge: Durch mit [mich] get yn dy betrübten stat Durch mit [mich] get czu dem verlornen volck Durch mit [mich] get in den ewigen todt. (Bartsch 1882) Antoine de Rivarol hebt die Inschrift in seiner Prosaübersetzung dadurch hervor, dass er sie in eine höchst eigenwillige, kunstvoll unregelmäßige Strophenform gießt: C’est moi qui vis tomber les légions rebelles ; C’est moi qui vois passer les races criminelles ; C’est par moi qu’on arrive aux douleurs éternelles. 153 9.1 Italien <?page no="154"?> 18 Antoine de Rivarol: Œuvres complètes. Tome troisième, Paris 1808, 30. 19 Diese Übersetzung ist mehrfach in immer wieder neuer Bearbeitung erschienen. La main qui fit les cieux, posa mes fondements : J’ai de l’homme et du jour précédé la naissance, Et je dure au-delà des temps Entre, qui que tu sois, et laisse l’espérance. 18 Das ähnelt stark Voltaires erster Übersetzung von Hamlets Selbstmordmonolog (cf. supra 7.4); immerhin lassen sich einzelne Verse ‚wiedererkennen‘. In einer Anmerkung zu diesem Passus übt Rivarol pedantische Kritik an den „Fehlern“ des Originaltextes, die geschickt so formuliert wird, dass seine eigene Übersetzung als berechtigte „Korrektur“ dieser Fehler erscheint. Aber am Ende der ausführlichen Anmerkung schlägt der kritische Ton unver‐ mittelt in Bewunderung um (cf. Rivarol 1808). Die gesamte Commedia ist nach dem vertrackten Reimschema der terza rima gestaltet: Ein Paarreim wird von einem Vers mit einem neuen Reimwort unterbrochen, dessen En‐ dung dann in der nächsten Terzine aufgenommen wird und die Grundlage für einen wei‐ teren Paarreim bildet, der wiederum von einem ‚neuen‘ Reimwort unterbrochen wird: aba; bcb; cdc usw. Daraus ergibt sich ein Zusammenhang zwischen Reimschema und dem Fort‐ gang des Berichts; der „dritte Reim“ treibt ihn voran. Peter Kofler spricht in seiner Ausgabe von Jagemanns Inferno-Übersetzung von „eine[r] tiefenstrukturelle[n] Beziehung zwischen Metrum und Semantik“ (Kofler 2004, 284). Man hat also zwischen Prosaübersetzungen, metrischen Übersetzungen im weiteren und metrischen Übersetzungen im engeren Sinn zu unterscheiden. Nur wenige gehören zu dem zuletzt genannten Typ, der das Schema der terza rima genau nachahmt. Karl Ludwig Kannegießer, ein überaus fruchtbarer Übersetzer vor allem italienischer Autoren, hat im 19. Jahrhundert zum ersten Mal eine Übersetzung dieser Art vorgelegt. 19 Ihm folgte Karl Streckfuß - ein Jurist, ebenso wie Leberecht Ba‐ chenschwanz, der zwischen 1767 und 1769 die erste vollständige Übersetzung der Com‐ media vorgelegt hatte. Bei Streckfuß lautet die Inschrift über dem Höllentor folgender‐ maßen: Durch mich gehts ein zur Stadt der ewgen Qualen, Durch mich geht’s ein zum wehevollen Schlund, Durch mich geht’s ein zu der Verdammnis Talen, Gerechtigkeit war der Bewegungsgrund Des der mich schuf; mich gründend, tat er offen Allmacht, Allweisheit, erste Liebe kund. (Dante/ Streckfuß/ Hirsch 1924) Man erkennt sofort, dass das Reimschema den Übersetzer zu ‚Abwegen‘ in rein inhaltlicher Hinsicht verleitet, wenn nicht zwingt - man ist geneigt in den Chor derjenigen einzu‐ stimmen, die sich seit Jahrhunderten über den Reimzwang lustig gemacht haben (cf. Albrecht 2005). Dass Form und Inhalt in der Dichtung eine unauflösbare Einheit bilden, ist eine Erkenntnis, die man an jedem Philologenstammtisch zu hören bekommt. Falsch ist sie deshalb nicht. Aber es gibt Umstände, die einen Übersetzer berechtigen, diese Einheit zeit‐ weilig aufzulösen. In seinen Noten und Abhandlungen zum West-Östlichen Divan hat sich Goethe klar zu der Berechtigung einer solchen Auflösung bekannt: 154 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="155"?> 20 Manche Übersetzer, so Naumann und Carlyle, geben dieses Wort mit Strand wieder; gemeint ist jedoch ein leicht ansteigendes Gelände. Es gibt dreierlei Arten Übersetzung. Die erste macht uns in unserem eigenen Sinne mit dem Aus‐ lande bekannt; eine schlicht-prosaische ist hiezu die beste. Denn indem die Prosa alle Eigentüm‐ lichkeiten einer jeden Dichtkunst völlig aufhebt und selbst den poetischen Enthusiasmus auf eine allgemeine Wasserebne niederzieht, so leistet sie für den Anfang den größten Dienst, weil sie uns mit dem fremden Vortrefflichen mitten in unserer nationellen Häuslichkeit, in unserem gemeinen Leben überrascht und, ohne daß wir wissen, wie uns geschieht, eine höhere Stimmung verleihend, wahrhaft erbaut. (zit. nach der Artemis Gedenkausgabe, Bd. 3, 554) Ähnlich dürften moderne Übersetzer der Commedia wie Walter Naumann oder Hartmut Köhler (Dante/ Naumann 2004; Dante/ Köhler 2010) gedacht haben, als sie sich dazu ent‐ schlossen, das Werk inhaltlich präzise in Prosa zu übersetzen. Das eigentliche Ziel einer solchen Übersetzung ist es, modernen Lesern die Lektüre des Originals zu erleichtern. Ein solches Ziel scheint auch John A. Carlyle vorgeschwebt zu haben, als er dem Publikum seine Übersetzung des Inferno vorstellte, „a literal prose translation with the text of the original collated from the best editions and explanatory notes“: The object of the following Prose Translation is to give the real meaning of Dante as literally and briefly as possible. No single particle has been wittingly left unrepresented in it, for which any equivalent could be discovered; and the few words that have been added are marked in Italics. English readers, it is hoped, will here find a closer, and therefore, with all its defects, a warmer version than any that has hitherto been published for them. (Carlyle 1849, Preface) Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass keine Übersetzung allen möglichen Zielen gleichermaßen gerecht werden kann. Die am Ausgangstext ‚klebenden‘ Überset‐ zungen der Commedia müssen notwendigerweise manche Ziele verfehlen, die ein schön‐ geistiger Kritiker einfordern mag - e i n e r Eigentümlichkeit des Werks tragen sie jedoch besser Rechnung als die meisten übrigen: Dante beschreibt die wunderlichsten Dinge, auf die er bei seiner Reise durch das Jenseits trifft, mit einer Präzision, die einem Reiseführer für wissbegierige Touristen Ehre machen würde. Als naiver Leser, der liest, ‚was dasteht‘, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, der Dichter sei tatsächlich dagewesen und erstatte einen genauen Bericht. Das zeigt sich schon am Anfang bei der Schilderung seines Umherirrens in dem Wald, aus dem er nicht mehr herausfindet. Nachdem der Dichter das Ende eines Tals erreicht hat, sieht er eine Anhöhe vor sich, die er nach kurzer Ruhepause hinaufzusteigen beginnt: Poi ch’ei posato un poco il corpo lasso, ripresi via per la piaggia 20 diserta, sì che ’l piè fermo sempre era ’l più basso (Inferno I, 28 ff.) Unter den Exegeten besteht keine Einigkeit darüber, ob hier ein Aufstieg oder ein Abstieg geschildert wird. Eines ist sicher: Gleichgültig, ob man eine Steigung hinauf-, oder hinun‐ tergeht - das Standbein sollte in schwierigem Gelände wie bei Dante immer das untere 155 9.1 Italien <?page no="156"?> 21 Hartmut Köhler (2010, 1, 13 Anm.) weist auf eine mögliche allegorische Bedeutung hin: der linke, feste Fuß der Seele stehe für das erdverhaftete Triebleben, der rechte für den Intellekt. 22 Spätere frz. Übersetzer geben diese Stelle präziser wieder, cf. Albrecht 2012, 755. sein. 21 Christian Joseph Jagemann, der Verfasser der ersten metrischen Übersetzung des Inferno ins Deutsche (cf. Kofler 2004; Albrecht/ Kofler Hrsg. 2006a), gibt diese Stelle fol‐ gendermaßen wieder: […] Darauf ruht ich aus, und schritt Hernach auf wüster Anhöh fort, so dass Ein jeder niedre Fuß der feste war. Das ist bemüht präzise, aber dennoch nicht sehr anschaulich formuliert. Das Metrum scheint - auch ohne Reimzwang - die Ausdrucksfähigkeit des Übersetzers einzuschränken. Bei Carlyle lässt sich die Gangart des Dichters mühelos nachvollziehen: After I had rested my wearied body, I took the way again along the desert strand, so that the firm foot always were the lower. Einem späten Vertreter der belles infidèles wie Rivarol gelten dergleichen Einzelheiten als nicht mitteilenswert; er setzt sich souverän darüber hinweg; immerhin ist er sicher, dass es aufwärts geht: Après avoir un peu reposé mes membres épuisés, je commençai à gravir cette côte solitaire (Dante/ Rivarol 1808). 22 Die Übersetzung von Wilhelm G. Hertz besticht durch Präzision und Natürlichkeit, obwohl er das Terzinenschema einzuhalten hatte: Als ich mich dann ein wenig ausgespannt, Da ging es weiter auf der öden Stelle, So, daß der feste Fuß stets tiefer stand (Dante/ Hertz 1956) Wie der Canzoniere und das Decameron verfügt auch die Commedia über eine ausgefeilte Makrostruktur. Früh erkannte man, dass eine ernsthafte Lektüre des Werks (lectura Dantis) nur mit der Anleitung eines Kenners möglich war. Boccaccio war der erste, der in Florenz öffentliche Vorlesungen zur Auslegung der Commedia abgehalten hat. Teilüber‐ setzungen laufen somit immer Gefahr, der Gesamtstruktur des Werks in einem oder meh‐ reren Punkten nicht Rechnung zu tragen. So sollte jeder Übersetzer wissen, dass das Ge‐ samtwerk der Dreistillehre (elocutionis genera) der antiken Rhetorik folgt. Das Inferno ist auf der niedrigsten stilistischen Ebene, dem genus humile, angesiedelt, das Purgatorio in der mittleren Stillage, dem genus medium, das Paradiso schließlich im erhabenen Stil, dem genus sublime. Wenn in den drei Teilen von alten Männern die Rede ist, so werden diese der jeweiligen Stilhöhe entsprechend bezeichnet. Die stilistische Abstufung entspricht nicht nur rhetorischen Vorschriften, sondern auch heilsgeschichtlichen Vorstellungen: 156 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="157"?> Un vecchio, bianco per antico pelo (Inferno III, 83) Ein Greis mit den vom Alter weißen Haaren Vidi presso di me un veglio solo (Purgatorio I, 31) Da sah ich einsam einen Greis erscheinen Credea veder Beatrice, e vidi un sene (Paradiso 31, 59) Statt Beatrice ist ein Greis erschienen Im ersten Fall ist von Charon die Rede, dem Fährmann ins Totenreich. Er ist Heide, für ihn genügt das alltagssprachliche Wort. Im zweiten Fall handelt es sich um Cato von Utica. Auch er ist Heide, bleibt aber wegen seiner fast schon christlichen Tugenden von den Höl‐ lenqualen verschont, er verdient eine etwas gehobenere Benennung. Im dritten Fall geht es um Bernard de Clairvaux, für ihn ist der Latinismus sene (senex) angebracht. Die deut‐ schen Übersetzungen stammen von Hermann Gmelin (Dante/ Gmelin 1954), der die stilis‐ tischen Unterschiede vollkommen einebnet. Dasselbe gilt für die bereits erwähnten Pro‐ saübersetzungen von Naumann und Köhler. Andere Übersetzer differenzieren wenigstens teilweise (cf. Albrecht 1998, 90 f.). Zur Rezeption Dantes durch deutsche, französische, spanische und weitere europäische Übersetzer gäbe es noch viel zu sagen. Wir müssen hier abbrechen, wollen jedoch zum Schluss unseren Lesern noch einen kurzen Abschnitt aus Goethes Übersetzung einer Stelle aus dem Inferno vorlegen, eine ungemein plastisch-detaillierte Beschreibung, die Goethe in Terzinen wiedergibt. Es handelt sich um eine kurze Probe, die Goethe 1826 dem bereits erwähnten Dante-Übersetzer Streckfuß zugeschickt hat: Era lo loco ov’a scender la riva Venimmo, alpestro e, per quel ch’iv’er’anco, tal, ch’ogni vista ne sarebbe schiva. Qual è quella ruina che nel fianco Di qua da Trento l’Adige percosse … (XII, 1-5) Bei Goethe wird daraus: Rauhfelsig war’ da, wo wir niederklommen; Das Steingehäuf den Augen übergroß; So wie ihr dieser Tage wahrgenommen Am Bergsturz diesseits Trento, der den Schoß Der Etsch verengte … (zit. nach Artemis Gedenkausgabe, Bd. 15, 148) Wer diesen sprachlich schwierigen Passus genau verstehen möchte, sollte lieber zur Pro‐ saübersetzung vom Hartmut Köhler greifen: Die Stelle, an der wir den Abhang hinunterklettern sollten, war gebirgshaft steil und mit dem, was sonst noch dort war, dazu angetan, jedes Auge wegschauen zu lassen. Wie bei jenem Bergrutsch, der kurz vor Trient die Etsch von der Seite her traf … (Köhler 2010, 1, 179) In den Anmerkungen, die die halbe Seite einnehmen, erfährt der Leser, um welchen histo‐ risch verbürgten Bergsturz es sich handelt, und er wird dazu noch auf Goethes Übersetzung dieses Passus hingewiesen. 157 9.1 Italien <?page no="158"?> 23 Eine der bekannteren Übertragungen ist die von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, die er zu‐ sammen mit seiner Übersetzung des „Anti-Machiavell“ Friedrichs des Großen aus dem Französischen 1922 publiziert hat. 24 Seine Übersetzung des Orlando furioso liegt in einer modernen kommentierten Neuausgabe vor: Ludovico Ariosto. Die Historia vom rasenden Roland. Übersetzt von Diederich von dem Werder (Leipzig 1632-1636). Hg. und kommentiert von Achim Aurnhammer und Dieter Martin. Stuttgart: Hiersemann 2002. Es gibt noch drei weitere ‚Exportartikel‘ aus der Blütezeit der italienischen Literatur, die hier wenigstens erwähnt werden müssen: Il Principe von Niccolò Machiavelli; Orlando fu‐ rioso von Lodovico Ariosto und La Gerusalemme liberata von Torquato Tasso. Machiavellis Prinicipe - nicht sein Hauptwerk, aber sicherlich das heute allein weithin bekannte - ist vor allem ins Französische und ins Deutsche sehr häufig übersetzt worden. 23 Die meisten europäischen Sprachen kennen Adjektive, die vom Namen des Au‐ tors abgeleitet wurden und perfides, ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedachtes Ver‐ halten bezeichnen: machiavellistisch, Machiavellian, machiavélique usw. Christian Joseph Jagemann, den wir bereits als Übersetzer Dantes kennengelernt haben, hat in seiner „Ver‐ theidigung des Machiavelli“ die Entrüstung, mit der viele Rezipienten auf dieses Werk re‐ agiert haben, mit nüchternen Worten zurückgewiesen: Wenn er [Machiavell] einen Tyrannen und seine Ungerechtigkeiten zu loben scheint, so fällt dieses Lob nicht auf die Sittlichkeit, sondern auf die politische Zweckmäßigkeit und Richtigkeit der von ihm erwählten Mittel. (zit. n. Albrecht 2006a, 17). Eine zentrale Bedeutung nehmen in diesem Werk drei Begriffe ein, die für den Erfolg eines Politikers unerlässliche Gegebenheiten bezeichnen: virtù, „intrinsischer Wert“; occasione „fördernde Bedingung“, fortuna „blindes Glück“. Jeder Übersetzer des Werks sollte darauf achten, dass diese drei Begriffe in den verschiedensten Kontexten die gleichen Benen‐ nungen erhalten und damit für den Leser - gewissermaßen als ‚Isotopiekette‘ - wiederer‐ kennbar bleiben. Bei den französischen Übersetzungen ist dies nicht der Fall (cf. Albrecht 2012, 752). Ariost (1474-1533) und Tasso (1544-1595) waren keine Zeitgenossen und stammten aus entgegengesetzten Regionen Italiens, aber dennoch werden sie heute mit ihren beiden be‐ kanntesten Werken, dem Orlando furioso und der Gerusalemme liberata - sit venia verbo - im ‚Doppelpack‘ angeboten. Das beginnt schon mit den beiden Titeln, eigentlich absolute Partizipialkonstruktionen, die in pedantisch-philologischer Wiedergabe „Als Roland vom Zorn gepackt wurde“ und „Wie Jerusalem befreit wurde“ lauten müssten. Die ältesten fran‐ zösischen und deutschen Titel vermeiden zumindest die später üblich gewordenen, nur scheinbar ‚wörtlichen‘ Übersetzungen vom Typ Der rasende Roland und Das befreite Jeru‐ salem: La Croisade (1580); La délivrance de Jérusalem (1595); Gottfried von Buljon oder das erlösete Jerusalem (Diederich von dem Werder 1626); Roland der Wütende (Wilhelm Heinse 1782/ 83). Auffällig ist, dass bekannte deutsche Übersetzer wie Diederich von dem Werder 24 , Johann Diederich Gries, Wilhelm Heinse und Karl Streckfuß jeweils beide Werke übersetzt haben, oft kurz hintereinander. In einem unterscheidet sich das Rittergedicht Orlando fu‐ rioso deutlich vom heroischen Epos La Gerusalemme liberata: Der rasende Roland bestach durch seine poetische Form, durch die Art und Weise, wie Rolands Liebeswahn mit leicht 158 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="159"?> parodistischen Zügen vorgeführt wurde: Das wollten die Übersetzer nachbilden oder viel‐ leicht noch besser machen (aemulatio). Die Befreiung Jerusalems befriedigte zunächst einmal historische Interessen und reinen ‚Stoffhunger‘, und da der Protagonist Gottfried von Bouillon ist, stieß das Werk vor allem in Frankreich auf großes Interesse. Heute gehören beide Werke zu dem Teil des Kanons, den man kennen, aber nicht unbedingt lesen muss. Bei Vorarbeiten für dieses Buch in der Bibliothèque Nationale in Paris fand sich ein unauf‐ geschnittenes (und folglich ungelesenes) Exemplar einer Übersetzung der Gerusalemme liberata aus dem 18. Jahrhundert. Nun aber zu den Importen, die, nach den volgarizzamenti, wieder bedeutsamer werden in einer Epoche, in der die erste schöpferische Phase der italienischen Literatur zu ver‐ blassen scheint. Der Index librorum proibitorum, eine Institution, die in der Zeit der Ge‐ genreformation begründet wurde, begann sich hemmend auf die Übersetzungstätigkeit in Spanien und Italien auszuwirken - besonders im Bereich wissenschaftlicher, philosophi‐ scher und religiöser Texte. Die antiken Autoren wurden dadurch nicht tangiert. Einen großen Einfluss auf das literarische Leben hatte die Übersetzung von Vergils Aeneis, die Annibal Caro 1563-1566 vorgelegt hat. Es handelt sich um eine Mischung aus volgarizza‐ mento und belle infidèle ante litteram. Aus den 756 Versen des ersten Buchs werden bei Caro - wegen der kürzeren Verse - 1227; dadurch wird die Suche nach Korrespondenzen zu‐ sätzlich erschwert. Seine Version des Anfangs lautet wie folgt: L’armi canto e ’l valor del grand’eroe Che pria da Troia, per destino, ai liti D’Italia e di Lavinio errando venne; E quanto errò, quanto sofferse, in quanti E di terra e di mar perigli incorse, Come il traea l’insuperabil forza Del cielo, e di Giunon l’ira tenace E con che dura e sanguinosa guerra Fondò la sua cittade, e gli suoi Dei Ripose in Lazio (I, 1-10) Zur Erinnerung hier die Eingangsverse, die in früheren Zeiten jeder Absolvent eines hu‐ manistischen Gymnasiums auswendig kannte: Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris Italiam fato profugus Lauiniaque venit litora, multum ille et terris iactatus et alto ui superum, saeuae memorem Iunonis ob iram, multa quoque et bello passus, dum conderet urbem inferretque deos Latio …(I, 1-6) Zu Annibal Caros Zeit kannten noch weit mehr Gebildete die lateinischen Verse auswendig als heute. In gewissen Kreisen las man damals Übersetzungen nicht als Ersatz für das Ori‐ ginal, sondern bewusst als Übersetzung, d. h. um zu sehen, was ein Übersetzer aus dem Original gemacht hatte. Da Caro damit rechnen musste, dass vielen seiner Leser der Inhalt gerade der ersten Verse bekannt war, bleibt er hier verhältnismäßig nah am Original: Dass 159 9.1 Italien <?page no="160"?> 25 Antonino Pagliaro: „sunt lacrimae rerum“. In: Saggi di critica semantica. Messina-Florenz, Nachdruck 1976, 159-181. die Waffentaten und der Mann besungen werden, der als Erster von Troia nach Italien an Lavinias Küsten kam, dass er viele Gefahren überwunden hat und dem Zorn der Juno (Hera) ausgeliefert war, bevor er seine Stadt mit ihren Göttern in Latium gründen konnte, all das kann man der Übersetzung entnehmen. An späteren, weniger prominenten Stellen lässt er sich mehr Freiheiten. So z. B. an dem (sprachlich schwierigen) Passus im ersten Buch, wo Aeneas in Karthago, im Tempel der Juno, die bildliche Darstellung vom Fall Troias bewun‐ dert: Constitit et lacrimans ‚quis iam locus,’ inquit, ‚Achate, Quae regio in terris nostri non plena laboris? En Priamus, sunt hic etiam sua praemia laudi, sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt. Solve metus; feret haec aliquam tibi fama salutem.’ (I, 559-563) Bei Annibal Caro wird daraus: Fermossi, e lagrimando: O, - disse Acate, Mira fin dove è la notizia aggiunta De le nostre ruine! Or quale ha ’l mondo Loco che pien non sia de’ nostri affanni? Ecco Priamo, ecco Troia; e qui si pregia Ancor vertù; che ferita non regna Là ’ve umana miseria si compiagne. (I, 738-744) Unverändert bleibt hier nur, dass Aeneas stehen bleibt und Achates anspricht, alles andere wird modifiziert oder in geänderter Reihenfolge präsentiert: Während Aeneas bei Vergil nur die rhetorische Frage stellt, ob es denn auf dieser Welt keine Gegend ohne Kenntnis ihrer [der Troianer] Leiden gebe, dann auf das Bild des Priamos hinweist und versichert, auch hier wisse man Verdienste zu schätzen, auch hier gebe es Trauriges, Menschenschick‐ sale, die das Gemüt berühren; Achates solle seine Angst überwinden, der Ruf, der ihnen vorausgeht, werde auch ihm Rettung bringen, wird das bei Caro alles viel direkter ausge‐ drückt: „Schau mal, bis wohin die Nachricht von unserem Untergang gelangt ist. Überall auf der Welt ist unser Kummer bekannt, da ist Priamos, da ist Troia; hier werden echte Werte noch geschätzt, dort, wo menschliches Elend beklagt wird, soll das erlittene Weh nicht triumphieren“. Eine besonders schwierige Stelle, die Anlass zu vielen philologischen Kommentaren gegeben hat, wird bei Caro (wie auch in unserer Paraphrase) umgangen. Wie ist lacrimae rerum zu verstehen? Als genetivus subiectivus „Tränen der Dinge“ oder als genetivus obiectivus „Tränen über die Dinge“? Die Ambiguität dieser Konstruktion hat sich bis heute in den romanischen Sprachen erhalten. La peur du gendarme kann „die Angst des Gendarmen“ oder aber „die Angst vor dem Gendarmen“ bedeuten. Antonino Pagliaro plä‐ diert im Rahmen seiner critica semantica, einer Art von Anleitung zum close reading, unter Rekurs auf Lukrez und Epikur für eine Kompromisslösung, die man im Deutschen mit „von den Dingen ausgelöste Tränen“ wiedergeben könnte. 25 160 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="161"?> War Annibal Caros Eneide eine belle infidèle avant la lettre, so könnte man Vincenzo Montis Iliade als „verspätete belle infidèle“ bezeichnen. Sie wurde schon von Zeitgenossen wegen ihrer fehlenden Nähe zum Original kritisiert; der Dichter und Übersetzer Ugo Fos‐ colo, der bereits der philologisch-dokumentarischen Auffassung der Übersetzung anhing, die im achten Kapitel kurz skizziert wurde, bezeichnete ihn in einem Epigramm ironisch als „großen Übersetzer der Übersetzer von Homer“. Damit soll wohl auch ein eklektisches Übersetzen kritisiert werden, das heute zum guten Ton gehört. Wer sich, wie etwa Burkhart Kröber, an die Neuübersetzung von Manzonis Promessi sposi wagt, wird erst einmal zur Kenntnis nehmen, wie andere vor ihm (und nicht nur deutsche Übersetzer) ihre Aufgabe gelöst haben. Das ist nicht nur legitim, das zeugt von Gewissenhaftigkeit und Professio‐ nalität. Was Montis Versübersetzung betrifft, so können wir hier nur einen kleinen Eindruck vom Beginn des Epos bieten: Cantami, o Diva, del Pelide Achille L’ira funesta che infiniti addusse Lutti agli Achei, molte anzi tempo all’Orco Generose travolse alme d’eroi, E di cani e d’augelli orrido pasto Lor salme abbandonò (così di Giove L’alto consiglio s’adempía), da quando Primamente disgiunse aspra contesa Il re de’ prodi Atride e il divo Achille. (Monti 1825, verfügbar im Netz) Inhaltlich ist das, wie so viele Anfänge umfangreicher Texte, aus den bereits angedeuteten Gründen ziemlich ‚exakt‘. Stilistisch sticht ein Merkmal hervor, das in vielen europäischen Sprachen ‚gehobenen‘, archaisierenden Stil kennzeichnet: der ‚vorgezogene‘ Genetiv. Der lässt sich im Deutschen mühelos unter Beibehaltung der Konnotation nachbilden: „des Pe‐ liden Achilleus unheilvoller Zorn“; „der Hunde und Vögel grausiges Mahl“; „des Jupiters hoher Rat“. Johann Hinrich Voß erweist sich in dieser Beziehung als vergleichsweise mo‐ dern. Bei ihm findet man nur den ‚angelsächsischen‘ Genetiv Zeus’ Wille, der nichts Ge‐ stelztes an sich hat. Die Griechen werden bei Caro wie bei Voß „Achäer“ genannt; dies war auch im Lateinischen üblich. Während aber bei Voßs der Ἄϊς (Hades) als Aïs erscheint, evoziert Caro den römischen Orcus. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde in Italien besonders viel aus dem Französischen über‐ setzt. Wir wollen das teatro tragico francese als französische ‚Extraduktion‘ im Zusammen‐ hang mit den englischen und deutschen Übersetzungen behandeln. Ugo Foscolos Überset‐ zung von Sternes Sentimental Journey soll (u. a. im Zusammenhang mit Bodes Übersetzung ins Deutsche) als englischer ‚Exportartikel‘ vorgestellt werden. Der Bildungsroman Les aventures de Télémaque, fils d’Ulysse von François de Salignac de la Mothe Fénelon (1699) hätte genauso gut als französischer ‚Exportartikel‘ behandelt werden können. Wir schildern hier die übersetzerische Rezeption in Italien, weil sie be‐ sondere Aufmerksamkeit verdient. Zwischen dem frühen 18. und dem 20. Jahrhundert sind mindestens 35 Ausgaben erschienen, nicht alles Neuübersetzungen, sondern z.T. revidierte Neuausgaben früherer Übersetzungen. Fénelon, der Präzeptor des Enkels von Ludwig XIV. und spätere Erzbischof von Cambrai, hatte in diesem Werk in verdeckter Form, jedoch 161 9.1 Italien <?page no="162"?> 26 Telemaco figlio d’Ulysse. Nuova traduzione 1746. Der Name des Übersetzers wird nicht genannt. Das im Internet verfügbare Exemplar trägt einen Stempel der Königlichen Kreisbibliothek in Augsburg. Es bestand somit offensichtlich in Deutschland Interesse an italienischen Übersetzungen französi‐ scher Bücher. leicht durchschaubar, den Regierungsstil von Ludwig XIV. kritisiert und war deshalb in Ungnade gefallen. Der Roman galt bald in Europa als Modell für mustergültigen klassischen französischen Stil. Heinrich Schliemann, der Ausgräber Troias, behauptet in seiner Auto‐ biographie, er habe durch Auswendiglernen des Télémaque und des Romans Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre in sechs Monaten Französisch gelernt. In Italien wurde das Werk ebenfalls zu sprachdidaktischen Zwecken herangezogen; zweisprachige Ausgaben dienten vor allem dazu, italienische Leser mit Hilfe eines unterhaltsamen Stoffs an den klassischen französischen Stil des Originals heranzuführen. In der Vorrede zu einer drei‐ sprachigen Ausgabe Französisch - Englisch - Italienisch wird dieser sprachdidaktische Zweck ausdrücklich erwähnt. In einer in Venedig veröffentlichten Übersetzung wird eben‐ falls in der Vorrede all das herausgehoben, was das Werk außerhalb Frankreichs so anzie‐ hend machte, ein flüssiger, lesbarer, gehobener Stil, ohne Wiederholungen, mit rhythmisch wohlgestalteten Satzperioden: Lo stile del Telemaco è polito, netto, corrente, e magnifico, ed ha tutta l’abbondanza d’Omero senza avere la sua intemperanza di parole. Egli non cade giammai in ripetizioni, e quando parla delle medesime cose non richiama le stesse immagini, e molto meno i medesimi termini. Tutti i suoi periodi riempiono l’orecchie col loro numero, e colla loro cadenza. (p. 21) 26 Eine weitere Ausgabe ist in einer von Martin Deschner, einem „Sprachmeister“ für Italie‐ nisch, revidierten Übersetzung 1758 in Wittenberg erschienen, ausgestattet mit einem Pri‐ vileg Augusts des Starken. Wer las in Deutschland das damals berühmte Werk von Fénelon auf Italienisch? Möglicherweise nahm man an, der mustergültige französische Stil sei in einen ebenso vorbildlichen italienischen Stil umgewandelt worden. Von großer Bedeutung für die italienische Ideengeschichte sind die Übersetzungen deut‐ scher Philosophen im 19. Jahrhundert. Auf sie wird in Kapitel 12.1 zurückzukommen sein, da sie häufig über französische Zwischenstufen angefertigt wurden. Ein kurzer, äußerst selektiver Blick auf neuere Lyrikübersetzungen soll Gelegenheit geben, auf zwei Übersetzungsprobleme allgemeiner Art hinzuweisen. Bei Baudelaires Al‐ batros in der Übersetzung von Vincenzo Errante geht es um den „semantischen Reim“: 162 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="163"?> 27 Zit. nach Vincenzo Errante/ Emilio Mariano: Orfeo. Il tesoro della lirica universale. Florenz 6 1974, 961. Souvent, pour s’amuser, les hommes d’équipage Sovente, per trastullo, gli uomini d’equipaggio Prennent des albatros, vastes oiseaux des mers, Fan prigioniero un àlbatro, grande uccello dei mari, Qui suivent, indolents compagnons de voyage mentre segue, indolente compagno di viaggio, Le navire glissant sur les gouffres amers. il vascello che scorre sovra i gúrgiti amari. Bei der Analyse von Reimlyrik hat man zwischen ornamentalen und semantischen Reimen zu unterscheiden. Der ornamentale Reim ist rein klanglicher Natur, während beim seman‐ tischen Reim Bedeutungsbeziehungen klanglich unterstrichen werden: Zwischen équipage „Mannschaft“ und voyage („Reise, Fahrt“) sowie zwischen mers „Meere“ und amer „bitter“ besteht mehr als ein rein klanglicher Bezug, daher ist es wünschenswert, die jeweiligen Reimwörter in der Übersetzung nach Möglichkeit beizubehalten. Errante gelingt dies dank der engen Verwandtschaft der beiden Sprachen mühelos; für einen deutschen Übersetzer wäre das fast unmöglich. Bei einem der bekanntesten Gedichte von Bertolt Brecht, Erinnerungen an die Marie A., geht es um den absichtlichen ‚Sprachfehler‘ zur Erzielung gewisser Wirkungen, eine Lizenz, die schon von Quintilian erwähnt und gebilligt wurde: An jenem Tag im blauen Mond September Un giorno di settembre, il mese azzurro, Still unter einem jungen Pflaumenbaum, tranquillo sotto un giovane susino Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe io tenni l’amor mio pallido e quieto In meinem Arm wie einen holden Traum. tra le mie braccia come un dolce sogno. Und über uns im schönen Sommerhimmel E su di noi nel bel cielo d’estate War eine Wolke, die ich lange sah. C’era una nube ch’io mirai a lungo: Sie war sehr weiß und ungeheuer oben, bianchissima nell’alto si perdeva Und als ich aufsah, war sie nimmer da. e quando riguardai era sparita. Bei dieser Version von Roberto Fernani 27 handelt es sich um eine inhaltlich sehr präzise Prosaübersetzung, die nur graphisch in Strophenform gebracht wurde. Die ironische Bre‐ chung, mit der aufkommender Sentimentalität durch eine sprachlich gewollt ungeschickte Formulierung begegnet wird (die Wolke war ungeheuer oben), hat der Übersetzer nicht er‐ kannt. Er wählt eine im banalsten Sinn des Wortes ‚poetische‘ Formulierung: bianchissima nell’alto si perdeva. Hätte er den Passus genau so wörtlich übersetzt wie den Rest, so hätte es heißen müssen era tremendamente sopra. Jedoch hätte das wohl alle italienischen Leser schockiert. Mit erheblicher Verspätung gegenüber anderen europäischen Ländern sind die Haupt‐ werke Sigmund Freuds ins Italienische übersetzt worden. Unter dem Einfluss einer teils euphorischen Rezeption Freudscher Ideen in Europa veröffentlichte der damalige Vorsit‐ zende der italienischen Gesellschaft für Psychiatrie, Enrico Morselli, eine kritische Be‐ standsaufnahme in zwei Bänden unter dem Titel La Psicanalisi (Turin 1926), in der er einen Großteil der Freudschen Hypothesen als reine Spekulation verwarf. Vor allem durch fran‐ zösische Vermittlung hat sich jedoch inzwischen eine relativ einheitliche italienische Ter‐ minologie im Bereich der Psychoanalyse durchgesetzt: Unbewusstes; Vorbewusstes; Be‐ 163 9.1 Italien <?page no="164"?> wusstes - inconcio; preconcio; concio; Traumarbeit - lavoro onirico; Lustprinzip - principio del piacere; Verdrängung - rimozione usw. usf. Ein Beispiel für ‚indirekten Übersetzungsimport‘, der ‚lakonische‘ Stil des sizilianischen Autors Elio Vittorini, den er sich als professioneller Übersetzer von amerikanischen Au‐ toren abgeschaut hat, wurde bereits in Kap. 4.5 gegeben. Es spricht für die ‚Weltoffenheit‘ des modernen italienischen Literaturbetriebs, dass der Anteil der übersetzten Literatur am literarischen Leben nicht unterschlagen wird. So wird z. B. in der Anthologie Guida al Novecento (Guglielmino 3 1978) der Einfluss ausländischer Schriftsteller und der italienischen Übersetzungen ihrer Werke (Ulysses von Joyce, Die Bud‐ denbrooks von Thomas Mann, A la recherche du temps perdu von Proust, um nur wenige Beispiele zu nennen) ausführlich gewürdigt. 9.2 Spanien und die iberische Halbinsel Zu Beginn des dritten Kapitels wurde gezeigt, was Don Quijote vom „horizontalen“ Über‐ setzen hielt: Es erfordere weder Geist noch Beredsamkeit. Keineswegs zufällig stammen die Beispiele, mit denen er seine Ansicht begründet, aus dem Sprachenpaar Toskanisch-Kasti‐ lisch: Der Titel des toskanischen Buchs, an dem der von Don Quijote mit Spott überzogene Übersetzer arbeitet, Le bagatelle, könne ja doch wohl nur mit los juguetes, das Wort più nur durch más wiedergegeben werden. So heiße das nun mal, und wer dies wisse, könne auch aus dem Toskanischen übersetzen. Zu Cervantes’ Zeit, als die glanzvollen mittelalterlichen Phasen der europäischen Literaturen bereits in Vergessenheit geraten waren, war die einzig ernstzunehmende Volkssprache das Toskanische. Wenn man einmal von den frühen Im‐ porten aus der Schule von Toledo absieht (cf supra 6.4.4.1 und infra 11), so wird zu einer Zeit, als sich das Kastilische als die wichtigste der lenguas de España durchzusetzen begann, das Toskanische, vor allem die Texte der volkssprachlichen Humanisten, zum wichtigsten ‚Importartikel‘. Eine allgemeine Übersicht wird in Kap. 11 gegeben, hier beschränken wir uns wie schon in 9.1 auf einzelne Werke. Die Redewendung „das kommt mir spanisch vor“ zeigt, dass zumindest in Deutschland Spanien und mit ihm die gesamte iberische Halbinsel eine lange Zeit hindurch als eine fremde, unbekannte Welt empfunden wurde. Lessing, der sich trotz fehlender Sprach‐ kenntnisse mit spanischen Texten abmühte, gab den Titel von Cervantes’ Novelas ejemplares mit „neue Beispiele“ (nouveaux exemples) wieder; er hatte nur ein unvollkommenes spa‐ nisch-französisches Wörterbuch zur Verfügung, aus dem nicht zu erschließen war, dass „beispielhafte (lehrreiche) Erzählungen“ gemeint waren (cf. Albrecht 1998, 14). Eine ver‐ hältnismäßig kurz andauernde Faszination, die Spanien in der Romantik und im beginnenden Historismus auslöste - man denke an die Übersetzungen von Ludwig Tieck, August Wilhelm Schlegel und Arthur Schopenhauer (cf. infra) - erklärt sich durch den Reiz des Exotischen, den Spanien und seine Kultur ausstrahlten. Übersetzungsgeschichte hat in Spanien eine gewisse Tradition. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellte Juan Antonio Pellicer y Saforcada in seinem „Ensayo de una biblioteca de traductores Españoles“ wertvolle Informationen über spanische Über‐ setzer und Übersetzungen zusammen. Die Biblioteca de Traductores Españoles, die Marcelino 164 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="165"?> Menéndez Pelayo ein gutes Jahrhundert später kompilierte (sie wurde in seine Obras com‐ pletas aufgenommen), stellt noch heute eine Fundgrube für Übersetzungshistoriker dar. Im Spätmittelalter konkurrierten noch verschiedene iberoromanische Varietäten auf dem Gebiet des heutigen Spaniens, von denen einige heute noch als „lenguas de España“ aner‐ kannt sind: Katalanisch, Aragonesisch, Kastilisch, Galizisch. Der Kampf um die Vorherr‐ schaft zwischen dem bereits früh kodifizierten Katalanischen und dem nachdrängenden Kastilischen war noch nicht entschieden. Dante und Boccaccio wurden anfangs häufig über katalanische Zwischenstufen ins Kastilische übersetzt, Petrarca später dann schon auf di‐ rektem Weg. Ein früher „Petrarkist“ war Joan Boscà i Almogàver, ein Freund von Garcilaso de la Vega, der sich später Juan Boscán Almogávar nannte und ins Kastilische übersetzte. Auf seine Übersetzung des Cortegiano von Baldassar Castiglione werden wir zurück‐ kommen. Schon im Spätmittelalter, vor Beginn des eigentlichen Humanismus, gab es enge litera‐ rische Kontakte zwischen Italien und Spanien. Enrique de Villena (1384-1434) übersetzte nicht nur Troubadourlyrik, sondern auch Teile der Commedia. Seine Version von Vergils Aeneis ist ein Musterbeispiel eines romanceamientos (cf. supra 3.2), ein Versuch, nicht nur den Text durch unauffällig beigefügte Erklärungen dem Uneingeweihten nahezubringen, sondern auch durch Einführung von Latinismen die Zielsprache zu ‚veredeln‘. Die ersten Verse mögen als Kostprobe genügen; das lateinische Original findet sich im vorangegan‐ genen Teilkapitel: Capitulo primero: commo del linagge de eneas salieron los fundadores de alba e de roma. Io, uirgilio, en uersos cuento los fechos de armas e las uirtudes de aquel uaron que partido de la troyana region e çibdat fuydizo ueno primero, por fatal ynfluençia, ha las de ytalia partes, ha los puertos, siquiere riberas ho fines del regno de lauina, por muchas tierras e mares aquel trabajado, siquiere traydo afanosa mente por la fuerça de los dioses, mayormente por la yra recordante de la cruel juno […] (zit. nach Pöckl 2006, 1407) Der Text ist vor allem wegen seiner noch sehr schwankenden Orthographie schwer ver‐ ständlich. Erkennbar ist jedoch auch für den ungeübten Leser, dass hier Inhaltsangabe und Übersetzung verschmolzen werden und dass die Übersetzung mancherlei inhaltliche Zu‐ taten enthält: Vergil sagt nicht, dass er von den Waffentaten seines Helden „in Versen“ (en versos) künden werde, er tut es einfach; Aeneas kommt von Troia, nicht „aus der trojani‐ schen Gegend und Stadt“ (de la troyana region e çibdat), und er gelangt an Laviniums Ge‐ stade, nicht „zu den Häfen oder doch wenigstens den Flüssen oder Grenzen Laviniums“ (ha los puertos, siquiere riberas ho fines del regno de lauina). Diese inhaltliche Redundanz lässt sich als eine Form der bereits beschriebenen „Synonymendopplung“ (cf. supra 3.2) auf‐ fassen. Nun noch einige weitere Beispiele: Leonardo Bruni, dessen bekannter Traktat De inter‐ pretatione recta (um 1420) zur langsamen Ausbreitung der von traduco abgeleiteten Wort‐ familie in der Romania beigetragen hat (cf. supra 3.1), stieß zumindest in der Zeit vor der eigentlichen Renaissance nicht auf einhellige Zustimmung. Alonso de Cartagena, ein zum Christentum konvertierter Jude, der viel praktische Erfahrung auf dem Gebiet des Über‐ setzens besaß, reagierte bald nach Erscheinen des Traktats zurückhaltend; dem Vorrang, 165 9.2 Spanien und die iberische Halbinsel <?page no="166"?> 28 Zit. nach Roberto Mondola: „Entre adivinación y brujería: el infierno de Pedro Fernández de Villegas (Burgos 1515). Alicante: Biblioteca Virtual Cervantes 2016, 384-403, hier 392. Die Originalzitate wurden nicht nach Mondola, sondern nach der Ausgabe von Blasucci (Florenz 1965) zitiert. den Bruni zielsprachlicher Eleganz gegenüber inhaltlicher Nähe zum Ausgangstext ein‐ räumte, stand er ablehnend gegenüber (cf. García Yebra 1994, 119-124). Pe(d)ro Fernández de Villegas (1453-1536) Übersetzung von Dantes „Infierno“ ins Kas‐ tilische (1515) gehört ebenfalls zu den frühen ‚Übersetzungsimporten‘, auf die hier wenigs‐ tens kurz eingegangen werden soll. Es handelt sich um eine zweisprachige Ausgabe des Inferno mit zahlreichen Anmerkungen, die Vorschläge zur ‚Verbesserung‘ des Danteschen Texts enthalten. Darin zeigt sich, dass Dantes Hauptwerk für den Übersetzer noch nicht ‚historisch‘ geworden war, wie für seine späteren Kollegen, sondern dass er darin einen Text von unmittelbarer historisch-theologischer Aktualität sah, mit dem man sich kritisch auseinanderzusetzen hatte. Seine Vorgehensweise soll anhand zweier ganz kurzer Passus aus dem XX. Gesang des Inferno illustriert werden: Li, per fuggire ogni consorzio umano, Queriendo fuirse del consorcio humano, ristette con suoi servi a far sue arti, Jugó serle dado grand don de natura. e visse, e vi lasciò il suo corpo vano. Alli pues moró con los sus servidores, faziendo con ellos la su vana arte. (Inferno XX, 86-88) Vedi Guido Bonatti; vedi Asdente, Y Guido Bonati verás su tristura, ch’avere inteso al cuoio ed allo spago Asdente también que debiera aver cura, coser sus çapatos su cuero contado, agora le pesa de averlo dexado ora vorrebbe, ma tardi si pente. Tarde ha caído en su vana locura. 28 (Inferno XX, 118-120). Im 20. Gesang werden die Wahrsager vorgeführt, denen, weil sie sich anmaßten, die Zukunft vorherzusagen, der Kopf zur Strafe nach hinten verdreht wurde, so dass sie nun nur noch rückwärts gehen können. Beim ersten hier wiedergegebenen Passus geht es um Manto, die Tochter des Teiresias und mythische Gründerin der Stadt Mantua, der Heimat Vergils. Der zweite Passus handelt von Guido Bonatti, einem Astrologen aus Forlì, und Ascendente, einem Schuster aus Parma, der sich den Ruf eines Wahrsagers erworben hatte. Wäre er doch nur, meint Dante, bei Leder und Faden (oder auf gut deutsch, „bei seinem Leisten“) geblieben. In beiden Fällen gebraucht der Übersetzer das Adjektiv vano „eitel, nichtig“ auf eine für seine Technik charakteristische Weise: Während Manto bei Dante ihren „nichtigen“ (da der Seele beraubten) Körper hinterlässt, wird das Wort bei unserem Übersetzer, der auch ein ‚Vulgarisator‘ ist, auf ihre Wahrsagekunst bezogen. Beim zweiten Passus ist bei Dante nur von der zu spät erfolgten Reue des Schusters die Rede; beim Übersetzer verfällt er in einem zusätzlichen Vers in einen eitlen Wahn. In einem Kommentar zu dieser Stelle erklärt der Übersetzer, dass diese vorgebliche Kunst nichts mit dem Himmel und den Sternen zu tun habe, sondern eine Eingebung des Teufels sei. Nun noch einmal zurück zur bereits erwähnten Übersetzung des Cortegiano (1534) durch Juan Boscán (1490-1542): In seiner Vorrede äußert er sich zu seiner Übersetzungstechnik: 166 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="167"?> 29 Zit. nach Proyecto Boscán; im Netz verfügbar, leicht modernisierte Orthographie. Yo no terné fin en la tradducción de este libro a ser tan estrecho que me apriete a sacalle palabra por palabra, antes si alguna cosa en él se ofreciere que en su lengua parezca bien y en la nuestra mal, no dexaré de mudalla o de callarla. 29 Diese Absage an eine Wort für Wort-Übersetzung erinnert ein wenig an Ciceros in quibus non verbum pro verbo necesse habui reddere (cf. supra 2.2.1), wenn auch Boscán den Akzent stärker auf die von ihm angestrebte zielsprachliche Akzeptabilität legt. Man sollte aus Äu‐ ßerungen dieser Art nicht schließen, es habe generell eine Entwicklung weg von einer ‚primitiven Wörtlichkeit‘ zu ‚freieren‘ Formen des Übersetzens gegeben. Wie schon bei Cicero und vielen Übersetzern nach ihm zielen diese Bemerkungen auf Kollegen, von denen eine Kritik wegen fehlender Genauigkeit zu erwarten war und denen von vornherein „der Wind aus den Segeln genommen“ werden sollte. Wichtig sei es, so Boscán, den Spaniern das Leitbild des „Hofmannes“ nahezubringen (cf. supra 7), und dazu bedürfe es keiner Worttreue. Ein Zeitgenosse, der Spanier Juan Luis Vives, machte in seinem übersetzungstheoreti‐ schen Traktat Versiones, seu interpretationes, einem Anhang zu seinem Buch De ratione dicendi (1532), den Grad der ‚Wörtlichkeit‘ vom Typ des zu übersetzenden Texts abhängig. In Texten, bei denen es nur auf den Sinn ankommt (in quibusdam solus spectatur sensus), könne man schon einmal etwas weglassen oder hinzufügen. Bei Texten, in denen es vor allem auf die sprachliche Form, die elocutio, ankommt, dürfe man den Redeschmuck (or‐ natus) nicht schematisch übernehmen, sondern habe ihn durch in der Zielsprache übliche Äquivalente zu ersetzen. Bei Texten, die sowohl in inhaltlicher als auch in rein sprachlicher Hinsicht bedeutsam sind (ubi et res et verba ponderantur), müsse man von Fall zu Fall ent‐ scheiden. Strenge Treue zum Wortlaut sei bei den sog. ‚dunklen Stellen‘ geboten (in locis difficilissimis, et ad intelligendum perobscuris), hier dürfe sich der Übersetzer nicht um ‚Auf‐ klärung‘ bemühen (cf. Coseriu 1971, Albrecht 2016, 30f.). Die frühen Übersetzer der Bibel waren im Gegensatz zu den späteren, ‚aufgeklärten‘, ähnlicher Ansicht (cf. supra 6.2 das Beispiel aus der Offenbarung). Das Jahr 1492 war für die weitere Entwicklung Spaniens von großer Bedeutung: Der Genuese Cristoforo Colombo (Cristóbal Colón), in spanischen Diensten, landete auf einer kleinen Insel der Bahamas und eröffnete damit die Kolonisierung und Hispanisierung großer Teile Amerikas. Mit der Eroberung von Granada wurde die reconquista abge‐ schlossen und Antonio Nebrija veröffentlichte seine Gramática de la lengua Castellana. In der Widmung an Königin Isabel stellt er die sprachpolitische Bedeutung seiner Arbeit selbstbewusst heraus: „siempre la lengua fue compañera del impero“ heißt es dort (sehr frei: noch immer hat sich die Sprache derer durchgesetzt, die über die politische Macht ver‐ fügten). Alle drei Ereignisse haben dazu beigetragen, dass sich das Kastilische zur wich‐ tigsten lengua de España aufschwingen konnte. Von den übrigen iberoromanischen Varie‐ täten konnte sich nur das Portugiesische eine ähnliche Position bewahren. Es zeigt sich nun auch bei einigen Autoren ein gewisser Unmut im Hinblick auf die Fülle der Übersetzungen aus dem Italienischen. Cervantes’ ironische Bemerkungen wurden 167 9.2 Spanien und die iberische Halbinsel <?page no="168"?> schon mehrfach erwähnt. Aber auch Lope de Vega zeigt sich verärgert. Das Übersetzen aus dem Italienischen sei ein schlimmeres Vergehen, als Pferde nach Frankreich zu schaffen: y si no es violencia en mí, plegue a Dios que yo llegue a tanta desdicha por necessidad, que traduzca libros de italiano en castellano; que para mi consideración es más delito que passar caballos a Francia (zit. nach García Yebra 1994, 151). Bevor wir auf einige weitere wichtige spanische ‚Intraduktionen‘ eingehen, soll der ‚Über‐ setzungsexport‘ des langandauernden siglo de oro (Pöckl 2008, 1407 f. spricht von den siglos de oro) behandelt werden. Aus übersetzungsgeschichtlicher Sicht steht dabei nicht - wie in den gängigen Literaturgeschichten - das Theater von Lope de Vega und Calderón de la Barca im Vordergrund, sondern der Schelmenroman (novela picaresca) und das erzähleri‐ sche Werk von Cervantes, insbesondere natürlich der Don Quijote. Die frühen deutschen Übersetzungen des pikaresken Romans entstanden z.T. in der Zeit des dreißigjährigen Krieges, als man in den deutschen Ländern eigentlich andere Sorgen hatte als die Verbreitung ausländischer Literatur in deutscher Sprache. Dennoch tat sich auf eben diesem Gebiet eine der wichtigsten deutschen „Sprachgesellschaften“ hervor: die „Fruchtbringende Gesellschaft“ in Köthen, die nach dem Vorbild der italienischen Acca‐ demia della Crusca gegründet worden war. Zu den Aufgaben der Mitglieder gehörte das Übersetzen wichtiger Werke. Der Gründer der Gesellschaft, Fürst Ludwig von Anhalt-Kö‐ then, Mitglied der Accademia della Crusca, ging mit gutem Beispiel voran und übersetzte einiges aus dem Italienischen. Ein weiteres Mitglied, Johann Michael Moscherosch (1601-1669), trat, wie wir noch sehen werden, unter dem Pseudonym Philander von Sitte‐ wald als Übersetzer von Francisco de Quevedo hervor, einem späten Vertreter der novela picaresca (cf. Otto 1972). Beim Schelmenroman handelt es sich eher um einen Literaturexport als um einen Über‐ setzungsexport im engeren Sinn. Die Nachahmungen in verschiedenen Sprachen haben eine größere Wirkung entfaltet als die eigentlichen Übersetzungen. Schelmenroman ist ein tradiertes Äquivalent für novela picaresca. Es entspricht der Bedeutung von Schelm im 16. Jahrhundert, die sich inzwischen zum harmlos Schalkhaften verschoben hat. Man sollte also heute lieber vom Gauner- oder Schurkenroman sprechen. Zunächst galt in der Litera‐ turgeschichtsschreibung der Guzmán de Alfarache von Mateo Alemán (um 1600) als Pro‐ totyp der Gattung. Die anschauliche Schilderung krimineller Machenschaften wird dort durch moralisierende Kommentare des Autors abgemildert. Später rückte der etwa fünfzig Jahre früher anonym erschienene Roman Lazarillo de Tormes in diese Position auf. Klein Lazarus vom Tormes - so der Titel in der Übersetzung von Hartmut Köhler - liefert ein viel unbefangener realistisches Bild von der Welt der Gauner im Spanien des 16. Jahrhunderts. Zur Identität des Verfassers sind eine Reihe von Hypothesen aufgestellt worden, die uns hier nicht zu interessieren brauchen. Neben den Übersetzungen stricto sensu werden wir auch auf einige „Imitationen“ (cf. supra) eingehen. Bevor wir einige knappe Hinweise zur Geschichte der novela picaresca und ihrer Rezep‐ tion in anderen europäischen Sprachräumen liefern, wollen wir zunächst einen Blick in den Lazarillo de Tormes werfen. Der Held erzählt in der Ich-Form - eine zu dieser Zeit eher selten eingenommene Erzählperspektive. Im zweiten Kapitel berichtet er, wie er sich bei einem Kirchenmann verdingte und was er in dessen Diensten erlebte. Gegenüber seinem 168 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="169"?> 30 Vida y hechos del pícaro Guzmán de Alfarache: atalaya del la vida humana. Erstausgabe in zwei Teilen, Antwerpen 1599 und 1604. vorherigen Dienstverhältnis sei dies kein guter Tausch gewesen: „Escapé del trueno y di en el relámpago …“. Hartmut Köhler übersetzt wörtlich: „Ich war dem Donner entkommen und geriet unter den Blitz“. Anstatt idiomatisch mit „Ich kam vom Regen in die Traufe“ zu übersetzen, wie es die meisten seiner Kollegen getan hätten, fordert er den Leser in einer Fußnote auf, diese Entsprechung selbst zu finden (Klein Lazarus, 2006, 51, Fn. 37). Bei dieser Übersetzung handelt es sich also um das Gegenteil eines volgarizzamento. Lazarillos überaus geiziger Dienstherr sei einem gewohnheitsmäßigen Dieb wie ihm durchaus gewachsen, stellt Lazarillo nicht ohne Selbstironie fest: No era yo señor de asirle una blanca todo el tiempo que con él veví o, por mejor decir, morí. De la taberna nunca le traje una blanca de vino; mas aquel poco que de la ofrenda había metido en su arcaz compasaba de tal forma, que le turaba toda la semana. Y por ocultar su gran mezquinidad decíame: — Mira, mozo, los sacerdotes han de ser muy templados en su comer y beber, y por esto yo no me desmando como otros. Mas el lacerado mentía falsamente, porque en cofradías y mortuorios que rezamos, a costa ajena comía como lobo y bebía más que un saludador. Ich schaffte es nicht, ihm einen einzigen Heller zu entwenden, solange ich bei ihm lebte - oder besser starb. Nie konnte ich ihm aus der Kneipe auch nur für einen Groschen Wein besorgen; vielmehr teilte er das Wenige, das er aus dem Opfer in seine Lade gesteckt hatte, so genau auf, dass es für die ganze Woche reichen musste. Um zu verbergen, wie knauserig er war, sagte er zu mir: „Schau Junge, die Priester müssen sehr mäßig sein im Essen und Trinken, deswegen bin ich auch nicht so ausschweifend wie andere.“ Doch der Geizkragen war verlogen und falsch, denn bei Bruderschaften und bei Leichen‐ schmäusen, wo wir beteten, fraß er auf anderer Leute Kosten wie ein Wolf und trank mehr als ein Hochzeitsbitter. (Ibid., 52/ 53) Ein Protagonist, der sich völlig unbefangen als jemand zu erkennen gibt, der es mit Mein und Dein nicht so genau nimmt und sich schonungslos über den Charakter eines Geistlichen äußert, kam bei der Zensur im Spanien der Gegenreformation nicht gut an. Der Roman wurde bald nach seinem Erscheinen auf den Index gesetzt und konnte erst zwanzig Jahre später in gereinigter Form (Lazarillo castigado) neu erscheinen. Vermutlich hat Mateo Alemán seinen weit umfangreicheren Roman Guzmán de Alfarache  30 , der lange Zeit als Prototyp der Gattung galt, aus Rücksicht auf die Zensur mit einem moralisierenden ‚Überbau‘ ausgestattet. Der Held erzählt seine Geschichte aus der Perspektive des reuigen Sünders und unterbricht die durchaus unterhaltsame Schilderung seiner Schandtaten durch moralisierende Kommentare. Die konnte ein eher am pikaresken Kern des Werks interes‐ sierter Leser leicht überschlagen. Die Moral wirkt ‚angeklebt‘ wie der Höllensturz des Don Giovanni im Libretto von Lorenzo da Ponte zu Mozarts Oper. Don Giovanni hingegen, das muss hinzugefügt werden, bereut nichts. 169 9.2 Spanien und die iberische Halbinsel <?page no="170"?> 31 Historia de la vida del Buscón llamado Don Pablos, ejemplo de vagamundos y espejo de tacaños (1626). Ein weiteres bis heute bekanntes Beispiel für den Schelmenroman ist Francisco de Quevedos El Buscón  31 . Auch hier ist von Landstreichern und Geizhälsen die Rede, worauf der Untertitel hinweist, aber das Prototypische tritt hier zugunsten einer manieristischen Form der Darstellung zurück. Im Spanien des Siglo de Oro gab es zwei konkurrierende Stilrichtungen: den conceptismo und den culteranismo. Die Vertreter des conceptismo, zu denen Quevedo gehörte, trieben ein raffiniertes Spiel mit sprachlichen Inhalten (Homonymie, Polysemie, Synonymie, Me‐ taphern usw.), das dem Leser einiges abverlangte. So behauptet Quevedos Protagonist, sein Vater sei, als er zur Hinrichtung geführt wurde, von trescientos cardenales begleitet worden. So viele Kardinäle gab es damals nicht, es muss sich also um „blaue Flecken und Striemen“ handeln. Das Wort hat beide Bedeutungen. Die Anhänger des culteranismo hingegen, zu denen Quevedos Feind Luís de Góngora zählte, spielten mit der sprachlichen Form (Laut‐ malerei, Lautsymbolik, Abweichung von der üblichen Wortstellung etc.). Quevedos Don Pablos verzichtet auf moralisierende Exkurse, wenn man einmal von der leicht hingeworfenen Schlussmoral absieht: Nunca mejora su estado quien muda solamente de lugar y no de vida y costumbres „Wer nur den Ort, nicht jedoch sein Leben und seine Gewohnheiten wechselt, wird seine Situation nie verbessern“. Wir werden einige Anklänge an den pikaresken Roman bei Cervantes wiederfinden. Die Übersetzungen im engeren Sinn der Schelmenromane sind erstaunlich zahlreich, haben jedoch weniger Wirkung entfaltet als die Nachahmungen. Noch im 16. Jahrhundert wurde der Lazarillo ins Französische (1560), Englische (1568) und Flämische (1579) über‐ tragen. Die erste deutsche Übersetzung entstand 1614 in Schlesien; das Manuskript wurde jedoch erst 1951 entdeckt und publiziert (cf. Köhler 2014, 192 ff.; auch zu den späteren Übersetzungen). Der Guzmán de Alfarache von Mateo Alemán wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts gleich zweimal von verschiedenen Übersetzern unter dem Titel Der Landstörzer Gusman von Alfarache herausgebracht (cf. infra). Danach scheint das Interesse an dem Werk erlahmt zu sein. In der Bibliographie von Rössig (1997) werden erst wieder Übersetzungen aus dem 20. Jahrhundert aufgeführt. In Frankreich beginnt die übersetzerische Rezeption 1619 mit Gueux, ou la vie de Guzman d’Alfarache von dem späteren Akademiemitglied Jean Chape‐ lain, der sich nur widerwillig zu dieser Arbeit bereitfand, da er, wie er in der Vorrede ver‐ sichert, in der Übersetzung eine eines freien Geistes unwürdige Tätigkeit sah. Wer sich so weit herabließ, durfte sich berechtigt fühlen, seinen Autor, wo es nötig schien, zu ‚verbes‐ sern‘: Le but de mon labeur a été d’en faire voir non tout ce qui était, mais tout ce qui en pouvait plaire : aussi pour en user ainsi je me suis souvent trouvé contraint d’y retrancher des choses inutiles et d’y en rajouter des nécessaires ; surtout en liaison des sens lesquels dans l’original sont fort dé‐ cousus … (zitiert nach Tran Gervat/ Weinmann 2014, 254) Nicht all das übersetzen, was im Text steht, sondern nur das, was gefallen könnte, Über‐ flüssiges weglassen und Notwendiges hinzufügen, fehlenden Zusammenhang im Original 170 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="171"?> 32 Das ist Roger Zuber nicht entgangen. Er geht in seinem Buch über die Belles infidèles (Zuber 2 1995) ausführlich auf Chapelain ein. 33 Vermutlich ein Pseudonym; man hat u. a. Paul Scarron, den Autor des roman comique, dahinter vermutet. in der Übersetzung herstellen - wir haben es mit einer belle infidèle avant la lettre zu tun. 32 Eine weitere Übersetzung erschien am Ende des Jahrhunderts anonym unter dem Titel Histoire de l’admirable Don Guzman d’Alfarache (Amsterdam/ Paris 1695). Als Übersetzer wurde später Gabriel Brémond identifiziert, ein Schriftsteller, der hauptsächlich mit Über‐ setzungen hervorgetreten ist. Später hat das Interesse in Frankreich offenbar nachgelassen. Die Nachahmungen eines Lesage (cf. infra) kamen dem Interesse für die Gattung besser entgegen. In England erschien ebenfalls recht früh eine Übersetzung von James Mabbe unter dem Titel The rogue: or The life of Guzman de Alfarache (London 1623). Der Titel einer englischen Übersetzung aus dem frühen 18. Jahrhundert verdient es, hier angeführt zu werden, da er viel über das damalige Verlagswesen und über den Übersetzungsbetrieb verrät: The Life of Guzman de Alfarache or, The Spanish Rogue. To which is added, The Celebrated Tragi-Comedy Celestina. Written in Spanish by Mateo Aleman. Done into English from the New French Version and compared with the Original by several Hands. London 1708. Es handelt sich also um eine kollektive Übersetzung aus zweiter Hand, bei der zur Sicherheit Einsicht in das Original genommen wurde, eine „transparente Kontamination“ (Plack 2015, 123). In welcher Form die novela dialogada Celestina „hinzugefügt“ wurde, erfahren wir aus dem Titel nicht. Die Übersetzungsgeschichte von Quevedos El Buscón ist lang und kompliziert. Hier können nur wenige Einzelheiten herausgegriffen werden. Viele Übersetzungen in europä‐ ische Sprachen erweisen sich als Weiterübersetzungen der Version eines sieur de La Ge‐ neste 33 , die 1633 unter dem Titel L’aventurier Buscon, histoire facétieuse erschienen ist. Nur die fast gleichzeitig erschienene italienische Übersetzung von Pietro Franco aus dem Jahr 1634 ist unabhängig davon. Wolfgang Pöckl (2017) gibt einen knappen Abriss der deutschen Übersetzungsgeschichte und widmet sich ausführlich der Übersetzung von H. C. Artmann aus dem Jahr 1963. Durch den gekünstelt archaisierenden Stil werde dem Text, so Pöckl, ein barocker Anstrich verpasst, der das Anliegen des Autors verharmlose. Über die fran‐ zösische Übersetzungsgeschichte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts informiert Cointre (2014). Was ein weiteres Werk Quevedos, die Sueños betrifft, so trat Johann Michael Mo‐ scherosch unter dem Pseudonym Philander von Sittewald im Rahmen seiner Überset‐ zungstätigkeit bei der Fruchtbringenden Gesellschaft (cf. supra) mit einer deutschen Version hervor, die zwischen einer Bearbeitung und einer Nachahmung liegt. Ein deutscher Lite‐ rarhistoriker hat sie im 19. Jahrhundert folgendermaßen charakterisiert: Eine eigentliche Uebersetzung ist es indeß nicht, sondern, wie sich aus Vergleichung der Sueños des Quevedo ergibt (die Andere schon angestellt haben, und die ich für mich nur theils nach der französischen, theils nach der niederländischen Übersetzung vornehmen konnte) eine durchaus freie, mit sehr vielen eigenen Erfindungen und witzigen Einfällen erweiterte, und ganz auf vater‐ 171 9.2 Spanien und die iberische Halbinsel <?page no="172"?> ländische Verhältnisse angewendete Umarbeitung und Nachbildung jenes spanischen Originals. (Dittmar 1830, LI) Hier zeigt sich wieder einmal, dass sich auch in Deutschland literarisch Interessierte schon früh für die Übersetzungsgeschichte interessiert haben. Nun aber zu einigen Werken, bei denen die novela picaresca zwar Pate gestanden hat, die man jedoch allenfalls als Übersetzungen im weitesten Sinn bezeichnen kann. Am frühesten erschien Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch (1668) von Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen (1621-1676). Bevor er in der zweiten Lebenshälfte im Badischen sesshaft wurde, ist der Autor in seiner Kindheit und Jugend in den Wirren des dreißigjährigen Krieges fast ebenso weit herumgekommen wie der Protagonist seines bekanntesten Ro‐ mans. Man hat in der Lebensbeschreibung des „seltzamen Vaganten genant Melchior Stern‐ fels von Fuchshaim“, wie es auf dem Titelblatt der Erstausgabe heißt, die aus verkaufstech‐ nischen Gründen auf 1669 vordatiert wurde, eine Art von Autobiographie sehen wollen. Dazu ist das Ganze viel zu stilisiert und ironisch gebrochen. Das zeigt sich bereits zu Beginn. So lautet der Untertitel des sechsten Kapitels: „kurz und so andächtig, daß dem Simplicio darüber ohnmächtig wird“. Im achten Kapitel begegnet der Ich-Erzähler als kleiner Junge einem Einsiedler, der ihm weiterhelfen will, aber zunächst einmal seine Identität heraus‐ finden möchte. Er kann von dem Kleinen nur erfahren, dass er Bub heiße. Nein, Vater und Mutter habe er keine gehabt, aber den Namen Bub habe er von der Meuder und dem Knan, die hätten ihn immer so gerufen. Auf die Frage, ob er denn nie in die „Kirchen gangen“ sei, antwortet er stolz, doch, er sei schon oft in die Kirschen gegangen und habe viele gepflückt. Und das Vaterunser? Ja, das könne er aufsagen: Unser lieber Vater, der du bist Himmel, heiliget werde Nam, zrkommes d’Reich, dein Will schee Himmel ad Erden, gib uns Schuld, als wir unsern Schuldigern geba, führ uns nicht in kein bös Versucha, sondern erlös uns von dem Reich, und die Krafft, und Herrlichkeit, in Ewigkeit, Ama. (Alle Zitate aus Grimmelshausen 1972, Bd. 1) Man fragt sich, wo und vor allem wann der Autor, der auf seine geringe Bildung geradezu stolz war, sich seine vielfältigen Kenntnisse angelesen hat. Was sein Hauptwerk angeht, so ist der Schelmenroman sicherlich nur eine unter vielen Quellen, jedoch eine besonders wichtige. Er hat eine der oben erwähnten frühen Übersetzungen benutzt: Mateo Aleman, Der Landstörtzer Gusman von Alfarache oder Picaro genannt/ dessen wunderbar‐ liches abentheurlichs und possirlichs Leben hierin beschrieben wird. Durch Aegidium Albertinum […] theils aus dem Spanischen verteutscht/ theils gemehrt und gebessert (München 1615) Sicherlich wurde er auch von Moscherosch beeinflusst. Wilhelm Scherer behandelt in seiner Literaturgeschichte, die inzwischen selbst zum literarischen Zeugnis geworden ist, beide Autoren in einem Zug: Jener [Moscherosch] stammte vom Oberrhein und endigte in Hessen; dieser [Grimmelshausen] stammte aus Hessen und endigte am Oberrhein. […] Ihre literarischen Vorbilder gehörten zu der Kunstrichtung, welche am glänzendsten in der Malerei durch die Genrebilder Murillos vertreten ist. […] Grimmelshausen schloß sich an die Schelmenromane an; sein „Simplicissimus“ […] schil‐ dert wie diese in der Einkleidung einer Selbstbiographie die bunten Abenteuer und das wechselnde 172 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="173"?> 34 Im älteren Spanischen Don Quixote (mit [ʃ] statt mit [χ] ausgesprochen). Diese ältere, aus dem Fran‐ zösischen übernommene Aussprache (Don Quichotte) ist bis heute auch im Deutschen üblich. Im Englischen erscheint Don Quixote häufiger als die moderne span. Form Don Quijote; im Italienischen wird Don Quiscotte geschrieben. 35 Tieck folgt der Gesamtgliederung von 1605, die später verworfen wurde. Daher befindet sich bei ihm die Stelle im 5. Kapitel des 3. Buchs. Glück eines Vagabunden. […] aber während die spanischen Landstreicher eine Schurkerei nach der anderen begehen und am Schluß in der Regel nicht besser sind als am Anfang, ist Simplicius Simplicissimus viel tiefer und sittlicher genommen. (Scherer 1883, 421 f.) In Frankreich gab es einen Autor, der sich enger an seine Vorlagen gehalten und klarer zu ihnen bekannt hat als die deutschen Autoren: Alain-René Lesage. Sein Diable boiteux (1707) ist eine Kontrafaktur des Romans El diablo cojuelo (1641) von Luis Vélez de Guevara, dessen Untertitel auf die Unwirklichkeit der Geschichte hinweist: Novela de la otra vida traduzida a esta, „aus dem anderen Leben in das hiesige übersetzt“. Lesage hat seinen Roman dem damals schon längst verstorbenen spanischen Kollegen gewidmet. Seine Histoire de Gil Blas de Santillane (4 Bde, 1715-1735) setzt hinter einer spanischen Maske die Tradition des heimischen genre burlesque fort. Das spanische Ambiente wird stark betont, um die Kritik an den Zuständen im eigenen Land nicht so leicht durchschaubar zu machen. Auch in England gibt es eine Reihe von Werken, die mehr oder weniger deutlich an das in Spanien entstandene Genre anknüpfen und die Tradition des realistischen Romans be‐ gründen. Am deutlichsten ist der spanische Ursprung in einem weniger bekannten Werk zu erkennen: Thomas Nash, The Unfortunate Traveller, or the Life of Jack Wilton (1594). Drei viel später entstandene und bekanntere Werke werden von der Literaturgeschichtsschrei‐ bung ebenfalls in die Tradition des pikaresken Romans eingereiht: Henry Fielding, The History of Tom Jones, a Foundling (1749) und gleich zwei Romane des Schotten Tobias Smol‐ lett: The Adventures of Roderick Random (1748) und The Adventures of Peregrine Pickle (1751). Einige wollen auch in Defoes Moll Flanders, in Thackerays Barry Lindon (der durch einen 1975 gedrehten Film von Stanley Kubrick für ein breiteres Publikum wiederentdeckt wurde) und sogar in Thomas Manns Felix Krull Nachfolger der novela picaresca sehen. Dabei han‐ delt es sich jedoch um sehr generische Bezüge, die sich am besten den von Gérard Genette geprägten Termini „Hypertextualität“ und „Architextualität“ subsumieren lassen (cf. Ge‐ nette 1982). Miguel de Cervantes Saavedra hat bis heute - vor allem mit seinem Don Quijote  34 - den wichtigsten Beitrag zum spanischen Literaturexport geleistet. Seit Jahrhunderten ist der Held des Romans im deutschen Sprachraum als „Ritter von der traurigen Gestalt“ bekannt. Im 19. Kapitel des ersten Teils stellt sein Begleiter Sancho Panza ihn vor als den „famoso don Quijote de la Mancha, que por otro nombre se llama el Caballero de la Triste Figura.“ (Cervantes 2004, 202). Ludwig Tieck gab dies mit „Ritter von der traurigen Gestalt“ wieder (Cervantes/ Tieck I. 130). 35 Figura kann zwar im Spanischen durchaus „Figur“ bedeuten; als Teil des menschlichen Körpers bedeutet es jedoch „Gesicht“. Die menschliche Gestalt würde man eher mit estatura bezeichnen. Ludwig Braunfels, dessen Übersetzung von 1848 lange Zeit als Referenztext galt, hat diesen Passus vermutlich von Tieck übernommen. Susanne Lange (2008) ist dabei geblieben, obwohl ihr die Problematik dieser Wiedergabe durchaus 173 9.2 Spanien und die iberische Halbinsel <?page no="174"?> 36 Cf. Nachwort, Bd. II (2008), 770 f. 37 Es handelt sich um den Vater des berühmten Sprachphilosophen Hilary Putnam. bekannt war. 36 Im Französischen, wo die Bedeutungen von figure und stature weitgehend denen der entsprechenden spanischen Wörter entsprechen, entsteht kein Problem. In der langen Reihe der englischen Übersetzungen geht es bunt durcheinander. Da ist von woeful figure, sorrowful figure, rueful countenance, mournful countenance, rueful figure, sad face, sorry face [sic! ] oder sorrowful face die Rede. In seinen Lectures on Don Quixote stellt Vladimir Nabokov den üblichen Vergleich mit Shakespeare an und fügt eine kritische Anmerkung zu verschiedenen Formen des literari‐ schen Nachruhms hinzu: A hundred years ago one enthusiastic French critic, Sainte-Beuve, called it [the novel Don Quixote] “the Bible of Humanity”. Let us not fall under the spell of these enchanters. […] I object to such statements as “[the] perception [of Cervantes] was as sensitive, his mind as supple, his imagination as active, and his humor as subtle as those of Shakespeare.” Oh no - even if we limit Shakespeare to his comedies, Cervantes lags behind in all those things. Don Quixote but squires King Lear - and squires him well. The only matter in which Cervantes and Shakespeare are equal is the matter of influence, of spiritual irrigation - I have in view the long shadow cast upon receptive posterity of a created image which may continue to live independently from the book itself. Shakespeare’s plays, however, will continue to live, apart from the shadow they project. (Nabokov 1983, 7 f.) Der lange Schatten, den der Roman auf die aufnehmende Nachwelt wirft, manifestiert sich auch (und nicht zuletzt) in der langen Reihe von Übersetzungen, von denen sich einige möglicherweise wirklich an einem „geschaffenen Bild“ orientieren, das „unabhängig vom Buch selbst weiterlebt“ (cf. supra 9.1 die unterschiedlichen Typen der Übersetzung kano‐ nisierter Literatur). Sie sind zu zahlreich, um hier auch nur vollständig aufgeführt werden zu können. Immerhin muss erwähnt werden, dass sich Nabokovs Urteil im Wesentlichen auf eine Übersetzung stützt, auf die des Amerikaners Samuel Putnam (1949). 37 Auch auf die unterschiedlichen Wertungen, die von hymnischen Lobpreisungen bis zu Verrissen reichen, kann hier nur am Rande eingegangen werden. Aus der spätestens seit der Romantik geführten Diskussion um die Gesamtdeutung des Romans und seines Prota‐ gonisten wollen wir uns heraushalten. Die Frage, ob man in Don Quijote eine burleske oder doch eher eine tragische Figur zu sehen habe, ist hier nur dann von Interesse, wenn ein Übersetzer erkennbar auf eine der beiden Interpretationen hinarbeitet. Eines scheint jedoch klar: Der Roman ist keine platte Farce, sondern ein raffiniert konstruiertes Erzählwerk. Das geht u. a. aus der bekannten Deutung Michel Foucaults hervor, und zwar auch für denje‐ nigen, der dem epistemologischen Schema dieses Autors wenig abgewinnen kann: Dans la seconde partie du roman, Don Quichotte rencontre des personnages qui ont lu la première partie du texte et qui le reconnaissent, lui, homme réel, pour le héros du livre. Le texte de Cervantès se replie sur lui-même, s’enfonce dans sa propre épaisseur, et devient pour soi objet de son propre récit. (Foucault 1966, 62) Ein Roman, in dessen zweitem Teil der Protagonist auf Personen trifft, die ihn aus dem ersten Teil kennen und der somit wenigstens zum Teil von sich selbst handelt, ist mehr als 174 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="175"?> 38 Hidalgo = hijo de algo „Abkömmling von etwas“, zum niedrigen Adel gehörend. eine simple Parodie der überlieferten chevaleresken Literatur. Damit wären wir beim Inhalt. Jeder, der überhaupt schon einmal von Don Quijote gehört hat, weiß, dass es sich beim Helden des Romans um einen kleinen Landadligen 38 handelt, der beim Lesen von Ritterro‐ manen den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren hat: … y así, del poco dormir y del mucho leer, se le secó el celebro [cerebro] de manera que vino a perder el juicio. Llenósele la fantasia de todo aquello que leía en los libros, asi de encantamentos … (Cervantes 2004, 92 f.) … und so kam es vom wenigen Schlafen und vielen Lesen, daß sein Gehirn ausgetrocknet wurde, wodurch er den Verstand verlor. Er erfüllte nun seine Phantasie mit solchen Dingen, wie er sie in den Büchern fand, als Bezauberungen … (Cervantes/ Tieck 1951, 20) … und so, vom wenigen Schlafen und vom vielen Lesen, trocknete ihm das Hirn so aus, daß er zuletzt den Verstand verlor. Die Phantasie füllte sich ihm mit allem an, was er in den Büchern las, so mit Verzauberungen … (Cervantes/ Braunfels 1956, 23) und der knappe Schlaf und das reichliche Lesen trockneten ihm das Gehirn ein, so dass er den Verstand verlor. Sein Kopf bevölkerte sich mit dem, was er in den Büchern fand, mit Verzaube‐ rungen … (Cervantes/ Lange, Bd. I, 2008, 31) … si bien qu’à force de dormir peu et lire beaucoup, il se dessécha le cerveau, de manière qu’il vint à perdre l’esprit. Son imagination se remplit de tout ce qu’il avait lu dans les livres, enchante‐ ments … (Cervantes/ Viardot 1836/ 37 I, 63) … perdere il giudizio … la fantasia gli si riempì (Cervantes/ Giannini 2014, 32 f.) … and what with little sleep and much reading his brains got so dry that he lost his wits. His fancy grew full of what he used to read about in his books, enchantments … (Cervantes/ Ormsby 1885, 1. Kap.) Hier sind die deutschen Übersetzungen aus rein sprachlichen Gründen ziemlich einheitlich. Die feste Kollokation „den Verstand verlieren“ drängt sich für perder el juicio geradezu auf. Andere französische Übersetzungen, die hier nicht zitiert wurden, haben jugement statt esprit, die neueste italienische Übersetzung giudizio. Der Unterschied zwischen [das Hirn] austrocknen bei den älteren deutschen Übersetzungen und eintrocknen bei Susanne Lange verdiente eine eigene Betrachtung, für die hier kein Platz ist. Was nun die Syntax angeht, so sind die Lösungen der hier berücksichtigten übrigen Übersetzer nicht nur philologisch genauer, sondern auch dem Wesen des Helden angemessener als die von Tieck. Nicht Don Quijote füllt seine Phantasie an, sondern diese (bzw. sein Kopf) füllt sich ohne sein Zutun. Er ist dem Ansturm der Bilder und Vorstellungen ausgeliefert. Auf der ersten Seite des Romans wird die wirtschaftliche Situation des Protagonisten anhand seines wöchentlichen Speiseplans charakterisiert: 175 9.2 Spanien und die iberische Halbinsel <?page no="176"?> 39 Bei Geflügel spricht man im Deutschen von Hühner- oder Gänseklein. Una olla de algo más vaca que carnero, salpicón las más noches, duelos y quebrantes los sabados, lantejas los viernes, algun palomino de añadidura los domingos, consumían las tres partes de su hacienda. (Cervantes 2004, 91) Eine Olla, mehr von Rindals Hammelfleisch, des Sonnabends arme Ritter und Freitags Linsen, Sonntags aber einige gebraten Tauben, verzehrten drei Vierteile seiner Einnahmen. (Cervantes/ Tieck 1951, 19) Eine Schüssel Suppe mit etwas mehr Kuhals Hammelfleisch darin, die meisten Abende Fleisch‐ kuchen aus den Überbleibseln vom Mittag, jämmerliche Knochenreste am Samstag, Linsen am Freitag, ein Täubchen als Zugabe am Sonntag … (Cervantes/ Braunfels 1956, 21) Mittags ein Eintopf mit mehr Rind als Hammel, am Abend meist saures Haschee, am Samstag fromme Eier mit Speck, Linsen am Freitag, am Sonntag als Dreingabe ein Täubchen … (Cervantes/ Lange, Bd. I, 2008, 29) Une marmite, un peu plus de bœuf que de mouton, un saupiquet […] des œufs et du lard … (Cer‐ vantes/ Oudin 1625 I, 11) Un morceau de viande dans la marmite, plus souvent de bœuf que de mouton, une galimafrée le soir du reste du diner […] des œufs au lard … à la manière d’Espagne … (Cervantes/ Filleau de Saint-Martin 1681 I, 1) Un bouilli plus souvent de vache que de mouton […] une vinaigrette des œufs frits … (Cervantes/ Florian 1810, 1 f.) Un pot-au-feu plus souvent de mouton que de bœuf […] des abattis de bétail … (Cervantes/ Viardot 1836/ 37 I, 59) Le pot au feu avec un peu plus de bœuf que de mouton, un salpicón […] des duelos et des quebrantos … (Cervantes/ Cardaillac/ Labarthe 1923-26 I, 21) An olla of rather more beef than mutton, a salad on most nights, scraps on Saturdays. (Cervantes/ Ormsby 1885, 1. Kap.) Un piatto di qualcosa, più vacca che castrato, brincelli di carne in insalata, il più [die Überbleibsel] delle sere, frittata in zoccoli e zampetti il sabato … (Cervantes/ Giannini 2014, 30) Wie man sieht, haben die Übersetzer den vom Autor vorgegebenen Speiseplan erheblich variiert. Susanne Langes „saures Haschee“ wirkt zumindest auf den süddeutschen Leser abschreckender als Ormsbys „Salat“ oder Gianninis „Fleischsalat“. Über die Bedeutung von duelos und quebrantes wurde auch unter spanischen Exegeten heftig diskutiert. Wahr‐ scheinlich kommt Viardot dem Gemeinten mit „Innereien“ am nächsten. 39 Ormsby geht mit „Essensresten“ kein Risiko ein. Nur Viardot vertauscht im Zusammenhang mit der Olla die beiden Fleischsorten. Nicht aus Versehen, sondern als früher Vertreter der dynamic equi‐ valence (cf. supra, 6.2). Sinn des Passus ist es schließlich zu zeigen, dass sich der sinnreiche Junker nur billiges Fleisch leisten konnte, und zu Viardots Zeiten hatte sich das Preisver‐ 176 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="177"?> hältnis (auch in Spanien) umgekehrt, Rindfleisch war teurer als Hammelfleisch geworden. Das wissen auch Cardaillac und Labarthe. Sie bleiben zwar beim Wortlaut, erwähnen jedoch das geänderte Preisverhältnis in einer Anmerkung. Insgesamt gesehen ist eine genaue Wiedergabe des Speiseplans freilich allenfalls für Kulturhistoriker wichtig. Dem Leser muss lediglich gezeigt werden, dass sich der Held des Romans mit einer eintönigen Folge ver‐ hältnismäßig einfacher Gerichte zufriedengeben musste. Die Ritterromane, die einen so verderblichen Einfluss auf die Zurechnungsfähigkeit un‐ seres Helden hatten, bestehen aus einer langen Kette von Bearbeitungen und Fortsetzungen eines Romans, dessen Urfassung um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert erschienen ist: Amadis de Gaula. Es besteht Anlass zu der Vermutung, die durch Verkaufszahlen gestützt wird, dass Don Quijote nicht der einzige war, der sich auf diese Art von Literatur stürzte, aber nur er wurde durch sie ermutigt, den legendären Kampf mit den Windmühlen aufzu‐ nehmen. Auch wenn wir im Allgemeinen Bekanntes zugunsten von weniger Bekanntem zurück‐ stellen wollen - auf den Kampf gegen die Windmühlen völlig zu verzichten, hieße das Bemühen um Originalität übertreiben. Im achten Kapitel des ersten Teils sehen Don Quijote und sein Schildknappe Sancho Panza - sowohl physisch als auch geistig das Gegenstück seines Herrn - dreißig bis vierzig Windmühlen vor sich - zweifellos ein Technologieimport aus den damals von Spanien beherrschten Niederlanden. Don Quijote, dem dergleichen Errungenschaften fremd zu sein scheinen, sieht in ihnen gefährliche Riesen, die ein glück‐ licher Zufall ihm entgegengeschickt hat. Nun kann er zeigen, was für ein Ritter in ihm steckt. Sancho Panza hingegen kann keine Riesen entdecken, er sieht nur Windmühlen: — Mire vuestra merced - respondió Sancho - que aquellos que allí se parecen no son gigantes sino molinos de viento y lo que en ellos parecen brazos son las aspas, que volteadas del viento, hacen andar la piedra del molino. (Cervantes 2004, 128) „Seht doch hin, gnädiger Herr“, sagte Sancho, „daß das, was da steht, keine Riesen, sondern Wind‐ mühlen sind, und was Ihr für die Arme haltet, sind die Flügel, die der Wind umdreht, wodurch der Mühlenstein in Gang gebracht wird.“ (Cervantes/ Tieck 1951, 53) „Bedenket doch, Herr Ritter“, entgegnete Sancho, „die dort sich zeigen sind keine Riesen, sondern Windmühlen, und was Euch bei ihnen wie Arme vorkommt, das sind die Flügel, die vom Winde umgetrieben, den Mühlstein in Bewegung setzen.“ (Cervantes/ Braunfels, 1956, 67 f.) “What giants? ” said Sancho Panza. “Those thou seest there,” answered his master, “with the long arms, and some have them nearly two leagues long.” “Look, your worship,” said Sancho; “what we see there are not giants but windmills, and what seem to be their arms are the sails that turned by the wind make the millstone go.” (Cervantes/ Ormsby 1885, 8. Kap.) „Aber seht doch, Herr“, antwortete Sancho, „was dort erscheint, sind ihre Flügel, die im Wind wirbeln und den Mahlstein bewegen.“ (Cervantes/ Lange 2008 I, 76) 177 9.2 Spanien und die iberische Halbinsel <?page no="178"?> Zwar hat Braunfels (im Gegensatz zu Tieck, der seine begrenzten Kenntnisse des Spani‐ schen offen eingestanden hat) erkannt, dass es sich bei dem que nicht um eine Konjunktion, sondern um eine umgangssprachliche redundante Partikel handelt, jedoch ist es nicht sehr überzeugend, Sancho, dem Mann aus dem Volk, wie im Original eine Partizipialkonstruk‐ tion (volteadas del viento/ vom Winde umgetrieben) in den Mund zu legen. Im Deutschen klingt das im Gegensatz zum Italienischen bei Giannini (le pale che, girate dal vento, …) recht gestelzt. Ormsby, obwohl im Gegensatz zu allen anderen um starke Archaisierung bemüht, verwendet eine ganz natürlich wirkende Konstruktion, ebenso Susanne Lange. Zurück zum Text: Alle Einwände nützen nichts; der Mann aus der Mancha geht zum Angriff über und fordert die teilnahmslosen Mühlen mit gestelzten archaischen Wendungen zum Kampf auf: — Non fuyades, cobardes y viles criaturas, que un solo caballero es que os acomete. (Cervantes 2004, 128) „Entfliehet nicht, ihr feigherzigen und niederträchtigen Kreaturen! Ein einziger Ritter ist es, der Euch die Stirn bietet.“ (Cervantes/ Tieck 1951, 54) „Fliehet nicht, feige niederträchtige Kreaturen; denn ein Ritter allein ist es, der euch angreift“ (Cervantes/ Braunfels 1956, 68) „Entfleucht mir nicht, ihr feigen, schändlichen Kreaturen, ein einzelner Ritter greift euch an“ (Cervantes/ Lange 2008 I, 77) — Non fuggite, gente codarda e vile; che è un cavaliere solo colui che vi assale. (Cervantes/ Giannini 2014, Kap. 8) An dieser Stelle gelingt Tieck mit die Stirn bieten eine unaufdringliche Archaisierung (die zu seiner Zeit möglicherweise keine war). Ormsby macht an dieser Stelle keinen Versuch in diese Richtung, sehr wohl jedoch Giannini, dessen Version von einem modernen Text‐ verarbeitungsprogramm in grammatikalischer Hinsicht beanstandet wird. Am Ende dieser knappen Auswahl von Textstellen soll noch auf einen Passus hinge‐ wiesen werden, der weniger in sprachlicher als in erzähltechnischer Hinsicht bedeutsam ist. Schon am Ende des ersten Kapitels lernen wir eine Aldonza Lorenzo kennen, die Don Quijote, wie einst die Minnesänger, zur „Herrin seiner Gedanken und seiner Seele“ erkoren hat. Er nennt sie Dulcinea del Toboso, weil sie aus Toboso stammt und das Ganze „harmo‐ nisch und ungewöhnlich“ klingt. Schon am Ende des achten Kapitels bricht die Handlung ab, weil die Vorlage, der der Erzähler folgt, mitten in einem spannenden Abenteuer abbricht. Der „zweite Verfasser“ des Romans, mit dem wir es ab dem neunten Kapitel zu tun haben, will sich nach der Lektüre des ersten Teils nicht damit abfinden, dass nirgendwo Dokumente über das weitere Leben dieses außergewöhnlichen Ritters aufzufinden sind. Durch Zufall stößt er auf einen Jungen, der Altpapier verkauft, und entdeckt ein Manuskript in arabischer Schrift. Da er es nicht lesen kann, wendet er sich an einen morisco, einen bekehrten Mauren, der ihm einiges daraus flüssig auf Kastilisch mitteilt. Der Verfasser des Manuskripts ist ein arabischer Geschichtsschreiber namens Cide Hamite Bengeli. Man muss ihn natürlich mit kritischer Distanz lesen, denn die Araber neigen ja bekanntlich zu Verfälschungen und Lügen. Der morisco übersetzt ihm das Skript für einen halben Zentner Rosinen und zwei 178 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="179"?> Scheffeln Weizen. Aber schon bevor er mit der Arbeit angefangen hat, bricht er in Gelächter aus. Im Manuskript hatte er eine Randbemerkung entdeckt: Esta Dulcinea del Toboso, tantas veces en esta historia referida, dicen que tuvo la mejor mano para salar puercos que otra mujer de toda la Mancha. (Cervantes 2004, 135) Diese Dulcinea von Toboso, die so oftmals in dieser Historie genannt wird, hatte nach Berichten von allen Frauenzimmern in la Mancha die glücklichste Hand, Schweinefleisch einzupöckeln. (Cervantes/ Tieck 1951, 62) ‘This Dulcinea del Toboso so often mentioned in this history, had, they say, the best hand of any woman in all La Mancha for salting pigs. (Cervantes/ Ormsby 1885, 9. Kap.) Braunfels hat einsalzen, Lange Schweinepökeln. Drei Probleme, die sich dem Übersetzer des Romans stellen, sollen wenigstens noch ge‐ streift werden: die Wiedergabe der Sprichwörter (refranes), die Sancho ständig in seine Rede einfließen lässt, wofür er von seinem Herrn des öfteren getadelt wird; der Umgang mit den zahlreichen lateinischen Zitaten und schließlich die Ausgestaltung der vielen in den Text eingestreuten Gedichte. Zunächst zu den Sprichwörtern: Don Quijote hat Arkadien für sich entdeckt und möchte auch seinen Begleiter für das Schäferleben gewinnen. Dieser zeigt sich dem einfachen Leben nicht abgeneigt: … quitada la causa se quita el pecado; y ojos que no veen, corazón que no quiebra; y más vale salto de mata que ruego de hombres buenos. — No más refranes, Sancho - dijo Don Quijote - pues cualquiera de los que has dicho basta para dar a entender tu piensamento; y muchas veces te he aconsejado que non seas tan pródigo en refranes […] pero paréceme que es predicar en desierto, y “castígame mi madre, y yo trómpogelas”. — Paréceme - respondió Sancho - que vuesa merced es como los que dicen: “Dijó la sarten a la caldera: Qitate allá ojinegra.” Estáme reprehendiendo que no diga yo refranes, y ensartalos vuesa merced de dos en dos. (Cervantes 2004, 865) Wer nicht in Versuchung geführt wird, kann auch nicht sündigen, und was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, und besser Neid als Mitleid. „Genug der Sprichwörter, Sancho“, sagte Don Quijote, denn jegliches von denen, die du gesagt hast, gibt deine Gedanken zu erkennen; auch habe ich dir schon oft den Rat gegeben, daß du mit Sprichwörtern nicht so freigebig sein sollst […] aber ich glaube, daß ich in der Wüsten predige: der Regen höhlt endlich einen Stein aus, aber wer einen Mohren weiß waschen will, tut töricht“. „Es scheint mir“, antwortete Sancho, „dass auf Euch das paßt; der Topf sagte zum Kessel: fort du Schwarznase. Ihr tadelt mich darum, daß ich Sprichwörter sage, und in dem Augenblicke gehen sie Euch ab.“ (Cervantes/ Tieck 1951, 12. Buch, 2. Kap. = II, 450) … Mais en ôtant la cause, on ôte le péché ; et, si les yeux ne voient pas, le cœur ne se fend pas ; et mieux vaut le saut de la haie que les prières des honnêtes gens. − Trêve de proverbes, Sancho, s’écria don Quichotte ; chacun de ceux que tu as dit suffit pour exprimer ta pensée. Bien des fois je t’ai conseillé de ne pas être si prodigue de proverbes […] Mais il paraît que c’est prêcher dans le désert, et que ma mère me châtie et je fouette ma toupie. 179 9.2 Spanien und die iberische Halbinsel <?page no="180"?> 40 Zur unterschiedlichen Leichtigkeit des Reimens im Italienischen im Gegensatz zum Englischen cf. Levý 1969, 215 ff. − Il paraît aussi, repartit Sancho, que votre Grâce fait comme on dit : « La poêle a dit au chaudron : Ôte-toi de là, noir par le fond. » Vous me reprenez de dire des proverbes, et vous les enfilez deux à deux. (Cervantes/ Viardot 1836/ 37 II, chap. 67) “… ‘do away with the cause, you do away with the sin; ’ ‘if eyes don’t see hearts don’t break’ and ‘better a clear escape than good men’s prayers.”’ “A truce to thy proverbs, Sancho,” exclaimed Don Quixote; “any one of those thou hast uttered would suffice to explain thy meaning; many a time have I recommended thee not to be so lavish with proverbs […]; but it seems to me it is only ‘preaching in the desert; ’ ‘my mother beats me and I go on with my tricks’.” “It seems to me,” said Sancho, “that your worship is like the common saying, ‘Said the frying-pan to the kettle, Get away, black breech.’ You chide me for uttering proverbs and you string them in couples yourself.” (Cervantes/ Ormsby 1885 II, 67. Kap.) Tieck findet mit „Was ich nicht weiß …“ eine schöne deutsche Entsprechung; Braunfels gibt sich Mühe, Wendungen zu erfinden, die wie Sprichwörter aussehen: „… besser ein Busch‐ klepper in Wald und Auen, als auf barmherzige Fürbitter bauen“ (Cervantes/ Braunfels 1956, 1060). Susanne Lange (2008 II, 581) macht daraus etwas, das zur Redensart werden könnte: „… besser fliehen als flehen“. Was nun den Umgang mit den lateinischen Zitaten angeht, so bleiben sie lediglich in den älteren Übersetzungen (auch bei Ormsby) unübersetzt und ohne Kommentar. In der hier verwendeten spanischen Ausgabe (Cervantes 2004), die zum vierhundertsten Jahrestag des Erscheinens des ersten Teils herausgegeben wurde, wird alles in den Fußnoten erklärt und kommentiert. Genauso verfährt Giannini (2014); er korrigiert auch gelegentliche Irrtümer des Autors. Viardot lässt Vieles weg, übersetzt nicht, liefert aber erklärende Anmerkungen, wo es ihm notwendig erscheint. Die Ausgestaltung der zahlreichen eingestreuten Gedichte (häufig Sonette) fällt unter‐ schiedlich aus. Tieck, Braunfels, Giannini und sogar Ormsby 40 bewahren nicht nur das Me‐ trum, sondern so weit wie möglich auch den Reim. Susanne Lange bewahrt das Metrum, nicht jedoch den Reim. Viardot hat sich viele Freiheiten herausgenommen, ohne deshalb eine belle infidèle vorgelegt zu haben. Die meisten Gedichte erscheinen bei ihm als in wört‐ licher Rede gehaltene Prosa. Abschließend lässt sich sagen, dass die Rezeption des Don Quijote in Form von Überset‐ zungen in England und Frankreich viel intensiver ausgefallen ist als im deutschen Sprach‐ raum. Da wir uns in erster Linie an ein deutschsprachiges Publikum wenden, haben wir einigen deutschen Übersetzungen besondere Beachtung geschenkt. Die erste englische Übersetzung des ersten Teil des Romans von Thomas Shelton erschien bereits 1612, also noch zu Cervantes’ Lebzeiten. Der zweite Teil erschien 1620. Es folgten bis 2006 etwa zwanzig weitere Übersetzungen, von denen neben den hier bereits genannten von Ormsby und Samuel Putnam diejenige des Romanciers Tobias Smollett (1755) besondere Aufmerk‐ samkeit gefunden hat. Die französische Übersetzungsgeschichte beginnt mit der sehr text‐ 180 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="181"?> 41 Oudin war königlicher Dolmetscher für Italienisch, Spanisch und Deutsch. 42 Viele Informationen zur frz. Übersetzungsgeschichte verdanken wir der überaus gründlichen, un‐ veröffentlichten Diplomarbeit von Isabel Lienenkämper (Heidelberg 1994). nahen Version des Grammatikers César Oudin 41 , deren erste Auflage 1614, also ebenfalls noch zu Lebzeiten Cervantes’, erschienen ist. Der zweite Teil erschien dann in der Über‐ setzung von François de Rosset 1618. Es folgten acht weniger bekannte Übersetzungen im 17. Jahrhundert. 1677/ 78 erschien die Übersetzung von François Filleau de Saint-Martin, eine typische belle infidèle. Sie wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in etwa achtzig (! ) (z.T. modifizierten) Auflagen in Frankreich und im benachbarten Ausland publiziert. Eine relativ große Verbreitung mit zahlreichen Neuauflagen fanden auch die Übersetzungen von Jean-Pierre Claris de Florian (1799), Henri Bouchon Dubournial (1807) und Stanislas De‐ launay (1821). Besondere Aufmerksamkeit verdient die hier mehrfach herangezogene Über‐ setzung von Louis Viardot (1836/ 37). Viardot war ein Freund Turgenjews und hat mit seiner Hilfe auch indirekte Übersetzungen aus dem Russischen angefertigt. Seine Übersetzung des Don Quijote ist bis weit ins 20. Jh. hinein über vierzig Mal neu aufgelegt worden. Die Über‐ setzung von Xavier de Cardillac und Jean Labarthe (1923-26) wurde bereits erwähnt. Die Aufzählung ist nicht vollständig. Es sei noch erwähnt, dass in Frankreich besonders viele Bearbeitungen des Don Quijote für Kinder und Jugendliche erschienen sind. 42 Die Reihe der deutschen Übersetzungen ist weniger lang als die der englischen und französischen. Sie beginnt etwas später als in den übrigen europäischen Ländern. Die be‐ deutenden späteren Übersetzungen von Ludwig Tieck bis Susanne Lange wurden hier ver‐ hältnismäßig ausführlich vorgestellt. Über weitere Einzelheiten der Übersetzungen der Werke von Cervantes in verschiedene Sprachen informieren die im Literaturverzeichnis aufgeführten Übersetzungsgeschichten und -bibliographien. Auf das ausführliche Nach‐ wort, das Susanne Lange ihrer Übersetzung beigegeben hat, sei hier mit besonderem Nach‐ druck verwiesen. Dort erfährt man alles Wichtige nicht nur über die deutsche, sondern auch über die europäische Rezeptions- und Übersetzungsgeschichte (Lange 2008 II, 710-780; zusätzlich s. García Yebra 1994, 187-215). Was Cervantes’ Novelas ejemplares betrifft, so müssen wir uns hier mit dem Hinweis auf ein inzwischen weithin bekanntes Beispiel begnügen. 1617 brachte Niclas Ulenhart (es sind unterschiedliche Schreibungen seines Namens überliefert) seine Übersetzung der Erzäh‐ lung Rinconete y Cortadillo unter dem Titel Historia von Isaac Winckelfelder und Jobst von der Schneidt heraus. Es handelt sich um eine stark einbürgernde Bearbeitung, wie sie in der Barockzeit üblich war (cf. supra 4.5; Fischarts Bearbeitung von Rabelais). Schon die unauf‐ dringliche Eindeutschung der beiden sprechenden Eigennamen (rincón „Winkel“, cortadillo „kleiner Einschnitt“) zeugt vom Einfallsreichtum des Übersetzers, von dem nicht viel be‐ kannt ist (cf. Hoffmeister 1976; Albrecht 1998, 80). Die Erzählung ist in einem Band zu‐ sammen mit Ulenharts Übersetzung des Lazarillo de Tormes erschienen und wurde somit für die deutschen Leser in den Umkreis des Schelmenromans gerückt. Über den „Übersetzungsimport“ in der Zeit nach den „goldenen Jahrhunderten“ wird im elften Kapitel einiges nachzutragen sein. Das gilt auch für Portugal, dessen Übersetzungs‐ geschichte weit weniger gut erforscht ist als die Spaniens. In Spanien entstehen viele in‐ direkte Übersetzungen über das Französische, auf die im zwölften Kapitel zurückzukommen 181 9.2 Spanien und die iberische Halbinsel <?page no="182"?> sein wird. Der Weg über das Französische wirkt sich auch auf die Form der Übersetzungen aus: French influence was also visible in the common preference for rendering verse as prose. Byron thus entered Castilian from French not as a poet but as a writer of short stories. (Pym 1998, 557) Besondere Beachtung verdient das große Interesse, das ein französischer Autor in Spanien gefunden hat, der sonst etwas im Schatten berühmterer Zeitgenossen stand: François René de Chateaubriand. Sein bedeutendstes Werk, eine Autobiographie mit dem düsteren Titel Mémoires d’outre-tombe (Erinnerungen von jenseits des Grabes), die er bereits in seinen besten Jahren begonnen hatte, erschien schon 1849/ 50, kurz nach seinem Tod und nahezu gleichzeitig mit dem Original, in einer anonymen spanischen Übersetzung in fünf Bänden: Memorias de ultratumba por el vizconde de Chateaubriand. Zu Katalonien, das wir hier notgedrungen stiefmütterlich behandeln mussten, sei noch eine Information hinzugefügt, die von ‚übersetzungspolitischer‘ Bedeutung ist. Im Zuge der Renaissance des Katalanischen, die unter Franco nur unterbrochen, nicht wirklich unter‐ bunden wurde, wurde die Übersetzung von Werken der Weltliteratur aus den verschieden‐ sten Sprachen bewusst mit dem Ziel betrieben, die neue katalanische Literatursprache zu bereichern und auszubauen (cf. Lieber 1992). 9.3 Frankreich Was die historische Entwicklung betrifft, so gibt es zwischen der französischen und der deutschen Literatur eine Parallele: Auf eine glanzvolle mittelalterliche Epoche folgte am Ende des Mittelalters und in der frühen Neuzeit eine Phase des Übergangs, die zumindest aus der Sicht späterer Jahrhunderte, in denen man begann, systematisch Literaturge‐ schichte zu betreiben, auf geringeres Interesse stieß und die für die neuzeitlichen Rezi‐ pienten weniger Glanz zu verbreiten schien als die hochmittelalterliche Zeit. Diese Über‐ gangsphase ist auch in rein sprachlicher Hinsicht markiert: Zwischen Altfranzösisch und Mittelhochdeutsch auf der einen und Neufranzösisch und Neuhochdeutsch auf der anderen Seite besteht ein erheblicher Unterschied, und die Übergangszeit ist von einer vergleichs‐ weise geringen Stabilität der sprachlichen Ist-Norm gekennzeichnet. Spezialisten für das Mittelfranzösische (die Angemessenheit des Terminus ist umstritten) und für das Früh‐ neuhochdeutsche (dieser Terminus ist allgemein anerkannt) mögen dieser Sicht der Dinge, die einer nirgendwo klar artikulierten communis opinio entspricht, entschieden widerspre‐ chen. Wir sehen uns gezwungen, zumindest in diesem Punkt dem mainstream zu folgen und uns auf einige Werke zu konzentrieren, die einem größeren Kreis von literarisch In‐ formierten wenn nicht bekannt, so doch ‚ein Begriff ‘ sind. Der Schwerpunkt unseres Buchs und ebenso des vorliegenden ‚Kernkapitels‘ liegt auf der neueren Literatur, genauer, auf der Literatur, die ein gebildeter Muttersprachler im (gegebenenfalls mit sprachlichen Erläuterungen versehenen) Original lesen kann. In Frank‐ reich gilt dies schon für Rabelais (1494-1553) und Montaigne (1533-1592), in Deutschland erst für die Barockzeit, die sich zeitlich mit dem ‚klassischen‘ französischen Jahrhundert deckt. Dennoch darf die mittelalterliche Epoche nicht völlig übergangen werden. Zwei li‐ 182 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="183"?> 43 Zit. nach der bekannten Ausgabe von Wallensköld (1921). Das Pikardische ist in jüngerer Vergan‐ genheit durch den Film Bienvenu chez les ch’tis bekannt geworden. Einige Eigentümlichkeiten wie z. B. das Ausbleiben der Palatalisierung von c vor a (les cançons) haben sich bis heute gehalten. terarische ‚Exportartikel‘ des mittelalterlichen Frankreichs müssen wenigstens erwähnt werden: die Troubadourgenauer, die Trouvèrelyrik und der roman courtois, der höfische Roman. Über die Zusammenhänge zwischen Troubadourlyrik und Minnesang ist so viel ge‐ schrieben worden, dass eine bloße Zusammenfassung der vorhandenen Literatur auf den Umfang eines Buchs anzuschwellen droht. Wir werden nolens volens die Troubadourlyrik nur am Rande berücksichtigen. Sie ist in altprovenzalischer Sprache (‚politisch korrekter‘: in mittelalterlichem Okzitanisch) verfasst und erst post festum, d. h. nach der Entstehung des französischen Nationalstaates, in die französische Literatur ‚eingemeindet‘ worden. Die Troubadoure haben die romanischen Nachbarvölker, insb. Italien, stark beeinflusst. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass sich in der Divina commedia (Purg. XXVI, 139-148) ein Passus findet, in dem Dante den provenzalischen Dichter Arnaut Daniel zu Wort kommen lässt, nicht in Form eines Zitats, sondern in Form eines dem Troubadour in den Mund gelegten Texts. Der italienische Dichter war also in der Lage, eine Sequenz von acht Versen in der okzitanischen Literatursprache zu verfassen und dabei dem Schema der terza rima (cf. supra) zu folgen. Es gibt ein genuin französisches Analogon zu den trobadors, die nordfranzösischen trou‐ vères. Wenn wir hier kurz auf Conon de Béthune, einen Trouvère aus der Pikardie, eingehen werden, so geschieht dies aus drei Gründen: Anhand eines seiner Lieder lässt sich erkennen, dass es zu seiner Zeit schon so etwas wie eine Ist-Norm für das Altfranzösische gegeben haben muss; darüber hinaus gehört er zu den originellen Dichtern, die sich nicht mit kunst‐ vollen Variationen überlieferter Schemata zufriedengeben, und schließlich hat er am dritten und am vierten Kreuzzug teilgenommen und ist dabei mit Sicherheit mit deutschen Min‐ nesängern in Kontakt getreten. In seinem Lied Mout me semont amors ke je m’envoise (stark mahnt mich die Liebe zur Hingabe) behauptet der Dichter, er werde sich das Singen versagen, da seine pikardische Sprache von den Bewohnern der Ile de France und der Champagne getadelt worden sei, auch von der Gräfin (Marie de Champagne), was ihn besonders bedrücke: Por çou s’ai mis mon chanter en defois; Ke mon langaige ont blasmé li François Et mes cançons, oiant les Champenois Et la Contesse encoir, dont plus me poise. 43 Zur Zeit des pikardischen Dichters waren nicht alle diatopischen Varianten des Französi‐ schen gleichermaßen akzeptabel; es muss (genau wie im Okzitanischen) bereits so etwas wie eine Koine gegeben haben, an die sich zu halten hatte, wer literarisch ernst genommen werden wollte. Dies gilt im Großen und Ganzen auch für das Mittelhochdeutsche, das nicht nur durch altprovenzalische, sondern auch durch altfranzösische Dichter beeinflusst wurde. 183 9.3 Frankreich <?page no="184"?> 44 Unbetontes a erscheint im Pikardischen als e; der weibliche Artikel lautet somit le. 45 Zit. nach der Ausgabe von Wallensköld, cf. n. 1. Eigene Übersetzung. Es gibt ein Lied von Conon de Béthune (Se  44 raige et derverie „ihr wütendes und närrisches Wesen“), in dem sich der Dichter entschieden von seiner Angebeteten lossagt und ihr sein Liebesversprechen feierlich aufkündigt. Wir zitieren hier nur die dritte Strophe, in der die Dame - ein recht ungewöhnliches Motiv - wegen ihrer robusten sexuellen Vorlieben ge‐ tadelt wird: Plus est belle k’imaige Schöner als ein Bild Cele ke je vos di; Ist die, von der ich euch spreche; Mais tant a vil coraige Aber sie hat eine so üble Gesinnung Anuieus et failli Bösartig und hinterhältig K’ele fait tot ausi Dass sie sich verhält Com la leuve sauvaige Wie die wilde Wölfin, Ki de leus d’un boskaige Die von den Wölfen in einem Gehölz Trait le pieur a li. Den schlimmsten zu sich lässt. 45 Hier klingt bereits eine Form von Misogynie an, die im Spätmittelalter weite Verbreitung finden wird, in Deutschland sicherlich später als in Frankreich. Inwieweit französische Vorbilder die Entwicklung in Deutschland beeinflusst haben, bliebe zu untersuchen. Dass Conon de Béthune mit seinen beiden Kreuzfahrerliedern mittelhochdeutsche Dichter wie Albrecht von Johansdorf oder Friedrich von Hausen beeinflusst hat, sowohl was die Texte als auch was die Melodien betrifft, gilt inzwischen als gesichert. Es handelt sich dabei freilich nicht um Übersetzungen im engeren Sinn. Beim roman courtois, dem höfischen Roman, sieht das schon etwas anders aus. Bei dieser Gattung, verkörpert durch Versromane, die von jongleurs (Spielleuten) an Höfen vorge‐ tragen wurden, handelt es sich um den wohl bedeutendsten ‚Exportartikel‘ der französi‐ schen Literatur des Mittelalters. Der bedeutendste Vertreter dieser Gattung, Chrétien de Troyes, ein Protégé der bereits erwähnten Marie de Champagne, hat in stofflicher Hinsicht in großem Umfang auf die sog. matière de Bretagne zurückgegriffen, die durch die Historia regum Britanniae des Geoffrey von Monmouth in Westeuropa verbreitet worden war (cf. supra 5.1). Um einen Eindruck vom Einfluss dieser Versromane auf die benachbarten ro‐ manischen Literaturen zu vermitteln, sei ein weiteres Mal auf Dantes Commedia verwiesen. Die Liebe zwischen Francesca da Rimini und Paolo Malatesta, von der an einer besonders berühmten Stelle die Rede ist (Inferno V, 101 ff.), gelangt bei der gemeinsamen Lektüre des Lancelot zu ihrer verhängnisvollen Erfüllung: „quel giorno qui non vi legemmo avante, an jenem Tag lasen wir darin nicht weiter“, heißt es am Ende der Episode lakonisch. Auf die mittelhochdeutsche Literatur hatte der roman courtois einen noch stärkeren Ein‐ fluss (cf. supra 1.1 und 4.5). Dichter wie Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach haben Bearbeitungen vor allem der Romane Chrétiens vorgelegt, die einem damals üblichen Verfahren folgen: Glanzvoll ausgeführte Passagen des Originals werden oft verhältnismäßig knapp resümierend wiedergegeben, nebensächliche Episoden dagegen nach dem Prinzip der aemulatio (cf. supra) kunstvoll ausgestaltet. In Chrétiens Perceval findet sich eine knappe, poetische Schilderung des missglückten Angriffs eines 184 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="185"?> Falken auf eine Rotte von Wildgänsen, bei der eine der nur leicht verletzten Gänse drei Blutstropfen im Schnee hinterlässt, die dem Protagonisten das Bild seiner fernen Geliebten vor Augen führen. In Wolframs Parzival wird daraus ein Exkurs von über siebzig Versen, voller phantasievoller Ausschmückungen und ironischer Einschübe, in denen der Autor seine eigene Schilderung kommentiert. Inzwischen hat der französische Germanist Michel Huby die Bearbeitungen französi‐ scher Romane durch deutsche Dichter akribisch untersucht (cf. supra 4.5). Nicht immer mit Zustimmung seiner deutschen Kollegen, die ihm vorgeworfen haben, sich allein auf die Form konzentriert und inhaltlich-historische Aspekte außer Acht gelassen zu haben. Für uns ist in diesem Zusammenhang ein Detail interessant: Huby hat nachgewiesen, dass die untersuchten adaptations hin und wieder äußerst wörtlich übersetzte Passagen enthalten. Die deutschen Dichter halten sich dort so nah an den französischen Text, dass man an‐ nehmen muss, sie hätten ein Manuskript vor Augen gehabt. Das Beispiel aus Chrétiens Yvain wurde bereits in Kap. 4.5 wiedergegeben. Aus Gründen der räumlichen Beschränkung sind wir genötigt, einen großen zeitlichen Sprung zu machen. Die neuere, d. h. gebildeten Franzosen einigermaßen im Original zu‐ gängliche Literatur beginnt, wie bereits erwähnt, mit Rabelais und Montaigne. Den ersten wollen wir im Zusammenhang mit dem deutschen ‚Import‘ behandeln; der zweite soll hier knapp als französischer ‚Exportartikel‘ nach Deutschland und England betrachtet werden. Beginnen wir mit der Aufnahme Montaignes in England, wo er beinahe ebenso stark rezi‐ piert wurde wie in Frankreich selbst; seine 1580-1588 publizierten Essais waren dort lange Zeit weitaus präsenter als etwa in Deutschland, Italien oder Spanien. Ähnliches gilt übri‐ gens, dank der Vermittlung des Philosophen Ralph Waldo Emerson, für Amerika (cf. Bout‐ cher 2016, 309). Der französische Englandkenner Pierre Villey konstatiert, Montaigne ge‐ nieße in England einen herausragenden Status unter den französischen Literaten und sei dort bereits als englischer Klassiker kanonisiert: Non seulement l’Angleterre a réservé à Montaigne un accueil qu’il n’a rencontré dans aucun autre pays, mais dans toute notre littérature, souvent si goûtée au delà de la Manche, je ne pense pas qu’un de nos écrivains y ait exercé une influence égale à la sienne. […] Il a eu l’honneur de devenir l’un des classiques de l’Angleterre. (Villey 1913, 116-117) In zeitgenössischen englischen Bibliotheken standen die Essais im französischen Original neben den Übersetzungen, so dass von einer doppelten, anglo-französischen Montaigne-Re‐ zeption die Rede sein kann. Intellektuelle wie Pierre Coste, Charles de Saint-Èvremond und Mathew Prior traten dabei als Kulturmittler auf (cf. Boutcher 2016, 317; 320). Nachdem Pierre Coste den Werken Montaignes in England ebenso zu einiger Bekanntheit verholfen hatte wie jenen des englischen Empiristen John Locke in Frankreich, legte Prior etwa 1721 seinen Dialogue between Mr. John Lock and Seigneur de Montaigne vor. In dem fiktiven Gespräch zwischen den beiden Denkern über die Vorzüge und Schwächen ihrer jeweiligen Werke erscheint Locke als cartesianischer Rationalist aus dem Ausland, wohingegen man Montaigne geradezu für einen pragmatischen Empiristen typisch englischer Prägung halten könnte. Dieser wird so gewissermaßen als englischer Denker ‚eingebürgert‘ (cf. Boutcher 2016, 319). Tatsächlich wurde Montaigne häufig als angelsächsischer Schriftsteller vereinnahmt: Er war zwar kein gebürtiger Engländer, man schrieb ihm aber gern eine aus‐ 185 9.3 Frankreich <?page no="186"?> 46 Michel de Montaigne, The Essayes or Morall, Politike and Millitarie Discourses, trans. John Florio. London: Valentine Simmes for Edward Blount, 1603; vgl. Montaigne 1906. 47 Michel de Montaigne, The Complete Works, ed. William Hazlitt, trans. Charles Cotton. London: J. Templeman, 1842. 48 Die hervorgehobene Stelle wird bei Schmarje 1973, 177 angeführt. geprägte charakterliche ‚Englishness‘ zu. So nimmt es nicht wunder, dass Francis Bacon sich von Montaigne zu seinen Essays (1597) inspirieren ließ, durch die sich die Gattungs‐ bezeichnung Essay im Englischen und in der Folge auch im Deutschen etablieren konnte (cf. Schmid 1998, unpagin.). Während die erste deutsche Übersetzung von Montaignes Essais aber erst Mitte des 18. Jahrhunderts erschien, lag in England bereits 1603, nach sieben oder acht vorangegangenen Versuchen, eine vollständige Fassung aus der Feder von John Florio 46 vor (cf. Boutcher 2016, 309). Florios Übersetzung diente wiederum Shakespeare als Inspirationsquell, der für sein Stück The Tempest (1623) beinahe wörtlich dem Essay „Of the Cannibals“ folgte. Davon zeugt auch das Anagramm Caliban, mit dem Shakespeare die Figur des Sklaven Prosperos benannte (cf. Hamlin 2016, 329). Den Rezeptionskontext dieser Zeit bildete die mehrsprachige literarische Kultur der Re‐ naissance. Montaigne, der noch nicht als explizit französischer Autor kanonisiert war, wurde als eine von vielen fremdsprachigen Stimmen in einem Umfeld von italienischen, französischen und lateinischen Texten wahrgenommen, die alle ähnliche rhetorische Themen behandelten. So präsentierte auch Florio Montaigne zwar ‚in englischem Gewand‘, aber doch als Fremden, „a noble Roman Catholic stranger who is setting up house there with the assistance of the translator and others” (Boutcher 2016, 323). Als hingegen 1842 die von William Hazlitt edierte Gesamtübersetzung 47 herauskam, eine überarbeitete Version von Charles Cottons 1685 erschienener Fassung, war der Hintergrund ein ganz anderer: Es fand eine Rückbesinnung auf den eigenständigen Charakter der englischen Literatur statt, wie ihn William Hazlitt Senior schon 1826 in seiner Abhandlung „On Old English Writers and Speakers“ angestoßen hatte. Montaigne, Rabelais und Molière bescheinigte Hazlitt als Exponenten der ‚alten‘ französischen Literatur eine enge Verwandtschaft mit der engli‐ schen, ja sogar einen genuin englischen Charakter. Mit der Verlegung von Montaignes Complete Works führte sein Sohn William Hazlitt Junior dessen Kanonisierung als engli‐ schen Klassiker konsequent fort (cf. ibid., 325). Entsprechend war auch seine Überarbeitung auf weitgehende sprachliche Anpassung und kulturelle Einbürgerung ausgerichtet (cf. ibid.). Wir wollen uns hier mit einer kleinen Kostprobe begnügen, um einen Eindruck von Florios und Hazlitts Version der Essais zu geben. Die ausgewählte Textstelle zeigt Mon‐ taignes Vorliebe, delikate Überlegungen auf ebenso überraschende wie witzige Weise sprichwörtlich einzukleiden. Im Kapitel 5 des dritten Bandes, der sich mit der Dichtung Vergils befasst, spottet er über die Fähigkeit der Frauen, sich einem Mann körperlich hin‐ zugeben, ohne innerlich ganz bei der Sache zu sein: mille aultres causes que la bienvueillance nous peuvent acquerir cet octroy des dames ; ce n’est suffisant tesmoignage d’affection ; il y peut eschoir de la trahison, comme ailleurs : elles n’y vont par fois que d’une fesse, … (Montaigne 1580/ 1866, 337, unsere Hervorhebung) 48 Die volkstümliche Wendung n’y aller que d’une fesse wird schon im Wörterbuch der ehr‐ würdigen Académie Française in der Bedeutung ‚in einer Sache sehr lasch vorgehen‘ auf‐ 186 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="187"?> 49 Prov., fig. et pop., N’y aller que d’une fesse. Agir mollement dans quelque affaire (Dictionnaire de l’Académie française, 6 e éd. publiée en 1835. Tome 1, Firmin Didot frères, 1835, p. 747, s.v. ‘fesse’). geführt. 49 Montaignes Formulierung reizt zum Lachen, da sie die metaphorische Redensart aufgreift und durch den gegebenen Kontext remotiviert (cf. Schmarje 1973, 177). Florio lässt in seiner erläuternden Übersetzung die Fremdheit des Textes erahnen, indem er die Wen‐ dung in ähnlich derber Form wörtlich wiedergibt und mit dem Einschub as they say auf deren fremde Herkunft hinweist: … they sometime goe but faintlie to worke, and as they say with one buttocke; (Montaigne/ Florio 1603/ 1906, 235-236) Demgegenüber zieht es Hazlitt vor, die Textstelle durch die Verwendung eines geläufigen englischen Idioms (to do things by halves) zu glätten und seiner Fassung so den Anstrich eines Originals zu verleihen: … they sometimes go to it but by halves, … (Montaigne/ Hazlitt 1842/ 1889, 434) Damit geht jedoch einer der entscheidenden Charakterzüge des Textes verloren, Mon‐ taignes Wortwitz, der ihn als Geistesverwandten der ‚alten‘ englischen Literaten ausweist. Wie bereits erwähnt, setzte die deutsche Montaigne-Rezeption sehr viel später ein: Erst 1753-54 lag mit Johann Daniel Tietz’ dreibändiger Fassung die erste vollständige Überset‐ zung vor. Die knappe und direkte Version, nicht frei von Verständnisfehlern und in heute antiquiert wirkendem Deutsch abgefasst (cf. Stackelberg 1997, 207 f.), wurde 1992 bei Dio‐ genes neu aufgelegt. Gute Lesbarkeit, ‚Modernität’ und einen gefälligen Konversationston bescheinigte man hingegen der zweiten deutschen Gesamtübersetzung aus der Feder von Johann Joachim Christoph Bode (cf. Schneiders 1999, 109-114). Sie erschien 1793-1799 in sieben Bänden und blieb bis Ende des 19. Jahrhunderts konkurrenzlos. Die Wirkmächtigkeit dieser Fassung belegen zwei Neuauflagen, die 1908-1911 von Otto Flake und Wilhelm Wei‐ gand besorgte „historisch-kritische Ausgabe“ (cf. Stackelberg 1997, 208) und die von Ralph-Rainer Wuthenow edierte, leicht revidierte Version von 1976. Noch 2002 erschien übrigens im Insel-Verlag eine modern aufbereitete Ausgabe von Bodes Übersetzung unter dem Titel „Montaigne für Gestreßte“. Nach Bodes Fassung musste man bis 1953 auf eine neue Gesamtausgabe warten, die der Schweizer Herbert Lüthy, wenn auch mit einigen Kürzungen, bei Manesse vorlegte (cf. ibid.). Erwähnenswert ist auch Hanno Helblings 1993 verlegte Übersetzung der „Kostproben“ André Gides, eine relativ moderne Version auf der Grundlage des Originals (cf. ibid.). Doch erst die viel beachtete „erste moderne Gesamt‐ übersetzung“ von Hans Stilett, die 1998, nach zehnjähriger Entstehungszeit, in der von Hans Magnus Enzensberger betreuten Anderen Bibliothek des Eichborn Verlags erschienen ist, hat Stackelberg (2013, 166) zufolge einen ‚deutschen Montaigne‘ verfügbar gemacht. Dieser bescheinigt Stilett ein außergewöhnliches Übersetzergeschick, das in der wissenschaftli‐ chen Herangehensweise ebenso zum Ausdruck komme wie in der Originalität und guten Lesbarkeit seiner Übersetzung (cf. ibid., 167). Auch der Rezensent Wilhelm Schmid lobt den eigenwilligen Stil der Neuerscheinung im Deutschlandfunk: So kommt es, daß zum ersten Mal die ganze Wortmächtigkeit und deftige Begrifflichkeit Mon‐ taignes im Deutschen lesbar wird. Die sinnliche Präsenz seines Denkens wird drastisch unterstri‐ 187 9.3 Frankreich <?page no="188"?> 50 Es trägt im Original den Titel „Du démentir“ (Tietz: „Von dem Lügenstrafen“; Bode: „Was folgt, wenn man zu jemand sagt: du lügst“; Stilett: „Wenn man einander des Lügens bezichtigt“). chen durch vulgäre, teils obszöne Schilderungen, die das feinsinnige, sensible Philosophieren kon‐ terkarieren. (Schmid 1998) Besagte sinnliche Dimension seines Werkes wurde weiter oben bereits illustriert. Um die Schwierigkeit der Wiedergabe seines feinsinnigen Philosophierens aufzuzeigen, haben wir abschließend eine Textstelle aus dem 18. Kapitel des zweiten Buches 50 ausgewählt. Darin zeigt sich Montaignes Verständnis der Essais als Versuche, die Wirklichkeit zu treffen, als Erprobung der Urteilsfähigkeit anderen Menschen und vor allem sich selbst gegenüber (cf. Balmer 2016, 52; 87). Wir ziehen zum Vergleich die Fassungen von Tietz, Bode und Stilett heran. Moulant sur moy cette figure, il m’a fallu si souvent me testonner et composer pour m’extraire, que le patron s’en est fermy, et aulcunement formé soy mesme : me peignant pour aultruy, ie me suis peinct en moy, de couleurs plus nettes que n’estoient les miennes premières. Ie n’ay pas plus faict mon livre, que mon livre m’a faict : livre consubstantiel à son aucteur, d’une occupation propre, membre de ma vie, non d’une occupation et fin tierce et estrangiere, comme touts aultres livres. (Montaigne 1865, 521) Durch das Abfassen der Essais schärfe Montaigne also seine Urteilskraft über sich selbst, das Schreiben für andere sei für ihn Mittel zur Selbsterkenntnis, ein Prozess, der die „eigenen Farben“ deutlicher hervortreten lasse. Die Entstehung des Buches und die Herausbildung der eigenen Persönlichkeit bedingten sich gegenseitig, das Buch sei folglich untrennbar mit ihm und seinem Leben verbunden. Betrachten wir nun nur den letzten Satz des Zitats in den drei deutschen Versionen: … Ich habe mein Buch nicht mehr gemacht, als es mich gemacht hat. Es ist ein Werk, das mit seinem Urheber unzertrennlich ist. Es ist nicht eine fremde und gleichgültige Arbeit, wie alle andre Bücher: nein! sie macht einen großen Theil meines Lebens aus, sie ist meiner Natur eigen. (Tietz 1754, 504) … Ich habe mein Buch eben so wenig gemacht, als mein Buch mich gemacht hat: es ist ein Buch, welches gleiches Wesens mit seinem Autor ist; es war eine schickliche Beschäftigung, ist ein Glied meines Lebens; war keine Beschäftigung die auf fremden unbestimmten Zweck abzielte, wie alle anderen Bücher. (Bode 1794, 268) … Ich habe mein Buch nicht mehr gemacht, als es mich gemacht hat: ein Buch, das mit seinem Autor wesensgleich ist, nur mit mir beschäftigt, unabdingbarer Teil meines Lebens und nicht auf außerhalb seiner selbst liegende Ziele gerichtet wie alle Bücher sonst. (Stilett 1998, 330). Zunächst fällt auf, dass nur Stilett die lange Satzperiode des Originals nachbildet, während beide Vorgängerfassungen stärker segmentieren und bemüht sind, die Ellipsen aufzulösen. Bode verkehrt gleich zu Beginn durch die unpassende Negation eben so wenig den Sinn, der doch gerade in der sich wechselseitig bedingenden Entstehung von Buch und Persönlichkeit liegt. Eine Schwierigkeit bildet die Formulierung livre consubstantiel à son aucteur. Sie geht 188 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="189"?> 51 „Credo in unum Deum Patrem omnipotentem … et in unum Dominum Jesum Christum, Filium Dei unigenitum … consubstantialem Patri“ (zit. nach Balmer 2016, 88). 52 Nach der Übersetzung des in der orthodoxen Kirche gebräuchlichen Textes. auf das nicaenische Glaubensbekenntnis 51 zurück, in dem Christus als „eines Wesens mit dem Vater“ 52 beschrieben wird. Ein ähnlicher Ausdruck findet sich denn auch bei Bode und, in leicht abgewandelter Form, bei Stilett, während Tietz’ Übersetzung mit seinem Urheber unzertrennlich rätselhaft bleibt. Der folgende, im Original schwer verständliche Passus er‐ schließt sich besonders gut bei Stilett: Aus der antithetischen Formulierung d’une occupation propre … non d’une occupation et fin tierce et estrangiere geht dort klar Montaignes Zielset‐ zung der Selbsterkenntnis hervor: nur mit mir beschäftigt … und nicht auf außerhalb seiner selbst liegende Ziele gerichtet. Die beiden anderen Übersetzer tun sich da schon schwerer: Bode missversteht das Adjektiv propre und übersetzt eine schickliche Beschäftigung; und beide verfehlen die Bedeutung von tierce in diesem Kontext: Bode spricht kryptisch von einem unbestimmten Zweck, Tietz ebenso nebulös von gleichgültiger Arbeit. Nach diesem Denker der Renaissance beinahe englischer Prägung wollen wir uns nun zwei ‚typisch französischen‘ Klassikern des 17. Jahrhunderts zuwenden, deren Werke es trotz des Ruhmes, den sie sich im eigenen Land erwarben, als ‚Exportartikel‘ auf dem euro‐ päischen ‚Markt‘ besonders schwer hatten: Corneille und Racine. Wir begnügen uns dabei notgedrungen mit einigen Bemerkungen zu deren Rezeption in England, Italien und Deutschland. In seinem Buch The Death of Tragedy resümiert der Schriftsteller George Steiner (1996, 45-46) die Fortune der beiden Klassiker in Europa seit dem 19. Jahrhundert: To an educated Frenchman it is a self-evident truth that Corneille and Racine are among the master poets of the world. […] The alexandrin in which Corneille and Racine wrote their plays has given to French speech some of its strong yet delicate bone structure and to French public life much of its rhetorical cadence. […] But the wine will not travel. Outside France the enjoyment of Corneille and Racine is generally reserved to individual poets and scholars. Le Cid, Horace, Phèdre, or Athalie are performed occasionally, but as museum pieces rather than living theatre. In what foreign li‐ terature has French classicism acted as a shaping force? No body of work of comparable importance and intrinsic splendour has been so parochial in its field of action. This cannot be a matter only of poor translation. Während Corneilles und Racines Stücke durch ihr klassisch gewordenes Versmaß, den Alexandriner, in Frankreich das öffentliche Leben geprägt hätten, würden sie außerhalb Frankreichs wenn überhaupt nur noch als verstaubte Klassiker aufgeführt und hätten auch in der Literatur anderer Länder kaum Wirkung entfaltet. Steiner sieht dies nicht allein in dürftigen Übersetzungen begründet, sondern auch in der französischen Kultur- und Geis‐ tesgeschichte selbst, dem selbstreferentiellen Charakter der französischen Dichtung (cf. ibid., 47): The medium is rigorously pure and abstract, and it has beneath it none of the rich soil of myth and archaic feeling which make Oedipus, King Lear, or Faust resonant beyond their geographic and temporal borders. 189 9.3 Frankreich <?page no="190"?> Die Abstraktheit der französischen Tragödie manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass sich ihre Handlung allein durch die Sprache konstituiert. Es gilt die Maxime, die der Abbé d’Au‐ bignac 1657 in seiner Pratique du théâtre formulierte: Parler, c’est agir (cf. Nebrig 2007, 305). Folgt man George Steiner, so gewinnt die Sprache durch die Nähe von Inhalt und Form eine musikalische Qualität, denn in der Musik sind Inhalt und Form identisch (cf. Steiner 1996, 96). Dem Publikum verlange diese Form des Theaters die Haltung von Konzertbesuchern ab, die in erster Linie zuhören, nicht zuschauen (cf. ibid., 60). Die Sprache ist aber, anders als die Musik (und, bis zu einem gewissen Grad, visuelle Elemente), kein universelles Me‐ dium, sie ist an die Grenzen ihres Gebrauchs gebunden. Für den Übersetzer gilt es also, die Musikalität der Sprache zu wahren, indem er Klang, Takt (das Metrum) und Rhythmus (die natürliche Akzentuierung der sprachlichen Ausgestaltung) als vorrangige Invarianten be‐ handelt (cf. Albrecht 2002, 416). Nur so kann er die Spannung halten, die vor allem in Racines Phèdre durch die Verbindung zwischen starrer klassischer Form und archaischer Urgewalt entsteht: „Rob Phèdre’s incantation of its music (of the speech uniquely appropriate to it) and the rest is mere outcry” (Steiner 1996, 97). Wenn wir Corneille und Racine in einem Atemzug nennen, so soll damit kein ästhetisches Urteil verbunden sein. Wie unterschiedlich der Stil der beiden Dramatiker tatsächlich war, illustriert Steiner mit einem eingängigen Bild: Neben dem eleganten Florett Racines wirke Corneille wie ein massiver Spazierstock (cf. Steiner 1996, 50). Jener stehe für das antike Griechenland, Jehova und den minoischen Sonnengott, dieser für Rom und das historische Drama (cf. ibid., 67; 81). Die geschlossene Form der klassischen Tragödie entsprach gewis‐ sermaßen Racines Naturell, während Corneille erst durch die berühmte Querelle du Cid, die Debatte um den literarischen Wert seines Hauptwerks, vollends zur klassischen Form fand (cf. ibid., 75; 53). Wir wollen uns in der Folge mit Corneilles Cid (1636) und Racines Phèdre (1677) den berühmtesten Werken der beiden Klassiker widmen, auf deren gescheiterte Ka‐ nonisierung in Deutschland später noch zurückzukommen sein wird. In England war es Corneille, der als Erster Aufnahme fand, und zwar auf Betreiben der französischen Ehefrau Charles’ I. Die von Lord Chamberlain veranlasste Cid-Übersetzung Joseph Rutters, die Corneille selbst sehr schätzte, erschien gleichzeitig mit dem französi‐ schen Original im März 1637. Sie hielt sich viele Jahre auf den englischsprachigen Bühnen (cf. Canfield Fisher 1904, 3-6). Dieses frühe Interesse an Corneille nimmt nicht wunder, denn sein handfesteres Temperament kam nach gängiger Auffassung dem rustikalen Typus des Engländers eher entgegen als die erhabene Manier und stilistische Perfektion Racines: His spirit and fire and heroic strength are qualities much more sympathetic to English minds and much more likely to excuse the limitations of French tragedy than Racine’s melting passion, which seems sentimental gallantry to the beef-eating type of Englishman, or his constant elevation of thought and perfection of style, which are monotonous and tiresome to most British taste. (Canfield Fisher 1904, 17) Die völlige Verkennung von Racines Werken mag auch damit zusammenhängen, dass deren Wesen, d. h. die oben beschriebene Musikalität der Sprache und die inhärente Spannung, die Eccles (1922, 29) als “ardour robed in discretion“ beschreibt, sich nur schwer übertragen lässt. So lautete John Drydens apodiktisches Urteil: „no French plays, when translated, have, or ever can succeed on the English stage“ (zit. nach Steiner 1996, 45). Während Dryden 190 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="191"?> Corneille - mit gewissen Vorbehalten - als Dichterkollegen und Theatertheoretiker be‐ wunderte, war Racines Phèdre für ihn nur ein ärgerlicher Versuch der Nachahmung von Euripides’ tragischer Figur (cf. Eccles 1922, 19 ff.). Zu Drydens Zeit setzte in England die eigentliche Rezeption der beiden französischen Klassiker ein: In der Restaurationsepoche, während der Regentschaft Charles II. (1660-1685), wurden Racine und Corneille von einer gebildeten Minderheit direkt im Ori‐ ginal gelesen, während ein breiteres Publikum ihre Stücke auf der Theaterbühne verfolgte (cf. ibid., 1). Nach dieser ersten Phase begann mit der Regentschaft von Queen Anne (1702-1714) eine besonders fruchtbare Periode, die bis in die 1720er Jahre hinein anhielt. Von 1730 bis 1750 kam die Übersetzungstätigkeit dann ganz zum Erliegen und lebte nur mit dem Erfolg von William Whiteheads Tragödie Roman Father (1750) kurz wieder auf. Seit Ende des 18. Jahrhunderts bestand schließlich nurmehr wissenschaftliches Interesse an der Übersetzung der französischen Klassiker (cf. Canfield Fisher 1904, 276). In die Hochphase der Rezeption unter Queen Anne fällt eine Adaption von Racines Phèdre aus der Feder von Edmund Neale, später Smith, der wegen seiner nachlässigen äußeren Erscheinung und Manieren auch als „Captain Rag“ bekannt war. Sein Stück Phaedra and Hippolitus fußt nur zum Teil auf Racines Tragödie, es geht vor allem auf die antiken Quellen Euripides und Seneca zurück (cf. Eccles 1922, 10). Allerdings nahm sich der Übersetzer, wohl aus Rücksicht auf den Geschmack des britischen Publikums, die Freiheit, es mit einem glücklichen Ende zu versehen (cf. Canfield Fisher 1904, 133 f.). Dies ist ebenso wie der ge‐ schwollene, manierierte Stil der Übersetzung symptomatisch für die ‚Korrekturen‘, die Ra‐ cine auf englischen Bühnen salonfähig machen sollten. Smiths Racine „im englischen Ge‐ wand“ fand dennoch beim zeitgenössischen Publikum kaum Anklang. Umso beliebter war er bei den Kritikern, und dies lag nicht zuletzt an deren Abneigung gegen die damals sehr populäre italienische Oper. So schloss Joseph Addison seinen Prolog zu Smiths Übertra‐ gung, in dem er nicht an Spitzen gegen das Musiktheater sparte, mit einer sarkastischen Bemerkung über das englische Publikum, das es wohl vorgezogen hätte, Hippolitus auf Griechisch singen zu hören (cf. ibid., 130 f.): But he, a stranger to your modish way, By your old Rules must stand or fall to-day; And hopes you will your foreign taste command To bear, for once, with what you understand. (zit. nach Canfield Fisher 1904, 131) Mit der Zunahme von Übersetzungen klassischer Tragödien änderte sich allmählich der Zeitgeschmack, so dass Phaedra and Hippolitus mehrere Wiederaufnahmen erlebte (cf. ibid., 138). Auch Corneilles Cid wurde, nach einer unveröffentlichten Übersetzung des Dichters und Geschäftsmannes William Popple (1691), unter Queen Anne für die britische Bühne adaptiert. Der Übersetzer Colley Cibber fühlte sich ebenso bemüßigt, eine nach dem Ge‐ schmack seiner Landsleute „verbesserte“ Version vorzulegen: Seine Heroick Daughter of Ximena wurde im November 1712 uraufgeführt und 1718 mit einigem Erfolg wiederaufge‐ nommen, erschien allerdings erst neun Jahre später im Druck (cf. ibid., 167). Im Vorwort erläutert er wortreich die weitreichenden Texteingriffe, die ihm notwendig erschienen waren: Er erfand kurzerhand einen neuen ersten Akt und stattete das Stück mit einem glücklichen Ende aus, indem er Ximenas Vater wieder auferstehen ließ (cf. ibid., 176 f.). 191 9.3 Frankreich <?page no="192"?> 53 Seine Übersetzung inspirierte übrigens Benjamin Britten zu einer Kantate (Phaedra, 1975). 54 Cid, tradotto dal Dr. Andrea Valfrè di Bora. Carmagnola, 1647. 55 Racine 1906; cf. auch Albrecht 2002, 18. Bleibt zu ergänzen, dass die vorläufig letzte Fassung des Cid 1802 erschien, aus der Feder eines „Gentleman formerly a Captain in the Army“ (cf. ibid., 270). Schließen wollen wir mit einem kuriosen Beispiel einer zeitgenössischen Phèdre-Über‐ setzung, das zeigt, wie auch moderne Übersetzer - besonders, wenn es sich dabei um Dichter handelt - der Anpassung an den vermeintlichen Zeitgeschmack bisweilen dezidiert den Vorrang gegenüber dem ‚Geist‘ des Originals einräumen. Der Amerikaner Robert Lowell, der 1963 eine Neuübersetzung vorlegte, 53 versteht dabei unter Zeitgeschmack insbesondere die gewandelte Einstellung zur Erotik. Zugunsten einer ‚kulturellen‘ Anpassung in diesem Sinne nimmt er Verluste im Hinblick auf Racines Stil bewusst in Kauf (cf. Ricks 1992, 5 f.). Wie sich diese Übersetzungshaltung im Text bemerkbar macht, mögen die Verse illustrieren, die die fünfte Szene des zweiten Akts beschließen. Nach ihrem Liebesgeständnis will sich Phädra vor den Augen Hippolyts mit dessen Schwert durchbohren: Ou si d’un sang trop vil ta main serait trempée, Au défaut de ton bras prête-moi ton épée. Donne. (Phèdre, 2. Akt, 5. Szene) Was bei Racine von erhabener Würde getragen ist, erhält bei Lowell, der mit der Dualität von Eros und Thanatos spielt, eine ebenso rohe wie zweideutige Körperlichkeit (cf. Ricks 1992, 54 f.): Look, this monster, ravenous For her execution, will not flinch. I want your sword’s spasmodic final inch. (Lowell 1963, zit. nach Ricks 1992, 54) Zum Vergleich sei Richard Wilburs Fassung von 1987 angeführt, die eng an Racines Original bleibt und keinerlei erotische Assoziationen weckt: If you’ll not stain your hand with my abhorred And tainted blood, lend me at least your sword, Give it to me! (Wilbur 1987, zit. nach Ricks 1992, 55) In Italien lag der Cid bereits 1647, elf Jahre nach Erscheinen des Originals, in übersetzter Fassung vor, 54 während die Phèdre-Übersetzung gut fünfzig Jahre auf sich warten ließ. 55 Bis zum frühen 18. Jahrhundert versuchten sich vorwiegend anonyme Übersetzer an Prosa‐ fassungen, danach überwogen bis Mitte des Jahrhunderts literarisch anspruchsvollere, dabei aber äußerst wörtliche Versübersetzungen, bevor in einer dritten Phase italienische Literaten die französische Tragödie für sich entdeckten (cf. Schwarze 2011, 1971). Der Dichter Ugo Foscolo beklagt in seinem Aufsatz „Letteratura italiana periodica“ die Schwie‐ rigkeit, den bewusst bilderarmen, farblosen Stil der Franzosen, die ‚klassische Dämpfung‘, mit den freien endecasillabi, den Elfsilbern des italienischen verso sciolto, zu vereinbaren: „è raro che la poesia rimata, quella principalmente de’ Francesi, fornisca il traduttore di tanto colorito e disegno, e di tante immagini che possa essere trasportata nel verso sciolto 192 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="193"?> 56 Zit. nach Piccioni 1899, 118. 57 Il Cidde. Tragedia. In: Tragedie di Pier Cornelio tradotte in versi italiani, con l’originale a fronte per il Signor Giuseppe Baretti, tomo 1. Venezia: appresso Giuseppe Bertella, 1747, 46. Zit. nach Piccioni 1899, 118 (unsere Hervorhebungen). con effetto“ (Foscolo 1882, 473). Dieses rein formale Problem erklärt für ihn die Schwächen von Giuseppe Barettis 1747 publizierter Cid-Übertragung, die er gelinde gesagt als dürftig empfindet (cf. ibid.). Allerdings entschuldigt es nicht die eigenmächtigen Eingriffe des ita‐ lienischen Dichters, die, wie Baretti selbst in seiner Prefazione betont, einen „Mangel an Erhabenheit“ kompensieren sollen (cf. Pöckl/ Pögl 2003, 1379). So ersetzt Baretti den Namen einer der Hauptfiguren, Chimène, aus klanglichen Gründen durch Climene (cf. Piccioni 1899, 117) und bemüht sich auch sonst um einen konventionellen, der italienischen Lite‐ ratursprache angenäherten Stil. Dazu ein Beispiel aus der zweiten Szene des vierten Akts, in der sich der tragische Konflikt anbahnt: Chimène trauert über den Tod des Vaters, der durch die Hand ihres Verlobten Don Rodrigo starb; sie wird ihn töten müssen, um den Vater zu rächen: CHIMÈNE [à l’Infante]: CLIMENE: Prenéz bien plûtòt part à la commune joye, Anzi tu di quel ben, che è del Ciel dono, Et goutéz le bonheur que le ciel vous envoye. Cagion di tanta gioia, esser tu dei, Madame, autre que moi n’a droit de soûpirer ; Infanta, a parte. Alla trista Climene Le péril dont Rodrigue a sçeu nous retirer, Il sospirare, e il pianger sol s’aspetta; Et le salut public que vous rendent ses armes, Fra la gioia comune io sola deggio A moi seule aujourd’hui souffrent encore les larmes : Gli occhi miei tristi abbandonar al pianto, Il a sauvé la Ville, il a servi son Roi, Che di Rodrigo il valoroso braccio, Alla Patria, al suo Re giovevol tanto, Et son bras valeureux n’est funeste qu’à moi. 56 Troppo a me nuoce, e troppo è a me funesto. 57 Bei Corneille ist der Passus in streng klassischem Versmaß abgefasst, sparsame Lexik und formelle Anredeform tragen dem hohen Stilniveau Rechnung. Dagegen ist Baretti bemüht, seinen reimlosen Versen das der klassischen Tragödie wesensfremde „poetisch Mensch‐ liche“, um mit Schiller zu sprechen (cf. infra), gewissermaßen nachträglich beizugeben. Als ‚poetisches Pedal‘ wirken u. a. beinahe pleonastische Zusätze in Form von Adjektiven und Adverbien, Trunkierungen (Ciel; Cagion; pianger; giovevol etc.) und vorangestellte Objekte (del Ciel dono; al suo Re giovevol tanto etc.). Überdies duzt Climene die Infantin, während sie von sich selbst in der dritten Person spricht (Alla trista Climene). Der Umstand, dass Racines Phèdre erst nach gut einem halben Jahrhundert in italieni‐ scher Übersetzung verlegt wurde, mag mit ihrer strengen äußeren Form zusammenhängen, mit der sich das eher an ein rhetorisches Theater gewöhnte italienische Publikum schwertat (cf. Albrecht 2002, 18). Wir werden auf diesen Aspekt weiter unten noch näher eingehen. Erst 1736 legte Luisa Bergalli Gozzi in Venedig im Rahmen ihrer Gesamtübersetzung von Racines Tragödien eine italienische Fassung des Werkes vor. Im 18. Jahrhundert folgten zwei weitere bekannte Versionen aus der Feder von Giacinto Ceruti (Siena 1779) und Fran‐ cesco Albergati Capacelli (Venedig 1793) (cf. ibid.). Für das 19. Jahrhundert seien die Über‐ setzungen von Pietro Napoli-Signorelli (Mailand 1804) und Paolo Maspero (Teatro scelto, 193 9.3 Frankreich <?page no="194"?> 58 Francesco De Sanctis, „La Fedra di Racine“. Rivista Contemporanea 3/ 1856, vol. V, 597-615; neu ab‐ gedruckt in: Scritti vari inediti o rari di F. d. S., raccolti e pubblicati da Benedetto Croce. Vol. 2. Napoli: A. Morano e. f. 1898. 59 Giuseppe Ungaretti, Vita d’un uomo. Traduzioni poetiche: Fedra di Jean Racine. Tomo 10. Milano: Mondadori 1950. Florenz 1858) genannt, ferner Francesco Dall’Ongaros bühnenwirksame Fassung (Paris 1859), die durch die große italienische Racine-Interpretin Adelaide Ristori ein breiteres Publikum erreichte (cf. Neri 1935, unpagin.). Unter den zeitgenössischen italienischen Kri‐ tikern und Intellektuellen stieß das Werk durchaus auf Resonanz. So stellte Francesco De Sanctis in seinem berühmten Aufsatz Racines Tragödie 58 ihrem antiken Vorbild, der Phaidra des Euripides, gegenüber; und auch Alessandro Manzoni setzte sich in seinen ästhetischen Überlegungen immer wieder mit dem Modell der klassischen französischen Tragödie aus‐ einander (cf. ibid.). Für das 20. Jahrhundert schließlich sei stellvertretend auf die Phèdre-Übersetzung des italienischen Dichters Giuseppe Ungaretti (Mailand 1950) ver‐ wiesen. 59 Wie schwer sich das italienische Publikum noch Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Äs‐ thetik der klassischen französischen Tragödie tat, zeigt ein kurioses Beispiel für die Über‐ setzung ‚aus zweiter Hand‘: 1857 erschien in Mantua die Fedra, tragedia di Racine dalla traduzione tedesca di Schiller trasportata verso per verso in italiano da L. Guastalla. Obgleich das Französische einem italienischen Intellektuellen eher geläufig sein dürfte als das Deut‐ sche, stützte sich der Übersetzer für seine Fassung also auf Schillers ‚einbürgernde‘ Über‐ tragung in Blankversen. Sie wird zwar in Deutschland als klassisch empfunden, kam aber dem Formprinzip der Romantik und damit dem zeitgenössischen italienischen Geschmack weitaus eher entgegen als die klassische französische Tragödienform (cf. Albrecht 2002, 18). Dies führt uns zur Aufnahme der beiden Klassiker in Deutschland. Dort hat sicherlich Lessings vernichtendes Urteil in seinem 17. Literaturbrief (1759) zum Scheitern ihrer Ka‐ nonisierung beigetragen, zumal es zu einem Zeitpunkt erfolgte, da noch relativ enge Be‐ ziehungen zwischen beiden Kulturräumen bestanden. Lessing brachte die vorherrschende Meinung seiner Zeit auf den Punkt, betrieb aber zugleich eine gezielte ‚Übersetzungspo‐ litik‘, die die Literaturkritik beeinflusste und die Rezeptionsbereitschaft des deutschen Pub‐ likums dämpfte. Die historische occasione zur Aufnahme der beiden Klassiker in den deut‐ schen Literaturkanon war damit vergeben (cf. infra 12.1 sowie Albrecht 2010, 55). Im Zeitraum zwischen 1770 und 1775 waren Racine und Corneille bei der literarisch interes‐ sierten Jugend nicht sonderlich beliebt und wurden bestenfalls als ‚bejahrt und vornehm‘ empfunden (cf. Albrecht 2010, 55). Die Distanz der beiden Kulturräume nahm im Laufe des 18. Jahrhunderts und bis ins 19. Jahrhundert hinein weiter zu. So fiel die Kritik, die August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Litteratur (1809-1811) an den zwei französischen Klassikern übte, nicht viel moderater aus als Lessings Urteil ein halbes Jahrhundert zuvor (cf. Stackelberg 1997, 71). Für seine 1997 erschienene Sammlung französischer Klassiker in deutscher Übersetzung wählte Jürgen von Stackelberg bezeichnenderweise nicht den Cid aus, sondern zog mit Le Menteur eine der Komödien Corneilles vor. Er begründet seine Wahl mit dem Fehlen einer nennenswerten deutschen Rezeption: 194 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="195"?> 60 Johann Gottfried Herder, Der Cid. Geschichte des Don Ruy Diaz, Grafen von Bivar. Nach spanischen Romanzen besungen Tübingen: Cotta 1805. 61 Le Cid. In: Chefs-d'œuvre de P. Corneille: avec une histoire abrégée du théâtre français, une biographie de l’auteur, et un choix de notes de divers commentateurs. Tours: A. Marne 1870, 113-114. 62 Pierre Corneille: Der Cid. Trauerspiel in 5 Aufzügen. Übersetzt von Malwine Maltzan. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1868 (Reclams Universal-Bibliothek; 487). 63 Vgl. Corneille 1957. Den Cid, den es natürlich auch in deutscher Übersetzung von Arthur Luther bei Reclam zu lesen gibt, hier zu besprechen, wäre bestenfalls eine schulmäßige Pflichtübung: das Stück kann bei uns mit keinem ‚Erwartungshorizont‘ rechnen, der es Anklang finden lassen würde. Da dürften […] auch neue, modernere Übersetzungen nichts helfen. (Stackelberg 1997, 71) Wenn es der Stoff des Cid im Deutschland des 19. Jahrhunderts dennoch zu einiger Be‐ kanntheit gebracht hat, so ist dies vermutlich einer Bearbeitung Johann Gottfried Herders zu verdanken, die sich wohlgemerkt nicht an Corneille, sondern an einer französischen Prosaadaption der spanischen Cid-Romanzen orientiert (cf. Köhler 1867, 6). 60 Kommen wir aber zurück zu der erwähnten Übersetzung von Arthur Luther (1957). Sie behält das Versmaß des Originals weitgehend bei und ist inhaltlich recht frei, im Gegensatz zu der 1868 ebenfalls bei Reclam erschienenen Fassung in Blankversen von Malwine Gräfin Maltzan. Zur Illustration soll ein kurzer Auszug aus dem Monolog der Infantin in der dritten Szene des fünften Akts genügen, in der diese ihrer Trauer über den Verlust Don Rodrigos Ausdruck verleiht: Il est digne de moi, mais il est à Chimène ; Er ist mein würdig, doch gehört Chimenen; Le don que j’en ai fait me nuit. Ich gab ihn, mir zum Unheil, ihr. Entre eux la mort d’un père a si peu mis de haine, Des Vaters Tod schied kaum durch Haß die Beiden, Que le devoir du sang à regret le poursuit : So daß der Tochter Pflicht ungern ihn rächt. Ainsi n’espérons aucun fruit So ist denn Nichts von seiner Schuld De son crime ni de ma peine, Zu hoffen, noch von meinem Gram, Puisque, pour me punir, le destin a permis Da, mir zur Strafe, das Geschick erlaubt, Que l’amour dure même entre deux ennemis. 61 Daß Liebe selbst zwei Feinde dauernd eint. 62 Ja, er ist meiner wert, doch er gehört Chimenen. Der Tod des Vaters trennt sie jetzt, doch stärker als der Haß, als Rachedurst und Tränen wird doch die Liebe sein - und diese siegt zuletzt. So schwer sie auch durch ihn verletzt - wer weiß, wie bald sie sich versöhnen! Denn mich zu strafen, hat das Schicksal so verfügt, daß zwischen Gegnern selbst zuletzt die Liebe siegt. 63 Sieht man von den drei Versen ab, in denen Corneille nicht dem klassischen Alexandriner folgt und die von beiden Übersetzern metrisch nachgebildet werden, erlaubt die im 19. Jahrhundert übliche Wiedergabe in Blankversen Malwine Gräfin Maltzan eine wesentlich engere Orientierung am Wortlaut des Originals, als dies durch die metrisch strenge Form 195 9.3 Frankreich <?page no="196"?> der gereimten Alexandriner möglich ist. Arthur Luther gelingt es durch die Nachbildung von Takt und Rhythmus der französischen Versform hingegen leichter, die charakteristische Musikalität des Passus einzufangen. Er trifft damit möglicherweise besser den Geist der klassischen Tragikomödie, die in erster Linie von der sprachlich-formalen Einkleidung als bekannt vorausgesetzter Stoffe lebt (cf. Albrecht 2002a, 410). Das Dilemma zwischen metrischer Form und poetischem Gehalt, das in Deutschland durch die um 1800 einsetzende ‚frankophobe Übersetzungspolitik‘ (cf. Albrecht 2002a, 409) besonders akut war, tritt angesichts des ‚eleganten Floretts‘ Racines noch ungleich stärker zutage. Die archaische Kraft von Racines Tragödien, die in der Phaedra ihren Zenit erreicht, lebt für Steiner (1996, 81) von der extremen Spannung zwischen der rationalen äußeren Form und dem irrational-dämonischen Charakter der Fabel: Racine poured molten metal into his unbending forms. At every moment, one expects the structure to yield under stress, but it holds, and this expectation is itself conductive to excitement. (ibid., 80) Die feste äußere Form der Klassik, die konstitutiv für dieses Spannungsverhältnis ist, traf mit dem inneren, organischen Formprinzip der Romantik auf ihren Gegenpart, was sich in einem Wandel der vorherrschenden Übersetzungshaltung manifestierte. Nach 1770 bestand also nicht mehr zwangsläufig eine konzeptionelle Ähnlichkeit zwischen Racines Tragödien und ihren deutschen Übersetzungen (cf. Nebrig 2007, 342 f.). So legte auch Schiller 1805, in seinem letzten Lebensjahr, eine u. a. in formaler Hinsicht ‚einbürgernde‘ Phèdre-Übertra‐ gung in Blankversen vor, die zwar das Interesse des Bildungsbürgertums weckte und eine Publikationswelle von reinen Lesefassungen des Stücks auslöste, der es aber gerade darum nicht gelang, Spannung und Musikalität des Originals zu erhalten (cf. Steiner 1996, 96 f.). Dabei war Schiller die Problematik sehr wohl bewusst. Am 15.10.1799 schrieb er an Goethe: Wenn man in der Übersetzung […] die Manier [i.e. Metrum und Reimschema] zerstört, so bleibt zu wenig poetisch Menschliches übrig, und behält man die Manier bei und sucht die Vorzüge derselben auch in der Übersetzung geltend zu machen, so wird man das Publikum verscheuchen. (zit. nach Albrecht 2002a, 409) An den Schwierigkeiten der deutschen Übersetzer, sich die Feinheit, die élégance de l’ex‐ pression der Sprache Racines anzueignen (cf. Nebrig 2007, 345), zeigt sich aber auch, dass die damalige Literatursprache für die Übertragung der poèmes sur scène der klassischen französischen Tragödie noch nicht ‚reif ‘ genug war (cf. Albrecht 2010, 57). Der scheinbar schmucklose Stil, auch ‚klassische Dämpfung‘ genannt, die abstrakte, reduzierte Lexik, das Spiel mit lexikalischen ‚Isotopien‘, der unvermittelte Übergang vom Sie zum Du und die ‚verdichtete‘ Syntax, mit denen Racine seine Stoffe sprachlich ‚einkleidet‘, sind nur einige der Hürden, die ein Racine-Übersetzer zu überwinden hatte (cf. Albrecht 2002, 20 ff.). Diese Hürden konnten auch in späteren Jahrhunderten nicht gänzlich überwunden werden. So wurde die wirkmächtige Übersetzung Schillers trotz ihrer Schwächen in der Folge immer wieder neu aufgelegt und spielte eine so gewichtige Rolle, dass spätere Kon‐ kurrenzfassungen des 20. Jahrhunderts, wie die von Wilhelm Willige (1938-39) oder Rudolf Alexander Schröder (1958), kaum Beachtung fanden (cf. Stackelberg 1997, 252). 1986 legte 196 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="197"?> 64 Werles Racine-Übersetzungen von 1986 und 1987 sind preisgekrönt (cf. Stackelberg 2013, 207). Für seine Phädra erhielt er den Celan-Preis. 2017 wurde er überdies für seine Neuübersetzung von Bau‐ delaires Gedichtzyklus Les fleurs du mal mit dem Eugen Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet (vgl. die Meldung des Rowohlt-Verlags: www.rowohlt.de/ news/ eugen-helmle-uebersetzerpreis-2017-fuer -simon-werle.html). dann der Schriftsteller Simon Werle 64 im Frankfurter „Verlag der Autoren“ eine hoch gelobte Neuübersetzung vor, deren Verdienst nicht von der Hand zu weisen ist. Vor allem gelang ihm die Entwicklung eines deutschen Verses für den klassischen französischen Alexandriner, der Racine und Corneille nicht nur auf deutschen Bühnen spielbar machte. Er ähnelt dem Blankvers, der bei Werle allerdings einmal mehr, einmal weniger als fünf Jamben auf‐ weist (cf. Stackelberg 2013, 207). Der Verzicht auf den Reim ermöglichte es ihm, sein Au‐ genmerk stärker auf inhaltliche Genauigkeit und die Berücksichtigung klanglicher Quali‐ täten zu legen. Er bildete Racines ‚hohen Stil‘ nach, ohne jedoch den Eindruck zu erwecken, es handle sich um ein Originalwerk der Antike (cf. ibid.). Stackelberg (1997, 254) spricht gar von einem „Glücksfall der deutschen Übersetzungsgeschichte“ und ist überzeugt: „Wie zuvor jeder Phädra-Übersetzer sich an Schiller messen lassen mußte, so nun an Werle“ (ibid.). Aber auch diese Übersetzung ist letztlich Episode geblieben und führte nicht zur Entstehung eines ‚deutschen Racine‘ - der historisch günstige Zeitpunkt dazu war verpasst und die ‚occasione‘ damit vergeben (cf. Stackelberg 1997, 252; Albrecht 2010, 57). Abschließend wollen wir den Umgang einiger Übersetzer aus verschiedenen Sprach‐ räumen mit den geschilderten Schwierigkeiten von Racines Tragödie anhand zweier Text‐ beispiele illustrieren. In beiden erweist sich die Sprache als verräterisch, denn Phädra gibt durch sie unwillkürlich ihre nicht statthafte Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolyt zu erkennen. Wir beginnen mit dem ersten Auftritt Phädras, in dem sich die Königin, niedergedrückt durch ihre seelische Last, auf einen Stuhl setzt - ein vielsagender Verstoß gegen die Regeln der klassischen Tragödie (cf. Steiner 1996, 88). In diesem Moment der Schwäche erliegt ihr Geist dem Druck der sich körperlich manifestierenden Seelenqual, und sie handelt gegen die Würde ihres Ranges. Oder, um mit Steiner (1996, 88) zu sprechen: „When Phèdre sits down she lets slip the reins of reason“: Phèdre. Que ces vains ornements, que ces voiles me pèsent ! Quelle importune main, en formant tous ces nœuds, A pris soin sur mon front d’assembler mes cheveux ? Tout m’afflige et me nuit, et conspire à me nuire. (Phèdre, 1. Akt, 3. Szene) In ihrer Rede von dem „eitlen Zierrat“ und den „Schleiern“, die ihr zur Last geworden sind, liegt ein verräterisches Paradoxon, in dem sich ihre Liebesqual Bahn bricht. Die Sprache vermittelt hier aber nicht nur eine versteckte Botschaft, „sie verselbständigt sich und singt, sie will gehört und nicht nur verstanden werden“ (Stackelberg 2013, 206). Einen Ein‐ druck davon vermittelt besonders der letzte, für seinen Klang berühmte Vers Tout m’afflige et me nuit, et conspire à me nuire (cf. ibid.). Die Übersetzer dieses Passus hatten also einige Klippen zu umschiffen. Ob dies immer gelungen ist, mögen einige deutsche, englische und italienische Beispiele zeigen: 197 9.3 Frankreich <?page no="198"?> Wie diese schweren Hüllen auf mir lasten, Der eitle Prunk! Welch ungebetne Hand Hat diese Zöpfe künstlich mir geflochten, Mit undankbarer Mühe mir das Haar Um meine Stirn geordnet? Muß sich Alles Verschwören, mich zu kränken, mich zu quälen? (Schiller 1805/ 1838) Ah, how these cumbrous gauds, These veils oppress me! What officious hand Has tied these knots, and gather’d o’er my brow These clustering coils? How all conspires to add To my distress! (Boswell 1909-1914) Questi vani ornamenti, Questi veli mi pesano Quale mano importuna, Con tutti questi nodi, M’ha ammucchiato i capelli sulla fronte? Tutto m’affligge, tutto Mi nuoce, mi danneggia. (Ungaretti 1950) Diese Perlen, diese Schleier sind mir so zur Last! Und wessen ungebetne Hand hat mir das Haar in Locken um die müde Stirn gelegt? Alles ist mir Ärgernis, alles will mich quälen. (Werle 1986) Es ist nicht verwunderlich, dass gerade bei Schiller und Ungaretti die lyrische Qualität des letzten Verses erkennbar durchscheint, während Robert Bruce Boswells Enjambement und Simon Werles Rhythmisierung durch syntaktischen Parallelismus die Klangmelodie gänz‐ lich verstummen lassen. Die versteckte sprachliche Botschaft allerdings geht bei Schiller mit der Auflösung des Paradoxons verloren: Es sind nicht mehr zarte Schleier, sondern schwere Hüllen, die Phädras Haupt drücken (cf. Stackelberg 1997, 253). Ähnlich verfährt gut ein Jahrhundert später der englische Übersetzer, der zwar die Schleier beibehält, mit dem „hinderlichen Tand“, den cumbrous gauds, aber ebenso den Aspekt des Schwerfälligen be‐ tont. Ungaretti und der modernere Übersetzer Werle wissen hingegen sehr wohl um die Bedeutung des Racineschen Verses; der zuerst Genannte hat es hier aufgrund der sprach‐ lichen Nähe des Italienischen leichter, nahe an der Wortwahl des Originals zu bleiben, aber auch Werle weiß mit seiner Übertragung Perlen und Schleier dessen Geist zu wahren. Kommen wir zu dem zweiten Textbeispiel, in dem allein im unvermittelten Wechsel der Anredeform Phädras mühsam unterdrückte Leidenschaft zutage tritt (cf. Albrecht 2013, 196): Et sur quoi jugez-vous que j’en perds la mémoire, Prince? Aurai-je perdu tout le soin de ma gloire? […] Ah! Cruel tu m’as trop entendue Je t’en ai dit assez pour te tirer d’erreur. (Phèdre, 2. Akt, 5. Szene) Der brüske Übergang vom förmlichen vous zum vertrauten tu wird durch die Doppeldeu‐ tigkeit des Verbs entendre, das sowohl „Gehör schenken“ als auch „verstehen“ bedeuten kann, noch verstärkt. Naturgemäß bereitet diese Form der Vermittlung von Bedeutung be‐ 198 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="199"?> 65 Ähnlich argumentierte Johann Christoph Gottsched 1732 in der Vorrede zu seiner Übersetzung von Racines Iphigénie (cf. Albrecht 2013, 196). sonders den englischen Übersetzern Probleme. Steiner (1996, 104) schlägt für deren Lösung einen Wechsel der ‚Tonart‘ vor: „The only counterpart is the way in which a change of key can alter the entire direction of a piece of music“. Der frühe englische Übersetzer Boswell scheint bereits eine ähnliche Strategie verfolgt zu haben, denn während er für die ersten beiden Verse ein gehobenes Register wählt (auch dies im Übrigen eine musikalische Meta‐ pher), wechselt er in den drei folgenden in ein eher ungezwungenes Englisch: Why should you fancy I have lost remembrance Thereof, and am regardless of mine honour? […] Ah! cruel Prince, too well You understood me. I have said enough To save you from mistake. (Boswell 1909-1914) Steiner selbst wählt in seinem Buch The Death of Tragedy einen anderen Weg, indem er auf den historischen Gebrauch der Anredepronomen zurückgeht. Der Wechsel von dem aus der zweiten Person Plural hervorgegangenen pluralis reverentiae you zu der informellen Singularform thou, die ursprünglich eine stark affektive Konnotation besaß, verleiht Steiners Version zwar einen archaisierenden Anstrich, lässt aber den abrupten Übergang umso deutlicher hervortreten: And what ground have you to suppose that I forget it, Prince? Could it be that I have abandoned all regard for my place and renown? […] Ah, cruel one! thou hast understood me all too clearly. I have told thee enough to dispel thy error. (Steiner 1996) Für die romanischen und deutschen Übersetzer gibt es diese rein sprachliche Hürde nicht; so ist die Wahl der Anredepronomen Ausdruck einer bewussten Entscheidung: E su che giudicate che ne perdo memoria? […] Ah! Crudele, m’hai capita benissimo. (Ungaretti 1950) Wie kannst du sagen, daß ich das vergaß? […] Grausamer, du verstandst mich nur zu gut (Schiller 1805/ 1838) Was läßt Euch glauben, Prinz, ich wüßte es nicht mehr? […] Grausamer, du hast mich nur zu gut verstanden. (Werle 1986) Ungaretti wechselt von der älteren pluralischen Höflichkeitsform voi zum vertrauten tu, während Schiller bewusst auf die formelle Anrede verzichtet - wohl um Racines Phädra wieder ihrem edlen griechischen Vorbild anzunähern (cf. Albrecht 2013, 196). 65 Der stilis‐ tische Effekt geht damit natürlich verloren. Simon Werle hingegen nutzt, vermutlich ge‐ stützt auf die 1939 erschienene ‚verfremdende‘ Übersetzung von Wilhelm Willige (cf. Main‐ 199 9.3 Frankreich <?page no="200"?> gueneau 2000, 28), die Möglichkeiten des Deutschen und verfährt damit ähnlich wie Ungaretti im Italienischen. Ein Literat, der für den berühmten ‚esprit français‘ nicht weniger typisch ist als die beiden soeben behandelten, ist François Marie Arouet, besser bekannt unter seinem nom de plume Voltaire. In Deutschland ist er der meistübersetzte französische Autor; sein erfolgreichster ‚philosophischer Roman‘ Candide wurde seit dem anonymen Erscheinen 1759 in Genf min‐ destens 24-mal ins Deutsche übersetzt (cf. Albrecht 2002, 17; Nies 2009, 102). Zur Popularität des Romans trug sicherlich die Tatsache bei, dass er in Genf selbst und in Paris umgehend verboten wurde. Voltaire übt nämlich mit dieser Parodie des beliebten Reise- und Aben‐ teuerromans in gewohnt skeptizistischer Manier Kritik an der optimistischen Lehre Leib‐ nizens. Gegenstand seines Spotts ist vor allem Leibniz’ Formel von ‚der besten aller mög‐ lichen Welten‘, die er mithilfe seines Grundprinzips der ‚kontrafaktischen Ironie‘ ad absurdum führt: Er färbt die fiktive Welt schwarz und kontrastiert sie mit der ‚rosa Philo‐ sophie‘ seines naiven Helden (cf. Stackelberg 2010, 11). Das rasante Erzähltempo, das „Pres‐ tissimo seines Stils“, wie Stackelberg (2013, 236) es fasst, machen den Roman ebenso un‐ verwechselbar wie sein nüchterner, sarkastischer Grundton (cf. Stackelberg 1997, 295; idem 2010, 10). In Deutschland war es Voltaires Gönner, der Preußenkönig Friedrich II., der den Candide als Erster, noch im Jahr seines Erscheinens, zur Lektüre erhielt. Er las ihn angeblich sie‐ benmal, zur moralischen Stärkung im Feld zwischen den Schlachten (cf. Stackelberg 2006, 108). Die erste deutsche Übersetzung von Johann Albrecht Philippi erschien 1776, gefolgt von zahlreichen Neuübersetzungen oder Neuauflagen älterer Fassungen (cf. Stackelberg 1997, 294); noch heute befinden sich vier oder fünf Neuübersetzungen auf dem Buchmarkt (cf. Stackelberg 2013, 231). Wir können hier nur einen Passus aus dem ersten Kapitel des Candide in zwei deutschen Übersetzung anführen, in dem das Hauptmotiv des Romans, die Verspottung des Leibnizschen Konzepts „der besten aller möglichen Welten“, zum ersten Mal anklingt: Il est démontré, disait-il [Pangloss], que les choses ne peuvent être autrement : car tout étant fait pour une fin, tout est nécessairement pour la meilleure fin. Remarquez bien que les nez ont été faits pour porter des lunettes ; aussi avons-nous des lunettes. Les jambes sont visiblement instituées pour être chaussées, et nous avons des chausses […] les cochons étant faits pour être mangés, nous mangeons du porc toute l’année. Par conséquent, ceux qui ont avancé que tout est bien ont dit une sottise : il fallait dire que tout est aux mieux. (Voltaire/ Bénac 1960, 138) „Es ist erwiesen“, pflegte er zu sagen, „daß die Dinge gar nicht anders sein können, als sie sind. Denn sintemal alles zu einem ganz bestimmten Zweck geschaffen ist, so ist alles notwendigerweise zum allerbesten Zweck erschaffen. Merkt also wohl auf: die Nasen sind zum Brillentragen da, und so tragen wir denn Brillen. Offensichtlich sind die Beine dazu geschaffen, daß man Strümpfe, Schuhe und Hosen daran trägt, und somit haben wir Schuhe, Strümpfe und Hosen an. […] Und dieweil die Schweine dazu gemacht sind, daß man sie aufißt, so essen wir auch Schweinefleisch jahraus, jahrein. Demzufolge sind alle, die behaupten, alles sei hienieden vortrefflich eingerichtet, samt und sonders Dummköpfe. Sie hätten nämlich sagen müssen, alles sei aufs allervortrefflichste bestellt.“ (Voltaire/ Widmer 1969/ 1980, 8) 200 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="201"?> 66 Candid; or, All for the Best. Translated from the French of M. de Voltaire. London: J. Nourse, 1759. Candidus: or, The Optimist. Mr. de Voltaire. Translated into English by W. Rider. Dublin: James Horey, jr. and William Smith, jun., 1759. Der Basler Übersetzer Walter Widmer, den Stackelberg (1986) als „marktbeherrschende[n] Schulmeister“ apostrophiert, schadet Voltaires durch Knappheit und syntaktische Paralle‐ lismen erzieltem Witz durch seine ausgeprägte Tendenz zum Ausschmücken und Expli‐ zieren. So ergänzt er die chausses ordnungsgemäß zu Schuhe, Strümpfe und Hosen und spart nicht mit Zwillingsformeln wie jahraus, jahrein oder samt und sonders. Archaismen wie sintemal oder hienieden vertragen sich ebenso wenig mit Voltaires modernem Stil. Aber vor allem der Verweis auf Leibniz’ „beste aller möglichen Welten“ wird durch seine Formulie‐ rung alles sei aufs allervortrefflichste bestellt verdunkelt. Stackelberg selbst legte 1987 eine Neuübersetzung vor, die Voltaires Stil in dieser Hinsicht eher Rechnung trägt: „Es ist erwiesen“, sagte er, „daß die Dinge nicht anders sein können, denn da alles für einen Zweck bestimmt ist, ist alles notwendigerweise für den besten Zweck bestimmt. Beachten Sie, daß die Nasen dazu gemacht sind, Brillen zu tragen; daher haben wir auch Brillen. Die Beine sind sichtlich dazu bestimmt, behost zu werden; daher haben wir auch Hosen. […] und da die Schweine zum Essen gemacht sind, essen wir das ganze Jahr über Schweinefleisch. Folglich haben die, die gesagt haben, alles sei gut, eine Dummheit gesagt: Daß alles zum Besten steht, hätten sie sagen müssen.“ (Voltaire/ Stackelberg 1987/ 2007, 10) Der Bezug zu Deutschland ist im Übrigen bereits im Werk selbst angelegt. Im Titel des Romans, den er am kurpfälzischen Hof in Schwetzingen niederschrieb, gibt sich Voltaire als Übersetzer aus dem Deutschen aus: Candide, ou l’optimisme, traduit de l’allemand de Mr. le docteur Ralph. In der Anlage der Romanfiguren spiegeln sich zahlreiche Stereotypen über die Deutschen. Und selbst das Wort optimisme fand erst durch die Rezeption von Leibnizens Philosophie Eingang in die französische Sprache (cf. Plack 2015a, 9). Obgleich Goethe Voltaire als den französischsten aller französischen Schriftsteller em‐ pfand, ist dessen Affinität zu England nicht von der Hand zu weisen. Stackelberg (2010, 12) betont: Die Form seiner Werke war französisch, sie war klassizistisch und vom Rokoko der Régencezeit geprägt, aber der Inhalt, deren ideelle Prägung kann beinahe das Paradox rechtfertigen, Voltaire einen ‚englischen Autor‘ zu nennen. Vor allem Voltaires freundschaftliche Beziehungen zu Pope und Jonathan Swift machen sich im Candide bemerkbar: Die Form des satirischen Romans stammt von Swift, das Thema des Optimismus ist von Pope angeregt. Und auch seine Kritik an Leibnizens Theodizee, die auf einer Ablehnung jeglicher Form von ‚Systemdenken‘ beruht, geht auf einen Engländer zurück, nämlich auf Newtons empirisch-naturwissenschaftliche Weltsicht (cf. infra). Ferner haben für die Eldorado-Bewohner in Kapitel 17 wohl die englischen Quäker Pate gestanden (cf. ibid., 15 ff.). So ist es nicht verwunderlich, dass Voltaire in England z.T. bereits zu Leb‐ zeiten sehr häufig übersetzt wurde (cf. France 2005b) und dass gerade der Candide eine Sonderstellung unter den im Vergleich zu seinen Dramen wenig rezipierten philosophi‐ schen Romanen einnahm. Noch im Jahr seines Erscheinens wurde er zweimal übersetzt; 66 201 9.3 Frankreich <?page no="202"?> 67 Diese in einer angesehenen Taschenbuchreihe für Klassiker abgedruckte Version enthält nicht den geringsten Hinweis auf den Übersetzer. 68 Es handelt sich um eine Prosafassung, die unter dem Kürzel A.C. erschien, und eine in Versen ab‐ gefasste Übersetzung, die Gaetano Marré zugeschrieben wird (cf. Rotta 1970, 416). 69 Auch in Deutschland gab es im Übrigen ähnliche Bestrebungen, wie den 1798 erschienenen, nur in Fragmenten erhaltenen Anti-Candide aus der Feder von Justus Möser, der freilich einen etwas ‚ge‐ mäßigteren‘, pragmatischeren Standpunkt einnimmt (cf. Woesler 2008, 309-317). beide Fassungen wurden mehrfach wiederaufgelegt, manchmal sogar versehen mit einem hinzuerfundenen zweiten Teil. Dennoch reichten die Übersetzer nicht an den geistreichen Stil des Originals heran (cf. France 2005b, 385). Wir wollen uns hier darauf beschränken, die oben angeführte Stelle in der Übersetzung des Edinburgher Anglisten John Butt aus dem Jahr 1947 zu zitieren, die großen Anklang gefunden zu haben scheint: It is demonstrable, Pangloss would say, that things cannot be other than they are. For, since everything is made for a purpose, everything must be for the best possible purpose. Noses, you observe, were made to support spectacles: consequently, we have spectacles. Legs, it is plain, were created to wear breeches, and are supplied with them. […] Pigs were made to be eaten; so we eat pork all the year round. It follows that those who say that everything is good are talking foolishly; what they should say is that everything is for the best. (Voltaire/ Butt 1947, 2) 67 Nicht umsonst wurde diese Übersetzung für ihre „readability“ gelobt; sie expliziert sehr behutsam einige Stellen des Originals. In Russland wirkte Voltaire während der Regentschaft Katharina der Großen, mit der er eine rege Korrespondenz führte, als Wegbereiter der Toleranz (cf. infra Kap. 11 sowie Sta‐ ckelberg 2006, 119). Seit den 1760er Jahren waren seine Werke dort so beliebt, dass rund sechzig von ihnen ins Russische übersetzt wurden. Die Sich um Übersetzung ausländischer Bücher bemühende Gesellschaft brachte 1769 eine Übersetzung des Candide von Semen S. Bašilov heraus, die in zwanzig Jahren vier Auflagen erlebte (cf. Danilevskij 2011, 2060). Diese Übersetzung inspirierte vermutlich Dostojewskij, der sie in seinem Roman Die Brüder Karamazov erwähnt, zu seinem nie verwirklichten Vorhaben, einen ‚russischen Candide‘ zu schreiben (cf. Rammelmeyer 2000, 147). In Italien lag das aufklärerische Werk zwar bereits 1759, im Jahr seiner Publikation, in einer sehr getreuen Übersetzung vor; bezeichnend ist aber, dass sowohl diese als auch die beiden 1797 im schweizerischen Lugano und in Genua publizierten Fassungen im Schutz der Anonymität erschienen sind (cf. Rotta 1970, 399; 416). 68 Dies ist sicherlich nicht zuletzt dem Einfluss der katholischen Kirche zuzuschreiben, der im damaligen Italien sehr stark war. Der ‚philosophische Roman‘ wurde von der Kirche als Bedrohung der herrschenden Moralvorstellungen wahrgenommen; so erklärt sich das Aufkommen von Büchern, die sich gegen die aufklärerischen Ideen Voltaires wandten, wie etwa der 1781 - ebenfalls anonym unter dem Anagramm „ELRIVTAO“ abgedruckte - Anti-Candido, o sia l’amico della verità (Delpiano 2018, unpagin.). 69 In neuerer Zeit veranlasste der Candide übrigens den Schrift‐ steller Leonardo Sciascia zu einer literarischen Hommage: Die Reise des Romanhelden, gewissermaßen ein moderner Don Quijote, in seinem Candido ovvero un sogno fatto in Sicilia (1977) lässt er am Fuße der Voltaire-Statue in Paris enden (cf. Farrell 2007, 1707). 202 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="203"?> 70 „Fils et frère de médecins distingués, M. Gustave Flaubert tient la plume comme d’autres le scalpel“ (Sainte-Beuve im Moniteur Universel vom 4. Mai 1857). 71 Émile Zola, Le Messager de l’Europe, novembre 1875. 72 Einen Vergleich der drei genannten Übersetzungen nimmt Stackelberg (1997, 97-104) vor. Was den ‚Export‘ betrifft, bleibt noch ein Roman aus dem 19. Jahrhundert zu behandeln, der als der klassischste unter den ‚Klassikern‘ des französischen Romans gelten kann: Flau‐ berts Madame Bovary (1857) (cf. Stackelberg 1997, 97). Ist Voltaire der Inbegriff des fran‐ zösischen esprit, so steht Flaubert für die impassibilité, den leidenschaftslosen Erzählstil (cf. ibid.), der Sainte-Beuve zu dem Bonmot veranlasste, Flaubert führe die Feder wie andere das Skalpell. 70 Émile Zola beschrieb den Roman 1875 als das Modell eines ganzen Genres, dessen Stil, etwa durch neuartige Techniken wie die ‚erlebte Rede‘, Maßstäbe setze: Quand Madame Bovary parut, il y eut toute une évolution littéraire. Il sembla que la formule du roman moderne, éparse dans l’œuvre colossale de Balzac, venait d’être réduite et clairement énoncée dans les quatre cents pages d’un livre. Le code de l’art nouveau se trouvait écrit. Madame Bovary avait une netteté et une perfection qui en faisaient le roman type, le modèle définitif du genre. 71 Im deutschsprachigen Raum wurden inzwischen etwa achtundzwanzig Übersetzungen der Madame Bovary vorgelegt. Die Erstübersetzung erschien bereits 1858, ein Jahr nach dem Original, beim Wiener Verlag Hartleben. Sie stammt aus der Feder eines österreichischen Übersetzers namens Legné (gemeinhin als Anagramm von „Engel“ aufgefasst) und enthält einige moralisierende Eingriffe (cf. Bachleitner, o. J.). Die vorerst letzte Neuübersetzung legte Elisabeth Edl 2012 beim Münchner Carl Hanser Verlag vor - begleitet von einem Nachwort, in dem sie alle Vorgängerfassungen polemisch als unbrauchbar deklariert. Es befinden sich aber noch einige dieser älteren Fassungen, meist in überarbeiteten Versionen, auf dem Markt, darunter z. B. die von René Schickele (1907), Arthur Schurig (1912) oder Walter Widmer (1959). 72 Wir wollen hier einen Passus herausgreifen, in dem Flaubert den Leser unmittelbar ins Geschehen einbindet, indem er durch die dem mündlichen Sprach‐ gebrauch entlehnte Technik der ‚erlebten Rede‘ Erzähler- und Figurenperspektive ver‐ schmilzt. Auf einem gemeinsamen Ausritt kommen sich Emma Bovary und ihr Verehrer Rodolphe näher: Ils s’en revinrent à Yonville, par le même chemin. […] Rodolphe, de temps à autre, se penchait et lui prenait sa main pour la baiser. Elle était charmante, à cheval ! Droite, avec sa taille mince, le genou plié sur la crinière de sa bête et un peu colorée par le grand air, dans la rougeur du soir. (Madame Bovary II, IX, unsere Hervorhebung) […] Rudolph bückte sich von Zeit zu Zeit, um ihre Hand zu fassen und an seine Lippen zu drücken. Sie sah auch ganz allerliebst zu Pferde aus, mit der schlanken Taille, dem runden Knie, das an die Mähne des Pferdes gedrückt war, die Wangen von der frischen Luft und der Bewegung geröthet. (Flaubert/ Legné 1858) […] Von Zeit zu Zeit beugte sich Rudolf zu ihr herüber, um ihre rechte Hand zu erfassen und zu küssen. 203 9.3 Frankreich <?page no="204"?> 73 G. Saintsbury, „Gustave Flaubert“. Fortnightly Review, Vol. XXIII, 1878, 575-595. Er fand Emma im Sattel entzückend aussehend, bei ihrem geraden Sitz, ihrer schlanken Figur, der schicken Haltung ihres rechten Knies, ihren von der scharfen Luft geröteten Wangen, - alles im Abendrot. (Flaubert/ Schurig 1912) […] Rodolphe neigte sich von Zeit zu Zeit herüber und nahm ihre Hand, um sie zu küssen. Sie war bezaubernd, zu Pferd! Kerzengerade, mit ihrer schlanken Taille, das Knie angewinkelt über der Mähne ihres Tiers und die Wangen rosig von der frischen Luft, im Abendrot. (Flaubert/ Edl 2012) Die frühen deutschen Übersetzer hatten gemeinhin noch ihre Schwierigkeiten mit der Wiedergabe dieser neuartigen Technik. Legné gibt die kursiv hervorgehobene Stelle mit einem einfachen Aussagesatz wieder, der sich mit Flauberts elliptischen Nachsätzen ver‐ bindet. Allerdings weist er durch das hier als Abtönungspartikel dienende auch geschickt auf Rudolph als Urheber der Aussage hin, ohne dass die ‚Stimme‘ des Erzählers ganz ver‐ stummt. Bei Schurig ist die Stelle weit weniger gelungen, die Einführung des Pronomens er nimmt ihr jegliche Ambivalenz: hier spricht eindeutig Rudolf. Elisabeth Edl, die auch sonst sehr um genaue sprachliche Nachbildung des Originals bemüht ist, kopiert ihr Vorbild einschließlich der Interpunktion und erreicht so eine ähnliche Wirkung, begibt sich aber dadurch der Möglichkeit, die Figurenrede durch Abtönungspartikeln deutlicher hervorzu‐ heben. Nebenbei bemerkt zeigt der Passus, dass die Übersetzer bei der Wiedergabe der Namen und Anredeformen mal mehr, mal weniger einbürgernd verfahren. Rodolphe tritt lediglich bei Edl unter seinem französischen Namen auf. Schurigs Fassung erscheint im Übrigen unter dem einbürgernden Titel Frau Bovary, während der ältere Übersetzer Legné die Anrede verfremdet und im Untertitel auf die Fremdheit des Originalschauplatzes hin‐ weist: Madame Bovary, oder eine Französin in der Provinz. Im viktorianischen England fand Flauberts Roman erst mit einiger Verzögerung Auf‐ nahme. 1857 erschien in der Saturday Review ein Artikel, dessen Verfasser sich auf Sainte-Beuves in Teilen recht positive Besprechung der Madame Bovary im Moniteur Uni‐ versel berief und sich empört gegen die französische Unmoral wandte, die in dem Roman ihren höchsten Ausdruck erreiche (cf. Rouxeville 1977, 274). Danach flaute das Interesse schnell wieder ab und flammte nur 1874 kurz wieder auf, als in besagtem Literaturorgan die ‚édition définitive‘ besprochen wurde, angeblich Flauberts „masterpiece of cynicism“ (cf. ibid., 276). Erst 1886, nachdem bereits einige amerikanische Versionen auf dem Markt waren, legte die Marx-Tochter Eleanor Marx-Aveling bei Vizetelly die erste englische Über‐ setzung des Romans vor; sie war versehen mit dem Untertitel „a realistic novel“ (cf. Hale 2006, 43). Tatsächlich wurde Flaubert in England als erster ‚realistischer‘ Autor rezipiert und stieß folglich auf besonders vehemente Vorbehalte ästhetischer, moralischer und phi‐ losophischer Natur (cf. Rouxeville 1987/ 88, 133; 136), die erst mit dem Wertewandel gegen Ende des Jahrhunderts langsam verschwanden. So war auch Henry James der Auffassung, Flauberts Weltsicht entspreche nicht dem englischen Naturell, und der Kritiker George Saintsbury 73 hielt seine Landsleute gar für zu handfest und bierselig, um dessen „sterilem Pessimismus“ etwas abgewinnen zu können (cf. ibid., 133). Gerade dieser stilistisch wie moralisch ‚revolutionäre‘ Charakter der Madame Bovary war es wohl, der Eleanor 204 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="205"?> 74 E. Newman, „Gustave Flaubert“. Fortnightly Review, Vol. LVIII, 1895, 813-828. 75 G. Flaubert, ¡Adúltera! (Madame Bovary). Traducció lliure al castellà per Amancio Peratoner. Barce‐ lona 1875. 76 G. Flaubert, La señora Bovary … Versió castellana de T. de V., Imp. de Vda. de Luis Tasso, Arco del Teatro, 21 i 23, Barcelona 1912. 77 G. Flaubert, La signora Bovary. Torino: Einaudi 1983 (Scrittori tradotti da scrittori). Marx-Aveling zu ihrer Übersetzung inspirierte, mit der sie nebenbei bemerkt auch gesell‐ schaftspolitische Ziele verfolgte. Sie selbst sah sich als getreue Interpretin ohne Anspruch auf stilistische Brillanz, und tatsächlich reichte ihre Übersetzung nicht an Flauberts ausge‐ feilten Stil heran (cf. Stark 2006, 130; France 2006a, 241). Im 20. Jahrhundert sah der Schrift‐ steller Vladimir Nabokov darin gar das Paradebeispiel für eine schlechte Übersetzung (cf. Apter 2007, 1405). Trotz allem hielt sie sich über einen langen Zeitraum auf dem Buchmarkt und erlebte zwei revidierte Neuauflagen, 1965 von Paul de Man und 2004 von Margaret Cohen (cf. ibid.). Bleibt die Frage nach der Übersetzbarkeit von Flauberts Stil, die bereits in ähnlicher Form bei Racine aufkam und die ein Kritiker der Fortnightly Review 1895 wie folgt beantwortete: „Flaubert is emphatically an author who must be read in his native tongue if he is to be thoroughly enjoyed“. 74 Was die Verbreitung des Romans in anderen europäischen Ländern betrifft, müssen wir uns darauf beschränken, einige wenige Fakten zu referieren. Erwähnenswert ist vor allem die russische Rezeption, die ähnlich wie die deutsche bereits ein Jahr nach Erscheinen des Originals einsetzte. Die 1858 in der Biblioteka dlia chteniia publizierte Erstübersetzung ins Russische befand sich auch in Lew Tolstojs Bibliothek und inspirierte ihn möglicherweise zu seinem Roman Anna Karenina (cf. Meyer 1995, 244). Und als Ivan Turgenjew in seiner Literaturzeitschrift Russischer Bote (russki westnik), in der er vorwiegend französische Bü‐ cher vorstellte und auch eigene Übersetzungen vorlegte, eine Besprechung mit dem Titel „Madame Bovary” abdruckte, fand diese in Russland weit mehr Beachtung als in Frankreich selbst (cf. Oei 2010, 246). Auch in Spanien erfuhr der Roman viel Beachtung und wurde mehrfach neu übersetzt. Den moralischen Tabubruch evoziert der reißerische Titel der Erstübersetzung, die Amancio Peratoner (Pseudonym des Arztes Gerardo Blanco) 1875 in Barcelona auf Kastilisch vorlegte: ¡Adúltera! (cf. Camps 2003, unpagin.). 75 Zwischen 1873 und 1923 folgten weitere kastilische Übersetzungen, meist in moralisierendem Duktus. Einer von ihnen waren gar die Prozessschriften des Pariser Gerichts beigegeben, vor dem Flaubert wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral angeklagt war. 76 Auch zeitgenössi‐ sche spanische Schriftsteller inspiriert der Roman immer noch, wie Mario Vargas Llosas Essay über Flaubert und Madame Bovary von 1975, La orgia perpetua, zeigt. Bleibt noch ein Blick auf Italien, wo Madame Bovary erst ein Vierteljahrhundert nach ihrem Erscheinen erstmals übersetzt wurde und seitdem große Popularität genoss. Die Übersetzung aus der Feder des Journalisten Oreste Cenacchi, seit 1882 Leiter der Revue des deux Mondes, erschien 1881 beim Mailänder Verlag Treves. Im 20. Jahrhundert legte die Schriftstellerin Natalia Ginzburg für die Einaudi-Reihe „Scrittori tradotti da scrittori“ eine Neuübersetzung vor. 77 Wie sehr Flauberts Roman die europäische Kultur geprägt hat, zeigt der 1892 von Jules de Gaultier geprägte Begriff Bovarysme, mit dem der Eskapismus Emma Bovarys zum psy‐ chologischen Konzept erhoben wurde (cf. Jayot 2009). 205 9.3 Frankreich <?page no="206"?> Nach dieser langen Liste der französischen ‚Exportartikel‘ kommen wir nun zu den Übersetzungsimporten, bei denen das Augenmerk vor allem auf englische und deutsche Denker und Philosophen gelegt werden soll. Beginnen wollen wir aber mit einem orienta‐ lischen Klassiker der Weltliteratur, dessen Verbreitung in Europa ganz entscheidend der französischen Übersetzung zu verdanken ist: der Sammlung morgenländischer Erzäh‐ lungen, die in Deutschland unter dem Namen Tausendundeine Nacht bekannt geworden ist. Die französische Fassung des Orientalisten Antoine Galland (1646-1715), die zwischen 1704 und 1717 in zwölf Bänden erschien, ließe sich nahezu mit demselben Recht unter den Über‐ setzungsexporten abhandeln, denn sie diente unmittelbar als Grundlage für eine Überset‐ zung ins Englische und 1731-1738 auch für eine deutsche Version der Sammlung (cf. Chevrel et al. 2014, 48 sowie infra, Kap. 12.1). Hier soll es aber um die Beschaffenheit der französi‐ schen Fassung gehen, deren etwas irreführender Titel Les Mille et une Nuit[s], contes arabes traduits en françois sowohl die eigentlichen Quellen als auch die verfolgte Übersetzungs‐ strategie im Dunkeln lässt. Tatsächlich aus dem Arabischen stammen nur die ersten acht Bände sowie der Beginn des neunten Bandes, während die restlichen auf mündlich über‐ lieferten Geschichten des Erzählers Hannâ fußen; zu Letzteren gehören etwa auch die be‐ sonders bekannten Abenteuer Aladdins und Ali Babas (cf. Larzul 2007, 17). Was die Über‐ setzungshaltung betrifft, so handelt es sich genau genommen um eine Adaption, wie Galland selbst 1702 in einem Brief an Gisbert Cuper betont: Cet autre ouvrage dont j’ai l’honneur de vous parler, est intitulé : Mille et Une Nuit [sic], Contes des Arabes mis en français. L’original est en arabe, et je dis mis en français, parce que ce n’est pas une version attachée précisément au texte, qui n’aurait pas fait plaisir aux lecteurs. C’est, autant qu’il m’a été possible, l’arabe rendu en bon français sans m’être attaché servilement aux mots arabes. (zit. nach Tran-Gervat 2014, 370) Der Zusatz mis en français, also „ins Französische gebracht“, von Galland bewusst gewählt als Ausdruck einer ‚freien‘, am zeitgenössischen Publikumsgeschmack ausgerichteten Übersetzungskonzeption, findet sich im endgültigen Buchtitel nicht wieder (cf. Tran-Gervat 2014, 370). Galland nahm in seiner Übersetzung die Haltung eines Märchenerzählers ein, der seinen Lesern eine Art ‚Kostprobe‘ der arabischen Vorstellungswelt gibt, und beein‐ flusste damit entscheidend das Genre der orientalischen Erzählung. Der Topos der Über‐ setzung aus dem Arabischen, der es dem Autor erlaubt, sich als Übersetzer oder Heraus‐ geber seines Textes auszugeben, wurde seither immer wieder in parodistischer Absicht verwendet (cf. Cointre 2014, 1192). Die Tatsache, dass die orientalischen Erzählungen ähn‐ lich wie Märchen mündlich tradiert wurden und keine identifizierbaren Autoren haben, erleichterte Galland den freien Umgang mit seinen Quelltexten. So versah er seine Über‐ setzung nicht nur mit Anmerkungen zu religiösen Gebräuchen oder Traditionen des Ori‐ ents, sondern griff bisweilen auch direkt in den Text ein, selbst wenn er damit die Erzähl‐ perspektive Scheherazades durchbrach (cf. ibid., 1195). Im frühen 18. Jahrhundert begann man in Frankreich die Werke der großen englischen Denker zu entdecken, allen voran John Locke und Isaac Newton. Um deren Rezeption in Frankreich hat sich Pierre Coste, ein Hugenotte im Londoner Exil, verdient gemacht: Seine 1700 erschienene Übersetzung von Lockes Essay Concerning Human Understanding (1689), eines der wichtigsten Referenzwerke des Empirismus, blieb nicht ohne Folgen für das in‐ 206 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="207"?> 78 So bereitete Lockes empiristische Erkenntnistheorie den Boden für Condillacs Sensualismus (cf. Thomas 2014, 551). 79 „Jamais il ne fut peut-être un esprit plus sage, plus méthodique, un logicien plus exact que M. Locke“ (Voltaire, zit. nach Thomas 2014, 551). 80 Ähnlich verfährt er hier übrigens mit dem Begriff personalité, dessen Remotivierung (hier die Rück‐ führung auf die entité der „Person“) er graphisch durch Wegfall eines n zum Ausdruck bringt. tellektuelle Klima des Landes (cf. Albrecht 2012, 764) 78 und nahm sogar Einfluss auf die Entwicklung der französischen Sprache. Zugleich bildete sie die Grundlage für die massive Verbreitung des Essays in Europa, der dadurch zu einer der bedeutendsten philosophischen Schriften der Aufklärung avancierte (cf. Thomas 2014, 552). So erklärt Voltaire im 13. Brief seiner Lettres philosophiques von 1734, es habe wohl nie einen scharfsinnigeren, methodi‐ scheren Geist und einen strengeren Logiker gegeben als Locke (cf. ibid., 551 sowie supra). 79 Costes Version ist aber auch in übersetzungstheoretischer Hinsicht interessant. Es handelt sich nicht nur um eine vom Autor autorisierte Fassung, der somit ein besonderer Status zukommt, sie wirkte auch auf das Original zurück, indem sie Locke zu einigen Änderungen in seiner zweiten Auflage veranlasste. Und schließlich grenzt sich der Übersetzer darin gegen einige allzu freigeistige, religionsgefährdende Aspekte des Lockeschen Denkens ab und weiß auch der Kritik an den eigenen Übersetzungsentscheidungen in den Fußnoten zu begegnen (cf. ibid., 559). Wir müssen uns notgedrungen auf einen kurzen Passus aus Kapitel XXVII des zweiten Buchs beschränken, in dem der Umgang Costes mit Lockes philosophi‐ schen Konzepten consciousness und self deutlich wird: Consciousness alone makes self. Nothing but consciousness can unite remote existences into the same person, the identity of substance will not do it. For whatever substance there is, however framed, without consciousness, there is no person: and a carcass may be a person, as well as any sort of substance be so without consciousness. (Locke, Book II, Chapt. XXVII, §. 23, 146) La Con-science seule constitue le soi. Il n’y a que la con-science qui puisse réunir dans une même Personne des existences éloignées. L’Identité de Substance ne peut le faire. Car quelle que soit la Substance, de quelque manière qu’elle soit formée, il n’y a point de personalité sans con-science ; & un Cadavre peut aussi bien être une Personne qu’aucune sorte de Substance peut l’être sans con-science. (Locke/ Coste 1735 [1700], 273) Warum seine Wahl auf die zu seiner Zeit noch alles andere als gebräuchlichen Termini conscience und soi fällt, erläutert Coste im selben Kapitel in zwei berühmten Fußnoten (§. 9). Das soi als Ausdruck der Kontinuitätsempfindung des eigenen Ichs habe er dem moi Blaise Pascals entlehnt; conscience, bis Mitte des Jahrhunderts in erster Linie in der mora‐ lischen Bedeutung „Gewissen“ gebräuchlich, habe er über das Lateinische als Handlung einer Person, [pro actu illo hominis] quo sibi est conscius (etwa: „die sich ihrer selbst verge‐ wissert“), remotiviert. Um den Leser durch diese Form der Begriffsschöpfung, d. h. die Ver‐ wendung eines alltagssprachlichen Wortes in neuer Bedeutung, nicht zu verwirren, habe er das Schriftbild durch Kursivierung und Schreibweise mit Bindestrich verändert: conscience (cf. Thomas 2014, 552 f.). 80 Es kam Coste also vor allem darauf an, die Universalität des Gedanken auch angesichts der Verschiedenheit der Einzelsprachen zu wahren, indem er deren Fallstricke durch Kunstgriffe wie diesen zu umgehen suchte (cf. ibid., 555); die 207 9.3 Frankreich <?page no="208"?> 81 Traité d’optique sur les réflexions, réfractions, inflexions et les couleurs de la lumière par M. le chev. Newton, traduit de l’anglais par M. Coste sur la seconde édition anglaise augmentée par l’auteur. 2 vol. Amsterdam: P. Humbert, 1720. 82 Optique de Newton, traduction nouvelle faite par M*** sur la dernière édition originale, ornée de vingt-une planches, et approuvée par l’Académie royale des sciences; dédiée au roi par M. Beauzée, éditeur de cet ouvrage … Leroy, 1787. Übersetzungspraxis Costes und das Denken Lockes waren sich in dieser Hinsicht nicht unähnlich (cf. ibid., 558). Auch Newtons Schrift Opticks: or, a Treatise of the Reflexions, Refractions, Inflexions and Colours of Light (London 1704), die seinem Autor den Ruf eines Begründers der modernen Physik einbringen sollte, bereitete Pierre Coste in Frankreich den Boden. Dieser wurde von Newton auf Vermittlung der Prinzessin von Wales, Wilhelmine-Caroline von Branden‐ burg-Ansbach, mit der Übersetzung beauftragt (cf. Nies/ Tran-Gervat 2014, 164 f.). Sie er‐ schien 1720 in Amsterdam, 81 nachdem bereits 1706, zwei Jahre nach dem Original, Newtons Freund Samuel Clarke eine lateinische Fassung vorgelegt hatte. Beide Versionen verfolgte Newton genau und nahm sie zum Anlass für Revisionen und Erweiterungen seines Textes (cf. Baillon 2004, 8). Schließlich legte er besonderen Wert auf die Verbreitung seines Werks unter den von Descartes und Leibniz beeinflussten französischen Denkern, und das Fran‐ zösische versprach als lingua franca eine breite Leserschaft. Er beauftragte den Hugenotten Abraham de Moivre mit einer revidierten Fassung von Costes Übersetzung, die 1722 er‐ schien und auf dem Titelblatt als „wesentlich korrekter als die erste“ beworben wurde (cf. Tran-Gervat 2014, 422). In der Folge stieß diese Version wegen der mangelnden naturwis‐ senschaftlichen Kenntnisse ihres Verfassers allerdings auf Kritik; so wies etwa Francesco Algarotti 1751 auf die zahlreichen daraus resultierenden Übersetzungsfehler hin. Die Treue zum Wortlaut allein war also kein Garant für inhaltliche Korrektheit (cf. ibid., 423). Die weitaus flüssigere Neuübersetzung, die Jean-Paul Marat ein Vierteljahrhundert später vorlegte, 82 entstand unter ganz anderen Vorzeichen: War Lockes Theorie zur Ent‐ stehungszeit von Costes Übersetzung noch äußerst umstritten, so war sie nun allgemein anerkannt; zudem hatte sich Marat, selbst Naturwissenschaftler, zum Ziel gesetzt, Lockes Thesen mit seiner Übersetzung zu widerlegen (cf. ibid., 424; Baillon 2008). Die Mitglieder der französischen Académie des sciences attestierten dieser Fassung, im Gegensatz zu der seines Vorgängers, denn auch besondere Klarheit in der Übertragung der bei Newton als ‚dunkel‘ empfundenen Passagen und führten dies auf Marats mathematische und physi‐ kalische Kenntnisse zurück (cf. Tran-Gervat 2014, 423). Auf die französische Sprache hatte Newtons Werk im Übrigen schon früh Einfluss genommen: Nach dem Trésor de la Langue Française sind die Neologismen réflexible, réflexibilité und réfrangible schon 1706 belegt. Nach den großen englischen Importen des 18. Jahrhunderts wollen wir uns nun den deutschen ‚Importartikeln‘ zuwenden, von denen einige bereits im frühen 19. Jahrhundert in Mme de Staëls Buch De l’Allemagne (1810) der französischen Leserschaft vorgestellt wurden (cf. infra Kap. 11). Goethe und Schiller sollen ebenso wie die beiden Hauptexpo‐ nenten der deutschen Philosophie Kant und Hegel und der politische Denker Karl Marx aufgrund der europäischen Dimension ihrer Schriften hier ausgeklammert bleiben und als deutsche ‚Exportware‘ behandelt werden (cf. infra Kap. 9.5). Wir wollen lediglich in knapper Form Lessing und Herder berücksichtigen. Deren Wirken als Übersetzer und Überset‐ 208 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="209"?> 83 In: Thomas Carlyle, Leben Schillers, aus dem Englischen; eingeleitet durch Goethe. Frankfurt am Main: Verlag von Heinrich Wilmans, 1830, IX. [Neuabdruck in: J. W. Goethe, „Schriften zur Literatur“. In: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 14. Artemis. Zürich 1950, 936]. zungstheoretiker soll dagegen ebenfalls als deutscher ‚Export‘ behandelt werden. Ferner wollen wir auf David Friedrich Strauß und die in Frankreich eher als Literaten rezipierten Denker Schopenhauer und Nietzsche eingehen (cf. Espagne 2004, 287 sowie infra, Kap. 9.5), die dort auf dem Wege der Übersetzung zur Flexibilisierung der starren Literatursprache beigetragen haben (cf. Albrecht 1998, 305). Der Fall Lessings ist besonders interessant, da dieser in seiner Hamburgische[n] Dramaturgie (1767-1768) den Bruch mit dem klassischen französischen Modell des Theaters propagierte (cf. Ferry/ Humbert-Mougin 2012, 499). Dem französischen Prinzip der Nachahmung antiker Vorbilder und der strengen Einhaltung der dramatischen Einheiten setzte er das Theater Shakespeares und Calderóns entgegen. Ent‐ sprechend wurde sein theoretisches Hauptwerk erst Ende des 18. Jahrhunderts in Auszügen übersetzt, auch wenn dessen revolutionäre Thesen - in zugespitzter Form - über Mme de Staëls Übertragung von A.W. Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1809-1811) schon früh in Frankreich Verbreitung fanden (cf. ibid., 448). Trotz seiner Ab‐ lehnung der französisch geprägten Theatertradition und der spärlichen übersetzerischen Rezeption seiner Werke im 18. Jahrhundert gehörte Lessing im Frankreich des 19. Jahr‐ hunderts zu den ersten Anwärtern auf die Kanonisierung als klassischer Autor; so wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte zahlreiche Übersetzungen seiner Werke für den Unterricht an weiterführenden Schulen angefertigt (cf. Albrecht 2012, 784 f.). Als Theaterautor wurde er gar als „deutscher Molière“ gehandelt (cf. Ferry/ Humbert-Mougin 2012, 500) - eine zweifelhafte Ehre, denn hier hatte erneut das französische Theater Pate gestanden. Tat‐ sächlich ist Lessings Ästhetik auf halbem Weg zwischen Tragödie und Komödie angesiedelt - man denke etwa an sein der englischen domestic tragedy nachempfundenes Stück Miss Sara Sampson (1755) (cf. Lechevalier/ Marie 2014, 876). Besondere Bekanntheit erlangten in Frankreich seine Dramen Emilia Galotti, Minna von Barnhelm und Nathan der Weise (cf. Albrecht 2012, 785). 1870 legte Félix Salles bei Lacroix eine dreibändige Gesamtausgabe von Lessings Theater vor (cf. Ferry/ Humbert-Mougin 2012, 500). Aber auch seine Fabeln wurden zwischen 1764 und 1811 fünfmal ins Französische übertragen (cf. Lautel-Ribsein 2014, 1082). Herder wurde ebenfalls erst im 19. Jahrhundert in Frankreich wahrgenommen, und zwar in erster Linie als Philosoph und Historiker. Uns sollen hier lediglich seine Ideen zur Philo‐ sophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) interessieren, über deren Fortune in Deutschland und Frankreich Goethe 1830 in seiner Einleitung zur deutschen Übersetzung von Thomas Carlyles Leben Schillers bemerkt: So sind zum Beispiel Herders ‚Ideen‘ bei uns dergestalt in die Kenntnisse der ganzen Masse über‐ gegangen, daß nur wenige, die sie lesen, dadurch erst belehrt werden, weil sie durch hundertfache Ableitungen von demjenigen, was damals von großer Bedeutung war, in anderem Zusammen‐ hange schon völlig unterrichtet worden. Dieses Werk ist vor kurzem ins Französische übersetzt, wohl in keiner anderen Überzeugung, als dass tausend gebildete Menschen in Frankreich sich immer noch an diesen Ideen zu erbauen haben. 83 209 9.3 Frankreich <?page no="210"?> 84 Idées sur la philosophie de l’histoire de l’humanité, par Herder. Ouvrage traduit de l’allemand et précédé d’une introduction par Edgar Quinet. 3 vol. Paris: chez F.G. Levrault, 1827-1828. Neuauflagen er‐ schienen 1834, 1857-1870, 1865-1873 sowie 1991 (in überarbeiteter Fassung von Marc Crépon). 85 John Godfrey Herder, Outlines of a philosophy of the history of man. Translated from the German by T.O. Churchill. London 1800. 86 „And since man is no independent substance, but is connected with all the elements of nature; living by inspiration of the air, and deriving nutriment from the most opposite productions of the Earth, in his meats and drinks; consuming fire, while he absorbs light, and contaminates the air he breathes; awake or asleep, in motion or at a rest, contributing to the change of the universe; shall not he also be changed by it? “ (Herder/ Churchill 1803, 293 f.). Die Rede ist von der französischen Übertragung, die der Historiker und Experte für deutsche Philosophie Edgar Quinet in den Jahren 1827-28 (bei Albrecht Neuauflage von 1834), im Alter von 24 Jahren, vorlegte (cf. Albrecht 2012, 786); sie wurde mehrfach neu aufgelegt, zuletzt noch 1991. 84 Quinet, der erst auf seiner späteren Englandreise begann, die deutsche Sprache zu lernen, zog für seine dreibändige Fassung die englische Übersetzung von T.O. Churchill 85 zu Rate - es handelt sich also vermutlich um eine Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand (cf. Plack 2015, 96 sowie infra, Kap. 12). Einen Eindruck von seiner Fassung mag ein kurzer Auszug aus dem siebten Buch des zweiten Teils vermitteln, in dem es um das Wesen des Menschen geht: Und da der Mensch keine unabhängige Substanz ist, sondern mit allen Elementen der Natur in Verbindung stehet; er lebt vom Hauch der Luft, wie von den verschiedensten Kindern der Erde, den Speisen und Getränken: er verarbeitet Feuer, wie er das Licht einsaugt und die Luft verpestet: wachend und schlafend in Ruhe und in Bewegung trägt er zur Veränderung des Universums bei und sollte er von demselben nicht verändert werden? (Herder 1786, 2. Teil, 7. Buch, Kap. I, 87) Et puisque l’homme n’est pas une substance isolée et sans lien avec la nature, mais qu’il est en rapport avec tous les éléments ; qu’il vit en aspirant l’air, et en empruntant ses aliments aux pro‐ ductions les plus hétérogènes de la terre ; qu’il consume le feu, qu’il absorbe la lumière, qu’il infecte l’air qu’il respire ; et que, soit qu’il dorme ou qu’il veille, qu’il s’agite ou se repose, il contribue, quoi qu’il fasse, au changement de l’univers, lui seul restera-t-il immuable au milieu du mouvement général ? (Herder/ Quinet 1834, 3, unsere Hervorhebungen) Erkennbar ist Quinets Neigung, Herders Syntax mithilfe paralleler Satzstrukturen zu har‐ monisieren, und auch sonst geht er relativ frei mit dem Original um, bringt, wo es ihm angebracht erscheint, explizierende Zusätze an (sans lien avec la nature, quoi qu’il fasse) oder lässt Details weg (etwa die Kinder der Erde, die Speisen und Getränke). Solche Freiheiten sind übrigens nicht der englischen Fassung entlehnt, die recht getreu Herders Original folgt. 86 Kommen wir nun zu einem geistesgeschichtlichen Werk von europäischer Tragweite, das die theologische Debatte befeuerte und besonders in katholischen Ländern Erschütte‐ rungen auslöste: Das Leben Jesu (1835) des evangelischen Theologen und Hegel-Schülers David Friedrich Strauß. Die ‚Sprengkraft‘ des Buches lag darin, dass der Autor es ablehnte, die Evangelien wie bisher üblich als historische Dokumente anzuerkennen, und dass er ihnen statt dessen einen mythischen Charakter zuzschrieb. Albert Schweitzer urteilte in seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, es gehöre „als literarisches Werk […] zum 210 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="211"?> 87 Die Zeit 29/ 1983, 15. Juli 1983. 88 1862 erschien A. Foucher de Careils Buch Hegel et Schopenhauer. Études sur la philosophie allemande moderne depuis Kant jusqu’à nos jours, 1874 T. Ribots Monographie La philosophie de Schopenhauer (cf. Lacoste 2012, 1049 f.). 89 Arthur Schopenhauer, Le monde comme volonté et comme représentation; trad. en français pour la première fois par J.-A. Cantacuzène. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1886. Die im Anhang zum ersten Band abgedruckte „Kritik der Kantischen Philosophie“ erschien 1889: Critique de la philosophie kantienne, par Arthur Schopenhauer, traduite en français par J.-A. Cantacuzène. Bucarest: Sotchek, 1889. Vollendetsten, was die wissenschaftliche Weltliteratur kennt“. 87 Als der renommierte Phi‐ lologe und Lexikograph Émile Littré, später Kompilator des Dictionnaire de la langue fran‐ çaise, 1839-1840 seine Übersetzung vorlegte, stieß diese im katholischen Frankreich, wo man die Diskussion theologischer Fragen dieser Art nicht gewohnt war, natürlich auf große Resonanz. Sie erschien in zwei Bänden unter dem Titel Vie de Jésus ou Examen critique de son histoire und erlebte drei Neuauflagen (1853, 1856 und 1864) (cf. Chevrel 2012, 1173; 1182). Der zweiten Auflage stellt Littré eine umfangreiche Préface mit einem Abriss der positivistischen Lehre Auguste Comtes voran. Sie dient ihm gewissermaßen als Gegenge‐ wicht zu den revolutionären Thesen seines Autors, deren Wortlaut er relativ getreu wie‐ dergibt und dabei auch auf Kommentare in den Fußnoten weitgehend verzichtet (cf. ibid., 1173 f.). Seine Version ist sicherlich den Übersetzungen zuzurechnen, die durch innovative Übersetzungsstrategien zur Lockerung der immer noch vorherrschenden starren Normen der französischen Literatursprache beigetragen haben (cf. Albrecht 1998, 306). Schopenhauer und Nietzsche sind als Vermittler von ‚Weltanschauungen‘ Lieferanten literarischer ‚Handelswaren‘, die leichter als die Theoriegebäude Kants oder Hegels die Grenze nach Frankreich passieren (cf. infra Kap. 9.5). Hegels Werke lagen im 19. Jahrhun‐ dert gleich in mehreren französischen Übersetzungen vor. Was Schopenhauer betrifft, so bestand eine spürbare Diskrepanz zwischen der recht zögerlich einsetzenden Überset‐ zungstätigkeit, die oft Übersetzungen minderer Qualität hervorbrachte, und dem großen Einfluss von Schopenhauers Denken auf Frankreichs Naturalisten in der Nachfolge Flau‐ berts, wie Maupassant oder Huysmans (cf. Lacoste 2012, 1049). Seit dem Einsetzen der Re‐ zeption zu Beginn der 1860er Jahre 88 wurde sein Denken meist einseitig als ‚pessimistisch‘ rezipiert, während die tiefer liegenden Anleihen bei der orientalischen bzw. buddhistischen Philosophie kaum Beachtung fanden, so dass Konzepte wie „Nirwana“ von den Übersetzern i. d. R. nicht übertragen wurden (cf. ibid., 1054 f.). Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) wurde erst in den achtziger Jahren des Jahrhunderts übersetzt, dann aber gleich in zwei Fassungen. Die größere Wirkung entfaltete die Erstübersetzung des Werkes, die der Rumäne Jean-Alexandre Cantacuzène 1886 in Leipzig vorlegte, 89 nachdem er bereits 1880 und 1882 Schopenhauers Abhandlungen Aphorismen zur Lebens‐ weisheit und Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde übertragen hatte. Die zweite Fassung, die 1880 bis 1890 bei G. Baillière in drei Bänden verlegt wurde, stammt aus der Feder von Jean Burdeau, der 1880 zugleich eine kommentierte Übersetzung mit dem Titel Arthur Schopenhauer. Pensées, maximes et fragments vorlegte, die in zwanzig Jahren sechzehnmal neu aufgelegt wurde und prägenden Einfluss insbesondere auf die französi‐ schen Naturalisten hatte (cf. ibid., 1052). Burdeaus Version gab immer wieder Anlass zu Kritik, zumal sie unter Mitarbeit einiger recht unerfahrener Studenten der französischen 211 9.3 Frankreich <?page no="212"?> Elitehochschule École normale supérieure entstanden war und eine Reihe von Fehlern und Ungenauigkeiten aufwies (cf. ibid., 1053). Nietzsche kann sich einer ironischen Anspielung auf diese Fassung nicht enthalten, als er in seiner letzten Schrift Nietzsche contra Wagner (1888) den Stumpfsinn der Deutschen geißelt, die Schopenhauer im Gegensatz zu den Fran‐ zosen nicht zu würdigen wüssten (cf. ibid.): In diesem Frankreich des Geistes, welches auch das Frankreich des Pessimismus ist, ist heute schon Schopenhauer mehr zu Hause als er es je in Deutschland war; sein Hauptwerk zwei Mal bereits übersetzt, das zweite Mal ausgezeichnet, so dass ich es jetzt vorziehe, Schopenhauer französisch zu lesen. (Nietzsche 1888/ 1969, 425) Ganz ähnlich hätte Nietzsche wohl auch von sich selbst gesprochen, denn er fühlte sich der französischen Kultur verbunden und wurde in Frankreich mehr geschätzt als in Deutsch‐ land, wenn auch weniger als Philosoph denn als Literat, ja als Verkörperung des esprit français und Gegenpol zu Kant. Dort eilte ihm, wie André Gide 1898 bemerkt, sein Ruf voraus, noch bevor die ersten Übersetzungen seiner Werke vorlagen (cf. Plack 2015, 377 f.). Die Publikation der Übersetzungen geschah allerdings in einer „totalen chronologischen Unordnung“ (Le Rider 1997, 45), die dazu führte, dass in Frankreich zunächst der prophe‐ tische, triumphale Nietzsche Einzug hielt. So wurde sein heute wohl bekanntestes Werk Also sprach Zarathustra (1891), das er selbst als sein Hauptwerk betrachtete, fünf Jahre vor seinem Frühwerk Die Geburt der Tragödie rezipiert (cf. Plack 2015, 387). Es erschien erstmals 1898, als erster Band einer geplanten Nietzsche-Gesamtausgabe, bei den Éditions du Mercure de France und entwickelte sich zum populärsten und meistverkauften Werk der gesamten Reihe. Im Archiv des Mercure de France findet sich Le Rider (1999, 105) zufolge ein Exemplar aus dem Jahr 1944 mit dem Vermerk „96 e édition“ (cf. ibid., 386 f.). Der Übersetzer und Herausgeber, der Elsässer Germanist Henri Albert (eigentlich Henri-Albert Haug; cf. infra 10.8), wurde zum wichtigsten Vermittler von Nietzsches Werk in Frankreich und machte sich auf dem Wege der Übersetzung nicht zuletzt um die Erneuerung der französischen Literatursprache verdient (cf. Albrecht 1998, 305). Indem er Nietzsche vornehmlich als Li‐ teraten präsentierte, eröffnete er Dichtern wie Paul Valéry und André Gide den Zugang zu seinen Schriften. Wir wollen einen kurzen Blick auf seine Zarathustra-Übersetzung werfen, deren Titel Ainsi parlait Zarathoustra den Bezug zur biblischen Sprache durch die Verwen‐ dung des imparfait statt des zu erwartenden passé simple nurmehr erahnen lässt (cf. Krause 2009, 302). Wie groß die sprachliche Innovationskraft ist, die Nietzsches Text dem franzö‐ sischen Übersetzer abverlangt, mag der folgende Passus illustrieren, in dem von den drei Verwandlungen des Geistes die Rede ist: Recht sich nehmen zu neuen Werten - das ist das furchtbarste Nehmen für einen tragsamen und ehrfürchtigen Geist. Wahrlich, ein Rauben ist es ihm und eines raubenden Tieres Sache. Als sein Heiligstes liebte er einst das ‚Du-sollst‘: nun muß er Wahn und Willkür auch noch im Heiligsten finden, daß er sich Freiheit raube von seiner Liebe: des Löwen bedarf es zu diesem Raube. (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Von den drei Verwandlungen) Prendre le droit pour des valeurs nouvelles - c’est la plus terrible prise pour un esprit solide et respectueux. Vraiment c’est, pour lui, commettre un crime et agir en bête de proie. Il aimait jadis le ‹ tu dois › comme la chose la plus sacrée : maintenant il lui faut trouver illusion et arbitraire, 212 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="213"?> 90 Zur englischen Übersetzung des Werkes cf. infra Kap. 9.4. 91 Martin Heidegger, Über den Humanismus. Frankfurt a. M.: Klostermann 2000 (erstmals 1949). même dans la chose la plus sacrée, pour qu’il fasse, sur son amour, la conquête de la liberté : il faut un lion pour ce crime. (Nietzsche/ Albert 1898, 29) Der archaische, fremd anmutende Ton des Originals klingt bei Albert nur im Ansatz durch. Das liegt zum einen an dem auffälligen Satzbau mit den vorangestellten Genitiven, der schon aus rein sprachlichen Gründen nicht ohne Verletzung der Norm nachgeahmt werden kann, zum anderen an Wortneuschöpfungen und ungewöhnlichen Substantivierungen, wie dem tragsamen Geist oder dem ‚Du-sollst‘. Hier wie dort hält sich Albert mit sprachlichen Neuerungen eher zurück. Dass auch noch deutsche Philosophen des 20. Jahrhunderts ihren Übersetzern sprach‐ liche Innovationskraft abverlangt und auf diesem Wege die philosophischen Diskurstradi‐ tionen in Frankreich beeinflusst haben, wollen wir zum Schluss am Beispiel von Martin Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit (1927) zeigen. 90 Für Heideggers „Befreiung der Sprache aus der Grammatik in ein ursprünglicheres Wesensgefüge“ 91 , wie er selbst sich in einem Brief an seinen Übersetzer Jean Beaufret ausdrückt, hat im Übrigen auch Nietzsche Pate gestanden (cf. Albrecht 2009, 17 f.). Ähnlich wie Nietzsche geht es Heidegger um das Spiel mit Bedeutungen, deren ‚Dekonstruktion‘ durch Rückgriff auf die Etymologie. Er ‚reety‐ mologisiert‘ etwa ein alltagssprachliches Wort durch die Schreibung mit Bindestrich; er erzeugt Polyphonie, indem er die historische und die alltagssprachliche Bedeutung eines Wortes gleichzeitig anklingen lässt; oder er rückt dessen Klang so sehr in den Mittelpunkt, dass der ‚Sinn‘ für den Leser erst aus dem Zusammenspiel von Klängen und Anklängen erwächst (cf. ibid., 26; 29). Für den Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt liegt u. a. darin das „Barbarische“ von Heideggers Denk- und Schreibart (cf. ibid., 31). Die vollständige Übersetzung von Sein und Zeit lag in Frankreich erst Mitte der 1980er Jahre vor, mit den Fassungen von Emmanuel Martineau (1985) und François Vezin (Gallimard 1986). Zuvor waren lediglich partielle Übersetzungen von Henry Corbin (1938), Rudolf Boehm und Al‐ phonse De Waelhens (1964) sowie Gerd A. Bornheim (1976) erschienen. Die Übersetzer, selbst Philosophen, sahen sich vor eine Herkulesaufgabe gestellt, zumal bisweilen bezwei‐ felt wurde, dass sich Inhalt und sprachliche Form bei Heidegger überhaupt voneinander trennen ließen (cf. Albrecht 2009, 31). Ihr Bemühen um sprachlich getreue Wiedergabe des Originals war fast immer mit einem Bruch mit den klassischen französischen Diskurstra‐ ditionen erkauft (cf. ibid.). Was damit gemeint ist, wollen wir an einem kurzen Textbeispiel aus dem dritten Kapitel von Sein und Zeit, „Die Weltlichkeit der Welt“, zeigen, in dem es um den ‚pragmatischen‘ Charakter der Dinge (griechisch: pragmata) geht: Wir nennen das im Besorgen begegnende Seiende das Zeug. Im Umgang sind vorfindlich Schreib‐ zeug, Nähzeug, Werk-, Fahr-, Meßzeug. […] Ein Zeug „ist“ strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft „etwas, um zu …“. (Heidegger, Sein und Zeit, zit. nach Albrecht 2009, 22) L’étant se rencontrant dans la préoccupation, appelons-le I’util. Dans le commerce avec l’étant au sein du monde se rencontrent des utils pour écrire, des utils pour coudre, des outils [sic ! ], des utils de transport, des utils de mesure. […] Un util n’« est » en toute rigueur jamais. À l’être de I’util 213 9.3 Frankreich <?page no="214"?> 92 Martin Heidegger, Être et temps; traduit de l’allemand par François Vezin. Paris: Gallimard 1985, 104. Besorgen ist hier wohl eher im Sinne von „organiser“, nicht im Sinne von „se préoccuper“ gemeint. 93 Sein und Zeit, § 6: „Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie“. 94 Laurent Binet, La septième fonction du langage. Paris: Grasset 2015. (Die deutsche Übersetzung von Kristian Wachinger erschien 2017 bei Rowohlt unter dem Titel: Die siebte Sprachfunktion.) appartient toujours chaque fois un utillage à l’intérieur duquel cet util peut être ce qu’il est. Par essence l’util est « quelque chose qui est fait pour … ». 92 Heidegger führt hier mit Zeug einen semantischen Neologismus ein, d. h. er schafft einen neuen Begriff, indem er ein gemeinsprachliches Wort in einem spezifischen Sinn verwendet. Vezin löst das Problem durch das dem französischen Adjektiv utile (‚nützlich‘) und dem Substantiv ustensil nachgebildete Kunstwort util, wird also ebenfalls sprachschöpferisch tätig (cf. Albrecht 2009, 22). Die mögliche Alternative outil (Werkzeug) verwirft er, wohl da das Wort in der Gemeinsprache in der Bedeutung eines „bloßen Dings“ verwendet wird, um die es Heidegger hier ja gerade nicht geht; es tritt hingegen kurioserweise als Unter‐ begriff in Erscheinung. Aber auch Entsprechungen wie l’étant für das Seiende und utillage für Zeugganzes oder der Gebrauch von être als Vollverb zeugen von Vezins Mut zur Über‐ tretung der Norm. Vezins oder auch Jean Beaufrets Heidegger-Übersetzungen haben zwei‐ fellos dazu beigetragen, dass die neueren philosophischen Diskurstraditionen des Franzö‐ sischen Einiges an Geschmeidigkeit gewonnen haben, so dass ähnlich ‚radikale‘ Diskursformen wie im Deutschen Verbreitung gefunden haben. Bei der Übersetzung lassen sich so auf morphologisch-semantischer Ebene vergleichbare Wirkungen erzielen, voraus‐ gesetzt, man bildet das Original frei nach und ‚klebt‘ nicht zu ängstlich am Ausgangstext (cf. ibid., 25; 27). Nebenbei bemerkt haben französische Poststrukturalisten wie Lacan und Derrida sich hinsichtlich ihres ‚innovativen‘ Umgangs mit Sprache maßgeblich von Hei‐ degger inspirieren lassen (cf. ibid., 19). So ist Derridas berühmter Neologismus déconstruc‐ tion eine Übersetzung von Heideggers Destruktion  93 , das dieser in seiner ursprünglichen lateinischen Bedeutung ‚Abtragen‘, ‚Auseinandernehmen‘ verwendet und das sich nicht einfach mit dem gängigen französischen destruction wiedergeben ließ. Auf dem Umweg über Amerika, wo die poststrukturalistischen Thesen besonders einflussreich waren, wurde dieser Terminus durch die Übersetzung der Schriften Derridas quasi ‚reimportiert‘, so dass Heidegger indirekt nach Deutschland zurückgekehrt ist (cf. ibid., 19 f.; 27). Die französischen Poststrukturalisten lässt übrigens in jüngster Zeit der Schriftsteller Laurent Binet in einem Kriminalroman 94 auftreten, in dem diese in einen Mordfall verwi‐ ckelt sind - pikanterweise an dem Strukturalisten Roland Barthes (cf. infra 9.5). Der Roman wurde in über zwanzig Sprachen übersetzt und etwa in Deutschland von der Kritik sehr positiv aufgenommen, was zeigt, dass allen Unkenrufen zum Trotz das Interesse zumindest an dieser französischen ‚Exportware‘ - sprachphilosophischer und literarischer Natur - ungebrochen ist. 214 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="215"?> 9.4 Großbritannien und Irland Von der Vor- und Frühgeschichte des Englischen war bereits im 5. Kapitel die Rede und es wurde in diesem Zusammenhang auch schon auf einige wichtige Übersetzungen hinge‐ wiesen, wie z. B. auf King Alfreds Übertragungen der Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum des Beda Venerabilis und von Boethius’ De consolatione philosophiae - ein überaus häufig übersetztes Werk. Auch Chaucer wurde in Kap. 5.2 und 9.1 bereits verhältnismäßig aus‐ führlich behandelt. Hier soll es nun um den englischen, schottischen und irischen Über‐ setzungsimport und -export gehen. Auf die nordamerikanische Literatur kann nur gele‐ gentlich verwiesen werden. Die frühen Übersetzungen aus dem Altfranzösischen, vor allem von Autoren wie Geoffroi de Villehardouin, Robert de Clari, Jean de Joinville, Jean Froissart und Philippe Commynes, sollen hier nicht behandelt werden. Die in Frankreich begründete volkssprachliche Geschichtsschreibung - in anderen Ländern blieb die Historiographie noch längere Zeit eine Domäne des Lateinischen - scheint auf großes Interesse gestoßen zu sein (cf. Albrecht 1998, 319). Wir werden hier mit einigen „Intraduktionen“ aus der Re‐ naissance und der frühen Neuzeit beginnen. John (of) Trevisa und vor allem William Caxton sind zwei Namen, die in keinem noch so knappen Überblick über die englische Übersetzungsgeschichte fehlen dürfen. Trevisa gehört noch dem Spätmittelalter an und schrieb ein für moderne Leser nicht leicht ver‐ ständliches Mittelenglisch. Caxton wirkte in der Frührenaissance. Er war so etwas wie ein volkstümlicher Humanist avant la lettre (der Humanismus im engeren Sinn gelangte erst nach seinem Tod nach England). Trevisa legte 1387 eine Übersetzung des Polychronicon von Ranulf Higden vor. Es handelt sich um eine der zu jener Zeit in ganz Europa beliebten Weltchroniken - … [a] book of Chronicles, that describeth the world about in length and in breadth, and maketh mention and mind of doings and deeds of marvels and wonders, and reckoneth the years to his last days from the making of heaven and of earth … ein Text, der hier keiner Erwähnung wert wäre, wenn der Übersetzer seiner Übertragung nicht einen Dialogue between a Lord and a Clerk upon Translation vorangestellt hätte. Es handelt sich dabei nicht - wie man verschiedentlich lesen kann - um einen übersetzungs‐ theoretischen Traktat, sondern um ein witziges Streitgespräch zwischen einem Lord und einem Clerc (in moderner übersetzungswissenschaftlicher Terminologie: zwischen einem Auftraggeber und einem Übersetzer) über Sinn und Zweck des Übersetzens. Der Lord ist davon überzeugt, dass Übersetzen in die englische Volkssprache sinnvoll sei, auch wenn alle Gebildeten des Lateinischen mächtig sind. Der Clerk, der die Übersetzung anfertigen soll, versucht ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Der Lord betont, dass auch Ungebildeten die Evangelien zugänglich sein müssten und greift bei seiner Argumentation auf Beispiele aus der englischen Übersetzungsgeschichte zurück. Am Ende fällt dem Clerc nur noch das Argument ein, dass eine Übersetzung von denjenigen, die das Original verstehen, kritisiert werden könne. Der Lord trägt ein Gegenargument vor, das jeder Übersetzer seinem bes‐ serwisserischen Kritiker entgegenhalten könnte: 215 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="216"?> 95 Alle Zitate aus der im Internet verfügbaren Version des Dialogs, Text von 1903. 96 Zitate nach der Edition von Jack Lynch, im Internet verfügbar. If men blame that is not worthy to be blamed, than they be to blame. Clerks know well enough that no sinful man doth so well that it ne might do better, ne make so good a translation that he ne might be better. 95 William Caxton (1422-1491) war in seiner Eigenschaft als Buchdrucker (das Handwerk hatte er in Köln gelernt), Übersetzer und Anreger von Übersetzungen von größter Bedeutung für die Verbreitung der neuenglischen Schriftsprache. Er wird in dieser Hinsicht oft mit Luther verglichen. Er brachte 1474 das erste gedruckte Buch in England heraus und hat auch Chaucers Canterbury Tales (cf. supra) gedruckt. Als Gefolgsmann von Margaret von York, der Gemahlin Karls des Kühnen, hatte er Zugang zu der vor allem mit französischen Werken reich ausgestatteten Bibliothek der burgundischen Herzöge. Sein Eneydos (1483) ist denn auch keine direkte Übersetzung von Vergils Aeneis, sondern eine Bearbeitung einer altfranzösischen Fassung des Epos. Wahrscheinlich handelte es sich bei seiner Vorlage um den roman d’Enéas von Benoît de Sainte-Maure, wo der antike Stoff ganz nach dem Muster der Artusromane behandelt wird. Im Kolophon des Druckes heißt es: Here fynissheth the boke of Eneydos, compyled by Vyrgyle, which hathe be translated oute of latyne in to frenshe, and oute of frenshe reduced in to Englysshe by me wylliam Caxton … Im Gegensatz zu später geübten Praktiken wird hier der Weg der indirekten Übersetzung genau angegeben. Es lohnt sich, einen Blick in das Vorwort zu werfen, da Caxton sich hier ganz unbefangen über seine Arbeitsweise und seine sprachlichen Probleme beim Über‐ setzen auslässt: After dyuerse werkes made translated und achieued hauyng noo werke in hande. I sittyng in my studye where as laye many diverse paunflettis [Pamphlete] and bookys. Happened that to my hande cam a lytyl booke in frenshe. Whiche late [kürzlich] was translated oute of latyn by some noble clerke of fraũnce whiche booke is named Eneydos made in latyn by that noble poete & grete clerke vyrgyle […] In whiche booke I had grete playsyr. By cause of the fayr and honest termes & words in frenshe whyche I neuer sawe to fore lyke [wie ich sie nie zuvor gesehen habe] ne none so playsaunt ne so wel ordred. […] I delybered [erwog] and concluded to translate it into englys‐ sche. And forthwyth [sogleich] took a penne & ynke and wrote a leef or tweyne [zwei] whyche I ouersawe again to corecte it And wh- [als] I sawe the fayr & straunge termes therin I doubted that it sholde not please some gentlymen whiche late blamed me saying yt in my translacyons I had ouer curious termes whiche coude not be vnderstande of comyn peple and desired me to vse olde and homely termes in my translacyons … 96 Der Übersetzer greift zu Feder und Tinte, schreibt erst einmal zwei Seiten, liest sie durch und lässt sie auf sich wirken, ist nicht so recht zufrieden, erinnert sich an vorausgegangene Kritik und beschließt, etwas sparsamer mit kaum verständlichen Entlehnungen umzugehen - eine lebendige Schilderung aus dem Übersetzeralltag im 15. Jahrhundert. Im Anschluss daran macht sich Caxton Gedanken über den Sprachwandel und über die starken Unter‐ schiede zwischen den regionalen englischen Varietäten. Als Buchdrucker hatte er ein öko‐ nomisches Interesse an der Durchsetzung einer Druckersprache, die überregional ver‐ 216 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="217"?> 97 „Published English Translations of Homer’s Iliad and Odyssey“. Im Netz verfügbar. ständlich und für einige Zeit beständig sein sollte. Seinen eigenen südostenglischen Dialekt hielt er für ein gänzlich ungeeignetes Modell. Das elisabethanische Zeitalter und die darauf folgenden Jahrzehnte gelten als die erste große Epoche englischer Übersetzungskunst. Wie bereits erwähnt ist Elisabeth I. selbst mit Übersetzungen hervorgetreten. Im Zentrum des Interesses standen die antiken und die romanischen Literaturen. Band III (1660-1790) der Oxford History of Literary Translation in English, in dem bereits Kapitel für einzelne Ausgangssprachen vorgesehen sind, enthält noch kein Kapitel für Deutsch und andere germanische Ausgangssprachen. Ein solches erscheint erst in Band IV (1790-1900). Die Antike wurde in England zunächst, wie Henri Van Hoof (1991, 127) sich ausdrückt, „durch französische oder italienische Brillengläser“ gesehen. Am Ende des elisabethanischen Zeitalters lagen alle wichtigen antiken Werke in englischer Übersetzung vor. Dabei handelte es sich nicht selten um Übersetzungen aus zweiter Hand oder zumindest um Übersetzungen nach romanischem Geschmack. So über‐ setzte Sir Thomas North (1535-1601) Plutarchs οἱ βίοι παράλληλοι (vitae parallelae) nicht aus dem Griechischen, sondern aus dem Französischen Amyots (cf. supra 1.2.2 und 7) unter dem Titel The Live of the Noble Grecians and Romanes (1579). Shakespeare entnahm dieser Übersetzung die Stoffe einiger seiner Dramen. Auch der Ascensus (cf. supra Kap. 3) wurde praktiziert. So übertrug Bartholomey Clerke Castigliones Cortegiano nicht etwa ins Engli‐ sche, sondern ins Lateinische (cf. Kelly 1998, 500). Wie intensiv und dauerhaft das antike Erbe im englischen Sprachraum gepflegt wurde und wird, lässt sich am besten am Beispiel der beiden homerischen Epen zeigen. Einer an der Vancouver Island University entstan‐ denen Liste zufolge wurde die Ilias zwischen 1581 und 2015 über 80-mal, die Odyssee zwi‐ schen 1612 und 2014 über 60-mal ins Englische übersetzt. 97 Auf einige der dort aufgeführten Übersetzungen wird zurückzukommen sein. Eine Vorbedingung für die Entstehung einer ausgedehnten Übersetzungspraxis war die Verfügbarkeit von Wörterbüchern. Die in dieser Zeit aufblühende Lexikographie war auch personell eng mit der Übersetzungstätigkeit verbunden. Den Anfang machte John Pals‐ grave. Der dritte Teil seines Lesclarcissement de la langue francoyse (1530; die erste norma‐ tive französische Grammatik) besteht aus einem englisch-französischen Wörterbuch. Kurz darauf legte Thomas Elyot (um 1490-1546) ein ausführliches lateinisch-englisches Lexikon vor (1538). John Florio (1533-1625), Sohn eines toskanischen Emigranten, der zeitweise in Deutschland gelebt hat, brachte 1598 A world of words, ein italienisch-englisches Wörter‐ buch, heraus. Er hat sowohl Boccaccio als auch Montaigne ins Englische übersetzt (cf. supra 9.1 und 9.3). Über das Thema „Übersetzer und Wörterbücher“ in England zwischen 1550 und 1660 berichtet Cummings (2010). Im Jahre 1616 legte der Dramatiker und Lyriker George Chapman (um 1539-1634) die erste vollständige Übersetzung der Ilias vor. 1581 war eine Teilübersetzung von Arthur Hall erschienen. Chapman gibt Homers Text in Paarreimen mit zahlreichen rhetorischen Aus‐ schmückungen wieder, wofür er später, im Zeitalter der philologisch-dokumentarischen Übersetzungskonzeption, kritisiert wurde. Das zeigt nur, dass seine Version (ähnlich wie die von Voß in Deutschland) zu einem dauerhaften Bestandteil der englischen Kultur ge‐ worden ist. Sie war auch im 19. Jahrhundert noch nicht wirklich ‚historisch‘ geworden. 217 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="218"?> 98 The Iliads of Homer Prince of Poetts. Translated according to the Greeke (1611). Neuausgabe u. a. von Allan Holaday et al., Urbana, University of Illinois Press, 1970-1987. 99 Zitiert nach der Ausgabe des Reclamverlags, Stuttgart 1970. Anfang des 19. Jahrhunderts schrieb der Dichter John Keats (1795-1821) ein Sonett mit dem Titel On First Looking into Chapman’s Homer - dem Übersetzungshistoriker Stuart Gillespie zufolge „perhaps the best known English poem about any translation“ (Gillespie 2010, 72). Kurz darauf folgte Chapmans Version der Odyssee - die erste im englischen Sprachraum. Wir geben hier die ersten Verse von Chapmans Ilias zusammen mit der Voß’schen Über‐ setzung wieder: Achilles’ bane full wrath resound, O Goddesse, that imposd Infinite sorrowes on the Greeks, and many brave soules losd From breasts Heroique - sent them farre, to that invisible cave That no light comforts; and their lims to dogs and vulture gave. To all which Jove’s will gave effect; from whom first strife begunne Betwixt Atrides, king of men, and Thetis’ godlike Sonne. 98 Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, Ihn, der entbrannt, den Achaiern unnennbaren Jammer erregte Und viele tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs Sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden Und dem Gevögel umher. So ward Zeus’ Wille vollendet Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten Atreus’ Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus. 99 Ähnlich wie Vincenzo Monti (cf. supra 9.1) bleibt auch Chapman hier relativ nah am Text, da er annehmen muss, dass die ersten Verse vielen Lesern im Original vertraut sind. Cha‐ rakteristisch für seinen Stil ist die Umschreibung des Hades als „unsichtbare, von keinem Licht erträglich gemachte Höhle“. Dennoch komprimiert er den Text. Für die ersten sieben Verse des Originals, die Voß so genau wie möglich nachbildet, braucht er nur sechs. Der Ire Richard Stanihurst (1547-1618) veröffentlichte 1582 eine Übersetzung der ersten vier Bücher von Vergils Aeneis. Die Syntax des Titels mutet deutsche Leser vertraut an, wenn sie denn gewohnt sind, „dem Volk aufs Maul zu schauen“: The first foure bookes of Virgil his Aeneis -„die ersten vier Bücher von dem Vergil seiner Aeneis“. Stanihurst hatte eine früher erschienene Übersetzung konsultiert und darauf geachtet, nicht dieselben Wörter wie sein Vorgänger zu gebrauchen (cf. Braden 2010, 98 und infra im Zusammenhang mit Tytler). Wir geben hier die ersten Verse wieder (vgl. den Originaltext in Kap. 9.1, bei Annibal Caro): I that in old season wyth reeds oten harmonye whistled My rural sonnet; from forrest flitted (I) forced Thee sulckīg swincker thee soyle, thoghe craggie, to sunder. A labor and a trauaile too plowswayns hertelye welcoō. Now māhod and garbroyls I chaunt, and martial horror. I blaze thee captayne first from Troy cittye repairing, 218 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="219"?> 100 James Maidmen in seiner Einführung zu einer Ausgabe Edinburgh 1836, p. xv. 101 Zit. nach der Ausgabe von Silvano Del Missier, Novara 1968, p. 75. 102 The Book of the Courtier. Scholars Bank. University of Oregon. Internetversion. Lyke wandring pilgrim too famosed Italie trudging, And coast of Lauyn: soust wyth tempestuus hurlwynd, On land and sayling, by Gods predestinat order: But chiefe through Iunoes long fostred deadlye reuengment. Ein Herausgeber dieses Texts im 19. Jahrhundert rechtfertigt seine Arbeit mit der Bemer‐ kung, diese Übersetzung „deserves to be reprinted for its incomparable oddity“. 100 Unmit‐ telbar auffällig sind die zahlreichen Alliterationen (forrest, flitted, forced/ sulking, swincker, soyle, sunder). Wenn die Sprache sich der Metrik nicht fügen will, hilft Stanihurst nach: the wird zu thee und to zu too gelängt. Die ersten vier Verse sind Zutat des Übersetzers. Man hat den Eindruck, dass er, nicht Vergil, seinen ländlichen Gesang auf einer Hirtenflöte vor‐ trägt. Dort, wo die eigentliche Übersetzung beginnt, kommt die Vorliebe des Übersetzers für kräftige volkstümliche Ausdrücke zum Vorschein, da werden nicht die Waffen und der Mann (arma virumque) besungen, sondern die Menschheit und die Prügeleien (garbroils). Aeneas wird zum captain, seine Taten werden herausposaunt (blazed). Und obwohl von Heras (Iunos) Rachsucht die Rede ist, geschieht doch alles nach göttlicher Vorherbestim‐ mung. Werfen wir noch einen Blick auf die Übersetzungen aus den romanischen Literaturen. 1561 erschien The Courtier of Count Baldessar Castilio divided into foure bookes, eine engli‐ sche Übersetzung des Cortegiano von Thomas Hoby. Das Werk hatte großen Einfluss auf die Entstehung des gesellschaftlichen Leitbildes des gentleman (cf. supra 7). Eine von dessen wichtigsten Eigenschaften war, wie wir gesehen haben, die sprezzatura, die Lässigkeit. Der Terminus wird im ersten Buch von Graf Lodovico di Canossa eingeführt (I, 26). Es gebe eine universelle Regel für das menschliche Verhalten: … e ciò è fuggir quanto piú si po, e come un asperissimo e pericoloso scoglio, la affettazione; e, per dire forse una nova parola, usar in ogni cosa una certa sprezzatura, che nasconde l’arte e dimostri ciò che si fa e dice venir fatto senza fatica e quasi senza pensarvi. 101 And that is to eschew as much as a man may, and as a sharp and dangerous rock, affectation or curiousity and (to speak a new word) to use in every thyng a certain reckelessness, to cover art withall, and seeme whatsoever he doth and sayeth to do it wythout pain, and (as it were) not myndyng it. 102 Recklessness „Unbesonnenheit” entspricht dem, was der Graf mit sprezzatura gemeint hat, nicht sehr gut, da passt Trabants coolness (cf. supra 7) schon besser. Das vom Oxford Dictionary vorgeschlagene Äquivalent studied carelessness hat etwas von einem Oxymoron. Die Unbekümmertheit soll ja nun gerade natürlich und nicht einstudiert sein. Von den Prosaschriften Machiavellis erschienen zunächst I dialoghi dell’arte della guerra (The Art of Warre, Peter Whitehorn 1569) und die Storie fiorentine (Florentine Historie, Thomas Beddingfield 1595). Seltsamerweise wurde der Principe erst 1640 übersetzt. Ein Hinweis auf John Harringtons Übertragung von Ariosts Orlando furioso (1591) fehlt in 219 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="220"?> 103 Edmund Spenser: The Complete Poetical Works (1908). Im Netz verfügbar. keiner Übersetzungsgeschichte. Der heute nur Spezialisten bekannte Hugenotte Guillaume du Bartas fand in der Zeit der Religionskriege in England große Beachtung. Sein Schöp‐ fungsepos La sepmaine ou création du monde wurde öfter übersetzt (z. B. Devine Weekes and Workes, Joshua Silvester 1605). Besondere Beachtung verdienen die frühen englischen Übersetzungen der Dramen von Robert Garnier. Er gilt als Neubegründer des europäischen Theaters aus dem Geist der antiken Tragödie und hat - nicht zuletzt durch die Überset‐ zungen seiner Werke - das elisabethanische Theater stark beeinflusst. Sein Marc-Antoine (1578) wurde 1592 von der Countess of Pembroke übersetzt. Mary Sidney Pembroke war eine außerordentlich produktive Übersetzerin. Die Herausgeber der Oxford History haben ihr ein eigenes biographisches Kapitel gewidmet (Wright 2010). Schließlich noch einige Bemerkungen zu dem Dichter Edmund Spenser (1552-1599), der auch als Übersetzer in Erscheinung getreten ist. Sein Hauptwerk, die Versdichtung The Faerie Queene (1590), eine Huldigung an Elisabeth I., nimmt in der ersten Strophe Motive der oben wiedergegebenen Eingangsstrophe von Stanihursts Übersetzung der Aeneis auf. Er hat unter seine eigenen Sonette auch Nachdichtungen der französischen Pléiade-Dichter eingestreut. Am bekanntesten ist seine Fassung der Antiquitez de Rome (1558). Wir können hier nur eine kleine Kostprobe geben: Divins Esprits, dont la poudreuse cendre Ye heavenly spirites, whose ashie cendres lie Gist sous le faix de tant de murs couvers, Under deep ruines, with huge walls opprest, Non vostre loz, qui vif par voz beaux vers But not your praise, the which shall never die, Ne se verra sous la terre descendre, Through your faire verses, no in ashes rest, Si des humains la voix se peult estendre If so be shrilling voice of wight alive Depuis icy jusqu’au fond des enfers, May reach from hence to depth of darkest hell, Soient à mon cry les abysmes ouvers, Then let those deep abysses open rive, Tant que d’abas vous me puissiez entendre. That ye may understand my shreiking yell. 103 Original und Übersetzung halten sich an die klassische Form des Sonetts, nicht an die von Shakespeare verwendete. Spenser hat lediglich das Reimschema verändert. Linguistisch orientierten Übersetzungstheoretikern wird von den Vertretern eines zielkulturellen An‐ satzes häufig vorgeworfen, sie achteten nur auf die Genauigkeit der sprachlichen Entspre‐ chung (von Literaten oft mit unzulässiger Verengung des Begriffs als „Äquivalenz“ be‐ zeichnet) und verlören dabei den literarischen Eigenwert des übersetzten Texts aus dem Blick. Das Urteil über diesen wollen wir unseren Lesern überlassen. Aber wir können nicht umhin, unserem Erstaunen darüber Ausdruck zu geben, dass es einem Übersetzer gelingt, unter Strophen- und Reimzwang inhaltlich so nah am Original zu bleiben. Eine frühe Übersetzung aus dem Deutschen verdient es, erwähnt zu werden: The Tragical History of Doctor Faustus (zwischen 1588 und 1592) von Christopher Marlowe (1564-1593). Der Übersetzer wurde unter geheimnisvollen Umständen ermordet. Auch professionelle Literaturforscher schenken zuweilen den Lebensumständen der Autoren ebenso viel Auf‐ merksamkeit wie ihren Texten und ergehen sich diesbezüglich in einfallsreichen Spekula‐ tionen. So soll Marlowe seinen Tod nur vorgetäuscht haben, um in Ruhe Shakespeares 220 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="221"?> 104 „… einige Perlen in seinem riesigen Misthaufen gefunden zu haben“. 105 „… le premier parmi vous qui apprit la langue anglaise, le premier qui fit connaître Shakespeare, qui en traduisit librement quelques morceaux en vers […], qui fit connaître Pope, Dryden, Milton …“. Stücke schreiben zu können. Die Quelle für seinen Doctor Faustus war wohl das Volksbuch Historia von D. Johan Fausten, auf das auch Goethe zurückgegriffen hat. Bevor wir die englischen Übersetzungsimporte bis in die neuere Zeit hinein weiterver‐ folgen, wollen wir uns drei besonders bedeutsamen ‚Exportartikeln‘ des englischen Sprach‐ raums zuwenden: Shakespeares Dramen, Laurence Sternes Romanen und James Macpher‐ sons Poems of Ossian. Als ‚Exportartikel‘ werden diese Werke nicht zuletzt deshalb behandelt, weil sich so die Übersetzungen in verschiedene Sprachen in organischem Zu‐ sammenhang behandeln lassen. Shakespeare gehört nicht nur zu den besonders häufig übersetzten, sondern auch zu den von Übersetzungsforschern besonders beachteten Autoren. Die vielzitierte Routledge En‐ cyclopedia of Translation Studies (Baker ed.; 1998; 2 2009) hat nur für Shakespeare (nicht für Homer, Cervantes oder Racine) ein eigenes Kapitel (Delabattista 1998, 222). Es soll hier nun nicht all das wiederholt werden, was man in unzähligen Untersuchungen nachlesen kann. Abgesehen von den wichtigsten Daten der äußeren Übersetzungsgeschichte, die natürlich mitgeteilt werden müssen, soll aus der gründlich erforschten inneren Übersetzungsge‐ schichte einiges angeführt werden, das uns besonders mitteilenswert scheint. Wir müssen uns dabei auf die Zielsprachen Französisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch beschränken. Shakespeare galt noch im 17. Jahrhundert auch in seiner Heimat nicht als ‚seriöser‘ Autor. Gelehrte Literaturkritiker betrachteten das Globe Theatre als eine Stätte der Volks‐ belustigung. In Joseph Addisons Account of the greatest English poets, der die Zeit von Chaucer bis Dryden behandelt, erscheint Shakespeare nicht. Erst im 18. Jahrhundert be‐ gann sein Aufstieg zum englischen Nationaldichter. Der Erste, der sich in Frankreich (mit großen Vorbehalten) für ihn einsetzte, war Voltaire, der seine Stücke während seines Exils in England von 1726-1728 kennengelernt hatte. Im 18. Brief („Sur la tragédie“) seiner Lettres philosophiques kommt er u. a. auch auf Shakespeare zu sprechen. Er war sich mit zeitge‐ nössischen Kritikern in der Ablehnung Shakespeares als eines barbarischen Autors einig, vergaß jedoch nicht hinzuzufügen, dass man bei ihm doch hin und wieder auf grandiose Einfälle stoße. In einem Brief an den Comte d’Argenthal (1770) rühmte er sich, „d’avoir trouvé […] quelques perles dans son immense fumier“ 104 . Seine beiden Übersetzungen von Hamlets Selbstmordmonolog wurden schon in anderem Zusammenhang behandelt (cf. supra 7.4). Als nach und nach Shakespeares Dramen auch in Frankreich einen größeren Bekanntheitsgrad erreicht hatten, pochte Voltaire, etwas verärgert, auf sein Entdeckerrecht: Gegen Ende seines Lebens erinnerte er in der Lettre de M. de Voltaire à l’Académie Française (25.8.1776) daran, dass er als Erster Englisch gelernt sowie Shakespeare, Pope, Dryden und Milton in Frankreich bekannt gemacht habe. 105 Inzwischen war nämlich ein Werk er‐ schienen, das zehn Stücke von Shakespeare in englischer Übersetzung enthielt: Le Théâtre anglois (1745-1749) von Pierre-Antoine de la Place (1707-1793), und auch die erste einiger‐ maßen vollständige Shakespeare-Übersetzung, die von Pierre Le Tourneur et alii (1776-1782), begann damals zu erscheinen. In beiden Fällen handelt es sich um Lesefas‐ sungen, die nicht für die Bühne bestimmt waren. Bühnenversionen einiger der bekann- 221 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="222"?> testen Stücke lieferte Jean-François Ducis (1733-1816) auf der Grundlage der Übersetzungen von La Place und Le Tourneur. Die Fassungen dieses ‚Übersetzers‘, der überhaupt kein Englisch konnte, wurden öfter ins Spanische weiterübersetzt. Bei La Places Übersetzungen handelte es sich eher um Paraphrasen. Das lässt sich be‐ sonders gut anhand einer Stelle aus Othello zeigen. Im ersten Akt rechtfertigt sich der Pro‐ tagonist dafür, dass er als ‚Mohr‘ Desdemona, die Tochter des Senators, geheiratet hatte: „Her father loved me; oft invited me; / Still question’ed me the story of my life / From year to year …“. Bei La Place wird daraus: „J’avais eu l’honneur de me faire estimer de son père“ (Mir war die Ehre zuteil geworden, von ihrem Vater geschätzt zu werden). Voltaire hatte damals den ersten Band der im Erscheinen begriffenen Übersetzung von Le Tourneur einsehen können, wo dieser sich in einer ausführlichen Einführung begeistert über Shakespeare und die gesamte englische Literatur äußert. In seinem Avis sur cette tra‐ duction hatte Le Tourneur versichert, eine genaue Übersetzung vorgelegt zu haben, durch die der französische Leser den wahren Shakespeare mit seinen Stärken und Schwächen kennenlernen könne. Der Band beginnt mit Othello ou le More de Venise, und Voltaire hakt in seiner Lettre à l’Academie Française eben bei dieser Übersetzung ein. Eine genaue Kopie des Shakespeareschen Stücks habe der Übersetzer insofern vorgelegt, als er Zimmerleute, Metzger und Schuhflicker zusammen mit Senatoren auf die Bühne bringe. Was diese Leute sagen, habe er jedoch nicht genau verstanden und habe daher Vieles weggelassen. Diese Auslassung sei zwar aus Gründen des guten Geschmacks durchaus angemessen, wenn man jedoch behaupte, den wahren Shakespeare zu zeigen, dann müsse man dies auch tun. Und nun zeigt Voltaire, der längst ein erbitterter Gegner der Anglomanie in Frankreich ge‐ worden war, dass er das Englische besser beherrschte als seine anglophilen Kritiker. Er weist Le Tourneur nach, dass er weder die zahlreichen Wortspiele, noch die deftigen sexu‐ ellen Anspielungen verstanden hat (cf. Albrecht 2012, 766-770). Mehrfach hat er sehr wört‐ liche Übersetzungen kurzer Passagen aus Shakespeares Dramen verfasst, mit dem Ziel, seinen Landsleuten zu zeigen, wie barbarisch der englische Barde in Wirklichkeit sei. Eine zweite, von uns nicht zitierte strikt wörtliche Übersetzung von Hamlets Monolog (cf. supra 7.4) gehört dazu. Für alle Übersetzungen des 18. Jahrhunderts, vor allem für die zahlreichen recht erfolg‐ reichen Bearbeitungen, gilt, dass die Frage nach der Originaltreue nicht zuverlässig beant‐ wortet werden kann. Man weiß bis heute nicht, welche Shakespeare-Ausgabe den franzö‐ sischen Übersetzern zur Verfügung stand. Möglicherweise griffen sie auf bereits klassizistisch gemilderte englische Texte zurück. Der Historiker und liberale Politiker François Guizot brachte 1821 auf der Grundlage der Übersetzung von Le Tourneur eine reich kommentierte Ausgabe heraus, mit der er den Anspruch erhob, den französischen Shakespeare von allen klassizistischen Schlacken be‐ freit zu haben. Das war ihm jedoch nur im Hinblick auf die Makrostruktur und auf die Bühnenwirksamkeit der Texte gelungen, für deren Ausarbeitung seine Frau und ein Mit‐ arbeiter verantwortlich waren. Bei der Wiedergabe von anstößigen Stellen bleibt er der Tradition der bienséance verhaftet. Das lässt sich gut anhand der Eingangsszene von Romeo und Julia zeigen. Gregory und Sampson, zwei Männer im Dienste des Hauses Capulet, machen unflätige Witze. Sampson spielt den Harten und versichert, er werde allen Jungfern den Kopf abschlagen. Auf die Vergewisserungsfrage von Gregory erwidert er: 222 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="223"?> 106 Ganz ähnlich die Einteilung der Stücke im Shakespearehandbuch (Schabert 5 2009): Die Historien; die Komödien; die Problemstücke; die Romanzen usw. Ay, the heads of the maids, or their maidenheads, take it in what sense thou wilt. Schlegel hat es hier aufgrund der Sprachverwandtschaft leicht; er lässt Simson [Sampson] zunächst drohen, er werde den „Jungfern die Haut ritzen“, und lässt ihn auf die Frage Gre‐ gorios antworten: Ja, die Haut der Jungfern oder ihre Jungfernhaut; das kannst du verstehen wie du willst. An dieser Stelle zieren sich alle älteren französischen Übersetzer. Voltaire erklärt in einer Fußnote, dass maidenhead „pucelage“ bedeutet, und will damit vor allem zeigen, dass Shakespeare nicht ‚salonfähig‘ ist. Guizot hatte zwar versichert, dass er all die Szenen er‐ gänzt habe, die Le Tourneur aus Gründen der bienséance weggelassen hatte, setzt jedoch an der betreffenden Stelle nur drei schamhafte Punkte. Erst François-Victor Hugo, der Sohn des Dichters, und Emile Montégut bleiben dem französischen Leser nichts schuldig. Mon‐ tégut versucht sogar, das Wortspiel nachzuahmen: − Secouer les puces aux filles? − Oui, leur secouer leurs puces ou bien leurs pucelages, arrange cela dans le sens que tu voudras! (cf. Albrecht 2012, 767 ff.) Damit wären wir bei den beiden wichtigsten Gesamtübersetzungen des 19. Jahrhunderts angelangt. François-Victor Hugo veröffentlichte zwischen 1859 und 1866 seine Übersetzung der Œuvres complètes, zu der sein Vater ein Vorwort beisteuerte. Die Stücke sind thematisch geordnet; man findet Fééries (Märchenspiele), Les tyrans; Les jaloux; Les comédies de l’a‐ mour; Les amants tragiques; La société; La patrie; les Farces etc. Damit werden die Erwar‐ tungen der Leser in eine bestimmte Richtung gelenkt. 106 Hugo hat später auch die Sonette übersetzt. Der Schriftsteller und Literaturkritiker Emile Montégut (1825-1895) brachte kurz danach (ab 1867) seine Version von Shakespeares Dramen heraus. Später sind noch sieben weitere Gesamtübersetzungen erschienen. Die Gegebenheiten des französischen Verlags‐ wesens bringen es mit sich, dass kanonisierte Klassiker dort die meisten Leser finden, wo eigene Reihen für sie geschaffen wurden. So erschien 1959 in der Bibliothèque de la Pléiade, deren Bände in vielen Buchhandlungen in einem verschlossenen Glasschrank stehen, eine Shakespeare-Ausgabe mit Übersetzungen bekannter Schriftsteller. In etwas volkstümlicherer Aufmachung erscheinen Shakespeares Werke auch bei Garnier/ Flammarion, oft in älteren Übersetzungen, die gemeinfrei geworden sind. Die Rezeption Shakespeares im deutschen Sprachraum ist ganz anders verlaufen, und zwar vor allem deshalb, weil die neuere deutsche Literatur viel später in ihre klassische Phase eingetreten ist als die französische. Schon bald nach Shakespeares Tod waren einige seiner bekanntesten Stücke auf niederländischen und deutschen Wanderbühnen präsent. Schon zu Shakespeares Lebzeiten soll Romeo und Julia aufgeführt worden sein. Die Wan‐ derbühnen standen der Aufführungspraxis des elisabethanischen Theaters viel näher als das höfische französische Theater. Shakespeare wurde den Deutschen zunächst in Form von Bühnenfassungen (meist stark gekürzte Bearbeitungen), nicht in Lesefassungen ver‐ mittelt (vgl. u. a. Erken 2009a, 627-630). Das bekannteste Beispiel aus dieser Zeit stammt 223 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="224"?> 107 Zitiert nach der Ausgabe Werke. München: Hanser 1973, Bd. V, 72. von Andreas Gryphius, die Absurda Comica oder Herr Peter Squenz (1657), eine Farce, die auf das Rüpelspiel im Sommernachtstraum zurückgeht. Wir beginnen unseren kurzen Überblick über die deutsche Übersetzungsgeschichte im 18. Jahrhundert. In Leipzig hatte der aus Ostpreußen stammende Literaturpapst Johann Christoph Gottsched (1700-1766) große Anstrengungen unternommen, das klassische fran‐ zösische Theater durch Übersetzungen in Deutschland bekannt zu machen und die volks‐ tümliche, mitunter recht deftig-burleske deutsche Theaterpraxis zurückzudrängen. Seine Frau hat ihn dabei kräftig unterstützt. Mit seinem Vorhaben hatte er keinen nachhaltigen Erfolg (cf. supra 9.3). Das lag nicht zuletzt an Lessing, der um die Mitte des Jahrhunderts Gottscheds Literaturpolitik scharf angegriffen hatte. In seinem 17. Literaturbrief wendet er sich geradezu wütend gegen Gottsched. Dieser habe ein wenig Französisch verstanden und alle, die oui Monsieur verstehen konnten, ermuntert, seinem Beispiel zu folgen und fran‐ zösische Stücke zu übersetzen. Er habe nicht gesehen, dass der deutsche Geschmack dem englischen weit näher komme als dem französischen. So habe er ausgerechnet Addisons Cato aus dem Englischen übersetzt, ein Stück, das eher der französischen als der genuin englischen Tradition folge. Das sei für die Entwicklung der deutschen Literatur schädlich gewesen: Wenn man die Meisterstücke des Shakespeare, mit einigen bescheidenen Veränderungen, unsern Deutschen übersetzt hätte, ich weiß gewiß es würde von bessern Folgen gewesen sein, als daß man sie mit dem Corneille und Racine so bekannt gemacht hat. 107 Dieser Passus wurde und wird häufig zitiert, dennoch darf er hier nicht fehlen. Wir wollen nicht unterschlagen, dass Lessing in seiner polemischen Anwandlung die französischen Dramatiker auf „das Artige, das Zärtliche, das Verliebte“ (ibid., 71) reduzieren wollte und damit gezeigt hat, dass er wenig von ihnen verstanden hat oder verstehen wollte. Im Übrigen ist es nicht richtig, dass die Deutschen zu dieser Zeit überhaupt noch nicht mit den „Meisterstücken des Shakespeare“ bekannt gemacht worden wären. Der Pommer Caspar Wilhelm von Borck hatte bereits 1741, als er preußischer Gesandter in London war, eine Übersetzung des Julius Caesar in Alexandrinern vorgelegt, die von ihm selbst als Lieb‐ haber-Arbeit, „aus einer müßigen Feder geflossen“, bezeichnet wurde (cf. Erken 2009b, 823). Immerhin blieb Lessings literaturpolitische Initiative nicht ohne Folgen. Christoph Martin Wieland fühlte sich ermutigt, mit seiner Shakespeareübersetzung zu beginnen, der ersten ei‐ nigermaßen vollständigen, die im deutschen Sprachraum erschienen ist. Er übersetzte 22 Stücke, mit einer Ausnahme alle in Prosa. Seine Arbeit wurde von Johann Joachim Eschen‐ burg fortgesetzt, der auf eine inzwischen in England erschienene bessere Textedition zurück‐ greifen und auf dieser Grundlage die Wielandsche Übersetzung korrigieren konnte. Seine ge‐ lehrten Anmerkungen wurden später sogar in eine Neuauflage der Übersetzung von Le Tourneur übernommen (cf. Erken 2009b, 826). Daneben erschienen einige Übersetzungen ein‐ zelner Werke oder einzelner Stellen, u. a. von den Dichtern des Sturm und Drang. Herder hielt Shakespeare für so volkstümlich, dass er kurze Passagen aus seinen Stücken in seine Samm‐ lung von Volksliedern aufgenommen hat, so z. B. Ariels Lied Full fathom five thy father lies aus 224 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="225"?> 108 Vgl. hierzu u. a. Erken 2009b, 828-831 und die dort gegebenen weiterführenden Literaturhinweise. The Tempest. Die von ihm aufgenommene Fassung, die im Vergleich zu derjenigen Schlegels etwas ungelenk wirkt, geht wohl letztlich auf Wieland zurück. August Wilhelm Schlegel, der Initiator der Übersetzung, die heute (nicht ganz zutreffend) die „Schlegel-Tiecksche“ genannt wird, kannte diese Vorarbeiten und hat einiges aus ihnen übernommen. Auf die komplizierte Geschichte dieser Übersetzung können wir hier nicht im Einzelnen eingehen. 108 Sie wurde von Schlegel um die Jahrhundertwende in Angriff genommen, später liegen gelassen und schließlich von Ludwig Tieck wieder aufgenommen. Dieser hatte bei seiner Arbeit, die Schlegel nicht immer mit Sympathie begleitete, zwei wichtige Helfer: seine Tochter Dorothea und Wolf Graf Baudissin. Die erste vollständige Ausgabe erschien von 1830 bis 1833. Die Schlegel-Tiecksche Übersetzung ist bis heute trotz aller Bemühungen um einen ‚neuen deutschen Shakespeare‘ die kanonische geblieben. Alle deutschen Wiedergaben von Shakespearezitaten in einer neueren Auflage von Georg Büch‐ manns Geflügelten Worten stammen aus dieser Übersetzung. Als sprachliche Hauptschwierigkeiten bei der Übersetzung Shakespeares ins Deutsche werden häufig genannt (abgesehen von den Schwierigkeiten des elisabethanischen Engli‐ schen generell): die Vielzahl einsilbiger Wörter und Partizipialkonstruktionen, die eine im Deutschen nicht leicht erreichbare kompakte Informationsverteilung erlauben, und die Vielzahl von Homonymen, die die Verwendung von Wortspielen begünstigen. Norbert Greiner (2004, 40) greift diese Argumente auf und exemplifiziert die Schwierigkeiten an‐ hand einiger kurzer Beispiele: I do beseech you, give him leave to go (Hamlet, I,2) Ich bitt Euch, gebt Erlaubnis ihm zu gehn. (Schlegel) Schlegel sei genötigt, so Greiner, sich hier mit elliptischen Formen und unnatürlicher Wort‐ stellung zu behelfen. Dem kann man (mit Einschränkungen) allenfalls in Bezug auf die Umstellung des Pronomens zustimmen, nicht hinsichtlich der „elliptischen“ Formen. Das alte Wurzelverb gên war einsilbig, bis es einem Grammatiker in der Barockzeit gefiel, ihm am Schreibtisch aus Gründen der Analogie eine ‚Endung‘ zu verpassen und die dabei ent‐ standene zweisilbige Form seinen Landsleuten zu verordnen. Die einsilbige Aussprache ist bis heute die natürliche, und die Schreibweise gehn wird auch heute noch bei literarischen Übersetzungen von Verlagslektoren geduldet. Bitt’ ist zwar tatsächlich eine Kurzform, aber eine in volkstümlicher Ausdrucksweise weithin belegte: Liebes Kindlein, ach, ich bitt; / bet fürs bucklicht Männlein mit. Voll zustimmen wird man Greiner jedoch bei seiner Analyse verschiedener deutscher Über‐ setzungen des Eingangsverses von Hamlets Monolog: To be or not to be that is the question Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage (A. W. Schlegel) Sein oder Nichtsein dann, das ist die Frage (Erich Fried 1989) 225 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="226"?> Sein oder Nichtsein - ja, das ist die Frage (Rudolf Schaller, um 1960) Sein oder Nichtsein - das ist die Frage (Richard Flatter, 1952) Alle Adverbien, die aus metrischen Gründen eingefügt werden, modifizieren den Sinn der Aussage. Bei Flatter entsteht eine Lücke, durch die das Pronomen prosodisch hervorge‐ hoben wird. Auch dadurch wird der Sinn des Verses geändert (cf. Greiner 2004, 41). Einem Übersetzer, den die gängige Bezeichnung „Schlegel-Tiecksche Übersetzung“ über‐ geht, sind öfter völlig ungezwungen wirkende, wenn man so will ‚kongeniale‘ Lösungen gelungen: Wolf Graf Baudissin. Wir wollen hier einige Verse aus Viel Lärmen Um Nichts (Much Ado About Nothing) zitieren, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Good morrow, masters; put your torches out Löscht eure Fackeln jetzt, schon fällt der Tau, The wolves have prey’d; and look the gentle day, Der Wolf zieht waldwärts, und vom Schlaf noch schwer Before the wheels of Phoebus, round about Streift sich der Osten schon mit lichtem Grau, Dapples the drowsy east with spots of gray Vor Phoebus’ Rädern zieht der Tag einher. Thanks to you all, and leave us: far you well. Euch allen Dank! Verlasst uns und lebt wohl. (V, 3) Nach der Schlegel-Tieckschen sind eine große Anzahl weiterer Übersetzungen ins Deutsche entstanden. Zwei Fragen standen bei der Diskussion um die anzustrebenden Lösungen im Mittelpunkt: die Frage nach der vertrauenswürdigsten englischen Ausgabe der Original‐ texte (ausführlich hierzu Gabler 2009) und die sog. „Bühnenwirksamkeit“, in deren Namen schon seit jeher die wunderlichsten Eingriffe in die Textgestalt vorgenommen wurden. Hierfür sind Übersetzungsforscher nur begrenzt zuständig. Auf große Beachtung und ebenso wütenden Widerspruch ist die Übersetzung von Hans Rothe (1955-59) gestoßen. Liebhaber philologisch-seriöser Lesefassungen greifen gern auf die zehn Übersetzungen von Rudolf Alexander Schröder zurück, die ebenso wie seine Übersetzungen französischer Klassiker in seine Gesammelten Werke aufgenommen wurden. Zumindest unter den ver‐ bliebenen Resten des deutschen Bildungsbürgertums bleibt die Vorherrschaft der Schlegel-Tieckschen-Übersetzung ungebrochen. Karl Kraus hat sich wütend gegen ihre Kritiker ausgesprochen: „Ein Schlegel’scher Irrtum im Hamlet ist wertvoller und dem Ori‐ ginal gemäßer als die tadelloseste Übersetzung, in der er beseitigt erscheint“ (zit. n. Erken 2009b, 835 f.). Die Rezeption der Shakespeareschen Dramen, insb. der Tragödien, in Italien und in Spa‐ nien erfolgte zunächst über französische Vermittlung. Auch die frühen Übersetzungen wurden meist über eine französische Zwischenstufe angefertigt. Die Gründe der anfängli‐ chen Ablehnung Shakespeares in den südromanischen Ländern sind dieselben wie in Frankreich: Die Stücke enthielten zu viele Personen, es gebe viele Szenen, die die Haupt‐ handlung nicht weiterführten (bei modernen Kriminalfilmen würde man von „blinden Mo‐ tiven“ sprechen), nicht nur in den Komödien, sondern auch in den Tragödien träten Per‐ sonen niederen Standes auf, in vielen Stücken wechselten sich Vers und Prosa ab, die meisten Stücke enthielten haarsträubend vulgäre Stellen und die „drei Einheiten“ würden nicht beachtet. Diese drei Einheiten (der Handlung, der Zeit und des Ortes) waren von dem italienischen Literaturtheoretiker Ludovico Castelvetro (1505-1571) aus der Poetik des Aristoteles buch‐ 226 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="227"?> 109 Cf. Arturo Graf: L’Anglomania e l’influsso Inglese in Italia nel Secolo XVIII. Turin 1911. stäblich ‚herausgelesen‘ worden. Sie wurden von französischen Nachfolgern noch strenger in Form einer Regelpoetik weitergegeben. Auch heute ist noch - unkritisch − von den drei aristotelischen Einheiten die Rede. Aristoteles’ Poetik, die erst richtig verständlich wird, wenn man sie als Reaktion auf die Ansichten Platons, seines Lehrers, versteht, ist jedoch weit eher eine historisch-deskriptive als eine normative Abhandlung. Aristoteles be‐ schreibt, wie die großen griechischen Dichter vorgegangen sind, und versucht, dieses Vor‐ gehen zu rechtfertigen. Die Einheit der Handlung in der Tragödie ist an vielen Stellen präsent (explizit 1451a). Für Aristoteles ist es selbstverständlich, dass eine Tragödie nur dann Wirkung entfalten kann, wenn sie ein stimmiges Handlungsgefüge vorweist. Die Einheit der Zeit fungiert als faktische Regel vor allem als Abgrenzung gegenüber dem Epos. Die Tragödiendichter bemühten sich, die Handlung nicht weit über einen Sonnenumlauf (περίοδον ἡλίου) hinaus dauern zu lassen, das Epos verfüge dagegen über unbeschränkte Zeit (1449b). Von der Einheit des Ortes ist nicht die Rede. Nun hatte Boileau den spanischen Tragödiendichtern vorgeworfen, in ihren Stücken einen Protagonisten vom Säuglingsbis zum Greisenalter auftreten zu lassen (cf. supra 4.5). Sollte dies die Rezeption seiner Tragö‐ dien in Spanien erleichtert haben, weil dort sich niemand auf die Einheit der Zeit berief ? Shakespeares Rezeption in Italien wurde zunächst einmal dadurch behindert, dass - im Gegensatz zu Frankreich - nur wenige Gebildete Kenntnisse von England und seiner Kultur und Sprache hatten. Der Name des Dichters erscheint im frühen 18. Jahrhundert gelegent‐ lich in Abhandlungen als Sasper, Sachespir oder Scespir (cf. Collison-Morley 1916, 2. und 3. Kap.). Die erste Übersetzung im engeren Sinn stammt von Domenico Valentini: Il Giulio Cesare, Tragedia Istorica di Guglielmo Shakespeare (1756). Valentini konnte kein Englisch. Er hatte sich von einem Freund eine Rohübersetzung anfertigen lassen. Diese Übersetzung wurde kaum wahrgenommen, denn vor dem Erscheinen Vittorio Alfieris auf der literari‐ schen Bühne war die Tragödie in Italien kein angesehenes Genus, schon gar nicht Stücke in der Art von Shakespeare, die von klassizistischen Kunstrichtern allenfalls als Tragiko‐ mödien anerkannt wurden. Im späteren 18. Jahrhundert schwappte die französische Ang‐ lomanie nach Italien über; allerdings galt das Hauptinteresse eher dem Physiker Isaac Newton als den englischen Dichtern. 109 Selbst Melchiorre Cesarotti, der mit seiner Os‐ sian-Übersetzung einiges zu dieser Entwicklung beigetragen hat (cf. infra), konnte Shakespeare wenig abgewinnen. Bezeichnenderweise war es der Märchendichter Carlo Gozzi, der sich als einer der Ersten für Shakespeare einsetzte. Der einflussreiche Literat Alessandro Verri (1741-1816), der einige Zeit in England zugebracht hatte, übersetzte um 1780 zunächst Hamlet, dann Othello, veröffentlichte seine Übersetzungen jedoch nicht, als er vom Er‐ scheinen der Übersetzung Le Tourneurs in Frankreich erfuhr. Er nahm an, gebildete Itali‐ ener würden zu dieser Übersetzung greifen. Dennoch war er überzeugt, dass sich das Ita‐ lienische besser als das Französische dazu eigne, einen authentischen Eindruck von Shakespeare zu vermitteln. Vor allem stehe der italienische endecasillabo dem Blankvers näher als der französische Alexandriner. Als entschiedener Verteidiger Shakespeares vor allem gegen Voltaire trat der Philologe und Dichter Giuseppe Baretti (1719-89) in Erscheinung. Er verfügte über gute Englisch‐ kenntnisse. In seinem Discours sur Shakespeare et sur Monsieur de Voltaire (1777) warf er 227 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="228"?> 110 E per questa ragione anche avea abbandonato fin dall’anno innanzi la lettura di Shakespeare (oltre che mi toccava di leggerlo tradotto in francese). Ma quanto più mi andava a sangue quell’autore (di cui però benissimo distingueva tutti i difetti), tanto più me ne volli astenere. (Zit. nach der Ausg. von Giampaolo Dossena, Turin 1967.) 111 Vgl. die Ausgabe von Giuseppe Pacella, 3 Bde., Mailand 1991. seinem französischen Kollegen vor, seine angeblich wörtlichen Übersetzungen sollten zwar Shakespeare diskreditieren, sie zeigten jedoch nur, wie schlecht er die betreffenden Stellen verstanden habe. Charakteristisch für die zwiespältige Haltung, die führende Vertreter des italienischen Geisteslebens gegenüber Shakespeare einnahmen, ist die folgende Äußerung aus Vittorio Alfieris Autobiographie. Wer zu viel gelesen habe, so Alfieri, verliere jede Ori‐ ginalität: Und daher hatte ich schon im Jahr zuvor die Lektüre Shakespeares aufgegeben (den ich dazu noch in französischer Übersetzung lesen musste). Doch je mehr mich dieser Autor (dessen Schwächen ich sehr wohl erkannte) im Innersten ergriff, desto mehr wollte ich Abstand von ihm halten. (eigene Übersetzung) 110 Vincenzo Monti, den Ugo Foscolo als „großen Übersetzer der Übersetzer von Homer“ ver‐ spottet hatte, versuchte sich auch als Bearbeiter einiger Übersetzer von Shakespeare. Seine Stücke übernehmen einige Motive von Shakespeare. Die erste etwas umfangreichere Über‐ setzung im engeren Sinn stammt von einer zur Familie der letzten Dogen gehörigen Vene‐ zianerin: Giustina Renier Michiel: Opere drammatiche di Shakspeare [sic], volgarizzate da una cittadina [dama] veneta (3 Bde., Venedig 1798-1800). Die Übersetzerin konnte zwar ein wenig Englisch, stützte sich jedoch hauptsächlich auf Le Tourneur. Da sie sich auch ihres Italienischen nicht wirklich sicher war, ließ sie ihr Manuskript von Cesarotti korrigieren. Nicht zuletzt unter dem Einfluss der deutschen Romantik und des später aus ihr her‐ vorgegangenen Historismus nimmt auch Italien im 19. Jahrhundert - vielleicht noch etwas später als Frankreich - Abschied von der Idee, es gebe einen linearen Fortschritt in aesthe‐ ticis, man könne Kunstwerke ganz unhistorisch anhand abstrakter Maßstäbe beurteilen. So werden nach und nach aus Shakespeares ‚Fehlern‘ bloße Eigentümlichkeiten, die einem durchaus missfallen können, die man jedoch nicht nach intersubjektiv verbindlichen Kri‐ terien verwerfen kann. Giacomo Leopardi, dem Shakespeare fern stand, lässt ihn als „nord‐ ischen“ Dichter, als scrittore veramente nazionale (Zibaldone 2098) gelten. Eine Eigentüm‐ lichkeit, die er bei ihm und anderen Vertretern der nordischen Literaturen ablehnt, sind die Selbstgespräche in Situationen der größten Verzweiflung. Kein Mensch spreche in einem solchen Fall mit sich selbst und schon gar nicht laut (Zibaldone 4419). 111 Auch Alessandro Manzoni schätze Shakespeare als Gegengewicht zur erdrückenden französischen Überlieferung. Er konnte ihn allerdings nur auf Französisch lesen. In seiner Lettre à Monsieur Chauvet sur l’unité de temps et de lieu dans la tragédie (1820) gibt er zu bedenken, dass man die langsame Entwicklung des Gefühls der Eifersucht in Shakespeares Othello nicht schildern könne, wenn man an die Einheit der Zeit gebunden sei. Er bean‐ sprucht also für die Tragödie Möglichkeiten, die Aristoteles dem Epos vorbehalten hatte. Im 19. Jahrhundert entstanden mehrere Übersetzungen. Zunächst übersetzte Michele Leoni (1776-1858), ein Freund Ugo Foscolos, zwischen 1814 und 1825 acht Dramen in Vers‐ form. 1831 erschien die Prosaübersetzung von Carlo Rusconi, die mehrfach neu aufgelegt 228 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="229"?> wurde. Zwischen 1875 und 1882 erschien in Mailand die Übersetzung von Shakespeares gesammelten Werken des Politikers und Schriftstellers Giulio Carcano (1812-1884). Die meisten Übersetzungen einzelner Stücke waren bereits viel früher erschienen. Sie wurden dann durch den aus der Schweiz stammenden Verleger Ulrico Hoepli zu einer Gesamtaus‐ gabe zusammengefasst. Carcanos Übersetzung wird allgemein dem philologisch-dokumen‐ tarischen Typ zugeordnet und galt lange Zeit als die italienische Standardübersetzung. Wenn man Verdis Shakespeare-Opern mitrechnet (Macbeth, 1847, Libretto: Franceso Maria Piave; Otello, 1887 und Falstaff, 1893, Libretti Arrigo Boito), so wurde Shakespeare im 19. Jahrhundert auf italienischen Bühnen häufiger aufgeführt als in Frankreich. Schließlich seien noch einige Gesamtausgaben aus dem 20. Jahrhundert erwähnt. Die Namen, die hier genannt werden, stehen meist für Herausgeber und Bearbeiter, die zu den von ihnen betreuten Ausgaben das eine oder andere Stück beigetragen haben. Es handelt sich fast ausschließlich um italienische Anglisten, die jedoch keineswegs, wie man an‐ nehmen könnte, philologisch-dokumentarische, sondern häufig Bühnenfassungen vorge‐ legt haben: Gabriele Baldini, der zweite Ehemann von Natalia Ginzburg, der gelegentlich Nebenrollen in Pasolinis Filmen übernommen hat: Opere complete (1963). Mario Praz: Tutte le opere (1965). Antonio Meo: Hamlet, Othello, Macbeth, King Lear (1974-77). Giorgio Mel‐ chiori: Teatro completo di William Shakespeare (1981-1991). Agostino Lombardo: Heraus‐ geber zweisprachiger Ausgaben, die ab 1992 in Mailand erschienen sind. Die beiden zuletzt Genannten waren Schüler von Mario Praz. Einige der neuesten Übersetzungen stammen von dem Journalisten Goffredo Raponi († 2003), der jahrelang für den Übersetzungsdienst der EU gearbeitet hat. Ihm ging es vor allem um die rappresentabilità, die Aufführbarkeit seiner Texte. In der ersten Szene von Macbeth (1998) zeigt er, wie er sich das vorstellt: 1 Whitch: When shall we three meet again In thunder, lightning or in rain? 1 a Strega: Quando noi tre ci rivedremo ancora? Con tuono, lampo o pioggia? Quando allora? 2 Whitch: When the burlyburly’s done, When the battle’s lost or won. 2 a Strega: Quando sarà finito il parapiglia E sarà vinta o persa la battaglia. 3 Whitch: That will be ere the set of sun. 3 a Strega: Sarà al calar del sole, questa sera. 1 Whitch: Where the place? 1 a Strega: E il luogo? 2 Whitch: Upon the heath. 2 a strega: Alla brughiera. 3 Whitch: There to meet with Macbeth. 3 a Strega: Laggiù dobbiamo andare Macbeth ad incontrare. 1 Whitch: I come, Graymalkin! 1 a Strega: Vengo, Gattaccio. 2 Whitch: Paddock calls. 2 a Strega: Ci chiama Ranocchio. 3 Whitch: Anon. 3 a Strega: Veniamo subito, in un batter d’occhio! All: Fair is foul and foul is fair; Hover through the fog and filthy air. Tutte e tre: Per noi il bello è brutto, il brutto è bello Fra la nebbia planiamo e l’aer fello. Man kann sich gut vorstellen, dass dieser Text, der sich ziemlich eng an das Original hält, seine Wirkung auf der Bühne nicht verfehlt. Es haftet ihm jedoch ein Erdenrest von vol‐ garizzamento und Lesefassung an; denn Raponi erklärt in Fußnoten, warum er Gattaccio „Dreckskatze“ und Ranocchio „froschförmiger Krüppel“ für Graymalkin und Paddock ver‐ wendet. Dorothea Tieck wählt ohne jede Erklärung Grau Lieschen und Unke. Sie hatte al‐ lerdings nicht genau die gleiche Textvorlage. 229 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="230"?> Spanien verfügt über eine Theatertradition, die ebenso weit wie die englische zurück‐ reicht. Wie in Frankreich hatte sich eine populäre Theatertradition gewissermaßen als Bei‐ werk zur Liturgie entwickelt (cf. supra). Neben den Autos sacramentales gab es bald auch comedias, die vor allem dank dem gelehrten Dichter Torres de Naharro eine gewisse Ver‐ bindung zur Antike aufwiesen. Ein Theater nach der von italienischen und französischen Theoretikern ausgearbeiteten aristotelischen Regelpoetik, das sich als Rezeptionshindernis hätte auswirken können, gab es nicht. Eher schon könnte die außergewöhnliche Menge verfügbarer Stücke (Lope de Vega und Calderón sollen Hunderte geschrieben haben) dazu geführt haben, dass das Interesse an Shakespeare und seinem Theater erst relativ spät er‐ wachte: The presence of a strong theatrical tradition in Spain with classic writers like Tirso de Molino, Lope de Vega and Calderón has in complex ways influenced the Spanish reception of Shakespeare. Their presence made the need for a foreign model like Shakespeare less urgent … (Dela‐ battista 2011, 2492) Erst am Ende des 18. Jahrhunderts erschienen zwei Übersetzungen des Hamlet: die erste von Ramón de la Cruz (1772) auf der Grundlage von Ducis (cf. supra); die zweite direkt aus dem Englischen von Leandro Fernández de Moratín (1798). Beide gehören dem klassizisti‐ schen Typ an. Fernández de Moratín verwendet im ersten Vers des Hamletmonologs das Verb existir; später wird ser allgemein üblich. Die darauf folgenden Übersetzungen einzelner Werke haben keine große Wirkung entfaltet. Einiges davon ist vielleicht noch zu entdecken. Erst in den 1870er Jahren wurden einige umfangreichere Übersetzungen veröffentlicht, in kurzer Reihenfolge, was auf ein neu erwachtes verlegerisches Interesse hindeuten könnte: 1872 Los grandes dramas de Shakespeare, eine Sammlung der wichtigsten Dramen von ver‐ schiedenen Übersetzern. Der Verleger Francisco Nacente hat selbst einige Übersetzungen zu dieser Ausgabe beigetragen. Kurz darauf erschienen Jaime Clark, Obras de Shakespeare (1872 f.) und Guillermo Macpherson, Dramas de Shakespeare (1873 ff.). Beide Übersetzer waren Engländer, die in Spanien lebten. Clark konnte in seinem kurzen Leben die geplante Übersetzung nicht zu Ende führen; Macpherson war erkennbar von A.W. Schlegel beein‐ flusst. 1915 brachte Rafael Martínez Lafuente eine Reihe von Übertragungen heraus, die auf François-Victor Hugo beruhten, der in Frankreich keinen anhaltenden Erfolg hatte. Das Vorwort seines Vaters ist in spanischer Übersetzung mit abgedruckt. 1929 folgte schließlich die erste vollständige Übersetzung in Prosa, die lange Zeit hindurch in Spanien als Refe‐ renztext galt: Luis Astrana Marín: Obras completas de William Shakespeare. Gut 30 Jahre später folgte das Teatro completo de William Shakespeare von José María Valverde (1967). Neuerdings sorgt die seit 1986 erscheinende Übersetzung von Ángel Luis Pujante in freien Versen für einiges Aufsehen. In Katalonien, Galizien und im Baskenland standen und stehen Shakespeare-Übersetzungen im Dienste des Ausbaus der jeweiligen Sprachen. 230 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="231"?> 112 Die bei Ángel Luis Pujante angefertigte Dissertation von Laura Campillo Arnaiz: Estudio de los ele‐ mentos culturales en las obras de Shakespeare y sus traducciones al español por Macpherson, Astrana y Valverde, Murcia 2005 enthält nicht nur eine überaus reichhaltige Bibliographie, sondern im Anhang auch eine vollständige Auflistung aller bis dahin erschienenen span. Shakespeareübersetzungen. Zu den Übersetzungen in Portugal, Brasilien und im spanischsprachigen Amerika und zu den Übersetzungen der Sonette, auf die wir hier nicht eingehen können, findet sich weiterführende Literatur u. a. bei Delabattista 2011, Pöckl 2007 und Zaro 2009. 112 Es gäbe gute Gründe, den englischen Roman des 18. Jahrhunderts insgesamt als ‚Ex‐ portartikel‘ zu behandeln. Autoren wie Daniel Defoe, Samuel Richardson, Henry Fielding, Tobias George Smollett oder Oliver Goldsmith haben dazu beigetragen, eine bislang als subliterarisch angesehene Gattung im wahrsten Sinne des Wortes ‚salonfähig‘ zu machen und literarisch gebildete Übersetzer für sie zu interessieren. Wir müssen uns hier auf einen Autor beschränken, der Schriftsteller und Übersetzer in Europa nachhaltig beschäftigt hat: den englischen Geistlichen irischer Abstammung Laurence Sterne (1713-1768). Zwei Werke haben schnell ihre Wirkung in verschiedenen europäischen Ländern entfaltet: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (1761-1767) und der unvollendet gebliebene fiktive Reisebericht A Sentimental Journey through France and Italy (1768). Sterne unterbricht ständig die eigene Erzählung, um sie zu kommentieren. Er lässt den Leser nie in der Illusion, am ‚richtigen Leben‘ teilzuhaben, sondern erinnert ihn ständig daran, dass das alles ja nur erfunden ist - eine elegante und unaufdringliche Art, das zu erzielen, was Brecht später nicht ohne Imponiergehabe „Verfremdungseffekte“ nennen sollte. Denis Diderot, der Sterne in Paris persönlich kennengelernt hatte, nimmt sich den Iren zum Vorbild und übertrifft ihn in mancherlei Hinsicht. In seinem Roman Jacques le Fataliste findet die Stelle aus Tristram Shandy, in der Trim erzählt, König Wilhelm habe seinen Soldaten versichert, dass jede abgeschossene Kugel ihre Bestimmung (it’s [sic] billet; (1)) habe, eine wörtliche Ent‐ sprechung (chaque balle … avait son billet (2)). Diderot muss den Roman auf Englisch gelesen haben, denn die erste französische Übersetzung ist erst später erschienen. Weit entfernt davon, seine Abhängigkeit von Sterne zu verschweigen, gibt er am Ende seines Romans zu, dass er wieder einmal aus dem Tristram Shandy abgeschrieben habe. Vielleicht verhalte es sich ja auch umgekehrt, und Sterne sei der Plagiator, aber das halte er für unwahrscheinlich (3): (1) King William was of an opinion, an’ please your honour, quoth Trim, that every thing was predestinated for us in this world; insomuch that he would often say to his soldiers that “every ball has it’s [sic] billet.” (Sterne/ Campbell Ross 2009, VIII, 19, p. 457) (2) Que disaient-ils? Le maître ne disait rien; et Jacques disait que son capitaine disait que tout ce qui nous arrive de bien et de mal ici-bas était écrit là-haut. L E M A Î T R E : C’est un grand mot que cela. J A C Q U E S : Mon capitaine ajoutait que chaque balle qui partait d’un fusil avait son billet. (Diderot/ Bénac 1962, 493) (3) Voici le second paragraphe, copié de la vie de Tristram Shandy, à moins que l’entretien de Jacques le Fataliste et de son maître ne soit antérieur à cet ouvrage, et que le ministre Sterne ne soit le plagiaire, ce que je ne crois pas, mais pour une estime toute particulière de M. Sterne … (ibid., 778) 231 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="232"?> 113 Schiller bevorzugt in seiner bekannten literaturtheoretischen Abhandlung die Form sentimenta‐ lisch. Es handelt sich um einen Fall von Übersetzung im weitesten Sinn; der französische Text wird durch den englischen lediglich angeregt, enthält jedoch an verschiedenen Stellen als Einsprengsel sehr wörtliche Übersetzungen. Im Hinblick auf die Übersetzungsgeschichte im engeren Sinn sind zwei Übersetzungen der unvollendet gebliebenen Sentimental Journey through France and Italy interessanter: Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien von Johann Joachim Christoph Bode (1730-1793; erste Auflage 1768) und Viaggio sentimentale di Yorick lungo la Francia e l’Italia. Traduzione di Didimo Chierico (erstmals 1808). Chierico ist ein fiktives Alter ego des italie‐ nischen Dichters Ugo Foscolo. Bode verdiente nach abwechslungsreichen Lehrjahren seinen Lebensunterhalt fast aus‐ schließlich mit Übersetzungen; damit war er einer der ersten in Deutschland (cf. infra Kap. 10.4). Seine Übersetzungen werden heute noch neu aufgelegt, so z. B. seine Version der Essais von Montaigne in leicht revidierter Form 1976 (cf. supra 9.3). Wir zitieren hier aus einem 1986 erschienenen Neudruck der vierten Auflage der Empfindsamen Reise. Ugo Foscolo (1778-1827) war der Sohn eines venezianischen Vaters und einer griechischen Mutter. Im Gegensatz zu Bode hat er sich als Dichter früh einen Namen gemacht. Seine Übersetzungen, darunter eine von Homers Ilias, waren Nebenarbeiten, die durch seine vielfältigen Sprachkenntnisse ermöglicht wurden. Wir zitieren aus einer im Internet ver‐ fügbaren Ausgabe, Pisa 1813. Die Sentimental Journey besteht aus einer Reihe von lose aneinandergereihten Episoden, in denen der nur mühsam zu verfolgende Erzählstrang ständig durch Betrachtungen der unterschiedlichsten Art unterbrochen wird. Foscolo übernimmt für den Titel das englische Adjektiv sentimental, das im Italienischen bis heute nicht ausschließlich negativ konnotiert ist. Bode verwendet auf Vorschlag Lessings die Neubildung empfindsam, die dann zur Be‐ zeichnung einer ganzen Epoche der deutschen Literatur herangezogen wurde: Empfind‐ samkeit. 113 Wir geben einige kurze Zitate zusammen mit der deutschen und der italienischen Übersetzung. Damit sollen einige Charakteristika des Textes und ihre Nachbildung in den Übersetzungen dokumentiert werden: (1) der Selbstbezug des Erzählers; (2) der Bezug auf die Sprache des Landes, in dem sich die Handlung abspielt; (3) und schließlich intertextuelle Verweise und Wortspiele. (1) When I told the reader that I did not care to get out of the Desobligeant […] I told him the truth, but I did not tell him the whole truth … (Sterne/ Saintsbury 1900, 18) Als ich dem Leser sagte, daß ich deswegen nicht gern aus dem Desobligeant steigen wollen, weil […] da sagte ich ihm die Wahrheit; aber die völlige Wahrheit sagt’ ich ihm nicht … (Sterne/ Bode 1986, 44) Allorché dissi al lettore che non mi giovava d’uscire della désobligeante […] io gli dissi il vero; ma non tutto il vero … (Sterne/ Foscolo 1812, 26) Ein Erzähler, der sich so in seinen Bericht einbringt, legt keinen Wert auf die Aufrechter‐ haltung der Authentizitätsfiktion. Bodes Syntax zeigt charakteristische Züge der deutschen 232 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="233"?> Umgangssprache (deswegen als vorausweisender Platzhalter für den folgenden Kausalsatz; rhythmisch hervorgehobene Einschränkung der einleitenden Wahrheitsbehauptung); viel‐ leicht waren seine Übersetzungen deshalb so erfolgreich. Foscolo dagegen verknappt die Aussage mit fast schon lateinischer Lakonik - ma non tutto il vero. Ich sagte ihm die Wahr‐ heit, aber nicht die ganze, wäre auf Deutsch ebenfalls möglich gewesen. Nun zum zweiten Beispiel. Yorick hatte im Gespräche mit seinem Wirt den Ausdruck tant pis in einem Kontext gebraucht, in dem tant mieux angemessen gewesen wäre, und wird über seinen Irrtum aufgeklärt. Das gibt dem Erzähler Anlass zu einem sprachkritischen Exkurs: (2) I cannot take a fitter opportunity to observe, once for all, that tant pis and tant mieux being two of the great hinges in French conversation, a stranger would do well to set himself right in the use of them, before he gets to Paris. A prompt French Marquis at our ambassador’s table demanded of Mr. H—,if he was H— the poet? No, said H— mildly —Tant pis, replied the Marquis. It is H— the historian, said another —Tant mieux, said the Marquis. (Sterne/ Saintsbury 1900, 34) Ich kann keine schicklichere Gelegenheit ergreifen, um ein für allemal anzumerken, daß, weil tant pis und tant mieux zwey von den großen Angeln sind, worauf sich die französische Conversation bewegt, ein Fremder sehr wohl thun würde, ihren richtigen Gebrauch zu merken, bevor er nach Paris kömmt. […] (Sterne/ Bode 1986, 65 f.) E qui gioverà più che altrove un avvertimento; badateci ora per sempre. Tant pis e Tant mieux sono due cardini della conversazione francese; e quel forestiero, che se ne impratichirà innanzi di entrare in Parigi, farà da savio. Un disinvoltissimo marchese francese, alla mensa del nostro ambasciatore, interrogò mister Hume s’egli era Hume poeta? —No; rispose Hume mansuetissimamente - Tant pis, soggiunse il marquese. Questi è Hume, storico; disse un altro Tant mieux, soggiunse il marchese. (Sterne/ Foscolo 1812, 53) Keiner der beiden Übersetzer gibt Äquivalente für tant mieux und tant pis an; sie überlassen es ihren Lesern, geeignete Entsprechungen zu finden. Bode macht auch keine Anstalten, seinen Lesern dabei zu helfen, die Persönlichkeiten zu identifizieren, die sich hinter H— verbergen. Foscolo setzt die gemeinten Namen kommentarlos ein. Er traut seinen Lesern die Auflösung des von Sterne aufgegebenen Rätsels nicht zu. Nun zum dritten Beispiel, bei dem es um zwei klassische Übersetzungsprobleme geht, intertextuelle Verweise und Wortspiele. Um die Darstellung etwas zu raffen, haben wir zwei weit auseinanderliegende Textstellen zusammen behandelt: (3) I wish’d to know what they had been - and was ready to enquire (had the same bon ton of conversation permitted, as in the days of Esdras) - “What aileth thee? And why art thou disquieted? And why is the understanding troubled? ” (Sterne/ Saintsbury 1900, 19) … and as I know this weakness [zu gutmütig zu sein], I always suffer my judgment to draw back something on that very account - and this more or less, according to the mood I am in, and the case - and I may add the gender too of the person I am to govern. (ibid. 35) 233 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="234"?> … und war bereit mich zu erkundigen, (hätte es derselbe Bon Ton erlaubt, der zu Esdras Zeiten Mode war.) […] „Was fehlet dir? Und warum bist du so bekümmert? Und warum ist deine Seele beunruhigt? “ … (Sterne/ Bode 1986, 45) … und da ich diese Schwäche kenne, so erlaube ich allezeit meinem Verstande, eben dieser Ursache wegen, sich ein wenig zu entfernen. Und zwar mehr oder weniger, je nach dem Modo oder Casu darin ich stehe, … und ich mag wohl hinzufügen, das Genus der Person nicht ausgenommen, die ich regieren soll. (ibid., 67) … ed io mi struggea di saperlo - e se le bon ton della conversazione me l’avesse consentito come a’ di d’Esdra, l’avrei interrogata senz’altro: - E che mai ti tormenta? E perché se’ tu inquieta? E perché è si turbato l’animo tuo? (Sterne/ Foscolo 1812, 28) … e perch’io so che ci pecco, comporto sempre che il mio giudizio riveda la mia stima difalcandovi, più o meno, secondo il mio modo d’allora, il caso - e dirò anche il genere della persona ch’io dovrò governare. (ibid., 54) Zu Esdras (dt. Esra) Zeiten, so Sterne, habe es der gute Ton noch erlaubt, einen Betrübten direkt nach dem Grund seines Klagens zu befragen. Die Bemerkung dient ihm als Vorwand, eine Stelle aus einem Esra zugeschriebenen apokryphen Bibeltext zu zitieren, der stark an Psalm 42 anklingt. Bode gibt keinerlei zusätzliche Erklärung. Foscolo hingegen führt in einer Fußnote die lateinische Version von Esras Text an und fügt hinzu, dass Sterne in solchen Fällen meist direkt aus der Bibel zitiere. Die King James Version hat an dieser Stelle allerdings nicht what aileth thee? , sondern why art thou cast down? Im zweiten Fall verwendet Sterne normale englische Wörter wie mood „Stimmung“, case „Fall“, gender „Geschlecht“, govern „regieren“ bewusst so, dass man sie auch als grammati‐ kalische Fachausdrücke verstehen kann: Modus, Kasus, Genus, regieren (im Sinne von Rektion). In Bodes Übersetzung klingt nur die technische, nicht die alltagssprachliche Be‐ deutung an. Foscolo ist bemüht, die Doppeldeutigkeit einigermaßen zu bewahren, und er‐ klärt sie in einer ausführlichen Fußnote. Trotz eines flammenden Bekenntnisses zur „dich‐ terischen“ Übersetzung, das er in der Einführung zu seiner Übersetzung der Ilias abgegeben hat (cf. Bschleipfer/ Schwarze 2011, 1953), erweist er sich meist als historisch gut infor‐ mierter, gewissenhafter Philologe. Als letzter englischer ‚Exportartikel‘ soll - wegen ihrer großen Wirkung auf die benach‐ barten Literaturen - eine Gruppe von Texten behandelt werden, bei denen es sich, wenn man ihrem Autor Glauben schenken dürfte, nicht um englische Literatur, sondern um Übersetzungen ins Englische handelt. Wir sind diesem Fall schon am Anfang dieses Buchs begegnet (cf. supa 1.1). Der Highlander James Macpherson (The Highlander ist auch der Titel eines seiner ersten Werke) veröffentlichte um die Mitte des 18.Jahrhunderts in rascher Folge einige epische Dichtungen, die er als Übersetzungen aus dem Gälischen, dem in den High‐ lands gesprochenen keltischen Dialekt, ausgab: Fragments of Ancient Poetry, Collected in the Highlands of Scotland and translated from the Galic or Herse Language (1760); Fingal, an Ancient Epic Poem in Six Books: together with Several Other Poems composed by Ossian, the Son of Fingal (1762); Temora, an Ancient Epic Poem in Eight Books: together with Several Other Poems composed by Ossian, the Son of Fingal (1763). Macpherson war in der Tat gebeten worden, keltische Texte seiner Heimat zu sammeln und zu übersetzen, und er konnte sich dabei auf einige Vorarbeiten stützen, in denen auch der Name Ossian erscheint. In deutsch‐ 234 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="235"?> sprachigen Publikationen wird immer wieder hervorgehoben, dass Herder Ossian als den „Homer des Nordens“ bezeichnet habe, aber dieser Vergleich wurde schon vorher in Schott‐ land selbst angestellt. Man sah schon früh in den mündlich überlieferten epischen Helden‐ dichtungen der schottischen Barden - durchaus zu Recht - ein Analogon zu den griechi‐ schen Epen. Macpherson, der seine Kindheit und Jugend als Angehöriger eines einflussreichen Clans im Tal des Spey südlich von Inverness zugebracht hatte, waren si‐ cherlich einige Bruchstücke zu Ohren gekommen und er hatte die bereits vorhandenen Textsammlungen studiert. Als gebildeter Brite, dessen Bildungssprache (nicht Mutter‐ sprache) das Englische war, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, anhand der bruchstückhaften Überlieferung umfangreichere epische Werke zu ‚rekonstruieren‘ und dabei das meiste frei zu erfinden und stilistisch dem Erwartungshorizont eines von der Frühromantik geprägten Publikums anzupassen. Die Fragments of Ancient Poetry kommen den überlieferten gälischen Gedichten noch am nächsten (vgl. u. a. Stafford 1988). Die Re‐ sonanz, die er mit seinen ‚Übersetzungen‘ fand, war überwältigend. Goethe zitiert längere Fragmente in seinem Werther, Napoleon beauftragte den Maler Ingres, Illustrationen zu einigen Szenen anzufertigen. Sie werden heute in vielen Neuauflagen abgedruckt. Vor allem in Deutschland war man lange von der Authentizität der Gedichte überzeugt. In England hingegen bezeichnete der Literaturkritiker und Lexikograph Samuel Johnson, ein Mann alter aufklärerischer Schule, Macphersons Übersetzungen bald nach ihrem Erscheinen als Schwindel und schwülstigen Kitsch. Rudolf Erich Raspe hatte bereits 1764 einige kurze Auszüge in einer Zeitschrift publiziert. Die erste einigermaßen vollständige Übersetzung in eine europäische Sprache stammt von Melchiorre Cesarotti, den wir bereits als Homer-Übersetzer kennengelernt haben (cf. supra 8.2). In Frankreich brachte der Marquis de Saint-Simon 1774 eine Version von Temora heraus. Drei Jahre später folgte der Fingal des Shakespeare-Übersetzers Le Tourneur. Be‐ sonders umstritten ist die Übersetzung von Auguste Lacaussade (1842), der u. a. auch Leopardi übersetzt hat. In Deutschland haben die Übersetzungen von Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg (1806) und Christian Wilhelm Ahlwardt (1811) einige Wirksamkeit ent‐ faltet. Inzwischen gibt es eine historisch-kritischen Ansprüchen genügende Version von Wolf Gerhardt Schmitt (2002). Wir wollen hier einen kurzen Abschnitt aus Fingal anführen, der im deutschen Sprach‐ raum besonders bekannt ist, da er vom jungen Brahms vertont wurde (op. 17). Die deutsche Fassung wird bis heute meist Herder zugeschrieben. Sie stammt jedoch von [ Johann Peter Ludwig] Eduard Brinckmeier (1811-1897), einem Schriftsteller, der unglaublich viel ge‐ schrieben und übersetzt hat; u. a. gibt es von ihm eine Ausgabe provenzalischer Trouba‐ dourlyrik. Zum Vergleich fügen wir den entsprechenden Passus bei Cesarotti hinzu: Weep on the rocks of roaring winds, o maid of Inistore! Bend thy fair head over the waves, thou lovelier than the ghost of the hills, when it moves on the sunbeam, at noon, over the silence of Morvan. He is fallen: thy youth is low! Pale beneath the sword of Cuthullin! No more shall valor raise thy love to match the blod of kings. Trenar, graceful Trenar died, o maid of Inistore! His gray dogs are howling at home: they see his passing ghost. His bow is in the hall unstrung. No sound is in the hall of his hinds. (Macpherson 1851, 303) 235 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="236"?> Vergine d’Inistorre, allenta il freno alle lagrime tue, delle tue strida empi le balze; il biondo capo inchina sopra l’onde cerulee; o tu più bella dello spirto dei colli in su ’l meriggio, che nel silenzio dei morveni boschi sopra d’un raggio tremulo di luce move soavemente: egli cadeo. È basso il tuo garzon, pallido ei giace di Cucullin sotto la spada; e ’l core fervido di valor, più nelle pugne. Non fia che spinga il giovinetto altero de’ regi il sangue ad emular. Trenarre, l’amabile Trenàr, donzella, è morto. Empion la casa d’ululati i fidi grigi suoi cani, e del signor diletto veggon l’ombra passar. Nelle sue sale pende l’arco non teso, e non s’ascolta sul colle de’ suoi cervi il corno usato. (Mac‐ pherson/ Cesarotti 1810, 22 f.) Wein an den Felsen, der brausenden Winde / weine o Mädchen von Inistore. / Beug über die Felsen dein schönes Haupt, / lieblicher du als der Geist der Berge, / wenn er um Mittag in einem Son‐ nenstrahle / über das Schweigen von Morvan fährt. / / Er ist gefallen, dein Jüngling liegt darnieder, / Bleich sank er unter Cuthulins Schwert. Nimmer wird Mut deinen Liebling mehr reizen, / das Blut von Königen zu vergießen. / / Trenar, der liebliche Trenar starb / O Mädchen von Inistore! / Seine grauen Hunde heulen nach ihm, / sie sehn seinen Geist vorüberziehn. / Sein Bogen hängt unge‐ spannt in der Halle / nichts regt sich auf der Heide der Rehe. (Macpherson/ Brinckmeier 1839, 60) Macpherson benutzte die Übersetzungsfiktion als Vorwand, sich so auszudrücken, wie er es als Dichter getan hätte, wenn er nicht hätte befürchten müssen, damit auf Spott und Unverständnis zu stoßen. Als angeblicher Übersetzer konnte er wagen, was er als Dichter nicht riskiert hätte, und hatte damit beachtlichen Erfolg. Beiden ‚Weiterübersetzern‘ ist es gelungen, nicht nur den Inhalt wiederzugeben, sondern auch den spezifischen ‚Ton‘ zu treffen. Cesarotti schöpft das ganze Arsenal archaischer Formen der italienischen Litera‐ tursprache aus und ist daher auch für gebildete Italiener nicht leicht zu verstehen. Brinck‐ meier bedient sich viel schlichterer Mittel und findet damit, wie zahlreiche Internetkom‐ mentare bezeugen, auch heute noch bei einem breiteren Publikum Anklang. Zurück zur Intraduktion in England in der Zeit nach Shakespeare: Zunächst wäre die Teilübersetzung der Werke von Rabelais durch den Schotten Sir Thomas Urquhart (1611-1660) zu erwähnen, die kurz vor seinem Tod erschienen ist. Diese unvollendet ge‐ bliebene Übertragung stellt eine Art von ‚Verlängerung‘ des eigenen burlesken Werks des Übersetzers dar. Der Legende nach soll er an einem Lachanfall gestorben sein. Der im Ver‐ gleich zu Urquhart sehr ‚seriöse‘ Dichter und Übersetzer John Dryden (1631-1700) hat als klassizistischer Dramatiker und Satiriker in der Nachfolge von Alexander Pope (cf. supra 7.2) nicht nur klassische Autoren übersetzt, sondern in den Vorreden zu seinen Überset‐ zungen auch übersetzungstheoretische und -praktische Überzeugungen geäußert. In seinem Essay „Three kinds of translation“ unterscheidet er auf einer Skala abnehmender Wörtlichkeit drei Stufen: die metaphrase „Wort für Wort-Übersetzung“, die paraphrase „idiomatische Übersetzung ohne Eingriffe in die Makrostruktur des Textes“ und schließlich nach dem Muster der klassischen Rhetorik die imitation (cf. Steiner 1975, 253 ff.). Weit aus‐ führlicher und gründlicher ist die Abhandlung On the Principles of Translation des schott‐ ischen Juristen, Historikers und Schriftstellers Alexander Fraser Tytler, Lord Woodhouselee (1747-1814) geraten. Er verfügte über französische, spanische und deutsche Sprachkennt‐ nisse. An einer Stelle seines Buchs kommt er auf das bisher noch kaum berührte Problem der Neuübersetzung zu sprechen. Tytler behauptet, Übersetzer, die ein bereits übersetztes Werk neu übersetzen, hüteten sich ängstlich davor, die Formulierungen ihres Vorgängers 236 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="237"?> zu übernehmen, um nicht des Plagiats bezichtigt zu werden. Wenn nun der erste Übersetzer schon die besten Lösungen gefunden habe, bleibe für seine Nachfolger nur das weniger Geeignete übrig (cf. Tytler 1907, 153 f.; Albrecht 1998, 107 f.). In der Folgezeit, als die Über‐ setzer von ihrer Arbeit leben mussten, war man mit Plagiaten weniger zimperlich. Tytler war nicht nur Übersetzungstheoretiker, sondern auch Übersetzer. Von ihm stammt die erste englische Übersetzung von Schillers Drama Die Räuber. Zwar ist der Übersetzer sichtlich bemüht, den rauhen Ton von Spiegelberg und seinen Spießgesellen (darunter Schufterle, der seinen schwäbischen ‚sprechenden‘ Namen behält) nachzubilden, aber man‐ ches wurde doch sehr gemildert. So wurde die 3. Szene des 2. Akts, die Spiegelbergs Er‐ zählung von dem Einbruch ins Nonnenkloster enthält, stark gekürzt. Was sich der damals noch gar nicht klassische Teenager Schiller da hat einfallen lassen, war einem britischen Zensor (mit dem Tytler rechnen musste) nicht zuzumuten. Die Stelle „wir hatten […] durch unsere Spionen Wind gekriegt, der Roller liege tüchtig im Salz“ wird mit we got notice by our spies that Roller lies snug in pickle wiedergegeben. Für ungläubige Leser fügt Tytler in einer Fußnote den deutschen Text hinzu. Enttäuschend ist die Art, wie Schillers großartige Schlusspointe expliziert wird: Nachdem Karl sich entschlossen hat, sich der Obrigkeit zu stellen, erinnert er sich an einen Tagelöhner, der elf Kinder zu ernähren hat: „Man hat tausend Louisdore geboten, wer den großen Räuber lebendig liefert. Dem Mann kann ge‐ holfen werden.“ Bei Tytler wird daraus - syntaktisch korrekter: „To him who shall deliver up the Robber Moor, a high reward is now proclaimed. He and his babes shall have it.” In einer neueren Übersetzung heißt es dankenswerterweise wörtlich: The man shall be served. Der nun folgende Überblick über die englischen Übersetzungsimporte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert muss notgedrungen extrem summarisch und selektiv ausfallen. Zunächst einige allgemeine Beobachtungen: Auch wenn die Klassiker der antiken und der südroma‐ nischen Literaturen weiterhin übersetzt wurden und osteuropäische ebenso wie außereu‐ ropäische Werke ins Blickfeld der Übersetzer gerieten, so bleibt doch das Französische bis ins frühe 20. Jahrhundert die wichtigste Ausgangssprache für Übersetzungen ins Englische. Das Deutsche kam später als ‚exotische‘ Inspirationsquelle hinzu. Thomas De Quincey, bekannt durch seine Confessions of an English Opium-Eater (1821), sah in Übersetzungen aus dem Deutschen eine Möglichkeit, der englischen Literatur neue Impulse zu geben (cf. Haynes 2006, 3). Dazu macht sich ein starkes Interesse für die eigene Vergangenheit geltend; es erschienen mehrere Übersetzungen altenglischer und mittelenglischer Werke in das mo‐ derne Englisch. Was das Wie des Übersetzens betrifft, so verbreitete sich im Rahmen der von Deutschland ausgegangenen ‚Wende‘ (cf. supra Kap. 8) zumindest in den höheren Etagen des Literaturbetriebs eine verfremdende Art des Übersetzens, die bezeichnender‐ weise von neueren Übersetzungshistorikern nicht nur konstatiert, sondern auch kritisiert wurde: The theory of Victorian translation appears from our point of view to have been founded on a fundamental error. The aim was to convey the remoteness both in time and place of the original work by the use of a mock-antique language … (Cohen 1962, 24) Später, im Anschluss an den Essay „On translating Homer“ (1861) von Matthew Arnold, der eine große Wirkung entfaltet hat, setzte sich ein gemäßigt einbürgernder Überset‐ 237 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="238"?> zungsstil durch, die „plain prose method“, die vor allem der Forderung nach readability genügen möchte. Sie gilt über den englischen Sprachraum hinaus inzwischen als allgemeiner Maßstab, an dem sich vor allem Verlagslektorinnen orientieren. Nur allgemein als ‚schwierig‘ geltenden Autoren wird ein anderer Übersetzungsstil zugestanden. Der Alt‐ philologe Emile Victor Rieu (1887-1972), dessen nach dem Zweiten Weltkrieg erschienene Übersetzungen der Homerischen Epen inzwischen als Referenztexte gelten, prägte - of‐ fenbar unabhängig von Nidas dynamic equivalence (cf. supra 6.2) - den Ausdruck „the principle of equivalent effect“ (Cohen 1962, 34). In beiden Fällen handelt es sich um eine plausibel klingende Invarianzforderung, deren Einhaltung sich allerdings kaum überprüfen lässt. Stellvertretend für das klassische französische Drama wurden Corneilles Cid und Racines Phèdre als Extraduktion in Kap. 9.3 behandelt. Das englische Publikum scheint jedoch zu‐ mindest im 18. Jahrhundert eher an Komödien denn an Tragödien interessiert gewesen zu sein, und so war Molière „the most extensively exploited plawright on the English stage“. Es erschienen zahlreiche Bühnenversionen (cf. Kewes 2005, 322-325). Die bekannteren Prosaschriftsteller, wie der Abbé Prévost, Crébillon, Marivaux mit Vie de Marianne oder Fénelon mit Télémaque (cf. supra 9.1), sind bereits im 18. Jahrhundert auf dem englischen Buchmarkt vertreten. Mme de La Fayettes La Princesse de Clèves - für manche Literaturforscher der Prototyp des modernen Romans - erschien 1679 in einer anonymen Übersetzung; erst 1892 folgte eine wirklich sorgfältige Übertragung durch den Amerikaner Thomas Sergeant Perry. Einige heute kanonische Autoren stießen anfangs im englischen Sprachraum auf vergleichsweise geringes Interesse. René Descartes und Blaise Pascal fanden erst im 19. Jahrhundert kompetente und gründliche Übersetzer. Ähnlich verhält es sich mit Diderot (cf. supra): „… to modern eyes there is one striking absence, that of Denis Diderot“ (France 2005a, 362). Natürlich wurde die Encyclopédie, die er zusammen mit D’Alembert herausgegeben hat (cf. infra 10.3), nie übersetzt, jedoch hatte sie eine Mo‐ dellfunktion für die bald danach erstmals in Schottland erschienene Encyclopedia Britan‐ nica. Montesquieus Hauptwerk De l’Esprit des Lois (1748), in dem das im 21. Jahrhundert wieder besonders aktuelle Prinzip der Gewaltenteilung (séparation des pouvoirs; bei Mon‐ tesquieu distinction oder distribution des pouvoirs) propagiert wird, wurde bereits wenige Jahre später von Thomas Nugent (The Spirit of Law) übersetzt. Diese Version wurde später bei der Ausarbeitung der Verfassung der Vereinigten Staaten herangezogen. Die beiden großen Antipoden Voltaire (François-Marie Arouet) und Rousseau sind z.T. bereits zu Leb‐ zeiten so häufig übersetzt worden, dass ihnen die Oxford History ein eigenes Kapitel ge‐ widmet hat (France 2005b). Wir haben Candide bereits als französischen ‚Exportartikel‘ behandelt (cf. supra 9.3). Im 19. Jahrhundert stiegen die englischen Versionen der Werke der französischen Ro‐ mantiker (Victor Hugo, Alphonse de Lamartine, Alfred de Musset und andere) zu school room classics auf (cf. France 2005c, 235). Hugos Notre Dame de Paris und Les misérables erschienen in oft neu aufgelegten Übersetzungen. Baudelaire, der in Frankreich auch als Übersetzer Edgar Allan Poes bekannt war, spielte eine weit geringere Rolle (möglicherweise auch wegen der Justizaffäre um die Fleurs du Mal). Heute kann man die bekanntesten Ge‐ dichte dieses Zyklus in bis zu zwanzig verschiedenen englischen Versionen im Netz mitei‐ nander vergleichen. Stendhal, der sich ohnehin als Autor für die happy few gesehen hatte, 238 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="239"?> blieb im 19. Jahrhundert weitgehend unbeachtet. Von Chateaubriand erschienen vor allem die geistesgeschichtlichen Werke (z. B. Le génie du christianisme) auf Englisch (The Spirit of Christianity, Charles I. White 1856). Von den fiktionalen Werken wurde zunächst nur Atala übersetzt (1876) - sicherlich nicht zuletzt wegen der dort geschilderten, poetisch stilisierten Welt der Indianer, die der Autor möglicherweise aus eigener Anschauung kennengelernt hatte. Der Prototyp der exotischen Idylle, Bernardin de Saint-Pierres etwas früher entstan‐ dener Roman Paul et Virginie, war bereits 1795 von Helen Maria Williams übersetzt worden. Was die großen Realisten und Naturalisten betrifft, so musste man bis zum Ende des 19. Jahrhunderts warten, bis Balzacs Comédie humaine in vollständiger Übersetzung vorlag. In kurzen Abständen erschienen gleich drei Übersetzungen (die Berner Übereinkunft wurde de facto noch nicht beachtet): Katharine Prescott Wormeley, The Comedy of Human Life (1896); G. B. Ives et al., The Human Comedy (1895-1900) und Ellen Marriage et al., The Human Comedy (1895-1998). Alle drei Übersetzungen wurden später heftig kritisiert. An spannenden plots bestand ein größeres Interesse als an sprachlich elaborierten Darstellungen alltäglicher Ereignisse: So war Guy de Maupassant mit seinen Novellen auf dem englischen Buchmarkt zunächst erfolgreicher als sein Mentor Flaubert. Madame Bovary wurde erst‐ mals 1886 von Eleanor Marx-Aveling, der Tochter von Karl Marx, übertragen. Paul de Man, einer der Verkünder des sog. „Dekonstruktivismus“, hat diese Übersetzung 2005 über‐ arbeitet. Im 20. Jahrhundert sind neuere Übersetzungen des Romans erschienen. Aus Sicht der Übersetzungsforschung sind die Romane von Émile Zola von besonderem Interesse, da er vulgärsprachliche Elemente nicht nur in die direkte Rede der Protagonisten einfließen lässt (das hatten vor ihm bereits Balzac und Hugo getan; cf. infra Kap. 14.1), sondern auch in die erlebte Rede, den style indirect libre, und manchmal sogar in den récit des Erzählers. Französische Kritiker hatten darauf zunächst mit Unverständnis reagiert. Wir zitieren hier eine kurze Stelle aus L’Assommoir und The Drinking Den, einer modernen englischen Über‐ setzung, um zu zeigen, wie ein moderner Übersetzer das Problem des Auftretens von Vul‐ garismen meistert, hier ganz konventionell in der direkten Rede: « Dis donc, feignant! Pour quand les quarante millimètres ? Es-tu d’attaque, maintenant que tu as le sac plein, sacré soiffard ? » Le forgeron voulait parler d’une commande de gros boulons qui nécessitaient deux frappeurs à l’enclume. « Pour tout de suite, si tu veux, grand bébé ! » répondit Bec-Salé, dit Bois-sans-Soif. Ça tête son pouce et ça fait l’homme ! Tu as beau d’être gros, j’en ai mangé d’autres. » (Zola/ Dubois o. J., 218) “Now, then, you lazy devil! When is the forty millimetres going to get done? Do you feel in the mood, now that you’ve got a good skinful, you old boozer? ” The blacksmith was referring to an order for large bolts, which would need two hammers on the anvil. “Right now, if you want, you big baby! ” replied Bec-Salé (also known as Drinks-Without-Thirst). He sucks his thumb and acts the man. Big you may be, but I’ve gobbled up plenty like you! ” (Zola/ Buss 2000, 164). Deutsche Übersetzer haben lange daran gearbeitet, Zolas Vulgarismen in den Griff zu be‐ kommen, weil es, anders als im Englischen, keine Tradition des Gebrauchs niedriger Re‐ gister in der Literatur gab (cf. Albrecht 1998, 307 und infra, Kap. 14.2). 239 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="240"?> 114 Zit. nach Marcelo Dascal: Gottfried Wilhelm Leibniz. The Art of Controversies. Dordrecht 2007, 371. 115 Zit. nach der im Netz verfügbaren Ausg. Edinburgh 1827, Vol. I, p. XV. Als John Locke von Thomas Burnett, dem Bischof von Salisbury, erfuhr, Leibniz wünsche mit ihm in Korrespondenz zu treten, soll er abwehrend gesagt haben: „We live in quite peaceful neighbourhood with the gentlemen of Germany because they do not know our books and we do not read theirs …”. 114 Das gilt für die literarischen Beziehungen zwischen den beiden Sprachräumen bis weit in das 18. Jahrhundert hinein. Aufgrund der Zensur unter Napoleon musste Mme de Staëls Buch De l’Allemagne in England erscheinen und wurde dort auch im Original gelesen. Dadurch wurde ein lebhaftes Interesse für deutsche Literatur ausgelöst. Als wichtigste Vermittler traten neben dem bereits erwähnten Thomas De Quincey Samuel Taylor Coleridge (1772-1834), auch er ein Opiumesser, der in Deutsch‐ land studiert hatte, und Thomas Carlyle (1795-1881) in Erscheinung. Coleridge übersetzte vor allem Schiller (so z. B. die Wallenstein-Trilogie um 1800). Der Schotte Carlyle, berühmt wegen seiner Abhandlung On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History (1841), stand in Verbindung mit Goethe und übertrug u. a. den Wilhelm Meister. Seine vierbändige An‐ thologie German Romance (etwa „deutsche phantastische Erzählungen“), die erstmals 1827 in Edinburgh erschien, stellt neben Goethe auch damals weniger bekannte Autoren wie Johann Karl August Musäus, E.T.A. Hoffmann (Der goldene Topf), Friedrich de la Motte Fouqué, Ludwig Tieck und Jean Paul vor. In seiner Vorrede betont er - das dürfte damals ungewöhnlich gewesen sein - die Stammesverwandtschaft zwischen Briten und Deutschen aus der Zeit der Angeln und Sachsen (cf. supra, Kap. 5): … thirty millions of men, speaking in the same old Saxon tongue, and thinking in the same old Saxon spirit with ourselves, may be admitted to the right of brotherhood which they have long deserved … 115 Höhnisch bemerkt der Übersetzungshistoriker J. M. Cohen (1962, 24), diese Versionen deut‐ scher Erzählungen würden „outdo their originals in Teutonic ungainliness of style“. Viel‐ leicht meint er damit Carlyles Übersetzungen einiger Texte von Jean Paul, den Carlyle in seiner Einführung emphatisch als „one of the chosen men of Germany and of the World“ bezeichnet hatte. Wir geben als kurze Probe die ersten Sätze aus Quintus Fixlein und über‐ lassen es unseren Lesern zu entscheiden, ob die Übersetzung wirklich „teutonischer“ da‐ herkommt als das Original: Egidius Zebedäus Fixlein war gerade acht Tage wirklicher Quintus [Lehrer der Quarta] gewesen und hatte sich warm dozieret, als das Glück ihm vier erquickende, mit Blumen und Streuzucker überschüttete Kollationen und Gänge auf den Eßtisch setzte: es waren die vier Kanikularwochen. Ich möchte noch den Totenkopf des guten Mannes streicheln, der die Hundsferien erfand … ( Jean Paul/ Miller 1975 [1813], Vol 7, 65) Egidius Zebedäus Fixlein had just been for eight days Quintus, and fairly commenced his teaching duties, when Fortune tabled out for him four refreshing courses and collations, besprinkled with flowers and sugar. These were the four canicular weeks. I could find in my heart, at this hour, to pat the cranium of that good-man who invented the Dog-days Vacations … ( Jean Paul/ Carlyle, zit. nach Ausg. Boston 1901, Vol. 2, 191) 240 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="241"?> Von einem Übertreffen der „teutonischen Unbeholfenheit“ (die in Wirklichkeit einer ent‐ schiedenen Ausdrucksabsicht entspringt) kann zumindest hier keine Rede sein. Für den modernen deutschen Leser ist Carlyles Übertragung leichter verständlich als das Original - das System des klassischen deutschen Gymnasiums, dessen Kenntnis Voraussetzung für das Verständnis des Terminus Quintus ist, wird in einer Fußnote erklärt. Vielleicht hat es mit dem von verschiedener Seite behaupteten provinziellen Charakter der deutschsprachigen Literatur zu tun, dass Übersetzungen aus dem Deutschen weniger in London als vielmehr in Edinburgh, Manchester, Bristol oder Coventry erschienen (cf. Constantine 2006, 213). Autoren wie Adalbert Stifter, Gottfried Keller, Eduard Mörike, Conrad Ferdinand Meyer, Theodor Storm oder Wilhelm Raabe waren (und sind z.T. bis heute) einem internationalen Publikum schwer zu vermitteln (cf. Albrecht 1998, 329). Man sucht sie vergeblich im Namenregister des vierten Bandes (1790-1900) der Oxford History. Im Original sind sie nicht selten in den Antiquariaten englischer Provinzstädte erhältlich. Goethe und Schiller sollen im nächsten Unterkapitel als deutsche ‚Exportartikel‘ behan‐ delt werden. Nun noch einige Bemerkungen zu den Lyrikern. Heinrich Heine war schon im 19. Jahrhundert mit mehreren Übersetzungen auf dem Buchmarkt präsent. Hölderlin blieb weitgehend unbekannt. Allerdings lassen sich Gedichtübersetzungen nur schwer er‐ fassen, da man dazu die zahllosen Anthologien gründlich durchforsten müsste, die gerade in Großbritannien von beachtlicher Qualität sind. Man denke nur an die Norton Anthology of World Masterpieces. Der Abstecher ins 20. Jahrhundert kann kurz ausfallen, denn in einer Zeit, in der sich das Englische zunehmend als lingua franca etabliert hat, treten vorwiegend Übersetzungen vom Typ b) und d) auf (cf. supra, 9), die in übersetzerischer Hinsicht weniger interessant sind. Zunächst zu Hölderlins Gedicht Hälfte des Lebens, das in einer kurzen Zeitspanne erstaunlich viele Übersetzungen ins Englische erfahren hat: Stephen Spender (1935); David Gascoyne (1938), Frederic Prokosch (1943), Michael Hamburger (1943), James Blair Leishman (1944), Fred Uhlmann (1978), John Irons (1998) - die Reihe ist nicht vollständig. Die hier wiedergegebene Übersetzung stammt von Frederic Prokosch: Mit gelben Birnen hänget Laden with yellowing pears Und voll mit wilden Rosen and with wild roses filled Das Land in den See. lies the land in the sea: Ihr holden Schwäne, Beautiful swans, Und trunken von Küssen drunk with your kisses you Tunkt ihr das Haupt dip your heads in the Ins heilignüchterne Wasser. saintly sobering water. Weh mir, wo nehm ich, wenn Alas, where can I find, when Es Winter ist, die Blumen, und wo winter arrives, the flowers? Where Den Sonnenschein, the light of the sun Und Schatten der Erde? and the shadows of the earth? Die Mauern stehn The walls arise Sprachlos und kalt, im Winde speechless and cold: in the wind Klirren die Fahnen. clatter the banners. 241 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="242"?> Hierzu wäre viel zu sagen. Als ausschließlich retrospektiv-deskriptiv argumentierende Übersetzungsforscher begnügen wir uns mit einer boshaft wörtlichen Rückübersetzung der ersten drei Verse: „Beladen mit gilbenden (sagen wir lieber „sich gelb färbenden“) Birnen und angefüllt mit wilden Rosen liegt das Land im Meer.“ Hier denkt man eher an eine Insel im Meer als an ein Seeufer. Die meisten anderen Übersetzer haben lake für See. Die fran‐ zösische Übersetzerin Geneviève Bianquis liefert mit la rive surplombe le lac die genaueste Paraphrase. Mit dem Vokativ Ihr holden Schwäne haben alle Übersetzer ihre Schwierig‐ keiten, denen sie dadurch aus dem Wege gehen, dass sie das folgende ‚biblische‘ und einfach weglassen. Das Metrum spielt bei dieser kurzen Analyse keine Rolle. Das Hauptproblem für alle Hölderlinexegeten und Hölderlinübersetzer ist die Kollokation klirren die Fahnen im letzen Vers. Können Fahnen klirren? Generationen von Exegeten und Übersetzer in verschiedene Sprachen haben die Ansicht vertreten, es könne sich dabei nur um metallische Wetterfahnen handeln. Mario Wandruszka (1981, 302), der dem Gedicht und seinen Über‐ setzungen ein eigenes Kapitel gewidmet hat, erklärt mit Bestimmtheit: „Stoffahnen klat‐ schen, knattern, knallen, sie klirren nicht“. Dem wagen wir zu widersprechen, und dies möglicherweise gegen Hölderlins Ausdrucksabsicht, die sich nicht mehr rekonstruieren lässt. Ein guter Übersetzer übersetzt, was der Text hergibt, nicht, was der Autor gemeint haben könnte. Wetterfahnen klirren genauso wenig, sie klappern, knirschen und quiet‐ schen. Zum Klirren bringt man Glas und Eis. Vom Regen durchnässte und später steifge‐ frorene Fahnen kann man klirren hören, wenn der Wind auffrischt. Im zwanzigsten Jahrhundert haben zwei Nobelpreisträger besondere Aufmerksamkeit beim englischsprachigen Lesepublikum gefunden: Thomas Mann und Günter Grass. Beim zuerst Genannten kann von „Teutonic ungainliness of style“ keine Rede sein. Die Ameri‐ kanerin Helen Tracy Lowe-Porter, die einen großen Teil seines Œuvres übersetzt hat, findet sich in den gelegentlich unübersichtlichen Perioden, in denen nichts ungesagt bleiben soll, recht gut zurecht, auch dort, wo Mann mit den Rededarstellungen alles andere als schul‐ mäßig verfährt, wie im folgenden Pasus von Tod in Venedig (Death in Venice): Über den neuen, in mannigfach individuellen Erscheinungen wiederkehrenden Heldentyp, den dieser Schriftsteller [Gustav Aschenbach] bevorzugte, hatte schon frühzeitig ein kluger Zerglie‐ derer geschrieben: daß er die Konzeption „einer intellektuellen und jünglinghaften Männlichkeit“ sei, die in stolzer Scham die Zähne aufeinanderbeißt und ruhig dasteht, während ihr die Schwerter und Speere durch den Leib gehen. Das war schön, geistreich und exakt, trotz seiner scheinbar allzu passivischen Prägung. (Mann 1954, 195) The new type of hero favoured by Aschenbach, and recurring many times in his works, had early been analysed by a shrewd critic: “The conception of an intellectual and virginal manliness, which clenches its teeth and stands in modest defiance of the swords and spears that pierce its side.” That was beautiful, it was spiritual, it was exact, despite the suggestion of too great passivity it held. (Mann/ Lowe-Porter 1971, 11) Mit virginal für jünglinghaft wird die vorausschauende Anspielung auf die Homosexualität des Protagonisten möglicherweise abgeschwächt. Ein Einschub wie the suggestion [of pas‐ sivity] stellt eine von jenen ‚Korrekturen‘ dar, die sich in vielen Übersetzungen finden. Günter Grass gibt sich vor allem in seinen frühen Erzählwerken, wie z. B. in Die Blech‐ trommel, unbekümmert hemdsärmelig, insbesondere was die Verwendung sprechsprachli‐ 242 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="243"?> cher und mundartlicher Elemente betrifft, die sich bei genauerem Hinsehen als ziemlich künstlich erweisen: [Anja Koljaiczek] So isses nu mal mit de Kaschuben, Oskarchen. Die trefft es immer am Kopp. Aber ihr wird ja nun wägjehn nach drieben, wo besser is, und nur de Oma wird blaiben. Denn mit de Kaschuben kann man nich kaine Umzüge machen, die missen immer dablaiben und Koppchen hinhalten, damit de anderen drauftäppern können, weil unserains nich richtig polnisch is und nich richtig deitsch jenug, und wenn man Kaschub is, das raicht weder de Deitschen noch de Pollacken. De wollen es immer genau haben. (Grass 1987, Bd. II, 512) Yes Oscar, that’s how it is with the Kashubes. They always get hit on the head. You’ll be going away where things are better, only Grandma will be left. The Kashubes are no good at moving. Their business is to stay where they are and hold out their heads for everybody else to hit, because we’re not real Poles and we’re not real Germans, and if you’re a Kashube, your’re not good enough for the Germans or the Polacks. They want everything full measure. (Grass/ Manheim 1989, 409) Man hat den amerikanischen Übersetzer Ralph Manheim wegen der Glättungen und starken Kürzungen kritisiert, die er an den Grass’schen Texten vorgenommen hat. Dass er gänzlich in die plain prose method (cf. supra) verfallen sei, wird ihm niemand vorwerfen wollen. Als gänzlich unanwendbar erweist sich dieses Verfahren bei einem Autor wie Martin Heidegger. In seinem Buch mit dem programmatischen Titel Making Sense of Heidegger behauptet Thomas Sheehan, die folgenden Ausdrücke seien „simply different names for the same phenomenon“: appropriation Ereignis thrownness Geworfenheit thrown-openness der geworfene Entwurf the thrown-open realm der Entwurfbereich the essence of human being Existenz or Da-sein the clearing die Lichtung the appropriated clearing die ereignete Lichtung the open das Offene (Sheehan 2015, XV) Man braucht kein profunder Kenner Heideggers zu sein, um zu erkennen, dass sowohl die Behauptung der Synonymie zwischen als auch die Wahl der englischen Entsprechungen für Heideggers Ausdrücke einer höchst eigenwilligen Interpretation entspringt. Wird es damit gelingen, einen für Englischsprachige nachvollziehbaren Sinn in die Texte des Den‐ kers aus Meßkirch zu bringen? Eines wird jedenfalls nicht gelingen: Wie immer man es anstellen will, Heideggers Texte werden auch in englischer Sprache nicht der Forderung nach readability genügen. Das zeigt schon ein kurzer Passus aus Being and Time: Das faktische Da-sein kommt vielmehr, ekstatisch sich und seine Welt in der Einheit des Da ver‐ stehend, aus diesen Horizonten zurück auf das in ihnen begegnende Seiende. Das verstehende Zurückkommen auf … ist der existenziale Sinn des gegenwärtigenden Begegnenlassens von Seiendem … (Heidegger 19 2006, 366) 243 9.4 Großbritannien und Irland <?page no="244"?> Factical ex-istence, understanding itself and its world ex-statically in the unity of its openedness, comes back from these horizons to the things encountered within them. Coming back to these things understandingly is the existential meaning of letting them be encountered in making them [meaningfully] present. (Heidegger/ Macquarrie and Robinson 1962, 417) Diese Übersetzung ist erkennbar um ‚Sinnstiftung‘ bemüht; leicht lesbar ist sie deswegen noch lange nicht. 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz Für den deutschsprachigen Raum gibt es zwar unzählige partielle übersetzungsgeschicht‐ liche Abhandlungen und Bibliographien (insb. zum 20. Jahrhundert für verschiedene Aus‐ gangssprachen; cf. infra), aber immer noch keine Gesamtdarstellung wie die Oxford History of Literary Translation in English oder die Histoire des traductions en langue française. Die vor über hundert Jahren erschienene Geschichte des Übersetzens im 18. Jahrhundert von Walter Fränzel (1914) ist nicht nur wegen ihres lebendigen Stils weiterhin lesenswert, sie wurde auch von keinem neueren Werk wirklich vollständig ‚ersetzt‘. Hans J. Vermeer, der sich eher als Übersetzungstheoretiker denn als Übersetzungshistoriker einen Namen ge‐ macht hat, liefert in sieben Bänden (1992-2000) eine Fülle von Material, auch zum deutschen Sprachraum, aber seine Geschichte geht nicht über die Renaissance und den Humanismus hinaus. Der Bitte, wenigstens noch die zwei folgenden Jahrhunderte zu behandeln, konnte er leider nicht nachkommen. Viele Fakten aus der älteren Zeit wurde bereits in den vorangehenden Kapiteln behandelt, zumindest punktuell; das gilt u. a. für Luther (cf. supra, Kap. 6) und für die süddeutschen Frühhumanisten Niklas von Wyle und Heinrich Steinhöwel (cf. supra 4.1 und 4.5). Von Fischarts Rabelaisübersetzung und Ulenharts stark einbürgernder Version einer Novelle von Cervantes war ebenfalls schon die Rede (cf. supra 4.5; 9.2). In frühneuhochdeutscher Zeit gab es bereits eine rege Übersetzungstätigkeit. Neben der schönen Literatur im engeren Sinn (cf. infra) spielten Fachtexte, geschichtliche Darstellungen, religiöse und philosophi‐ sche Texte (z. B. De secretis naturae von Ramon Llull → Künstliche eröffnung aller verbor‐ genhayten der natur, 1546) und vor allem Reiseberichte eine große Rolle. Eine eigene Über‐ setzungsgattung bildeten die Prosaauflösungen mittelalterlicher Versromane, wobei sich adlige Damen (z. B. Elisabeth von Nassau-Saarbrücken oder Eleonore von Österreich) be‐ sonders hervortaten (cf. Albrecht 2011 und infra 10.1). Seit der Entstehung der Eidgenossenschaft im 13. und 14. Jahrhundert und spätestens seit den Napoleonischen Kriegen lässt sich das deutsche Sprachgebiet nicht mehr mit dem politischen Begriff „Deutschland“ identifizieren. Dennoch werden schweizerische und ös‐ terreichische Autoren (nicht immer zur Freude ihrer Landsleute) stillschweigend zur deut‐ schen Literatur gerechnet. Dasselbe gilt für die Autoren dreier literarisch überaus produk‐ tiver Provinzen, die heute nicht mehr zum deutschen Sprachgebiet gehören: das Elsass, Schlesien und Ostpreußen. Man sollte also besser ‚politisch korrekt‘ von der deutschspra‐ chigen statt von der deutschen Literatur sprechen. Diese Bezeichnung verwendet auch Sandra Richter in ihrer Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur (cf. Richter 2017, 19-22). 244 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="245"?> 116 Beide Texte im Netz verfügbar unter https/ / books.google.de. 117 Deutsche Üb. von Hans G. Schürmann: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700-1775. 118 Eléazar de Mauvillon: Lettres françaises et germaniques. London 1740. Mit einem Elsässer soll auch unsere kurze Übersicht beginnen: Thomas Murner (1475-1537) aus Oberehnheim (heute Obernai) war ein weitgereister Franziskanermönch, der sich mit Satiren in der Art von Sebastian Brant und polemischen Schriften gegen die Reformation hervorgetan hatte. Seine Version der Aeneis steht am Beginn der übersetzeri‐ schen Auseinandersetzung mit der Antike in neuhochdeutscher Zeit: Vergilii Maronis drey‐ zehen Aeneadische Bücher von Troianischer Zerstörung … (Straßburg 1515). Es genügt, die ersten Knittelverse anzuführen, um einen Eindruck vom Gesamtwerk zu vermitteln (Vergils Originaltext findet sich in 9.1). Wir konfrontieren diese Übersetzung mit der ein knappes Jahrhundert später entstandenen des Augsburger Meistersingers Johannes Spreng (1524-1601), der angeblich Murners Übersetzung benutzt hat. Seine Übersetzung aus dem Jahr 1600 ist erst 1610 gedruckt worden): Ich beschreib die Waffen und den man Den Mann gewaltig in dem Streit / des, der zum ersten gschiffet kam. Beschreib ich / so vor langer Zeit Flüchtig in das welische landt Auß Troia dem Reich entfloh geen Lauinien wol erkant Und in Italiam darzog Der zu lande und auch uff meere Kam durch Göttliche Providenz / geworfen ward, geiebet [gequält] sere Entlich in die Lavinisch Grentz / Durch der Götter kraft und zorn Und in die Statt Laurentum klar / Iunonis der göttin hochgeborn Erlitt viel Unglück und Gefahr Wieviel er doch erlitten hat So wol zu Wasser als zu Land / da er wolt buwen, Rom die stat … 116 Dieses geschach durch Widerstand Der Götter / und Iunonis Zorn / Viel Volks hat er im Krieg verlohrn / Und ausgestanden viel Unrath / Biß von ihm ward erbawt die Statt … Das kommt behäbig und ein wenig holprig daher. Für die ersten fünf Verse Vergils braucht Murner zehn, Spreng sogar vierzehn. Die besonders bei Spreng vorhandenen erklärenden Ausschmückungen erinnern ein wenig an die volgarizzamenti. Wir machen nun einen Sprung in die Zeit, die Eric A. Blackall treffend mit The Emergence of German as a Literary Language überschrieben hat. 117 Nach dem Dreißigjährigen Krieg erholten sich die deutschsprachigen Länder nur langsam von den Verheerungen, die auch zu einer Dezimierung der Bevölkerung geführt hatten. Übersetzungen wurden als notwen‐ diges Mittel zur Wiederbelebung der deutschsprachigen Literatur angesehen. Der Schlesier Martin Opitz hat das besonders klar erkannt (cf. supra 4.1). Noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts begründete ein missgelaunter französischer Lektor in Braunschweig, Elé‐ azar de Mauvillon, später Privatsekretär August des Starken, seine Überzeugung von der Unterlegenheit der deutschen Kultur u. a. damit, dass in Deutschland viel aus dem Fran‐ zösischen, in Frankreich dagegen kaum etwas aus dem Deutschen übersetzt werde. 118 Falsch war seine Behauptung zu diesem Zeitpunkt nicht. 245 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="246"?> 119 Vittorio Santoli: Dal diaro di un critico. Memorie di un germanista. Hg. von Giuseppe Bevilacqua und Maria Fancelli, Florenz 1981, 42. Im Laufe des 18. Jahrhunderts sollte sich an diesem Zustand einiges ändern. Die Über‐ setzungen französischer Klassiker durch Gottsched und die Gottschedin (cf. supra 9.4 und infra 10.3) sind geeignet, Mauvillons Behauptung zu bestätigen. Sehr bald jedoch entwi‐ ckelte sich eine Übersetzungstätigkeit, die sich nicht mit passiver Aneignung und Nach‐ ahmung begnügte, sondern den Weg zu einer Erneuerung der deutschsprachigen Literatur bereitete. Wir sind auf diese Phase bereits im Zusammenhang mit Cervantes und Shakespeare eingegangen. Die Zugehörigkeit des deutschsprachigen und des slawischsprachigen Raums zur euro‐ päischen Kultur ist von Angehörigen der südromanischen Länder - gelegentlich auch von Franzosen - immer einmal wieder in Frage gestellt worden. So vertrat der italienische Ger‐ manist Vittorio Santoli die Ansicht, das Herz Europas habe ursprünglich in Italien, Frank‐ reich und in einem Teil Spaniens geschlagen; später habe sich die europäische Kultur dann in die angelsächsischen Länder ausgebreitet. Deutschland und die slawischen Länder seien weit weniger stark europäisiert worden. 119 Der Übersetzungshistoriker Horst Weber macht aus der daraus entstandenen Not eine Tugend: Gerade Dichter von unvergleichlicher Tiefe und Eigenart der Aussage wie Hölderlin, Eichendorff oder Stifter haben im außerdeutschen Sprachraum keine Wechselwirkungen hervorgerufen, da ihre Bindungen an Klanglichkeit und Beziehungsreichtum der deutschen Sprache zu groß ist, um eine befriedigende Übersetzung zu erlauben. (Weber 1996, 7) Das dürfte für viele hier behandelte ausländische Schriftsteller ebenso zutreffen. Wer von einer Übersetzung verlangt, sie müsse all das wiedergeben, was sich im Original erkennen lässt, verlangt etwas Unmögliches. Im Übrigen ist der ‚unvergleichliche‘ Hölderlin mit einer gewissen Verspätung doch relativ häufig in andere Sprachen übersetzt worden (cf. supra 9.4). Wie dem auch sei, die Ansichten von Santoli und Weber verdienen es, aus überset‐ zungsgeschichtlicher Sicht in einem kleinen Exkurs kommentiert zu werden. In der Tat gibt es eine Reihe von im deutschsprachigen Raum anerkannten Autoren, die im Ausland fast unbekannt sind und wenig oder überhaupt nicht übersetzt wurden. Darauf wird gleich zurückzukommen sein. Was nun die slawischen Länder angeht, so mögen sie im Sinne Santolis nur unvollständig ‚europäisiert‘ worden sein; das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die bedeutenden russischen Autoren sehr schnell eine große Resonanz in ganz Europa gefunden haben, und dies sogar in zunächst recht unzureichenden Über‐ setzungen. Was Turgenjew in seinem Roman Väter und Söhne behandelt, konnte man im Westen allenfalls in theoretischen Abhandlungen lesen. Früh, d. h. bald nach ihrer Entste‐ hung, werden vor allem die Prosawerke übersetzt, die einen neuen, aufsehenerregenden plot anzubieten haben, und dies ist bei vielen deutschen Erzählern des 19. Jahrhunderts im Gegensatz zu den russischen nicht der Fall. In einer Heidelberger Diplomarbeit wurde die ‚literarische Handelsbilanz‘ zwischen Deutschland und Frankreich akribisch untersucht. Dabei wurde zunächst aufgrund einiger einschlägiger Quellen der ‚Kanonisierungsgrad‘ des jeweiligen Autors im Gebiet der Aus‐ gangssprache ermittelt. Das besondere Interesse galt den ‚weißen Flecken‘, d. h. den kaum 246 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="247"?> 120 Verena Jung: Die weißen Flecken auf der Übersetzungskarte. Eine Untersuchung der literarischen Handelsbilanz zwischen Deutschland und Frankreich. Diplomarbeit Heidelberg 2004. Unveröffent‐ licht. 121 Georg Venzky, „Bild eines geschickten Übersetzers“. In: Beyträge zur Kritischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, herausgegeben von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig, Leipzig 1734, 59-114, hier 71. oder überhaupt nicht übersetzten Autoren, die in ihrer Heimat durchaus einen gewissen Bekanntheitsgrad aufweisen (cf. infra Kap. 11.1). Von den über 270 erfassten deutschspra‐ chigen Autoren aus der Zeit zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert wurden 62 über‐ haupt nicht ins Französische übersetzt. Wir nennen hier nur einige unter den bemerkens‐ werteren Fällen: Ludwig Börne; Johann Jakob Breitinger; Matthias Claudius; Stefan George, Paul Gerhard; Andreas Gryphius, Thomas Murner (cf. supra); Martin Opitz. Was nun einige zunächst vernachlässigte Autoren betrifft, so schneiden diese in neuerer Zeit gar nicht so schlecht ab, da offenbar inzwischen viele Lücken gefüllt wurden. Autoren wie Hölderlin, Jean Paul, Gottfried Keller, Mörike, Stifter und Storm sind angemessen vertreten, Wilhelm Raabe allerdings immer noch nur mit einem einzigen Werk. Der in der erwähnten Arbeit (vermutlich aufgrund seines geringen Kanonisierungsgrades) überhaupt nicht be‐ rücksichtigte baltendeutsche Autor Eduard von Keyserling wird inzwischen auch außerhalb Deutschlands hochgeschätzt. Nicht nur Thomas Mann, sondern auch englische Kritiker äußern sich voller Bewunderung über ihn. Vieles von ihm ist ins Englische und ins Fran‐ zösische übersetzt worden, so auch die kurz vor seinem Tode entstandene Erzählung Im stillen Winkel (In a quiet corner; Dans un coin tranquille). Einige moderne Autoren sind, wie die erwähnte Arbeit belegt, in Frankreich besonders stark vertreten: Thomas Bernhard, Uwe Johnson; Arno Schmidt, Robert Walser (stärker als Martin Walser) und Christa Wolf. 120 Nun aber noch einige Informationen zu wichtigen Übersetzungen ins Deutsche im 18. Jahrhundert. In dem Maße, in dem die Übersetzung zu einer geplant eingesetzten literari‐ schen Tätigkeit wird, wächst auch das Interesse an der Übersetzungstheorie. Den Anfang hatte Martin Opitz im Schlusskapitel seines Buch[s] von der Deutschen Poeterey (1624) ge‐ macht; Justus Georg Schottelius hatte in seine deutsche Grammatik ein Kapitel mit dem Titel „Wie man recht verteutschen soll“ aufgenommen (cf. supra 4.1). Der zum Gott‐ sched-Kreis gehörige Georg Venzky legte 1734 mit seinem Bild eines geschickten Übersetzers nach Luthers Sendbrief die erste umfangreichere übersetzungstheoretische Abhandlung in deutscher Sprache vor. Er setzte sich dort für ein gemäßigt einbürgerndes Übersetzen ein: Man muß sich aber sorgfältig hüten, daß man nicht Wörter, Redensarten u. Wörterordnungen unbedächtlich und ohne Noth aus der Sprache, darinn man übersetzet, und zwar sonderlich wieder ihre Art und Eigenschaft, einführe, und also seine Sprache verderbe, und ihr das zum Nachtheile mache, was ihr vielmehr zum Vortheile gereichen sollte … 121 Die beiden Zürcher Johann Jakob Bodmer (1698-1783) und Johann Jakob Breitinger (1701-1776), die meist in einem Atemzug genannt werden, haben lange vor Jeremias Gott‐ helf oder Gottfried Keller dafür gesorgt, dass die Schweiz aus der deutschsprachigen Lite‐ ratur nicht wegzudenken ist. Sie edierten erstmals mittelhochdeutsche Texte „aus dem schwäbischen Zeitalter“ (Minnesänger, Teile des Nibelungenlieds), polemisierten gegen 247 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="248"?> 122 Umfassende Informationen finden sich in der vorzüglichen Diplomarbeit von Susanne Speer: Lessing als Übersetzer und Übersetzungskritiker. Heidelberg 1994. Unveröffentlicht. Gottscheds Regelpoetik und gegen den Endreim in der Lyrik, wobei sie sich auf die Antike beriefen. Damit beeinflussten sie Klopstock und gaben denjenigen Übersetzern Argumente an die Hand, die grundsätzlich auf die Erhaltung des Reims bei der Übersetzung von Ge‐ dichten verzichten wollten. Bodmer übersetzte Miltons Paradise Lost (Verlust des Para‐ dieses, 1732) und gab damit Klopstock die Anregung für seinen Messias, eines der am häu‐ figsten zitierten und am wenigsten gelesenen Werke der deutschen Literatur (begonnen schon früh, u. a. im Hause Bodmers, veröffentlicht zwischen 1745 und 1773). Damit sind wir bei einem Autor angelangt, dessen Bedeutung für die Übersetzungsthe‐ orie und -praxis nicht immer angemessen gewürdigt wird: Gotthold Ephraim Lessing. Les‐ sing ist sowohl als Übersetzungskritiker als auch als Übersetzer hervorgetreten. Berühmt ist seine Kritik an der Horaz-Übersetzung des Pastors Samuel Gotthold Lange. Dieser hatte an einer Stelle, wo bei Horaz der Dichter (wie später in Goethes Grenzen der Menschheit) „mit dem Scheitel die Sterne berühren“ möchte, das lat. vertex mit „Nacken“ wiedergegeben. Ob der Herr Pastor denn nicht sehe, gibt Lessing zu bedenken, dass man mit dem Nacken oben nirgendwo anstoßen könne, ohne ihn vorher gebrochen zu haben (cf. Albrecht 1998, 280 f.). Neben dieser ausführlichen Kritik mit dem Titel Vademecum für den Hrn. Sam. Gotth. Lange (1754) erschienen von Lessing kürzere Kritiken fremdsprachlicher Literatur in deut‐ scher Übersetzung in großer Zahl in den Literaturbriefen und in verschiedenen Zeitungen. Es handelt sich dabei auch um Fachliteratur im weiteren Sinne, wobei inhaltliche Kritik mit Übersetzungskritik im engeren Sinn einhergeht. Damit wird ein Genre begründet, das bis heute zum gehobenen Journalismus gehört. Lessing hat auch selbst erstaunlich viel über‐ setzt; nicht alles davon ist erhalten. Er übertrug sehr viel aus dem Französischen (darunter Corneille, Voltaire, Marivaux, La Fontaine, Friedrich den Großen und - von besonderer Bedeutung - verschiedene Werke von Diderot). Dazu kommen Übersetzungen aus dem Spanischen, das er kaum beherrschte (so z. B. Juan Huartes Examen de Ingenios para las Ciencias, das von Noam Chomsky der Vergessenheit entrissen wurde) und aus dem Engli‐ schen (so u. a. Auszüge aus Drydens Essay of Dramatic Poesie). Aus dem Lateinischen scheint er erstaunlich wenig übersetzt zu haben, dafür berühren seine Kritiken alle klassi‐ schen Sprachen, auch das Hebräische. 122 Nach Lessing gehört Johann Gottfried Herder zu den bedeutenden Autoren des 18. Jahr‐ hunderts, die sich theoretisch und praktisch mit der Übersetzung beschäftigt haben. In einer seiner frühen Schriften, Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente (1767), die er als „Bei‐ lage“ zu den Briefe[n], die neueste Literatur betreffend ausgibt, zu denen Lessing den wich‐ tigsten Beitrag geliefert hatte (cf. supra), findet man kaum einen Beitrag zur Literatur, der nicht gleichzeitig von Sprache und Übersetzung handeln würde. Eines seiner dringendsten Anliegen war offenbar die Schaffung eines „deutschen Homers“, wobei er sich der Tatsache bewusst ist, dass der ‚wahre‘ Homer der mündlich tradierten Literatur angehört: So wie uns unsere besten Heldentaten, die wir als Jünglinge taten, aus dem Gedächtnis ver‐ schwinden, so entgehen uns aus dem Jünglingsalter der Sprache, jedesmal die besten Dichter, weil sie vor der Schriftstellerei vorausgehen. Im Griechischen haben wir aus dieser Zeit eigentlich nur 248 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="249"?> 123 Herders Übertragungen finden sich in Band III der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags, die wir benutzt haben (Herder 1990). den einzigen Homer, dessen Rhapsodien durch einen glücklichen Zufall viele Olympiaden nach seinem Tode blieben, bis sie gesammelt wurden. (Herder 1985, Bd. I, 201) Sehr vorsichtig und etwas verklausuliert plädiert er für die philologisch-dokumentarische Übersetzung (cf. supra Kap. 8) in einer Zeit, als auch in Deutschland die freie und einbür‐ gernde Übersetzung höher geschätzt wurde, und teilt gleichzeitig einen wohlgezielten Sei‐ tenhieb an die Kritiker aus, die sich auf die ‚Fehlersuche‘ verlegen: So leicht unsere Handwerksrezensenten es halten, über Übersetzer hoch einher zu fahren, und ihnen Sprachfehler zu zeigen: so halte ichs für die feinste Kritik genau den Mittelstrich zeigen zu können „wie ein Übersetzer seinen beiden Sprachen nicht auf ein Haar zu nahe treten müsse, der, aus welcher und in welche er übersetzt“. Eine zu laxe Übersetzung, die unsere Kunstrichter ge‐ meiniglich frei und ungezwungen nennen, sündigt wider beide: der einen tut sie kein Genüge, der anderen erweckt sie keine Früchte. Eine sehr anpassende Übersetzung, die leichte muntere Seelen sklavisch schelten, ist weit schwerer, sie eifert für beide Sprachen, und wird selten so geschätzt, als sie es verdient. (Herder 1985, Bd. I, 648) Herder hat wie alle seine Zeitgenossen viel übersetzt. Seine Übersetzungen sind schwer zu identifizieren, weil er sich - wie z. B. in seinen Volksliedersammlungen (cf. supra) - nicht klar als Übersetzer zu erkennen gibt. Am bekanntesten dürfte die kurz vor seinem Tode entstandene Nachdichtung des Cid geworden sein, bei der er sich formal am Cantar del mio Cid (um 1140) orientierte, das er aus einer neueren Sammlung altspanischer Romanzen kannte, inhaltlich jedoch auf eine französische Prosaversion von 1783 zurückgriff. 123 Bald nach Herders Erkundungen der Möglichkeit eines deutschen Homer ist ein solcher entstanden - noch zu Herders Lebzeiten erschienen die Homerübersetzungen von Johann Hinrich Voß (Odyssee 1781; Ilias 1793). Wir sind bereits mehrfach auf sie zu sprechen ge‐ kommen (cf. supra 1.1; 7.2; 8.1-2). Bei aller Kritik, die an diesen Versionen geäußert wurde - sie sind kanonisch geworden, was sich anhand von Zitatensammlungen belegen lässt. Voß verwendet sog. deutsche Hexameter und spart nicht mit zusammengesetzten Adjek‐ tiven vom Typ rosenfingrig (ῥοδοδάκτυλος), die von den Sängern geschätzt waren, weil sie beim Vortrag als Füllsel dienten, die man einschob, wenn man den Text gerade nicht parat hatte: Aber Patroklos zuerst entschwang die blinkende Lanze, (284) Grad’ in die Mitte hinein, wo am dichtesten schwoll’ das Getümmel, Hinten am dunkelen Schiff des erhabenen Protesilaos. Und er traf den Pyrächmes, der gaulgewandte Päonen Führt aus Amydon her, von des Axios breitem Gewässer … […] Phyleus’ Sohn den Amphiklos, der wild anstürmte, bemerkend, (313) Zuckt’ ihm entgegen die Lanz’ in das obere Bein, wo am dicksten Strotzt die Wade des Menschen von Fleisch; es zerriß ihm die Sehnen Rings das durchbohrende Erz, und die Augen ihm schattete Dunkel. (Ilias, 16. Gesang) 249 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="250"?> 124 „Die Kunst der Übersetzung“ (1924), zit. nach Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009, 201. 125 Homer: Die Odyssee. Deutsch von Wolfgang Schadewaldt. Reinbek bei Hamburg 1958. Das gefiel nicht jedem, und nicht jeder wollte das alles so genau wissen. Der bekannte deutsche Philologe Ulrich von Willamowitz-Moellendorff wandte sich energisch gegen jeden Versuch, metrisch und stilistisch so nah wie möglich an der Vorlage zu bleiben: Mit dem vergeblichen Bemühen, die Versmaße der Urschrift zu bewahren, wie es Voß und bessere Männer als Voß, Humboldt z. B., versucht haben, würde er [scil. der Übersetzer] sich nur selbst den rechten Weg verbauen: sind doch ihre Übersetzungen, übrigens auch Schleiermachers Platon, heute gänzlich tot. 124 Das erinnert ein wenig an Arnolds „On Translating Homer“ (cf. supra 9.4). Jahrzehnte nach dieser Todesbescheinigung sind die Übersetzungen von Voß, ebenso wie Schleiermachers Platon, lebendiger denn je. Sie werden bei angesehenen Verlagen in Auflagen gedruckt, die darauf schließen lassen, dass sie gelegentlich auch gelesen werden. An den Ton haben sich diejenigen deutschen Leser, die sich überhaupt für Homer interessieren, gewöhnt. In der Prosaübersetzung der Odyssee von Wolfgang Schadewaldt 125 bleibt er auch ohne Hexameter erkennbar. Wenn auch die deutschsprachige Literatur in den benachbarten Sprachräumen weniger Anklang gefunden haben mag als andere Literaturen, so gibt es doch einige Autoren, die es verdienen, als ‚Exportartikel‘ behandelt zu werden: die beiden Klassiker Goethe und Schiller sowie die Philosophen Kant, Hegel, Schopenhauer, Marx und Nietzsche. Im 19. Jahrhundert war das Deutsche - insbesondere in Frankreich - in den Ruf einer „philoso‐ phischen Sprache“ gelangt: L’idée selon laquelle il existe des langues de la philosophie parmi lesquelles une place de choix revient au grec est ancienne, mais dès le XIX e siècle on commence à attribuer en France un statut de ce genre à l’allemand. (Espagne 2004, 61) Michel Espagne schildert in seinem Buch über die Aufnahme der deutschen Philosophie in Frankreich auf amüsante Weise das von Missverständnissen und völligem Unverständnis geprägte Aufeinandertreffen zweier sehr unterschiedlicher Denkstile. Wir werden darauf zurückkommen, wollen uns jedoch zunächst der Literatur im engeren Sinn zuwenden. Aber schon hier beginnen die Probleme der Zuordnung: Autoren wie Goethe, Schiller und Jean Paul wurden im Frankreich des 19. Jahrhunderts u. a. auch als „Philosophen“ rezipiert, Schopenhauer und Nietzsche dagegen - vielleicht nicht ganz zu Unrecht - als Literaten. Für Goethe und Schiller gibt es inzwischen in den verbreiteten europäischen Sprachen alle vier der am Anfang dieses Kapitels genannten Typen von Übersetzungen (cf. supra 9). Es ist nicht möglich, auch nur einen groben Überblick zu geben. Die gängigen Überset‐ zungsgeschichten behandeln bevorzugt die Erstübersetzung einzelner Werke; wir müssen uns hier auf einige Hinweise auf Gesamtausgaben vom Typ Gesammelte Werke oder Sämt‐ liche Werke konzentrieren, über die man sonst nur etwas in Bibliographien erfährt. Dort werden allerdings die Übersetzer nur auf dem Titelblatt genannt, und es ist manchmal nicht ohne weiteres möglich, einen dort enthaltenen Text einem der aufgeführten Übersetzer zuzuordnen. Im 20. Jahrhundert wird die Lage vollends unübersichtlich, da zunehmend 250 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="251"?> 126 Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Reinbek bei Hamburg 2005, 158. Publikationen vom Typ d) erscheinen, Ausgaben zur Abrundung des Programms eines an‐ gesehenen Klassikerverlags, bei denen häufig auf gemeinfrei gewordene ältere Überset‐ zungen zurückgegriffen wird. Besonders interessant wäre es herauszufinden, welche Werke der beiden Autoren besonders selten oder überhaupt nicht übersetzt wurden, doch wären dazu umfangreiche Spezialuntersuchungen nötig, die im Rahmen unserer Übersichtsdar‐ stellung nicht angestellt werden können. Umgekehrt verdienen die ‚Häppchen‘ besondere Aufmerksamkeit, die sich in Anthologien vom Typ „Ausgewählte Stücke“ (morceaux cho‐ isis) finden. Wir können davon leider nur einen kleinen Eindruck anhand zweier Lyrikan‐ thologien vermitteln. Nun zunächst zu Goethe und Schiller, den beiden deutschen Klassikern, die in Frankreich eher der Romantik zugeordnet werden. Auch in der (heute amerikanischen) Encyclopedia Britannnica kann man in der Einführung zum umfangreichen Eintrag über Goethe lesen: „In a European perspective he appears as the central and unsurpassed representative of the Romantic movement, broadly understood“. Zwar hatte Goethe in seinen letzten Lebens‐ jahren in seinen Gesprächen mit Eckermann das Romantische als „das Kranke“ bezeichnet, doch hat sich das erst spät herumgesprochen. Die Gespräche mit Eckermann wurden erst nach Goethes Tod publiziert und noch weit später übersetzt. Titel wie Œuvres complètes, Complete Works, Obras completas usw. dürfen nicht beim Wort genommen werden. Sie enthalten in der Regel nur das, was die jeweiligen Herausgeber für wichtig halten. Das lässt sich exemplarisch an der Gesamtausgabe von Goethes Werken durch den Westschweizer Jacques Porchat (1800-1864) aufzeigen, die sich an der Ausgabe des Cotta-Verlags (Stuttgart und Tübingen 1850-1851) orientiert. Porchats Ausgabe, die zwischen 1860 und 1863 in Paris erschienen war, wurde mit kleinen Modifikationen im Jahr 2008 in der Sammlung Archives Karéline beim Verlag L’Harmattan neu aufgelegt. Porchat, der fast alles selbst übersetzt hat, versichert in der Einführung zum ersten Band, seine Ausgabe sei vollständig; allerdings seien die wissenschaftlichen Schriften, die inzwischen gänzlich veraltet seien, nicht berücksichtigt worden. In der Artemis-Gedenkausgabe um‐ fasst allein die Farbenlehre mehr als siebenhundert Seiten. „Veraltet“ war Goethes Farben‐ lehre gemessen am Stand der damaligen Physik schon zur Zeit ihrer Entstehung. Daniel Kehlmann lässt in seinem Erfolgsroman Die Vermessung der Welt den Mathematiker Gauß bei der Erwähnung von Goethes Namen nachfragen, „ob das der Esel sei, der sich anmaße, Newtons Theorie des Lichts zu korrigieren“. 126 Goethes Farbenlehre mag wissenschaftlich unhaltbar sein; sie ist jedoch ein charakteristisches Dokument der Denkweise ihres Ver‐ fassers. Goethes zahlreiche Schriften zur Kunst und zur Literatur, die in der repräsentativen französischen Ausgabe der Œuvres complètes ebenfalls fehlen, repräsentieren ein Stück Ide‐ engeschichte und können als solches überhaupt nicht ‚veralten‘. Immerhin bleibt diese 2008 nachgedruckte Ausgabe die vollständigste in französischer Sprache. Neuere Ausgaben in anderer Übersetzung treffen eine weit engere Auswahl. In einem engen verlegerischen Zusammenhang mit dieser Ausgabe stehen die Œuvres complètes von Schiller, die Adolphe Regnier (1804-1884) aus Anlass von Schillers hun‐ dertstem Geburtstag in französischer Übersetzung herausgegeben hat (Paris 1859-1862). Sie sind weit vollständiger als die Goethe-Ausgabe und enthalten auch die historischen und 251 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="252"?> ästhetischen Schriften Schillers. Der soeben erwähnte Goethe-Übersetzer Porchat hat bei der Übersetzung der historischen Schriften Schillers mitgewirkt. Nicht alle in dieser Aus‐ gabe in acht Bänden abgedruckten Übersetzungen stammen von Regnier selbst. Man habe sich, so Regnier für sich und seine Mitarbeiter in der ausführlichen Vorrede, um größte philologische Genauigkeit bemüht. Nur bei den krassen und zuweilen bizarren Formulie‐ rungen der frühen Werke habe man mildernd eingreifen müssen. Die französische Sprache könne so etwas nicht wiedergeben. (Spätestens seit Zola konnte sie es sehr wohl.) Und in diesem Zusammenhang findet er einen schönen Ausdruck zur Charakterisierung des immer noch durch die belles infidèles geprägten französischen Übersetzungsstils: die inexactitude inhérente à la fidélité pour qui traduit en français (Schiller/ Regnier, I, 233), „die der Treue innewohnende Ungenauigkeit eines jeden, der ins Französische übersetzt“. Wie eng verwandt die beiden repräsentativen Ausgaben im Hinblick auf ihre überset‐ zerische Konzeption sind, mögen die beiden folgenden Übersetzungsproben zeigen: Mailied Chant de mai Wie herrlich leuchtet Qu’avec magnificence brille à mes yeux la na‐ ture! Mir die Natur! Comme le soleil rayonne ! Comme sourit la campagne ! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur! Es dringen Blüten Les fleurs éclosent de chaque rameau et mille voix du buisson Aus jedem Zweig Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch Und Freud und Wonne Et la joie et l’allégresse, de chaque poitrine. Aus jeder Brust. O terre ! ô soleil ! ô bonheur ! ô joie ! O Erd o Sonne! O Glück o Lust! (Goethe/ Porchat, vol. I) Die Bürgschaft (letzte Strophe) La Caution Und blicket sie lange verwundert an; Longtemps il les regarde avec surprise, Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen, Puis il dit : « Vous avez réussi, vous avez Ihr habt das Herz mir bezwungen, Subjugué mon cœur ! Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn - La fidélité n’est donc pas une vaine illusion ! So nehmet auch mich zum Genossen an. Et bien ! Adoptez-moi aussi comme un des vôtres ; Ich sei, gewährt mir die Bitte, que j’entre, accordez-moi ma demande, In eurem Bunde der Dritte. en tiers dans votre union (Schiller/ Regnier, I, 133) 252 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="253"?> 127 Frühere Faust-Übersetzungen nennt Van Hoof 1991, 72. 128 Erste Skizze 1828/ 29, endgültige Fassung 1854. 129 Cf. Chevrel 1988, 46. Beide Übersetzungen würden sich gut für eine zweisprachige Ausgabe eignen, die für Leser mit Grundkenntnissen des Deutschen bestimmt ist. In einer einsprachigen Ausgabe bestä‐ tigen sie jedoch nur die immer wieder zu hörende Behauptung, dass Gedichte unübersetzbar seien. Bei den hier wiedergegebenen Beispielen zeigt sich besonders deutlich, dass Metrum und Reim in der Regel keine entbehrlichen Zutaten zum ‚Gehalt‘ sind. Bei Schiller unter‐ stützen beide das Sentenzenhafte, das ihn einerseits zum Hauptlieferanten für Zitaten‐ sammlungen und andererseits zum bevorzugten Opfer von Parodisten gemacht hat. Unser Schwerpunkt liegt, wie bereits erwähnt, auf den Gesamtausgaben. Man kann je‐ doch nicht von Goethe sprechen, ohne auf den Faust als Einzelwerk einzugehen, und wenn man von Goethe in Frankreich sprechen will, darf man Gérard de Nerval nicht übergehen. Goethe selbst hat dessen 1828 erstmals erschienene Übersetzung des Faust mit Lob zur Kenntnis genommen. 127 Es handelt sich um eine im besten Sinn des Wortes ‚freie‘ Überset‐ zung. Nerval übersetzt das Meiste inhaltlich ziemlich genau in Prosa - auf die von vielen Kritikern aufgedeckten kleinen Verständnisfehler brauchen wir in diesem Zusammenhang nicht einzugehen -, verwendet aber dort Verse, wo es ihm angezeigt erscheint. Bei der bekannten Stelle, wo es um die Wiedergabe von griech. λόγος am Beginn des Johannes- Evangeliums geht, folgt Nerval in nüchterner Prosa einigermaßen genau den Goetheschen Vorschlägen (die keineswegs denen eines griechisch-deutschen Wörterbuchs entsprechen): Wort - verbe; Sinn - esprit; Kraft - force, Tat - action. Der berühmt-berüchtigte Chorgesang aus Auerbachs Keller: Uns ist ganz kannibalisch wohl / Als wie fünfhundert Säuen wird da‐ gegen in Versen wiedergegeben: Nous buvons, buvons, buvons / Comme cinq cents cochons. Und beim Hexeneinmaleins wird ebenfalls auf Reimverse zurückgegriffen: Und neun ist Eins / Und zehn ist keins/ das ist das Hexen-Einmal-Eins heißt bei Nerval: Si neuf est un/ Dix n’est aucun/ Voilà tout le mystère. Die Bedeutung der Zahlenwerte geht dabei - wenn wir uns nicht grob getäuscht haben - verloren. Wer die Anweisungen der Hexe genau befolgt (Goethe hatte sich viel mit dergleichen Dingen beschäftigt), erhält ein sog. magisches Qua‐ drat mit der Summe 15 sowohl bei den Zeilen als auch bei den Spalten. Der Walpurgis‐ nachtstraum - ein Intermezzo - ist ebenfalls ganz in Versen gehalten. Nerval hat auch Der Tragödie zweiter Teil (heute Le Second Faust) unter dem Titel Hélène übertragen. Während der erste Teil - nicht zuletzt durch die Vertonung La damnation de Faust von Hector Berlioz 128 - in Frankreich sehr populär wurde, fand der zweite Teil kaum Beachtung. 129 Noch heute wird in französischen Internetkommentaren von der Lektüre des zweiten Teils ausdrücklich abgeraten. An einer Stelle gelingt es Nerval, in der Übersetzung genau so kryptisch zu bleiben wie das Original. Wie dort versteht man auch in der Über‐ setzung nicht unmittelbar, wovon die Rede ist. Helena bittet Faust um Auskunft über ein ihr völlig neues Phänomen: Doch wünscht ich Unterricht, warum die Rede / Des Manns mir seltsam klang, seltsam und freundlich: Ein Ton scheint sich dem anderen zu bequemen, / Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt, Ein anderes kommt, dem ersten liebzukosen. (Artemis-Gedenkausgabe, Bd. 5, 437) 253 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="254"?> 130 Boston 1983-1884; Paperback 1994-1995. 131 Auch frz. Ausgaben behalten die von Goethe ursprünglich gewählte Anordnung bei: Wahrheit und Dichtung. Mais je désire savoir pourquoi le ton du discours de cet homme m’a semblé si singulier et si affable. Un son semble harmonieusement succéder à un autre son, et, lorsqu’une parole a frappé l’oreille, arrive une autre parole pour caresser la première. (Goethe/ Nerval 1877, ohne Paginierung) Unsere Leserinnen und Leser werden sofort verstanden haben, worum es hier geht: Helena, hört zum ersten Mal etwas, was der Antike fremd war: gereimte Verse. Im englischen Sprachraum sind deutlich mehr Gesamtausgaben von Goethes Werken entstanden als im französischen; die Anzahl der Schillerausgaben ist dagegen überschaubar. Wie in Frankreich stützen sich auch Verleger in England und Amerika auf deutsche Ge‐ samtausgaben; so die von Victor Lange, Eric Blackall und Cyrus Hamlin besorgte Ausgabe der Collected Works. 130 Über die neueren englischen Übersetzungen Goethescher Werke gibt eine Bibliographie Auskunft, die auch im Netz eingesehen werden kann (Glass/ Jones 2005). Zusätze zum Haupttitel, wie „edited with careful revisions and new translations“, zeigen, dass es sich meist um Umarbeitungen und Neuordnungen älterer Ausgaben handelt. Das gilt auch für eine Bostoner Ausgabe, die nach dem Vorbild der sog. Göttinger Ausgabe gestaltet und später mehrfach umgearbeitet und neu aufgelegt wurde (Goethe/ Göttingen edition 2 1901). Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Übersetzungen z.T. von bekannten Autoren wie Thomas Carlyle, Sir Walter Scott, Henry W. Longfellow, John Oxenford und anderen stammen. Die zehn Bände enthalten u. a. (in nicht unmittelbar nachvollziehbarer Reihenfolge) Dichtung und Wahrheit (Truth and fiction) 131 , Werther, die Wahlverwandt‐ schaften (Elective Affinities), die Italienische Reise, Gedichte (translated in the original me‐ ters), Iphigenie, Torquato Tasso, Götz von Berlichingen, Wilhelm Meister (Lehr- und Wan‐ derjahre), Faust I+II, Egmont, Reineke Fuchs. Es handelt sich also keineswegs um eine Ausgabe sämtlicher Werke. Die Versuchung ist groß, ausführlich aus dieser Ausgabe zu zitieren. Wir müssen ihr widerstehen und uns mit der Wiedergabe einer Strophe aus der Marienbader Elegie in der kongenialen Übersetzung von Edgar Alfred Bowring zufrieden‐ geben: Nun bin ich fern! Der jetzigen Minute, Now I am far! And what would best befit Was ziemt denn der? Ich wüßt es nicht zu sagen; The present minute? I could scarcely tell; Sie bietet mir zum Schönen manches Gute, Full many a rich possession offers it, Das lastet nur, ich muß mich ihm entschlagen. These but offend, and I would fain repel. Mich treibt umher ein unbezwinglich Sehnen, Yearnings unquenchable still drive me on, Da bleibt kein Rat als grenzenlose Tränen. All counsel, save unbounded tears, is gone. Wenn man einmal von der frühen Übersetzung der Räuber durch Tytler absieht (cf. supra 9.4), scheint Schiller im englischen Sprachraum auf weniger Resonanz gestoßen zu sein als in Frankreich oder Italien. Ein unvollendet gebliebenes Werk, das in Deutschland im Schatten der Dramen und der Balladen steht, hat indessen besondere Aufmerksamkeit er‐ 254 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="255"?> regt: Der Geisterseher. W. Render veröffentlichte 1800, also noch zu Schillers Lebzeiten, eine vollständige Übersetzung dieser Erzählung, die zunächst in der Zeitschrift Thalia er‐ schienen war. Der Titel war geeignet, ein bestimmtes Publikum anzuziehen, das sich etwas später auf die Gothic Novels stürzen sollte: The Armenian or the Ghost Seer. A History founded on Fact. In seiner kurzen Vorrede bringt der Übersetzer die Erzählung mit der Ausbreitung des Ordens der Illuminati in Verbindung, zu dem auch der bekannte Übersetzer Bode ge‐ hörte (cf. infra Kap. 10.4). In Italien sind Goethe und Schiller weniger durch viele Gesamtausgaben als vielmehr durch zahlreiche Einzelübersetzungen vertreten. Es gibt eine Goethe-Ausgabe von Vittorio Santoli, von dem bereits die Rede war. An ihrer Entstehung waren mehrere Übersetzer beteiligt. Sie vermittelt einen guten Eindruck von Goethes Gesamtwerk, ist jedoch keines‐ wegs vollständig. Darüber hinaus gibt es eine sehr große Anzahl von Einzelübersetzungen von bekannten Übersetzern und berühmten Kommentatoren wie z. B. Andrea Maffei, Maz‐ zino Montinari (einer der Herausgeber der heute maßgeblichen Nietzsche-Ausgabe) und Benedetto Croce. Auch die Metamorphose der Pflanzen oder die Farbenlehre sind in kennt‐ nisreich kommentierten Übersetzungen verfügbar. Bei Schiller überwiegen die Überset‐ zungen des dramatischen Werks. So übertrug Andrea Maffei eine Auswahl von Schillers Dramen (Tragedie, 1842-1852) und später das dramatische Gesamtwerk (Teatro completo di Federico Schiller, 1860). Auf eine Übersetzung Maffeis von Schillers Räuber[n] geht auch das Libretto der weniger bekannten Verdi-Oper I masnadieri zurück (Uraufführung 1847). Die Libretti bekannterer Opern Verdis nach Schillerschen Stoffen, Luise Miller (Kabale und Liebe) und Don Carlos entstanden aus Umarbeitungen französischer Fassungen. Auch Maffei hat bei seinen Übersetzungen aus dem Deutschen französische Versionen herange‐ zogen, ohne dies offen einzugestehen (cf. Plack 2015, 212-235, mit Textbeispielen). Als wichtigste spanischsprachige Ausgabe wären die Obras completas de Johann W. Goethe zu nennen, die der Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer Rafael Cansinos Assens 1950-1951 in Madrid veröffentlicht hat. Diese Ausgabe wurde später sowohl in Spa‐ nien als auch in südamerikanischen Ländern nachgedruckt. Darüber hinaus gibt es zahl‐ reiche Einzelübersetzungen. Die Goethe-Bibliographie von Siegfried Seifert enthält u. a. die wichtigsten spanischen Übersetzungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Seifert 1999). Schiller ist vor allem durch die Übersetzung der Dramen durch Eduardo de Mier präsent (erstmals Madrid 1881-1882). Es scheint viele Einzelübersetzungen zu geben, bei denen es oft nicht leichtfällt festzustellen, ob sie in Spanien oder in Lateinamerika ent‐ standen sind. Die schon etwas ältere Gesamtdarstellung Schiller y España beschränkt sich auf Spanien (Koch/ Staubwasser 1978). Auch im portugiesischen Sprachraum fällt es schwer, zwischen in Portugal und in Bra‐ silien entstandenen Übersetzungen zu unterscheiden. Die verlegerische Zusammenarbeit zwischen der einstigen Kolonie und dem Mutterland ist noch eng. Es gibt weder für Goethe noch für Schiller wirklich repräsentative Gesamtausgaben, jedoch für beide Autoren bib‐ liographische Skizzen, die allerdings bei weitem nicht alle Übersetzungen erfassen: Für Goethe gibt es eine Tentativa bibliográfica, die einer Sammlung von Gedichtübersetzungen vorangestellt wurde (Quintela 2 1958), für Schiller den Aufsatz „Schiller no Brasil“ (Boss‐ mann 1955). Paulo Quintela verdankt Portugal eine einigermaßen repräsentative Ausgabe 255 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="256"?> 132 Zur Bedeutung von Anthologien literarischer Texte für die Übersetzungsforschung vgl. den Band. 9 der Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung (Kittel 1995). Goethescher Gedichte in portugiesischer Sprache (cf. supra). Einen Eindruck mag die zweite Strophe von Wanderers Sturmlied vermitteln: Wanderers Sturmlied Canç-o do viandante sob a tempestade Den du nicht verlässest, Genius, Quem n-o abandonas, Génio, Wirst ihn heben übern Schlammpfad Erguê-lo-ás sobre a lama do caminho Mit den Feuerflügeln, Com asas de fogo; Wandeln wird er E ele passará Wie mit Blumenfüßen Como com pés floridos Über Deukalions Flutschlamm, Sobre a lama do dilúvio de Decali-o, Python tötend, leicht, groß, Matador do Píton, leve, grandioso, Pythius Apollo. Apolo Pítio. (Aus: Quintela 2 1958) Auch Leser mit geringen Portugiesischkenntnissen werden hier ihren Goethe wiederer‐ kennen. Zu erwähnen wäre in diesem Zusammenhang noch ein Aufsatz von Tinka Reich‐ mann (2008) über die „Geflügelten Worte“ aus dem Faust und ihre portugiesischen Ent‐ sprechungen. Aus der Tatsache, dass sie für „Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust“ nicht weniger als sechs verschiedene Versionen anführt, lässt sich schließen, dass zumindest Goethe im portugiesischen Sprachraum kein gänzlich Unbekannter ist. Es gibt noch weitere Autoren, die als deutsche ‚Exportartikel‘ hätten behandelt werden können, z. B. Heinrich Heine, dessen Lyrik in benachbarten Ländern möglicherweise be‐ kannter ist (cf. Richter 2017, 228-238) als die der beiden Klassiker Goethe und Schiller (die zweisprachige Anthologie von Jean-Pierre Lefevbre enthält allein 26 Titel), oder Georg Büchner, dessen Erzählung Lenz vor allem in der jüngeren Vergangenheit außerhalb des deut‐ schen Sprachraums verschiedene Übersetzer beschäftigt hat. Wir wollen uns hier auf zwei Texte beschränken, die ein ‚typisch deutsches‘ Genre repräsentieren: das Kunstlied, das auf dem Wege des ‚Zersingens‘ zum Volkslied geworden ist. Das gilt sowohl für Matthias Claudius’ Abendlied (erstmals veröffentlicht 1779) als auch für Wilhelm Müllers Lindenbaum, ein Ge‐ dicht, das weniger in Schuberts ursprünglicher, durchkomponierter Fassung als Teil der Win‐ terreise als vielmehr in der vereinfachten Strophenliedversion von Friedrich Silcher populär geworden ist. Wir haben zwei einflussreiche Anthologien auf die dort vertretenen Beispiele deutschsprachiger Lyrik durchgesehen. In Vincenzo Errantes Orfeo. Tesoro della lirica Univer‐ sale (Errante/ Mariano 1974) sind zwar Goethe (als Vertreter des romanticismo! ), Schiller, No‐ valis, Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Uhland, Heine und viele andere vertreten - von Der Mond ist aufgegangen und Am Brunnen vor dem Tore fehlt dagegen jede Spur. In Jean-Pierre Lefevbres Anthologie bilingue de la poésie allemande (Lefevbre 1993) sind beide Texte vor‐ handen. 132 Die Übersetzungen stammen jeweils vom Herausgeber selbst und sind als reine Lesehilfen zu verstehen. Die Wirkung, die die beiden Texte beim verbliebenen deutschspra‐ chigen Bildungsbürgertum entfalten, ist eng an die jeweiligen Vertonungen gebunden. Wer 256 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="257"?> versuchen wollte, sie in einer Übersetzung zu reproduzieren, hätte nicht nur auf Metrum und Reim im allgemeinen, sondern auch auf das Wort-Ton-Verhältnis, auf die sog. ‚Sangbarkeit‘ zu achten. Das gelingt im Allgemeinen nur bei ganz schlichten Texten wie Frère Jacques/ Bruder Jakob. Lieder dieser Art werden in für französische Leser bestimmten Sammlungen mit dem deutschen Text unter den Noten und zusätzlicher französischer Übersetzung präsen‐ tiert. Keine der vier eingesehenen französischen Übersetzungen des Lindenbaums kann der Melodie Silchers (und noch weit weniger der Vertonung Schuberts) unterlegt werden (cf. Al‐ brecht 2009, 325). Über die Qualität der Texte Wilhelm Müllers ist hingebungsvoll gestritten worden. Goethe, den der Hofrat aus Dessau kurz vor seinem frühen Tod aufgesucht hatte, war weder von den Gedichten noch von ihrem Schöpfer angetan: „Es ist mir eine unangenehme Personnage, überdieß Brillen tragend, was mir das Allerunleidlichste ist“, soll er seinem Freund Friedrich von Müller mitgeteilt haben. Es fällt schwer, die bekanntesten Texte des Brillenträ‐ gers Müller losgelöst von Brillenträger Schuberts Vertonung wahrzunehmen. Wir wollen den Blick unserer Leser auf ein kleines stilistisches Detail lenken: Die kalten Winde bliesen Les vents froids me soufflaient Mir grad ins Angesicht, De face en plein visage, Der Hut flog mir vom Kopfe, Mon chapeau s’est envolé Ich wendete mich nicht. Je ne me suis pas retourné. (Lindenbaum, 5. Strophe) ( J.-P. Lefevbre) Les vents glacés Il vento freddo Me soufflèrent au visage. mi soffiava in faccia, Mon chapeau s’envola. mi volò il cappello dalla testa; Mais je ne me retournai point. non mi voltai. (Anonymus) (Pietro Soresina) Zwei Übersetzungen bilden den brüsken Übergang vom dritten zum vierten Vers nach, auf dem die Wirkung beruht. Nur in der sehr literatursprachlich gehaltenen französischen Übersetzung aus einem Liederbuch, das auch deutsche Lieder enthält (statt soufflèrent wäre übrigens wohl soufflaient angemessener gewesen), mildert den Übergang durch Einfügen der adversativen Konjunktion mais, die man in Prosa erwarten würde. Matthias Claudius’ Abendlied erinnert in der Vertonung von Peter Abraham Schulz an Paul Gerhards Nun ruhen alle Wälder. Wer an dem einen Lied heute noch Gefallen findet, kennt auch das andere, und die Wirkungen, die beide Lieder auf Leser und vor allem Hörer ausüben, potenzieren sich gegenseitig. Wir wollen der letzten Strophe eine „cantable trans‐ lation“ und eine lediglich dem besseren Verständnis dienende französische Übersetzung gegenüberstellen: So legt euch denn, ihr Brüder, So, brothers, in His keeping In Gottes Namen nieder; prepare yourself for sleeping; Kalt ist der Abendhauch. cold is the evening breeze. Verschon uns, Gott! mit Strafen, Spare us, oh Lord, Your ire, Und laß uns ruhig schlafen let rest us by the fire, Und unsern kranken Nachbarn auch. and grant our ailing neighbour peace. (Anonymus) 257 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="258"?> 133 Ausführlich dargestellt (auch was die verschiedenen Typen indirekter Übersetzungen betrifft) bei Plack 2015, Teil I; II und III, Kap. 4. Couchez-vous donc, mes frères, Au nom de Dieu dans vos lits ! Le souffle du soir est froid. Épargne-nous les châtiments, Et laisse-nous dormir calmement, Nous et notre voisin malade. ( Jean-Pierre Lefevbre) Wir haben diese beiden Lieder nicht ganz zufällig als Beispiele für exportfähiges volks‐ tümliches deutsches Kulturgut ausgewählt. Als gelehrige Schüler haben wir dem Urteil eines Meisters vertraut. Thomas Mann, ein Autor, der es sich bald nach seinen ersten Werken zur Gewohnheit gemacht hatte, aufkommende Rührung durch ironische Distanz nieder zu halten, hat sich gegenüber diesen beiden Liedern keinerlei Zurückhaltung auf‐ erlegt. In einem Beitrag für die Welt am Sonntag aus dem Jahr 1948, in dem es um ‚Lieb‐ lingsgedichte‘ ging, zitiert er die letzten Verse aus Matthias Claudius’ Abendlied und kom‐ mentiert: „Darüber geht im Grunde nichts“. Und auf der letzten Seite des Zauberberg[s] sehen wir Hans Castorp, „des Lebens treuherziges Sorgenkind“, ein letztes Mal an der Westfront wieder - zwei Verse aus dem Lindenbaum „mit erdschweren Füßen, bewußtlos singend“. Danach „kommt er uns aus den Augen“. Nun aber zu einem weit weniger volkstümlichen deutschen Exportartikel, zu den be‐ deutenden deutschen Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Rezeption dieser Denker in Frankreich - vor allem in Form von Übersetzungen - ist besonders wichtig, denn sie bedingt - bis ins 20. Jahrhundert hinein - die Rezeption in den südromanischen Ländern. Deutsche Philosophen werden lange Zeit selten direkt aus dem Deutschen, sondern eher ganz oder teilweise aus dem Französischen ins Italienische (und auch ins Spanische) über‐ setzt. 133 Als Karl Marx die französische Übersetzung von Das Kapital in Händen hielt, be‐ klagte er sich über die viel zu wörtliche Übersetzung, die er umschreiben müsse, um sie „dem französischen Publikum mundgerecht zu machen.“ Umso leichter werde sich der Text später ins Englische und in die romanischen Sprachen übersetzen lassen (cf. Briamonte 1984, 56 f.). Der sog. deutsche Idealismus - angefangen bei Kant - stieß in Frankreich zunächst weitgehend auf Unverständnis. Es wurde weniger der Kern der Gedanken als vielmehr die ungewohnte Art der Darstellung und das fremdartige kulturelle Umfeld wahrgenommen. Der Kant-Spezialist Charles Renouvier sah in dem Königsberger Philosophen ein bedeu‐ tendes und fruchtbares Genie, das leider der spéculation germanique ausgeliefert gewesen sei (Espagne 2004, 104); der Philosophieprofessor Émile Saisset, Nachfolger Victor Cou‐ sins, erkannte in Hegel einen versponnenen, mäßig gebildeten Historiker, jedoch mit einem untrüglichen Gespür für Größe ausgestattet (cf. ibid., 199); und Charles Bénard, der Über‐ setzer von Hegels Vorlesungen über die Ästhetik - das erste Werk Hegels, das auf Französisch erschienen ist - versicherte, er habe keine vollständige, textgetreue Übersetzung ange‐ strebt, denn die hätte nur barbarisch und unverständlich ausfallen können (cf. ibid., 272). Auf der anderen Seite erklärte ausgerechnet der weltoffene Wilhelm von Humboldt an‐ 258 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="259"?> lässlich eines Kolloquiums in Paris, er bezweifle, dass Franzosen fähig seien, deutsche phi‐ losophische Texte zu verstehen (cf. ibid., 231). Heinrich Heine hat die intensive Beschäfti‐ gung mit der deutschen Philosophie in Frankreich durch seinen Essai Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland angeregt. Die Abhandlung wurde zunächst in Paris in einer französischen Übersetzung veröffentlicht, die der Autor selbst überarbeitet hatte. Die deutsche Originalfassung erschien erst etwas später. Heine entschuldigt sich bei seinen deutschen Landsleuten für die ‚Vulgarisierung‘, die er glaubte vornehmen zu müssen: Große deutsche Philosophen, die etwa zufällig einen Blick in diese Blätter werfen, werden vornehm die Achsel zucken über den dürftigen Zuschnitt alles dessen, was ich hier vorbringe. Aber sie mögen gefälligst bedenken, daß das wenige, was ich sage, ganz klar und deutlich ausgedrückt ist, während ihre eignen Werke zwar sehr gründlich, unermeßlich gründlich, sehr tiefsinnig, stupend tiefsinnig, aber ebenso unverständlich sind. (Heine 1962 [1836], 391) Heine macht sich hier eine in seiner Wahlheimat weit verbreitete Ansicht zu eigen, der zufolge man die wirren Texte deutscher Denker erst einmal stilistisch bereinigen müsse, bevor man sie einem breiteren Publikum zumuten könne. Und diese ‚Bereinigung‘ vollzog sich in Frankreich ausschließlich auf dem Wege der Übersetzung. Selbst der große Spezialist für deutsche Philosophie, Victor Cousin, hatte sich bei seinen Deutschlandaufenthalten nicht genügend Sprachkenntnisse angeeignet, um Kant oder Hegel im Original lesen zu können. Die Kritik der reinen Vernunft übersetzte er mit Hilfe einer lateinischen Fassung (cf. Plack 2015, 96). Jules Barni, einer der frühen französischen Kant-Übersetzer, hatte sich dagegen solide Deutschkenntnisse angeeignet. Wenn er in seiner Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft vom Text abweicht, so begründet er dies. Wo Kant in der Einleitung schreibt, man könne „es nicht bei der bloßen Naturanlage zur Metaphysik, d. i. dem reinen Vernunftvermögen selbst […] bewenden lassen“, wenn man die Grenzen der Möglichkeit der Vernunft abstecken wolle (B 22), schreibt Barni: „on ne saurait se contenter de cette simple disposition à la métaphysique dont nous venons de parler, c’est à dire se reposer sans examen sur cette seule faculté de la raison pure“, und rechtfertigt seinen (hier kursiv ge‐ setzten) Einschub in einer Fußnote: Das stehe zwar nicht im Text, sei aber ganz im Sinne Kants und mache seinen Gedanken klarer (Kant/ Barni 1829, 65). Für eine gründliche und strenge Diskussion der Übersetzungen der wichtigsten Texte des deutschen Idealismus in andere Sprachen ist hier nicht der Ort. Wir können nur punk‐ tuell auf einige Fragen eingehen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben haben: auf einige zentrale begrifflich-terminologische Probleme in der Kritik der reinen Vernunft; auf die Bedeutung von Victor Cousin und Augusto Vera für die Rezeption Hegels in Frankreich und anderen Ländern und schließlich auf den Einfluss, den Verkünder von ‚Weltanschau‐ ungen‘ wie Schopenhauer und Nietzsche auf Literaten außerhalb des deutschen Sprach‐ raums ausgeübt haben. Kants Unterscheidung zwischen Urteilen a priori und a posteriori einerseits und analy‐ tisch vs. synthetisch andererseits, die zwar nicht die Möglichkeit analytischer Urteile a pos‐ teriori, sehr wohl jedoch diejenige synthetischer Urteile a priori vorsah, wurde in Frankreich mit Zurückhaltung aufgenommen. Bei der Übersetzung des Beispiels „Körper sind ausge‐ dehnt“/ „les corps sont étendus“ (= analytisch) und „Körper sind schwer“/ „les corps gravi‐ tent/ ont de la pesanteur“ (= synthetisch) lassen manche Übersetzer durch Nebenbemer‐ 259 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="260"?> 134 Kant, Transzendentale Analytik, §. 10. kungen erkennen, dass ihnen dieser Unterschied nicht recht einleuchten will. Der stark vom Positivismus beeinflusste Literaturkritiker Hippolyte Taine leugnete (lange vor Quine, der die Dichotomie analytisch vs. synthetisch insgesamt nicht gelten lassen wollte) die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori (cf. Espagne 2004, 205). Weit befremdlicher noch erschien in einem vom Sensualismus geprägten Klima die Begründung einer Sub‐ jektsphilosophie, die weit über den klassischen Rationalismus eines Descartes hinausging. Sie zeigt sich in der Umdeutung und Neuordnung der aristotelischen Kategorien. Aus Grundmerkmalen des Seienden werden bei Kant apriorische Denkformen, „reine Verstan‐ desbegriffe, welche a priori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen“. 134 Kant ist davon überzeugt, Aristoteles habe seine Kategorien (lat. praedicamenta) mehr oder wenige zufällig zusammengestellt: „Da er aber kein Principium hatte, so raffte er sie auf, wie sie ihm aufstießen …“ (Barni: „Mais, comme il ne suivait aucun principe, il les recueillit comme ils se présentaient à lui …“). Erst bei seiner eigenen systematisch geordneten „Tafel der Kategorien“, so Kant, könne man sicher sein, dass keiner der notwendigen reinen Verstan‐ desbegriffe fehle und keiner der dort aufgeführten nicht notwendig sei. Barnis Wiedergabe der Kategorientafel ist allerdings weniger übersichtlich als im Originaltext. Nichtsdesto‐ weniger zeigt seine Übersetzung, die erst relativ spät nach der Übersetzung anderer Ar‐ beiten Kants entstanden ist, dass sich der Nebel, der deutsche philosophische Texte umhüllt, für denjenigen lichtet, der ordentlich Deutsch gelernt hat. Auch im englischen Sprachraum ist die Kritik der reinen Vernunft durch zahlreiche Über‐ setzungen vertreten. Friedrich Max Müller, der Sohn des Dichters der Winterreise (cf. supra), der einen großen Teil seines Lebens in England als Sprach- und Religionswissenschaftler zugebracht hatte, übersetzte die erste Auflage des Werks ins Englische. Seit knapp zwanzig Jahren gibt es eine schnell kanonisch gewordene Übersetzung von Paul Guyer und Allan W. Wood: Critique of Pure Reason (1998). Sie enthält u. a. eine Bibliographie aller voraus‐ gegangenen englischen Übersetzungen. Die Übersetzer fühlen sich nicht der im englischen Sprachraum so wichtigen ‚Lesbarkeit‘ verpflichtet und wollen den Leser bei seiner Inter‐ pretation nicht bevormunden: Our translators try to avoid sacrificing literalness to readability. We hope to produce translations that approximate the originals in the sense that they leave as much of the interpretative work as possible to the reader. (Guyer/ Wood, viii) Dazu gehöre auch, dass die von Kant getroffene Einteilung in Sätze und Absätze respektiert werde und man davon Abstand nehme, lange Perioden in kürzere Sätze aufzuspalten. Im Fußnotenapparat werden Kants handschriftliche Zusätze in seinen Handexemplaren sorg‐ fältig vermerkt. Der folgende Zusatz, der sich in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bei der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen findet, scheint besonders aufschlussreich: ‚I exist‘ is an analytic judgement; ‚A body exists‘ is a synthetic one (ibid., 130, Fn.). Die Hegel-Rezeption in Frankreich wurde durch einen Italiener angestoßen, durch Au‐ gusto Vera, einen Protegé Victor Cousins. Er übersetzte Teile der Enzyklopädie der philo‐ sophischen Wissenschaften und die Vorlesungen über die Philosophie der Religion ins Fran‐ 260 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="261"?> 135 Bibliographische Hinweise finden sich u. a. in: A Hegel Bibliography, University of Sussex (im Netz verfügbar, zuletzt revidiert 2013) und Translations. The Oxford University Press, eine Website, über die man die bei dem Verlag erschienenen Übersetzungen nachschlagen kann. 136 Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. München 6 1980, Bd. 2, 37. zösische. Später kehrte er nach Italien zurück und begründete dort den italienischen Hegelianismo, der später, nicht zuletzt durch Benedetto Croce, die Hegel-Rezeption in ganz Europa beeinflusste: „Italien hat einen direkteren Zugang zu dem deutschen Philosophen als Frankreich, in dessen Hegel-Bild sich immer noch die Nachwirkungen Cousins und der Saint-Simonisten bemerkbar machen“ (Plack 2015, 102; cf. supra 9.3). Über die weitere He‐ gelrezeption in Frankreich und die wichtigsten französischen Übersetzungen informiert u. a. Kervégan (2005). Im englischen Sprachraum ist die Hegel-Rezeption besonders problematisch verlaufen. Das zeigt sich schon an terminologischen Einzelheiten: Die Phänomenologie des Geistes erscheint sowohl als Phenomenology of Mind wie auch als Phenomenology of Spirit. Die Wiedergabe von Hegels aufheben, Aufhebung, die Interaktion von These und Antithese, die auf einer höheren Ebene zur Synthese führt, bereitete besondere Schwierigkeiten. Vorge‐ schlagen wurden u.a.: to pick up, to lift up, to abolish, to cancel, to suspend; gewählt wurde meist to sublate “to resolve in a higher unity”. Während der Hegelsche Ausdruck zum deut‐ schen Kernwortschatz gehört (wenn auch nicht in dieser spezifischen Bedeutung), sind to sublate, sublation typische inkhorn terms, die in vielen geläufigen Wörterbüchern noch nicht einmal verzeichnet sind. Sie werden jedoch auch in Marx-Übersetzungen gebraucht. Robin George Collingwood (1889-1943), einer der wenigen britischen ‚Idealisten‘, der nicht müde wurde zu betonen, dass der Philosophie eine andere Aufgabe als der Wissenschaft zu‐ komme, hat sich besonders um die Rezeption Hegels im englischen Sprachraum verdient gemacht. Die wichtigsten Werke Hegels liegen inzwischen in verlässlichen Übersetzungen vor. 135 Insgesamt gesehen ist er jedoch in den angelsächsischen Ländern in eine Nische geraten. Auf der einen Seite standen die Linkshegelianer, die sich die Ansicht ihres chef de file Karl Marx zu eigen gemacht haben, es gelte nicht, die Welt zu interpretieren, man müsse sie verändern. Für sie war Hegel, nachdem er von Marx „vom Kopf auf die Füße gestellt worden war“, nicht mehr besonders wichtig. Auf der anderen Seite standen die Neopositi‐ visten und die Vertreter der analytischen Philosophie, für die Hegel von Anfang an der Inbegriff einer Nonsense-Philosophy war. Wir wollen hier einen Österreicher zu Wort kommen lassen, der zwar kein klassischer Neopositivist war, der jedoch die Mitglieder des Wiener Kreises in seiner Abneigung gegenüber Hegel noch übertraf: Karl Popper, der sich in The Open Society and its Enemies vernichtend über Hegel geäußert hat. Wir zitieren aus der deutschen Übersetzung seines Landsmanns Paul Feyerabend, die „dem Andenken des Philosophen der Freiheit und der Menschlichkeit Immanuel Kant“ gewidmet ist: Hegels Ruhm wurde von jenen begründet, die eine schnelle Einführung in die tiefen Mysterien der Welt der mühevollen Kleinarbeit einer Wissenschaft vorziehen, einer Wissenschaft, deren Un‐ fähigkeit, alle Geheimnisse mit einem Schlag zu enthüllen, nur enttäuschen kann. Denn sie hatten es schnell heraus, daß es keine Methode gab, die sich mit so spielerischer Leichtigkeit […] auf jedes beliebige Problem anwenden ließ […] als die Hegelsche Dialektik, jene magische Methode, die die „unfruchtbare formale Logik“ ersetzte. 136 261 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="262"?> 137 Cf. Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, s.v. Erlkönig. 138 Cf. Artemis Gedenkausgabe, Bd. 12, 705. Wir müssen hier unsere Behandlung des deutschen ‚Übersetzungsexports‘ abbrechen, da sonst kein Raum mehr für die wichtigsten ‚Importe‘ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mehr bliebe - zu unserem Bedauern, denn über die Wirkung der Übersetzungen von Den‐ kern wie Schopenhauer, Marx oder Nietzsche in benachbarten Sprachräumen wäre viel zu sagen. Ein englischsprachiger Blogger fragt, ob man denn die Kritik der reinen Vernunft gelesen haben müsse, um Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung zu verstehen. Darin zeigt sich, dass Vermittler von ‚Weltanschauungen‘ wie Schopenhauer, Nietzsche und (mu‐ tatis mutandis) Marx eine viel größere Breitenwirkung entfaltet haben als Systematiker wie Kant und Hegel. Nun aber zurück zu den deutschen ‚Übersetzungsimporten‘. Entscheidend für die zeit‐ liche Einordnung ist hier nicht das Erscheinungsdatum des Originals, sondern (von we‐ nigen Ausnahmen abgesehen) das der Übersetzungen. Zunächst wollen wir kurz über einige Autoren berichten, die selbst übersetzt und sich zu den dabei aufgetretenen Problemen geäußert haben. Am Anfang wäre nochmals auf Herder zurückzukommen: Mit einem schöpferischen Übersetzungsfehler, bei dem er das dänische ellerkonge > elverkonge „El‐ fenkönig“ als „Erlkönig“ missverstand, hat er Goethe zu einem seiner bekanntesten Ge‐ dichte inspiriert. 137 Von Goethe wird häufig ein kurzer Passus aus dem langen Nekrolog für Wieland zitiert, wo von zwei „Übersetzungsmaximen“ die Rede ist: Entweder müsse der Autor einer fremden Nation zu uns herübergebracht werden, oder aber wir müssten uns zu dem Fremden hinüberbegeben. 138 Das erinnert sehr stark an die bereits erwähnte Akade‐ mierede von Schleiermacher, die fast genau zur selben Zeit entstanden ist. Ob einseitige oder gegenseitige Abhängigkeit vorliegt, wurde unseres Wissens bis heute nicht geklärt. Weniger bekannt, jedoch für den Übersetzungshistoriker von besonderem Interesse ist Goethes Charakterisierung der Wielandschen Shakespeare-Übersetzung, die sich in seinem Nachruf kurz vor der häufig zitierten Stelle findet: Diese Übersetzung, so eine große Wirkung sie in Deutschland hervorgebracht, scheint auf Wieland selbst wenig Einfluß gehabt zu haben. Er stand mit seinem Autor allzusehr in Widerstreit, wie man genugsam erkennt aus den übergangenen oder ausgelassenen Stellen, mehr noch aus den hinzu‐ gefügten Noten, aus welchen die französische Sinnesart hervorblickt. (ibid., 702) Schleiermachers berühmte Akademierede, die wie Goethes Nachruf ebenfalls 1813 erschien, haben wir bereits öfter erwähnt. Es genügt, an dieser Stelle zwei hartnäckig weitergegebene Falschbehauptungen zu korrigieren. Schleiermacher führt zwar wie Goethe zwei unter‐ schiedliche Übersetzungsstrategien an, die Heranführung des fremden Texts an den Leser oder das Hinbewegen des Lesers zum fremden Text, und entscheidet sich (mit Vorbehalten) für die zweite, vorausgesetzt, dass diese im großen Stil vorgenommen werde (cf. supra 7). Die dafür verwendeten Fachausdrücke einbürgern und verfremden stammen jedoch nicht von ihm. Für dieses Begriffspaar gibt es inzwischen ein gutes Dutzend Synonyme, die hier nicht angeführt werden können. Im Übrigen war es nicht Schleiermacher, der den Ausdruck Übersetzungswissenschaft zum ersten Mal verwendete, sondern der heute vergessene west‐ preußische Schriftsteller Karl Heinrich Pudor, der - wiederum im Jahr 1813 - in einer von 262 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="263"?> 139 Vgl. hierzu: Klaus Schubert: „‚so gewiß muß es auch eine Uebersetzungswissenschaft geben‘. Erwei‐ terte Recherchen zur ersten Forderung nach einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Über‐ setzen“. Transkom 8 [2] (2015), 560-617. Friedrich de la Motte Fouqué und Wilhelm Neumann herausgegebenen Zeitschrift einen übersetzungstheoretischen Aufsatz veröffentlichte, in dem die Entstehung einer Überset‐ zungswissenschaft gefordert wird. In diesem Aufsatz wird Schleiermacher zweimal er‐ wähnt; die Behauptung, Pudor sei eines seiner Pseudonyme gewesen, ist somit unsinnig. Im Übrigen wird der betreffende Aufsatz in der Deutschen Bibliographie s.v. Pudor aufge‐ führt. 139 Zur Frage der Übersetzung und der Übersetzbarkeit haben sich deutschsprachige Schrift‐ steller häufig geäußert. Wir geben hier zwei entgegengesetzte Meinungen wieder, die als Topoi in vielfachen Variationen in Erscheinung treten: Johann Paul Friedrich Richter alias Jean Paul, von dem keine Übersetzungen überliefert sind, vertrat in seiner Vorschule der Ästhetik eine überaus strenge Auffassung von der Unübersetzbarkeit des literarischen Kunstwerks: Es ist ein böses Zeichen, wenn ein Autor ganz zu übersetzen ist, und ein Franzose könnt’ es so ausdrücken: ein Kunstwerk, das einer Übersetzung fähig ist, ist keiner wert. Gewisse kalte Aller‐ weltschreiber geben uns musivische oder hölzerne Gemälde, welche man leicht kopiert, indem man sie bloß der Länge nach verdoppelt und durchschneidet; hingegen vaterländische Schrift‐ steller geben uns Alfreskobilder, welche nur mit der Mauer selber in andere Länder überzutragen sind. ( Jean Paul/ Miller, 1975 [1813], Bd. 9, 352 f.) Gut hundert Jahre später feiert Hugo von Hofmannsthal das Deutsche als universell ver‐ wendbare Zielsprache. In einer Vorrede zu einer Neuausgabe von K. E. Neumanns Über‐ tragung der Kernschriften des Buddhismus heißt es: Daß ich aber das Werk eines Übersetzers als ein großes Werk und einen großen Besitz der Nation hinstelle, wird niemanden wundern, der sich besinnt, daß wir Deutsche sind und unsrer Sprache, die ja unser geistiges Schicksal ist, dies Merkmal gegeben ist, daß in ihr, wie in keiner, die geistigen Schöpfungen anderer Völker, auch deren Art uns ferne ist, in ihrer Herrlichkeit wieder auferstehen und ihr eigenstes Wesen offenbaren können, wodurch wir als das Volk der Mitte und der Vermitt‐ lung auserlesen und beglaubigt sind. (Hofmannsthal 1953 [1921], Bd. IV, 66) Tüchtige Übersetzer kümmern sich nicht so sehr um die angebliche Möglichkeit oder Un‐ möglichkeit des Übersetzens; sie gehen einfach ihrer Arbeit nach. In der Romantik erwachte das Interesse für lange zurückliegende Epochen, nicht nur bei den Historikern, sondern auch bei den Übersetzern. Auf einige wichtige Übersetzungen dieses Typs sind wir bereits eingegangen, auf andere werden wir noch eingehen, nämlich auf die deutschen Fassungen der Gedichte François Villons, die von deutschen Übersetzern erst sehr spät entdeckt wurden. Zunächst wollen wir uns jedoch mit einigen bedeutenden Autoren beschäftigen, die bereits von Zeitgenossen (und im Anschluss daran von vielen Nachfolgern) ins Deutsche übertragen wurden. Beginnen wir beim französischen 18. Jahrhundert. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob denn zu dieser Zeit Übersetzungen aus dem Französischen überhaupt einen 263 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="264"?> 140 Zit. nach Beate Hampel: Prévosts ‚Manon Lescaut‘ in deutschen Übersetzungen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Diplomarbeit Heidelberg 1993 (unveröffentlicht). Markt fanden, wo doch angeblich alle Gebildeten dieser Sprache mächtig waren. Wie so oft rückt Fritz Nies auch zu dieser Frage gängige Ansichten zurecht. Mit den Französisch‐ kenntnissen der Gebildeten war es nicht gar so weit her. Die Kaiserin Maria Theresia, im‐ merhin die Mutter Marie-Antoinettes, soll die Markgräfin von Bayreuth gebeten haben, Deutsch mit ihr zu reden, da sie Französisch nicht gut verstehe (cf. Nies 2009, 95). So ent‐ standen die ersten Übersetzungen von Voltaire verhältnismäßig früh, schon 1733 erschien eine deutsche Version von Charles XII, roi de Suède. Mit einem der bekanntesten Romane, Candide ou l’optimisme, traduit de l’allemand de Mr. Le Docteur Ralph, laut Untertitel an‐ geblich eine Übersetzung aus dem Deutschen und tatsächlich zum großen Teil in Schwet‐ zingen bei Heidelberg niedergeschrieben, verhält es sich ein wenig anders. Von den mehr als zwanzig Übersetzungen, die in über 115 Editionen bis Ende des vergangenen Jahrhun‐ derts erschienen sind, stammen nur zwei aus dem 18. Jahrhundert (cf. supra, 9.3). Von dem Roman Manon Lescaut des Abbé Prévost sind nahezu vierzig deutsche Übersetzungen er‐ schienen, fünf darunter bereits im 18. Jahrhundert. Die zahlreichen Neuübersetzungen französischer Klassiker in den folgenden Jahrhunderten erklären sich nicht zuletzt aus sprachlichen Gründen. Während die französische Literatursprache ab dem 18. Jahrhundert für lange Zeit vergleichsweise stabil blieb, hat sich die deutsche Literatursprache in dieser Zeit stark verändert. Man vergleiche den folgenden Passus aus Manon Lescaut mit einer Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert: … en un mot, je me flattai d’obtenir de lui la liberté de l’épouser, ayant été désabusé de l’espérance de le pouvoir sans son consentement. (Première partie) Kurz ich schmeichelte mich mit dem Gedanken, daß ich die Erlaubniß, sie heirathen zu dürfen, mir von ihm [scil. ihrem Vater] auswirken würde, nachdem ich von dem Irrthum, das ich dasselbe auch ohne seine Einwilligung thun könne, zurückgekommen war. (Friedrich Heinrich Feuerbach 1834) 140 Der Passus klingt für einen gebildeten Franzosen auch heute nicht besonders archaisch, die Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert für einen gebildeten Deutschen allerdings schon. Jean-Jacques Rousseau wurde ebenfalls bereits zu Lebzeiten ins Deutsche übersetzt, wobei man zu berücksichtigen hat, dass die Verbreitung dieser Übersetzungen ebenso wie die der Originale durch verschiedene Zensurmaßnahmen behindert war. Am Anfang stehen zwei Abhandlungen, der Discours sur les sciences et les arts und der Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, die jeweils wenige Jahre nach den Originalen auf Deutsch erschienen. Es folgten noch im 18. Jahrhundert die Übersetzungen von La Nouvelle Héloïse (1761); Émile (1762 und 1796); Le contrat social (1763); Les rêveries du pro‐ meneur solitaire (1782); und schließlich Les confessions (1789-1791). Die erste deutsche Ge‐ samtausgabe erschien schon zwischen 1785 und 1798, danach folgten Auswahlausgaben (auch der Briefe) und Übersetzungen einzelner Werke. Auf Diderot werden wir aus Gründen der Ökonomie der Darstellung im 12. Kapitel im Zusammenhang mit Goethes Übersetzung des Neveu de Rameau eingehen. 264 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="265"?> Bevor wir uns den französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts zuwenden, wollen wir einen Blick auf Großbritannien werfen. Von Sterne war schon in 9.4 die Rede. Die dort nur erwähnten übrigen Autoren wie Samuel Richardson, Henry Fielding, Tobias George Smol‐ lett und Oliver Goldsmith, müssen auch hier übergangen werden, obwohl sie zu ihrer Zeit einen großen Einfluss auf das deutsche Lesepublikum hatten. Man denke nur an Goldsmiths Vicar of Wakefield, der in Goethes Werther und in der Italienische[n] Reise (vermutlich in der Übersetzung von Bode, cf. infra) erwähnt wird. Wir wollen hier lediglich auf Daniel Defoe (1660-1731) etwas näher eingehen, da die Übertragungen seiner Werke ins Deutsche in übersetzungsgeschichtlicher Hinsicht besonders interessant sind. Sein bekanntestes Werk ist The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe (1719), das erstaun‐ lich schnell, 1720 und 1721, in zwei deutschen Übersetzungen auf den Markt kam. 1723 erschien die erste deutsche Übersetzung von Moll Flanders, einer britischen Version des Schelmenromans (cf. supra 9.2). Darauf folgen größere zeitliche Lücken: Die nächsten Übersetzungen von Robinson Crusoe sind 1765, 1836, 1903, 1921, 1947, 1949, 1956 und 1966 erschienen. Die Übersetzung aus dem Jahr 1921 stammt von Hans Reisiger, den Thomas Mann als Rüdiger Schildknapp in Doktor Faustus als einen mit seiner Arbeit unzufriedenen Übersetzer auftreten ließ (cf. infra 10.9). Deutsche Übersetzungen von Moll Flanders kamen 1723, 1919, 1954 und 1958 auf den deutschen Buchmarkt. Weniger bekannte Werke De‐ foes, die in der hier ausgewerteten Bibliographie von Rössig (1997) aufgeführt werden, werden hier ebenso wenig berücksichtigt wie die unzähligen Bearbeitungen des Robinson Crusoe, die dazu geführt haben, dass manchem einigermaßen Gebildeten dieser Roman nur als Jugendbuch bekannt ist. Die Jahreszahlen der Veröffentlichungen zeigen, dass das In‐ teresse der Übersetzer und der Leser (und nicht zuletzt der Verleger) an einem Werk oder einem Autor nach längeren Pausen neu erwachen kann. Die Gründe hierfür verdienten es, anhand einer breiteren Materialbasis untersucht zu werden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts treten in England einige Schriftstellerinnen in Erscheinung, die wir hier zusammen behandeln wollen: Jane Austen (1775-1817) und drei Schwestern, die in einem nordenglischen angli‐ kanischen Pfarrhaus aufwuchsen: Charlotte Brontë (1816-1855); Emily Jane Brontë (1818-1848) und Anne Brontë (1820-1849). Keine von ihnen hat das fünfzigste Lebensjahr erreicht. Der außergewöhnliche Erfolg dieser Autorinnen wird meist mit ersten aufkommenden feministischen Bestrebungen erklärt. Plausibler erscheint die Ansicht, dass es ihnen gelungen ist, aus der Not eine Tugend zu machen. Da sie als Frauen nicht an der üblichen akademischen Ausbildung teilhaben konnten, entwickelten sie ihre Erzähl- und Darstellungstechnik unabhängig von überkommenen Mustern und erneuerten damit die Gattung, ohne dies bewusst anzustreben. Jane Austen erscheint auf den ersten Blick am wenigsten innovatorisch. Ihre Gesell‐ schaftsromane wirkten wohl bereits auf zeitgenössische Leser beruhigend traditionell. Sie stammte ‚aus guter Familie‘ und publizierte daher nicht unter ihrem Namen. Auf dem Ti‐ telblatt von Sense and Sensibility erscheint als Verfasserangabe by a Lady. Zumindest die deutsche Übersetzungsgeschichte zeigt, dass der Geschmack der Leser sich weniger schnell ändert als der der Literaten. In der Bibliographie von Rössig werden 24 Titel aufgeführt, nur einer stammt ungefähr aus der Zeit der Entstehung, der nächste aus dem Jahr 1939. Daraufhin erscheinen deutsche Übersetzungen in relativ dichter Folge. Allein 2017 (zum 265 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="266"?> 200. Todestag), ein Jahr, das bei Rössig nicht mehr erfasst wird, sind nicht weniger als sieben deutsche Übersetzungen ihrer Werke erschienen. Dass die Autorin in rein formaler Hinsicht nicht unambitioniert war, zeigen die Alliterationen in den Titeln zweier früher Romane: Sense and Sensibility und Pride and Prejudice. In keiner deutschen Übersetzung wurde ver‐ sucht, die suggestive Wirkung nachzuahmen, die von diesen Titeln ausgeht. Auch in er‐ zähltechnischer Hinsicht erweist sich Austen als innovativ, vor allem, was den ständigen Wechsel zwischen auktorialem Erzählen und erlebter Rede (free indirect speech) angeht: Mrs. Bennet had many grievances to relate, and much to complain of. They had all been very ill used since she last saw her sister. Two of her girls had been on the point of marriage, and after all there was nothing in it. (Austen 1907, Pride and Prejudice, chapt. 25) Mrs. Bennet hatte über viele Kümmernisse zu berichten und sich über vieles zu beklagen. Es sei ihnen sehr übel mitgespielt worden, seit sie ihre Schwägerin zum letzten Mal gesehen habe. Zwei ihrer Töchter seien schon auf dem besten Wege gewesen, sich zu verheiraten, und schließlich sei nichts daraus geworden. (Austen/ Schulz 1997, Kap. 25) Mrs. Bennet hatte viele Sorgen zu berichten und über vieles zu klagen. Ihnen allen war böse mit‐ gespielt worden, seit sie ihre Schwägerin zuletzt gesehen hatte. Zwei ihrer Töchter waren im Begriff gewesen zu heiraten, und nun war doch nichts daraus geworden. (Austen/ Grawe 1981, Kap. 25) Beide Übersetzer verstehen ihr Handwerk; sie erkennen, dass sister als Kurzform für sister-in-law gebraucht wird und geben das Wort nicht mit Schwester, sondern mit Schwä‐ gerin wieder. Jedoch weist nur die ältere Übersetzung erlebte Rede auf und imitiert damit den leicht informellen Erzählton. In der neueren Übersetzung erscheinen zwar keine Re‐ deeinleitungen, aber durch den Gebrauch des Konjunktivs wird Mrs. Bennets Bericht formal korrekt als indirekte Rede ausgewiesen. Von den Brontë Sisters wurde Anne am seltensten, Charlotte am häufigsten ins Deutsche übersetzt. Daran hat ihr Erfolgsroman Jane Eyre den größten Anteil. Emily hat nur einen Roman verfasst: Wuthering Heights (über die angemessene Aussprache des Titels kursieren unterschiedliche Ansichten). Dieser von drei selbst in die Handlung involvierten Erzählern vorgetragene Bericht wurde ein Welterfolg. Zwischen 1851 und 1997 erschienen 13 deutsche Übersetzungen. Die Anklänge an die gothic novels, die in verschiedenen Literaturgeschichten suggeriert werden, sind rein äußerlicher Natur. Der Roman lässt sich keinem Genre zu‐ ordnen, im Gegensatz etwa zu den Romanen von Charles Dickens, die etwa neunzig Mal ins Deutsche übersetzt wurden, und zwar von Anfang an in ziemlich regelmäßigen Abständen. Die übersetzerische Rezeption von Wuthering Heights setzt erst im 20. Jahrhundert in grö‐ ßerem Umfang ein. Es lohnt sich, einen Blick auf die Titel zu werfen, unter denen das Werk auf Deutsch erschienen ist: Wutheringhöhe (1851); Der Sturmheidehof (1908); Sturmhöhe (1938); Umwitterte Höhen (1941); Liebe und Hass auf Wuthering Heights (1945); Stürmische Höhen (1948); Sturmhöhe (1949); Catherine Linton: Liebe und Hass auf Wuthering Heights (1950); Unerlöstes Herz (1955); Sturmhöhe (1981); Sturmumwetterte Höhen (1983); Sturmhöhe (1986); Sturmhöhe (1997). Erst langsam hat sich der Titel Sturmhöhe durchgesetzt, der inzwi‐ schen über einen gewissen Wiedererkennungswert verfügt. Es gibt übersetzungswissenschaft‐ liche Untersuchungen, die in der Findung eines zielsprachlichen Titels eine Leistung des je‐ 266 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="267"?> weiligen Übersetzers sehen. In Wirklichkeit haben hier meist Verlagslektoren und Verleger das letzte Wort; Übersetzer dürfen allenfalls Vorschläge einreichen. Alle drei Schwestern aus Yorkshire dürften die historischen Romane von Sir Walter Scott gelesen haben und bis zu einem gewissen Grad von ihnen beeinflusst gewesen sein. Scott hatte ein neues Genre geschaffen, das überall auf große Resonanz stieß. Seine Romane sind gut sechzig Mal ins Deutsche übersetzt worden. Die Übersetzungen im 19. Jahrhundert entstanden lange vor der Berner Übereinkunft; d. h. jeder konnte unbekümmert übersetzen, er musste nur der erste auf dem Markt sein, wenn er kräftig verdienen wollte. Scotts his‐ torische Romane (die anfangs anonym erschienen) fanden in breiteren Schichten begeis‐ terte Aufnahme, somit war Schnelligkeit in diesem Fall unternehmerisch besonders viel‐ versprechend. Um den Übersetzungsbetrieb zu beschleunigen, entschlossen sich einige findige Verleger, die Arbeit nach modernen industriellen Methoden zu organisieren. Ein Roman wurde in überschaubare Abschnitte aufgeteilt, die einer größeren Anzahl von „aus dem Groben arbeitenden“ Rohübersetzern anvertraut wurden. Diese Textbruchstücke wurden anschließend von erfahrenen „Stilisten“ (die dann meist als offizielle Übersetzer oder Übersetzerinnen in Erscheinung traten) überarbeitet und zu einem einheitlichen Text zusammengefügt. Bald wurden für diese Art der Produktion abschätzige Ausdrücke wie „Übersetzungsanstalten“ oder „Übersetzungsfabriken“ geprägt (cf. Bachleitner 1990; Albrecht 1998, 183 ff.). Scotts erster Roman Waverley, or ’Tis Sixty Years since (1814) wurde zwischen 1821 und 1829 nicht weniger als achtmal ins Deutsche übersetzt. Es folgten wei‐ tere acht Übersetzungen in größeren Abständen. Heute spielt Scott auf dem deutschen Buchmarkt eine untergeordnete Rolle. Die bedeutenden französischen Autoren des 19. Jahrhunderts Marie-Henri Beyle (1783-1843), der sich Stendhal nannte (nach Winckelmanns Geburtsort Stendal), Honoré de Balzac (1799-1850), Victor Hugo (1802-1885), Gustave Flaubert (1821-1880) und Émile Zola (1840-1902) wurden besonders häufig ins Deutsche übersetzt. An der Spitze stehen Balzac und Zola mit jeweils weit über hundert Übersetzungen - nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sie mit ihren großen Zyklen La comédie humaine und Les Rougon-Macqart besonders viele Einzelwerke veröffentlicht haben. Flaubert folgt mit gut neunzig Überset‐ zungen; die erste deutsche Fassung von Mme Bovary erschien bereits zu seinen Lebzeiten. Victor Hugo hat gut achtzig deutsche Übersetzungen vorzuweisen, wobei, im Gegensatz zu den anderen Autoren, Gedichtzyklen einen gewissen Anteil haben (cf. infra). Der Älteste von allen, Stendhal, hat mit seiner Ansicht, man werde ihn erst hundert Jahre nach seinem Tod lesen, nicht Recht behalten. La chartreuse de Parme erschien bereits kurz nach seinem Tod auf Deutsch, mit dem suggestiven Titel Kerker und Kirche. Wir werden auf einige der hier behandelten Autoren in Kap. 14 zurückkommen, wo es um den Aufstieg der niedrigen sprachlichen Register in die gehobene Literatur gehen wird. Zwei originelle Lyriker des 19. Jahrhunderts sollen hier (in Vertretung für viele andere) einen kleinen deutschsprachigen Auftritt erhalten. Giacomo Leopardi (1798-1837) ist schon früh bei den Übersetzern im deutschsprachigen Raum auf Interesse gestoßen. Sein be‐ rühmtestes (und schönstes) Gedicht L’infinito ist besonders häufig übersetzt worden. Wir wollen es hier zusammen mit drei deutschen Übersetzungen vorstellen: 267 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="268"?> Sempre caro mi fu quest’ermo colle, Stets liebt’ ich diesen abgelegnen Hügel. E questa siepe, che da tanta parte Und diese Hecke, die ein großes Stück Dell’ultimo orizzonte il guardo esclude. Des tiefsten Horizonts dem Blick entzieht. Ma sedendo e mirando, interminati Doch sitzend und betrachtend fass’ ich jenen Spazi di là da quella, e sovrumani Dem hier verglichen grenzenlosen Raum, Silenzi, e profondissima quiete Das mächtge Schweigen und die tiefe Ruh Io nel pensier mi fingo; ove per poco In meinen Geist auf, daß ein Weilchen doch Il cor non si spaura. E come il vento Das Herz nicht bebt. Vernehm ich, wie der Wind Odo stormir tra queste piante, io quello Durch diese Zweige rauscht, dann muß ich jenes Infinito silenzio a questa voce Endlose Schweigen mit dem Laute hier Vo comparando: e mi sovvien l’eterno, Vergleichen, und das Ewge schwebt mir vor, E le morte stagioni, e la presente Die todten Zeitabschnitte sammt dem jetzgen E viva, e il suon di lei. Così tra queste Lebendigen und seinen Ton. In dieser Immensità s’annega il pensier mio: Unendlichkeit ertränkt sich mein Gedanke, E il naufragar m’è dolce in questo mare. Und süß ist’s mir in diesem Meer zu scheitern. (Karl Ludwig Kannegießer 1837) Immer lieb war mir dieser einsame Lieb war mir stets dieser kahle Hügel Hügel und das Gehölz, das fast ringsum Und diese Hecke, die an so vielen Stellen ausschließt vom fernen Aufruhn der Himmel Den Blick auf den fernen Horizont verdeckt. den Blick. Sitzend und schauend bild ich un‐ endliche Aber sitzend und schauend stell ich mir Räume jenseits mir ein und mehr als unbegrenzte Räume jenseits von ihr menschliches Schweigen und Ruhe vom Grunde der Ruh. Und übermenschliches Schweigen und tiefste Ruhe in Gedanken vor, Und über ein Kleines geht mein Herz ganz ohne wobei mein Herz beinahe vor Angst erstarrt. Und wie ich Furcht damit um. Und wenn in dem Buschwerk aufrauscht der Wind, so überkommt es mich, daß ich den Wind rauschen höre in diesen Bäumen Dieses Lautsein vergleiche mit jener endlosen Stillheit. Vergleiche ich jene unendliche Stille mit dieser Und mir fällt das Ewige ein Stimme, und das Ewige kommt mir in den Sinn, und daneben die alten Jahreszeiten und diese und die abgelebten Zeiten und die jetzige daseiende Zeit, die lebendige, tönende. Also sinkt der Gedanke mir weg ins Übermaß. Unterlebende, und deren Klang. So ertrinkt mein Gedanke in diesem Unermessli‐ chen, gehen in diesem Meer ist inniger Schiffbruch. und unterzugehen in diesem Meer tut mir wohl. (Rainer Maria Rilke 1912) ( J.A., unpoetische Übersetzung als Verständ‐ nishilfe) Eigentlich wollen wir, wie versprochen, beschreiben, nicht kritisieren, obwohl uns das vor allem bei Rilke schwerfällt. Eines muss jedoch festgehalten werden: Der scheinbar so be‐ schauliche Text hat eine dramatische Struktur: Alles läuft zunächst auf die Angst vor dem Verlust der Individualität hinaus, die sich beinahe einstellt: ove per poco il cor non si spaura, „wobei mein Herz beinahe vor Angst erstarrt“. Danach löst sich diese Angst, und die Auflösung des Ichs ins Unermessliche wird freudig hingenommen. Wer diesen Angel‐ 268 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="269"?> punkt in der Mitte des Textes nicht herausarbeitet (das Verständnis wird durch die typisch romanische doppelte Verneinung erschwert, die nicht, wie in der Logik, als Bejahung ver‐ standen werden darf), macht aus einem nüchtern und unpathetisch vorgetragenen kleinen Drama ein gefälliges Stimmungsbild (cf. Albrecht 1990). Weder Kannegießer noch Rilke − und ebenso wenig Paul Heyse (cf. infra 10. 7) oder Hanno Helbling, die hier nicht zu Wort kamen − werden dem Text in dieser Hinsicht gerecht. Charles Baudelaire ist unter den durchschnittlich Gebildeten fest mit seinem Gedicht‐ zyklus Les fleurs du mal, „Die Blumen des Bösen“ verbunden. Von den gut vierzig Überset‐ zungen, die bisher in deutscher Sprache erschienen sind, gelten jedoch nur etwa zehn diesem Zyklus, wobei eine 1891 erschienene „Umdichtung“, zugleich die Erstübersetzung, und Auswahlübersetzungen mitgerechnet wurden. Erstaunlich häufig wurden die Petits poèmes en prose und andere echte Prosastücke übersetzt, die in den gängigen Literaturge‐ schichten eine untergeordnete Rolle spielen. Gesamtübersetzungen der Fleurs du Mal, die der Struktur des Zyklus gewissenhaft Rechnung tragen, wie diejenige von Monika Fah‐ renbach-Wachendorf (1980), sind eher selten. Leopardi ist in seinem Zibaldone di pensieri („Sudelbuch“) als Übersetzungstheoretiker hervorgetreten, Baudelaire dagegen als Übersetzer. Mit seinen Übersetzungen der Erzäh‐ lungen des Amerikaners Edgar Allan Poe hat Baudelaire dazu beigetragen, dass aus einem Schriftsteller, der von seinen Landsleuten ursprünglich als mittelmäßig angesehen wurde, ein Autor von Weltgeltung wurde. Wie bereits angekündigt wollen wir noch auf einen mittelfranzösischen Dichter ein‐ gehen, der von deutschsprachigen Übersetzern erst spät entdeckt wurde: François Villon (1431nach 1463). Die erste deutsche Übersetzung eines großen Teils seines Werks stammt von dem österreichisch-ungarischen Leutnant Karl Klammer, der sie unter dem leicht durchschaubaren Pseudonym K. L. Ammer publizierte. Sie erschien 1907, also etwa 450 Jahre nach dem Tod des Autors. Es folgten mehrere weitere Übersetzungen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, darunter auch Umdichtungen und Übersetzungen in deutsche Dia‐ lekte - so diejenigen von H. C. Artmann ins Wienerische und von F. H. Schaefer aus dem ostfriesischen Leer ins Niederdeutsche. Bekannt geworden ist vor allem der burleske Villon, der in einem berühmten Vierzeiler kurz vor der befürchteten Hinrichtung versichert, nun werde sein Hals durch einen klafterlangen Strick bald erfahren, wie schwer sein Hin‐ tern wiegt (Et d’une corde d’une toise / Sçaura mon col que mon cul poise). Der tief fromme und ständig todesbereite Dichter tritt dagegen in den Hintergrund: Freres humains qui après nous vivez, / N’ayez les cuers contre nous endurcis „Ihr Menschenbrüder, die ihr nach uns lebt, / Verhärtet eure Herzen nicht zu Stein“, beginnt ein selbstverfasstes fiktives Epitaph. Geradezu zu geflügelten Worten im deutschen Sprachraum sind einige Verse geworden, die Bertolt Brecht, der nach seinen eigenen Worten eine laxe Auffassung in Sachen des geistigen Eigentums hatte (cf. infra Kap. 16), teilweise mit kleinen Änderungen der Übersetzung von K. L. Ammer entnommen und in eigenen Gedichten weiterverwendet hat: Der Refrain Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm aus der Ballade vom guten Leben in der Dreigroschen‐ oper lautete bei Ammer: „Nur wer im Wohlstand schwelgt, lebt angenehm“. Der Vers stammt aus Les contredits de Franc Gonthier und lautet dort: Il n’est trésor que de vivre à son aise (wörtl. „es gibt kein höheres Gut als angenehm zu leben“). Der Kehrreim der Double bal‐ lade: Bien est eureux qui riens n’y a „glücklich der, der nichts davon hat“ wurde von Brecht 269 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="270"?> 141 Über die Rezeptions- und Übersetzungsgeschichte der Werke Villons berichtet auf 400 Seiten Pöckl (1990). 142 In einem Werkstattbericht gibt Kroeber über die Entstehung seiner Übersetzung und über seinen Umgang mit den deutschen Vorgängerübersetzungen sowie mit französischen und englischen Über‐ setzungen genaue Auskunft (cf. Kroeber 2001). in der Übersetzung von Ammer im Salomon-Song der Dreigroschenoper verwendet: Benei‐ denswert, wer frei davon. 141 Alessandro Manzoni ist nicht nur aus literarischen, sondern auch aus sprachlichen Gründen zum neueren italienischen Nationaldichter geworden. Sein resolutes Eintreten für das Toskanische als Grundlage der neuen italienischen Literatursprache hat eine Diskussion ausgelöst, die unter dem Terminus Nuova questione della lingua für die neuere italienische Sprachgeschichte bedeutsam wurde. Toskanisch war nicht die Muttersprache des Lom‐ barden Manzoni. Um seine unvollkommene Kenntnis dieser Varietät zu kaschieren, be‐ diente er sich eines alten literarischen Tricks. Er gab sein Hauptwerk I promessi sposi als altes Manuskript aus, das er in einer Schublade gefunden und um der Lesbarkeit willen stilistisch überarbeitet habe. Das erlaubte ihm auch, als angeblicher Herausgeber dieses Dokuments eine entschieden distanzierte Erzählhaltung einzunehmen und ausführliche kulturgeschichtliche Beobachtungen einzuflechten. Goethe, der Manzonis Ode auf den Tod Napoleons, Cinque Maggio, übersetzt hatte, war anfangs von dessen großem Roman be‐ geistert. Er hatte ihn in der zweiten Fassung von 1827, die bereits den endgültigen Titel I promessi sposi trug, erhalten. Nachdem er auf die ausführlichen historischen Exkurse über die Pest in Mailand gestoßen war, äußerte er sich am 23. Juli 1827 gegenüber seinem Ge‐ sprächspartner Eckermann reservierter: … im dritten Bande finde ich, daß der Historiker dem Poeten einen bösen Streich spielt, indem Herr Manzoni mit einemmal den Rock des Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter His‐ toriker dasteht, […] Der deutsche Übersetzer muß diesen Fehler zu vermeiden suchen, er muß die Beschreibung des Kriegs und der Hungersnot um einen guten Teil, und die der Pest um zwei Dritteile zusammenschmelzen, so daß nur so viel übrig bleibt, als nötig ist, um die handelnden Personen darin zu verflechten. (Goethe/ Eckermann 1908, I, 417 f.) Der Roman ist ungefähr fünfzehnmal ins Deutsche übersetzt worden, und manche Über‐ setzer haben sich an Goethes Ratschlag gehalten, vermutlich ohne ihn zu kennen. Als deut‐ scher Titel war lange Zeit Die Verlobten üblich, obwohl der Originaltitel deutlich von der geläufigen italienischen Bezeichnung I fidanzati abweicht. Burkhart Kroeber hat sich daher bei seiner Übersetzung aus dem Jahr 2000 für den altmodischen Titel Die Brautleute ent‐ schieden. 142 Wer das Autorenregister einer Übersetzungsbibliographie wie derjenigen von Rössig (1997) durchblättert, wird feststellen, dass einige Autoren besonders häufig ins Deutsche übersetzt wurden: der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen gut 70 Mal, die großen rus‐ sischen Erzähler des 19. Jahrhunderts z.T. noch weit häufiger. So wurde Tolstoj etwa 180 Mal, Dostojewskij 170 Mal, Turgenjew über 100 Mal, Gogol etwa 75 Mal und der Schöpfer des Oblomow, Ivan A. Gontscharow, immerhin 15 Mal ins Deutsche übertragen. Die Zahlen dürfen nur als allgemeine Richtwerte verstanden werden; Rössig konnte die vorhandenen Übersetzungen nicht vollständig erfassen. Bei dieser Häufung von Übersetzungen handelt 270 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="271"?> 143 Des Lord Monboddo Werk von dem Ursprunge und Fortgange der Sprache. Übersetzt von C. A. Schmid. Mit einer Vorrede des Herrn Generalsuperintendenten Herder. Riga: Hartknoch, 1784-1785, unpagin. (online verfügbar über die Online-Ausgabe der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle). es sich nicht um ein deutsches, sondern um ein europäisches Phänomen; in Frankreich wurden sogar Stimmen laut, die sich gegen die starke Präsenz Ibsens auf der französischen Bühne und auf dem Buchmarkt wandten. Im Hinblick auf die Übersetzungen aus dem Rus‐ sischen wollen wir hier nur vorsichtig auf eine Erscheinung hinweisen, die noch nicht gründlich genug untersucht wurde: Er heißt Nikolai Petrowitsch und besitzt fünfzehn Werst von der Schänke ein Gut mit zweihundert Bauern; dort hat er (wie er sich auszudrücken beliebt, seit er sich der neuen Ordnung gemäß mit ihnen arrangierte) eine ‚Pachtung‘ errichtet, die zweitausend Deßjatinen umfaßt. Dieses Zitat stammt von der ersten Seite einer vom Autor autorisierten deutschen Über‐ tragung des Romans Väter und Söhne (Отцы и дети) von Iwan Turgenjew, deren Übersetzer nicht genannt wird. Es könnte ein baltendeutscher Übersetzer gewesen sein, oder er könnte zumindest von dem durch Baltendeutsche gepflegten Übersetzungsstil beeinflusst gewesen sein. Die Deutschen in den baltischen Ländern bildeten eine Minderheit und zugleich die Oberschicht. Sie waren im 19. Jahrhundert russische Untertanen geworden, in der Regel vollkommen zweisprachig aufgewachsen und mit beiden Kulturen vertraut. Möglicher‐ weise pflegten sie eine verfremdende Übersetzungsstrategie (Gebrauch von Diminutiven wie Väterchen, Onkelchen, Name und Vatersname statt Anredeformen wie Herr oder Fräu‐ lein, russische Längen- und Flächenmaße usw. usf.), die ihnen selbst nicht als solche auffiel. Es könnte sich im Anschluss daran die Tradition herausgebildet haben, bei Übersetzungen aus dem Russischen mehr ‚Exotisches‘ stehen zu lassen als bei Übersetzungen aus westeu‐ ropäischen Sprachen. Vor einigen knappen Bemerkungen zum deutschen Literaturimport im 20. Jahrhundert wollen wir kurz auf zwei einflussreiche Texte einer Disziplin eingehen, die in Deutschland eine große Rolle gespielt hat: die Sprachwissenschaft. 1773 veröffentlichte James Burnet (1714-1799), ein führender Repräsentant der „schottischen Aufklärung“, der sich seit 1776 Lord Monboddo nennen durfte, ein umfangreiches Werk mit dem Titel Of the Origin and Progress of Language. Zusammen mit den Schriften seines Freundes James Harris (1709-1780) übte er mit seinem gegen den Sensualismus von Locke und Berkeley gerichteten ‚neuplatonischen Idealismus‘ einen starken Einfluss auf die deutsche Sprachphilosophie der Frühromantik aus. Herder veranlasste eine Übersetzung der ersten drei Bände, die Christian August Schmid 1784 in Riga unter dem Titel Des Lord Monboddo Werk von dem Ursprung und Fortgange der Sprache veröffentlichte. Am Schluss seiner Vorrede schreibt Herder: Wenn die Philosophie des Autors und noch mehr seine Art zu philosophieren Platz gewinnt, wenn das Studium der Menschengeschichte, die Griechische Philosophie und Sprache den Jünglingen lieb wird, wenn man zu diesen lebendigen Quellen des menschlichen Geistes wiederkehret, wenn endlich die Mängel dieses Buchs durch weitere Untersuchungen in unserm sprachgelehrten Va‐ terlande ersetzt und verbessert werden: so wäre der Zweck dieser Übersetzung sattsam errei‐ chet. 143 271 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="272"?> Wir geben hier eine Probe aus einem der ersten Kapitel, in dem es um die philosophischen Grundlagen der Sprachtheorie geht: The philosophy I have learned is of a very different kind: it teaches me, That mind is the most antient of things; and that, as it alone has activity, and the principle of motion in itself, it is the efficient cause of every thing: that therefore there are ideas of a much higher order than those which we abstract from matter, being the models or archtypes of all material forms: that of such ideas the intellectual world is composed; of which the material is no more than a copy … (Burnet 1974 [1773], I, 81; cf. Coseriu 2015, I, 258 ff.) Die Philosophie, welche ich gelernt habe, ist von einer sehr verschiedenen Art: sie lehret mich, daß die Seele das älteste der Dinge, und, da sie allein Thätigkeit, und den Grund der Bewegung in sich selbst hat, die wirkende Ursache von jedem Dinge sey; daß es also Ideen von einer weit höheren Ordnung gebe, als diejenigen, welche wir von der Materie abstrahieren, Ideen, welche die Muster oder Urbilder aller materiellen Formen sind, daß aus solchen Ideen die intellectuelle Welt bestehe, wovon die materielle nichts als eine Kopie ist … (Burnet/ Schmid 1784, I, Kap, 7, 79) Die Übersetzung hatte einen Einfluss auf die geistig Interessierten der damaligen Zeit, den man heutigen sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Werken wünschen würde. Jean Paul, der sich in seiner wenig gelesenen Vorschule der Ästhetik ausführlich zu sprachtheoretischen Fragen äußert, erwähnt Monboddo als einen Wohlbekannten. Weit besser bekannt als Monboddos vielbändiges Werk ist eine vergleichsweise schmale Einführung in die Sprachwissenschaft, die 1915 unter dem Titel Cours de linguistique gé‐ nérale (im Folgenden CLG) erschien. Als Verfasser zeichnete der Genfer Sprachwissen‐ schaftler lothringischer Abstammung Ferdinand de Saussure. In Wirklichkeit handelte es sich um ein Amalgam dreier Vorlesungen, die zwei jüngere Kollegen Saussures aus Vorle‐ sungsnachschriften zusammenstellten, obwohl sie selbst an keiner der Vorlesungen teilge‐ nommen hatten. Aus Berichten unmittelbarer Schüler und aus später aufgefundenen Auf‐ zeichnungen wissen wir, dass Saussure den Inhalt des Buchs schwerlich gebilligt hätte. Sein Kollege und Nachfolger Antoine Meillet sprach gleich nach dem Erscheinen von einem „Buch, das der Meister nicht geschrieben hat, das er zweifellos nie geschrieben hätte“ (cf. Albrecht 2012, 241). Dennoch hat der Text Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Er gilt als eine Art von ‚Geburtsurkunde‘ des Strukturalismus, obwohl Saussure diesen Ausdruck überhaupt nicht kannte und sich kaum hätte vorstellen können, mit welchen z.T. wunder‐ lichen Ideen sog. ‚Strukturalisten‘ sich später auf ihn berufen sollten. Die deutsche Über‐ setzung von Hermann Lommel erschien 1931 und konnte sich, obwohl sie schon früh kri‐ tisiert worden war, lange auf dem Buchmarkt halten. Die zweite Auflage folgte 1967, die dritte, mit einem ausführlichen Nachwort versehen, 2001. Erst 2013 brachte der Romanist Peter Wunderli eine neue Übersetzung in einer zweisprachigen Ausgabe heraus. Aus dem folgenden kurzen Beispiel geht hervor, dass er durch Verwendung heute allgemein üblicher Fachtermini den deutschen CLG vom deutschtümelnden Ton der ersten Übersetzung befreit hat. Es geht um die Frage, ob der Satz eine Einheit der Sprache (langue) oder eine Erschei‐ nung der Sprachverwendung (parole) sei: 272 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="273"?> [On pourrait faire ici une objection.] La phrase est le type par excellence du syntagme. Mais elle appartient à la parole, non à la langue […] ; ne s’ensuit-il pas que le syntagme relève de la parole ? (CLG 172) [Man könnte hier einen Einwand machen.] Der Satz ist der Haupttypus der Anreihung, aber er gehört dem Sprechen an und nicht der Sprache […]; folgt daraus nicht, daß das Syntagma dem Sprechen angehört? (Saussure/ Lommel 2001, 148 f.) [Hier wäre ein Einwand möglich.] Der Satz ist der Prototyp des Syntagmas. Aber er gehört der Rede an, nicht dem Sprachsystem; bedeutet dies nicht, daß [auch] das Syntagma der Rede zuzu‐ rechnen ist? (Wunderli 2013, 265) Wunderli konnte mit seiner Übersetzung den Text, zu dessen wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung er sich ausdrücklich bekennt (Wunderli 2013, 35), nicht ‚korrigieren‘, aber er konnte den ‚wahren Saussure‘ in Form eines beeindruckenden kritischen Apparats auf‐ scheinen lassen. Das ist ihm sehr gut gelungen. Im 20. Jahrhundert wird der Strom der Übersetzungen im deutschen Sprachgebiet un‐ überschaubar, wenn man von den zwölf Jahren des sog. Dritten Reichs absieht, in denen die Übersetzungstätigkeit aus politisch-historischen Gründen stark eingeschränkt war. Das Problem der Übersetzung wird nun zunehmend nicht nur in gelehrten Abhandlungen, son‐ dern auch in gehobenen Tages- oder Wochenzeitungen vor einem breiteren Publikum dis‐ kutiert. Die Leser einer Übersetzung werden dafür sensibilisiert, dass sie eben eine Über‐ setzung und keinen Originaltext lesen. Wir können hier nur exemplarisch auf zwei Werke der Weltliteratur eingehen, deren deutsche Übersetzungen mindestens ebenso eifrig dis‐ kutiert wurden wie die Originale selbst: James Joyces Ulysses (1922) und Marcel Prousts A la recherche du temps perdu (1912-1927). Ulysses erschien 1927 in der vom Verfasser autorisierten Übersetzung von Georg Goyert, die später noch öfter nachgedruckt wurde. Erst 1975 wurde sie durch die anfangs hochge‐ lobte Übersetzung von Hans Wollschläger ersetzt. Das Unbehagen, das die erste Überset‐ zung auslöste, lag nicht nur am experimentellen Charakter des Romans, sondern an ele‐ mentaren übersetzungstechnischen Schwächen, z. B. im Umgang mit Anredeformen: The milk, sir …; Come in ma’am …; How much, sir? …; Would you like a cup, ma’am? …; No thank you, sir … Die Milch, Herr …; Kommen Sie rein Frau …; Wieviel, Herr? …; Wollen Sie eine Tasse, Frau …; Nein, danke, Herr … Die Beispiele stammen aus den ersten Seiten des Romans. Sie dürften auch gutwillige Leser entmutigt haben. Wer sich an einen so schwierigen Text wagt, möchte sich nicht noch zusätzlich die Leselust durch so stümperhafte Formulierungen verderben lassen. Die deut‐ schen Anredeformen stellen nun einmal ein rein technisches Problem dar, auf das man als Übersetzer vorbereitet sein muss (cf. Albrecht 1971, auch für die Beispiele). Wollschläger hatte es leicht; denn zu seiner Zeit war auch in Deutschland üblich geworden, was im Englischen längst gang und gäbe war, nämlich die originalen Anredeformen einfach stehen zu lassen. Aber ungeschoren ist auch er nicht davongekommen. Das apodiktische Urteil 273 9.5 Deutschland, Österreich, Schweiz <?page no="274"?> seines Kollegen Harry Rowohlt über ihn und seine Übersetzung lautete: „Konnte kaum Englisch“. Die verschiedenen Bände von Prousts A la recherche du temps perdu sind zwischen 1912 und 1927, also z.T. postum erschienen. Die deutsche Übersetzungsgeschichte beginnt daher mit Teilübersetzungen: Franz Hessel, Rudolf Schottländer und Walter Benjamin haben ein‐ zelne Bände übersetzt, und diese Übersetzungen wurden in den Feuilletons der gehobenen Zeitungen öfters mit der ersten Gesamtübersetzung von Eva Rechel-Mertens (1953-1957) verglichen. Auf einer Tagung in Frankreich wagte es der Übersetzer Jean-Pierre Lefevbre (cf. supra), am Nimbus Walter Benjamins zu kratzen: Er sei aufgrund mangelnder Sprach‐ kenntnisse dieser Aufgabe einfach nicht gewachsen gewesen. Man kann alles kritisieren, und so ist auch die Übersetzung von Eva Rechel-Mertens (die später von Luzius Keller überarbeitet wurde) kritisiert worden. Mangelnde Sprachkenntnisse wird man ihr nicht vorwerfen können: Comme le sens critique qu’il [Cottard] croyait exercer sur tout lui faisait complètement défaut, le raffinement de politesse qui consiste à affirmer à quelqu’un qu’on oblige, sans souhaiter d’en être cru, que c’est à lui qu’on a obligation, était peine perdue avec lui, il prenait tout au pied de la lettre. (Proust 1954 [1919], 23 f.) Da ihm der kritische Sinn, den er allem gegenüber zu entfalten glaubte, völlig abging, war an ihm jene verfeinerte Höflichkeit, die darin besteht, daß man jemandem gegenüber, dem man gefällig ist, so tut, als habe man vielmehr ihm zu danken (wobei man natürlich nicht möchte, dass er es wirklich glaubt) ganz und gar verloren, insofern er alles wörtlich nahm. (Proust/ Rechel-Mertens 1, 1961, 267) Die gefürchteten verschachtelten Perioden Prousts stellten kein Problem für sie dar; sie zeigt auch selten die Tendenz, dergleichen Konstruktionen in kürzere Sätze aufzuspalten. In den vergangenen Jahrzehnten ist der Übersetzungsbetrieb ungeheuer angeschwollen, nicht unbedingt zugunsten der Übersetzer, die nur selten hoffen dürfen, sich bei dem über‐ großen Angebot einen Namen zu machen. Man braucht nur den Index translationum auf‐ zurufen, um festzustellen, dass kaum etwas unübersetzt bleibt. Der 2015 erschienene Pseu‐ dokriminalroman La septième fonction du langage von Laurent Binet erschien bereits ein Jahr später in deutscher Übersetzung (cf. supra 9.3). Das ist einigermaßen erstaunlich; denn man fragt sich, wie viele deutsche Leser überhaupt genügend Kenntnis von der französi‐ schen Intelligentsija haben, die dort kräftig verspottet wird, um diesen Roman wirklich genießen zu können. 9.6 Russland Ein nennenswerter ‚Export‘ russischer Literatur nach Mittel- und Westeuropa setzte erst im 19. Jahrhundert ein, dann allerdings hinterließen die großen russischen Erzähler dort einen bleibenden Eindruck (cf. infra 11). Neben Dostojewskijs Roman Schuld und Sühne, auf dessen Behandlung in deutschen Übersetzungen in Kapitel 9.8 zurückzukommen sein wird, wollen wir die Hauptwerke Puschkins, Gogols, Turgenjews und Tolstojs in den Blick nehmen, wobei wir aufgrund der räumlichen Beschränkung lediglich einige besonders in‐ 274 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="275"?> 144 Lew Kopelew, „Puschkin erreicht Deutschland“. Die Zeit Nr. 17/ 1981 (17. April 1981). 145 Zur Oneginstrophe cf. Greber 2007, 107-113. 146 Arthur Luther (Leipzig), „Der Moskowiter in Childe Harolds Mantel“. Das literarische Echo 22/ 1920, 143. Der Beitragstitel versinnbildlicht das in Deutschland vorherrschende Bild Puschkins als „byro‐ nisierender Romantiker“ (ibid., 141). teressante Aspekte von deren übersetzerischer Rezeption herausgreifen können. Beginnen wollen wir mit Alexander S. Puschkin (1799-1837), dessen Verdienst um die literarische und geistige Kultur Russlands gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Nicht zuletzt beeinflusste er mit seinen kritischen Übersetzungsanalysen und theoretischen Überle‐ gungen auch die Übersetzungskultur seines Landes (cf. Komissarov 2009, 521). Der Schrift‐ steller Lew Kopelew schreibt in der ZEIT vom 17. April 1981: In seinen Gedichten und Verserzählungen […] ist jenes lebendige russische Wort (im höheren, geistigen Sinne) geschaffen worden, von dem bis auf den heutigen Tag immer neue Generationen nicht nur literarisch Tätiger, sondern überhaupt aller russischen Menschen zehren. Die grenzen‐ lose Vielgestaltigkeit, die Macht der Musikalität und die Leuchtkraft des Puschkinschen Wortes nehmen wir von frühester Kindheit an in uns auf, ohne uns noch bewußt zu werden, daß wir schon verzaubert sind, ohne zu begreifen, wodurch eigentlich es uns so bestrickt und bezwingt. 144 Die Übersetzungen dieses ersten russischen Klassikers, die in den 1820er Jahren einsetzten, markieren den Beginn der Rezeption russischer Literatur in Mittel- und Westeuropa. Zu‐ gleich wurden die europäischen Leser durch namhafte Anthologien auf Deutsch, Englisch und Französisch an die russische Literatur herangeführt (cf. infra 9.8 und 11). Mit seinem wohl bedeutendsten Werk, dem Versroman Eugen Onegin (Jewgeni Onegin, 1833), erneuerte Puschkin die große Erzählform und wurde zum Begründer des russischen Romans (cf. Greber 2007, 93), was ihm vor allem durch den Kunstgriff der sog. Oneginstrophe gelang, einer auf der Sonett-Tradition basierenden Prosaisierung des Verses, die vom Spiel mit Norm und Abweichung lebt. 145 Tschaikowsky wurde durch das Werk zu seiner gleichna‐ migen Oper inspiriert, die um 1878 entstand und die es in Europa berühmt machen sollte. Die Übersetzer sahen sich allerdings vor eine beinahe unlösbare Aufgabe gestellt. So wurde der Versroman in Deutschland zwar bereits sieben Jahre nach seinem Erscheinen übersetzt, Puschkin erreichte dort aber nie die Bekanntheit der großen russischen Erzähler der Jahr‐ hundertmitte. Wir wollen einen Kritiker zu Wort kommen lassen, der 1920 in der Litera‐ turzeitschrift Das literarische Echo zu dem Schluss kommt: Puschkin schrieb seinen Roman in Versen von einem Wohlklang und einer Grazie, denen bisher kein deutscher Übersetzer gerecht wurde, weder Robert Lippert (1840), der die eigenartige pusch‐ kinsche Strophe durch eine andere, weit weniger glückliche ersetzt und aus der Tatjana eine „Jo‐ hanna“ macht, noch Friedrich Bodenstedt (1854), noch gar der ganz indiskutable Adolf Seubert (in Reclams Universalbibliothek). Die Form, die dem Original erst seinen vollen unwiderstehlichen Reiz gibt, erschwert - um nicht zu sagen: verleidet - dem Leser der Übersetzung den Genuß. 146 In Frankreich verleiteten die im Vergleich zur französischen Diskurstradition recht knappen Verse Puschkins häufig zu Ausschmückungen und ‚Verschönerungen‘ im Stil der belles in‐ fidèles (cf. Albrecht 2012, 800). Die Erstübersetzung von H. Dupont erschien 1847 in Paris, in einer der ersten Sammlungen Puschkinscher Werke außerhalb Russlands. Größere Be‐ 275 9.6 Russland <?page no="276"?> 147 Onéguine. Roman en vers par Alexandre Pouchkine. Traduit par Ivan Tourguénef et Louis Viardot. Revue nationale et étrangère tome 12 (janvier 1863), 543-567 (I-II); tome 13 (10 mai 1863), 91-113 (III-IV); (10 juin 1863), 293-313 (V-VI); (10 juillet 1863), 469-505 (VII-VIII et dernier). 148 Evgenii Onegin. In: Racconti poetici, tradotti da Luigi Delâtre. Firenze, 1856. Poesie tradotte in italiano da M. Wahltuch. Odessa 1855. 149 France (2006b, 314) schreibt die Fassung Krystin Lach-Szyrma zu. kanntheit erlangte aber die 1863 publizierte, relativ exakte französische Prosafassung aus der Feder von Iwan Turgenjew, dem der als Übersetzer des Don Quijote bekannte Louis Viardot zur Seite gestanden hatte. 147 Erst 1881 legte Colonel Henry Spalding die erste eng‐ lische Übersetzung vor und bemühte sich dabei, ebenso wie seine Nachfolger in den 1930er Jahren, um die Beibehaltung der Versform. Aufsehen erregte dort die 1964 verlegte Fassung von Vladimir Nabokov, der bewusst auf Verse verzichtete und seiner Übersetzung einen umfangreichen Kommentar beigab. Bleibt noch der Blick auf Italien, wo Puschkins Versroman erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vollständiger Übersetzung vorlag; der 1906 erschienenen metrischen Übertragung von Giuseppe Cassone waren Mitte des 19. Jahr‐ hunderts zwei Teilübersetzungen in Prosaform vorausgegangen. 148 Die Puschkin-Übersetzung bereitete den Boden für die Rezeption der großen russischen Erzähler in Westeuropa, die dort mehr Anklang fanden als die zeitgenössischen deutschen Romanciers (cf. Albrecht 1998, 334). Beginnen wir mit Gogol (1809-1852), einem Autor ukrainischer Abstammung, zu dessen erklärten Bewunderern der zehn Jahre ältere Puschkin zählte. Wir können auf seine komödiantischen, die absurde Literatur vorweg‐ nehmenden Werke, wie die Erzählung Die Nase oder die Tragikomödie Der Revisor, hier nicht weiter eingehen und wenden uns stattdessen seinem größten literarischen Erfolg Die toten Seelen (1842) zu. Das unvollendet gebliebene Werk war ursprünglich in drei Teilen geplant, als eine Art russische Divina commedia nach dem Vorbild Dantes, in der der Held Pawel Iwanowitsch Tschitschikow einen Läuterungsprozess vom kleinen Gauner zum Ide‐ albild des Menschen durchlaufen sollte; entsprechend war der 1842 publizierte erste Teil als Inferno konzipiert (cf. Thiergen 2011, 38). Bei den „toten Seelen“ handelt es sich um verstorbene russische Leibeigene, die noch in den staatlichen Revisionslisten geführt wurden, auf die also weiterhin Steuern entrichtet werden mussten (cf. ibid., 38). Indem Gogols Protagonist diese „toten Seelen“ für einen Spottpreis aufkauft und mit ihnen handelt, erwirbt er sich den Ruf eines wohlhabenden Mannes. Die erste deutsche Übersetzung von Philip Löbenstein wurde bereits 1846 in Reclams Universalbibliothek verlegt; über diese deutsche Fassung machte vermutlich auch Thomas Mann erste Bekanntschaft mit dem Roman (cf. Heftrich 2004, 172). Vera Bischitzky wählt für ihre Neuübersetzung von 2009 übrigens den artikellosen deutschen Titel Tote Seelen und rückt damit Thiergen (2011, 38) zufolge den konkreten Kontext der Geschichte in den Hintergrund, um deutlich auf die Dantesche Hölle anzuspielen. Eine angemessene englische Übertragung ließ vier Jahr‐ zehnte länger auf sich warten; nach einer verzerrten Adaption, die 1854 unter dem Titel Home Life in Russia, by a Russian nobleman anonym in London erschienen war, 149 legte Isabel Hapgood 1886 in New York ihre Übersetzung Tchitchikoff ’s Journeys: or, Dead souls vor. Ein Jahr später brachte der Londoner Verleger Vizitelly eine Fassung mit dem schlichten Titel Dead souls heraus (cf. Lavrin 2016, 254). In Frankreich, wo Gogol Teile seines Romans geschrieben hatte, erschienen 1858 und 1859 zwei stark einbürgernde Übersetzungen, die 276 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="277"?> 150 Cf. Nouvelles de Prosper Mérimée, de l’Académie française. … Sixième édition. Paris: Michel Lévy frères 1872, 329. Ebenso erläutert Mérimée dort die russische Konvention der Anrede mit Vor- und Vatersnamen. 151 Nicolas Gogol, Les Âmes mortes. Roman traduit du russe par Ernest Charrière. 2 vol. Paris: Librairie Hachette et Cie, 1859. 152 Die todten Seelen. Ein satirisch-komisches Zeitgemälde von Nikolaus Gogol. Aus dem Russischen übertragen von Philipp Löbenstein. Erster Theil. Leipzig: Philipp Reclam jun. 9 1858. 153 Cf. Hans Günther in der Online-Version von Kindlers Literatur-Lexikon. erste von Eugène Moreau, eine Art ‚hässliche Ungetreue‘, die zweite eine belle infidèle im besten Sinne aus der Feder von Ernest Charrière, die sich lange auf dem französischen Buchmarkt halten sollte (cf. Albrecht 2012, 802). Charrières Gliederung seiner Übersetzung in chants mag als Reverenz an Dante gedeutet werden. Bereits 1852 übersetzte Prosper Mérimée einige Auszüge des Romans und verfuhr dabei - ganz entgegen der französischen Gewohnheit - mit den Anredeformen sehr verfremdend. Die im Russischen üblichen res‐ pektvollen Koseformen matouchka und batiouchka gibt er mit petite mère und petit père wieder und versieht sie mit einer erläuternden Fußnote. 150 Charrière wagt sich nur bis zu den weniger unkonventionellen Formen père und mère vor, 151 während Löbenstein mit Mütterchen und Väterchen ganz der „Fremdheitserwartung“ entspricht, die die zeitgenös‐ sischen deutschen Leser russischen Romanen entgegenbrachten (cf. infra 9.8). 152 Kommen wir nun zu einem weiteren bedeutenden Lieferanten russischer ‚Exportware‘, Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818-1883), den wir bereits als Puschkin-Übersetzer ken‐ nengelernt haben. Seinen Gesellschaftsroman Väter und Söhne (1862) bezeichnete Thomas Mann in seiner Russischen Anthologie als „eines der vollkommensten Werke der Weltlite‐ ratur“ (cf. Dornacher 1973, 59). Turgenjew führt darin in Gestalt des jungen Jewgeni Was‐ siljewitsch Bazarov den Begriff des Nihilismus in die Literatur ein, den er selbst als gleich‐ bedeutend mit „Revolution“ definiert und der später von Dostojewskij wiederaufgenommen werden sollte (cf. Albrecht 2012, 802). In Russland löste er damit zwischen den traditions‐ verhafteten Liberalen und den ‚Nihilisten‘ der jungen Generation den sog. „Nihilismus‐ streit“ aus. 153 Eine besondere Vermittlerrolle kam der französischen Übersetzung des Ro‐ mans zu, zumal Turgenjew selbst in Frankreich lebte und den Übersetzern seiner Werke gelegentlich beratend zur Seite stand (cf. France 2006b, 315). So hatte er seinem Freund und Schriftstellerkollegen Prosper Mérimée eine seinem Urteil nach besonders gelungene fran‐ zösische Übersetzung mit dem Titel Pères et enfants ans Herz gelegt, die daraufhin 1863 bei Charpentier in Paris verlegt wurde, versehen mit einem Brief an den Herausgeber aus der Feder von Mérimée; über den Übersetzer selbst ist nichts bekannt (cf. Albrecht 2012, 802). Diese quasi vom Autor autorisierte Fassung hatte besonderes Gewicht und erlebte bis 1898 immer wieder Neuauflagen; erst 1947 erschien eine französische Neuübersetzung von R. Rodov, die den eingeführten Titel übernahm. Autorität und Publikationszeitpunkt dieser Fassung verliehen ihr auch in anderen europäischen Ländern gewissermaßen den Rang eines Stellvertreters des Originals, der Kritikern und Übersetzern den Zugang erleichterte, zumal russische Literatur dort gern mit dem französischen Realismus oder Naturalismus in Verbindung gebracht wurde (cf. France 2006b, 314). Indirekt hat diese Fassung etwa dazu beigetragen, dass Turgenjews Hauptwerk zeitgenössischen deutschen Schriftstellern wie Theodor Storm oder Paul Heyse ebenso zugänglich wurde wie Thomas Mann oder Her‐ 277 9.6 Russland <?page no="278"?> 154 Väter und Kinder. Roman von I. S. Turgenew. Nordische Revue, 3/ 2 (1865), 135-166; 3/ 3 (1865), 309-331. 155 I. Turgenieff, Väter und Kinder. Aus dem Russischen übersetzt von O. F. Der Beobachter. Ein Volksblatt aus Schwaben, 1865, Nr. 228-306, 30. IX.-31. XII. 156 Väter und Söhne von I. Turgénjew. Autorisierte Ausgabe. Mit einem Vorwort des Verfassers. Mitau: Behre’s Verlag 1869 [Neuauflagen 1873; 1902]. 157 Fathers and children: a novel by Ivan Turgenjew; translated from the Russian by Constance Garnett. London: Heinemann 1899 (= The novels of Ivan Turgenjew; 4). 158 Il nichilismo / Turghenieff; prima versione dal russo di F. Montefredini. Milano: Tip. editrice lombarda di F. Menozzi e C. 1879. mann Hesse ein oder zwei Generationen später und dass Turgenjew sich als erster russi‐ scher Literat einen festen Platz im deutschen Geistesleben erwarb (cf. Dornacher 1973,59; 63). In Deutschland fand der Roman zwischen 1864 und 1869 Verbreitung, wohl vor allem aus Interesse an der geschilderten russischen Gesellschaftsproblematik (cf. ibid., 65). Im Jahr 1865 erschien dort zunächst eine partielle Übersetzung der ersten zehn Romankapitel in der Nordischen Revue, 154 gefolgt von der ersten vollständigen deutschen Übertragung in der Stuttgarter Zeitung Der Beobachter. 155 Letztere orientierte sich, wie schon der Titel Väter und Kinder vermuten lässt, an der erwähnten französischen Mittlerfassung von 1863. Doch erst mit der ersten Buchausgabe von 1869 unter dem Titel Väter und Söhne gelang die end‐ gültige Einbürgerung des Romans (cf. Dornacher 1973, 59-60). 156 Die Ausgabe war als erster Band einer Sammlung der Ausgewählten Werke Turgenjews konzipiert und fußt auf der Übertragung von 1865, die dem Verleger Erich Behre vom Dichter selbst empfohlen worden war. Auch bei dieser Übersetzung, der ein Vorwort von Turgenjew beigegeben ist und die wesentlich zur Verbreitung des Werks im deutschen Sprachraum beitrug, hat also indirekt die französische Fassung Pate gestanden (cf. ibid., 62-63). Dies mag der Grund für einige Übersetzungsfehler sein, die Turgenjew in seinen Briefen monierte (cf. Lehmann 2015, 33). In England, wo Turgenjew bis etwa 1885 der bekannteste russische Autor war und von einigen als Europas größter Romancier gefeiert wurde, griffen Autoren und Kritiker eben‐ falls gern auf die französische Mittlerfassung zurück. Die erste englische Übersetzung legte Constance Garnett erst 1899 vor, als vierten Band einer fünfzehnbändigen Sammlung. 157 Dank ihres flüssigen und eleganten, behutsam vereinfachenden Stils, der den englischen Lesegewohnheiten entgegenkam, blieb sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägend (cf. France 2006b, 314-316). Zum Schluss sei noch ein Hinweis auf die italienische Erstüberset‐ zung des Romans von F. Montefredini erlaubt, die 1879 unter dem Titel Il nichilismo in Mailand erschien und offenbar die gesellschaftliche Problematik in den Mittelpunkt rückt. Die Verfasserin eines in der Online-Zeitschrift tradurre publizierten Artikels äußert den Verdacht, es könne sich dabei um eine Übersetzung aus zweiter Hand auf der Grundlage der erwähnten französischen Fassung handeln (cf. Baselica 2011, 5). 158 Einen nachhaltigen Einfluss auf die Geisteslandschaft Mittel- und Westeuropas hat si‐ cherlich Fjodor Michailowitsch Dostojewskij (1821-1881) ausgeübt, dem durch seine ein‐ dringliche Darstellung menschlicher Abgründe in Europa stets auch eine Aura des Fremd‐ artigen und Unheimlichen anhaftete. In Deutschland gehörte er spätestens seit seiner ‚Kanonisierung‘ durch die erste deutsche Gesamtausgabe, die 1906 bis 1919 in 22 Bänden bei Piper erschien, zu den am häufigsten übersetzten und am dauerhaftesten rezipierten russischen Literaten (cf. Kamp 2007, 130 f.). Wir wollen uns mit Schuld und Sühne (1866) dem ersten und zugleich wohl spektakulärsten seiner fünf großen Romane widmen - der 278 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="279"?> 159 F. Dostojewskij, Rodion Raskolnikoff. (Schuld und Sühne). Roman in zwei Teilen […] Übertragen von Michael Feofanoff. In: Arthur Moeller van den Bruck (Hrsg.): F. M. Dostojewski, Sämtliche Werke. Band. 1. München [u. a.]: Piper 1908. Jekutsch (1995, 141) identifiziert Feofanoff als Pseudonym von Elisabeth (Less) Kaerrick, die später als E.K. Rahsin firmierte. 160 Cf. Ulrich Busch, „Übertretung und Zurechtweisung“. Die Zeit 02/ 1994 (7. Januar 1994). 161 W. Henckel, Vorwort zu: F. Dostojewski, Raskolnikow, 1882, VI, zit. nach Jekutsch 1995, 143. „fünf Elefanten“, wie sie der preisgekrönte Dokumentarfilm über die Dostojewskij-Über‐ setzerin Swetlana Geier poetisch nennt. Der Roman gehört mit über zwanzig Überset‐ zungen zu den am häufigsten ins Deutsche übertragenen russischen Prosatexten. Wenn‐ gleich sich der deutsche Titel Schuld und Sühne spätestens seit der Gesamtausgabe in der Übersetzung von Michael Feofanoff (1908) eingebürgert hatte, 159 gab es immer wieder ab‐ weichende Titel, von Raskolnikow (Wilhelm Henckel, 1882) bis Verbrechen und Heimsuchung (Woldemar Jensen, 1910). Als Swetlana Geier 1994 mit ihrer viel beachteten Neuübersetzung Verbrechen und Strafe beim Zürcher Ammann Verlag eine Titelform aufgriff, die bereits 1921 Alexander Eliasberg gewagt hatte, begründete sie dies mit dem Hinweis, Raskolnikow werde nicht einmal im Epilog des Romans von Schuldgefühlen geplagt (cf. infra 9.8). 160 Im Französischen und Englischen wie auch im Italienischen war diese Titelform hingegen schon immer unumstritten (Crime et châtiment / Crime and Punishment / Delitto e castigo). Die deutsche Erstübersetzung legte der Kritiker und Publizist Wilhelm Henckel 1882 vor, der sie auf eigene Kosten verlegte und mehrere Rezensionsexemplare an bekannte Kritiker und Literaten versandte (cf. Jekutsch 1995, 140). Dass seine Bemühungen erfolgreich waren und die Aufmerksamkeit des Lesepublikums weckten, lag wohl vor allem am Interesse der deutschen Leserschaft für die gesellschaftliche Lage Russlands, deren Entwicklung Dosto‐ jewskij prophetisch vorausahnte. Der künstlerische Wert des Romans spielte lediglich eine untergeordnete Rolle, wie Henckel im Vorwort zu seiner Übersetzung ausdrücklich betont: Der Hauptwerth des vorliegenden Romans liegt nicht in dem künstlerischen Aufbau der Erzählung, viel weniger noch in den poetischen Schönheiten der Sprache - nein, die Wahrheit ist’s, die ihm ihren Werth verleiht. 161 Dabei war es gerade die besondere Erzähltechnik Dostojewskijs, die den tiefen Einblick in das Seelenleben der Figuren erst ermöglichte, so dass Thomas Mann, Stefan Zweig, Her‐ mann Hesse und viele andere Romanciers des 20. Jahrhunderts sich diese zum Vorbild nahmen (cf. Jekutsch 1995, 143). Die frühen deutschen Übersetzungen geben die typische Uneindeutigkeit der Erzählperspektive, das Oszillieren zwischen Erzähler und Person, das der ‚erlebten Rede‘ ähnelt (cf. supra 9.3), wenn überhaupt nur unzureichend wieder. Viel‐ mehr rücken sie den Text durch Tilgung umgangssprachlicher Elemente in die Nähe des auktorialen Erzählens (cf. ibid., 175 ff.). Zu nennen sind hier etwa die im Reclam Verlag mehrfach neu aufgelegte Fassung von Hans Moser (1887) oder Hermann Röhls heute noch im Insel Verlag erhältliche Version von 1912. Auf eine weitere Besonderheit der übersetze‐ rischen Rezeption russischer Romanciers in Deutschland, die ausgesprochen ‚verfrem‐ dende‘ Übersetzungshaltung, wird noch zurückzukommen sein (cf. infra 9.8). In Frankreich hatten Puschkin und Gogol den Boden für die Rezeption Dostojewskijs und Tolstojs bereitet, die dort bald ihren Siegeszug antraten (cf. Albrecht 2012, 802). Schuld und Sühne wurde als erster Roman Dostojewskijs ins Französische übertragen, er erschien 279 9.6 Russland <?page no="280"?> 162 Th. Dostoïevsky [sic], Le Crime et le châtiment, traduit du russe par Victor Derély. 2 vol. Paris: E. Plon, Nourrit et Cie, 1884 (mehrere Neuauflagen). 163 Œuvres complètes de Dostoïevski (1931-1934). T. 1 et 2. Crime et Châtiment. Traduit par D. Ergaz, suivi du Journal de Raskolnikov, traduit par V. Pozner. Paris: Gallimard 1931. 164 Thomas Mann, Goethe und Tolstoj. Fragmente zum Problem der Humanität (als E-Book beim S. Fi‐ scher-Verlag in der Reihe Fischer Klassik Plus erschienen, S. 815). 1884 in der Übersetzung von Victor Derély, die lange die einzige bleiben sollte. 162 Erst in den 1930er Jahren folgten Neuübersetzungen, darunter die im Rahmen einer 15-bändigen Gesamtausgabe von Dostojewskijs Werken publizierte Fassung von D. Ergaz (1931). 163 Im Übrigen wurde am 15. September 1888 im Pariser Odéon-Theater eine mittelmäßige Büh‐ nenadaption des Werkes aus der Feder von Hugues Le Roux und Paul Ginisty aufgeführt, die in der zeitgenössischen Kritik ein positives Echo hervorrief. Im angelsächsischen Raum stand Dostojewskij lange im Schatten von Turgenjew und Tolstoj. Durch die Rezeption von Eugène-Melchior de Vogüés Monographie Le roman russe (1886) wurde er dort als literarischer und kultureller Außenseiter rezipiert, als barbarischer Skythe, der die geistigen Gewohnheiten der westlichen Welt umstürzen werde. Dies galt besonders für Amerika, wo Vogüés Werk schon kurz nach seinem Erscheinen in Überset‐ zung vorlag (cf. Bloshteyn 2007, 29-32). In England wurde zwar bereits 1886 in der Reihe „Vizetelly’s Russian novels“ eine Fassung von Frederick J. Whishaw vorgelegt, die ohne Nennung des Übersetzers und mit dem Untertitel „a Russian realistic novel“ erschien (cf. France 2006b, 317); die Hochphase der Rezeption läutete dort aber die 1914 unter dem Titel Crime and punishment bei Heinemann in London verlegte Übersetzung von Constance Garnett ein. In beiden Fällen handelt es sich um glättende, vereinfachende Versionen, die Dostojewskijs ‚Überspanntheit‘ mildern sollten. Obgleich Garnett mehr Genauigkeit und Stilbewusstsein an den Tag legte als der sehr schnell und oberflächlich arbeitende Whishaw, blieb dessen Fassung knapp dreißig Jahre konkurrenzlos und wurde bis weit ins 20. Jahr‐ hundert hinein in der preiswerten Reihe Everyman’s library in London wiederaufgelegt (cf. ibid.). Als zweiter russischer Autor von Weltgeltung ist Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoj (1828-1910) zu nennen, der von Turgenjew als „großer Schriftsteller des Russenlandes“ verehrt und von Maxim Gorki gar als gottgleich bewundert wurde. Dies referiert Thomas Mann in seiner Abhandlung „Goethe und Tolstoj. Fragmente zum Problem der Humanität“, in der er Tolstoj auf eine Stufe mit Goethe stellt: Nie hat das jemand von Dostojewski gedacht und gesagt, noch hätte es je jemand von ihm denken und sagen können. […] Aber Goethe und Tolstoj, diese beiden, hat man als göttlich empfunden. Die Redensart vom ‚Olympier‘ ist Gemeinplatz. 164 Wir wollen hier Tolstojs zwei Hauptwerke, den monumentalen historischen Roman Krieg und Frieden (1868/ 69) und den Gesellschaftsroman Anna Karenina (1875-77), der bisweilen als russisches Pendant zu Madame Bovary und Effi Briest gehandelt wird, als ‚Exportartikel‘ behandeln. Die Rezeption setzte zuerst in Frankreich ein, wo Tolstoj quantitativ gesehen auf größere Resonanz stieß als Dostojewskij (cf. Albrecht 2012, 802). Als Erstes wurde dort Krieg und Frieden übersetzt; die „vom Autor genehmigte“ Fassung der russischen Fürstin Paskewitsch, einer geborenen Vorontsov-Dachkov, erschien zunächst 1879 in Sankt 280 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="281"?> 165 21 janvier 1880. Correspondance, Supplément ( Juillet 1877 - Mai 1880), Paris 1954, 298f. 166 1873 wurde in der Prager Zeitschrift Politik die erste, wenig beachtete Übersetzung von Krieg und Frieden publiziert (cf. Sandfuchs 1995, 21). 167 Tolstoj, Sämtliche Werke. Von dem Verfasser genehmigte Ausgabe von Raphael Löwenfeld. 33 Bde. Leipzig: Eugen Diederichs, 1901-1907. I. Serie, Bd. 1-12; II. Serie, Bd. 1-2; III. Serie, Bd. 1-19 I. Sozial-ethische Schriften. - II. Theologische Schriften. - III. Dichterische Schriften. Petersburg und erlebte dann bis zum Jahr 1900 bei Hachette in Paris neun Wiederauflagen (cf. ibid., 803). Turgenjew, der selbst von Paskewitschs französischer Fassung nicht beson‐ ders angetan war, hatte Flaubert ein Exemplar dieser Fassung zum Geschenk gemacht. In einem Brief an Tolstoj vom 21. Januar 1880 zitiert er aus dem Dankschreiben Flauberts: Merci de m’avoir fait lire le roman de Tolstoï. C’est de premier ordre! Quel peintre! et quel psy‐ chologue! Les deux premiers [volumes] sont sublimes […] Il me semble qu’il a parfois des choses à la Shakespeare. Je poussais des cris d’admiration pendant cette lecture … 165 Dieses Lob aus dem Munde des Begründers des modernen Romans, über den Sainte-Beuve gesagt hat, er führe die Feder wie andere das Skalpell, zeigt immerhin, dass die französische Übersetzung bei all ihren Schwächen Tolstojs Genius doch hervorleuchten lässt (cf. Conrad 2016, 104). Im Jahr 1885 erschien auch Tolstojs zweites Hauptwerk unter dem Titel Anna Karénine in anonymer Übertragung bei Hachette in Paris; die Übersetzung wurde bis 1900 neunmal wiederaufgelegt (cf. Albrecht 2012, 803). Turgenjew trug sicherlich auch zur ersten Einführung Tolstojs in Deutschland bei (cf. Purin 1923, 49). Obgleich dort bereits seit 1870 Auszüge von Krieg und Frieden in Zeit‐ schriften abgedruckt wurden, 166 setzte die eigentliche Rezeption erst 1885 ein, als die ersten Übersetzungen von Anna Karenina und Krieg und Frieden in Buchform herauskamen. Im Unterschied zu den russischen Lesern wurden die deutschen zugleich auch mit Tolstojs gesellschaftskritischen Schriften bekannt gemacht; so erschien 1885 auch die Abhandlung Worin besteht mein Glaube? (cf. Hanke 1993, 36). Die erste Fassung von Krieg und Frieden wurde 1885 bis 1886 bei A. Deubner in Berlin als „mit Genehmigung des Autors herausge‐ gebene deutsche Übersetzung von Dr. Ernst Strenge“ verlegt. Der Hinweis auf Tolstojs Autorisierung dieser Übersetzung ist allerdings cum grano salis zu nehmen, denn dieser hatte sich schon drei Jahre zuvor innerlich von seinen Werken distanziert und die Rechte an ihnen abgetreten, so dass zweifelhaft ist, ob er die Übersetzung tatsächlich überprüft hat (cf. Conrad 2016, 103). Sicherlich hat auch der Erfolg der französischen Version zur Ver‐ breitung dieser Übersetzung beigetragen. Denn Ernst Strenge, ehemals Erzieher im Hause Tolstoj, kürzte den Text um nahezu die Hälfte und erlaubte sich weitreichende Eingriffe in das Original. Er strich Landschaftsbeschreibungen und Reflexionen, die die Handlung nicht vorantrieben, und glättete umgangssprachliche oder moralisch anstößige Passagen, so dass stellenweise eher von Nacherzählen als von Übersetzen die Rede sein kann (cf. Conrad 2016, 103 f.). Auch die 1885 bei Wilhelmi in Berlin publizierte Anna Karenina von Wilhelm Paul Graff wies einen weitaus geringeren Umfang auf als das Original (cf. ibid., 103). 1901 bis 1907 erschien eine Gesamtausgabe der Werke Tolstojs in 33 Bänden, die ebenfalls mit einer Genehmigung des Autors warb und deren sachkundige Werkeinführungen vom hohen philologischen Anspruch des Übersetzers und Herausgebers Raphael Löwenfeld zeugen (cf. Hanke 1993, 43). 167 Im Rahmen dieser Ausgabe wurde 1901 eine vollständige Fassung von 281 9.6 Russland <?page no="282"?> 168 Krieg und Frieden. Vollständige Übersetzung von Raphael Löwenfeld, Zweite Auflage. Vier Bände. Leipzig: Eugen Diederichs, 1901. 169 Anna Karenina. Roman in acht Büchern. Drei Bände. Jena: Eugen Diederichs 1905. 170 Thomas Mann: „Anna Karenina“. In: ders.: Leiden und Größe der Meister. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 1935. 171 Anna Karénina. In eight parts. Translated by Nathan Haskell Dole. New York: Thomas Y. Crowell & Co., 1886. 172 War and Peace, Volumes 1-2., From the Russian by Nathan Haskell Dole. Authorized Translation in four volumes. New York: Thomas Y. Crowell & Company, 1889. Krieg und Frieden in der Übersetzung von Löwenfeld vorgelegt, 168 1905 gefolgt von Anna Karenina in drei Bänden. 169 Letztgenanntem Werk widmete Thomas Mann übrigens 1935 einen gleichnamigen Aufsatz. 170 In England setzte die Rezeption von Tolstojs großen Romanen in den 1880er Jahren ein, ebenfalls etwa gleichzeitig mit seinen gesellschaftskritischen Schriften. Einige seiner Werke wurden gleich in mehreren englischen Übersetzungen vorgelegt, die nicht selten indirekt über das Französische übertragen worden waren (cf. France 2006b, 316). Um die Wende zum 20. Jahrhundert wurden Tolstojs Schriften im Original aufgrund der Bedrohung durch die russische Zensur über einen eigens zu diesem Zweck gegründeten Verlag in England ver‐ breitet (cf. Hanke 1993, 35). Die ersten, wenig zufriedenstellenden Übersetzungen seiner Romane entstanden aber überwiegend in Amerika. Dort legte Nathan Haskell Dole 1886 seine Version der Anna Karenina  171 vor und bekannte in seiner Vorbemerkung freimütig, sich auf eine anonyme französische Übertragung gestützt zu haben - vermutlich die bei Hachette verlegte Fassung von 1885: After the present translation was begun, an anonymous French paraphrase appeared. In order to hasten the preparation of this volume for the press, that version has been used in a few passages, but always with the Russian original at hand. (Tolstoj 1886, iii, zit. nach Reinhold 2009, 553) Drei Jahre später erschien unter dem Titel War and Peace Doles Übersetzung von Krieg und Frieden. 172 Es ist nicht auszuschließen, dass auch hier die französische Mittlerfassung im Spiel war, zumal über Doles Russischkenntnisse wenig bekannt ist (cf. France 2006b, 316). Bereits 1901 folgte eine Neuübersetzung aus der Feder von Constance Garnett, die wir schon als Übersetzerin von Turgenjew und Dostojewskij kennengelernt haben. Sie wählt bewusst die Titelform Anna Karenin und erläutert ihre Wahl in der Translator’s Note: In the present translation, which I believe to be the only complete and literal version of the Russian original yet published in English, I have not adopted the form ‘Anna Karenina’ but ‘Anna Karenin’, since such a preservation of the feminine form of the surname is unparalleled in English. (Tolstoj 1912, 1, zit. nach Reinhold 2009, 557) Die relativ getreue Wiedergabe von Tolstojs psychologischer Erzähltechnik war wohl mit ausschlaggebend dafür, dass Vertreter der literarischen Moderne wie Virginia Woolf, D. H. Lawrence oder T. S. Eliot Tolstojs Werk in dieser Übersetzung rezipierten (cf. Reinhold 2009, 557). Die nächste rezeptionsgeschichtlich bedeutsame Version legten Louise und Aylmer Maude 1918 vor; sie wurde 1939 in stark überarbeiteter Form neu verlegt und erlebte seitdem mehrere Neuauflagen (cf. ibid., 558). 282 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="283"?> 173 La Boucle de cheveux enlevée, poème héroï-comique de M. Pope, traduit de l’anglois par Mr.** [Traduit par Mme de Caylus ]. Paris: F. Le Breton père, 1728. 174 Pope ersetzt den in Martials zweitem Epigramm adressierten Polytimus durch Belinda, die Heldin seines Epos: „Nolueram, Belinda, tuos violare capillos, / Sed juvat hoc precibus me tribuisse tuis“ (Mart. 12,84, 1 f.) (Ich hatte dein Haar nicht schänden wollen, / Doch ich bin froh darüber, deinen Wunsch erfüllt zu haben. Unsere Paraphrase). 175 Essai sur l’homme. Par M. Pope. Traduit de l’Anglois en François [par Etienne de Silhouette]. Edition revue par le Traducteur. A Londres, chez Pierre Dunoyer … A Amsterdam, chez Jean Frederic Bernard, 1736. 176 Dort heißt es: „D’ailleurs on a crû devoir sacrifier la délicatesse à l’exactitude & à l’énergie“ (Silhouette 1736, xxxii). Über den Übersetzungsimport können hier nur einige wenige Fakten mitgeteilt werden, wobei wir uns angesichts ihrer besonderen Relevanz auf ‚Importartikel‘ aus Frankreich und dem englischsprachigen Raum beschränken wollen. Wenden wir uns zunächst den engli‐ schen Autoren zu, deren Einfluss auf die hier vorzustellenden französischen Schriftsteller übrigens nicht zu unterschätzen ist. Alexander Pope, um dessen Bekanntheit in Frankreich sich Voltaire verdient gemacht hat, ist im Russland des 18. Jahrhunderts vor allem durch zwei Werke vertreten: das 1712 anonym erschienene satirische Epos The Rape of the Lock und das aufklärerische Lehrgedicht An Essay on Man (1733-1734). Beide erlebten auch noch im 19. Jahrhundert mehrere Übersetzungen, Neuauflagen und Adaptionen. Das zuerst ge‐ nannte Werk, eine von dem jungen Goethe bewunderte Parodie des hohen klassizistischen Stils, wurde 1748 von einem Unbekannten in Prosaform übersetzt; verlegt wurde es aller‐ dings erst 1761 in der Moskauer Universitätsdruckerei - eine Verzögerung, die wohl auch Popes Ruf als religiöser Freidenker geschuldet sein mag (cf. Danilevskij 2011, 2057-2058; Rothe 1978, 109). Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese anonyme Fassung als Über‐ tragung ‚aus zweiter Hand‘, die sich auf die in Russland verbreitete französische Prosa‐ übersetzung von Madame de Caylus stützt. 173 Ein Indiz dafür liefert das dem Werk als Motto vorangestellte Epigramm Martials, 174 das bei Pope in leicht abgewandelter Form auf den titelgebenden Raub der Locke anspielt und das in beiden Fassungen fehlt (cf. Levitt 2009, 179 ff.). Frankreich war aber auch in anderer Hinsicht ein Wegbereiter Popes in Russland. So stand The Rape of the Lock in der Tradition von Boileaus spöttischen Verssatiren klassi‐ zistischer Prägung (cf. ibid., 178). Bleibt noch nachzutragen, dass russische Dichter in der Folge mit Vorliebe erotische Gedichte verfassten, die auf Belinda, die Heldin des Epos, ge‐ münzt waren (cf. ibid., 173). Popes An Essay on Man war hinsichtlich Ton und Inhalt als Äquivalent zu Lukrezens De rerum natura konzipiert und kann als Versuch gelesen werden, dem epikureischen Weltbild das neue, Newtonsche entgegenzustellen (cf. Fabian 1980, 121). Entsprechend unterlag das Werk in Russland einer strengen Zensur. Als 1757 in der Druckerei der Moskauer Univer‐ sität Nikolaj Popowskijs 1754 verfasste russische Übertragung erschien, 175 war sie durch die Zensur in Gestalt des Erzbischofs Ambrosius um all jene Stellen bereinigt, die die Vielfalt der Welten, das Kopernikanische System oder den ‚Naturalismus‘ behandelten. Popowskij hatte sie nach der französischen Prosaübersetzung Essai sur l’homme von Etienne de Sil‐ houette (1736) angefertigt. Wirft man einen Blick in Silhouettes Übersetzervorwort, so fällt auf, dass sein Schwerpunkt auf der clarté, der Klarheit der Darstellung lag und weniger auf den stilistischen Eigenheiten, die doch u. a. die Bewunderung Voltaires erregt hatten. 176 Eine 283 9.6 Russland <?page no="284"?> 177 Samuel Richardson, Pamela; ou La Vertu Recompensée. Traduit de l’Anglois. En deux Tomes. A Londres, 1741. Diese Übersetzung war noch bis in die 1970er Jahre das einzige Zeugnis des Originals von 1740, das Richardson in der Folge mehrfach überarbeitet hatte (Duncan Eaves/ Kimpel 1967, 78-80). zweite Auflage von Popowskijs Übersetzung erschien 1787 in der Druckerei der Tipogra‐ ficeskaja kompanija (cf. Lehmann-Carli 2011, 141 f.). Auch die russische Rezeption von Daniel Defoes populärem Roman Robinson Crusoe (1719), der die Subgattung der ‚Robinsonade‘ begründete und sich auch als Kinderbucha‐ daption großer Beliebtheit erfreute, vollzog sich in mehrerlei Hinsicht über die französische Vermittlung. Rousseau schätzte das Werk als die geglückteste Abhandlung über die „na‐ türliche Erziehung“ und empfahl es seinem fiktiven Zögling Émile (Émile ou de l’éduca‐ tion, 1762) als erste Lektüre. Den von Rousseau inspirierten russischen Adligen des 18. Jahrhunderts, die von einem ländlichen Idyll träumten, bot sich in Defoes Roman eine ganze Philosophie des ländlichen Lebens (cf. Newlin 2001, 30). Der Roman gelangte zunächst im Original nach Russland, vor allem aber wurde er von den Gebildeten in französischer Über‐ setzung gelesen. Die 1720-1721 von Juste Van Effen und Henri Cordonnier (Chevalier Thé‐ miseul de Saint-Hyacinthe) vorgelegte Fassung La vie et les avantures surprenantes de Ro‐ binson Crusoe erlebte das gesamte 19. Jahrhundert hindurch und noch bis 1928 zahlreiche Neuauflagen (cf. Lautel 1996, 139). Erst in den 1760er Jahren war der Roman in russischer Übersetzung verfügbar: 1762 bis 1764 gab die Petersburger Akademie der Wissenschaften Jakob I. Trusovs Fassung Robinzon Kruso in einer Stückzahl von 1 200 Kopien heraus, die bis 1814 viermal neu aufgelegt wurde (cf. Danilevskij 2011, 2060; Newlin 2001, 30). Samuel Richardsons Pamela, or Virtue Rewarded (1740) gilt weithin als erster englischer Roman. Er löste eine regelrechte ‚Mode‘ in Europa aus und faszinierte französische Literaten wie Prévost, Voltaire und Diderot ebenso wie Fielding und Goldoni (cf. Turner 1994, 74). Der Autor selbst gab sich in seiner „Preface by the Editor“ als Herausgeber der Briefe seiner Protagonistin aus, „as an Editor may be allowed to judge with more Impartiality than is often to be found in an Author” (Richardson 1762, v). Wie in anderen europäischen Ländern wurde der Roman auch in Russland über die 1741 erschienene französische Übersetzung verbreitet, die dem Abbé Prévost zugeschrieben wird (cf. Graeber / Roche 1988, 17). 177 Dieser hatte die sieben Bände des Originals auf vier zusammengestrichen und im Namen der Schicklichkeit, der bienséance, kräftig in den Text eingegriffen (cf. Venuti 2000, 470). So verlieh er Pamela kurzerhand eine adlige Herkunft, um die Verbindung zwischen der jungen Heldin und ihrem Peiniger, mit der Richardson seinen Roman enden lässt, nicht als ‚Mes‐ alliance‘ erscheinen zu lassen (Hufton 1996, 449). I. Šiškin verfasste noch im Laufe desselben Jahrzehnts auf der Grundlage dieser Version eine russische Übersetzung, die zunächst in handschriftlicher Fassung gelesen wurde und 1787 im Druck erschien (cf. Danilevskij 2011, 2058). Auch eine 1796 anonym abgedruckte russische Übersetzung stützte sich auf diese französische Vorgängerfassung (cf. Zaborov 2011, 2067 f.). Russische Schriftsteller wurden durch Richardsons Roman - ähnlich wie ihre englischen Kollegen - zu Nachahmungen angeregt, wobei sie den Inhalt an die heimischen Gegebenheiten anpassten; zu nennen ist hier z. B. Petr L’vovs Rossijskaja Pamela ili istorija Marii, dobrotelnoj poselanki (Die russische Pamela, oder Geschichte der tugendhaften Dörflerin Maria, 1789). 284 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="285"?> Der französische Einfluss machte sich in Russland in erster Linie durch die Rezeption aufklärerischer französischer Autoren - im Original und in Übersetzungen - bemerkbar. So wurden die Werke des England-Kenners Voltaire (1694-1778), von dessen berühmtem ‚philosophischen Roman‘ Candide bereits die Rede war (cf. supra 9.3), von gebildeten Russen vorwiegend im Original rezipiert. Eine entscheidende Mittlerrolle spielten dabei Periodika in französischer Sprache, wie die Petersburger Zeitschrift Le Caméléon littéraire (1755). Die frühesten russischen Voltaire-Übersetzungen verdanken wir dem Satiriker Antioch Kan‐ temir (1708-1744) und dem Dichter und Gelehrten Michail Lomonossow (1711-1765), auch wenn diese erst mehrere Jahre später im Druck erschienen. Von besonderem Interesse ist dabei Voltaires ‚philosophische Erzählung‘ Zadig ou La destinée, die anhand der Ironisierung von Formelementen des orientalischen Märchens aufklärerische Ideen transportiert. Übri‐ gens lassen die darin angestellten Überlegungen zu Zufall, Notwendigkeit und Vorsehung Voltaires Auseinandersetzung mit Alexander Popes oben vorgestelltem Essay on Man er‐ kennen. Die Erzählung wurde zunächst 1747 anonym unter dem Titel Memnon veröffent‐ licht, bevor sie ein Jahr später unter dem heute bekannten Namen herauskam. Die erste russische Übersetzung des Zadig erschien 1759 in der Zeitschrift der Akademie, deren Titel sich etwa mit „Allmonatliche Schriften“ wiedergeben lässt; 1756 war dort bereits die Über‐ tragung von Memnon abgedruckt worden (cf. Zaborov 2004, 85 f.). Eine Neuübersetzung des Zadig wurde 1765 vorgelegt. Erst in den 1760er Jahren wurde in Russland die ganze Band‐ breite von Voltaires Werken in Übersetzung zugänglich - unter der Regentschaft Katharinas II., der „Philosophin auf dem Zarenthron“, die mit Voltaire und anderen französischen Auf‐ klärern in regem Briefwechsel stand (cf. Danilevskij 2011, 2060). 1768 rief die Monarchin, die übrigens deutscher Herkunft war, eine Gesellschaft ins Leben, die sich um die Überset‐ zung ausländischer Bücher bemühte und u. a. ganz entscheidend zur Verbreitung Voltaires in Russland beitrug. Als erste Publikation brachte die Gesellschaft 1769 die russische Ver‐ sion des Candide aus der Feder von Semen S. Bašilov heraus (cf. ibid.). Nach Voltaire ist Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) der französische Schriftsteller, dessen Werke im Russland des 18. Jahrhunderts am häufigsten gedruckt wurden. Der aus‐ gefeilte Stil beider Autoren regte die russischen Übersetzer zu neuartigen Übertragungs‐ verfahren an (cf. Danilevskij 2011, 2061). Im Zeitraum zwischen 1768 und 1800 erschienen zwanzig verschiedene Übersetzungen Rousseaus, ein Großteil von ihnen aus der Feder des Soldaten, Dichters und vielsprachigen Gelehrten Pawel Sergejewitsch Potemkin, der gute Beziehungen zu Katharina II. unterhielt (cf. Lubenow 2002, 52). Als großer Antipode Vol‐ taires, der nicht das zeitgemäße Ideal des honnête homme verkörperte, sondern an eine antike Tradition anknüpfte, stand Rousseau bei Hofe nicht eben hoch im Kurs, zumal Ka‐ tharina II. sich offenbar gern auf Voltaire berief. Katharinas Ablehnung galt in erster Linie Rousseaus staatsphilosophischer Schrift Du contrat social ou Principes du droit politique (1762), dem Hauptwerk seiner politischen Philosophie, sowie dem im selben Jahr publi‐ zierten Bildungsroman Émile ou De l’éducation (cf. Lehmann-Carli 1995, 110). Der zuletzt genannte Roman wurde aufgrund seiner kirchenkritischen Passagen verboten und aus dem akademischen Buchhandel verbannt. Doch Katharina missbilligte vor allem Rousseaus Beurteilung Russlands im Contrat social, da sie ihren Bemühungen zur Neuordnung der russischen Gesellschaft zuwiderlief (die Ideen des Contrat social konnten nur in einer kon‐ stitutionellen Monarchie umgesetzt werden; cf. Neuhäuser 1974, 90 sowie Donnert 285 9.6 Russland <?page no="286"?> 178 Mémoires et avantures d’un homme de qualité, Qui s’est retiré du monde [7 Bde, 1728-1732]. Tome septième: Histoire du Chevalier Des Grieux & de Manon Lescaut. Amsterdam 1731. Der Roman wurde ohne Nennung des Autornamens publiziert. Eine revidierte, illustrierte und um die Episode eines italienischen Prinzen erweiterte Neuauflage erschien 1753. 1996, 35). Auch die Übersetzungen dieser beiden Werke unterlagen der Zensur; zwar wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Übersetzung des Contrat social angefertigt, sie wurde allerdings nie verlegt (cf. Razoumovskaia 2001, 687). Trotz der ablehnenden Haltung des Hofes gegenüber Rousseaus Ideen wurden diese in liberalen russischen Adelskreisen mit Begeisterung aufgenommen. Die russische Leserschaft rezipierte die ‚geächteten‘ Werke direkt ‚en français dans le texte‘, so dass Rousseaus Denken bereits in den frühen sechziger Jahren des Jahrhunderts in Russland allgemeine Verbreitung fand (cf. ibid; Neuhäuser 1974, 90). Sein Contrat social regte den Diskurs über eine adäquate Regierungsform in Russland an. So setzte sich der Schriftsteller und Historiker Nikolaj Michailowitsch Karamsin (1766-1826) im Rahmen seines Konzepts der russischen Aufklärung, aber auch seiner Re‐ formbestrebungen hinsichtlich der Literatursprache und des Genresystems mit Rousseau auseinander und berief sich in seinen Briefen eines russischen Reisenden (1797-1801) mehr‐ fach auf ihn (cf. Lehmann-Carli 1995, 110 f.; 117). Die erste vollständige russische Überset‐ zung des Contrat social, bis heute einer der Klassiker der politischen Philosophie der Mo‐ derne, ließ allerdings noch bis 1906 auf sich warten (cf. Beck 1952, 248). Als direkter Vorläufer Rousseaus und dessen gegenaufklärerischer Philosophie gilt An‐ toine-François Prévost d’Exiles (1697-1763), besser bekannt als Abbé Prévost. Sein in Frank‐ reich von der Zensur bedrohter Roman Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut (1731), 178 der unter der Kurzform Manon Lescaut weithin Berühmtheit erlangte, weist Züge des englischen empfindsamen Romans auf. Dies nimmt nicht wunder, wenn man bedenkt, dass Prévost Ende der 1720er Jahre England bereist hatte und zwischen 1742 und 1758 mit seinen Übertragungen dreier Romane Richardsons den englischen Autor in Frankreich ein‐ führte (cf. Neuhäuser 1974, 32). In Russland wo die frühromantische Literatur bereits den Boden für die Verbreitung der empfindsamen Ästhetik bereitet hatte, begann man Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Übersetzung der Werke Prévosts (cf. ibid., 33). In den jungen Jahren der späteren Zarin Katharina II. wurde deren inoffizieller Sekretär Ivan P. Elagin (1725-1793) mit der Übertragung der mehrbändigen Mémoires et aventures d’un homme de qualité qui s’est retiré du monde (1728-1732) betraut. Elagin hat sich übrigens als Gründer‐ vater der russischen Freimaurerei einen Namen gemacht (cf. Faggionato 1997). Die ersten vier Bände erschienen zwischen 1756 und 1758 unter dem Titel Priključenija markisa G… (Die Abenteuer des Marquis G...). 1764 und 1765 folgten Band fünf und sechs aus der Feder von Elagins Sekretär, dem Literaten Vladimir I. Lukin (1737-1794). Band sieben und acht, in denen als nachträglicher Zusatz der berühmteste Teil der Mémoires, Manon Lescaut (Istorija de Grie I Lesko) enthalten war, wurden erst 1790 und 1793 in Elagins Übersetzung vorgelegt (cf. Danilevskij 2011, 2058 f.; Neuhäuser 1974, 33). Prévosts Werke fanden großen Anklang bei der russischen Leserschaft, so dass der bekannte Publizist Nikolaj Iwanowitsch Nowikow einen Großteil von ihnen in den 1780er Jahren neu auflegte (cf. Neuhäuser 1974, 33). Die russischen Klassizisten taten sich allerdings schwer mit Prévosts Romanen. So monierte der Gelehrte Michail W. Lomonossow, ein Förderer der russischen Literatur‐ sprache (cf. infra 9.8), einen Mangel an Moral und fehlende moralische Vorbilder (cf. Neu‐ 286 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="287"?> 179 „Avis de l’auteur“. In: Mémoires et avantures d’un homme de qualité, Qui s’est retiré du monde. Tome septième: Histoire du Chevalier Des Grieux & de Manon Lescaut. Amsterdam 1731, pp. 1-8; hier pp. 2-3. 180 Cf. Albin E. Beau in der Online-Version von Kindlers Literatur-Lexikon. häuser 1974, 33). Wir wollen mit einem Auszug aus dem Vorwort des Abbé Prévost zu seinem Roman Manon Lescaut schließen, der zeigen mag, woran sich die Kritik Lomonos‐ sows entzündete: Il [scil. le Public] verra dans la conduite de M. Des Grieux un exemple terrible de la force des passions. J’ai à peindre un jeune homme aveugle, qui refuse d’être heureux pour se précipiter volontairement dans les dernieres infortunes […]; enfin un caractere ambigu, un mélange de vertus & de vices, un contraste perpetuel de bons sentimens & d’actions mauvaises. Tel est le fond du tableau que je vais présenter aux yeux de mes lecteurs. 179 Prévost zeichnet hier mit seinem Protagonisten Des Grieux das Bild eines jungen Mannes, der angesichts seiner Ambivalenz und passiven Leidensfähigkeit alles andere als ein ge‐ festigtes moralisches Vorbild nach dem Geschmack der russischen Klassizisten gewesen sein dürfte. 9.7 Weitere europäische Länder Wir wollen unseren kleinen Streifzug durch die Werke der Weltliteratur und deren über‐ setzerische Rezeption nicht beenden, ohne wenigstens einen Blick auf den Beitrag der klei‐ neren Sprachen und Länder zu werfen, die bisher zu kurz gekommen sind. Unsere Leser‐ innen und Leser mögen uns nachsehen, dass die Darstellung notgedrungen sehr knapp ausfallen muss und einige Sprachräume sogar gänzlich unerwähnt bleiben. Es sollen im Folgenden ausgewählte Werke aus Belgien, aus einigen skandinavischen Ländern und aus Polen vorgestellt werden. Beginnen wollen wir aber mit Portugal, als dessen wohl bedeu‐ tendster Literaturexport die 1572 erstmals erschienenen Lusiaden (Os Lusíadas) von Luís [Vaz de] Camões (ca. 1524-1580) gelten können. Das Heldenepos nach dem Vorbild der Aeneis, dessen Name von Lusus, dem Stammvater der Portugiesen, abgeleitet ist, stellt vor allem durch seine kunstvolle metrische Struktur, die von Ariost übernommene ottava rima, eine Herausforderung für die Übersetzer dar (cf. Albrecht 2012, 763). Besungen wird darin die Indienfahrt der Portugiesen, die Camões im Stil der antiken Epen mit mytholo‐ gischen Elementen vermengt, indem er einen Streit unter den Göttern darüber entbrennen lässt. Aus den Lusiaden sind eine ganze Reihe von ‚geflügelten Worten‘ in den Wortschatz des Portugiesischen eingegangen. 180 Im frühen 19. Jahrhundert bringt Leopardi in seinem Zibaldone di pensieri seine Skepsis darüber zum Ausdruck, ob das Nationalepos auch für Leser anderer Nationen von Interesse sein könnte, ja er ist sich nicht einmal sicher, ob die zeitgenössischen Portugiesen noch lebendigen und bleibenden Anteil daran nehmen (cf. Almeida Chaves 2001, 52): […] per li lettori dell’altre nazioni non so quanto nella Lusiade possa essere l’interesse, né se ne’ medesimi portoghesi, mancata la recente memoria di quelle imprese, e raffreddato, come per tutta 287 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="288"?> 181 Giacomo Leopardi, Pensieri di varia filosofia e di bella letteratura; a cura di Giosuè Carducci. Volume I. Firenze: Successori Le Monnier, 1898, 3146. 182 Los Lusiadas / de Luys de Camoes; traduzidos en octaua rima castellana por Benito Caldera, residente en Corte. Alcala de Henares: por Jua[n] Gracian, 1580. 183 La Lusiada de el famoso poeta Luys de Camões / traduzida en verso castellano de portugues, por el Maestro Luys Gomez de Tapia vezino de Seuilla. Salamanca: en casa de Ioan Perier, impressor de libros, 1580. 184 “Os Lusíadas”, de Luis de Camões, en la versión de Enrique Garcés. Madrid, 1591. 185 Lusiadas / de Luis de Camoens …; comentadas por Manuel de Faria i Sousa, Cavallero de la Orden de Christo, i de la Casa Real. 2 Vol. En Madrid: por Iuan Sanchez: a costa de Pedro Coello, mercader de libros, 1639. l’Europa, l’amor nazionale e gli altri sentimenti magnanimi, la Lusiade produca per ancora un interesse abbastanza vivo, continuo e durabile. 181 Bei näherem Hinsehen erweisen sich Leopardis Zweifel, zumindest was die Übersetzungen betrifft, als unberechtigt. Bereits acht Jahre nach seinem Erscheinen wurde das Epos ins Spanische übersetzt, und dies gleich zweimal: Die eine Fassung, „en octaua rima castellana“, stammt von Benito Caldera, 182 die andere, ebenfalls eine Versübersetzung, von Luys Gomez de Tapia. 183 Etwa ein Jahrzehnt später folgte eine weitere Versübersetzung von Enrique Garcés, die in Amerika auf einige Resonanz stieß, da der Übersetzer sich in Peru niederge‐ lassen hatte (cf. Nuñez 1972, 17). 184 Eine umfassende Prosaversion in zwei Bänden legte Manuel de Faria e Sousa 1639 vor (cf. Dasilva 2014, 194). 185 Camões galt in Spanien beinahe schon als einheimischer Klassiker - von dem spanischen Literaturkritiker Ramiro de Ma‐ eztu (1875-1936) ist das Bonmot überliefert: „donde acaban los Lusíadas comienza el Qui‐ jote“ (wo die Lusiaden enden, beginnt der Don Quijote). Zahlreiche Übersetzungen, Adap‐ tionen und Kommentare zeugen von der dortigen Beliebtheit des Werks (cf. Gallut-Frizeau 1973, 148). Auch in Frankreich muss die Rezeption der Lusiaden bereits relativ früh eingesetzt haben; zumindest wird von einem verschollenen handschriftlichen Kommentar der Gesänge 1-5 berichtet, der von dem Chronisten Diogo do Couto (1542-1616) stammen soll (cf. Coimbra Martins 1975, 893). Die erste französische Übersetzung erschien aber erst 1735, nachdem Voltaire in seinem Essai sur la poésie épique (1728) die französische Leserschaft bereits mit drei Episoden des Epos bekannt gemacht hatte. Dieser gab übrigens später zu, er habe das Werk selbst nie ganz gelesen, sondern lediglich 1727, während eines London-Aufenthalts, die englische Übersetzung von Richard Fanshawe durchgeblättert. Der Verfasser der fran‐ zösischen Fassung, Duperron de Castera, bestritt jedenfalls energisch, dass ihn Voltaire zu diesem Unternehmen angeregt habe (cf. Gallut-Frizeau 1973, 148 f.). Ein Kritiker des frühen 19. Jahrhunderts beschreibt Duperrons Fassung als langatmige Paraphrase, die nur einen sehr unvollkommenen Eindruck des Originals vermitteln könne (cf. Allard 1825, 420). Von ihm erfahren wir auch, dass sich der Voltaire nahe stehende Jean-François de La Harpe [Laharpe], der kein Portugiesisch konnte, für seine 1776 erschienene Übersetzung diese Version zum Vorbild genommen und dabei einige Kürzungen und Umstellungen vorge‐ nommen habe (cf. ibid.). Kurioserweise diente La Harpes Fassung dann wiederum als Vor‐ lage für eine Übersetzung ‚aus dritter Hand‘, nämlich die erste russische Prosaübertragung des Epos von A. I. Dmitriev (1788) (cf. Zaborov 2011, 2068). 288 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="289"?> 186 The Lusiad; or, Portugals Historicall Poem: written in the Portingall Language / by Luis de Camoens and now newly put into English by Richard Fanshaw Esq. London: Humphrey Moseley, 1655. 187 The Lusiad; or, The Discovery of India: An Epic Poem; translated from The Original Portuguese of Luis de Camoëns / by William Julius Mickle. Oxford: Jackson and Lister, 1776. 188 Os Lusíadas (The Lusiads) / Englished by Richard Francis Burton (edited by his wife, Isabel Burton), 2 vols. London: Bernard Quaritch, 1880. 189 Europa. Eine Zeitschrift. Herausgegeben von Friedrich Schlegel. Ersten Bandes erstes Stück. Frankfurt a.M.: bei Friedrich Wilmans, 1803, 65. 190 Die Lusiade, Heldengedicht von Camoens. Aus dem Portugiesischen übersetzt von D.C.E. Heise. Hamburg und Altona: bey Vollmer. O. J. In zwey Bänden, jedem von zwey Abtheilungen. In England lag erst 1655 die erste Übersetzung der Lusiaden vor, über die, wie bereits erwähnt, Voltaire erste Bekanntschaft mit dem Werk machte. 186 Ihr Verfasser, der Diplomat, Dichter und Übersetzer Sir Richard Fanshaw[e], war ein ausgewiesener Portugal-Liebhaber und daher spürbar darum bemüht, die glanzvolle Seite des „historischen Epos Portugals“ aufscheinen zu lassen. Seine Fassung wurde seitdem mehrfach neu aufgelegt. Michael Freeman beschreibt sie in der Encyclopedia of Literary Translation into English als kraftvolle Übersetzung, der es größtenteils gelinge, den ‚Ton‘ des Originals zu treffen, wenn sie auch nicht jedes Detail getreu wiedergebe, und billigt ihr den Rang eines „work of literature in its own right“ (Freeman 2000, 223) zu (cf. ibid., 222 f.). Freeman informiert auch über zwei weitere Übersetzungen, deren Urheber beide wenig um Treue zu ihrer Vorlage bemüht waren. Die eine ist die 1776 vorgelegte, mehr als ein Dutzend Mal wiederaufgelegte Version des schottischen Dichters William Julius Mickle, 187 die ihren Erfolg wohl in erster Linie dem Genius des Übersetzers verdankt; genau genommen handelt es sich weniger um eine Über‐ setzung denn um eine schöpferische Adaption (cf. ibid., 223). Bezeichnend ist das ihr vo‐ rangestellte Motto aus Horazens De arte poetica, „nec verbum verbo, curabis reddere, fidus interpres“, das Mickle in bekannter Manier als Aufforderung zum ‚freien‘ Übersetzen miss‐ versteht (cf. supra 2.2). Die andere stammt aus der Feder des viktorianischen Forschungs‐ reisenden und Dichters Sir Richard Francis Burton und wurde 1880 publiziert. 188 Burton ging es wohl hauptsächlich darum, einen lebendigen und bewusst archaisierenden engli‐ schen Text zu schaffen, wobei sein eigenwilliger Stil bisweilen eine erheiternde Wirkung auf den englischen Leser haben mochte (cf. ibid.). Bleibt noch der Blick auf Deutschland, wo man erst spät und über die Vermittlung fran‐ zösischer Gelehrter auf die Lusiaden aufmerksam wurde (cf. Bertrand 1925, 246). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die deutschsprachige Rezeption des Werkes von Friedrich Lu‐ dewig Bouterwecks einflussreicher Literaturgeschichte, vor allem aber von den Gebrüdern Schlegel befördert. Friedrich Schlegel stellte es auf eine Stufe mit Homer, Vergil, Tasso und Dante und rühmte es 1803 als „das einzige heroische Nationalgedicht, was die Neueren aufzuweisen haben“, 189 während August Wilhelm Schlegel, der Camões als romantischen Dichter wahrnahm, ein Jahr später einen Auszug aus dem VI. Gesang des Epos in seinen Blumensträussen italienischer, spanischer und portugiesischer Poesie veröffentlichte (cf. Kofler 2008b, 1747 und supra 9.1). Zuvor waren bereits Übersetzungen einzelner Episoden aus den Lusiaden sowie eine Versübersetzung des I. Gesangs aus der Feder von K.S. von Seckendorff (1780-1782) abgedruckt worden. Doch erst mit der 1806-1808 in Hamburg unter dem Titel Die Lusiade erschienenen zweibändigen Versübertragung von C.E. Heise verfügte das deutsche Lesepublikum über eine annähernd vollständige Fassung des Epos. 190 Im selben 289 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="290"?> 191 Die Lusiade des Camoens. Aus dem Portugiesischen in deutsche Ottavereime übersetzt [von F.A. Kuhn und C.T. Winckler]. Leipzig: in der Weidmannischen Buchhandlung, 1807. Über weitere deutsche Fassungen informiert Kofler (2008b, 1747). 192 „Poetische Übersetzungen“. Neue Leipziger Literaturzeitung. 85. Stück, den 3. Juli 1807, 1345-1351; hier p. 1345. Zeitraum legten F.A. Kuhn und C.T. Winckler in Leipzig ihre Lusiade des Camoens (1807-1808) vor (cf. ibid.). 191 Ein Rezensent der Leipziger Literaturzeitung vergleicht am 3. Juli 1807 die beiden Neuerscheinungen und attestiert der Leipziger Fassung den größeren poetischen Wert; sie atme den Geist des Originals, auch wenn sie „am stärksten von der Farbe des Zeitgeistes tingirt [sic]“ sei, während die Hamburger Version natürlicher wirke und nicht „nach der Schule“, d. h. dem romantischen Stil Schlegels und Tiecks, schmecke. 192 Insbesondere die Leipziger Titelbezeichnung „Ottavereime“ moniert der Rezensent als ma‐ nieriert und der deutschen Wortbildung zuwiderlaufend. Wir wollen hier als kleine Kost‐ probe den Passus aus der ersten Stanze der Lusiaden wiedergeben, den er als Beleg der Überlegenheit der Leipziger gegenüber der Hamburger Fassung ins Feld führt (S. 1348): As armas e os varões assinalados Que da occidental praga Lusitana Por mares nunca d’antes navegados Passar-o ainda alem da Taprobana, Que em perigos e guerras esforçados, Mais do que permittia a força humana, Entre gente remota edificar-o Nove regno, que tanto sublimar-o. Die sinngemäße Übersetzung liefert der Rezensent selbst: „Die Waffen und die glorreichen Männer, die vom westlichen Lusitanischen Gestade durch nie zuvor durchschiffte Meere noch weiter, als zum Taprobane, vordrangen, die, in Gefahren und Kriegen gewaltig, mit mehr als menschlicher Stärke, unter fernen Völkern ein neues Reich gründeten, das sie zu solcher Hoheit erhoben (ibid.). Die beiden deutschen Übersetzungen dieses Passus lauten wie folgt: Die Waffen und die Helden hoher Thaten, Der Waffen Zug, bekrönt mit hohen Thaten, Die, schiffend aus den schönen Abendlanden Vom Sonnenuntergang, aus Lusus Flur, Der Lusitanen, hinter Taprobana’s Staaten Durch jenes Meer, von Menschen nie errathen, Noch unbeschiffte neue Meere fanden; In Ceylons milder hauchende Natur, Sie, die in Fahr und Kämpfen so berathen, Gefahr verachtend, jedes Unglücks Saaten Dass sie auf wilder Völker fernen Stranden - so kämpften einst der Götter Söhne nur! - Ein neues Reich gestiftet, hoch zu prangen, Des Reiches Glanz, das jung, in fernen Auen, Wie das [sic] sich kaum je Menschen unter‐ fangen. Der Helden Macht und Sieg dem Ruhm ver‐ trauen. (Kuhn/ Winckler 1807-1808) (Heise 1806-1808) In Metrum und Reimschema ähneln sich die Übersetzungen; allerdings wechseln sich bei Heise, abweichend vom Original, männliche und weibliche Reime ab. Seine Fassung wirkt insgesamt etwas manieriert, was auch der zeitgenössische Rezensent so empfand, wohin‐ 290 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="291"?> 193 Die neueste deutsche Übersetzung ist sehr viel jünger: Luís de Camões: Os Lusíadas / Die Lusiaden. Aus dem Portugiesischen von Hans Joachim Schaeffer. Berabeitet und mit einem Kommentar ver‐ sehen von Rafael Arnold. Heidelberg 2 2000. gegen er Kuhn und Winckler, wohl nicht zu unrecht, eine größere Nähe zum ‚Ton‘ des Originals, „ohne verkehrte Alterthümlichkeit“, zubilligt. Tatsächlich wurde Letztere nach unseren Recherchen zweimal in Wien neu aufgelegt (Pichler 1816; Schade 1828), während Heises Version keine weiteren Auflagen erlebte. 193 Den portugiesischen ‚Importartikeln‘ können wir uns aus Platzmangel nur sehr kurso‐ risch und selektiv widmen. Vorauszuschicken ist, dass romanische und insbesondere spa‐ nische Werke aufgrund der vorherrschenden Zweisprachigkeit während des spanischen Interregnums (1580-1640) kaum übersetzt wurden, da das gebildete portugiesische Lese‐ publikum diese überwiegend im Original rezipierte. Ein eklatantes Beispiel ist Cervantes’ Don Quijote, der zwar bereits 1605/ 1617 in Lissabon gedruckt wurde, allerdings erst 1794 in portugiesischer Übersetzung vorlag (cf. Schreiber 2001, 120 sowie infra 11). Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde das Kastilische, das auch als Mittlersprache diente, durch das Fran‐ zösische abgelöst. Man übersetzte deutsche und andere ‚exotische‘ Literaturen über fran‐ zösische Zwischenstufen; zugleich wurden die Schriften der französischen Aufklärer in portugiesischer Übersetzung verlegt. Seit 1800 übersetzte man auch englische und später deutsche Werke immer häufiger direkt (cf. Albrecht 1998, 316; Schäfer-Prieß/ Endruschat/ Schöntag 2003, 1420). Allerdings sind z. B. die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (1812-1815) noch vorwiegend über das Französische ins Portugiesische übertragen worden (cf. Schäfer-Prieß/ Endruschat/ Schöntag 2003, 1421 f.). Eine bedeutsame Vermittlerrolle bei der Rezeption der englischen und deutschen ‚Romantiker‘ kam der Marquise von Alorna (1750-1839) zu, die, ähnlich wie Mme de Staël in Frankreich, die Herausbildung der roman‐ tischen Bewegung in Portugal beförderte (cf. Schreiber 2001, 121). Sie übersetzte und adap‐ tierte Wieland, Bürger und Goethe ebenso wie Young, Gray und Lamartine (cf. Bär 2004, 357 und infra 15.2). Beim portugiesischen Lesepublikum waren ferner englische Autoren wie Pope, Thomson oder Macpherson und französische Dichter wie La Fontaine, Racine, Béranger oder Molière gefragt. Darüber hinaus erfreuten sich im 18. und 19. Jahrhundert auch die französischen contes moraux (z. B. Marmontel) sowie italienische Theaterstücke besonderer Beliebtheit und wurden häufig übersetzt und nachgeahmt (cf. Schreiber 2001, 120). Stellvertretend wollen wir mit Molière, Milton und Pope drei portugiesische ‚Importar‐ tikel‘ herausgreifen. Der später von Fernando Pessoa hoch geschätzte Molière wurde den portugiesischen Lesern durch den romantischen Schriftsteller António Feliciano de Cas‐ tilho (1800-1875) nahegebracht, der ausdrücklich eine einbürgernde Übersetzungshaltung vertrat. So versah er in seiner 1878 vorgelegten Version von Molières Malade imaginaire (O Doente do Scisma) die Figuren mit portugiesischen Namen (Argan erhielt den wenig schmeichelhaften Namen Simplicio Dores) und strich ganze Szenen des Stücks (cf. Ornstein 1942, 415 f.). Milton und Pope, die in der portugiesischen Literaturkritik des 19. Jahrhunderts recht präsent waren, wurden von dem Schriftsteller und Übersetzer Francisco Bento Maria Targini (1756-1827) in Portugal eingeführt. 1819, fünfzig Jahre nach der Erstübersetzung von António Teixeira, erschien in London Targinis Version von Alexander Popes An Essay 291 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="292"?> 194 Übersetzungen von Popes The Rape of the Lock legten António Luís Gentil 1837 in der Zeitschrift O Ramalhete und Francisco José Pinheiro Guimar-es 1843 in der Minerva Brasiliense vor. 195 Weitere portugiesische Fassungen von Miltons Epos erschienen 1789 (Amaro Da Silva), 1840 (António José de Lima Leit-o) und 1868-70 ( Jo-o Félix Pereira) (cf. Bastos da Silva 2000, 114 f.). 196 Der Löwe von Flandern. Aus dem Vlämischen. Sammlung ausgewählter Schriften, 3.-5. Bändchen. Münster: Aschendorff ’sche Buchhandlung, 1846. 197 Der Löwe von Flandern, deutsch von J. W. u. Maria Wolf. Ausgewählte Werke von H. Conscience. Unter Mitwirkung des Verfassers deutsch von J. W. Wolf, 3. Bändchen. Bonn: A. Marcus, 1846. on Man (Ensaio sobre o Homem), die allerdings an poetischer Kraft und Konkretheit nicht an das Original heranreicht. 194 Targinis Übersetzung von John Miltons Paradise Lost (O Paraíso Perdido), eine amplifizierende Fassung, die die Verszahl des Originals um ganze 55 % übersteigt, wurde 1823 in Paris verlegt (cf. Bastos da Silva 2000, 115; 121 f.). 195 Beide Übersetzungen hat Targini mit umfangreichen Kommentaren versehen und damit die Re‐ zeption bis zu einem gewissen Grad gesteuert, er hat aber auf diese Weise zur Kanonisierung Miltons und Popes in Portugal beigetragen (cf. ibid., 128). Im Folgenden werden wir uns zwei Werken zuwenden, die zwar demselben Land zuzu‐ rechnen sind, nicht aber in derselben Sprache verfasst sind. Es handelt sich um zwei nam‐ hafte ‚Literaturexporte‘ aus Belgien, den flämischen Historienroman Der Löwe von Flandern und das auf Französisch verfasste Epos La légende d’Ulenspiegel. Der 1838 erschienene Leeuw van Vlaenderen of de Slag der Gulden Sporen (Der Löwe von Flandern oder die Schlacht der goldenen Sporen) von Hendrik [Henri] Conscience (1812-1883) gehört noch heute zu den bekanntesten Werken der flämischen Literatur. Seine Handlung spielt vor dem Hintergrund des historischen Kampfes der Flamen gegen die französische Unterdrückung zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Hier hat wohl Walter Scotts Erfolgsroman Ivanhoe Pate gestanden, der die Rivalitäten zwischen Angelsachsen und Normannen schildert (cf. Rigney 2011, 83). Als Ausdrucksform eines zunehmenden romantischen Nationalbewusstseins in Flandern wurde der Roman zu dem flämischen Nationalepos schlechthin. Kritiker monierten aller‐ dings dessen strukturelle Schwächen und idealistischen Grundton und warfen Conscience eine unzureichende Beherrschung des Niederländischen vor, ja den Lesern wurde gar emp‐ fohlen, besser eine französische Übersetzung zur Hand zu nehmen (cf. Van Uffelen 1993, 46). Der Übersetzung des Romans ins Deutsche kam eine Schlüsselrolle zu, denn sie ver‐ schaffte Conscience nicht nur in seinem Heimatland Anerkennung, sondern bildete die Grundlage für seinen Erfolg in ganz Europa; die deutschen Fassungen dienten nicht selten als Vorlagen für Übersetzungen aus zweiter Hand. Entsprechend vermied Conscience die öffentliche Auseinandersetzung mit seinen deutschen Übersetzern und kam, wo es ihm notwendig erschien, auch dem Geschmack seines deutschen Publikums entgegen (cf. ibid., 45; 59 f.). Nachdem im Grenzboten bereits vier Jahre zuvor eine Leipziger Übersetzung von Dr. Karl Andree angekündigt worden war, die aber nie erschien (cf. ibid., 52 f.), wurde 1846 bei der Aschendorff ’schen Buchhandlung in Münster die erste deutsche Übersetzung ver‐ legt, die bis 1921 mehrfach neu aufgelegt wurde (cf. Klotz 1990, 280). 196 Im selben Jahr erschien ferner die Fassung von Johann Wilhelm Wolf und Maria Wolf, die im Titel der Sammlung mit der Mitwirkung des Verfassers beworben wurde. 197 Noch bis 1921 blieb Conscience der am häufigsten ins Deutsche übersetzte niederländische Schriftsteller (cf. 292 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="293"?> 198 Der Löwe von Flandern. Eine geschichtliche Erzählung. Für die Jugend bearbeitet von Rud. Reich‐ hardt. … Berlin: Meidingers Jugendschriften-Verlag. [1917] (cf. Klotz 1990, 280). 199 A. Snellaert, „Die flämische Literatur und ihre hervorragenden Schriftsteller“. Augsburger Allgemeine Zeitung, 11. Juli 1844, 1539. Cf. Van Uffelen 1993, 48. 200 Saint-René Taillandier, „De la Renaissance flamande en Belgique. Le Romancier de la Flandre: Hendrik Conscience”. Revue des Deux Mondes, Tome premier, 19 e année, 1e janvier 1849, 894-871. 201 Le Lion de Flandre / par Henri Conscience. Traduction de Léon Wocquier. 2 vol. Paris: Michel Lévy Frères, 1862 (Collection Michel Lévy. Œuvres complètes de Henri Conscience). 202 Dies berichtet der Biograph J. Vercoullie („Léon Wocquier (1850)“), in: Université de Gand: Liber memorialis. T. 1. Gand, 1913, p. 123. (cf. Online-Datenbank World Biographical Information System). Van Uffelen 1993, 47); insgesamt erschienen bis 1996 dreißig deutsche Fassungen seines Romans (cf. Eickmans/ Missine 2014, 18), der auch als Jugendbuch sehr beliebt war (etwa in Rudolph Reichhardts Bearbeitung von 1917). 198 Von der deutschen Kritik wurde Conscience in der Frühphase der Rezeption in erster Linie als Exponent der flämischen Bewegung wahrgenommen; so schreibt etwa F. A. Snellaert 1844 in einem Aufsatz in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, dieser setze sich mit dem Löwen von Flandern „die Krone aufs Haupt“ (cf. Van Uffelen 1993, 47 f.). 199 Die anhaltende Beliebtheit des flämischen Autors in Deutsch‐ land erklärt sich für Van Uffelen u. a. durch drei Umstände: erstens begünstige der religiöse Charakter seiner Werke die Rezeption in katholischen Kreisen und die Aufnahme in Reihen, die katholische ‚Erbauungsliteratur‘ versammelten; zweitens erhielten diese durch den Ab‐ druck in renommierten Reihen wie dem Belletristischen Ausland, neben Werken von Ale‐ xandre Dumas, Lamartine, Dickens und Manzoni, weltliterarische Weihen; drittens sei sein historisches Werk ganz nach dem Geschmack eines an Ritter- und Räuberromanen im Stil der Romantik geschulten Lesepublikums (cf. ibid., 56 f.). In Frankreich setzte die kritische Rezeption Ende der 1840er Jahre ein, als Saint-René Taillandier in der Revue des Deux Mondes einen Artikel über den „Romancier de la Flandre“ publizierte. 200 Da er das Niederländische nicht beherrschte und Consciences Werke noch nicht in französischer Übersetzung vorlagen, hat er diese wohl über das Deutsche rezipiert (cf. Lambert 1980, 80). 1854 veröffentlichte die Revue des Deux Mondes unter dem Titel Scènes de la vie flamande als erste zwei Texte von Conscience (cf. ibid., 81), der einigen Lesern bereits durch Alexandre Dumas’ im Jahr zuvor erschienenen Roman Conscience l’Innocent bekannt gewesen sein dürfte (cf. Steyaert 2004, 211). Die erste Gesamtausgabe von Consciences Werken wurde erst 1854-1866 in der „Collection Michel Lévy“ publiziert, in der Übersetzung des wallonischen Dichters und Philosophen Léon Wocquier (1821-1864). 1862 erschien dort unter dem Titel Le Lion de Flandre die erste französische Fassung des Ro‐ mans. 201 Wocquier, der sich bereits an dem niederländischen Autor Van Lennep versucht hatte, verfasste seine Übersetzungen bei einem Glas Absinth in der Bar La Carpe an der Porte de Courtrai. 202 Sie waren es auch, die ihn bekannt machen sollten, ja sie waren so erfolgreich, dass der charismatische Wocquier damit seinen berühmten Landsmann, den Dichter Guido Gezelle, nahezu in den Schatten stellte (cf. Albrecht 2012, 797); noch in jüngster Zeit ist Consciences Roman in seiner Übersetzung erhältlich. Im 19. Jahrhundert wurden übrigens viele Werke flämischer Autoren von belgischen Übersetzern ins Franzö‐ sische übertragen, in erster Linie, um sie im französischsprachigen Teil Belgiens zu ver‐ treiben (cf. Lambert 1980, 31). Lévys Gesamtausgabe hatte eine weiterreichende Wirkung: sicherlich hat sie aus Conscience einen massentauglichen Schriftsteller gemacht, dessen 293 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="294"?> 203 Vicente Sancho del Castillo, Le Lion de Flandre. Episode historique en vers et en trois actes dont le troisième divisé en deux tableaux, d’après l’ouvrage de Henri Conscience … Namur: A. Godenne, 1912. 204 “Preface to the English Edition“. In: The Lion of Flanders; or the Battle of the Golden Spurs. By Hendrik Conscience. London: Lambert & Co, 1855, v-x, hier p. ix. 205 De Leeuw van Vlaenderen of de Slag der Gulden Sporen door Hendrik Conscience … Eerste Deel. Antwerpen: L. J. De Cort, Paddengracht, 1838, p. 1f. Werke als littérature de consommation galten (cf. ibid., 81), sie hat aber auch für deren an‐ haltende Beliebtheit bis ins 20. Jahrhundert hinein gesorgt. Dies zeigt etwa eine Bühnen‐ bearbeitung des Lion de Flandre von 1912 durch den Spanier Gil Vicente Sancho del Castillo, die im belgischen Namur verlegt wurde. 203 Noch 2016 brachte der Straßburger Verlag Neues Elsass-Lothringen (NEL) den Roman gleichzeitig in niederländischer, französischer und englischer Fassung auf den Markt. Was die Rezeption in anderen europäischen Ländern angeht, so müssen hier einige we‐ nige Hinweise zu England genügen. Dort erschien 1855-1857 eine sechsbändige Gesamt‐ ausgabe von Consciences Tales and Romances, 1856-1875 gefolgt von den gesammelten Short Tales in 13 Bänden (cf. Steyaert 2004, 211). Die erste englische Übertragung des Ro‐ mans, The Lion of Flanders, or the Battle of the Golden Spurs, wird 1855 bei Lambert in London verlegt und enthält eine persönliche Widmung des Autors, der die Übersetzung ausdrück‐ lich lobt. In der Preface to the English Edition betont der Herausgeber, dass die Genrebe‐ zeichnung historical romance nicht wie im Englischen üblich als fiktive Geschichte vor historischem Hintergrund, sondern vielmehr als Darstellung historischer Fakten zu einem bestimmten politischen Zweck gelesen werden muss: It is not simply a romance founded on history, in which the historical event is but a thread on which the incidents of love and adventure, which are the real story, are strung. It is, on the contrary, a portion of real history, chosen for a definite end. 204 Abschließend wollen wir als kleine Kostprobe den Romananfang, der die Handlung mit einer ‚romantischen‘ Naturbeschreibung präludiert, im Original und in zwei fremdspra‐ chigen Übertragungen anführen (in der deutschen Fassung von J. W. und Maria Wolf fehlt dieser Passus bezeichnenderweise ganz, dort setzt die Handlung sofort ein): De roode morgenzon blonk twyfelachtig in het oosten, en was nog met een kleed van nachtwolken omgeven, terwyl haer zevenkleurig beeld zich glinsterend in elken dauwdruppel herhaelde; de blaeuwe dampen der aerde hingen als een onvatbaer weefsel aen de toppen der boomen, en de kelken der ontwelkende bloemen openden zich met liefde om de jongste strael van het daglicht te ontvangen. De nachtegael had zyne zoeite liederen reeds meermalen gedurende de schemering herhaeld, maer nu verdoofde het verwarde geschater van mindere zangers zyne verleidende toonen. Een hoop ridderen rende stilzwygend door de velden van Rousselare. … 205 Par une belle matinée de l’année 125…, une petite troupe de chevaliers s’avançait, en silence, vers la ville de Rousselave [sic] dans la Flandre occidentale … Le soleil montait à l’horizon, éclairant la campagne d’une lumière qui devenait, à chaque instant, de plus en plus vive. Les vapeurs bleuâtres qui s’élevaient de la terre, demeuraient encore suspendues à la cime des arbres, et le calice des 294 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="295"?> 206 Zu den inhaltlichen Aspekten cf. Elisabeth Kampmann in der Online-Version von Kindlers Literatur-Lexikon. 207 Charles De Coster, La Légende d’Ulenspiegel. Paris: A. Lacroix, Verboeckhoven & Ce, 1868. fleurs, humide de rosée, s’entr’ouvrait amoureusement, aux premiers rayons de l’astre du jour. Maintes fois, depuis l’aube, le rossignol avait redit sa douce chanson ; mais le ramage confus des autres chantres de la forêt faisait taire ses accents mélodieux. Au moment où commence notre récit, … (Wocquier 1862, 1 f.) The east was reddening with the first doubtful rays of the morning sun, still enveloped with the clouds of night as with a garment, but at the same time making a perfect rainbow in each drop of dew; the blue mist hung like an impalpable veil on the tops of the trees, and the flower-cups opened lovingly to the first beams of the new daylight. The nightingale had more than once repeated his sweet descant in the glimmering dawn; but now the confused chirping of the inferior songsters overpowered his entrancing melody. Silently trotted a little band of knights along the plains of West Flanders, near the small town of Rousselare. … (Anonymus 1855, 1 f.) Während in der deutschen Version der Verzicht auf die Naturbeschreibung als Zugeständnis an die eher handlungszentrierte littérature de consommation gedeutet werden kann, ist die französische sogleich als Dichterübersetzung erkennbar. Wocquier greift gliedernd in den Text ein, stellt ihm ein ‚romanhaftes‘ Incipit mit ungefährer zeitlicher Einordnung voran und nimmt seine Leser an die Hand, indem er eine Erzählerstimme einführt (Au moment où commence notre récit…). Auch mit den Details nimmt er es nicht allzu genau, originelle Metaphern wie das kleed van nachtwolken tilgt er ganz, von dem zevenkleurig beeld, das zich glinsterend in elken dauwdruppel herhaelde, bleibt nurmehr ein konventionelles humide de rosée. Die englische Fassung hebt sich deutlich von der französischen ab und löst, zu‐ mindest was diesen Passus betrifft, das Versprechen des Herausgebers einer „very literal rendering of the original” (Preface …, x) ein. Sie bemüht sich um getreue Wiedergabe der Bilder und ist lediglich zum Schluss behutsam explizierend. Kommen wir nun zu dem zweiten belgischen Literaturexport, dem 1867 veröffentlichten Roman La légende d’Ulenspiegel von Charles De Coster (1827-1879). Das bisweilen als flä‐ misches Nationalepos bezeichnete Werk ist vor demselben historischen Hintergrund an‐ gesiedelt wie der Leeuw van Vlaenderen, in einer Epoche, in der Belgien sich noch unter einer Art kultureller Vorherrschaft Frankreichs befand und viele flämische Autoren auf Französisch schrieben. De Coster verlegt darin den Eulenspiegelstoff niederdeutscher Volksbücher des 14. Jahrhunderts in das Flandern des 16. Jahrhunderts, als die Flamen sich gegen die spanische Besatzung auflehnten. Die Protagonisten stilisiert er zu Allegorien flämischer Identität, und der schelmenhafte, eigensinnige und mutige Thyl Ulenspiegel wird bei ihm zur nationalen Symbolfigur. Er schreibt zwar auf Französisch, flicht aber immer wieder idiomatische Wendungen aus dem Altniederländischen in seinen Text ein. 206 1868 erschien das Werk erstmals in Frankreich, 207 wo der Name Eulenspiegel übrigens schon lange zuvor als espiègle („Schalk“, „Schelm“) in die Gemeinsprache übergegangen war (cf. Rago 1984, XIII). Im XIII. Band der monumentalen Histoire de la langue française des origines à 1900 des Philologen Ferdinand Brunot (cf. infra 15) ist De Costers Ulenspiegel ein eigenes 295 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="296"?> 208 Kap. II: „Un évocateur ‚épique‘: Charles de Coster (1827-1879)“, in: Histoire de la langue française des origines à 1900, Vol. XIII: „L’Époque Réaliste (1852-1886)“, Deuxième partie préparée par Charles Bruneau et mise au point par Maurice Piron. Paris: Armand Colin 1972, p. 179ff. (Die Bände I-XI erschienen dort 1905-1938, Band XII, vorbereitet von Charles Bruneau, 1948). Cf. Website der École nationale des chartes (URL http: / / theleme.enc.sorbonne.fr/ ). 209 Es sei hier erwähnt, dass die 1910 publizierte Übersetzung von Albert Wesselski (Uilen‐ spiegel und Lamme Goedzak. Ein fröhliches Buch trotz Tod und Tränen. Leipzig: Wilh. Heims) mit dem Zusatz „Erste deutsche Ausgabe“ beworben wurde. 210 Zit. nach Schwarze 2004, 230 f. Charles de Coster, Tyll Ulenspiegel und Lamm Goedzak. Legende von ihren heroischen, lustigen und ruhmreichen Abenteuern im Lande Flandern und andern Orts. Deutsch von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Mit einem Nachw. des Übers. Jena: Diederichs 1909. 211 Zit. nach Schwarze 2004, 231. Kapitel gewidmet (cf. ibid., XXVII). 208 Zu internationalem Ruhm gelangte dieser nach dem ersten Weltkrieg, vornehmlich durch die Vereinnahmung für politische Ziele, aber auch aufgrund seiner literarischen Qualitäten. In Deutschland schlugen sich ideologische Absichten vor Beginn des Ersten bis nach dem Zweiten Weltkrieg zwar nicht erkennbar in den Übersetzungen nieder, in den Paratexten waren aber insbesondere während der Weltkriege sehr wohl nationalistische Töne ver‐ nehmbar (cf. Schwarze 2004, 230). Bereits der erste deutsche Übersetzer des Ulenspiegel von 1909, 209 Friedrich von Oppeln-Bronikowski, war bemüht, „diesem echt niederdeutschen Buche in Deutschland Heimatrecht zu gewinnen und es aus einer fremden Sprache in ein stammverwandtes Idiom zurückzuretten“. 210 Seine Übersetzung wurde im Übrigen 1936 versehen mit dem explizit nationalistischen Untertitel Ein Kampf um Flanderns Freiheit bei Diederichs neu herausgegeben (cf. Sturge 2008, 1775). Und van der Bleek äußert im Vorwort zu seiner Fassung von 1915 nicht ohne Pathos den Wunsch, „daß dies so wahrhaft deutsche Meisterwerk ein deutsches Volksbuch werde im besten Sinne“. 211 Wie diese und weitere deutsche Übersetzer mit den typischen ‚Flamismen‘, insbesondere den flämischen Kultur‐ spezifika, in De Costers Text umgegangen sind, untersucht Schwarze (2004, 224 f.). Wir wollen hier den dort angeführten Passus aus dem Kapitel LXXX und einige der deutschen Übersetzungen wiedergeben, in dem die Nachbarin Katheline Ulenspiegel für eine Besor‐ gung ins Wirtshaus schickt: Ulenspiegel, dit Katheline, va nous quérir quatre livres [sic] de dobbel-kuyt pendant que je vais préparer les heete-koeken; ce sont des crêpes au pays de France. (De Coster 1868) „Ulenspiegel“, sagte Katheline, „geh und hol uns vier Schoppen Doppelbier, dieweil ich Schmalz‐ kuchen backe.“ (Oppeln-Bronikowski 1909) „Ulenspiegel“, sprach Katheline, „geh und hole uns vier Liter ‚Dobbel-Kuyt‘, während ich die ‚Heete-Koeken‘ zurechtmache.“ - Das sind Krappkuchen. (van der Bleek 1915) Dann schickte Katheline Ulenspiegel fort um Bier und buk Kräpfchen. (Freksa 1920) „Ulenspiegel, geh’ uns vier Liter dobbel-kuyt zu holen, während ich die heete-koeken zubereite,“ sagte Soetkin [sic], „in Frankreich heißen sie Krauskuchen.“ (Lehmann 1924) „Ulenspiegel“, sprach Katheline, „geh vier Liter Dobbelkuyt holen, während ich die ‚heete-koeken‘ (Plinsen, was in Frankreich die ‚crêpes‘ sind) zubereite.“ (Wolfskehl 1926) „Ulenspiegel“, sagte Katheline, „hole uns vier Liter Doppelbier, während ich uns ‚heete-koeken‘ backe“, wie man in Flandern die Krapfen nennt. (Valeton 1949) 296 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="297"?> Die Wiedergabe der kulinarischen Spezialitäten fällt in den einzelnen Fassungen ganz un‐ terschiedlich aus, wobei die Übersetzer den dobbel-kuyt als wiederkehrendes Motiv des Romans i. d. R. anders behandeln als die hier neu eingeführten heete-koeken. Oppeln-Bro‐ nikowski verfährt unauffällig einbürgernd und tilgt den erläuternden Zusatz, besonders adäquat erscheint das aus dem Niederdeutschen entlehnte Schoppen für die alte Maßeinheit livre. Dagegen übernimmt van der Bleek die flämischen Bezeichnungen beinahe unverän‐ dert und passt die Erläuterung an deutsche Leser an (Krappkuchen); bei der Maßeinheit unterläuft ihm (wie auch den späteren Übersetzern) allerdings ein Anachronismus: Liter wurde im 16. Jahrhundert, in dem der Roman spielt, noch nicht verwendet (cf. Schwarze 2004, 225). Freksa, der „kürzer, einsprachiger und drastischer als das Original“ (ibid.) über‐ setzen will, formuliert entsprechend knapp und generisch und verzichtet auf die wörtliche Rede, sein Fokus liegt offensichtlich nicht auf den sprachlichen Feinheiten. Was den erläu‐ ternden Zusatz betrifft, so legt Lehmann diesen unsinnigerweise Katheline in den Mund, die dort aus unerfindlichen Gründen die französische Bezeichnung der flämischen Spezi‐ alität in eingedeutschter Form (Krauskuchen) angibt. Bei Wolfskehl, der verfremdend über‐ setzt, ist der Zusatz dem Erzähler zuzurechnen, das aus dem Sorbischen stammende Plinsen in Verbindung mit dem Hinweis auf die französischen crêpes ist aber ähnlich verwirrend. Valetons Lösung erscheint uns in dieser Hinsicht am gelungensten, sie legt den Fokus der Erklärung auf die flämische Realie und führt mit Rücksicht auf das deutsche Lesepublikum eine typische deutsche Bezeichnung (Krapfen) als Erläuterung an - auch wenn diese nur einen annähernden Eindruck von der Beschaffenheit des Gebäcks vermittelt. Im Nachwort des Verlags zu ihrer Übersetzung heißt es übrigens: Wäre der Ulenspiegel-Roman von Charles de Coster ein flämisch geschriebenes Buch gewesen - niemals hätte er der belgische Nationalroman werden können. Aber er hätte, in flämischer Sprache, auch niemals seinen Platz in der Weltliteratur erobert. (zit. nach Schwarze 2004, 231) Angesichts des französischen Einflusses im jungen Belgien mag man geneigt sein, der ersten Behauptung zuzustimmen. Der zweiten ließe sich der europaweite Erfolg von Hendrik Consciences oben vorgestelltem Epos entgegenhalten, auch wenn dieses bisweilen eher als littérature de consommation rezipiert wurde. Hinsichtlich der weiteren europäischen Fortune des Werkes muss hier ein knapper Überblick genügen. In der DDR und der Sowjetunion wurde der Ulenspiegel, vornehmlich aufgrund seines politischen und ideologischen Gehalts, besonders stark rezipiert, und Au‐ toren wie Bertolt Brecht, Günther Weisenborn oder Christa und Gerhard Wolf ließen sich von ihm inspirieren (cf. Schwarze 2004, 216). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sogar ein Satiremagazin nach ihm benannt, das sich zunächst in Westdeutschland gegen die westliche Orientierung der im Entstehen begriffenen Parteienlandschaft wandte und sich später in Ostberlin zu einem kommunistischen Propagandainstrument wandeln sollte (cf. Goldstein 2009, 118; 123). In der Sowjetunion fand der Ulenspiegel abgesehen vom Russischen in wei‐ teren zehn Sprachen Verbreitung und erreichte eine Auflage von insgesamt einer Million Exemplaren (cf. Rago 1984, XVIII). Dort erregte die Übersetzung von De Costers Roman vor allem durch einen als „Eulenspiegel-Affäre“ bekannt gewordenen Zwischenfall das öf‐ fentliche Interesse: Der mit der Übersetzung des Romans betraute Dichter Ossip Mandel‐ stam hatte im Auftrag des Verlags die beiden bereits erschienenen Fassungen von Vasilij 297 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="298"?> 212 Über die „Eulenspiegel-Affäre“ informiert ausführlich Timoschkowa 2016, 173 ff. (hier p. 175). 213 The Spectator, Bd. 141 (1. September 1928), p. 273. Karákin (1916) und Arkadij Gornfeld (1919) überarbeitet und zu einem Text zusammenge‐ fügt. Als seine Übersetzung 1928 erschien, war er irrtümlich auf dem Titelblatt als Über‐ setzer aufgeführt, ohne dass der Verlag seine beiden Vorgänger vorab darüber informiert hätte; daraufhin wurde er von dem Kritiker und Übersetzer Gornfeld des Plagiats bezich‐ tigt. 212 Vor dem Hintergrund der sowjetischen Debatte über den ‚Realismus‘ widmete der ungarische Kritiker György Lukács, der dem offiziellen ‚sozialistischen Realismus‘ seinen ‚kritischen Realismus‘ entgegenstellte, De Costers Ulenspiegel einen Abschnitt seiner Mo‐ nographie Der historische Roman, die erstmals 1937 in Moskau erschien (cf. Rago 1984, XXVIII). In den 1970er Jahren wurde der Ulenspiegel in der Sowjetunion auch musikalisch rezipiert: 1970 hatte das erste sowjetische Musical TU’ (Till) von Grigori Gorin am Theater des Leninschen Komsomol Premiere, das nach Motiven des Romans gestaltet war. Aber auch in den westeuropäischen Ländern stieß das Werk, wenn auch recht spät, auf Interesse. So wurde in Italien erstmals 1914 eine Übersetzung aus der Feder von Umberto Fracchia publiziert, seit 1942 gefolgt von weiteren drei vollständigen Fassungen sowie einigen Adap‐ tionen und Bearbeitungen für die Jugend (cf. ibid., XVIII). Noch später setzte die überset‐ zerische Rezeption in England ein; dort legte F. M. Atkinson 1922 in einer preiswerten Edition bei Heinemann die erste vollständige Übersetzung von De Costers Werk in zwei Bänden vor. Seine Legend of Tyl Ulenspiegel sollte laut einer Rezension in der britischen Zeitschrift The Spectator von 1928 gleichzeitig mit einer Aufführung von Richard Strauß’ symphonischem Werk Till Eulenspiegels lustige Streiche erscheinen. 213 Überhaupt inspirierte De Costers Ulenspiegel zahlreiche europäische Künstler zu Adaptionen für Bühne und Film, Illustrationen und musikalischen Bearbeitungen. Das jüngste Beispiel dafür ist wohl Daniel Kehlmanns 2017 bei Rowohlt verlegter, preisgekrönter Roman Tyll, der Motive nicht nur aus dem Volksbuch von 1510, sondern auch aus De Costers Ulenspiegel übernimmt. Der belgische Literaturimport gestaltet sich durch die historisch bedingte Diglossiesitu‐ ation des Landes recht unübersichtlich: Bis zum Wiener Kongress 1815 war das Französi‐ sche die dominante Sprache der Nationalliteratur, danach wurde es durch das Niederlän‐ dische abgelöst, das bis zur Unabhängigkeit Belgiens im Jahr 1830 den Status einer langue nationale innehatte; von da an koexistierten dann zwei belgische Nationalliteraturen in zwei Sprachen. So kam es nicht selten vor, dass einzelne auf Französisch oder Niederlän‐ disch verfasste Werke Elemente aus der jeweils anderen Sprache enthielten, wie wir bei De Costers Ulenspiegel gesehen haben (cf. D’hulst 2009, 102). Wir wollen uns hier darauf be‐ schränken, einige besonders interessante Aspekte des Literaturimports in beide Sprachen zu referieren. Beginnen wollen wir mit dem französischsprachigen Teil belgischer Litera‐ turimporte, der naturgemäß zu einem Großteil über Frankreich vermittelt war. So berichtet Lieven D’hulst über den französischen Einfluss auf den ‚Import‘ englischer Literatur nach Belgien, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders umfangreich war - ganze französische Zeitschriften, die sich englischen literarischen Erzeugnissen widmeten, wie z. B. die Revue britannique, wurden dort in den dreißiger und vierziger Jahren des Jahr‐ hunderts ohne Genehmigung des Verlags herausgegeben (cf. ibid., 103). Man ‚importierte‘ also gewissermaßen die literarischen und kulturellen Beziehungen zwischen England und 298 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="299"?> Frankreich. Ein Beispiel ist die romantische ‚Mode‘ des Byronism, die über französische Übersetzungen und deren Rezeption bei Kritikern und Schriftstellern in Frankreich nach Belgien gelangte. Die französischen Fassungen von Byrons Werken wurden in Belgien ent‐ weder neu aufgelegt, oder es wurden belgische Neuübersetzungen angefertigt. Diese Praxis war auch in der littérature de consommation und bei Kinderliteratur an der Tagesordnung, die bis Mitte des Jahrhunderts in raubkopierten Neuauflagen erschienen. So bestand z. B. in Belgien kein Bedarf, die historischen Romane Walter Scotts zu übersetzen, da Raubkopien von Defauconprets französischen Fassungen dort überall erhältlich waren (cf. ibid., 103 f.). D’hulst betont die Auswirkungen der französischen Vermittlung auf die in der belgischen Literatur angewandten Erzähltechniken und nennt als Beispiel die in den 1830er und 1840er Jahren verbreitete Technik eines Wechsels vom auktorialen Icherzähler im Incipit zum extradiegetischen Erzähler innerhalb der Fabel. Darunter fällt sicher auch das Verfahren der fiktiven Übersetzung, bei dem sich der auktoriale Icherzähler als Übersetzer oder Be‐ arbeiter z. B. eines mittelalterlichen Manuskripts ausgibt (cf. infra 11 sowie ibid., 104). Was den belgischen Literaturimport in niederländischer Sprache angeht, so müssen wir etwas weiter ausholen. Dabei geht die moderne Bedeutung des niederländischen Verbs vertalen („übersetzen“) auf die Mitte des 16. Jahrhunderts zurück, als die Werke der euro‐ päischen Renaissance ins Niederländische übertragen wurden. Bis dahin wurde das Verb bezeichnenderweise in der schlichten Bedeutung „erzählen“, „in Worte fassen“ verwendet (cf. Hermans 2011, 2161), die im heutigen Niederdeutschen (vertellen) übrigens noch er‐ halten ist. Im 18. Jahrhundert war vor allem in der gehobenen Bourgeoisie der südlichen Niederlande das Französische die Sprache der Kultur, und so wurden zahlreiche Werke aus dem Französischen ins Niederländische übertragen. Man begann aber bereits dem franzö‐ sischen Kulturmonopol mit Übersetzungen aus anderen Sprachen entgegenzutreten, wobei das Deutsche gegen Ende des Jahrhunderts eine entscheidende Rolle spielte. Durch Über‐ setzungen von Goethes Werther und Sternes Sentimental Journey konnte sich überdies das Genre des ‚empfindsamen‘ Romans etablieren (cf. Hermans 2011, 2163). Als einer der ersten ‚Romantiker‘ galt der niederländische Dichter und Gelehrte Willem Bilderdijk (1756-1831), der sich auch als Übersetzer einen Namen machte (cf. Van Hoof 1987, 23). Hinsichtlich der Übertragungen des 19. Jahrhunderts, die aus der Feder flämischer Übersetzer stammen, müssen hier zwei Beispiele genügen. So legte der als Fabeldichter bekannte Pieter Jan [Pe‐ trus] Renier 1833 unter dem Titel Uytgekoozen Verdichtselen, vrij naar het Fransch eine Übertragung der Fabeln von La Fontaine vor, und der Genter Journalist und Dramenautor Napoleon Destanberg übersetzte 1866 Molières Tartuffe (cf. ibid., 23). Auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diente im Übrigen das Deutsche als Mittlersprache, etwa bei der Übersetzung skandinavischer Literatur ins Niederländische (cf. ibid., 2164). Im Folgenden wollen wir einen - notgedrungen sehr lückenhaften - Überblick über die Literaturexporte der skandinavischen Länder geben, deren Hauptlieferanten sicherlich die Dänen Søren Kierkegaard und Hans Christian Andersen, der Norweger Henrik Ibsen und der Schwede August Strindberg sind. Kierkegaard (1813-1855) war ähnlich wie Nietzsche, mit dem er gern verglichen wurde, ebenso Philosoph und Theologe wie Literat. Beide ver‐ bindet zudem der Umstand, dass ihre Schriften durch den dänischen Literaturkritiker und Philosophen Georg Brandes auch über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus bekannt 299 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="300"?> 214 Georg Brandes, S. Kierkegaard. Ein literarisches Charakterbild. Leipzig 1879. 215 Sie erschien anonym unter dem Titel „Christentum und Kirche. Die Gegenwart.“ Ein ernstes Wort an unsere Zeit, insbesondere an die evangelische Geistlichkeit (cf. Thonhauser 2014, 35). 216 Entweder - Oder. Ein Lebensfragment, übers. von Alexander Michelsen und Otto Gleiß. Bd. 1: Leipzig: J. Lehmann 1885; Bd. 2: Leipzig: F. Richter 1885 (Neuauflagen 1904, 1908, 1910 und 1924). 217 Gesammelte Werke, Bd. 1-12, übers. und hg. von Hermann Gottsched und Christoph Schrempf. Jena: Diederichs 1909-1922 (2. Aufl., übers. und hg. von Christoph Schrempf 1922-25). Enthält: Entweder - oder. Ein Lebensfragment. Bd. 1: Erster Teil (1911; 2 1922); Bd. 2: Zweiter Teil (1913; 2 1922). wurden; Brandes’ Kierkegaard-Biografie von 1877 erschien 1879 auch auf Deutsch. 214 In Dänemark wurde Kierkegaard etwa gleichzeitig mit seinem - damals weitaus berühmteren - Landsmann Andersen rezipiert, der ebenfalls Brandes’ kritischer Rezeption einiges ver‐ dankt (cf. Tullberg 2009, 3). Wir werden hier Kierkegaards im engeren Sinne ‚literarisches‘ Erstlingswerk Entweder− Oder (1843) behandeln, von dessen zweiter Auflage Kierkegaard übrigens 1849 ein Exemplar an Andersen sandte (cf. Vertrynge 2005, 548). Im Gegensatz zu Nietzsche unterschied Kierkegaard in gewisser Hinsicht zwischen seinen Schriften mit re‐ ligiöser Botschaft und seinen kritischen, religiös-philosophischen Werken, die er in litera‐ rischer Form abfasste. In ihnen versuchte er seine Leser durch sokratische Methoden und das Spiel mit Pseudonymen, mit denen er einzelne Texte versah, für sein Denken zu ge‐ winnen (cf. ibid., 549). Für sein berühmtes Frühwerk mit dem vollständigen Titel Enten - Eller. Et Livs-Fragment, udgivet af Victor Eremita (Entweder - Oder. Ein Lebens-Fragment, herausgegeben von Victor Eremita) gilt dies in besonderem Maße. Kierkegaard bedient sich darin eines bewährten literarischen Mittels: er schreibt sein Werk dem fiktiven Herausgeber Victor Eremita zu, der wiederum auf fiktive Manuskripte mit teilweise ungeklärter Autor‐ schaft zurückgreift. In einem von ihm selbst unterzeichneten Nachwort bittet Kierkegaard den Leser, die angeführten Pseudonyme ernst zu nehmen und die im Buch dargelegten Thesen und Gedanken diesen und nicht ihm selbst zuzuschreiben: er habe zwar alle Pseu‐ donyme zu verantworten, sei aber unabhängig von ihnen (cf. Evans 2003, 298). In Deutschland setzte die Kierkegaard-Rezeption als Erstes ein: dort erschien 1861 erst‐ mals eine vollständige Übersetzung einer seiner theologischen Schriften, 215 1875 gefolgt von einigen Reden in der Fassung von Albert Bärthold. Georg Brandes’ Kierkegaard-Buch, von dem bereits die Rede war, erweiterte die bis dahin rein theologische Rezeption in Richtung einer freidenkerischen Interpretation seiner Philosophie (cf. Thonhauser 2014, 38). Breitere Bekanntheit erlangte Kierkegaard aber erst in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen (cf. Schoeps 1951, 160). Die erste deutsche Fassung von Entweder - Oder erschien 1885 in Leipzig. 216 Im Rahmen der Gesammelten Werke Kierkegaards, die 1909-1922 bei Diederichs in zwölf Bänden verlegt wurden, legten dann Hermann Gottsched und Christoph Schrempf eine Neuübersetzung vor. 217 Der schwäbische Pfarrer Schrempf hatte in den 1890er Jahren bereits einige Schriften Kierkegaards ins Deutsche übertragen und war nicht unumstritten; er versuchte Kierkegaard in Texten wie Entweder - Oder zum Fürsprecher seines eigenen religiösen Skeptizismus zu machen (cf. Thonhauser 2014, 39). Aber auch die Qualität seiner Übersetzungen war Gegenstand der Kritik, man warf ihm weitreichende Eingriffe in den Originaltext, Ungenauigkeiten und Auslassungen vor. Er selbst rechtfertigt dies im Nach‐ wort zu seiner Übersetzung durch die angebliche Weitschweifigkeit und sprachliche Nach‐ lässigkeit des Originals: 300 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="301"?> 218 Schrempf, „Nachwort“. In: Kierkegaard, Entweder/ Oder. Zweiter Teil (1913), 309 f. (zit. nach G. Schreiber 2015, 134). 219 Umfangreiche bibliographische Hinweise zu den Übersetzungen von Entweder - Oder finden sich bei Kaminski/ Schreiber/ Schulz 2016. 220 Cf. Teboul 2005, 319 sowie Annemarie Pieper in der Online-Version von Kindlers Literatur-Lexikon. Wollten wir also das geniale Erstlingswerk Kierkegaards in ein lesbares deutsches Buch verwan‐ deln, so durften wir es nicht bloß übersetzen, wir mußten es auch überarbeiten. Das heißt: wir mußten, so gut wir eben konnten, nachholen, was Kierkegaard versäumt hat: denn eigentlich und von Rechts wegen hätte er das Ganze noch einmal umschreiben sollen, ehe er es in den Druck gab. 218 Dies tat allerdings der übersetzerischen Fortune von Entweder - Oder in Deutschland keinen Abbruch: Neuübersetzungen der Schrift erschienen 1939 bei Diederichs, 1960 in der Samm‐ lung Ästhetisch-Philosophisches (Köln und Olten) und 1988 im Rahmen einer Gesamtausgabe bei dtv. Dort wurde im Übrigen 1997 auch eine Lese-Einführung unter dem Titel Kierkegaard für Anfänger verlegt. Das Tagebuch des Verführers, der letzte in Entweder - Oder enthaltene Text, wurde seit 1903 mehrfach separat publiziert, zuletzt 2007 im Kölner Ana‐ conda-Verlag. 219 Kierkegaard übte einen weitreichenden Einfluss auf die deutschsprachige Geisteslandschaft aus, der sich in der theologischen und der philosophischen Debatte ebenso bemerkbar machte wie in der Literatur. Erinnert sei hier nur an zwei Schweizer, den protestantischen Theologen Karl Barth und den Schriftsteller Max Frisch, der die Thesen aus Entweder - Oder in seinem Roman Stiller verarbeitete. 220 Deutschland spielte eine zentrale Rolle bei der Verbreitung von Kierkegaards Ruf in an‐ deren europäischen Ländern. Dies zeigt sich etwa in der Diskrepanz zwischen der Kierke‐ gaard-Rezeption in den Niederlanden und Flandern: Die protestantischen Niederländer kamen durch den dortigen Einfluss Deutschlands im 19. Jahrhundert bereits relativ früh mit seinem Denken in Berührung, während die Rezeption im überwiegend katholisch ge‐ prägten Flandern, wo die kulturelle Nähe zu Frankreich größer war, erst 1940 einsetzte. Dort galt das Interesse weniger den theologischen als vielmehr den philosophischen Schriften (cf. Vertrynge 2005, 550). Da die Leser hier wie dort vor allem zu deutschen Über‐ setzungen griffen, begann man erst 2006 mit der Herausgabe einer Gesamtausgabe seiner Werke auf Niederländisch beim Damon-Verlag. Auch in Frankreich war die Rezeption durch Deutschland vermittelt: Die ersten französischen Kommentatoren, wie Jean Wahl oder Léon Chestov, lasen seine Schriften in deutschen Ausgaben. Übersetzt wurden sie erst zu Beginn der 1930er Jahre, etwa ein Jahrzehnt später als in Deutschland (cf. Teboul 2005, 319; 322), durch Paul-Henri Tisseau, der an der Schwedischen Universität Lund lehrte und mit einer Dänin verheiratet war (cf. Kemp 1979, 150). 1940 legte Tisseau unter dem Titel L’alternative den zweiten Teil von Entweder - Oder vor; beide Teile wurden erst 1970 im Rahmen seiner Œuvres complètes (1966-1986) verlegt. Die erste vollständige Fassung der Schrift von F. und O. Prior und M. H. Guignot, die mehrfach neu aufgelegt wurde, erschien aber bereits 1943 bei Gallimard unter dem Titel Ou bien … ou bien. Die Rezeption Kierkegaards als „Vater des Existentialismus“ in den 1930er bis 1950er Jahren hatte im Übrigen die Herausbildung des Existentialismus in Frankreich angestoßen, dessen Erbe Jean-Paul Sartre nach 1945 fort‐ führte (cf. Teboul 2005, 316; 335). 301 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="302"?> 221 Wir verweisen besonders auf seine Kierkegaard-Biographie A Short Life of Kierkegaard (1938). 222 Kierkegaard, Either-Or. Vol. I: Translated by David and Lillian Swenson. Vol. II: Translated by Walter Lowrie. Princeton: Princeton University Press 1944. 223 Aut-aut: estetica ed etica nella formazione della personalità / S. Kierkegaard; traduzione dal danese di K. M. Guldbrandsen e R. Cantoni. Milano: M. A. Denti 1944. 224 Enten-Eller: un frammento di vita, vols 1-5, trad. da Alessandro Cortese. Milano: Adelphi 1976-89. In England wurde Kierkegaards Werk ebenfalls erst relativ spät übertragen. Die Über‐ setzungen des amerikanischen Theologen Walter Lowrie haben dabei eine Schlüsselrolle gespielt. 221 In seinem bekannten Essai „How Kierkegaard got into English“ legt Lowrie die Umstände seiner ersten Bekanntschaft mit dessen Schriften dar, die er über die deutschen Übersetzungen rezipierte: After the first war I was impressed by the importance the name of Kierkegaard had acquired throughout the Continent, especially in Germany. I could hardly pick up a serious book without finding his name in it. […] S.K. had already taken the place of Nietzsche as the literary vogue in higher circles. […] S.K. was accessible to me only in German translations, most of which were not faithful interpretations. […] At that time the excellent French translations were not yet in existence. (Lowrie 1970 [1942], 270) Lowrie bezieht sich hier offenbar auf Tisseaus französische Übersetzungen, die er den deutschen Fassungen vorzieht. Über Entweder - Oder urteilt er in seinem Essai: The reviewers […] were annoyed because they were unable to understand what it was all about; for no book even remotely like it had ever appeared before. (ibid., 149) Angesichts seines theologischen Hintergrunds nimmt es nicht wunder, dass Lowrie seine Übersetzung des zweiten Bandes von Kierkegaards Erstlingswerk erst 1944, vier Jahre nach der als dessen Fortsetzung konzipierten Schrift Stadien auf dem Lebensweg, vorlegte. 222 Denn während Entweder - Oder um die Alternative von ästhetischer und ethischer Existenz kreist, wird die Betrachtung in der Fortsetzung auf den religiösen Bereich ausgedehnt. In Italien wurde Kierkegaard zuerst unter literarischem Vorzeichen rezipiert; die frühen Kritiker hoben insbesondere die Parallelen seiner Schriften zu den Werken Ibsens hervor und suchten darin einen Schlüssel zu Ibsens Poetik (cf. Basso 2009, 83). Möglicherweise hatten zu dieser Lesart auch die ersten italienischen Übersetzungen von Entweder - Oder beigetragen, die die Schrift sehr fragmentarisch wiedergaben und so die philosophische Gesamtaussage des Textes im Dunkeln ließen (cf. ibid.). 1944 erschien in Mailand eine li‐ terarisch ausgerichtete, partielle Übersetzung von Kirsten Montanari Guldbrandsen und Remo Cantoni, die trotz einiger Kritik mehrfach neu aufgelegt wurde. 223 Eine vollständige Fassung in fünf Bänden, die die Gesamtkonzeption des Werkes abbildet, legte Alessandro Cortese 1976-1989 beim Mailänder Verlag Adelphi vor. 224 Die Wirkung von Kierkegaards Entweder - Oder setzt sich in Italien übrigens durch Enzo Pacis 1951 ins Leben gerufene philosophische Zeitschrift Aut-Aut fort, die noch heute zu den wichtigsten philosophischen Periodika Italiens zählt (cf. Basso 2009, 88). In seinem Verlegervorwort deutet er Kierke‐ gaards existentielles entweder - oder um auf die Formel „o libertà della cultura o bar- 302 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="303"?> 225 Enzo Paci, „Editoriale“ (non firmato), aut-aut I 1951, 3-5(zit. nach Vigorelli 1995, 645). 226 George MacDonald, „The Fantastic Imagination” (1893), zit. nach Briggs 2006, 182. 227 Neue Märchen (enthält 15 Märchen, übers. von Fritz Petit). Hamburg 1845 (laut Titelblatt); außerdem erschien 1844 bei Wolff in Berlin ein Band mit vier Neue[n] Mährchen in der Übersetzung von Julius Reuscher (cf. Rossel 1996, 40). barie“. 225 Abschließend wollen wir noch auf den Einfluss dieser Schrift auf das Denken des spanischen Dichters und Philosophen Miguel de Unamuno hinweisen, dessen Roman Niebla (Nebel, 1914) von deren Form und Motiven inspiriert ist (cf. Evans 2003, 303). Als bedeutendster Kulturbotschafter Dänemarks kann aber wohl Hans Christian An‐ dersen (1805-1875) gelten, dessen im Dänischen als Eventyr og Historier (ca. 1835-1872) bekannte Märchen in über 145 Sprachen übersetzt wurden und seinen Weltruhm begrün‐ deten. Obgleich sie etwa in Deutschland häufig zusammen mit den ungefähr gleichzeitig entstandenen Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm in Märchensammlungen abge‐ druckt wurden, sind sie doch von ganz eigener Art: Jene wurden aus volkskundlichem Interesse aus verschiedenen Quellen zusammengetragen, während Andersens Märchen ganz der Phantasie ihres Autors entsprangen (cf. Dollerup 1995, 99). Dabei ließ sich An‐ dersen von den Kunstmärchen der deutschen Romantik inspirieren und griff zugleich die Form der Grimmschen Märchen auf, die in anderen europäischen Ländern noch keine Tra‐ dition hatte; in England behalf man sich etwa mit der Bezeichnung fairy tale, „regardless of the fact that the tale may have nothing to do with any sort of fairy“. 226 Hinzu kam, dass sich seine Geschichten, anders als die der Brüder Grimm, nicht allein an Kinder richteten, sondern für Kinder geschrieben waren, denen Erwachsene über die Schulter blickten. An‐ dersens europäische Ausstrahlung bringt Jørgensen (1996, 258) auf die eingängige Formel: „Collected in Germany, established in England, discovered in France”. Einmal mehr spielt dabei Deutschland, das Land der Romantik, eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung der Märchen in andere Länder Europas - in kultureller ebenso wie in sprachlicher Hinsicht (cf. ibid.). Von dort aus fand auch der Mythos Andersens Verbreitung, der 1838 in G. F. von Jenssens biographischem Vorwort zu seiner Übersetzung von dessen Roman Nur ein Geiger erstmals anklang: Andersen, der Proletarier - das Genie - das Kind. Jessens Vorwort war übrigens größtenteils vom Autor selbst konzipiert (cf. ibid., 264). Der Dichter Adalbert von Chamisso bereitete 1836 mit einer Übersetzung einer Auswahl von Andersens Gedichten, versehen mit einer kurzen Präsentation des Autors, den Boden für die Rezeption der Mär‐ chen in Deutschland (cf. Rossel 1996, 202). 1839, zwei Jahre nach Erscheinen des Originals, wurde die erste Sammlung von Andersen-Märchen in deutscher Sprache verlegt. Die Über‐ setzung, die bei Publikum und Kritik Anklang fand und bereits im Jahr darauf neu aufgelegt wurde, war ausdrücklich für Kinder gedacht. Auch die zweite Märchensammlung, die 1844-45 auf Deutsch erschien, war bei den Lesern beliebt, zumal der Dichter selbst in Deutschland Lesungen abhielt; bei der Kritik fiel sie allerdings wegen der angeblich ‚kon‐ struierten‘ Geschichten durch (cf. Dollerup 1995, 99). 227 Der Durchbruch als Märchendichter gelang Andersen in Deutschland erst mit der Publikation seiner dritten Sammlung im Jahr 1845 (cf. Jørgensen 1996, 264); mit ihr begann sich die Sichtweise durchzusetzen, dass sich seine Märchen auch an erwachsene Leser richteten. 1846 und 1848 erschienen auch die vierte und fünfte Sammlung auf Deutsch (cf. Dollerup 1995, 99). Auch in Schweden wurde 303 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="304"?> 228 Tales for the Young (Anonymus 1847), zit. nach Briggs 2006, 183. 229 Darunter: Wonderful Stories for Children / by Hans Christian Andersen. Translated from the Danish by Mary Howitt. London: Chapman and Hall 1847. 230 Zit. nach Jørgensen 1996, 270. Andersen übrigens seit 1844, mit Erscheinen der ersten Märchensammlung Nya Sagor (Neue Märchen), regelmäßig übersetzt. Im viktorianischen England war Andersen der meistgelesene ausländische Autor und bereitete den Boden für die Rezeption deutscher Märchen (cf. Downs 1944, 262; Briggs 2006, 186 f.). Erkauft war die dortige Beliebtheit aber mit einer gewissen ‚Sentimentalisierung‘ und Moralisierung seiner Werke, die einseitig als Kinderliteratur rezipiert wurden (cf. Jør‐ gensen 1996, 258). Zu Andersens Bewunderern zählte Oscar Wilde, der seinen eigenwilligen Stil schätzte und bemüht war, seine Märchen von dem Etikett der Kinderliteratur zu be‐ freien, das ihnen in England anhaftete. Im Entwurf eines Briefes an die Pall Mall Gazette schrieb er: Hans Andersen wrote to please himself, to realise his own sense of beauty, and as he deliberately cultivated that simplicity of style and method which is a result of a subtle and self-conscious art, there are many children who take pleasure in his stories; but his true admirers, those who really appreciate how great an artist he was, are to be found not in the nursery, but on Parnassus. (zit. nach Downs 1944, 270) Die frühen Übersetzer (etwa Mary Howitt, Charles Boner oder Caroline Peachey) trugen den Vorzügen seines am mündlichen Sprachgebrauch orientierten Stils, dem gewollte grammatische Inkongruenzen, absurde Einfälle und hintersinniger Humor seine unver‐ wechselbare Farbe verleihen, nur sehr ungenügend Rechnung. Nicht selten wurden die Übersetzungen über deutsche Vorlagen angefertigt, zudem waren viele altmodisch und schwerfällig und wiesen Lapsus auf, wie z. B. die Wiedergabe des bekannten Märchens vom hässlichen Entlein Den grimme Ælling mit The Little Green Duck  228 (cf. Briggs 2006, 182 f.). Doch obgleich die Qualität der Übersetzungen zu wünschen übrig ließ, garantierten sie Andersen einen beispiellosen Erfolg im viktorianischen England. Die Rezeption setzte 1846 ein, als dort die ersten fünf Sammlungen seiner frühen Märchen gleichzeitig in englischer Übersetzung erschienen (cf. Petzold 1981, 106). 229 Mary Howitt, die erste Übersetzerin seiner Märchen, schrieb Andersen bereits 1845: „Your name is now an honoured one in Eng‐ land”. 230 Das englische Andersen-Bild sollte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht we‐ sentlich ändern, allein zwischen 1867 und 1900 erschienen 42 Sammlungen seiner Märchen (cf. Downs 1944, 268). In Frankreich und den Niederlanden, wo die Romantik das aufklärerische Erbe nie ganz überwunden hatte, verlief die Rezeption eher zögerlich. Das Genre des Fantastischen war in den Niederlanden nicht besonders beliebt, so dass Andersen dort zunächst - über die deutsche Vermittlung - als Romancier eingeführt wurde. Von den Märchen erschien ledig‐ lich 1841 in einer Zeitschrift Des Kaisers neue Kleider (Keiserens nye Klaeder), die erste Sammlung folgte fünf Jahre später (cf. Jørgensen 1996, 278). Um Andersen seinen Lesern nahezubringen, knüpfte Gustave Vapereau in Frankreich an den Aufklärer Voltaire und die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht an, die dort seit Beginn des 18. Jahrhunderts durch 304 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="305"?> 231 Hans Christian Andersen, Contes, trad. D. Soldi, ill. Bertall, préf. Xavier Marmier. Paris: Hachette 1856. Hans Christian Andersen, Nouveaux Contes, trad. D. Soldi, éd. F. de Gramont. Paris: É. Dentu 1861 (Coll. Hetzel). 232 Hans Christian Andersen, Contes danois, trad. E. Grégoire & L. Moland, ill. Yan’ Dargent. 2 vols. Paris: Garnier frères 1873-1875. 233 Über die weltweite Verbreitung von Ibsens dramatischem Werk informiert ausführlich Paul (2011). Antoine Gallands Übertragungen populär waren (cf. supra 9.3). In seinem erstmals 1858 verlegten Dictionnaire Universel des Contemporains heißt es unter dem Eintrag „Andersen“: Avec un esprit qui rappelle quelquefois celui de Voltaire par l’ironie fine et déguisée, M. Andersen a tout le sentiment et la rêverie des peuples du Nord, et il y joint une richesse d’imagination vraiment orientale ; ce mélange de qualités diverses contribue à faire de lui un des poètes les plus originaux du XIX e siècle. (Vapereau 2 1861, 41) Die frühe französische Rezeption weist allerdings in eine andere Richtung; seit den ersten Übersetzungen seiner Märchen im Jahr 1848 wurde Andersen in Frankreich als Autor von Kindergeschichten wahrgenommen, und ein echter Durchbruch gelang ihm dort nie. Jør‐ gensen (1996, 277) gibt einen Überblick über die frühen Übersetzungen zu Lebzeiten des Autors: 1848 wurden eine Märchensammlung unter dem Pseudonym Caralp und eine wei‐ tere unter dem Kürzel C. verlegt, die erste von minderer, die zweite von annehmbarer Qua‐ lität. Weitere drei Sammlungen, die 1853 erschienen, seien aus zweiter Hand über das Deutsche angefertigt worden. Die gelungenste frühe Fassung stamme aus der Feder von D. Soldi (1856 und 1861); 231 bald habe aber die ungenaue, banalisierende Version von Ernest Grégoire und Louis Molland (1873-1875) größeren Anklang gefunden. 232 Hingegen seien die Nouveaux Contes von Louis Demouceaux (1874), die über eine gelungene deutsche Fas‐ sung übertragen wurden und sich ausdrücklich nicht nur an kleine Kinder richten, nahezu unbekannt geblieben. Insgesamt erschienen im Laufe des 19. Jahrhunderts ungefähr fünf‐ zehn partielle französische Übersetzungen (cf. Albrecht 2012, 798). Bleibt noch ein Blick auf Osteuropa: In Russland, wo die Märchen seit 1856 erschienen und sich bis zur Revolution ständig steigender Beliebtheit erfreuten, war die Übertragung über das Deutsche an der Tagesordnung (cf. Jørgensen 1996, 278). Während in der Slowakei erst 1888 die ersten Übersetzungen vorgelegt wurden, lag in Tschechien bereits 1841 eine Fassung der Kleinen Meerjungfrau vor. 1863 erschien dort die erste Märchensammlung, 1874-1875 eine vierbän‐ dige Gesamtausgabe aller Märchen (cf. ibid., 280). Der Literaturexport Norwegens soll hier durch seinen berühmtesten Exponenten ver‐ treten sein, den Dramatiker Henrik Johan Ibsen (1828-1906). Seine über ein Jahrhundert hinweg auf den Bühnen der Welt stets präsenten Stücke wurden in insgesamt fünfzig Spra‐ chen übersetzt (cf. Baker, ed. 2009, 390). Ihre schnelle Verbreitung mag auch mit dem Genre zusammenhängen, dem sie angehören, denn da die Theatersprache als lingua franca gilt, wurden für das Theater gedachte Texte hinsichtlich ihrer Komplexität gern unterschätzt (cf. Paul 2011, 2540). 233 Wir wollen Ibsens heute wohl bekanntestes Werk behandeln, das Theaterstück Peer Gynt (1867), das weniger realistisch ist als seine anderen Stücke und eher dem Fantastischen zuzurechnen ist (cf. Albrecht 2012, 798). An seinen ersten deutschen 305 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="306"?> 234 Seine Übersetzung erschien 1881: Peer Gynt. Ein dramatisches Gedicht von Henrik Ibsen. Übersetzt von L. Passarge. Leipzig: Verlag von Bernhard Schlicke (Balthasar Elischer) 1881. 235 Zit. nach Moter Erichsen 1991, 544. 236 Henrik Ibsen, Sämtliche Werke in deutscher Sprache. Hg. und eingeleitet v. G. Brandes, J. Elias und P. Schlenther. 10 Bde. Berlin: S. Fischer 1898-1904. Später ergänzt durch: Henrik Ibsen, Nachgelassene Schriften in deutscher Sprache. Hg. v. J. Elias und H. Koht. 4 Bde. Berlin: S. Fischer 1909. Übersetzer Ludwig Passarge 234 schrieb Ibsen am 19. Mai 1880: „Unter allen meinen Büchern betrachte ich Peer Gynt als das Werk, das sich am wenigsten dazu eignet, außerhalb der skandinavischen Länder verstanden zu werden“ 235 . Passarge selbst spricht im Vorwort zu seiner Übersetzung von „dem eigenthümlichen nationalen Gepräge, das dieser Dichtung in höherem Grade, als einer der anderen Ibsen’s eigen ist“ (ibid.). Dies mag ein Grund dafür sein, dass auf deutschen Bühnen von 1876 an zunächst Ibsens Geschichtsdramen inszeniert wurden (cf. Paul 2011, 2542). Trotz solcher Hindernisse scheint dem Schriftsteller und Übersetzer Passarge sein Übersetzungsunternehmen gelungen zu sein, denn Ibsen äußert sich in besagtem Brief anerkennend über das Ergebnis: Ihre Auffassung von Peer Gynt deckt sich ganz und gar mit dem, was ich beabsichtigte, als ich das Buch schrieb, und ich kann mich natürlich nur darüber freuen, daß es einen Übersetzer gefunden hat, der mit voller Klarheit in die innerste Aufgabe der Dichtung eingedrungen ist. (zit. nach Moter Erichsen 1991, 544) Eine Neuübersetzung von Peer Gynt wurde 1901 im Rahmen einer Gesamtausgabe von Ibsens Werken in zehn Bänden vorgelegt. Um die Wende zum 20. Jahrhundert galt dieser bereits als Klassiker der Moderne, so dass auf Betreiben seines Verlegers Samuel Fischer in den Jahren 1898-1904, noch zu Lebzeiten des Autors, eine sorgfältig kuratierte Edition in zehn Bänden erschien, die überarbeitete Fassungen seiner älteren Werke und Neuüberset‐ zungen seiner Versdramen und Gedichte versammelt. Sie ist durch Ibsen autorisiert und enthält ein Vorwort des nominellen Mitherausgebers Georg Brandes; bis etwa 1950 blieb sie die maßgebliche Ausgabe (cf. Paul 2011, 2544). 236 Die Übersetzung des Peer Gynt über‐ nahm der Dichter Christian Morgenstern, und Ibsen, dem der akademische Stil vieler deut‐ scher Fassungen seiner Werke missfallen hatte, war von dieser Übersetzung beeindruckt (cf. ibid., 2545). Die weitere Geschichte des Peer Gynt in Deutschland ist schnell erzählt: 1912 übertrug der nationalkonservative Dietrich Eckart das Stück für das Berliner Hofthe‐ ater, das trotz Kritik an Eckarts ‚sprachlich platter‘ Übersetzung ein Erfolg wurde (eine Neuauflage erschien 1916). Bei Reclam und Hoffmann und Campe wurde 1951 eine weitere Neuübersetzung aus der Feder von Hans Egon Gerlach verlegt (cf. ibid., 2545 f.). Paul weist ferner auf Peter Steins Inszenierung an der Berliner Schaubühne von 1971 hin, für die Botho Strauß aus den Übersetzungen von Morgenstern und Georg Schulte-Frohlinde und einer ad hoc angefertigten ‚Rohübersetzung‘ eine Bühnenfassung zusammengestellt hatte (cf. ibid., 2546). In den Niederlanden wurde der Peer Gynt, wie übrigens die meisten Werke Ibsens, aus zweiter Hand übersetzt, und zwar auf der Grundlage von Christian Morgensterns Über‐ tragung oder von Eckarts Bearbeitung (cf. Paul 2011, 2546). In Frankreich, wo Zolas natu‐ ralistische Romane die schnelle Rezeption Ibsens und auch Strindbergs erleichterten (cf. Albrecht 2006, 1399), wurden seine Stücke seit den Inszenierungen André Antoines im 306 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="307"?> 237 Peer Gynt: poème dramatique en 5 actes / Henrik Ibsen; traduit du norvégien … et précédé d’une préface par M. Prozor. Paris: Perrin 1899. 238 Henrik Ibsen, Œuvres complètes. Traduites par P.-G. La Chesnais. 16 Bde. Paris 1914-1945. 239 Henrik Ibsen, Peer Gynt: A Dramatic Poem, with an introduction [transl. by Charles Archer]. London: Walter Scott 1892 (Ibsens’s Works; Band. 6). 240 Henrik Ibsen, Peer Gynt: A Dramatic Poem, transl. by William and Charles Archer. 12 Bde. New York: Scribner 1906; London: Heinemann 1907 (The Collected Works of Henrik Ibsen; Band. 4). 241 Zu nennen sind hier etwa die bei Penguin Books erschienene Übersetzung von Peter Watts und die im selben Jahr publizierte Fassung der Amerikaner Kai Jurgensen und Robert Schenkkan. 242 Henrik Ibsen Peer Gynt: play in five acts; edited by James Walter McFarlane; English version by Christopher Fry; based on a literal translation by Johan Fillinger. London: Oxford University Press 1970 (The Oxford Ibsen). Théâtre-Libre Ende des 19. Jahrhunderts häufig gespielt (cf. Albrecht 2012, 798). 1899 legte der gewissermaßen ‚offizielle‘ Ibsen-Übersetzer, Graf Maurice [Moritz] Prozor, die einzige französische Fassung des Peer Gynt vor. 237 Der in Frankreich aufgewachsene russische Di‐ plomat, der mit einer Schwedin verheiratet war, zog bei seinen Übersetzungen stets auch eine deutsche Fassung zu Rate. Allerdings betrachteten einige Kritiker seine Übersetzungen als schwerfällig, unpräzise und nivellierend und bemängelten sprachliche Unzulänglich‐ keiten (cf. Paul 2011, 2549). Der Regisseur Antoine sah sich sogar veranlasst, die Ibsen-In‐ szenierungen an seinem Theater abzusetzen, da Ibsen an seinem Übersetzer Prozor festhielt (cf. ibid., 2550). Mit der Herausgabe der Œuvres complètes begann man in Frankreich erst 1914-1945, zehn Jahre später als in Deutschland. 238 Im englischen Sprachraum zählt Ibsens Peer Gynt, wenn man einmal von Andersens Märchen und der isländischen Frithiof ’s Saga absieht, zu den am häufigsten übersetzten literarischen Werken (cf. Haugen 1937, 187). Er erschien erstmals 1892, als sechster Band einer vom Autor autorisierten Ibsen-Gesamtaus‐ gabe. Der Übersetzer, Charles Archer, hat neben Sir Edmund Gosse die englischsprachige Rezeption anhaltend geprägt. 239 Eine Neuauflage des Versdramas wurde 1907 publiziert, und zwar im vierten Band der zwölfbändigen Sammelausgabe von William und Charles Archer (1906-1912), die im englischen Sprachraum sechzig Jahre lang prägend war und bis nach Ostasien als Vorlage für Übersetzungen aus zweiter Hand diente (cf. Paul 2011, 2547). 240 1912 legte der Ibsen-Kritiker Richard Ellis Roberts dann eine gereimte, poetischere Fassung des Peer Gynt vor, die zur Standardbühnenversion avancierte. Die reimlose Über‐ setzung von Robert Farquharson Sharp, die 1921 bei Dent in London und vier Jahre später bei Dutton in New York erschien, zeichnete sich durch ihren moderneren, weniger litera‐ rischen Stil aus (cf. Haugen 1937, 187). Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg war in England - wohl auch durch die Konkurrenz zu Amerika - die Zahl der Übersetzungen von Ibsens Werken im Vergleich zu Deutschland besonders hoch (cf. ibid., 2548). Die nach 1950 erschienenen Übersetzungen des Peer Gynt kennzeichnet das Bemühen um eine normalisierende und zugleich modernisierende Wiedergabe von Ibsens poetischer Sprache (cf. Paul 2011, 2548). 241 1970 legte der Dichter Christopher Fry im Rahmen des sogenannten Oxford Ibsen, einer von James Walter McFarlane edierten vollständigen Neuübertragung von Ibsens Gesamtwerk in acht Bänden (1960-1977), eine Neufassung des Peer Gynt vor. 242 Der Oxford Ibsen galt einigen Kritikern allerdings als „zu akademisch“ und wenig bühnen‐ gerecht (cf. Paul 2011, 2549). 307 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="308"?> 243 Peer Gynt: poema drammatico / di Enrico Ibsen; prima traduzione italiana con prefazione di B. Vil‐ lanova D’Ardenghi. Roma: Tipografia Voghera 1909 (Autori celebri stranieri; 9). 244 Henrik Ibsen, Opere teatrali. A cura di Alfhild Motzfeldt Tidemand-Johannessen. 3 Bde. Milano: Mursia 1962. Ein eigenständiger ibsenismo bildete sich schon früh in Italien heraus, wo Eleonora Duse seinen Stücken zu Ruhm verhalf (cf. Paul 2011, 2550). Dennoch wurden seine Werke dort lange Zeit aus zweiter Hand, überwiegend aus dem Deutschen, übertragen. Ibsens Versdramen wurden erst relativ spät rezipiert; 1909 erschien eine italienische Fassung des Peer Gynt aus der Feder von B. Villanova D’Ardenghi, ebenfalls aus dem Deutschen übersetzt. 243 Erst mit der Mursia-Ausgabe von 1962, die von der Norwegerin Alfhild Motzfeldt ediert wurde, lag in Italien Ibsens Gesamtwerk in direkter Übersetzung vor (cf. ibid., 2551). 244 Zum Abschluss wollen wir eine kleine Kostprobe davon geben, wie verschiedene Über‐ setzer des Peer Gynt mit Ibsens virtuoser Sprachkunst umgegangen sind. Es handelt sich um einen Auszug aus dem dritten Akt, in dem der Held versucht, seiner Mutter an ihrem Sterbebett den Abschied zu erleichtern. Wir führen zunächst das Original und im Anschluss zwei deutsche und die jeweils bekannteste englische und französische Fassung an. Peer Gynt. Nej, nu vil vi sammen snakke, - men bare om løst og fast, og glemme det vrange og skakke, og alt, som er sårt og hvast. Er du tørst? Skal jeg hente dig drikke? Kan du strække dig? Sengen er stut. Lad mig se; - ja, mener jeg ikke det er sengen, jeg lå i som gut? Kan du mindes, hvor tidt om kvelden du sad vor min sengestok og bredte over mig felden, og sang både stev og lok? Åse. Ja, minds du! Så legte vi slæde, når far din i langfart fór Felden var karmesprede og gulvet en islagt fjord. (Peer Gynt 1867) Peer Gynt. Nein, lass’ uns ohne Zaudern Erwägen was sich schickt, Und recht gemütlich plaudern, Vergessend was uns drückt. - Hast du Durst - ich will dich erquicken. Streck’ dich aus - das Bett ist nicht lang. Und nun steht es vor meinen Blicken: Ist’s nicht meine eigene Bank? - Weißt, wie du am Abend mich strecktest Und setztest dich auf die Kant’, Mich mit dem Schaffell bedecktest Und sangst von der Kuh und dem Fant? Aase. Ja freilich, wir spielten Schlitten, Wenn Vater von Hause fort; Auch stiegen wir ab und schritten Auf Schneeschuh’n über ’nen Fjord. (Peer Gynt, Passarge 1887) Peer Gynt. Nein, nein, jetzt wollen wir plaudern, - Doch alleine von Mein und Dein, Und nicht mehr von alledem kaudern, Was quer ging und quält obendrein. Bist Du durstig? Soll ich was holen? Ist ’s Bett zu kurz? Drückt es Dich? Sag’! Herrje; - sind das nicht die Bohlen, Dadrin ich als Junge lag? Besinnst Dich noch, wie Du oft hocktest Des Abends am Bettende dort Und mich, wer weiß wohin, locktest Mit Märchen und Zauberwort? Aase. Jawohl! Und dann spielten wir Schlitten, Wann Vater herumfuhr im Rund. Die Deck’ ward als Kutschpelz gelitten, Und die Diel’ war ein spiegelnder Sund. (Peer Gynt, Morgenstern 1907) Peer No, now we will chat together, but only of this and that — forget what’s awry and crooked, Peer Gynt Non, non, parlons de choses et d’autres, à l’aventure, sans nous agiter ni nous faire de mauvais sang. As-tu soif ? Comme ton lit est court ! Laisse voir ! Tiens ! 308 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="309"?> and all that is sharp and sore. Are you thirsty? I’ll fetch you water. Can you stretch you? The bed is short. Let me see; — if I don’t believe, now, It’s the bed that I had when a boy! Do you mind, dear, how oft in the evenings you sat at my bedside here, and spread the fur-coverlet o’er me, and sang many a lilt and lay? Åse Ay, mind you? And then we played sledges when your father was far abroad. The coverlet served for sledge-apron, and the floor for an ice-bound fiord. (Peer Gynt, W. & C. Archer 1907) n’est-ce pas mon vieux lit d’enfant ? Te souviens-tu du temps où tu t’asseyais à mon chevet, le soir ? Après m’avoir couché sous ma couverture, tu me chantais une quantité de vieilles chansons. Aase Tu t’en souviens donc ? Et quand ton père partait pour une de ses longues campagnes, nous jouions le soir au traîneau. La couverture représentait la ca‐ pote, le plancher un fjaell couvert de neige. (Peer Gynt, Prozor 1899) Haugen (1937, 189-195) erläutert den Gebrauch formaler Elemente in Peer Gynt, die insge‐ samt zu einer natürlichen, ungekünstelten Diktion beitragen. Die keinem bestimmten Muster folgenden Reime lassen den Stil ebenso natürlich wirken wie das lose, prosanahe Versmaß, das skandinavischen Volksliedern nachempfunden ist und sich besonders zur lebendigen Gestaltung der Personenrede eignet. Selbst innerhalb einer Szene wechselt es häufig, um bestimmte Stimmungen zu erzeugen. Auch die Wortstellung weicht kaum von der natürlichen ab und weist nur vereinzelt Auslassungen oder Inversionen auf. Schließlich ist das Lexikon besonders vielseitig, dabei natürlich und modern. Ibsen gelingt es als erstem norwegischen Autor, dialektale Elemente in die Literatursprache zu integrieren. Die deut‐ schen Übersetzer wahren beide den Reim und den natürlichen Sprachduktus, auch wenn selbst Morgensterns gelungener Umgang mit dem Versmaß nicht an die Beiläufigkeit des norwegischen Originals heranreicht; Morgensterns Wortwahl wirkt dabei zugleich an‐ schaulicher und poetischer. Die reimlose Übersetzung von William und Charles Archer wahrt zwar den dreihebigen Rhythmus, die alltagssprachliche Lexik transportiert allerdings nicht die Poesie des Originals. Die französische Prosafassung des Grafen Prozor schließlich ist recht unpräzise in der Wiedergabe des Erzählten; die Formulierung Tu t’en souviens donc? etwa wirkt wie eine Zäsur an einer Stelle, an der Aase den phantastischen Erzählfaden ihres Sohnes unmittelbar aufnimmt. Besonders eigenwillig ist bei Prozor das nordisch anmutende fjaell, das sich von seiner übrigen Wortwahl auffällig abhebt. Der zweite skandinavische Dramatiker, der sich europaweiten Ruhm erworben hat, ist der Schwede Johan August Strindberg (1849-1912). Die europäische Strindberg-Rezeption ist eng mit der Inszenierungspraxis und den jeweiligen Theaterkonventionen des Ziellandes verknüpft. Wir wollen uns hier Strindbergs Stück Spöksonaten (Gespenstersonate) von 1907 widmen, das als bestes seiner fünf ‚Kammerspiele‘ gilt und 1908 in Stockholm uraufgeführt wurde. Die Online-Version der Encyclopaedia Britannica bewertet das Stück als „one of the most macabre, wrathful works in all of world literature”; und Paul (1990, 132), sieht in ihm „das surrealistische und absurde Theater in wesentlichen Grundzügen vorweggenommen“. Wir wollen ein paar Bemerkungen zum Stücktitel voranschicken, der nach eigenem Be‐ kunden des Autors auf Beethovens „Sturmsonate“ (Opus 31, Nr. 2) (Strindberg selbst nennt sie „Gespenstersonate“) und Beethovens Klaviertrio (Opus 70, Nr. 1, auch „Geistertrio“ ge‐ nannt) zurückgeht. Strindberg betont die Assoziation von ‚Kammerspiel‘ mit Kammer‐ 309 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="310"?> 245 Bei der Uraufführung war das Stück denn auch mit dem Untertitel „Fantasiestück” versehen (cf. Törnqvist 2000, 105). 246 Sie erschien im Rahmen der Strindberg-Gesamtausgabe: Strindberg, Gespenstersonate. In: Strindbergs Werke: Deutsche Gesamtausgabe unter Mitwirkung von Emil Schering als Übersetzer vom Dichter selbst veranstaltet. 1/ 9: Kammerspiele. München/ Leipzig: Georg Müller 1908. Die Erstausgabe weist zwar das Erscheinungsjahr 1907 auf, war tatsächlich aber erst ab dem 23. Januar des Folgejahres erhältlich (cf. Törnqvist 2000, 11). musik (cf. Wilkinson 2009, 112), ferner den Bezug zu E.T.A. Hoffmanns Fantasiestücke[n] in Callot’s Manier (cf. Törnqvist 2000, 13). 245 Inhaltlich gibt der Titel die Sichtweise eines ‚Au‐ ßenstehenden‘ wieder, nämlich die des Dieners Bengtsson, der, von einem anderen Be‐ diensteten auf die Art der bevorstehenden Veranstaltung im Hause der Herrschaft ange‐ sprochen, die Auskunft gibt, es sei das übliche „Gespenstersouper“. Diese Außensicht spiegelt wohl auch die des Autors selbst, der auf die Gesellschaft wie auf eine Art ‚Spuk‘ blickt (cf. Paul 1990, 145). Elemente aus Strindbergs Kammerspielen wurden übrigens von Ingmar Bergman in Filmen wie Das Schweigen (1963) oder Schreie und Flüstern (1972) für die Leinwand adaptiert (cf. Wilkinson 2009, 107). Die europäische Rezeption des Stücks setzte als Erstes in Deutschland ein, und zwar bereits zu Lebzeiten des Autors. Dort wurde Strindberg etwa seit 1890 hoch geschätzt und seit der Jahrhundertwende als Schwedens bedeutender Autor anerkannt. Die Auseinan‐ dersetzung mit Persönlichkeiten wie Nietzsche oder auch Heine mag diese frühe Rezeption befördert haben (cf. Lessing 1915, 110). Während des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach war Strindberg einer der meistgespielten Bühnenautoren; in den verheerenden Kriegsfolgen für Deutschland liegt Törnqvist zufolge eine Ursache der dortigen Aufnah‐ mebereitschaft für ein Stück wie Spöksonaten, das die menschliche Natur zugleich entlar‐ vend und mitfühlend offenbart. Demgegenüber war Schweden vom Krieg verschont ge‐ blieben, zudem war seine Theaterlandschaft noch von Naturalismus und Symbolismus geprägt (cf. Törnqvist 2000, 107). 1908 wurde die Spöksonaten erstmals von Emil Schering ins Deutsche übertragen. 246 Strindberg selbst wies seinen Übersetzer in einem Brief vom 1. April 1907 auf den musikalischen Bezug des Titels hin, der mit Gespenster- und keinesfalls mit Spuk-Sonate wiedergegeben werden sollte (cf. ibid., 10); dieser Vorgabe sind auch die späteren Übersetzer gefolgt. Die Übersetzung selbst wurde von zeitgenössischen Kritikern zwar aufgrund ihrer Textnähe und Korrektheit als den englischen oder amerikanischen Fassungen weit überlegen, aber auch als gestelzt und wenig idiomatisch empfunden - sie reiche nicht an den deutschen Ibsen heran (cf. Lessing 1915, 110 f.). Bis zu den 1980er Jahren wurde das Stück sechsmal neu übersetzt, zuletzt 1983 durch den Skandinavistikprofessor Artur Bethke. Allein im Jahr 1919, zur Hochzeit des Expressionismus, erschienen drei ver‐ schiedene Versionen (Mathilde Mann, Leipzig; Else von Hollander, München; Heinrich Goebel, Berlin) (cf. Paul 1990, 134). Bei seiner Analyse der deutschen Übersetzungen kon‐ statiert Paul eine „durchgehende Tendenz zur Konventionalisierung, Harmonisierung und Vereindeutigung im Hinblick auf die Ebene der sozialen Konventionen der Zielkultur“ (ibid., 158). Er macht aber auch epochenspezifische Übersetzungsprofile aus; so habe Goebel einen ‚expressionistischen‘, Willi Reich (Hamburg/ Berlin 1955) einen ‚existentialistischen‘ und Hans Egon Gerlach (Stuttgart 1969) einen ‚absurden‘ Strindberg vorgelegt (cf. ibid., 157; 159). Durch Max Reinhardts Inszenierung an den Berliner Kammerspielen (Uraufführung 310 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="311"?> 247 August Strindberg, The Spook Sonata, trans. Edwin Björkman. In: Plays by August Strindberg. Fourth Series. New York: Charles Scribner’s Sons 1916. August Strindberg, The Ghost Sonata. In: Easter and Other Plays, trans. Erik Palmstierna and Jarnes Bernard Fagan. London: Jonathan Cape 1929. am 20. Oktober 1916) erlangte Strindbergs Stück allgemeine Bekanntheit. Sie fußt auf Scherings Übersetzung von 1908, lebt aber insbesondere von Reinhardts visueller und mu‐ sikalischer Umsetzung; seine Szenerie sollte keine äußere, sondern eine innere Wirklichkeit abbilden (cf. Törnqvist 2000, 107). Gastspiele in Dänemark und Schweden machten Rein‐ hardts Bühnenfassung auch in Skandinavien bekannt, und hier wie dort wurde sie von der Kritik begeistert aufgenommen (cf. ibid., 112). In England wurde Strindberg als Dramatiker wenig geschätzt (cf. Rapp 1951, 3). Erst nach Strindbergs Tod im Jahr 1912 erschienen zahlreiche Übersetzungen seiner Werke, die zu‐ meist aus zweiter Hand angefertigt worden waren, u. a. über die deutsche Fassung von Emil Schering (cf. GA 2000, 581). Als einziges von Strindbergs fünf Kammerspielen genießt die Spöksonaten im englischsprachigen Raum, wo die Bezeichnung „Kammerspiel“ keine Tra‐ dition hat, eine gewisse Popularität (cf. Wilkinson 2009, 107). 1916 wurde sie in New York in der Übersetzung von Edwin Björkman erstmals verlegt, 1929 gefolgt von der Londoner Fassung aus der Feder von Erik Palmstierna und James Bernard Fagan. Nur der zuletzt Genannte folgt der deutschen Titeltradition, während die amerikanische Übersetzung unter dem von Strindberg abgelehnten Titel The Spook Sonata erscheint. 247 In der London Times vom 15. Juni 1927 äußert sich einer der frühesten Kritiker von Strindbergs Drama über dessen Figurenkonzeption, indem er die Figuren gewissermaßen als Verkörperung unter‐ drückter religiöser Gefühle interpretiert: His ghosts and mummeries are sin personified, guilt made flesh, suffering imprisoned in a human body; they are not men and women but the things that men and women are and pretend not to be. (Zit. nach Rapp 1951, 13) Bis zum Jahr 2000 wurden insgesamt fünfzehn verschiedene englische Übersetzungen der Spöksonaten vorgelegt (cf. Törnqvist 2000, 53). Die Schwierigkeiten, mit denen sich die Übersetzer konfrontiert sahen, haben aber nicht nur mit der ‚exzentrischen‘ Konzeption von Handlung und Figuren zu tun; sie sind vor allem sprachlicher und soziokultureller Natur. Die Übersetzer sind häufig wenig vertraut mit dem schwedischen Sprachgebrauch und den kulturellen Besonderheiten der Zeit (cf. GA 2000, 581). Zudem läuft das englische Gebot der fluency einer getreuen Wiedergabe des sehr eigenwilligen Sprachgebrauchs zu‐ wider, der Strindbergs Stücke kennzeichnet, so dass die Übersetzer dazu tendieren, auffäl‐ lige Stellen sprachlich zu nivellieren (cf. ibid.). Schwierigkeiten bereiten neben den Kul‐ turspezifika vor allem das in den dramatis personae angelegte Changieren zwischen Schein und Sein, die Vagheit und Ambiguität, die viel Ungesagtes zwischen den Zeilen belässt, die stark variierenden Register, zahlreiche biblische Anspielungen und nicht zuletzt die Musi‐ kalität der Dialoge (cf. Törnqvist 2000, 56 ff.). So gibt gerade dieses Stück häufig Anlass zu der Bemerkung, dass der Autor zu Unrecht für Unzulänglichkeiten kritisiert werde, die eigentlich die Übersetzer zu verantworten hätten (cf. ibid., 53). Als Beispiel für eine gelun‐ gene Übersetzung wird etwa Michael [Leverson] Meyer genannt, dessen Übertragungen einiger bedeutender Strindberg-Stücke 1964 und 1975 in zwei Bänden in London verlegt 311 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="312"?> 248 Auguste Strindberg, La sonate des spectres: pièce en trois actes; traduction de Maurice Rémon. Éc‐ lairs; traduction du suédois, par J. Bucher et A. Wall. Paris: libr. Stock, Delamain et Boutelleau, édi‐ teurs, 1926 (Bibliothèque cosmopolite. Collection scandinave). 249 August Strindberg, La sonate des Spectres; texte français d’Arthur Adamov et Carl Gustav Bjurström. Paris: l’Arche, 1975 (Répertoire pour un théâtre populaire; 49). wurden; Meyer legte 1985 auch eine umfangreiche Strindberg-Biographie vor (cf. GA 2000, 581). Unter den neueren Fassungen der Spöksonaten ist ferner Eivor Martinus’ Übertragung zu nennen, die 1981 in Bath erschienen ist. Eine englische Gesamtausgabe von Strindbergs Werken steht allerdings unseres Wissens bis heute aus. Auch Frankreichs Bühnen konnten Strindbergs Stücke nicht in dem Maße erobern, wie es die Dramen Ibsens getan hatten (cf. Dahlström 1947, 207). Strindberg selbst verbrachte die 1880er und 1890er Jahre in Paris, wo er einige seiner Romane und Theaterstücke ver‐ fasste und auch auf Französisch zu schreiben begann (cf. Biesemans/ Laureys 2012, 76 f.). Seine von Zolas Naturalismus beeinflussten Stücke Fadren (Der Vater, 1887) und Fröken Julie (Fräulein Julie, 1888) wurden in den 1890er Jahren von Charles Bigault de Casanove und Georges Loiseau ins Französische übertragen (cf. Albrecht 2012, 798). Aber erst 1926 legte der renommierte Übersetzer deutscher und skandinavischer Theaterstücke Maurice Rémon die erste Übersetzung der Spöksonaten unter dem Titel La sonate des spectres vor. 248 Auf der Grundlage dieser Fassung inszenierte Roger Blin das Stück am 25. Oktober 1949 am Pariser Théâtre de la Gaîté-Montparnasse und führte es so auf Frankreichs Bühnen ein. Törnqvist vermerkt zu dieser Inszenierung, Rémon habe sich bei seiner Übersetzung auf Scherings deutsche Fassung gestützt (cf. Törnqvist 2000, 231). Roger Blin war im Übrigen ein ehema‐ liger Mitarbeiter des berühmten Regisseurs Antonin Artaud, der bereits 1930 am Pariser Théâtre Pigalle ein „Projet de mise en scene pour La Sonate des Spectres“ vorgelegt hatte, das allerdings nie verwirklicht wurde (cf. Heed 1994, 97). Nach 1945 setzte in Frankreich eine Art Strindberg-Renaissance ein, zu der Vertreter des absurden Theaters wie Arthur Adamov, Samuel Beckett und Eugène Ionesco entscheidend beigetragen haben. Adamov adaptierte die Spöksonaten zusammen mit Carl-Gustav Bjurström für die französische Bühne, 249 und diese Fassung wurde am 15. November 1967 von der Compagnie Jean Gillli‐ bert am Pariser Théâtre de l’Alliance Française uraufgeführt (cf. ibid., 233). Im Gegensatz zu Deutschland gab es in Frankreich, ähnlich wie in England, allerdings nie eine ‚kanoni‐ sche‘ Strindberg-Übersetzung (cf. Chevrel 1997, 356). Besonders wenig rezipiert wurde der schwedische Dramatiker aber in Russland, wo nach einer Inszenierung seines Dramas Fadren im Jahr 1927 nahezu fünfzig Jahre lang keines seiner Stücke mehr aufgeführt wurde. Zwischen 1923 und 1964 erschien keines von Strindbergs Prosawerken oder Dramen in russischer Übersetzung. Deren typischer Pessimismus und Mystizismus, gepaart mit der Absurdität der Spöksonaten und dem Surrealismus von Ett drömspel (Ein Traumspiel, 1902), vertrugen sich offenbar nicht mit der Ideologie des Stalinismus und des sozialistischen Realismus (cf. Robinson 2008, 184). Den ‚Übersetzungsimport‘ in die skandinavischen Länder wollen wir hier gemeinsam abhandeln, zumal sich die drei skandinavischen Sprachen Schwedisch, Dänisch und Nor‐ wegisch hinsichtlich ihres historischen Status und ihrer gegenwärtigen Form sehr ähneln und im Prinzip für Sprecher dieser drei Sprachgemeinschaften untereinander verständlich sind (cf. Wollin 2009, 542). So findet sich in Mona Bakers Routledge Encyclopedia of Trans‐ 312 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="313"?> lation Studies denn auch ein gemeinsamer Eintrag zu den „Danish and Norwegian Tradi‐ tions“. Dennoch gab es auch zwischen diesen Sprachen einen regen übersetzerischen Aus‐ tausch (cf. Hjörnager Pedersen/ Qvale 2009, 385). Der deutsche Einfluss war in Skandinavien von frühester Zeit an bis etwa 1900 sehr dominant; er machte sich bereits in der Bibelüber‐ setzung im 16. Jahrhundert bemerkbar. Sowohl Christiern Pedersens dänische Christian III-Bibel von 1550 als auch die Gustav Vasa-Bibel (Uppsala 1541), die früheste vollständige Übersetzung der Bibel ins Schwedische, die für Schwedens Literatur und Sprache von he‐ rausragender Bedeutung ist, sind von Luthers Bibelübersetzung beeinflusst (cf. ibid., 385 f.; Wollin 2009, 544 f.). In Schweden gewann das deutsche Theater, insbesondere Kotzebue, in den 1790er Jahren einen dominierenden Einfluss, während der deutsche Roman die be‐ herrschende Stellung der französischen Romanliteratur ablöste (cf. Graf 2014, 144; 163 f.). Seit den 1830er Jahren bestimmten dort die ästhetischen Grundsätze der deutschen Ro‐ mantik das heimische Literaturschaffen (cf. Wollin 2009, 547). In Dänemark wurden auch noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Übersetzungen englischer Literatur über das Deutsche angefertigt (cf. Hjörnager Pedersen/ Qvale 2009, 386). Besonders beliebt waren die Romane von Walter Scott, die bis 1832 vollständig in dänischer Übersetzung vorlagen und die Herausbildung des dänischen Romans entscheidend prägten (cf. ibid., 387). Um die Mitte des Jahrhunderts legte Ludvig Moltke eine nahezu vollständige Übersetzung von Charles Dickens’ Gesammelten Werken vor, die bis in die 1980er Jahre die maßgebliche Fassung blieb. Das Englische sollte sich in Dänemark gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur domi‐ nierenden Ausgangssprache für Übersetzungen entwickeln (cf. Munch-Petersen 2011, 2156). Was die Übersetzungen aus den romanischen Sprachen betrifft, so wurden diese in Dänemark erst im ausgehenden 18. Jahrhundert in größerem Umfang durchgeführt. Hier sei insbesondere auf Dorothea Biels Version des Don Quijote von 1776-1777 verwiesen (cf. Hjörnager Pedersen/ Qvale 2009, 386). Zu dieser Zeit wurden in Norwegen noch viele deut‐ sche, französische oder englische Werke in dänischer Übersetzung rezipiert. Zugleich be‐ gannen dort aber bereits unabhängige norwegische Übersetzungen zu erscheinen, darunter die Shakespeare-Fassungen von Nils Rosenfeldt (1790), Johan Storm Munchs Version von Schillers Don Carlos (1812) sowie Übersetzungen von Racine, Jean Paul, Goethe, Victor Hugo u. a. (cf. ibid., 389). Besondere Beachtung verdient die skandinavische Shakespeare-Übersetzung, die im späten 18. Jahrhundert über deutsche und französische Versionen, mitunter sogar über deutsche Übersetzungen französischer Adaptionen, vermittelt war. So führte eine mut‐ maßlich deutsche Wandertruppe in Schweden 1776 Romeo und Julia auf, und zwar auf der Grundlage einer schwedischen Übersetzung, die vermutlich auf der französischen Bear‐ beitung von Jean-François Ducis fußte (cf. Sorelius 2002, 10). 1813 publizierte Erik Gustav Geijer mit seinem Macbeth die erste schwedische Übersetzung eines Shakespeare-Stücks. Er stützte sich zwar auf Schillers Version von Macbeth, seine Fassung war jedoch näher am Original als die deutsche Bearbeitung. Die Kanonisierung Shakespeares erfolgte in Schweden durch C. A. Hagbergs Übersetzung des Gesamtwerks (1847-1851), die bis heute als Shakespeare-Standardausgabe gilt (cf. ibid.). In Dänemark erschien bereits 1777 Jo‐ hannes Boyes Übersetzung Hamlet, Prinz af Dannemark; es folgten eine Reihe von däni‐ schen und norwegischen Fassungen, darunter die des dänischen Schauspielers Peter Foersom (Hamlet Prinds af Danmark, 1813). Sille Beyer legte einige modernisierende däni‐ 313 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="314"?> 250 Adam Mickiewicz, Herr Thaddäus, oder der letzte Sajasd in Litauen. Eine Schlachtschitz-Geschichte aus den Jahren 1811-1812. In 12 Büchern. Aus dem Polnischen in Gemeinschaft mit dem Dichter von Richard Otto Spazier. 2 Bd. Leipzig: Joh. Jac. Weber 1836. sche Übersetzungen von Shakespeares Komödien vor, angefangen bei Viola (Twelfth Night) (1847), die mit weitreichenden Texteingriffen verbunden waren (cf. Hjörnager Pedersen/ Qvale 2009, 387). Doch erst Edvard Lembckes Gesamtübersetzung (1861-1873) sollte Shakespeare als dänischen Klassiker etablieren (cf. Sorelius 2002, 10). In Norwegen über‐ setzte Ivar Aasen, der Schöpfer der Nationalsprache Nynorsk, 1853 u. a. Auszüge aus Romeo and Juliet, um auf das Potential dieser neuen Sprache aufmerksam zu machen (cf. ibid.). Auch später diente die Shakespeare-Übersetzung der Etablierung und Bereicherung des Nynorsk. Zu nennen sind etwa Arne Gerborgs Macbeth (1901) und Olav Madshus’ Kaup‐ mannen i Venetia (1905) (cf. Hjörnager Pedersen/ Qvale 2009, 389), ferner die Sammlung von Shakespeare-Stücken, die Henrik Rytters in den 1930er Jahren vorlegte. Es erschienen aber auch zahlreiche Übersetzungen in die ältere norwegische Varietät Riksmål, darunter allein einundzwanzig zwischen 1923 und 1942. Zwei polnische Literaten von europäischem Format wollen wir hier nicht unberück‐ sichtigt lassen: Adam Mickiewicz (1798-1855) und Henryk Sienkiewicz (1846-1916). Mic‐ kiewicz gilt als Vater der polnischen Romantik, ist aber zugleich ein geistreicher Klassizist (cf. Czerniawski 2000, 207). Bekannt geworden ist er vor allem durch sein monumentales Epos Pan Tadeusz czyli ostatni zajazd na Litwie (Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Li‐ tauen, 1834), das mehrfach in alle Kultursprachen übersetzt wurde. Das Werk lässt sich nur schwer einer bestimmten Gattung zuordnen, es enthält Elemente des homerischen Epos, des epischen Lehrgedichts, der Idylle und des Romans und weist zugleich einen parodisti‐ schen Grundton auf (cf. Lukas 2009, 114 f.; Borowy 1935, 410). Abgefasst ist es in Dreizehn‐ silbern, Polens klassischem epischen Versmaß, das auffällig mit Mickiewicz’ scheinbar schlichtem, geradezu anheimelndem Stil kontrastiert (cf. Segel 1997, 20). Von zeitgenössi‐ schen romantischen Literaten gering geschätzt, wurde das Epos in Polen erst in den 1860er Jahren, mit dem Aufkommen realistischer Prosa in der Epoche des Positivismus, ange‐ messen gewürdigt (cf. Lukas 2009, 114 f.). 1999 brachte es der polnische Regisseur Andzrej Wajda auf die Leinwand. In Deutschland fand das polnische Nationalepos viel früher An‐ erkennung als in seiner Heimat; dort legte Richard Otto Spazier bereits 1836 in Leipzig die erste Übersetzung des Werkes überhaupt vor, deren ästhetische Qualität allerdings gering war. (cf. ibid.). 250 Erst 1882 erschienen, ebenfalls in Leipzig, zwei deutsche Neuüberset‐ zungen in Versform, die eine von Albert Weiß, die andere von Siegfried Lipiner (bei Breit‐ kopf und Härtel); Letztere wurde zehn Jahre später neu aufgelegt und sollte über Jahrzehnte die kanonische Fassung bleiben (cf. Makarska 2016, 221). In der Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte (1937) wird Lipiner im Vergleich zu Albert Weiß’ Fassung eine weitaus getreuere inhaltliche Wiedergabe des Werks attestiert, allerdings heißt es dort über die sechshebigen Reimpaare von Lipiners Übertragung: … der rhythmische Fluß der Verse wird zu oft zerrissen, bald glaubt man Jamben, bald Knüttelverse zu lesen, bisweilen nüchterne Prosa, so dass der Ausdruck ‚gebundene Form‘ stellenweise den Sinn verliert. (zit. nach Makarska 2016, 221) 314 9 Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur <?page no="315"?> 251 Adam Mickiewicz, Pan Tadeusz oder Der letzte Eintritt in Litauen. Versepos in zwölf Büchern. Nach‐ dichtung von Walter Panitz. Berlin: Aufbau-Verlag 1955. Adam Mickiewicz, Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen. Nachdichtung von Hermann Buddensieg. München: Eidos Verlag 1963. 252 Hermann Buddensieg, „Nachwort“. In: Adam Mickiewicz, Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Li‐ tauen. München: Eidos 1963, 355-382, hier S. 362. 253 Tadeusz Nowakowski, „Pan Tadeusz aus Heidelberg. Polens Nationalepos in Hexametern“. Die Welt der Literatur, 6; 8 1964 (Beilage zu Die Welt). Zit. nach Nosbers 1999, 220. Mitte des 20. Jahrhunderts, als in Deutschland das Interesse an polnischer Literatur einsetzte, wurden zwei „Nachdichtungen“ des Pan Tadeusz vorgelegt, die Berliner Fassung von Walter Panitz (1955) und die Münchner Version von Hermann Buddensieg (1963). 251 Beide Versübersetzungen bleiben hinter der poetischen Kraft des polnischen Dreizehnsilbers zu‐ rück (cf. Lukas 2009, 314). Der Heidelberger Schriftsteller und Übersetzer Buddensieg hatte sich als Vermittler insbesondere von Polens klassischer Romantik einen Namen gemacht; in seinen „Mickiewicz-Blättern“ machte er deutsche Leser mit polnischen Klassikern be‐ kannt und stellte auch seine Übertragungen Mickiewicz’scher Werke vor (cf. Nosbers 1999, 268). Buddensieg berichtet im Nachwort zu seiner Übersetzung, er sei erstmals durch seine Goethe-Forschungen auf den polnischen Literaten aufmerksam geworden; 252 1829 besuchte Mickiewicz Weimar. Für den Geschmack vieler Rezensenten verleiht der Hexameter Bud‐ densiegs Übersetzung des Werks einen allzu antikisierenden Anstrich, wie die folgende Kritikerstimme aus einer Beilage der Welt von 1964 zeigt: So sehr wir aber Fleiß, Enthusiasmus und Kenntnisse des Heidelberger Mickiewiczologen bewun‐ dern, sind wir über die Nachdichtung des ‚Pan Tadeusz‘ in Hexametern nicht besonders glücklich. […]: es ist doch ein anderes Werk entstanden […] dieser hexametrische ‚Pan Tadeusz‘ klingt für mein polnisches Ohr viel zu feierlich. […] - ja beinahe der ganze ‚Pan Tadeusz‘ wehrt sich instinktiv gegen den Hexameter. Ob sich der Nachdichter nicht zu sehr durch die ‚heroisierende Dichtung‘ eines Nationalepos […] suggerieren ließ? So viel Heroisierung ist dort gar nicht darin. 253 Lesbarkeit und ‚Treue‘ von Buddensiegs Übersetzung riefen allerdings ebenso wie deren informativer Anhang viel Lob hervor (cf. Nosbers 1999, 220). Eine weitere Fassung des Pan Tadeusz aus der Feder von Walburg Friedenberg erschien 1977 in Wien. Dem heutigen deutschen Lesepublikum werden, etwa in Anthologien, trotz der seit Mitte des 20. Jahr‐ hunderts vorgelegten Neuübersetzungen immer noch in erster Linie die (z.T. modernisierten) Fassungen des 19. Jahrhunderts präsentiert (cf. Lukas 2009, 15). Entsprechend stieß das Werk bei Lesern und Literaten in Deutschland auf vergleichsweise geringes In‐ teresse. Schließlich wollen wir noch auf ein spezifisches Übersetzungsproblem hinweisen, nämlich die Behandlung des Werktitels. Im Polnischen ist die höfliche Anrede Herr in Kombination mit dem Vornamen, Pan Tadeusz, damals wie heute gängig; im Kontext des Werkes signalisiert sie die Zugehörigkeit des Protagonisten zum altpolnischen Landadel. Obgleich diese Konvention für deutsche Leser ungewöhnlich ist, gingen die deutschen Übersetzer erst nach dem Zweiten Weltkrieg von der bis dahin üblichen eingedeutschten „Lehnübersetzung“ Herr Thaddäus (Spazier, Weiß und Lipiner) zur Beibehaltung der pol‐ nischen Anredeform im Titel über (cf. Lukas 2009, 301). Zu diesem Wandel mag auch die deutschsprachige Titelkonvention beigetragen haben, wie sie sich etwa in der leicht komi‐ schen Konnotation von Thomas Manns Novellentitel Der kleine Herr Friedemann oder von 315 9.7 Weitere europäische Länder <?page no="316"?> 254 Ähnlich verfuhr auch noch 1924 die italienische Übersetzerin Clotilde Garosci in ihrer Fassung Pan Taddeo Soplitza (Lanciano: Carabba). Cf. Borowy 1935, 399. 255 Cf. Mickiewicz-Blätter, Bde 8-9. Mickiewicz-Gremium der Bundesrepublik Deutschland 1963, 271. 256 Mickiewicz, Master Thaddeus; or, The Last Foray in Lithuania; translated by Maude Ashurst Biggs, with notes by the translator and Edmond S. Naganowski. London: Trübner & Co. 1885. 25